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German Pages 352 Year 2023
Linda Leskau, Sigrid Nieberle (Hg.) Wiedersehen mit Heidi
Diversity in Culture Band 1
Editorial Die Schriftenreihe Diversity in Culture stellt in Auseinandersetzung mit dem Paradigma der Vielfalt die Theorien und Konzepte der Diversity Studies auf den Prüfstand der kulturwissenschaftlichen Praxis. Die Forschungsansätze zu »Diversity in Culture« tragen maßgeblich zur Beschreibung gesamtgesellschaftlicher Transformationsprozesse in Richtung Vielfalt, Diversität und Inklusion bei, indem sie danach fragen, wie interdependente Unterschiede in modernen Gesellschaften imaginiert und kommuniziert werden. Wie und unter welchen Bedingungen wurde und wird über Unterschiede an den Schnittstellen ästhetischer und soziokultureller Kommunikation geschrieben und gesprochen? Welche Bewertungen und Konsequenzen wurden und werden daraus abgeleitet? Die Reihe wird herausgegeben von Carolyn Blume, Gudrun Marci-Boehncke, Barbara Mertins und Sigrid Nieberle.
Linda Leskau ist akademische Rätin auf Zeit am Institut für Diversitätsstudien der Technischen Universität Dortmund. Sie forscht insbesondere zur deutschsprachigen Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, zu den Literary Disability Studies sowie den Gender und Queer Studies. Sigrid Nieberle ist Professorin für Neuere und Neueste Deutsche Literatur mit dem Schwerpunkt Gender und Diversität sowie geschäftsführende Direktorin des Instituts für Diversitätsstudien der Technischen Universität Dortmund. Außerdem ist sie Co-Editor der Zeitschrift »Gender. Zeitschrift für Geschlecht, Kultur, Gesellschaft«. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen auf den Gender and Diversity Studies in Beziehung zu Literatur, Biographik und Erzählforschung sowie auf der Intermedialität der Literatur, insbesondere zu Musik und Film.
Linda Leskau, Sigrid Nieberle (Hg.)
Wiedersehen mit Heidi Polyperspektivische Lektüren der Heidi-Romane von Johanna Spyri
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Inhalt
Wiedersehen mit Heidi Zur Einführung Linda Leskau und Sigrid Nieberle .......................................................... 9
I. Raum und Zeit Gehen, um frei zu sein Zu den Lehren der Aufklärung in Heidi Anna-Katharina Gisbertz ................................................................. 27 Idylle mit Ziegen Das ökologische Potenzial von Johanna Spyris Heidi-Romanen Alexandra Tischel ........................................................................ 43 Zur Temporalität von Bildung Traumatisierte Männerseelen und das queere Prinzip ›Heidi‹ in Johanna Spyris Heidi-Romanen Heidi Schlipphacke ....................................................................... 67 Heidi lebt weiter Der Alpendiskurs in der Schweizer Literatur Karin Baumgartner ....................................................................... 83
II. Geräusche, Klänge und Musik S’Dirndl und s’Dudln Alpenländisches im Wienerlied Melanie Unseld ........................................................................... 101
Gipfelklänge Soundscapes in Johanna Spyris Heidi-Romanen Sigrid Nieberle ........................................................................... 113 Klang und Identität Heidis Soundtracks der 1950er und 1960er Jahre Cornelia Bartsch .........................................................................129
III. Bildung und Vermittlung Religion und religiöse Bildung in den Heidi-Romanen von Johanna Spyri Claudia Gärtner ..........................................................................147 Wiedersehen mit Heidi/Re-reading Heidi Diversität in der schulischen Bildung gestern und heute Chantal Lepper und Nele McElvany........................................................159 Zur fachdidaktischen Relevanz empirischer digitaler Medienforschung im Germanistik-Studium am Beispiel von Heidis Medienwelt Gudrun Marci-Boehncke, Hanna Höfer, Esther Weber und Lisa Hannich .................... 183
IV. Intersektionale Perspektiven Zwischen Alp und Alphabetisierung Spyris Heidi als transclasse-Figur Eva Blome .............................................................................. 203 Das kranke Töchterlein Behinderung und Krankheit in den Heidi-Romanen Johanna Spyris Victoria Gutsche ......................................................................... 217 »Das Heidi« als Figur des Dritten Christine Künzel..........................................................................231 Re-reading Heidi Eine Betrachtung von Diversitätsmerkmalen aus Sicht der Anti-Stigma-Kommunikationsforschung Cosima Nellen, Alexander Röhm, Michélle Möhring und Matthias R. Hastall................. 243
Mökke essen. Das tut nicht nur dem Großvater gut! Dialekte und sprachliche Varietäten im Spiegel der Mehrsprachigkeit Barbara Mertins ......................................................................... 257
V. Transformation und Fortschreibung Von der schönen Seele zum Tomboy? Mediale und historische Transformationen der Heidi-Figur in Roman, Anime und Spielfilm Agnes Bidmon............................................................................271 Heidi lebt: »To be sure, she was no longer the little girl of yesterday« Die Heidi-Romane des Johanna Spyri Übersetzers Charles Tritten Tanja Nusser ............................................................................ 287 Der ›naive‹ Blick auf die unvergängliche Heimat: Heidi (A 1965) Irina Gradinari .......................................................................... 299 Das »Wunder an unserem Kinde« Körper, Dis_ability, Krankheit in Heidi-Comics – am Beispiel Klara Marina Rauchenbacher .................................................................. 313 Geschlecht im Neoliberalismus René Polleschs Heidi Hoh arbeitet hier nicht mehr Franziska Bergmann .................................................................... 333 Autor*innenverzeichnis ................................................................ 345
Wiedersehen mit Heidi Zur Einführung Linda Leskau und Sigrid Nieberle
Johanna Spyris Romane Heidis Lehr- und Wanderjahre (1880) und Heidi kann brauchen, was es gelernt hat (1881) zählen zu den meistrezipierten Titeln der Kinder- und Jugendliteratur. Sie gehören, wie sonst nur Astrid Lindgrens Pippi Langstrumpf oder J. K. Rowlings Harry Potter-Reihe, zur westlichen Kanonliteratur für heranwachsende Leser*innen. Seit den Erstausgaben im Verlag von Friedrich Andreas Perthes, der in Gotha ansässig war, wurden die Romane in ca. 70 Sprachen übersetzt.1 Kontinuierlich erscheinen seither zahlreiche Adaptationen in verschiedenen Medienformaten wie Spielfilm, Fernsehserie, Anime-Serie, Comic, Audiobook, Musical, Ballett oder Briefmarkenedition.2 Die anhaltende Popularität der HeidiGeschichten wird auf Faktoren wie ihre binären Wertecodierungen und die niedrigschwellige Zugänglichkeit der Erzählverfahren zurückgeführt (vgl. Leimgruber; Giesa/Kagelmann).3 Aufgrund der vielfältigen, teils stark kommerzialisierten Produktpalette spricht man inzwischen von den ökonomisch konnotierten »Karrieren«, die Heidi als fiktionale Figur seit ihrem ersten Erscheinen gemacht hat (vgl. Halter). Auch die touristische Vermarktung hat längst eingesetzt: Im »Heididorf« hoch über dem Schweizer Dorf Maienfeld und dem Kurort Bad Ragaz können Erwachsene wie Kinder mittlerweile in eine vom Roman inspirierte Erlebniswelt eintauchen
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Die Erstausgaben sowie zahlreiche frühe Übersetzungen sind als Digitalisate des Schweizerischen Instituts für Kinder- und Jugendmedien (https://sikjm.ch/) auf der Plattform e-rara verfügbar, etwa Bd. 1 (1880) https://www.e-rara.ch/sikjm/content/search/5335213?query=heidi; Bd. 2 (1881): https://www.e-rara.ch/sikjm/content/search/5387857?query=heidi (31.8.2022). Eine historisch-kritische Ausgabe der Werke Johanna Spyris ist Desiderat. Vgl. den jüngsten Spielfilm Mad Heidi (CH 2022), der mit dem Attribut »cheesy« spielt und aus hybriden Genrekonventionen einen Horror-Splatter-Nazi-Heimatfilm generiert. Die Produktion wird als »Action-Adventure Exploitation-Groteske« bezeichnet (https://madheidi.co m/en-de, 15.9.2022). Das Johanna Spyri-Archiv Zürich im Schweizerischen Institut für Kinder- und Jugendmedien pflegt den Nachlass der Autorin und ihrer Familie und dokumentiert die Werkrezeption. Es hält eine stets aktuelle Bibliografie zu Textausgaben und Spyri-Forschung im Katalog Swisscovery vor: https://sikjm.ch/forschung-bibliothek/johanna-spyri-archiv/bestand/ (23.2.2023).
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und ihre freie Zeit mit einem Re-enactment zwischen Dorfschule, Almhütte und Ziegenweide verbringen. Solche historisierenden Inszenierungsweisen nutzen Elemente der fiktionalen Erzählwelt ebenso wie der naturalistischen Mimesis, so dass enge semantische wie semiotische Verflechtungen zwischen Romanlektüre und eigenem Erleben entstehen. Ein Besuch im »Heididorf« setzt die Lektüre der Romane nicht voraus (vgl. C. Ott, 21), regt idealiter aber dazu an; umgekehrt ermöglicht der Besuch in diesem literarisch inspirierten Freizeitgelände das Wiedersehen mit den Figuren aus den beiden Heidi-Romanen und ihren medialen Adaptationen, indem die Besucher*innen sich selbst mehr oder weniger als Mitspielende oder Betrachtende dieser nachträglich inszenierten Romanwelt erleben. Die Abbildung der Figur Heidi aus der gleichnamigen japanischen Anime-Serie auf dem Mülleimer nutzt beispielsweise eine solche transmediale Referentialität, um die Besucher*innen auf die umweltgerechte Entsorgung ihres Abfalls hinzuweisen. Heidi in diesem Format wiederzusehen, kann oder vielmehr soll die erzieherische Botschaft mit einer emotional aufgeladenen Erinnerung an das fröhliche und lernfreudige Mädchen verbinden helfen.
Abbildung 1: Heidi auf dem Mülleimer. Heididorf bei Maienfeld, Schweiz. Abbildung 2: Semiotische Interferenzen zwischen empirischer und fiktionaler Lebenswelt. Heididorf bei Maienfeld, Schweiz.
Fotos: 2021 © Verfasserinnen
Linda Leskau und Sigrid Nieberle: Zur Einführung
Wiedersehen, wiederlesen In kulturwissenschaftlicher Perspektive lässt sich das Konzept des Wiedersehens genauer fassen. Besonders der Begriff der Anagnorisis, von dem seit Aristoteles’ Poetik zahlreiche, meist intensiv diskutierte Modelle der Resignifizierung für die Literaturproduktion und -rezeption abgeleitet worden sind,4 zielt auf die vernetzte Dichte intra- und extratextueller Referenzen ab. Denn es erkennen sich nicht nur die Figuren gegenseitig; vielmehr kann die Anagnorisis auch zwischen den fiktionalen Erfahrungen der Figuren und ihrer Leserschaft vermitteln und so den Zugang zur Identifikation mit den Figuren ermöglichen. Einfühlung ist immerhin nur dann möglich, wenn die Figur nicht zum ersten Mal wahrgenommen wird, sondern sich mit ihren Erlebnissen, Aussagen und Gefühlen zumindest ein zweites Mal präsentiert hat. Die Wiederholung einer bewusst wahrgenommenen Begegnung schließt ein, die beobachtete Zustandsänderung des Gegenübers kognitiv wie emotiv nachzuvollziehen und als Ereignis anzuerkennen. Neben diesen poetologischen und rezeptionsästhetischen Facetten spielt bei einem modernen Anagnorisis-Konzept außerdem das mediale Überangebot der Moderne eine entscheidende Rolle: Das längst Vergessene wird wiederentdeckt und als schön empfunden, weil es zwischenzeitlich von einer Masse an Informationen und medial formatierten Eindrücken überschrieben worden ist (vgl. Wunberg). Die eigene Lesesozialisation mittels einer Relektüre zu betrachten, erfordert über die Reflexion der eigenen veränderten Rezeptionsbedingungen hinaus, sowohl einzelne Diversitätskategorien als auch das intrikate Verhältnis von Vielfalt und Identität als komplexen, diskursbasierten und dynamischen Forschungsgegenstand anzuerkennen. Zu unterscheiden ist deshalb zunächst der prozessuale Charakter des Lesens von einem dynamisch perspektivierten, noematischen Leseeindruck, der erinnert und aktualisiert werden kann (vgl. Iser, 197–203). Eine längst vergessene Lektüreerfahrung zu wiederholen, bedarf einer Konstitutionsaktivität, die von den neuen Lektürebedingungen determiniert wird (vgl. Iser, 280ff.). Die semantische Praxis der sozialen und ästhetischen Diversifizierung führt dazu, auch für bekannte Narrationen und ihre Elemente immer wieder neue Koordinaten im prinzipiell unabschließbaren Feld von Identitätsdeterminanten festzulegen (vgl. Florin/Gutsche/Krentz, 22). Bedeutung kann nicht stillgestellt werden. Unmöglich ist es auch, im Vergangenen oder Vergessenen jemals wieder ankommen zu können: »Der qualitative Sprung im Wiedererkennen des Vergessenen übersteigt die Wunscherfüllung gerade aufgrund des irreversiblen Verlusts.« (Geulen, 432) Das Wiedersehen mit einer literarischen Figur bedeutet immer auch das Verfehlen, das
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Vgl. den Aufriss der modernen Anagnorisis-Diskussion mit Stationen bei Lugowski, Jauß, Wunberg, Blumenberg und Hamacher in Geulen, 424–434.
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Verkennen und das erneute Verabschieden des Gekannten, während zugleich Raum für neue Einsichten und Erlebnisse entsteht. Auch das Wiedersehen mit Heidi ereignet sich demzufolge im Rahmen einer Relektüre, die den eigenen Leseprozess reflektiert und zugleich das Gelesene aktualisiert. Die Beiträge dieses Bandes gingen aus dem Projekt »Wiedersehen mit Heidi« hervor, das sich über eine Ringvorlesung, vertiefende Lektüreseminare und ein Kolloquium erstreckte.5 In den intensiven Diskussionen machten die beteiligten Studierenden wie Wissenschaftler*innen immer wieder deutlich, dass es ihnen nicht allein um ein tieferes Verständnis der weithin bekannten Heidi-Romane ging; gleichbedeutend und mindestens ebenso reizvoll erschien es den Beteiligten, der ersten eigenen Begegnung mit dem Roman nachgehen und das ästhetische Erleben noch einmal rekonstruieren zu können – wenn auch unter geänderten Vorzeichen der textanalytisch geschulten Interpretationspraxis und eigenen theoretischen wie empirischen Forschungsarbeiten. Heidi-Verfilmungen produzieren seit den Anfängen der Kinogeschichte regelmäßig die Gelegenheit, die Figuren aus den Romanen tatsächlich in Kino, TV oder Streaming-Diensten in immer neuen Variationen zu visualisieren und zugleich als Romanfiguren an- und wiederzuerkennen. Eine entscheidende Rolle für die Wiederbegegnung spielten deshalb auch die medialen Adaptationen der Romane, die seit den 1970er Jahren zahlreiche Kinder und Jugendliche mit dem Heidi-Stoff bekannt gemacht hatten, zugleich aber dafür sorgten, die frühe Romanlektüre mit den Mitteln der TV-Serie, des Spielfilms oder Comics gleichsam zu überschreiben. Unter den genannten Gesichtspunkten realisierten die Beiträger*innen dieses Bandes insofern ein Wiedersehen mit Heidi, als die gemeinsame Hinwendung zu diesen Romanen zum einen als ein Re-Reading – die intensive Relektüre eines meist kanonischen Textes – zu verstehen ist (vgl. Cannon; Calinescu); zum anderen erweiterte sich das Wiedersehen mit den Heidi-Romanen um die Artefakte aus der dichten intermedialen und intertextuellen Rezeptionsgeschichte. Die intensive Relektüre eines solchen vielfach übersetzten wie adaptierten Textes, der global und extensiv distribuiert wurde, bietet überdies mannigfaltige Gelegenheiten, sich auf jene Interpretationsansätze zu konzentrieren, die in Plot und Story bereits hinterlegt sind. Erstaunlich aktuell präsentieren sich die Anschlussmöglichkeiten der literarischen und filmischen Heidi-Erzählungen an zeitgenössische Debatten zu Bildung, Ökologie, Nachhaltigkeit, Medialität, Identität und soziokultureller Differenz; nur auf den ersten Blick sind diese Themen binär ausgestaltet (Natur/Kultur, arm/reich, alt/jung etc.). Sobald eine polyperspektivische Betrachtungsweise an die Romane und ihre Adaptationen herangetragen wird, ergeben sich nicht bloß zusätzliche Beobachtungsoptionen,
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Das digitale Lehr-, Lern- und Forschungsprojekt »Wiedersehen mit Heidi« wurde 2021 am Institut für Diversitätsstudien der TU Dortmund realisiert.
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die als affirmative Bereicherung zu verstehen wären, sondern es entstehen kritische Interventionen im Hinblick auf bisher gewusste und geglaubte Verhältnisse (vgl. Fleig, 208–211). Intersektionen und Interdependenzen treten in den pragmatischen und kognitiven Bezügen der sozialen Metapher, der Heuristik und des Paradigmas zutage (vgl. Hill Collins, 8). Indem sich das Feld der Intersektionalität stark ausdifferenziert hat, erscheinen monokategoriale Betrachtungen kaum mehr als sinnvoll. Alle Beiträger*innen des Bandes unterziehen die Romane und ihre Medientransformationen daher einer aktualisierten und polyperspektivischen Lektüre unter den Gesichtspunkten der interdisziplinären Diversitätsforschung. Dementsprechend stehen zentrale Diversitätsdimensionen wie Alter, Behinderung, Geschlecht, Nation, Ethnie, soziales Milieu, aber auch bildungsbiographische und räumliche Differenzen, etwa zwischen ruralen und urbanen Lebenswelten, im interpretatorischen Fokus.
»aber auf Wiedersehen«: Anagnorisis in den Heidi-Romanen Die Heidi-Romane stützen diese rekursive Perspektivierung insofern, als das Wiedersehen bereits in der Erzählkonstruktion und ihrem Diskurs angelegt ist. Im ersten Roman, Heidis Lehr- und Wanderjahre, kommt es im fünften Kapitel zu Heidis Abschied vom Großvater auf der Alp, weil sich ihre Tante Dete auf die kleine Tochter ihres verstorbenen Bruders besinnt und das Kind – ungeachtet lebensweltlicher Aspekte der zivilrechtlich geregelten Obhut und Sorge – in den großbürgerlichen Haushalt der Familie Sesemann nach Frankfurt a.M. verbringt. Dieser erste Abschied wird Heidi mit einem losen Versprechen auf ein baldiges Wiedersehen erträglich gemacht. Als Heidi am Ende des ersten Romans tatsächlich zur Alp zurückkehrt und den Großvater, Peter und die Großmutter wiedersieht, ist dieses Wiedersehen seinerseits mit einem Abschied verbunden: Heidi muss sich von Klara Sesemann verabschieden, wobei den Figuren und auch der Leserschaft wiederum ein Wiedersehen der beiden Freundinnen in Aussicht gestellt wird. Wenn der Doktor nach Bad Ragaz und später zu Heidi auf Besuch fährt, trägt ihm der Diener Sebastian Grüße auf: »Auf Wiedersehen, Sebastian, der Gruß wird bestellt.« (Spyri 1881, 9) Und auch die Großmutter sehnt das Wiedersehen mit Heidi herbei: »›Das Schönste ist doch, wenn so ein alter Freund kommt und uns wieder die Hand gibt, so wie vor langer Zeit; das gibt so ein tröstliches Gefühl in’s Herz, daß wir einmal Alles wiederfinden, was uns lieb ist. Ihr kommt doch bald wieder, Oehi, und das Kind morgen schon?‹« (Spyri 1880, 239) Das letzte Kapitel des zweiten Romans bringt die ineinander verschränkte Struktur von Wiedersehen und Abschied nur vermeintlich auf den Punkt, denn es trägt den syntaktisch bloß halbwegs definiten Titel: »Es wird Abschied genommen, aber auf Wiedersehen.« Diese Wendung wird am Ende des Romans, wenn die Sesemanns die Alp verlassen,
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von Klaras Vater mit leichter syntaktischer Veränderung noch einmal wiederholt: »Und nun nehmen wir Abschied, aber auf Wiedersehen […]!« (Spyri 1881, 173) Zum einen klingt das religiöse Versprechen auf ein Wiedersehen im Jenseits an, das in Spyris pietistisch grundiertem Roman auf dem Spiel steht. Für das 19. Jahrhundert wurde diese metaphorische Grenze zwischen Leben und Tod paradigmatisch in Hebels Kalendergeschichte »Unverhofftes Wiedersehen« ausbuchstabiert. Zum anderen setzt sich die Vorstellung vom Wiedersehen im Diesseits in einer alltäglichen Grußformel »Auf Wiedersehen!« sehr breit im deutschsprachigen Raum durch. Der in den Romanen mehrfach zitierte und alludierte Abschiedsgruß wurde im Laufe des 18. Jahrhunderts noch häufig mit Partikel und Artikel verwendet, z.B. »Gott befohlen, bis auf’s Wiedersehen!« Erst in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts setzte sich die abgeschliffene Form durch, die sich später auch in Spyris Romanen wiederfindet (Grimm, 1193–1197). Mit seiner prophetischen Kraft wendet sich dieser Zuruf sowohl an die Figuren als auch – die Textgrenzen metaleptisch überschreitend – an die Leser*innen, um so zwischen intra- und extradiegetischen Welten des Möglichen und Unmöglichen zu vermitteln. Jedes Wiedersehen setzt einen Abschied voraus, bei dessen Gelegenheit das Versprechen oder die Hoffnung darauf formuliert werden kann. Der Abschied aus dem Haus der Sesemanns wird für Heidi zügig und zugleich mit großer Sorgfalt gestaltet (vgl. Spyri 1880, 193–202). Auf Reisen nach Hause geht nicht nur »das Schweizerkind«, sondern auch ein mehrmals erwähnter Brief (197, 205, 214), den Herr Sesemann an den Großvater schreibt und dem Reisebegleiter Sebastian mitgibt (198). Darin dürfte Heidis Entwicklung bereits einmal geschildert und kommentiert worden sein, um ihre unverhoffte Rückkehr auf die Alp plausibel zu erklären: »es steht vielleicht Alles in dem Brief« (214). Heidi transportiert eine intradiegetisch konzipierte Interpretation ihrer eigenen Geschichte nach Hause, was zwar den Großvater in der Wahrnehmung seiner Enkelin beeinflussen dürfte (215), der Leserschaft jedoch vorenthalten wird. Das erste Wiedersehen mit Heidi erlebt die blinde Großmutter, die das Kind von jeher nicht sehen kann, sondern ihre Gestalt ertastet und die Stimme wiedererkennt (209). Brigitte, ihre Tochter, betont die Veränderungen, die sie an Heidi wahrnimmt: »sie konnte sich gar nicht genug verwundern darüber, wie Heidi aussehe« (211). Das Heidi lässt sein Hütchen und die Kleider aus der Stadt zurück, damit der Großvater es beim Wiedersehen erkennen wird: »sonst kennt er mich vielleicht nicht mehr, du hast mich ja auch fast nicht gekannt darin« (212). Die Figur Heidi kümmert sich offenbar um die Erfüllung der eigenen Geschichte und trifft sorgsame Vorkehrungen für die finale Anagnorisis. Während der Großvater gar nicht erst ins Verkennen oder Staunen kommt, weil ihm nach der dreimaligen Anrufung durch das Kind – »›Großvater! Großvater! Großvater!‹« (214) – die Tränen in die Augen schießen und dadurch sein Sehvermögen beeinträchtigt wird, stockt dem Ziegenpeter in seiner Wahrnehmung der Atem, und er ist sprachlos. Auch die beiden Ziegen werden in die Szene der Anagnorisis integriert: »›Schwänli! Bärli!
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Kennt ihr mich noch?‹ und die Gaißlein mußten seine Stimme gleich erkannt haben, denn sie rieben ihre Köpfe an Heidi und fingen leidenschaftlich zu meckern an vor Freude […]« (216). Der zweite Roman beginnt mit der Enttäuschung darüber, dass Klara noch nicht auf die Alp kommen kann. Das antizipierte Wiedersehen der Freundinnen wird ausgesetzt: »Das Heidi stand sehr betroffen da; es konnte gar nicht fassen, daß es nun Alles, was es so sicher vor sich gesehen hatte, auf einmal gar nicht mehr sehen sollte.« (Spyri 1881, 19) Erst im darauffolgenden Mai macht sich die Karawane des Frankfurter Besuchs auf den Weg zu Heidi und ihrem Großvater. Als Heidi den Besuch erkennt, verliert sie die Beherrschung: »›Großvater! Großvater!‹ rief das Kind wie außer sich: ›Komm hierher! Komm hierher! Sieh! Sieh!‹« (87) Dass Heidi jede ihrer Äußerungen doppelt tut, erscheint fast als verschmitzter erzählerischer Kommentar zur rekursiven, mindestens zweifachen Struktur der Anagnorisis. Nach diesen beiden enttäuschten wie erfüllten Wiedersehensszenen schließt der zweite Band mit einer zum ersten Band parallel angelegten Anagnorisis. Denn als die Frankfurter Großmama Sesemann schließlich die Enkelin Klara von der Alp abholen möchte, kann sie es kaum glauben, dass Klara nicht mehr auf den Rollstuhl angewiesen ist und nun selbstständig gehen kann. Auch sie ruft die Möglichkeit einer verfehlten Anagnorisis auf: »›Was ist denn das? Was seh’ ich, Klärchen? Du sitzest nicht in deinem Sessel? Wie ist das möglich?‹ […] ›Klärchen, bist du’s oder bist du’s nicht? Du hast ja rothe Wangen, kugelrunde! Kind! Ich kenne dich nicht mehr!‹« (Spyri 1881, 145) Noch drastischer fällt die Reaktion des Vaters auf seine genesene Tochter aus, als er sie das erste Mal wiedersieht. Klara läuft neben Heidi und stützt sich auf ihre Freundin. Der Vater hält sie erst für ein fremdes »Mädchen mit hellblonden Haaren« (153), als ihm die Tränen in die Augen kommen und seinen Blick eintrüben. Erinnerungen an Klaras Mutter tauchen auf, und er »wußte nicht, war er wachend oder träumte er« (153). Klara fragt, ob er sie denn nicht mehr kennte; um sich seines neuen Eindrucks zu versichern, »ob denn das Bild nicht verschwinde vor seinen Augen«, fragt er seinerseits mehrfach, ob es auch »wirklich« die eigene Tochter sei, die er ein um das andere Mal in die Arme schließt (154). Nach dieser kurzen Revue der Anagnorisis-Szenen in beiden Heidi-Romanen lässt sich festhalten, dass das versprochene Wiedersehen mit Heidi und ihrer Antagonistin Klara eigentlich nur im Aufschub stattfindet, weil die Figuren der eigenen Wahrnehmung nicht trauen. Die affektive Kraft der Anagnorisis, die ihr bereits seit Aristoteles zugesprochen wird, wirkt situativ überwältigend (vgl. Geulen, 428). Aufgrund von Tränen, Blindheit oder Überforderung setzt die visuelle Wahrnehmung aus; stattdessen werden alternative Sinne und Techniken – das Abtasten, Fragen, Zuhören, Warten – eingesetzt, um sowohl die veränderte Identität des Gegenübers als auch die eigene Reaktion in der Wiederbegegnung absichern zu können. »Es wird Abschied genommen, aber auf Wiedersehen« ist als Kapitelüberschrift auch so zu verstehen, dass das Wiedersehen als Zuruf und Versprechen aus dem syntak-
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tischen Rahmen fällt: Der konstative erste Teilsatz »Es wird Abschied genommen« trifft auf das appellierende Wünschen einer rekursiven Struktur im zweiten Teil, die mit einer einschränkenden Konjunktion eingeleitet wird: »aber auf Wiedersehen«. Figuren wie Leserschaft sind gleichermaßen angesprochen. Mit jeder Anagnorisis rückt einem die Figur vermeintlich näher. Das buchstäbliche (Wieder-)Sehen fällt indessen dem Unmöglichen anheim, denn die Figuren sind nicht imstande, Heidi oder Klara auf Anhieb visuell zu identifizieren. Sie erkennen sie, weil sie auf alternative Wahrnehmungskanäle wechseln. Wie in einem narrativen Mise en abyme werden Abschied und Wiedersehen in der einzelnen Szene mehrfach wiederholt und gebündelt – ich sehe Dich, ich sehe Dich nicht, ich wende mich zu, ich wende mich ab, ich kenne Dich nicht, ich erinnere mich, ich er-kenne Dich …. –, so dass die Anagnorisis den Abschied nicht nur voraussetzt, sondern vielmehr selbst ein elementarer Teil davon ist. Dieses durch die Verfehlung aufgeschobene Wiedersehen, wie es in den Heidi-Romanen erzählerisch ausgestaltet wird, knüpft zwar entfernt noch an die mythische und heilende Tradition der Anagnorisis an (vgl. Geulen, 438), hat aber mit dem modernen Konzept des Re-Reading bereits etwas gemeinsam: Das Versprechen auf Wiederholbarkeit wird nicht eingelöst. In diesem Zwischenraum der Verfehlungen und uneingelösten Versprechen entstehen neue Deutungsansätze.
Heidi wiederlesen Ein Blick auf die Rezeptionsgeschichte der Heidi-Romane zeigt ihre Resilienz sowohl gegenüber kommerzieller und ideologischer Vereinnahmung als auch gegenüber allzu strenger kritischer Analyse. Kanonisierung verdankt sich vor allem den Effekten des Wiederlesens, was insbesondere auf die intensiven Lektürepraxen der Religionen und ihre zentralen Glaubenstexte zutrifft. Dies gilt aber auch für die Rezeptionsbedingungen der auf Innovation angewiesenen Wissenschaften und des Kulturbetriebs. Die überwiegend von den Rechts- und Sozialwissenschaften vorangetriebenen Diversity Studies haben die große Bedeutung von sprachlichem und kulturellem Handeln für Diversität und Diversitätsforschung noch weitgehend vernachlässigt. Umgekehrt haben diejenigen Disziplinen, die sich mit den soziokulturellen Funktionen und Potenzialen des Erzählens beschäftigen, wenig Aufmerksamkeit auf die komplexen Strukturen der Diversität gelenkt. Interdependente Kategorien soziokultureller Verhältnisse werden mindestens so wirkmächtig von faktualen wie fiktionalen Erzählungen, von künstlerischer Kreativität und religiösen Praktiken hervorgebracht wie von Gesetzestexten und alltäglichen Handlungsmustern. In den jüngeren literaturwissenschaftlichen Kommentaren zu Spyris HeidiRomanen standen bisher einzelne Aspekte von Krankheit, Stigma und Heilung im Zentrum der Analyse, insbesondere zu Klaras Behinderung (vgl. Dommes; Keith)
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und Heidis Heimweh (vgl. Pfeifer). Im Zuge der neueren Forschung zu Spyris Mutter, der pietistischen Dichterin Meta Heusser, und deren sozialen Umfeld,6 aber auch im Kontext der Migrations- und Heimatforschung gerieten die religiösen Aspekte in den Heidi-Romanen erneut in den Blick (vgl. Mergenthaler; Schindler). Während das schweizerische Idiom und die alpine Topik mehrfach untersucht wurden (vgl. Marquardt; Büttner/Ewers), zielten andere Forschungarbeiten zugleich auf die globale Übersetzungsgeschichte der Heidi-Figur ab (vgl. Halter; Luginbühl; Wissmer). Ein 2021 realisiertes Ausstellungsprojekt rekonstruierte zuletzt die Rezeptionsgeschichte der Heidi-Romane in Palästina und Israel, die seit der Übersetzung durch Israel Fishman zahlreiche Adaptationen und Wiederbegegnungen mit der hebräischen Heidi, bat ha-alpim (»Heidi, Tochter der Alpen«, 1946) ermöglicht hat (vgl. Büttner et al., 54). Unter genderspezifischen Gesichtspunkten waren die untersuchten intertextuellen Bezüge der Heidi-Romane auf Goethes Konzept des Bildungsromans ergiebig, weil dabei der Gegenentwurf einer weiblichen literarischen Sozialisation erkennbar wurde (vgl. Müller; Hurrelmann). Das Bildungsprojekt steht wiederum in engem Zusammenhang mit einer determinierenden Darstellung des kindlichen, nackten Mädchenkörpers in den Romanen und neueren Verfilmungen (vgl. Huemer). Im Hinblick auf das Lesepublikum wurde bereits des Öfteren die ambivalente Zielgruppenadressierung diskutiert, weil sie zwar eine Altersdifferenz eröffnet, aber auch genauso explizit einebnet (vgl. Braeuer). Die Verfasserin von Heidi’s Lehr- und Wanderjahre formuliert im Untertitel: »Eine Geschichte für Kinder und auch für Solche, welche die Kinder lieb haben« (Spyri, 1880). Und wer würde das nicht? Die Beiträge dieses Bandes gehen von dem Ansatz aus, dass einem kulturwissenschaftlich verpflichteten Ansatz der Diversitätsforschung nicht ohne eine Reflexion der interdependenten und intersektionalen Aspekte Rechnung getragen werden kann. Sie beziehen hierfür soziologische und darüber hinaus epistemische, historische, ästhetische und narratologische Gesichtspunkte ein. Auf diese Weise tragen sie bestenfalls zu der von Eva Blome angeregten »Methodenvermittlung zwischen Kultur- und Sozialwissenschaften« bei: »Gender als eine von mehreren zu analysierenden Kategorien im Rahmen einer allgemeinen Intersektionalitätstheorie«, um »Geschlechtererzählungen in ihrer diachronen und synchronen Verflechtung mit anderen identitätsstiftenden und antikategorialen Narrativen zu betrachten« (Blome, 67). Im Folgenden werden die Beiträge in den fünf übergeordneten Kapiteln (1) Raum und Zeit, (2) Klänge und Musik, (3) Bildung und Vermittlung, (4) Intersektionalität und Diversität sowie (5) Transformation und Fortschreibung jeweils kurz vorgestellt.
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Vgl. die umfangreichen Quellensammlungen, hg. von Regine Schindler, Bd. 1-5, mit einer Quellenedition auf https://pfarrherren.ch/ (23.2.2023).
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Die Beiträge im Einzelnen Im Zentrum der literaturwissenschaftlichen Beiträge zu Raum und Zeit in Kapitel (1) stehen die narratologische Konstitution und Semantisierung von Räumen sowie temporale Prozesse in den Heidi-Romanen. Der erste Beitrag des Kapitels stammt von Anna-Katharina Gisbertz und interessiert sich unter geschlechtsspezifischen Gesichtspunkten für das Gehen im Naturraum als Aneignung der Natur. Vor dem Hintergrund der Genderthematik verortet die Autorin das Gehen Heidis und insbesondere das Gehenlernen Klaras im zeitgenössischen weiblichen Freiheitsdiskurs. Die aufklärerischen Ideale der Freiheit und Selbstbestimmung gelten bei Spyri auch für die weiblichen Figuren, wodurch die Romane den bürgerlichen Diskurs zur Mädchenerziehung kritisch infrage stellen. Auch Alexandra Tischel fokussiert den Raum der Natur bzw. das ökologische Potenzial der Heidi-Romane und arbeitet die mit den Tieren, Pflanzen sowie der Umwelt verbundene Raumsemantik aus Sicht des Ecocriticism und der Human-Animal Studies heraus. Tischel zeigt auf, dass die Bergwelt als Naturidylle im Sinne Michail Bachtins gelesen werden kann. Eine besondere Rolle spielen dabei einerseits Heidis Tiere, die Ziegen, die als aktive und individuelle Spiegel- und Kontrastfiguren fungieren, und andererseits die Pflanzenwelt, die durch ihre heilende Wirkung zur Konstruktion der Idylle beiträgt. Doch wie Tischel hervorhebt, ist diese Idyllisierung höchst ambivalent; sie ist nicht nur modern, indem sie auf lebensreformerische und naturheilkundliche Diskurse um 1900 vorausweist, sondern weist durch die christliche Kontextualisierung zugleich konservative Tendenzen auf. Der Beitrag von Heidi Schlipphacke rückt die Zeit ins Blickfeld und demonstriert, dass Heidi als queeres Prinzip zu verstehen ist, das die normative Temporalität von Bildungsprozessen durchkreuzt. Als Ausgangspunkt der Argumentation dient eine Analyse des zweiten Romans. An seinem Ende wird das Ergebnis von Heidis Bildungsprozess vor allem im Aufbau einer queeren Familie ersichtlich. Diese Familie besteht in ihrem Kern aus zwei alten Männern, dem queeren Kind Heidi und den Ziegen. Sie ist nicht im Sinne linearer Fortschrittlichkeit konzipiert und, so veranschaulicht der Wechsel in das narrative Präsens, verbleibt in der ewigen Gegenwart. Karin Baumgartner widmet sich den Raumdarstellungen und speziell dem alpinen Raum als Heterotopie. Das Besondere der Heidi-Romane liegt Baumgartner zufolge in ihrer weiblichen Erzählperspektive und den Figuren, denn diese Alpen sind bevölkert von Alten, Frauen, Kindern und sozial Ausgegrenzten. Mit einer solchen antiheroischen Alpendarstellung unterläuft Spyri den hegemonialen Erhabenheitsdiskurs der Zeit, in welchem die Alpen männlich codiert waren. Der Beitrag mündet in einen Vergleich der Heidi-Romane mit Arno Camenischs ersten Roman Sez Ner (2009), in dem, so die These Baumgartners, eine Umschrift von Spyris Roma-
Linda Leskau und Sigrid Nieberle: Zur Einführung
nen erfolgt. Der Mythos Alp wird wiederum in Bezug auf seine Männlichkeitsideale kritisiert. Die Beiträge des Kapitels (2) zu Klang und Musik untersuchen die mit den HeidiRomanen verbundenen akustischen Dimensionen sowie die Musik ausgewählter internationaler Verfilmungen. Im ersten Beitrag widmet sich Melanie Unseld dem Topos der Alpen im Wienerlied des ausgehenden 18. Jahrhunderts aus einer musikhistorischen Perspektive. Sie konstatiert, dass die Alpen in der urbanen Unterhaltungsmusik als der Sehnsuchtsraum bzw. Heterotopie fungieren, die – ähnlich wie die Alpen in den Heidi-Romanen – mehrheitlich von sozial Ausgegrenzten bevölkert werden. In diesem Sinn, so argumentiert der Beitrag unter intertextuellen Gesichtspunkten, ist die Gattung des Wienerliedes mit ihrer spezifischen Konzeption des Alpenländischen ein fruchtbarer Kontext für Spyris Heidi-Romane. Thema des Beitrags von Sigrid Nieberle sind die Soundscapes der beiden HeidiRomane. Aus heutiger Sicht mag es überraschen, dass die akustischen Informationen sowohl urbane als auch rurale Räume als stille Räume konstruieren helfen. Die Stille bezieht sich genderspezifisch auf die Mädchenfiguren und breitet sich entweder in der disziplinarischen Strenge der bürgerlichen Erziehung oder als friedvolles Phänomen im pietistisch idealisierten Einklang mit Gott und Natur aus. Die zur Herstellung innerer Soundscapes nötige Technik der stillen Lektüre wird von Heidi im Frankfurter Hause Sesemann erlernt und danach von der Großstadt in den alpinen Raum transferiert. Um Musik und das Musizieren geht es im Beitrag von Cornelia Bartsch. Am Beispiel internationaler Heidi-Verfilmungen aus den 1950er und 1960er Jahren analysiert die Verfasserin den Zusammenhang von Musik und Identität vor allem im Hinblick auf Fragen von Abgrenzung und Zugehörigkeit. Das Liedersingen erweist sich als eine wichtige individuelle wie kollektive Technologie des Selbst für die filmische Neukonstitution der Familien- und Geschlechterverhältnisse nach 1945. Im Unterschied zum Liedersingen setzen Spyris Romane noch auf das Liederlesen. Das anschließende Kapitel (3) widmet sich Bildungsprozessen und ihrer didaktisch-pädagogischen Vermittlung mit besonderem Fokus auf interdependenten Kategorien wie Religion, Geschlecht, soziale und regionale Herkunft sowie Behinderung. Religion ist in diesem Zusammenhang, so die These des Beitrags von Claudia Gärtner, eine grundlegende und doch oftmals vernachlässigte Dimension der Heidi-Romane. Dies ist umso erstaunlicher, da Religion weitere wichtige Dimensionen wie Bildung und Natur maßgeblich beeinflusst. Interessant ist diesbezüglich auch die Rezeptionsgeschichte der Romane, in welcher die religiöse Dimension einerseits wertgeschätzt und andererseits als frömmlerisch und kitschig abgewertet wurde. Der Beitrag schließt mit einer religionspädagogischen Einordnung der Romane in die (post-)säkulare Gesellschaft. Bildungsprozesse stehen auch im Zentrum des Beitrages von Chantal Lepper und Nele McElvany. Vor dem Hintergrund theoretischer Modelle und empirischer
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Befunde zu bildungsrelevanten Diversitätsmerkmalen wie sozialer und regionaler Herkunft, Geschlecht und sonderpädagogischem Förderbedarf gehen die Autorinnen den Fragen nach, ob Spyris Heidi-Romane angesichts aktueller Perspektiven der Bildungsforschung neu geschrieben werden und ob sich Bildungsforschung im Zuge der Heidi-Lektüre weiterentwickeln müsste. Lepper und McElvany postulieren, dass die genannten Diversitätsmerkmale sowohl in der Gründerzeit als auch heutzutage entscheidend den schulischen Bildungserfolg beeinflussen und zudem stets als interdependente Kategorien verstanden werden sollten. Gudrun Marci-Boehncke, Hanna Höfer, Esther Weber und Lisa Hannich untersuchen die Heidi-Romane auf Grundlage der Mediatisierungsthese und nehmen dabei explizite Medienhandlungen der Figuren sowie die in der Romanwelt geschilderten Kommunikationsbedingungen zu Lebzeiten Spyris in den Blick. Kontextualisiert wird diese Analyse im Rahmen eines didaktischen Ansatzes, der zum einen verschiedene historische und aktuelle Perspektiven auf Kinder- und Jugendliteratur sowie zum anderen Hermeneutik und Empirie als Forschungsmethoden für die universitäre Lehramtsausbildung befragt. Die Beiträge in Kapitel (4) nehmen Spyris Heidi-Romane als Ausgangspunkt, um sich mit Fragen der Intersektionalität und Diversität auch theoretisch und historisch zu befassen. Dabei rückt vornehmlich die narrative Konstruktion von interdependenten Differenzkategorien wie Alter, Behinderung, soziökonomischer Status, (regionale) Herkunft, Sprache, gender, class und race in den Blick. Im Beitrag von Eva Blome geht es um Heidi als Vermittlungsinstanz, genauer um Heidi als transclasse-Figur, die zwischen dem bäuerlichen Milieu und dem Frankfurter Großbürgertum migriert. Blome interpretiert den sozialutopischen Schluss der Romane als Ergebnis von Heidis sozial-räumlicher Transgression. Dass Heidi lesen lernt, macht die Klassenunterschiede und unterschiedlichen Bildungskonzepte – freiheitliche Bildung vs. pragmatische Ausbildung – sowohl für Heidi als auch für die Rezipient*innen der Romane überhaupt erst lesbar. Im Kontext der Postcolonial Studies und der Hybriditätsforschung liest auch Christine Künzel die Figur Heidi als Vermittlungsinstanz bzw. als Figur des Dritten, die zwischen Kulturen oszilliert und durch die es letztendlich zu einer Versöhnung der zahlreichen Binärdichotomien im Text kommt. Anhand der Parallelisierung Heidis mit der Figur Toni aus Heinrich von Kleists Erzählung »Die Verlobung in St. Domingo« (1811) demonstriert Künzel, dass sich bereits im frühen 19. Jahrhundert die Einführung des ›Dritten‹ als poetologische Struktur beobachten lässt. Der Beitrag von Victoria Gutsche unterzieht die Heidi-Romane einer intersektionalen Lektüre, wofür sie die vielfältigen Behinderungs-, Krankheits- und Heilungsprozesse der Figuren analysiert und historisch einordnet. Behinderung erweist sich in den Romanen als interdependente Kategorie, die im Kontext zeitgenössischer medizinischer Diskurse zu Hysterie und Heimweh vornehmlich mit der
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Kategorie Geschlecht verknüpft, darüber hinaus jedoch nicht unabhängig von Alter und sozioökonomischem Status verständlich wird. Die Kategorie der Behinderung steht ebenfalls im Fokus des Beitrags von Cosima Nellen, Alexander Röhm, Michélle Möhring und Matthias Hastall. Die Autor*innen beschäftigen sich aus der Perspektive der Anti-Stigma-Kommunikationsforschung mit der Frage, inwiefern Medienfiguren wie Heidi eine stigmareduzierende Wirkung haben können. Dafür haben die AutorInnen ein journalistisches Fallbeispiel entworfen, um Heidi in ein modernes Setting zu versetzen. Die zugehörige experimentelle Online-Studie macht deutlich, dass die Bekanntheit von solchen Figuren grundsätzlich Potential hat, positiven Einfluss auf stigmatisierungsbezogene Einstellungen gegenüber Menschen mit Behinderung zu nehmen. Sprache bzw. Dialekt ist der Schwerpunkt des Beitrags von Barbara Mertins. Heidi kann aus sprachwissenschaftlicher Perspektive als weibliche und mehrsprachige Figur gelten, die ein eindrückliches Beispiel für die transkulturelle und polyglotte deutschsprachige Literaturgeschichte abgibt. Ausgehend von diesem Befund diskutiert die Verfasserin die Dialekte und Varietäten, die den Figuren zugeschrieben werden, aus der Perspektive der Psycholinguistik. Dabei steht die vermeintliche »Minderwertigkeit« von Dialekten argumentativ den kognitiven Vorteilen von Mehrsprachigkeit gegenüber. Das abschließende Kapitel (5) vereint Beiträge, die sich mit den vielfältigen Transformationen und Fortschreibungen der Heidi-Romane u.a. in Spielfilm, Anime, Comic, Übersetzungen sowie in Theatertexten auseinandersetzen. Agnes Bidmon geht in ihrem Beitrag den genderspezifischen Konzepten von girlhood nach und vergleicht Heidis Lehr- und Wanderjahre mit der japanischen Anime-Serie Heidi (1974) und dem in Deutschland produzierten Spielfilm Heidi (2015). Sie zeigt auf, dass Heidi in erster Linie als Projektionsfläche für Weiblichkeitskonzeptionen dient. Der Roman erweist sich dabei als höchst ambivalent und changiert zwischen Reproduktion und Auflösung der Geschlechterdifferenz, wohingegen die sehr viel später entstandene Anime-Serie und der jüngste Spielfilm auch aufgrund Bedingungen des medienspezifischen Zugriffs stärker dem binären Denken verpflichtet sind. Der Beitrag von Tanja Nusser behandelt die französischen und amerikanischen Heidi-Fortsetzungen des Heidi-Übersetzers Charles Tritten. Nusser zufolge lassen sich die höchst unterschiedlichen Fortsetzungen nur vor dem Hintergrund ihrer Editionsgeschichte und den zeitgenössischen Entwicklungen verstehen. Im Gegensatz zu den französischen Fortsetzungen, die für ein Schweizer Publikum geschrieben wurden und mit ihrer Abgrenzung zu Nazi-Deutschland durchaus politisches Potential aufweisen, propagieren die amerikanischen Fortsetzungen eine ›schweizerische Identität‹ – naturverbunden, familienorientiert und konservativ. Irina Gradinari befasst sich in ihrem Beitrag mit verschiedenen Heidi-Verfilmungen – vor allem der Verfilmung aus dem Jahr 1965 unter der Regie von Werner
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Jacobs – im Kontext des Heimatfilm-Genres. Ihre besondere Aufmerksamkeit gilt dabei der Figur des Kindes und dem damit verbundenen medienästhetischen Paradigma. Die Autorin argumentiert, dass die Spielfilme durch die Konstruktion des ›naiven‹ Blickes des Kindes die Sehnsucht nach einer idealisierten und unvergänglichen Heimat kulturalisieren. Im Zentrum des Beitrags von Marina Rauchenbacher stehen verschiedene Comic-Adaptationen der Heidi-Romane und deren Darstellung von Krankheit bzw. Dis_ability anhand der Figur Klaras und ihrer ›wundersamen‹ Heilung. Anhand ausgewählter Szenen, die das Gehenlernen Klaras zeigen, demonstriert Rauchenbacher, dass in den Comics essentialistische Vorstellungen von ›normalen‹ Körpern sowie binäre Klassifizierungen wie gesund/krank bzw. behindert/nichtbehindert kritisch hinterfragt werden. Daraus entsteht ein produktives Spiel mit (Un-)Sichtbarkeit sowie (Un-)Verletzbarkeit. Der den Band abschließende Beitrag von Franziska Bergmann liest René Polleschs Heidi Hoh arbeitet hier nicht mehr als Intertext. Dieser Theatertext (UA 1998) ist zuallererst über den im Titel verwendeten Namen Heidi mit Spyris Romanen verbunden. Auch wenn sich Polleschs Text nicht explizit mit den Prätexten auseinandersetzt, greift er doch markante Motive aus den Heidi-Romanen auf und diskutiert auf dieser Folie die Bedeutung geschlechtlich codierter Klassenverhältnisse. Auf diese Weise, so Bergmann, reflektiert Polleschs Diskurstheater zugleich den Kontext der queer-theoretischen Debatte der Nullerjahre durch den Konnex von gender und class.
Dank Für die bereichernde Zusammenarbeit an diesem Wiedersehen mit Heidi danken die Herausgeberinnen herzlichst allen Autor*innen dieses Bandes sowie den engagierten Studierenden, die sich auf das Vorhaben eingelassen haben. Ohne die Unterstützung aus dem Team wäre das Projekt nicht möglich gewesen. Ganz besonders danken wir hierfür Lara Carina Schlömer und Julia Truß.
Bibliografie Blome, Eva. »Erzählte Interdependenzen. Überlegungen zu einer kulturwissenschaftlichen Intersektionalitätsforschung.« Diversity Trouble. Vielfalt – Gender – Gegenwartskultur, hg. von Peter C. Pohl und Hania Siebenpfeiffer, Kadmos, 2016, 45–67. Braeuer, Ramona. »Johanna Spyris Heidis Lehr- und Wanderjahre – ein Buch für jung und alt.« Deutschunterricht 45, 6, 1992, 305–310.
Linda Leskau und Sigrid Nieberle: Zur Einführung
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I. Raum und Zeit
Gehen, um frei zu sein Zu den Lehren der Aufklärung in Heidi Anna-Katharina Gisbertz
Die Alpen als Sehnsuchtslandschaft Die Heidi-Romane bringen eine außerordentliche Lebendigkeit und Leichtigkeit in die Wahrnehmung der Alpennatur ein, die kindliche Freude, Glück und Zufriedenheit vermitteln. In die Natur hinauszugehen und mit ihrem Freund Peter samt der Geißen »lustig die Alm hinan« (Spyri 1880, 33) zu steigen, lässt Heidi gern einmal jauchzen. Während sie in Frankfurt unter der Enge des Hauses und dem Verbot, allein hinauszugehen, so stark leidet, dass sie schwer krank wird, findet sie in den Alpen auch den geeigneten Ort für ihre Heilung. Die Hinwendung zur unberührten Natur, deren Schönheit unumwunden bewundert wird, bildet gegenüber der menschenfeindlichen Stadt ein zentrales Erzählmotiv des Romans.1 Durch den Blick über die Berge, den Wohlgeruch der Wiesen oder über die friedliche Stille entsteht ein synästhetischer Eindruck der Geborgenheit in der Natur. Die »Beschwörung einer idealen, mythischen Berglandschaft« kennzeichnet folglich das Kinderbuch (Escher und Strauss, 114). Die ungeheure Wirkung dieser Idealisierung ließ nicht lange auf sich warten und prägt das Bild der Schweiz als Sehnsuchtsort in der hohen, einsamen Natur bis heute. Das Bedürfnis, diesen Ort nicht ausschließlich als Idylle oder Utopie zu betrachten, führte mitunter dazu, ihn real werden zu lassen. So können Touristen seit geraumer Zeit im Dorf Mayenfeld ihrer Sehnsucht nach authentischer Natur nachgehen. Von den Alpen zog sich die Vorstellung von der idyllischen Landschaft schließlich über die ganze Schweiz hin, wie Jean-Michel Wissmer meint: »Die Sauberkeit der Luft, die bäuerlich geprägten Werte, die Solidität und der ländliche Komfort sind von den Alpen heruntergestiegen und haben sich in den Städten niedergelassen. Kurzum: das Heidi-Universum hat die Schweiz erobert!« (Wissmer, 51)
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»Nie versäumt es Spyri, die Schönheit einer Natur hervorzuheben, deren Aufgabe es ist, besänftigend und heilend auf die Menschen zu wirken (auch wenn sich diese mitunter von ihrer bedrohlichen Seite zeigt).« (Wissmer, 141)
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Das Interesse an der mythischen Unverfälschtheit der Natur befestigte ein Bild der Alpen als locus amoenus, das sich bereits im 18. Jahrhundert ausgebildet hatte (vgl. Lughofer). So stilisiert Albrecht von Hallers Alpen-Gedicht (1729) erstmals den ergötzenden Anblick gottgewollter Natur in den Alpen. Von Haller stellt die Alpenlandschaft als einen Ort der umfassenden Harmonie dar: Allein der Himmel hat dieß Land noch mehr geliebet, Wo nichts, was nöthig, fehlt und nur, was nutzet, blüht: Der Berge wachsend Eiß, der Felsen steile Wände, Sind selbst zum Nutzen da, und tränken das Gelände. (Haller, Z. 317–320) Die Welt der Alpen genügt sich in Hallers Gedicht selbst, wobei sich auch alles an seinem vorbestimmten Platz vollzieht. Die Menschen können – frei und dennoch fest mit der Landschaft verbunden – für sich und andere walten. Zunehmend werden im Laufe des 18. Jahrhunderts laut Georg Escher und Marie-Louise Strauss »die Alpen in ganz Europa mit Freiheit, Reinheit, erhabener Naturschönheit und unverdorbenem Landleben assoziiert, wie es in den industrialisierten Großstädten des Flachlandes nicht mehr möglich ist« (Escher und Strauss, 106). Mit seiner Idealisierung der Natur ebnet von Haller den Gedanken der Frühaufklärung einen Weg, in der der freie Bürger den Naturraum als Spiegel für die eigene innere Vervollkommnung auffasst. Die hohe Wertschätzung der schönen Natur lässt sich als Ausdruck von Spyris pietistischer Religiosität verstehen und zeigt sich ebenfalls in Spyris weiteren Werken. Regine Schindler zufolge schließt Spyri mit ihrer Naturbegeisterung und deren überirdischem Charakter an die Erbauungsliteratur an (vgl. Schindler 2001, bes. 57–60). In den christlichen Analogien sei eine weitverbreitete Sehnsucht nach einem Rückzugsort von den Anforderungen der Industriegesellschaft erfüllt und die Vorstellung von einer erhabenen, reinigenden Natur gegeben (ebd.). Demgegenüber sieht Karin Baumgartner in der Naturbegeisterung der Alpen eher einen einladenden Ort für alle.2 Denn Spyri verwandle den männlich geprägten Erhabenheitsdiskurs über die Alpen in einen locus amoenus, indem sie die Alpenwelt aus der Sicht einer Frau zeigt. Wie der vorliegende Aufsatz zeigen möchte, knüpft Spyri mit der Gestaltung der schönen Alpennatur auch an die Erziehungsideale der Aufklärung an, indem die Alpen als Heterotopie für Freiheit und Gleichheit einstehen.3 Spyri entwickelt in ihrem Kinderbuch damit auch eine Alternative zum bürgerlichen Erziehungsprogramm für Mädchen ihrer Zeit, denen die Lehren der Freiheit und Gleichheit noch abgingen. In Spyris Schreiben wird dadurch ein progressiver Zug erkennbar, der sich auf
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Vgl. den Beitrag von Karin Baumgartner in diesem Band. Vgl. zum einschlägigen Raumbegriff Foucault und Miskowiec.
Anna-Katharina Gisbertz: Gehen, um frei zu sein
die geschlechtliche Gleichberechtigung und die Frage nach einer aufklärerisch inspirierten Bildung für Kinder bezieht. Vermittelt wird dieser Anspruch durch die Begeisterung für das Gehen auf eigenen Füßen, das ein zentrales Bewegungsmuster der Aufklärung darstellt. Der Anspruch auf individuelle Freiheit und Selbstbestimmung wird anhand physiognomischer Beschreibungen verdeutlicht. Auf eigenen Füßen zu gehen war, wie bislang unbemerkt blieb, um 1880 noch keine Selbstverständlichkeit für Frauen aus dem Adel und dem Bürgertum. Für das erstarkende Bürgertum bedeutete zu gehen bereits, frei, allein und vor allem selbstbestimmt zu sein, was die Heidi-Figur durch die Steigerungen des Hüpfens und Springens überzeichnet zum Ausdruck bringt, während Klara im Gegenzug in ihrem Zuhause nicht einmal beigebracht bekommt, wie man geht. Als biographischer Hintergrund ist anzumerken, dass Spyri selbst bereits eine begeisterte Spaziergängerin war, die während ihrer Gänge mit einer Freundin auch den Stoff für Heidi sammelte (Schindler 2004, 54). In ihren Briefen berichtet Spyri von Gängen in die sie umgebende Natur, oder sie sei »faul von Baden u. Trinken u. Wandern« (Spyri 2004, 251). Als Autorin liebte sie zudem Bildungsreisen und organisierte mit ihrer Familie bereits Besuche in Italien, Deutschland und im Elsass. Nach dem Tod ihres Mannes machte der schmerzliche Verlust einem neuen Gefühl der Freiheit und Unabhängigkeit Platz (Escher und Strauss, 58f.). Spyri entwickelte nicht nur am Spazieren, sondern auch am Reisen eine große Lust und wechselte ihre Aufenthalte zwischen Montreux sowie den Bergen im Sommer und der italienischen Riviera im Winter. Demgegenüber wirkt Spyris Leben in ihrer bürgerlichen Rolle als Ehefrau und Mutter eingrenzend, und sie litt unter Depressionen. Von ihrer Gleichsetzung mit Heidi ist die Forschung abgerückt, um auf ein brüchigeres Leben zu verweisen, das von einem großen Selbstbestimmungsdrang im Beruf und ihren Depressionen geprägt ist (vgl. Schindler, 1997; Schindler 2011, 47–64; Escher und Strauss, 7–99). Im Folgenden wird unter Berücksichtigung der Zerrissenheit, die Spyris Leben prägt, zunächst die kulturelle Bedeutung des Gehens im historischen Kontext der Aufklärung rekapituliert, um anschließend der Immobilität von Klara im Licht des Erziehungsprogramms der Aufklärung neue Perspektiven abzugewinnen.
Das Gehen auf eigenen Füßen als Ertrag der Aufklärung Man muss nicht tief in die Kulturgeschichte der Menschheit blicken, um die starken historischen Wandlungen des Gehens zwischen der Notwendigkeit zu überleben und dem reinen Vergnügen erfassen zu können. Dass der Mensch auf zwei Beinen gehen konnte und zwei Arme hatte, um ein Handwerk auszuüben und zu arbeiten, kann als entscheidender Erfolg der Evolutionsgeschichte angesehen werden
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und förderte den Zivilisationsprozess (vgl. z.B. Johann-Günter König). Die Erfindung von Werkzeugen machte die Menschen sesshaft, was eine zentrale Errungenschaft aller Hochkulturen war. Zu gehen bedeutete also Zwang, der bis in die Neuzeit anhielt. Pilger und Naturforscher bildeten unter den Gehern eine Ausnahme. Der Zwang traf vor allem die ärmeren Bevölkerungsschichten, denn die Armen gingen aus der Not zu Fuß, was bis ins späte 18. Jahrhundert gelebte Praxis blieb: Auf ihren eigenen Füßen bewegten sich nur die gänzlich Mittellosen: Handwerksburschen und arme Studenten, wandernde Schauspieler und Gaukler, Landstreicher, Bettler und Briganten, mit Ausnahme der Handwerker also unbehauste Bevölkerungsgruppen, die nicht in die Ständegesellschaft integriert waren und als ›unehrbar‹ galten. (Griep, 752) Erst die Aufklärung eroberte gegen Ende des 18. Jahrhunderts neue Freiräume für die bürgerliche Gesellschaft durch das Gehen auf eigenen Füßen. Einerseits fokussierten erste Wanderberichte auf neue Bildungserkenntnisse, und andererseits wurde das sogenannte Lustwandeln, der heutige Spaziergang, als Freiheitsausdruck entdeckt. Durch das Wandern befreiten sich die oft aus protestantischen oder gar pietistischen, bürgerlichen und akademisch gebildeten Elternhäusern stammenden Söhne sukzessiv aus der Enge ihrer Hausvaterpflichten, übernahmen jedoch die Vorstellung der Väter von einer naturwissenschaftlichen Erschließung der Welt: »Kompaß und topographische Karten, Bestimmungsbücher für Pflanzen und Mineralien, Zeichenstift oder Kamera, Geschichtsbücher und Sternkarten, all dies gehört nach wie vor zur Grundausstattung ernsthafter Wanderer.« (Althaus, 42) Ihre Wanderberichte fokussierten auf den pragmatischen Nutzen der Schriften. Sie übten Sozialkritik und entwarfen ein Kontrastprogramm zwischen der schönen Architektur, die in zahlreichen Reisebänden gelehrt wird, und der Schilderung der sozialen Misere. Besonders in Deutschland entwickelte sich eine Wanderfreude, der eine aufklärerische Zweckorientiertheit eigen blieb. So gingen Karl Philipp Moritz 1782 nach England und andere nach Italien und Paris, wovon sie anschließend berichteten (vgl. Hase; Zeller).4 Die Wanderer verbanden mit ihren Berichten politische Ziele, um Revolutionsbegeisterung zu wecken (vgl. Althaus), oder sie priesen den Alltag in Form einer »Poesie des alleinigen Staunens«. (Meyer, 109). Der Naturgenuss verband sich mit der Einübung bürgerlicher Tugenden wie »freier Blick, Körperbeherrschung, Askese, Disziplin, Selbstkontrolle und Sittlichkeit, Bildung, Gesundheit und Fleiß« (Althaus, 42). Ausgestattet mit diesen Zielen wiesen sie auf die Wanderlust der Turner im Gefolge Jahns und die Burschenschaften des 19. Jahrhunderts voraus. Ganz anders stellt sich das Lustwandeln als Bewegungsform dar, die in der Aufklärung ebenfalls populär wurde. Jean-Jacques Rousseau verbindet in den Träume4
Fußreisen unternahmen ferner Bougrenet de la Tocnaye, C. G. Hauff und C. H. Pfaff.
Anna-Katharina Gisbertz: Gehen, um frei zu sein
reien eines einsamen Spaziergängers und in seinem Bildungsroman Emile sein Ideal einer freiheitlichen Erziehung mit dem Gehen, deren Ziel und Zweck darin bestehe, eben kein nützliches Ziel zu verfolgen. Der Spaziergang gilt für Rousseau als Entdeckungsmöglichkeit des eigenen Willens: Ich kenne nur noch eine angenehmere Art zu reisen als zu Pferde, nämlich zu wandern. Man zieht los, wann man will, macht halt, wann man will, bewegt sich so viel oder sowenig man will. […] Ich gehe überall da, wo ein Mensch durchkommen kann; ich sehe alles, was ein Mensch sehen kann, und nur von mir selbst abhängig, genieße ich alle Freiheit, die ein Mensch genießen kann. […] Will man aber reisen, muß man zu Fuß gehen. (Rousseau, 823ff.) Das Gehen auf eigenen Füßen stellt Rousseau hier in einen Zusammenhang mit der Freiheit, sein eigener Herr zu sein. Indem das erzählende Ich mehr sieht und genießt, konzentriert sich das aufklärerische Ideal der Selbstvervollkommnung durch Bildung auf die Möglichkeit, auf eigenen Füßen zu gehen. Denn dadurch entsteht auch eine geistige Bewegung. Rousseaus Lust am Gehen markiert den Beginn eines Booms von Fußwanderern, die um 1800 auch von ihren Reisen berichteten. Das Lustwandeln wurde zur idealen körperlichen Bewegung des aufgeklärten Bürgers stilisiert (vgl. Wellmann).5 In dieser Zeit entstehen auch ästhetische Studien über das Gehen, die sich auf die Verbindung von Geist und Leib im Zuge der menschlichen Vervollkommnung konzentrieren. So fasst Karl Gottlob Schelle in seiner Schrift Die Spaziergänge (1802) wesentliche Momente des gerade entdeckten Lustwandelns im Bürgertum zusammen: Zentral sei die unmittelbare geistige Bereicherung, denn der Geist »tritt dadurch in unmittelbare Gemeinschaft, mit Natur und Menschheit […]«. (Schelle, 57) Der Geist nehme die Natur dabei nicht intellektuell wahr, sondern ästhetisch. Damit würden nicht die vorgefertigten Denkmuster aktiviert, die die Gesellschaft etwa nach Ständen unterscheiden, sondern es entstehe auch der Gedanke der Gleichberechtigung durch das Sehen. Denn jeder bekomme die Möglichkeit zu denken, was er will. Das Gemüt könne zudem nur dann heiter werden, wenn keine Verpflichtungen vorlägen: »Spatzierengehn ist ein freyes Vergnügen und besteht mit keinem Zwang.« (Schelle, 58) Um den Sinn für die Natur zu erhalten, solle man am besten von Zeit zu Zeit eine Reise in die erhabene Natur unternehmen, »und sie müßte eigentlich zu Fuß gemacht werden, müßte ein wirkliches Lustwandeln, nicht ein be-
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Wie in vielen anderen Lebensbereichen um 1800 bleibt die französische Gesellschaft Vorbild für das Lustwandeln, wobei Paris mit seinen großen Gartenanlagen eine Vorrangstellung zukommt. Der im Süden gelegene Jardin du Luxembourg gilt als prominente Promenade des dritten Standes, und dieser »einfache, ungestörte Wandel des einfachen, schlichten Spatziergängers […]« überträgt sich – wie Rousseaus Einfluss erkennen lässt – auf das deutsche Bürgertum (vgl. Fauser, »Die Promenade als Kunstwerk« in Schelle, 293).
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schwerliches Reisen sein, um sich vollen Genuß davon zu versprechen.« (Schelle, 68) Die Art der Geistestätigkeit beim Spaziergang müsse immer »leicht und anstrengungslos« sein. (Schelle, 74) Im Gegensatz zum Fahren und Reiten sei das »Spatzierengehn […] die natürlichste Art des Lustwandelns, weil sie ganz von uns selbst abhängt und uns ganz uns selbst überläßt. Wir befinden uns beim Spatzierengehn in völliger Freyheit […].« (Schelle, 110f.) Wer sich so auf die Natur einlässt, kann sie laut Schelle auch zum Sprechen bringen. Einschlägige Beispiele bieten ihm neben Rousseaus Werken auch Goethes Werther oder der Osterspaziergang des Faust. Im Gehen auf eigenen Füßen, ohne Gepäck und nicht zu lang, geht Schelle folglich dem Zusammenhang von leiblicher und geistiger Betätigung als ästhetischem Vergnügen nach. Das Gehen wird von ihm zu einer Kunstform erhoben, die das Gefühl von sich und der eigenen Willensfreiheit leiblich vermitteln kann. Wer geht, kann viel davon lernen, was den Forderungen der Aufklärung entspricht: die Einheit von Mensch und Natur, das Gefühl der Freiheit und Zwanglosigkeit, der Leichtigkeit und Anstrengungslosigkeit sowie nicht zuletzt ein Bewusstsein für den eigenen Willen. Wie verbindlich die Bewegungsform des Lustwandelns mit dem Freiheitsgedanken verknüpft ist, macht auch die ironische Note in Johann Gottfried Seumes Reiseerzählung Der Spaziergang nach Syrakus (1802) einmal mehr deutlich. Denn Seume verwandelt seinen beschwerlichen Fußmarsch nach Italien durch die Bezeichnung als »Spaziergang« ebenfalls in einen locus amoenus, womit er seine Leserschaft sogar zu Massenreisen nach Italien mobilisieren konnte. Dabei hatte sich Seume selbst stark gefordert, da er in knapp neun Monaten von Sachsen nach Sizilien gewandert und über Frankreich wieder zurückgelaufen war, somit also eine sportliche Großleistung vollbracht hatte. Da er »den Gang für das Ehrenvolleste und Selbstständigste in dem Manne« hielt (Seume 1993, 543), kann seine Reisebeschreibung als didaktischer Großversuch zur Propagierung der Aufklärung verstanden werden. Denn es gelang Seume, durch seine Wahrnehmung der schönen Natur auch zur geistigen Emanzipation seiner Leserschaft anzuregen. Er schreibt: Wer geht, sieht im Durchschnitt anthropologisch und kosmisch mehr, als wer fährt. … Fahren zeigt Ohnmacht, Gehen Kraft. Schon deswegen wünsche ich nur selten zu fahren, und weil ich aus dem Wagen keinem Armen so bequem und freundlich einen Groschen geben kann. (Seume 1993, 543) Zu Seumes bürgerlich-männlichem Habitus und seiner Kritik an den sozialen Missständen zeigt er sich durch die immer wieder betonte vermittelte Gehfreude auch als »ein empfindsamer Reisender, der das eigene Ich auslotet« (Althaus, 34). Das Gehen auf eigenen Füßen wurde ab 1800 folglich mit zentralen menschlichen Bildungserlebnissen verbunden und trieb das Vervollkommnungsprogramm
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des Menschen auf unterschiedliche Weisen voran.6 Dabei kann das Lustwandeln als eine gebändigte Form des Gehens aufgefasst werden, das sich vom Kraftakt des Wanderns deutlich unterscheidet. Es bedeutet ein lustvolles Müßiggehen in sicherer Umgebung, während das Wandern Grenzen überschreitet, dem Einzelnen Mutproben abverlangt und mitunter harte Selbstauseinandersetzungen in Kauf nimmt. Der weite Horizont romantischer Wanderungen bleibt dem Spaziergang fern: »Ein Wanderer kann sich verirren, ein Spaziergänger allenfalls verlaufen.« (Schneider, 146) Die Natur wird in der Aufklärung zu einem kultivierten Raum und einer verschönerten Landschaft, die im Auge des Betrachters entsteht: »Der Mensch tritt der autonomen Natur gegenüber, die dadurch an sich wertvoll und genießbar, ästhetisch zurückgewonnen wird.« (Fauser, 295) Zurück zu Heidi, lassen sich zahlreiche Momente des Lustwandelns durch Heidis Blicke in die Natur und das Gefühl der lebendigen Teilhabe erkennen, die auch auf Heidis freundliches Gemüt zurückstrahlen.7 Ihre Gänge sind von einer ausnehmenden Leichtigkeit, zumal sie meistens springt und hüpft und dafür mitunter ermahnt wird: »Hör auf zu hopsen, […],« sagt Peter (Spyri 1880, 39). Wie Wissmer andeutet, verbindet sich mit dem Naturbild auch ein pädagogisches Plädoyer, das sich an Rousseaus und Pestalozzis Lehren orientiert: »Was Heidi lebt, entspricht genau dem, was man unter der ›Schule der Natur‹ versteht.« (Wissmer, 61)8 Heidi lehrt folglich auch die Einheit mit und Teilhabe des Menschen an der Natur. Die Figur zeigt, wie es ist, sich auf eigenen Füßen frei zu bewegen. Das Kind zieht am Berg zuerst die Schuhe aus, dann rennt es, springt und hüpft sogar so eifrig, dass das Verhalten auf Heidis Umgebung abfärbt. Nicht umsonst möchte Klara schließlich gehen lernen, was Spyri offenbar in guter Tradition der Aufklärung als Chance auf Selbstbestimmung versteht.
Gehende Frauen In der Gehliteratur ist das Gehen auf eigenen Füßen jedoch ausschließlich männlich codiert, sodass es nur Männern möglich war, allein in die Natur zu gehen. Frauen aus der bürgerlichen Schicht durften das Haus im 19. Jahrhundert noch kaum ohne 6 7
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Von einer massenhaften Wanderbewegung im Sinne touristischen Genießens kann dennoch erst im 20. Jahrhundert die Rede sein (vgl. Johann-Günter König, 170). »Dem Heidi war es so schön zu Muth, wie in seinem Leben noch nie. Es trank das goldne Sonnenlicht, die frischen Lüfte, den zarten Blumenduft in sich ein und begehrte gar Nichts mehr, als so da zu bleiben immerzu. So verging eine gute Zeit und Heidi hatte so oft und so lange zu den hohen Bergstöcken drüben aufgeschaut, daß es nun war, als hätten sie alle auch Gesichter bekommen und schauten ganz bekannt zu ihm hernieder wie gute Freunde.« (Spyri 1880, 37) Dabei schließt Wissmer nicht aus, dass die Natur auch bedrohlich erscheinen kann (vgl. 51).
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Begleitung verlassen, was der Heidi-Roman durch Klara thematisiert. Die Geschichte des Gehens grenzt Frauen aus der ›Schule der Natur‹ aus.9 Laut Karin Sagner wurde die Welt außerhalb der häuslichen Umgebung schon allein für die bürgerliche oder adelige Mode als unpassend angesehen (vgl. Sagner, 27). Zudem erschien es als gefährlich, wenn Frauen unbewacht das Haus verließen. Die Geschlechterdifferenz offenbart in der Geschichte des Gehens somit grundsätzlich »ungleiche Bewertungen der öffentlichen Raumaneignung für die Gruppe der Männer wie die der Frauen« (Gudrun König, 18). In der bildenden Kunst tauchen gehende Frauen dennoch ab dem späten 18. Jahrhundert zum ersten Mal auf.10 Ein Wandel vollzieht sich nur langsam, indem Frauen im Zuge des erstarkenden Bürgertums öffentliche Parkanlagen, Gärten und Boulevards mitnutzten.11 In die Natur hinauszuwollen, verlangte ihnen hingegen einigen Mut ab, was viele noch bremste und zum Blick aus dem Kutschenfenster oder zu einer verpflichtenden Begleitung durch den Mann zwang. Erste Geherinnen waren nicht zuletzt dem Vorwurf des Leichtsinns ausgesetzt, sodass das Lustwandeln noch lange Zeit den Männern vorbehalten blieb. Männer waren um den Verlust der Weiblichkeit besorgt und entwarfen Kleiderordnungen und Haltungsvorschriften, die in Anstandsbüchern verbreitet wurden.12 Im 19. Jahrhundert verbanden sich in den wissenschaftlichen Abhandlungen zudem physiognomische Beobachtungen mit Charaktereigenschaften, die die Geschlechterdifferenz weiter vertiefen sollten. Denn das Schwingen der Beine und Aufsetzen der Füße zum rechten Zeitpunkt konnte als Ausdruck charakterlicher Eigenheiten gewertet werden. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts lockerten sich die Vorschriften, allerdings nur sehr zögerlich.
Alpinistinnen im 19. Jahrhundert Besonders die Bergwelt galt unter den Gehern als sehr gefährlich und männlich geprägt, sodass Frauen es schwer hatten, darin zu bestehen und auch dafür anerkannt zu werden. Die Entdeckung der Alpen als ideale Natur war als erhabene männliche 9 10 11
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Zentral weist Karin Sagner auf diesen Missstand hin, auf die sich die Ausführungen im Folgenden beziehen. Wie konventionell der Spaziergang noch angelegt war, macht Krebber (91–97) deutlich. Unter den Autorinnen des ausgehenden 18. Jahrhunderts finden sich mit Sophie von La Roche, Johanna Schopenhauer und Dorothea Sternheim auch begeisterte Spaziergängerinnen, die vor allem ihre Sonntagsspaziergänge verschriftlichen (vgl. dazu Sagner, 15). Siehe z.B.: »Das Haus ist die rechte Heimat des Weibes. Hier ist die Stätte Deiner Thätigkeit und darum auch Deiner wesentlichen Freude. […] Armselig ist die Jungfrau, die außer dem Hause ihre besten Freuden sucht; sie sucht, findet aber nicht […].« (Anstandsbuch für junge weibliche Leser (1867), zit.n. Sagner, 107)
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Domäne konzipiert, worin sich das vermeintlich starke Geschlecht durch Selbstüberwindung und die Bezwingung der Gipfel behaupten konnte: »Das Ausdauer, Trittsicherheit und Kraft erfordernde Bergsteigen als fester Bestandteil männlicher Riten (Initiation) konnte von den Frauen entsprechend nur gegen große Widerstände erobert werden.« (Sagner, 119f.) Auf dem Spiel standen ihr Verlust der Weiblichkeit und die Gefahr der Vergewaltigung. Die Berge bildeten somit eine scheinbar natürliche Barriere für Frauen. Trittsicherheit bedeutete nicht nur, von einer guten Physiognomie zu sein, sondern lenkte auch zielstrebig zu dem meistersehnten Blick: den Gipfelblick. Wer es nach oben geschafft hatte, genoss das Gefühl der Erhabenheit, des Überblicks und Weitblicks. Ebendies wurde den Frauen verwehrt. Die ersten Alpinistinnen verstießen dennoch bereits ab dem frühen 19. Jahrhundert gegen die üblichen Erwartungen und brachen der Wanderlust Bahn. Sie verhielten sich gegen die Vorschriften, indem sie selbstständig auf Reisen gingen, spazierten und wanderten. Es blieb noch bei Einzelfällen innerhalb der adligen Oberschicht, wozu auch die französische Adelige Henriette d’Angeville gehörte. Sie bezwang 1838 als erste Frau den Mont Blanc und veröffentlichte ihre Erlebnisse, um klarzustellen, dass sich Frauen genauso heldenhaft bewähren können wie Männer. D’Angeville stellte dem Vorwurf, als schwaches Geschlecht zu gelten, ihre Leistung des Aufstiegs als Ergebnis der Willenskraft entgegen, wie auch das Schreiben zu einer Willensprobe für sie wurde. Damit dementierte sie die Vorstellung von der weiblichen, schwachen Natur und kritisierte die Abwertung der Frau. Laut Sagner ist für d’Angeville die »Fiktion eines modernen Frauenbildes – Wollen heißt Können« als »Wahlspruch dieser Wegbereiterin des Frauenalpinismus« festzuhalten (Sagner, 129). Da die Alpen- und Wandervereine noch bei ihrer Gründung Mitte des 19. Jahrhunderts keine Mitgliedschaft von Frauen vorsahen, kann Heidi der Tradition der Alpinistinnen zugeordnet werden, indem sie die Willensstärke zu einem Charakteristikum der guten Erziehung für Mädchen macht (vgl. Sagner, 117–137). Wie getreu das Gehen im Kinderbuch als Kennzeichen der Willensstärke gedeutet wird, zeigt nicht nur die eingeschnürte Klara, sondern auch die deformierten Gehweisen einer Frau Rottenmeier, die immer wieder stolpert. Oder Peter springt komisch, als sein schlechtes Gewissen ihn plagt. Er hat den Eindruck, von einer unsichtbaren Peitsche verfolgt zu werden. Die Strafe ereilt ihn ebenfalls leiblich. Denn er stolpert wegen seines schlechten Gewissens und stürzt schließlich wie der Rollstuhl, den er fortwarf, den Hang hinab.13
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Er »ächzte laut und hinkte weiter, es musste ja sein, er musste wieder hinauf. Aber rennen konnte er jetzt nicht mehr, die Angst und die mannigfaltigen Stöße, die er soeben erduldet hatte, konnten nicht ohne Wirkung bleiben. So ging es denn im Hinken und Stöhnen weiter die Alm hinauf« (Spyri 1881, 152).
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Klaras Geherfolg als pädagogisches Programm Unter der Perspektive des Gehens als zentrales Bewegungsmuster der Aufklärung erhält die Situation Klaras einen bestimmten Zuschnitt, der die typische Eingrenzung der bürgerlichen Frau und das Verbot, sich zu einer selbstständigen Persönlichkeit zu entwickeln, geradezu dramatisch inszeniert. Klara repräsentiert demnach das bürgerliche Fräulein in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, das nicht ohne Begleitung auf die Straße ging (vgl. Sagner, 11–34). Sie wächst in einer großbürgerlichen Umgebung auf, deren Werte und Normen sich auf die Domestizierung und systematische Begrenzung der geistigen Fähigkeiten von Frauen richteten, indem Frauen etwa nie allein sein durften. Klara wirkt entsprechend »lahm und sonst nicht gesund«. (Spyri 1880, 79) Sie langweilt sich grenzenlos, ist antriebslos und restlos unglücklich. Den ganzen Tag über wird sie »von einem Zimmer ins andere gestoßen«. (Spyri 1880, 89) Ihr Haus ist von Gittern und Mauern umgeben und bietet nur Ausblicke auf graue Straßen. Sie darf nicht allein das Haus verlassen und ist den Rollenzwängen von Kindesbeinen an ausgesetzt, denn »zum Lernen sitzt man still auf seinem Sessel und gibt acht.« (Spyri 1880, 110) Stillzusitzen scheint Klaras erste Pflicht zu sein. In der Dienerschaft dürfen Frauen allenfalls »trippel[n]« (Spyri 1880, 97) wie die Jungfer Tinette. Durch die Einführung Heidis in die Frankfurter Welt erzeugt Spyri eine Außenperspektive, die den Effekt einer Karnevalisierung der bürgerlichen Sitten erreicht.14 Denn die zahlreichen ungeschriebenen Gesetze für kleine Mädchen werden durch Heidi, die sie nicht kennt, zeitweise überschritten. Dadurch werden sie zugleich kritisiert und in ihrer Legitimität hinterfragt. Mit Heidi setzt eine Umkehrung der Werte ein, die ein befreiendes Lachen erzeugen kann. Sorgfältig strukturiert Spyri die einzelnen Kapitel unter dem Aspekt des ›Gehens auf eigenen Füßen‹, wobei die drakonischen Erziehungsmethoden an Mädchen exemplarisch vorgeführt werden. Das beginnt mit Heidis erstem Versuch, sich eine Aussicht zu verschaffen, für den sie schwer getadelt wird. Heidi habe sich »ungezogen, wirklich strafbar benommen, dass du das Haus verlässest, ohne zu fragen.« (Spyri 1880, 121) Als Heidi sich schließlich wünscht, wieder auf die Alm zu gehen, wird ihr Abschied als »Fluchtversuch« (Spyri 1880, 136) gedeutet, und ihre Hoffnungen bleiben lange Zeit unerhört. Heidi wird darüber krank und beginnt im Schlaf zu wandeln. Sie träumt von der Natur und vom Gehen, während ihre Willensschwäche zunimmt.15 Da ihr notorischerweise gerade das Stillsitzen schwerfällt, droht ihr Frau Rottenmaier: »Kannst du das nicht selbst fertigbringen, so muss ich dich
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Vgl. Bachtin. Sie träumt davon, beim Großvater zu sein und die Tannen rauschen zu hören, »und ich laufe geschwind und mache die Tür auf an der Hütte, und da ist’s so schön! Aber wenn ich erwache, bin ich immer in Frankfurt!« (Spyri 1880, 189)
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an deinen Stuhl festbinden. Kannst du das verstehen?« (Spyri 1880, 110) Vor der Abreise, zu der der Doktor schließlich rät, damit sie sich erholen kann, hat sich Heidis Bewegungsradius bereits exakt an den ihrer beeinträchtigten Freundin Klara angeglichen: […] hinaus kam es nur, wenn es Klara besonders gut ging und eine Ausfahrt im Wagen mit ihr gemacht werden konnte, die aber immer sehr kurz war, denn Klara konnte nicht vertragen, lange zu fahren. So kam man kaum aus den Mauern und Steinstraßen heraus […]; und Heidis Verlangen nach dem Anblick der schönen, gewohnten Dinge steigerte sich mit jedem Tage mehr, […]. (Spyri 1880, 173) Mit der Fesselung an das Haus und den zahlreichen Disziplinarmaßnahmen verliert Heidi die Verbindung zwischen sich und der Natur und schließlich offenbar ihren eigenen Willen, was sie schwer krank macht. Spyri übt durch die sukzessive Einschränkung der Bewegung deutliche Kritik an der Überwachung der Mädchen. Durch Heidis Leiden und die Rückkehr auf die Alm wird zugleich eine alternative Form der Erziehung aufgezeigt, die ein Recht auf Kindheit bewahrt und die Kindheit im Sinne Rousseaus »als natürliches Prinzip« versteht (Tremp, 37). Dazu weist auch die Vorgeschichte zur Frankfurter Episode auf eine Erziehungs- und Lebensart hin, in der die Alpennatur als Ort der Selbstfindung und menschlichen Freiheit erscheint. Auf der Alm legt Heidi zu Beginn auch gleich den Federhut ab und demonstriert barfuß große Trittsicherheit am Berg. Sie »will am liebsten gehen wie die Geißen, die haben ganz leichte Beinchen«. (Spyri 1880, 21) Ihr Verhalten wird durch den Großvater gestärkt, der sich sogleich gegen Federhüte ausspricht und durch den sächlichen Artikel »das Heidi« die Aufhebung der geschlechtlichen Unterschiede befürwortet. Indem Heidi durch ihr Verhalten und ihr immer wieder betontes Glück somit das Rousseausche Ideal des »Zurück zur Natur« verkörpert, wird es von Spyri offensichtlich als ein Erziehungsideal für Mädchen propagiert.16 Nimmt man die Bedeutung des Gehens auf eigenen Füßen folglich als ein von der Aufklärung inspiriertes Bewegungsmuster wahr, dürfte der Ertrag sich vor allem in der Bedeutung von Klaras Geherfolg niederschlagen. Denn ihre Behinderung erscheint dann nicht als genuin gegeben, sondern als Resultat einer Erziehung, die das Gehen aktiv verhindert, weil es mit einer geistigen Beweglichkeit enggeführt wird. Gegenüber Heidis Naturbegeisterung zeigt Klaras Behinderung die Auswüchse einer »Verschulung der Kindheit«. (Tremp, 140) Mit dem Festsitzen wird die Gefahr, dass Klara einen eigenen Willen entwickeln könnte, aktiv verhindert. Dagegen zeigt sich, wie das Sitzen im Gras für Klara sogleich neue Welten eröffnet.
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Heidi wurde bereits als Projektionsfigur verstanden, die sich in Bildern der Gottheit oder als Engel, Kinderstar, Mythos und Märchen zeigt (vgl. Gros). Dem lässt sich eine weitere Projektion, als weibliche Form des Émile zu gelten, hinzusetzen.
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In der entsprechenden Schlüsselszene, in der Klara gehen lernt, erlebt sie sich auf der Alm zum ersten Mal allein: »Der Klara kam es so köstlich vor, so ganz allein auf einem Berg zu sitzen, nur mit einem zutraulichen Geißlein, das ganz hilfsbedürftig zu ihm aufsah.« (Spyri 1881, 126) Das Alleinsein löst zunächst ihre Selbstbesinnung aus, die schließlich zu ihrem Entschluss führt, gehen zu lernen: Ein großer Wunsch stieg auf in ihr, auch einmal ihr eigener Herr zu sein und einem anderen helfen lassen zu müssen. Und es kamen der Klara jetzt so viele Gedanken, die sie gar nie gehabt hatte, und eine unbekannte Lust, fortzuleben in dem schönen Sonnenschein und etwas zu tun, […]. (Spyri 1881, 126) Spyri verbindet Klaras Wunsch mit dem Wunsch zu gehen, worin die Lust am Leben auch zum Ausdruck kommen kann. Dadurch werden die Gedanken der Einheit von Mensch und Natur sowie das Gefühl der Freiheit und Selbstbestimmtheit inhaltlich aufgegriffen und fast schon zitiert. Sie verweisen auf Johann Wolfgang von Goethes Werther, den ebenfalls ein großes Wohlbehagen in der Natur überkommt, als er allein ist. Im »Brief vom 10. Mai« bringt Werther seine Naturbegeisterung zum Ausdruck: »Ich bin allein und freue mich meines Lebens in dieser Gegend, die für solche Seelen geschaffen ist wie die meine.« (Goethe, 8) Als Klara schließlich erste Schritte macht, spürt sie Schmerzen in den ungeübten Füßen und weiß nicht, ob sie sich wird halten können. Sie stampft mehrfach auf, was eine überraschende Entschlossenheit signalisiert, deren Erfolg sie nach wenigen Schritten zu spüren bekommt. Klara schreit auf: »Ich kann, Heidi! O, ich kann! Sieh! Ich kann Schritte machen, einen nach dem anderen.« (Spyri 1881, 131) Das dreifach wiederholte Verb »kann« (ebd.) verweist auf das Gehen als eine Fertigkeit, die man folglich auch erlernen kann. Ausgehend von Heidis Begeisterung zu gehen und der Ermutigung des Großvaters, sich selbstständig zu bewegen, gelingen Klara endlich die ersten Schritte. Der Erfolg des Gehens wurde bislang indes kaum in Bezug zur Aufklärung gesetzt. Stattdessen sah man etwa einen therapeutischen Durchbruch gegeben, den Jean Villain als Reaktion auf den Tod von Klaras Mutter und einer sich anschließenden Paralyse gedeutet hat. Klara wage »den aufrechten Gang«, doch Heidi bleibe »den Zwängen der weiblichen Zivilisation unterworfen«, indem sie einer Arbeit als Pflegekraft entgegensehe (Villain, 76). Jean-Michel Wissmer ging auf den pietistischen Hintergrund der Autorin und die Wunderwirkungen durch »die Kraft des Glaubens« ein, die das Gehen als »beinahe christushafte Geste« erscheinen lasse (Wissmer, 100). Die Annahme einer plötzlichen Gehfertigkeit übersieht jedoch die erörterten Raum- und Bewegungskompositionen des Textes. Weitere Deutungen beschäftigten sich mit dem Thema der Krankheit in Spyris Texten, bei dem Frauen in der Bilanz des Gesamtwerks öfter krank und schwach seien als Männer. Sie könnten durch ihre Krankheit sogar subtilen Druck ausüben, was Heidi auch erreicht, um endlich in die Bergwelt zurückzukommen (vgl. Hurrelmann). Yvonne Fluri sah
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weibliche und männliche Rollenzuschreibungen »durch die Vorstellungen von ›starkem‹ und ›schwachem‹ Geschlecht« zementiert (vgl. Fluri, 93).17 Ob jedoch der weltweite Erfolg des Kinderbuchs durch die Interpretationen als schwache Frau zufriedenstellend erklärt werden kann, bleibt durchaus fragwürdig.18 Mit Spyris Bezug auf die Bewegungen ihrer Figuren bringt das Buch einen im Umbruch befindlichen Diskurs über die Erziehung der Mädchen ein und stellt Alternativen zur sozialen Determination der Frau vor. Damit schreibt Spyri die Selbstbehauptungen der frühen Alpinistinnen fort, die sich auf die eigene Willenskraft beriefen. Die Rückbesinnung auf die Natur und auf den Menschen wird zugleich und demonstrativ als schön erkannt, weil sich die Natur im betrachtenden Subjekt spiegelt und der Mensch sich dadurch seiner eigenen Subjektivität und Freiheit bewusst werden kann. Der erzieherische Anspruch ist um 1880 offenbar so schlicht wie ergreifend, indem das Buch die Ideale der Aufklärung auch zu Zielen der Mädchenbildung macht.
Fazit Die Heidi-Romane stellen das Gehen in den Kontext des freien Denkens und Handelns, wobei Spyri an die Traditionen der Aufklärung anknüpft und ihre Ideale auch für junge Frauen in Anspruch nimmt. Klaras ›Fortschritt‹ entwickelt sich zu einer Fähigkeit, die sie mit genügend Zutrauen und Unterstützung erlernen kann. Das Gehen wird dabei mit einer geistigen Beweglichkeit enggeführt, sodass mit dem Gehen auf eigenen Füßen eine Chance auf Selbstgenuss und Selbsterkenntnis entsteht, die in dem Wahlspruch der ersten Alpinistinnen, »Wollen heißt Können«, bereits vorgeprägt ist. Die bürgerliche Erziehung höherer Töchter, die in den Frankfurter Kapiteln durch die zeitweise Übertreibung und Außer-Kraft-Setzung der bürgerlichen Werte ins Zentrum rückt, wird von Spyri kritisch hinterfragt. Den Heidi-Leserinnen wird Heidis Glück und Ungebundenheit in der Natur sowie ihre Freiheit, auf eigenen Füßen zu gehen, als ein Leseerlebnis nahegebracht – wie bereits Rousseau oder auch Seume durch die Leichtigkeit ihrer Schilderungen ihre Leserschaft zum Gehen auf eigenen Füßen animiert haben. Spyri, die mit der Enge der bürgerlichen Welt vertraut war, setzt in Heidi demnach Gedankenreisen frei. Sie weist durch die Heidi-Figur auf ein neues Selbstverständnis der Autonomie
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Den Zusammenhang von Krankheit und Geschlecht behandelt auch Viktoria Gutsche in diesem Band. Von der suggestiven Überschreitung der Geschlechtergrenzen als »queere« Identität geht Heidi Schlipphacke in diesem Band aus.
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und des freien Willens hin, von dem die Mädchen am Ende des 19. Jahrhunderts erst gerade zu träumen begannen.19
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In folgendem Zitat wird die Spannung zwischen dem physischen Festsitzen und der Gedankenfreiheit von Spyri selbst thematisiert, was folglich einen passenden Abschluss bildet: »Erst gestern sitze ich wieder fest auf meinem gewohnten Platz am Fenster u. schaue mit Wonne auf die jungen Bäume hinaus, die während meiner Abwesenheit so grün u. herrlich geworden sind. Aber meine Gedanken sind noch nicht recht wieder zu Hause, sie schweifen auf die durchzogenen Wege u. die Stellen zurück, wo ich verweilte.« (Spyri 2004b, 247)
Anna-Katharina Gisbertz: Gehen, um frei zu sein
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Spyri, Johanna. »Brief an die Frau ihres Verlegers Friedrich Perthes in Gotha, 21.4.1880.« Johanna Spyri und ihr Werk – Lesarten. Mit einem Anhang ›Briefe von Johanna Spyri an Verwandte und Bekannte‹, hg. von Schweizerisches Institut für Kinder- und Jugendmedien, Chronos, 2004b, 247. Spyri, Johanna. Heidis Lehr- und Wanderjahre, Perthes, 1880. Spyri, Johanna. Heidi kann brauchen, was es gelernt hat, Perthes, 1881. Tremp, Peter. Rousseaus Émile als Experiment der Natur und Wunder der Erziehung. Ein Beitrag zur Geschichte der Glorifizierung von Kindheit, VS Verlag für Sozialwissenschaften Wiesbaden, 2000. Villain, Jean. »Johannas früh erwachter Sinn fürs Medizinische oder Wie Clara Sesemann auf ihre eigenen Füsse zu stehen kommt und Heidi gelernt hat, wie man es brauchen kann.« Heidi – Karrieren einer Figur, hg. von Ernst Halter, Offizin, 2001, 65–81. Wissmer, Jean-Michel. Heidi. Ein Schweizer Mythos erobert die Welt, Schwabe, 2014. Zeller, Hans. »Wilhelm Heines Italienreise. Emil Staiger zum 60. Geburtstag.« DVJs, 42, 1, 1968, 23–54.
Idylle mit Ziegen Das ökologische Potenzial von Johanna Spyris Heidi-Romanen Alexandra Tischel
Schwänli und Bärli, Distelfink, Türk und das kleine Schneehöppli – wer an Heidi denkt, dem fallen sicherlich sofort auch die Tiere der Heidi-Romane ein: die Geißen auf der Alp ebenso wie die Kätzchen und die Schildkröte im Frankfurter Haushalt Sesemann. Hinzu kommen die tierlichen Ergänzungen der verschiedenen transmedialen Fassungen des Stoffs, darunter der Bernhardiner Josef und der Vogel Piep. Außerdem denken wir vermutlich an die Natur bzw. Umwelt, in der wir Heidi sowie ihre tierlichen und menschlichen Freunde kennenlernen: die Berge und die Alpenwiesen mit ihren »kräftigen« Kräutern (Spyri 1880, 1). So offensichtlich die Tier-, die Pflanzen- und die Umwelt der Heidi-Romane ins Auge fallen, so wenig sind sie trivial. Warum? Nun, die Alpenidylle des Romans bildet sicherlich ein, wenn nicht sogar das Faszinosum, das den andauernden Erfolg des Textes begründet. Sie stellt keineswegs bloß die Kulisse für eine Bildungs- und Heilungsgeschichte dar, sondern entwirft ein Mensch-Natur-Verhältnis, das utopische Momente besitzt: Einfachheit der Lebens- und Wohnverhältnisse, friedliches Miteinander von Menschen und Tieren sowie Abwesenheit von Naturausbeutung und Umweltzerstörung. Im Folgenden schlage ich mit Wanning und Stemmann eine »›grüne‹ Relektüre« (265) des Kinderbuchklassikers vor, die dessen ökologische Dimension erschließen will. Zunächst werde ich mich dabei Heidis Umwelten (I), dann Heidis Tieren (II) und schließlich Heidis Pflanzen (III) widmen.
I.
Heidis Umwelten: Alpenidylle vs. städtischer »Käfig«
In den letzten Jahren hat die Beschäftigung mit Umweltaspekten unter dem Stichwort »Ecocriticism« auch in der Germanistik an Fahrt aufgenommen.1 Diese Entwicklung lässt sich unschwer auf die Auswirkungen von Klimawandel und Globa1
Vgl. die zahlreichen Einführungen und Sammelbände, von denen hier nur einige genannt werden sollen: Bühler; Dürbeck und Stobbe; Zemanek 2018b.
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lisierung zurückführen, welche nicht nur die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit, sondern auch die der Literaturwissenschaft auf den »ökologisch vernetzten Menschenkörper« (Heise, 226) lenken. Zum einen werden Umweltgifte, Naturzerstörung und Klimakrise inzwischen lokal, regional und global diskutiert und erfahren. Zum anderen wächst damit das Interesse an der Idylle, an Landlust und Dorfleben – und auch an den literarischen Texten, die sich damit beschäftigen.2 Nun soll es im Folgenden nicht darum gehen, zeitgenössische ökologische Konzepte, Vorstellungen und Wünsche anachronistisch auf die Heidi-Romane zu projizieren. Vielmehr wird versucht, das den Romanen eigene »›ökologische‹ Potenzial« (Zemanek 2018a, 32)3 zu entfalten, aber auch auf zeittypische und für die Autorin charakteristische Leerstellen und Auslassungen hinzuweisen. Die von Spyri entworfene Bergwelt lässt sich am besten als idyllisch bezeichnen. Sowohl die Gattung4 als auch der Chronotopos der Idylle entwerfen eine Ideallandschaft sowie ein utopisches Mensch-Natur-Verhältnis (vgl. Zemanek 2015). Charakteristisch für sie ist die grundlegende Opposition zwischen dem einfachen, friedlichen Landleben und der komplexen, tendenziell agonalen städtischen Existenz (Zemanek 2015, 187f.). So stellt etwa der Zürcher Autor Salomon Gessner in seinen »Idyllen« (1756) dem verdorbenen Leben in der Stadt die wohltuende Einsamkeit in der Natur gegenüber. In Gessners Vorwort heißt es paradigmatisch: Oft reiß ich mich aus der Stadt los, und fliehe in einsame Gegenden, dann entreißt die Schönheit der Natur mein Gemüth allem dem Ekel und allen den wiedrigen Eindrüken, die mich aus der Stadt verfolgt haben; ganz entzükt, ganz Empfindung über ihre Schönheit, bin ich dann glüklich wie ein Hirt im goldnen Weltalter und reicher als ein König. (Gessner, 15) Vor Gessners »Idyllen« hatte bereits Albrecht von Haller in seinem Lehrgedicht »Die Alpen«5 (1729) die Bergwelt und ihre Bewohner*innen idyllisch überformt (vgl. Kopf). Er begründet den Topos der Alpenidylle, den auch Spyri bedient. Mit
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Vgl. die Rückkehr der ›Dorfgeschichte‹ in der Gegenwartsliteratur in Gestalt der Bestsellerromane von Dörte Hansen, Altes Land. Knaus, 2015, und Juli Zeh, Unterleuten. Luchterhand, 2016. Die Thematisierung von Natur hat, wie Zemanek (2018a) anhand der Naturlyrik darlegt, nicht automatisch eine ökologische Dimension. Die terminologische Scheidung von Bukolik und Idylle soll hier nicht diskutiert werden. Zur Problematik vgl. Heller, 73f. Laut Haller herrschen Einfalt (Haller, 5), Freiheit (ebd.), Armut (ebd.), Gleichheit (»kein Unterschied«, 6) und freie Partnerwahl (8) unter den Hirten und Schäfern, die durch die Berge vor der städtischen Zivilisation geschützt werden: »Sie [die Natur, A.T.] warf die Alpen auf, dich von der Welt zu zäunen,/[…] Dann, wo die Freiheit herrscht, wird alle Mühe minder,/Die Felsen selbst beblümt und Boreas gelinder« (5).
Alexandra Tischel: Idylle mit Ziegen
von Haller, Gessner (und Jean-Jacques Rousseau) kann Spyri auf eine ausgeprägte Schweizer Tradition zurückblicken, als sie ihr Naturkind und seine Bergidylle erfindet, eine Tradition, die allerdings schon ein gutes Jahrhundert zurückliegt, ebenso wie der Bildungsroman Goethes, auf den sie im Titel anspielt (vgl. Hurrelmann). Tatsächlich dekliniert Spyris Roman in der Entgegensetzung zwischen der Schweizer Alpenidylle und dem Frankfurter »Käfig« (Spyri 1880, 103) die zentrale Oppositionsbildung des Genres/Chronotopos Idylle geradezu durch. Die dualistische Raumordnung, die die Heidi-Romane kennzeichnet, ist nicht nur typisch für die Idylle, sondern für die Kinder- und Jugendliteratur insgesamt (vgl. Wanning/Stemmann) und die ihr nahestehenden Genres (etwa das Märchen). Sie bildet außerdem, argumentiert man mit Jurij M. Lotmans Raumsemantik, geradezu das Sujet bzw. die Handlungsstruktur des Textes. Ist die Protagonistin Heidi doch die Figur, die die Grenzen zwischen den unterschiedlich semantisierten Teilräumen überschreitet und überschreiten kann. Das tut sie sogar mehrfach, zunächst beim Almaufstieg, dann mit der Reise nach Frankfurt und der Rückkehr auf die Alp; schließlich, indem sie den Alm-Oehi wieder mit dem Dorf und seinen Bewohner*innen vereint. Im zweiten Heidi-Band wird dieses Sujet mitsamt seiner Handlungsstruktur dann von Heidi auf andere Figuren übertragen. Zu Beginn des ersten Teils wird Heidi von ihrer Cousine Dete von Bad Ragaz über Mayenfeld und den Weiler »im Dörfli« (»auf halber Höhe der Alm«, Spyri 1880, 2) nach oben in die Berge gebracht. Die beiden bewegen sich von der »kleinen, dunkelbraunen Almhütte« (ebd., 11) der Gaißen-Peterin (»auf der halben Höhe der Alm, vom Dörfli aus gerechnet«, ebd., 11), über den »steilen Abhang« (ebd., 15) bis auf die Almhöhe, wo frei auf dem Vorsprung des Berges die Hütte des alten Oehi stand, allen Winden ausgesetzt, aber auch jedem Sonnenblick zugänglich und mit der vollen Aussicht weit in’s Thal hinab. Hinter der Hütte standen drei alte Tannen mit dichten, langen, unbeschnittenen Aesten. Weiter hinten ging es nochmals bergan bis hoch hinauf in die alten, grauen Felsen, erst noch über schöne, kräuterreiche Höhen, dann in steiniges Gestrüpp und endlich zu den kahlen, steilen Felsen hinan. (Spyri 1880, 16) Der grundlegende Gegensatz, der den Raum dominiert, ist der von hoch und tief, oben und unten. Die Figuren steigen von ganz unten (Bad Ragaz bzw. später Frankfurt) über einen ›mittleren‹ Ort, nämlich »im Dörfli«, nach oben auf die Alphöhe. Semantisch werden die beiden Teilräume »Dörfli« und Alphöhe im Gespräch zwischen Dete und Barbel codiert durch die Opposition ›sozial, gut, gesellig, nachbarschaftlich‹ und ›a-sozial, böse, allein, menschenfeindlich‹. Topographisch schlägt sich das in der dargestellten Welt als Gegensatz von Tal/Dorf (und später Stadt) vs. Berg/Hütte nieder. Im Gespräch der beiden Frauen wird die mit dem Alm-Oehi verbundene Bergwelt zunächst negativ bewertet. Das ändert sich allerdings sofort durch Heidi, die
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diese Welt in den ersten Kapiteln begeistert entdeckt. Sie wirft die zu warme und einengende Kleidung ab, schließt sich dem Gaißen-Peter an, erkundet die Hütte des Alm-Oehi und den Ziegenstall. In diesen Kapiteln wird nun die Alp als Idylle vorgeführt: Die Nahrungsgrundlage von Alm-Oehi und Heidi bilden Brot, Milch und Käse; die Einrichtung besteht im Heubett und in selbstgefertigten Holzmöbeln, auch die Hütte ist selbstgebaut. Die Ökonomie beruht auf Selbstversorgung durch die Ziegenhaltung bzw. auf dem Tauschhandel; der Alm-Oehi tauscht Käse gegen Brot und Räucherfleisch; Geldwirtschaft spielt hingegen kaum eine Rolle. Darüber hinaus herrschen eine positiv konnotierte Bildungs-, Religions- und Zivilisationsferne. In dieser Welt lebt der Mensch eng im Kontakt und wechselseitigen Austausch mit der Natur. Auch wenn die Bergwelt durchaus gefährliche Aspekte besitzt, wie die »Felsenklüfte« (Spyri 1880, 36), so wird doch das Erhabene zugunsten des Schönen (und damit der idyllischen Landschaft) zurückgedrängt. Spyris Alpenidylle entspricht dem idyllischen Chronotopos, den Michail Bachtin folgendermaßen beschreibt: Das Leben und seine Ereignisse sind organisch an einen Ort – das Heimatland mit all seinen Fleckchen und Winkeln, die vertrauten Berge, Täler und Felder, Flüsse und Wälder, das Vaterhaus – gebunden, mit ihm verwachsen. […] Diese räumliche Mikrowelt ist begrenzt und genügt sich selbst […] Die Einheit des Ortes im Leben der Generationen schwächt und mildert alle zeitlichen Grenzen [… und, A.T.] trägt auch wesentlich zur Entstehung des für die Idylle charakteristischen zyklischen Zeitrhythmus bei. (Bachtin, 171f.) Zu der Einheit des Ortes und dem zyklischen Rhythmus der Zeit kommen laut Bachtin noch »die Verquickung des menschlichen Lebens mit dem Leben der Natur, der einheitliche Rhythmus beider sowie die gemeinsame Sprache für die Naturerscheinungen und die Ereignisse des menschlichen Lebens« hinzu (Bachtin, 172). »Einheit des Ortes«, Begrenzung und Selbstgenügsamkeit, zyklischer Zeitrhythmus ebenso wie die enge Verbindung von menschlichem Leben und Natur – all das kennzeichnet Heidis Leben beim Alm-Oehi. Nur eines fehlt: »das Vatershaus« als das Haus, »wo die Väter und Vorväter lebten, wo die Kinder und Enkel leben werden« (Bachtin, 171). Die Generationenfolge des Bachtinschen Chronotopos ist bei Spyri durch dreierlei Faktoren gestört: erstens durch zahlreiche Tode, denn Heidis Mutter, Vater und Tante sind verstorben, das gilt auch für die nähere Verwandtschaft des AlmOehi; zweitens durch soziale Entfremdung, denn der Alm-Oehi ist aufgrund seiner problematischen Biographie zum Außenseiter geworden und aus der Dorfgemeinschaft ausgeschlossen; drittens durch ökonomische Faktoren, denn die Base Dete folgt dem Modernisierungsdruck und geht als Dienstmädchen nach Frankfurt, weswegen Heidi zum unbekannten, ›menschenhassenden‹ Großvater gebracht wird.
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Hier schlagen sozusagen die Moderne und die ökonomische Realität zu. Die Familienidylle ist gestört, »verarmt« (179), wie Bachtin es formuliert, und das wiederum ist für die mit der industriellen Revolution konfrontierte Literatur des 19. Jahrhunderts durchaus typisch.6 Die Naturidylle aber ist als Bergidylle vorhanden. Im dritten Kapitel steigt Heidi mit Peter zum ersten Mal hoch auf die Alpwiese und entdeckt dort die Schönheit der Natur: […] dunkelblau schaute der Himmel von allen Seiten hernieder, und mitten drauf stand die leuchtende Sonne und schimmerte auf die grüne Alp, und alle die blauen und gelben Blümchen darauf machten ihre Kelche auf und schauten ihr fröhlich entgegen. (Spyri 1880, 33f.) Durch die anthropomorphe Metapher des Schauens werden der Himmel ebenso wie die Blumen verlebendigt. Anschließend wird Heidis Blick auf die Pflanzenwelt der Alp geschildert: Heidi sprang hierhin und dorthin und jauchzte vor Freude, denn da waren ganze Trüppchen feiner, rother Himmelsschlüsselchen bei einander, und dort schimmerte es ganz blau von den schönen Enzianen, und überall lachten und nickten die zartblättrigen, goldenen Cystusröschen in der Sonne. (Spyri 1880, 34). An späterer Stelle kommen die »duftenden Prünellen« (ebd., 35), die »zarten, blauen Glockenblümchen« (ebd., 37) und »die guten Kräuter« (ebd., 35) hinzu, die den Geißen als Nahrung dienen. Heidi, so heißt es weiter, »trank das goldne Sonnenlicht, die frischen Lüfte, den zarten Blumenduft in sich ein und begehrte gar Nichts mehr, als so da zu bleiben immerzu« (ebd., 37). Die synästhetische Metapher des Trinkens von Licht nähert Heidi der Vegetation an, indem sie sich, den Pflanzen ähnlich, von Sonne, Luft (und Duft) ernährt. Umgekehrt verhalten sich die Pflanzen menschlich, wenn sie mit den Verbmetaphern ›lachen‹ und ›nicken‹ nicht nur belebt, sondern auch in Bewegung versetzt werden.7 Diese rhetorische Strategie der wechselseitigen Annäherung von Natur und Mensch, Mensch und Natur, entspricht genau jener von Bachtin bemerkten »gemeinsame[n] Sprache für die Naturerscheinungen und die Ereignisse des menschlichen Lebens« (172). Sie zeugt von der »pastoralen Lebensgemeinschaft« (Zemanek 2015, 189)8 , die es den Menschen erlaubt, mit Natur und Umwelt in wechselseitige Beziehungen zu treten.
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Vgl. exemplarisch die Zerstörung der Idylle in Wilhelm Raabes Pfisters Mühle. Ein Sommerferienheft. Das zeigt eindrücklich Hansjürgen Kiepe, der die Bedeutung von »Bewegungsvorgänge[n]« (416) für Spyris Landschaftsbeschreibungen herausarbeitet und dabei Vergleiche zu Eichendorff (414) zieht. Zemanek (2015) weist auch auf die »Wechselseitigkeit der Mensch-Natur-Beziehung« (188) bei Vergil hin.
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Heidi, so lässt sich zusammenfassen, ist in einem geradezu paradiesischen Naturort gelandet, in dem alles Begehren gestillt ist und Ewigkeit (»immerzu«) herrscht. Dieses Naturparadies ist botanisch genau charakterisiert – und noch nicht vom späteren christlichen Goldschimmer übermalt.9 Das Glücksempfinden in der menschenfreundlichen Natur ist für uns – jenseits aller Unterschiede hinsichtlich Alter, Geschlecht, Herkunft, Religion etc. – anthropologisch nachvollziehbar. Eine schöne, d.h. fruchtbare Landschaft entspricht unserer Biophilie und stellt nach Karl Eibl ein Versprechen von Glück dar, denn sie lässt uns »gelingende Lebensvollzüge« erhoffen (Eibl, 324). Dieses anthropologische Glücksversprechen schlägt sich literarisch in der Idylle bzw. im Topos des locus amoenus nieder, dem lieblichen, meist mit Bäumen, Quellen, Blumen und Vogelgesang ausgestatteten Naturort.10 Bei Spyri wird dieser Topos der Bergwelt angepasst. Zwar sind der locus terribilis, die Gebirge, Schluchten, Felsen, der Winter und Schnee, all die Phänomene des Ästhetischen, die wir unter dem Erhabenen fassen, besonders im zweiten »Heidi«Band durchaus vorhanden. Aber hier, in dieser sommerlichen Landschaft, wird das Erhabene ins Schöne gewendet. Damit koppelt Spyri die üblicherweise im Tal angesiedelte Idylle mit der Höhenerfahrung der Berge, was anthropologisch gesehen durchaus sinnvoll ist. Schließlich sind wir es gewohnt, das Oben bzw. die Höhe positiv zu semantisieren, wie Lotman feststellt (vgl. Lotman, 323). Der Ort des Paradieses wird von uns im Himmel, die Hölle dagegen unter der Erde, in der Tiefe verortet. Diese, laut Eibl vermutlich »angeborene Raumsemantik« (294) geht auf unsere evolutionäre Vergangenheit zurück, kurz gesagt darauf, dass wir bei Gefahr oben, auf den Bäumen, nach Rettung suchen. Eibl fasst das einleuchtend zusammen: »Dass wir das Jenseits, dessen erstrebenswerten Teil, oben, im Himmel ansiedeln, mag mit diesem Fluchtziel zusammenhängen. Der Himmel eines Pferdes läge demnach in weiter Ferne hinter dem Horizont.« (Eibl, 295) Insofern bereitet diese Passage schon die Verbindung der Alpenidylle mit dem Göttlichen vor, die am Ende des Romans mittels Paul Gerhardts Lied »Die güldne 9
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Kiepe interpretiert diese Passage bereits als »mystische[s] Erleben« (427) der »Landschaft Gottes« (428) – was ich für verfrüht halte. Ähnlich wie Kiepe auch Hurrelmann: »bei der Naturdarstellung Spyris [handelt es sich, A.T.] nicht um realistische Beschreibung, sondern um die Evokation einer Seelenlandschaft« (206), sowie Schindler (189): »Die Natur ist Ausdruck der göttlichen Präsenz, der göttlichen Allmacht.« Die Alp als locus amoenus findet sich bereits bei Büttner und Ewers (14-22). Die Autoren argumentieren allerdings weiterhin mit Kants Begriff des Erhabenen (vgl. 22-25). Auf die »bukolische Grundierung« (344) des Textes weist Volker Mergenthaler (mit Bezug auf Niklaus Meienberg) hin. Allerdings widmet sich Mergenthaler dann den »Sakralisierungsstrategien« in intertextueller Hinsicht, vermerkt jedoch das sentimentalische Verhältnis von locus amoenus und goldener Zeit in Frankfurt (ebd., 345).
Alexandra Tischel: Idylle mit Ziegen
Sonne voll Freud und Wonne«11 hergestellt wird. Raumsemantisch bzw. metonymisch liegen die beiden Felder, die Höhe und das Göttliche, sozusagen ohnehin nebeneinander, und sie werden später über die Sonne metaphorisch miteinander verbunden. Hiermit komme ich an einen spannenden Punkt meiner Argumentation. Liest man den Text nämlich vom Ende her, dann hat die idyllische Natur bei Spyri wenig Eigenwert und insofern auch kaum ökologisches Potenzial. Als Teil der göttlichen Schöpfung ist die Natur im Christentum bekanntlich einerseits Manifestation des göttlichen Wirkens, andererseits dem Menschen untertan. Indem Spyri die Alpenidylle religiös überformt, übernimmt sie die christliche Tradition und deren »christlich-allegorische[] Lesarten« (Heller, 79) der antiken Bukolik. Hier ist besonders an die vierte Ekloge Vergils zu denken, in der die Geburt eines Knaben ein ›goldenes Zeitalter‹ einläutet (P. Vergilius Maro, 34-41).12 Vergil entwirft in ihr ein Friedensreich, das sich auf die Tier- und Pflanzenwelt erstreckt und sich leicht an den biblischen Tierfrieden (Jes. 11, 6–8) anschließen lässt. Da heißt es nämlich: »Freiwillig werden die Ziegen ihre von Milch strotzenden Euter nach Hause tragen, und die Rinder werden mächtige Löwen nicht zu fürchten haben. […] Untergehen wird die Schlange, untergehen auch das tückische Giftkraut; [25] assyrischer Balsam wird auf Schritt und Tritt erblühen.« (P. Vergilius Maro, 39) Johann Christoph Gottsched hat die christliche Ausdeutung der antiken Bukolik in seiner Bestimmung des »Schäfergedichts« auf den Punkt gebracht: »Poetisch würde ich sagen, es sey eine Abschilderung des güldenen Weltalters; auf christliche Art zu reden aber: eine Vorstellung des Standes der Unschuld, oder doch wenigstens der patriarchalischen Zeit, vor und nach der Sündfluth.« (Gottsched, 76) Deshalb muss Spyris christliche Lesart der Idylle auch ›kindgerecht‹ jegliche Erotik und »Liebesleidenschaft« tilgen (Albrecht, 271), die die antike Bukolik und den antiken Schäferroman13 prägen. Zwar darf Peter im zweiten Heidi-Teil auf Klara eifersüchtig sein, allerdings bleibt sein »Grimm« (Spyri 1881, 119), der zur Zerstörung des Rollstuhls führt, vollkommen erotikfrei.14 Um den ökologischen Eigenwert dieses Mensch-Natur-Verhältnisses herauszuarbeiten, muss man Spyris Text demnach ›gegen-den-Strich‹ lesen; was manche Heidi-Adaptationen ja auch tun, indem sie den christlichen Aspekt des Textes 11 12
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Vgl. Evangelisches Gesangbuch Nr. 449, 207f. Bereits die griechische Übersetzung der vierten Ekloge von Kaiser Konstatin I. (im Jahr 325 n. Chr.) stellt durch Streichungen und Umformulierungen die Weichen für diese Deutung, vgl. Albrecht. 136-140. Vgl. Longos. Daphnis und Chloe. Ein Liebesroman. Longos erzählt im Grunde eine einzige, lange erotische Initiation des Ziegenhirten Daphnis und der Schäferin Chloe. Meienberg liest den ersten Heidi-Roman als Geschichte von »Inzest« (163) zwischen Heidi und Großvater sowie »De-flor-atio« (166) durch Peter und trägt damit die sexuelle Dimension der Bukolik wieder in den Text der »viktorianisch empfindende[n] Frau« (ebd.) ein.
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streichen.15 Man könnte aber auch ein Argument von Hubert Zapf heranziehen, der »Literatur als ökologische Kraft innerhalb der Kultur« (Zapf, 177) ansieht und ihr u.a. eine Funktion als »imaginativer Gegendiskurs« (ebd., 178) zuschreibt. Als solcher ist Literatur nicht automatisch eskapistisch, wenn sie alternative oder utopische Szenarien entwirft. Man könnte daher auch Spyris Romanen eine »regenerative Funktion« zuweisen, weil sie Heilung, »Revitalisierung« und »neue Anfänge« entwerfen (ebd., 181). Genau das leistet die Alpenidylle bei Spyri in vielfacher Hinsicht: im ersten Band für Heidi und den Großvater, im zweiten für Klara und den Doktor; diese (und andere) Figuren erhalten im und durch den idyllischen Raum neue Lebensperspektiven. Aber nicht nur textintern, sondern auch auf die Leser*innen kann die schöne Landschaft in ihrer durch die Literatur vermittelten Gestalt stressreduzierend und entspannend wirken (vgl. Eibl, 277-346). Insofern könnte man der Alpenidylle (auch jenseits ihrer christlichen Interpretation durch Spyri) durchaus einen (kultur-)ökologischen Eigenwert zugestehen; wenn man sie – gegen den Verdacht des Eskapismus – als »Wunschbild« und »Korrektiv« (Kopf, 94) versteht.16 Nun sind Spyris Texte, wie gezeigt, in mancher Hinsicht im 18. Jahrhundert zu kontextualisieren, vermutlich aber hat Spyri zumindest auch die zeitgenössischen »Dorfgeschichten« gekannt, die das »Leben im Dorf« teils idyllisierend, teils ethnologisch interessiert (im Hinblick auf Sitten und Gebräuche), teils antimodern kritisch, teils politisierend schildern und in die Heimatkunstbewegung um 1900 münden (Baur, 391f.). Die Heidi-Romane kombinieren literarhistorisch gesehen sozusagen die Alpenidylle des 18. Jahrhunderts und den zeitgenössischen Heimatroman miteinander, indem sie das Leben auf der Alp einerseits idealisieren und es andererseits als Gegenwelt zur modernen, städtischen Existenz entwerfen, die uns in den Frankfurt-Kapiteln begegnet. Von Idealisierung kann man auch deshalb sprechen, weil Spyris Texte sich kaum für die ›reale‹ Lage der Dorfbevölkerung interessieren. Anders als etwa in Berthold Auerbachs »Dorfgeschichten« (1842f.) spielen regionale Bräuche und Konfliktlagen bei ihr keine Rolle.17 Die Alpenidylle mit ihren rustikalen Bewohner*innen besitzt aber sicherlich ein gewisses Maß an »Binnenexotik« (Baur, 391) für das städtische
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Vgl. die japanische Anime-Serie aus dem Jahr 1974; hier »entfallen die religiöse, sondern auch die psychologische Dimension der Serie« (Hurrelmann, 201). Gegen die zum Klischee gewordene Alpenidylle argumentiert Meienberg; ähnlich kritisch auch Geist, die vom »kolonisierte[n] Alpenraum« spricht, der zur »Kulisse des erholungssuchenden Städters« (149) wird. Hier sollte man vielleicht besser den Text und seine touristischen Folgeerscheinungen voneinander trennen. Vgl. etwa die Erzählung »Befehlerles« in Berthold Auerbachs Schwarzwälder Dorfgeschichten (131-158), in der die Gebräuche am 1. Mai geschildert und zum Ausgangspunkt eines Konflikts zwischen Dorfbevölkerung und Obrigkeit werden.
Alexandra Tischel: Idylle mit Ziegen
und/oder deutsche Lesepublikum.18 Allerdings werden die Armut der Bergbevölkerung, der Hunger und die Härten des Lebens auf der Alp sowie der katastrophale Umgang mit elternlosen Kindern (Stichwort Schwabenkinder) bei Spyri fast komplett ausgeblendet bzw. lassen sich nur umrisshaft erahnen.19 Die Waise Heidi wird zwischen den Verwandten Dete und Großvater hin- und hergeschoben und landet schließlich als eine Art gehobenes Verdingkind im Frankfurter Haushalt, um Klara als Gesellschaft und Gespielin zu dienen. Zugleich wird die Bergwelt bei Spyri fast schon lebensreformerisch aufgeladen: Heidi wird durch das Leben auf der Alp »ganz gebräunt und so kräftig und gesund« (Spyri 1880, 51). Der hier angedeutete Kur- und Heilungsaspekt der Bergwelt wird im zweiten Band in der Klara (und dem Doktor) gewidmeten Handlung noch ausgebaut. Passenderweise empfahl die Arzttochter Spyri selbst die Heilwirkung der Alpen. So schrieb sie 1880, zeitgleich mit dem Erscheinen »Heidis«, an ihren Verleger Emil Perthes: »Daß Sie noch nicht ganz hergestellt sind, thut mir sehr leid, diese Krankheit ist tückisch. Sie sollten im Sommer in der Schweizer Luft sich noch fertig curiren, das möchte ich Ihnen sehr empfehlen.« (Zitiert nach Büttner und Ewers, 27) Die tückische Krankheit ist vermutlich die »Schwindsucht«, d.h. die Tuberkulose, an der auch Spyris Sohn starb (vgl. Schindler, 191). Heidi passt sich demnach in die idyllische, positiv semantisierte Bergwelt wunderbar ein – und zwar so gut, dass sie dem Großvater gegenüber erklärt: »Ich will am liebsten gehen wie die Gaißen, die haben ganz leichte Beinchen.« (Spyri 1880, 21).
II. Heidis Tiere oder: »gehen wie die Gaißen« Ähnlich wie beim Ecocriticism lässt sich das zeitgenössische Interesse der Germanistik für Tiere, das sich in den Human-Animal Studies artikuliert, leicht aus Trends der Gegenwart erklären: Debatten über Massentierhaltung und Schlachtbetriebe, Fleischkonsum und Veganismus haben zur Infragestellung der ›anthropologischen
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Diese ›Binnenexotik‹ zeigt sich romanintern in den Vorstellungen über die »kleine Schweizerin« (Spyri 1880, 204f.) und die Gefährlichkeit der Alpen (ebd., 191), die von Mitgliedern des Frankfurter Haushalts artikuliert werden. Ähnlich Meienberg, 162. Besonders wertvoll ist Meienbergs Hinweis auf Schweizer Auswanderer aus Graubünden, die in Brasilien »wie Leibeigene« (172) behandelt wurden. Spyris Kenntnis dieses Falls ist anzunehmen, da laut Meienberg Dr. Christian Heusser, ein Bruder von Johanna Spyri, als »eidgenössischer Kontrolleur« (172) nach Brasilien geschickt wurde und einen Bericht über die grauenhafte Lage der Auswanderer verfasste.
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Differenz‹, d.h. dem angeblich kategorialen Unterschied zwischen Mensch und Tier, beigetragen.20 Rekonstruiert man die Geschichte dieses Abbaus, so ist als Kontext für Spyris Romane zuallererst an Darwins Evolutionstheorie zu denken. Darwins Entdeckung, dass der Mensch »wie jede andere Art – von einer früher existierenden Form abstammt« (Darwin, 10), impliziert auch, dass die Unterschiede zwischen Menschen und Tieren nicht kategorial, sondern bloß graduell sind. Aber nicht nur die Evolutionstheorie, sondern auch die Tierschutzbewegungen des 19. Jahrhunderts haben daran gearbeitet, jahrhundertelang postulierte ›Unterschiede‹ zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Tieren einzuebnen. Die sich im 19. Jahrhundert entwickelnde Tierethik verschiebt die Diskussion weg von den trennenden kognitiven Fähigkeiten hin zu den geteilten, verbindenden Eigenschaften von Menschen und Tieren. Exemplarisch hat das Jeremy Bentham in berühmten Sätzen formuliert: »Die Frage ist nicht: Können sie nachdenken? oder: Können sie sprechen? sondern: Können sie leiden?«21 Nun ist Spyri – allein schon wegen ihrer christlichen Prägung – kaum dem Lager der Darwin-Anhänger*innen oder der Tierschutzbewegung zuzuordnen. Dennoch zeigen ihre Romane – sowohl auf der Ebene der histoire als auch auf der des discours – Tiere als eigenwertig; sie sind nicht bloß der ›Krone der Schöpfung‹ unterworfen. Durch Figurencharakterisierung und Handlungselemente ebenso wie durch Fokalisierung und Figurenrede werden aus den zum Inventar der Idylle gehörigen Ziegen in Spyris Texten nämlich aktive Tierfiguren, Vorbilder und Gefährten der Menschen, was hier an einigen Beispielen gezeigt werden soll. Heidi nimmt sich erstens, wenn sie »wie die Gaißen« gehen will, die Tiere zum Vorbild und erkennt deren besondere Fähigkeiten an. Die Ziegen werden von der Protagonistin also nicht als unterlegen, sondern als überlegen und nachahmenswert konzipiert. Man könnte sie daher im Sinne von Benjamin Bühler und Stefan Rieger als »Übertiere« lesen. Diese werden für den Menschen »zu einem Vorbild, zu einer idealen Verkörperung von Fähigkeiten, über die der Mensch – jedenfalls als (natürliches) Wesen – nicht verfügt. Das Tier wird zum Übertier.« (Bühler und Rieger, 9) Zweitens setzt Heidi sich gegenüber Peter für die Tiere ein. Sie verhindert, dass Peter den »vorwitzige[n] Distelfink« (Spyri 1880, 43) verprügelt, indem sie den immer hungrigen Jungen mit Nahrung beschwichtigt. Ihre Argumentation gegenüber Peter, der seinen Zorn an dem Jungtier auslassen will, ist geradezu tierrechtlich und tierethisch: »›Nein, Peter, nein, du mußt ihn nicht schlagen, sieh’, wie er sich fürchtet. […] Du darfst ihm Nichts thun, es thut ihm weh, laß ihn los‹« (ebd., 44). Mit dem
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Insbesondere die Menschenaffen sind in der Vergangenheit zur Repräsentationsfigur für die Debatte um den Abbau der anthropologischen Differenz geworden, vgl. Tischel. Bentham, 283: »[…] the question is not, Can they reason? nor, Can they talk? but, Can they suffer?« (deutsche Übersetzung A.T.).
Alexandra Tischel: Idylle mit Ziegen
Nahrungstausch erreicht Heidi sogar eine andauernde Besserung in der Behandlung der Ziegen, denn Peter sichert zu, die Tiere in Zukunft nicht mehr zu schlagen, »›nie, gar nie […] und auch das Schneehöppli nie und gar keine Gaiß‹« (ebd., 45). Drittens werden die Ziegen im Text als Individuen dargestellt und durch Alter und Geschlecht differenziert sowie mit Eigenschaften und Namen versehen. Peter bringt Heidi bei, wie die Ziegen heißen, und Heidi lernt schnell, sie zu unterscheiden: »[…] und es währte gar nicht lange, so konnte es sie alle von einander unterscheiden und jede bei ihrem Namen nennen, denn es hatte eine jede ihre Besonderheiten, die Einem gleich im Sinne bleiben mußten, man mußte nur Allem genau zusehen, und das that Heidi.« (Spyri 1880, 41) Auf diese Passage folgt eine Beschreibung einzelner Tierindividuen, darunter der »große Türk«, der »kecke Distelfink«, das »kleine, weiße Schneehöppli« (ebd., 41). Schwänli und Bärli, »die zwei schönsten und saubersten Gaißen der ganzen Schaar« (ebd., 42), sind ohnehin noch häufiger Thema. Nun werden die Ziegen durch die Art der Beschreibung deutlich vermenschlicht. Diese Anthropomorphisierung stellt eine geläufige menschliche Haltung gegenüber nichtmenschlichen Tieren sowie ein häufiges Phänomen in der Kinderund Jugendliteratur dar (vgl. Schmideler). Gegen die Vermenschlichung wird in den Human-Animal Studies zu Recht eingewandt, dass sie den Blick auf das Tier in seiner Tierlichkeit (und damit auf seine jeweiligen artspezifischen, aber auch individuellen Eigenschaften und Bedürfnisse) geradezu verstellen kann; ähnlich, wie wenn ein Kind Mitleid mit dem Goldfisch im kalten Wasser empfindet und ihn deshalb auf die Heizung legt, damit er es warm hat. Allerdings ist genau das bei Heidi nicht der Fall. Sie nimmt die Differenzen zwischen den Ziegen und deren unterschiedliche Eigenschaften durchaus wahr, ja, sie kann die Zeichen der nichtmenschlichen, aber auch die der menschlichen Tiere (hier Peters), richtig interpretieren. So rettet sie nicht nur Distelfink und Peter, indem sie das Jungtier aus seiner gefährlichen Notlage am Berg mit »wohlduftende[n] Kräuter[n]« (Spyri 1880, 44) lockt, sondern sie adoptiert auch das verlassene, mutterlose Schneehöppli (ebd., 41f.) und beschwichtigt Peters Hunger. Viertens tritt die Ziegenherde in der Logik der idyllischen Raumsemantik geradezu an die Stelle der menschlichen Gesellschaft bzw. wird zu deren Analogon. Das dominierende Verhältnis zu den Geißen ist nämlich eines der Nachbarschaft. Sie leben direkt bei den Menschen, der Ziegenstall des Alm-Oehi ist »an die Hütte angebaut« (Spyri 1880, 20). Weil der Alm-Oehi aus der Dorfgemeinschaft ausgeschlossen ist, übernimmt die Ziegenherde deren Funktion. So werden die Geißen vom Alm-Oehi bzw. von Peter gepflegt, genährt und beschützt, und geben im Gegenzug Milch, die als Grundlage für die weitgehend vegetarische Ernährung des Menschen dient. Man könnte die Ziegen, wie andere domestizierte Tierarten auch, als companion species im Sinne Donna Haraways begreifen. Darunter sind nicht nur Tiere, son-
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dern auch Pflanzen zu verstehen, mit denen Menschen gemeinsam koevolviert sind und die in wechselseitigem Verhältnis zueinanderstehen. Weder die Ziegen noch die Menschen wären ohneeinander, was sie sind.22 Im Roman laufen Schwänli und Bärli Heidi sogar nach »wie treue Hündlein« (Spyri 1880, 72), d.h. sie werden demjenigen Haustier angenähert, das für Haraway den Inbegriff des Gefährten darstellt, nämlich dem Hund. Dessen sprichwörtliche ›Treue‹ begründet seine identitätsstiftende Funktion für den Menschen.23 Fünftens etabliert der Vegetarismus ein Tauschverhältnis zwischen Menschen und Geißen, das typisch für die Idylle und das goldene Zeitalter ist.24 Schäfer*innen und Hirt*innen seit der Antike grenzen sich und ihre Herdentiere nämlich von fleischfressenden sowie von kriegerischen Lebensformen ab. Sie schützen ihre Tiere vor Wölfen und anderen Raubtieren genauso wie vor menschlichen Übergriffen (vgl. Longos, 14f. und 34f.). Insofern kommt die Haltung von Milchtieren wohl dem menschlichen Ideal eines friedlichen Zusammenlebens mit Tier, Natur und Umwelt am nächsten. Dieser ›Tierfrieden‹ wird als idyllische Koexistenz gedacht, die sich u.a. im Milchtrinken und im Verzicht auf fleischliche Nahrung ausdrückt. Beide, die Natur und die milchgebenden Tiere, werden als fruchtbare, mütterliche Quelle (›Busen der Natur‹25 ) imaginiert, die den Menschen nährt. In dieser Konzeption des Tierfriedens geraten allerdings die tierrechtlich problematischen Aspekte des menschlichen Milchkonsums nicht in den Blick, die Veganer*innen prägnant in dem Slogan ›not your mother, not your milk‹ zusammenfassen. Bekanntlich geben weibliche Tiere nur während der Laktationsperiode Milch, d.h. wenn sie ein Jungtier geboren haben. Um an die Milch zu gelangen, haben Menschen die verschiedensten Strategien entwickelt, bis hin zur modernen Dauerschwangerschaft der Kühe in der industriellen Milchwirtschaft. Bei Spyri werden die menschlichen Grausamkeiten der Nutztierhaltung (wie so vieles andere auch) ›kindgerecht‹ transformiert bzw. getilgt: An keiner Stelle wer-
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Vgl. Haraway (106): »›Companion species‹ is a bigger und more heterogenous category than companion animal, and not just because one must include such organic beeings like rice, bees, tulips, and intestinal flora, all of whom make life für humans what it is – and vice versa.« Zur besonderen Beziehung zwischen Menschen und Hunden vgl. Neumann . Vgl. P. Ovidius Naso, der den Philosophen (und Vegetarier) Pythagoras sprechen lässt (795–799). Pythagoras verlangt von seinen Zeitgenossen, sie sollten sich ein Beispiel an den Hirten des goldenen Zeitalters nehmen und »Speise ohne Mord und Blut« verzehren (795f.). Außerdem beklagt er den »Frevel« (797) des Fleischverzehrs, der bei ihm fast kannibalische Züge trägt. Dabei fordert Pythagoras nicht einmal den vollständigen (veganen) Verzicht auf tierische Produkte: »[M]an raubt euch ja weder die flüssige Milch [80] noch den Honig, der nach Thymianblüte duftet« (795). Paradigmatisch für diese Vorstellung vgl. Goethes »Auf dem See« (102f.): »Und frische Nahrung, neues Blut/Saug’ ich aus freier Welt;/Wie ist Natur so hold und gut,/Die mich am Busen hält!«
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den saugende Zicklein erwähnt, das Verschwinden von Schneehöpplis Mutter bleibt ungeklärt, zudem bleibt außen vor, woher das geräucherte Fleisch kommt, das der Alm-Oehi verzehrt. Verschwiegen wird also, dass die Zicklein als Fleischlieferanten dienen und durch ihre Schlachtung das Melken der Muttertiere und damit die Nutzung ihrer Milch für den Menschen ermöglicht wird. Die Konstruktion des nichtmenschlichen Muttertieres als Quelle menschlicher Nahrung wurde bisher in der Forschung nicht weiter hinterfragt, vielmehr wurde der Milchkonsum, wenn überhaupt, als »Rückkehr zur nährenden Mutter« interpretiert (Spinner, 437).26 Das ist romanintern sicherlich richtig gesehen – allerdings wird damit auch die vom Text kaschierte Ausbeutung von weiblichen nichtmenschlichen Tieren weitergeschrieben, was aus feministischer ebenso wie aus tierrechtlicher Sicht problematisch erscheint. Auch hier hat die Idylle also Schattenseiten. Sie koppeln sich mit dem Verschweigen der Armut der Bergbewohner. Denn die Ziege war bekanntlich die »Kuh der Armen« (Anderegg, 5).27 Wo Kuhhaltung mangels ausreichender Fläche nicht möglich war, reichte das Nahrungsangebot doch meist für die Haltung der deutlich anspruchsloseren Ziegen. Gebirgsziegen geben sich »im Nothfalle mit der magersten Kost, mit Tannenreisig, Laub und selbst mit Moos« zufrieden (Anderegg, 22f.), gefährden aber auch Obstbäume und Wald, deren Triebe und Rinde sie aufgrund ihrer Kletterfähigkeit bis hoch hinauf verbeißen können; – so viel zum realistischen Hintergrund des idyllischen Tierfriedens. Sechstens werden die Tiere im Roman zu Nebenfiguren. Als »diegetische Tiere«28 tragen sie zur Handlung bei und lassen sich (mit Bruno Latours AkteurNetzwerk-Theorie) als »nicht-menschliche Akteure« (Bühler, 31) ansehen. Sie entsprechen dadurch einerseits den Konventionen der Kinder- und Jugendliteratur, die gerne mit handelnden und sprechenden Tieren operiert (vgl. Schmideler). Andererseits sind die Tierfiguren in »Heidi« mehr als bloß Projektionen menschlicher Eigenschaften wie z.B. die Tiere in der Fabel. Als »Aktanten« nach Latour (123) sind sie keineswegs nur »semiotische Tiere« (Borgards), die als Symbole oder Metaphern für Menschliches einstehen.29 Sie dienen vielmehr (wie menschliche Figuren auch) der implizit-auktorialen Figurencharakterisierung, indem sie als Spiegelund Kontrastfiguren fungieren (vgl. Pfister, 263). So ist die Ähnlichkeit zwischen dem mutterlosen Schneehöpli und Heidi offensichtlich, ebenso die zwischen dem 26
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Spinner deutet die Milch als Säuglingsnahrung (433), die zu einer Nahrungsutopie gehört, in der Heidi »den Weg zur allumfassenden Mutter« (438) geht. Auch hier gerät allerdings nicht in den Blick, dass es sich um die Brust eines Muttertieres handelt. Andereggs Publikation stellt ein Plädoyer für die Ausweitung der Schweizer Ziegenzucht dar, die sie durch Zuchttipps befördern will. Zur Unterscheidung von »semiotischen« und »diegetischen« Tieren vgl. Borgards. Anders Anne-Marie Gresser, die die Ziegen als »métaphore de la société suisse« (193) interpretiert, die im Dienst der Unterscheidung von Deutschland stehe.
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namenlosen Alm-Oehi und dem Raubvogel (Spyri 1880, 48). Außerdem handeln die Tierfiguren mit, gegen und für menschliche Figuren, was insbesondere Distelfink im ersten sowie Schwänli im zweiten Band anbetrifft.30 Zusammenfassend ergibt sich hinsichtlich der Tiere ein ähnlicher Befund wie für die Alpenidylle. Der Umgang mit den Ziegen besitzt einerseits ökologisches und tierethisches Potenzial, andererseits durchaus seine zeittypischen und ideologischen Grenzen. Aus Platzgründen kann ich hier nicht genauer entwickeln, wie mit der Raumsemantik der Stadt Frankfurt und ihrer Tierwelt der Gegenpol zur Bergidylle entworfen wird. Alles dort ist naturfern und vermittelt: Kleidung, Nahrung, Lebensweise, Architektur. Es ist eine Welt, in der die Menschen den Kontakt mit der Natur verloren haben und in der Tiere nicht als Nachbarn und Gefährten, sondern als Nutztiere (die Katze), als Spielzeuge (die Kätzchen) oder als Exoten (die Schildkröte) auftreten. Heidi ist gefangen in der steinernen Architektur der Stadt, die die vertikalen sozialen Hierarchien, die im Hause Sesemann herrschen, versinnbildlicht. Zugleich verfolgen die biophilen Bilder der Alp die Protagonistin. Sie findet schließlich in der Kinderbibel der Großmama die nun christlich aufgeladene Idylle wieder, nämlich im Gleichnis vom verlorenen Sohn. Er wird zunächst als »Hirt« (Spyri 1880, 155) auf der grünen Wiese »in Goldschimmer gemalt« (ebd.), wo er bei der »schönen Heerde des Vaters« (ebd., 164) über die Schafe und Ziegen wacht. Später, in der Fremde, muss er »Schweinchen hüten« (ebd., 164) – und der Goldglanz ist verschwunden.31 In den letzten Kapiteln des ersten Teils kehrt Heidi nicht nur zurück, sondern sie bekehrt auch den Großvater. Angeleitet von Heidi und ihrer Lektüre der Kinderbibel versöhnen sich Dorf, Pfarrer und Großvater und damit stellvertretend auch die Idylle mit Kultur, Religion und Bildung. Aus der sozialen Isolation der Bergwelt zieht der Großvater in die Nachbarschaft des »Dörfli« und damit ins »Vaterhaus« Bachtins zurück und passt sich dem dörflichen Rhythmus der Jahreszeiten wieder an. Jetzt darf auch Heidi im Winter ins Dörfli und lernen. Aus der Alpenidylle wird nun der »himmlische[] Garten« Paul Gerhardts (Spyri 1880, 224), der die blinden Augen der Großmutter hellmacht. Diese angestrebte Harmonie von Natur und Kultur ist zum einen von Goethe bzw. goethezeitlich inspiriert,32 sie wird allerdings zum anderen 30
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Die Aktanten-Funktion der Tiere nutzt auch die japanische Anime-Serie Heidi von 1974, um weitere Episoden zu generieren. Nach Hurrelmann wird in ihr »das Geschehen durch Wiederholungs- und Abenteuerelemente gedehnt – z.B. geraten böse Jäger, die Gemsen schießen wollen, in einen Schneesturm oder Heidi rettet das kleinste Geißlein vor dem Metzger« (201); beides steht im Dienst der Serialität. Vgl. ausführlich Mergenthaler, 343–346. Vgl. Müller (922): Sie skizziert das »ideelle Fundament« des Romans, das sie in der »Naturverherrlichung im Gefolge Rousseaus, im Interesse an pädagogischen Experimenten, im Bildungsoptimismus der Aufklärungszeit, im Streben nach harmonischer Verbindung von
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von Spyri mit einem pietistischen Akzent versehen (vgl. Hurrelmann, 202–207; Müller, 922; Braeuer, 308). Neben die weiblich und mütterlich codierte Tier- und Umwelt tritt im Romanverlauf nun zunehmend die vaterrechtliche Kultur. Mit der Rückkehr ins Dörfli wird nicht nur die christliche Autorität Gottes und seines Stellvertreters, des Pfarrers, gestärkt, sondern auch die patriarchale Autorität des Alm-Oehi entwickelt. Er wird vom ›verlorenen Sohn‹ zu dem, was sein Name schon immer beinhaltet, zum Oheim, »Oehi« (jetzt ohne den Zusatz ›Alm-‹), des gesamten Dorfes, zum Nachbar, zur »beliebteste[n] Persönlichkeit im ganzen Dörfli« (Spyri 1880, 236). Im zweiten Band breitet sich dann die geistliche und religiöse Dimension immer weiter aus. Natur und Frömmigkeit werden enggeführt in der Andacht der Naturbetrachtung (Spyri 1881, 103). Die Hirtenexistenz wird zunehmend pastoral, der Oehi quasi zum Oberhirten und Patriarchen. Das ist für die christliche Tradition bekanntlich nichts Neues: Begreift doch Psalm 23 den Herrn als Hirten, wird doch Christus als Lamm Gottes (Agnus Dei), der Pfarrer als Pastor, die Gemeinde als Herde imaginiert. Die christliche Interpretation der Bukolik als die »patriarchalische[] Zeit« (Gottsched, 76) wird hier geradezu in Szene gesetzt. Entsprechend entwickelt sich das Romangeschehen im zweiten Band weg von den »Ersatzmütter[n]« (Spinner, 438) und hin zu den Ersatzvätern.33 An die Seite des Oehis, der gegenüber Peter zunehmend autoritär und disziplinierend agiert, treten die väterlichen Gewalten von Herrn Sesemann (in Peters Imagination auch der Polizeidiener) sowie die des Herrn Doktors. Über die religiöse und christliche Dimension des Textes ist schon einiges geschrieben worden (vgl. Schindler; Mergenthaler), über die patriarchale weniger, auch wenn sich beide in Spyris Roman geradezu selbstverständlich ergänzen. Sind doch die Patriarchen auch die Erz- und Stammväter, denen der Oehi, der Großvater, immer ähnlicher wird. Das schlägt sich auch im Verhältnis zu den Geißen nieder. Zunehmend taucht im zweiten Heidi-Roman Fleisch als Nahrungsmittel auf, in Gestalt der aus Frankfurt importierten Wurst (Spyri 1991, 11), aber auch im »rosigen Fleisch« (ebd., 23), das die Männer (Peter, Oehi und der Herr Doktor) verzehren. Diese Ernährung mutet stark ›gegendert‹ an: Essen doch die weiblichen Figuren weiterhin (und überwiegend) vegetarisch, die männlichen dagegen nicht – was schon Rousseau als charakteristisch für die jeweiligen Geschlechter proklamiert hat.34
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Kultur und Natur, im Vertrauen darauf, dass selbst verfehlte Schritte und Irrwege zu einem guten Ziel führen« ausmacht. Ähnlich, aber mit anderem Akzent vgl. Ulrich, die bemerkt, dass die »Hausfrau- und Mutterfunktionen« (18) auf den Alm-Oehi übertragen und die Mütter »von den aufgeklärten Erzieher-Vätern verschlungen« werden (22). Vgl. Rousseaus Julie ou la Nouvelle Héloïse: Im Brief X des vierten Teils schildert Saint-Preux die idealen Zustände im Haus von M. de Wolmar in Clarens und geht dabei auch auf die Verhältnisse zwischen den Geschlechtern und deren Ernährung ein. Die Frauen verzehren vor allem
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Im gleichen Zuge wird Schwänli, die weiße Ziege, im Text jetzt geradezu geadelt, dazu unten mehr. So wird in ihrer Beschreibung ihre Vornehmheit hervorgehoben (Spyri 1881, 22), die sie von Türk, dem Bock, unterscheidet. Damit soll selbstverständlich auch die dämonische-erotische Komponente des Ziegenbocks als Symbol des Teufels aus dem Text ausgetrieben werden. Schwänli ist sozusagen die im christlichen Sinne reine Ziege, fast schon ein Mutterschaf Gottes, wovon nicht nur ihre Fellfarbe, sondern auch ihr Name und ihre heilende Milch zeugen.
III. Heidis Pflanzen: Kräuter und »Prachtmilch« (II, 107) Das gibt mir die Möglichkeit, in einem dritten Schritt die Perspektive auf Umwelt und Tiere um die auf die Pflanzen hin zu erweitern und einen »biozentrische[n]« Blick auf die Heidi-Romane zu werfen (vgl. Stobbe, Kramer, Wanning). Schon hinsichtlich der Raumsemantik fiel auf, wie präzise Spyri die Flora und die Höhenstufen der Vegetation am Berg beschreibt. Im zweiten Teil des Romans wird die Vegetation in Gestalt der Kräuter nun geradezu wirksam gemacht. Auch wenn die Pflanzen nicht wie die Tiere als »Handlungsträger« (ebd., 101) auftreten, so stehen sie doch in Wechselwirkung mit Menschen und Tieren. Das belegt die »Prachtmilch« (Spyri 1881, 107), die der Großvater mit Hilfe von Schwänli und den Alpenkräutern herstellt.35 Dabei nutzt der Oehi zum einen die tierliche Intelligenz von Schwänli, die weiß, wo »die kräftigsten Kräutlein« (Spyri 1881, 107) sind. Hier wird der Unterschied zwischen Ziege und Schaf nun positiv markiert: Sind doch die Schafe bloß folgsam gegenüber dem Hirten, während die Ziegen als notorisch eigensinnig bekannt sind. Die ihnen zugeschriebene »Naschhaftigkeit« (Anderegg, 62) führt allerdings zum Verschmähen von Nahrung ebenso wie zum Versteigen am Berg36 und zu Vergiftungen (vgl. Anderegg, 68). Deswegen empfiehlt der Schweizer Professor Felix Anderegg (1834–1911) in seiner Anleitung zur Ziegenzucht auch, die Ziegen zur Nahrungsaufnahme zu ›erziehen‹.
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Milchprodukte und Kuchen (338), was Saint-Preux als geschlechtstypisch verallgemeinert : »Le laitage et le sucre sont un des goûts naturels du sexe, et comme le symbole de l’innocence et de la douceur qui font son plus aimable ornement. Les hommes, au contraire, recherchent en général les saveurs fortes et les liqueurs spiritueuses« (339). Schon Haller widmet sich ausführlich der Milch, ihrer Verarbeitung und ihren Produkten: »So macht des Volkes Fleiß aus Milch der Alpen Mehl./Hier wird auf strenger Glut geschiedner Zieger dicke,/Und dort gerinnt die Milch und wird ein stehend Öl;/Hier preßt ein stark Gewicht den schweren Satz der Molke,/Dort trennt ein gährend Saur das Wasser und das Fett;/ Hier kocht der zweite Raub der Milch dem armen Volke,/Dort bildt den neuen Käs ein rund geschnitten Brett.« (12) Vgl. die Distelfink-Episode in Spyri 1880, 43f., sowie die Abbildung bei Anderegg, 23.
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Genau das macht der Großvater, wenn er Schwänli zum anderen mit »seltenen Kräuterchen« (Spyri 1881, 114) füttert, die er »hoch« (ebd.) oben in den Felsen eigens für sie pflückt. Der Geruch dieser Kräuter ist »wie gewürzige Nelken und Thymian« (ebd., 114). Mittels dieses Geruchs konditioniert der Großvater die Ziege geradezu auf die Kräuter, die er ihr (und nur ihr) abends reicht. Die ursprüngliche Raumsemantik, in der »oben« als gut bewertet wird, bleibt dem Roman also im zweiten Teil, trotz der Rückkehr ins Dörfli und in die christliche Gemeinschaft, erhalten. Großvater, Ziege und Kräuter wirken gemeinsam daran, die »gewürzige[] Milch« (Spyri 1881, 110) zu produzieren – hier wird die Verbindung zu den Kräutern und zu Schwänli schon ›aromatisch‹ vorbereitet und der nach »Fischthran« (ebd.) schmeckenden Frankfurter Nahrung entgegengestellt –, die der mutterlosen Klara mundet und die sie heilen soll und wird. Die tierliche Muttermilch wird vom Großvater sozusagen naturheilkundlich angereichert, was auf das gegenwärtige pharmazeutische Enhancement von Menschen und Tieren vorausweist. Spyri greift damit allerdings auf eine sehr alte medizinische Vorstellung zurück, nämlich auf die schon von Galen propagierte Idee, »Tiere mit bestimmten Arzneikräutern zu füttern, um ihre Milch besonders wirksam zu machen« (Wyder, 75), eine Vorstellung, die, wie Margrit Wyder zeigt, sich seit der Antike durch die Medizin zieht und sich im 18. und 19. Jahrhundert in Milch- und Molke-Kuren niederschlägt. In zeitgenössischen Kurempfehlungen taucht immer wieder das auch von Spyri gern genutzte Adjektiv »kräftig[]« (Spyri 1880, 1) in Verbindung mit den Alpenkräutern und der Ziegenmilch auf. So empfiehlt Johann Heinrich Ernst 1795 den Genuss von Ziegenmolke und zwar im Sommermonat Juni, »weil erst um diese Zeit die Ziegen in die Höheren Alpen getrieben werden, wo sie kräftigeres Futter antreffen und wodurch mithin den Molken auch heilsammere Kräfte mitgetheilt werden« (zitiert nach Wyder, 87). Auch ein Gedicht von Johann Georg Schläpfer aus dem Jahr 1844 propagiert die »kräftigen Kräuter«, von denen Spyri spricht: »Der Molken nährender Saft aus den kräftigen Kräutern der Alpen,/Im Körper der Ziege bereitet, erfrischet sein stockendes Blut« (zitiert nach Wyder, 90). Ebenso empfiehlt Felix Anderegg die Ziegenzucht wegen der »kräftigen Ziegenmilch« (23), die nicht nur der Armut, sondern auch dem Alkoholismus vorbaut (ebd., 6). Anderegg stellt seinem Buch ein selbstverfasstes schweizerdeutsches Gedicht voran, das »Geißmilch« betitelt ist. In ihm erwähnt er auch zwei Heilpflanzen, die das »Geißli« bevorzugt: »Dört wo d’Romaye und d’Mutterne blüht,/Es füllt sis Ränzli und cha fast nit scheide,/We der Abe chunt. Sis Uetterli sprüht/Voll guter Milch, die es hei bringt is Hus.« (Anderegg, 5) Romaye und Mutterne, Alpenrispengras und Alpenmutterwurz, sind bekannte und »als Futterkräuter sehr geschätzte[]« Alpenpflanzen, die sich auf sog. alpinen Milchkrautweiden finden (vgl. Schweizer Idiotikon). Die auf ihnen blühenden Milchkräuter werden so genannt, weil sie weißlichen Milchsaft enthalten – wie z.B. der Löwenzahn – und/oder die Milchproduktion der
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Weidetiere fördern (vgl. Hofer, 125). Weil Milchkrautweiden durch menschliche Rodung entstehen, sind sie ein gutes Beispiel für die Wechselbeziehungen zwischen Menschen und Umwelt sowie für deren gemeinsame Entwicklung im Sinne der companion species. Die anscheinend ›menschenfreundliche‹ Natur der Alpwiesen ist – wie so oft in der Bukolik – demnach bereits Naturkultur. Der eingangs von Bachtin beschriebene idyllische Zyklus der Jahreszeiten wird in diesen Kur- und Ernährungsempfehlungen (genauso wie bei Spyri) in eine Art ›Säfte-Zyklus‹ transformiert: Die sommerlichen Milchkräuter nähren die Ziege, die aus ihnen Milch bereitet, die selbst bzw. deren Molke wiederum ins Blut der Kranken übergeht. Stehen in den angeführten Zitaten die Ziegen im Vordergrund, so wird die Heilwirkung der Alpenmilch gleichermaßen der Kuhmilch zugesprochen, mit den bekannten Folgen: Auf Milchpulver und Milchschokolade gründen bekanntlich einige große (ursprünglich Schweizer) Lebensmittelkonzerne. Durch diesen ›Säfte-Zyklus‹ werden die Grenzen zwischen pflanzlichen, tierlichen und menschlichen Wesen aufgelöst: Die tierliche Muttermilch ist ebenso vom Pflanzensaft der (Milch-)Kräuter durchflossen wie sie das Blut des Menschen nährt. Allerdings bleibt dieser Zyklus anthropozentrisch ausgerichtet. So wie die schöne bzw. idyllische Landschaft aus menschlicher Perspektive das Überleben verspricht, so gilt das auch für das Heilungsversprechen der mittels Kräuter angereicherten ›Prachtmilch‹. Das naturheilkundliche Wissen des Großvaters imponiert selbst dem Doktor, d.h. dem professionell gebildeten Arzt. Dieser bemerkt nämlich, […] wie gut der Oehi alle Kräutlein rings herum auf seiner Alp kannte und wußte, wozu sie gut waren und wieviel kostbare und gute Dinge er da droben überall herauszufinden wußte; so in den harzigen Tannen und in den dunkeln Fichtenbäumen mit den duftenden Nadeln; in dem gekräuselten Moos, das zwischen den alten Baumwurzeln emporsproß und in all den feinen Pflänzchen und unscheinbaren Blümchen, die noch ganz hoch oben dem kräftigen Alpenboden entsprangen. (Spyri 1881, 39) Den »Kräutlein« kommt aus Sicht des Doktors kein oder nur bedingt ein intrinsischer bzw. ökologischer Selbstzweck zu. Vielmehr ist sein Blick auf den Nutzen der Vegetation für den Menschen gerichtet, was der vom Christentum propagierten ›anthropologischen Differenz‹ der ›Krone‹ gegenüber der gesamten Schöpfung entspricht, die im zweiten »Heidi«-Teil nun vorherrscht. Dennoch wird hier, wie auch mit der Herstellung der ›Prachtmilch‹, die Aufmerksamkeit des Lesepublikums auf die »Interaktion zwischen Menschen und Pflanzen« gerichtet (Stobbe, 95). Der Doktor wird durch seine Schweizerreise von seiner Depression geheilt und erhofft Ähnliches auch für Klara: »›[D]ort oben müssen alle Menschen wieder gesund werden‹« (Spyri 1881, 80). Tatsächlich trägt das »›aparte[] Sonnenjahr‹« »›besondere Kraft in die Kräuter‹« (ebd., 86), und die »Alpluft« tut »ihre Schuldigkeit an
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dem Töchterchen« (ebd., 98). Alle Faktoren zusammen kulminieren in Klaras Heilung. Spyri koppelt demnach verschiedene Vorstellungen von der Heilwirkung der Alpen miteinander. Die ›Alpluft‹ steht nicht allein im Dienst Tuberkulosetherapie, die in den Schweizer Luftkurorten im Winter vorgenommen wurde,37 sondern fügt sich in ein ganzes Ensemble von Wirkungen und Wechselwirkungen innerhalb von Natur und Umwelt ein. Luft, Licht, Flora, Fauna und die Menschen der Alpenidylle bilden ein ökologisches System, das heilsam wirkt – und zwar nicht nur auf die vom Heimweh bedrohten Schweizer*innen, sondern auch auf den deutschen Arzt und das kranke Stadtkind. Spyri bleibt im idyllischen ebenso wie im christlichen Rahmen, wenn sie Licht, Kräuter und Milch mit der sommerlichen Jahreszeit und damit der Sonneneinwirkung zusammenführt, die letztlich (seit dem Schluss des ersten HeidiRomans) metaphorisch für das göttliche Wirken einsteht. Das zeigt dann auch die Grenzen einer ›biozentrischen‹ Lektüre der Heidi-Romane auf. So ökologisch die wechselseitigen Mensch-Umwelt-Beziehungen der Alpenidylle anmuten mögen, so sehr wird die »pastorale Lebensgemeinschaft« (Zemanek 2015, 189) doch christlich überformt. Abschließend lässt sich feststellen, dass der Umgang mit und die Darstellung von Umwelt, Tieren und Pflanzen Spyris Romanen eine janusköpfige Signatur verleihen. Die Texte sind vorwärtsgewandt und rückschrittlich, modern und antimodern zugleich. Die Idyllisierung der Bergwelt, der Ziegen und der Kräuter weist auf die lebensreformerischen und ökologischen Strömungen um 1900 voraus (Zemanek 2015, 189); die christliche Überformung dieser Idylle trägt aber auch konservative und rückwärtsgewandte Züge. Insgesamt ergibt diese Verbindung von (Proto-)Ökologie und Naturheilkunde, Christentum und Heimatideologie eine spannende, mehrdeutige Mix- und Textur, die in immer neuen Fassungen und medialen Transformationen aktualisiert werden kann.
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In einem Brief an C.F. Meyer (vom 11. Oktober 1883) fürchtet Spyri allerdings die winterliche Kälte in Davos für ihren Sohn: »Bernhard ist in die Verbannung nach Davos verurtheilt, für den Winter. Er hustet stark, die Lunge ist angegriffen. Ich habe die Idee, das Vernarben der vielen Stellen könnte im Süden, in milder Luft, eher vor sich gehn u. liege noch mit den Aerzten in Streit darüber. Diese Winterverbannung in noch tiefern Winter ist mir ein schrecklicher Gedanke, auch Bernhard scheut davor.« (Spyri und Meyer, 49)
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Zur Temporalität von Bildung Traumatisierte Männerseelen und das queere Prinzip ›Heidi‹ in Johanna Spyris Heidi-Romanen Heidi Schlipphacke
Johanna Spyris Heidi ist keine komplexe literarische Figur mit einer ausgeprägten Innerlichkeit. Sie wird beispielsweise von Anfang an durch ihr Äußeres beschrieben – insbesondere durch ihre Kleidung.1 Die Hauptfigur in Spyris Romanen Heidis Lehr- und Wanderjahre und Heidi kann brauchen, was es gelernt hat (1880–81) ist stattdessen eine Art Prinzip, und zwar – wie ich zeigen werde – ein queeres Prinzip. Das heißt, Heidi queert die Erwartung der Romanleser*innen, dass nämlich die zentrale Figur im Text eine moderne Subjektivität ausbildet und dass man es, wie der Titel eigentlich suggeriert, hier mit einer modernen Entwicklungshandlung zu tun hat. Insofern werden alle Beziehungen im Roman »gequeert« und die Normen des Genres empfindlich unterminiert. Als queeres Prinzip stört Heidi die normative Temporalität von Bildung. Wir haben es hier mit keiner traditionellen Entwicklung einer Figur zu tun. Zwar verlässt Heidi ihre Wahlheimat beim »Alm-Oehi«, als sie nach Frankfurt reist. Diese Reise stellt aber keine Flucht aus dem eingeengten Milieu des Zuhauses dar. Anders als Wilhelm Meister, der das bürgerliche Milieu hinter sich lassen möchte, will Heidi auf keinen Fall von der Alp weg. Ihre Tante Dete täuscht sie sogar, indem sie Heidi vorlügt, die Reise nach Frankfurt dauere nur einen Tag, und dann sei Heidi wieder beim Alm-Öhi. Eigentlich lernt Heidi dann sehr wenig, und das Lesen, das ihr in Frankfurt beigebracht wird, ist ihr im Grunde nicht besonders wichtig. Dazu schafft Heidi als queeres Prinzip statt einer traditionellen Familie eine aparte queere Gemeinschaft, eine Gemeinschaft, die aus zwei alten Männern (dem Alm-Öhi und dem
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Im zweiten Absatz des ersten Romans wird Heidi als übermäßig bekleidet und »eine völlig formlose Figur« beschrieben: »Das kleine Mädchen mochte kaum fünf Jahre zählen; was aber seine natürliche Gestalt war, konnte man nicht ersehen, denn es hatte sichtlich zwei, wenn nicht drei Kleider übereinander angezogen und drüberhin ein großes, rotes Baumwolltuch um und um gebunden, sodaß die kleine Person eine völlig formlose Figur darstellte, die, in zwei schwere, mit Nägeln beschlagene Bergschuhe gesteckt, sich heiß und mühsam den Berg hinaufarbeitete.« (Spyri 1880, 1–2)
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Doktor), zwei Ziegen und Heidi selbst besteht.2 Andere Mitglieder dieser Gemeinschaft sind die zwei Großmütter (Klaras Großmutter und Peters Großmutter) und zwei Quasi-Geschwister (Klara und Peter). Sozioökonomisch gesehen besteht diese »Familie« aus Mitgliedern verschiedener sozialer Klassen (aus Armen, aus Wohlhabenden und dem ländlichen Äquivalent von einem Mittelstand). Also muss man sich fragen, ob die berühmten Heidi-Romane wirklich als Heimatromane gelesen werden können: Wie kann man Heimat ohne eine traditionelle Kern-Familie verstehen?3 In der queeren Gemeinschaft im Roman finden keine Mitglieder der mittleren Generation ihren Platz. Heidis Lehr- und Wanderjahre endet mit der Gründung einer queeren Altmännerfamilie. Heidi, der Alm-Öhi und Doktor Classen, der Hausarzt der Familie Sesemann in Frankfurt, planen ein gemeinsames Leben im Dorf. Der Doktor, traumatisiert durch den Tod seiner Frau und seiner Tochter, entwirft sich ein neues, weniger schmerzhaftes Leben im Dorf zusammen mit dem Alm-Öhi und Heidi. Dass diese queere Utopie bis jetzt in der Sekundärliteratur übersehen worden ist, liegt vielleicht an den generischen Regeln, die hier im Text ziemlich unerwartet überschritten werden. Wenn wir es hier mit einem Heimat-Narrativ zu tun haben, dann bietet uns der Schluss keine konventionelle Art von Harmonie – es gibt keine Hochzeit und kein heteronormatives Paar. Stattdessen kauft der Doktor den großen renovierungsbedürftigen »Herrensitz«, in dem Heidi und der Öhi normalerweise den Winter verbringen, seit Heidi zur Schule geht. Der Doktor plant, in einem Teil des Hauses zu leben, während der Öhi und »das Heidi« auf der anderen Seite des Hauses wohnen: »denn der Herr Doktor kennt den Alten als einen unabhängigen Mann, der seine eigene Behausung haben muss.« (Spyri 1881, 176) Hier haben wir den gönnerhaften Diskurs des Liebhabers, der zeigen will, dass er die fingierte Unabhängigkeit des Geliebten wahrnimmt. Dazu hebt die Teilung des Hauses die Tatsache vor, dass wir es mit einer queeren/»patchwork«-Familie zu tun haben, in der die Säume zwischen den verschiedenen Zimmern bzw. Beziehungen sichtbar sind. Sogar die Tiere nehmen in dieser queeren Gemeinschaft ihren Platz ein: ein Geißenstall wird hinten eingerichtet, wo die Geißen Schwänli und Bärli »in sehr behaglicher Weise ihre Wintertage zubringen« (Spyri 1881, 176). Der Plan ist, dass die zwei älteren Männer ein Zuhause für sich bauen, und, wie der Erzähler uns klar macht, »ihre Gedanken [kommen] meistens auf das Heidi, denn beiden ist die Hauptfreude an dem Hause, dass sie mit ihrem fröhlichen Kinde hier einziehen werden« (Spyri 1881, 176; meine Hervorhebungen). Der Diskurs der zwei Männer deutet auf das gemeinsame Leben mit »unserem Kind«:
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Hier lese ich die Romane anders als Regine Schindler, die behauptet, dass »das Element der Familie« fehlt. Stattdessen fungiert Schindler zufolge die Natur als eine Art Familienersatz (vgl. Schindler, 55). Zum Thema Heidi und Heimat vgl. Pecher.
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»Mein Lieber Freund,« sagte kürzlich der Herr Doktor, mit dem Öhi oben auf der Mauer stehend, »Sie müssen die Sache ansehen wie ich. Ich teile alle Freude an dem Kinde mit Ihnen, als wäre ich der Nächste nach Ihnen, zu dem das Kind gehört; ich will aber auch alle Verpflichtungen teilen und nach bester Einsicht für das Kind sorgen. So habe ich auch meine Rechte an unserem Heidi und kann hoffen, dass es mich in meinen alten Tagen pflegt und um mich bleibt, was mein größter Wunsch ist. Das Heidi soll in alle Kindesrechte bei mir eintreten; so können wir es ohne Sorge zurücklassen, wenn wir einmal von ihm gehen müssen, Sie und ich.« (Spyri 1881, 176–177; meine Hervorhebungen) Der Diskurs vom gemeinsamen Leben gleicht dem zwischen Ehepaaren. Es wird mehrmals betont, dass Heidi das geteilte Gut beider Männer ist und, dass »unser Heidi« verschiedene Rollen spielen wird: das Kind, die Mutter, und die Pflegekraft.4 Das Schlusstableau verbildlicht die gequeerte Familie, die um das gemeinsame Kind/Prinzip (»unser[…] Heidi«) Heidi kreist und die gleichzeitig als utopisch und als ausbeuterisch gesehen werden kann. Die queere Altmännergeschichte, die sich in den Heidi-Romanen entwickelt, ist eine bisher übersehene Geschichte. Ließe sich sagen, dass das queere ewige Kind Heidi das Leben der alten Männer gleichsam queert? Durch und wegen Heidi kommen sie zusammen und bauen ihr gemeinsames Leben auf. Dieses Narrativ, Liebe zwischen zwei traumatisierten alten Männern, Figuren, deren Leben eher hinter als vor ihnen liegt, findet man eher selten in der modernen Literaturgeschichte. G.E. Lessings bürgerliches Trauerspiel Miß Sara Sampson (1755) fungiert womöglich als eines der wenigen Modelle: Das Stück endet mit der Gründung einer neuen Familie, die aus zwei alten Männern (Sir William und seinem ehemaligen Diener Waitwell) und einem adoptierten Kind (Marwoods verlassenes Kind Arabella) besteht. Man sucht aber ziemlich erfolglos nach ähnlichen Sujets. Wer interessiert sich denn für eine solche Geschichte? Es dauerte mehr als zwei Jahrhunderte, bis die Literaturwissenschaft überhaupt auf diese Aspekte von Lessings Sujet aufmerksam wurde.5 Und unter den vielen filmischen Heidi-Adaptationen, die über die Jahre gedreht wurden, gibt es keine einzige, in der die Altmännerliebesgeschichte nicht getilgt worden wäre.
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Siehe hier Ingrid Tomkowiak, die argumentiert, dass Heidi ihr eigenes Leben für die älteren Menschen aufgeben muss (Tomkowiak 2018). Gail Hart hat diesen Teil der Handlung 1996 in ihrer Monographie Tragedy in Paradise zum ersten Mal hervorgehoben.
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Das queere Kind Ein populäres »Heidi«-GIF zeigt die japanische Heidi-Zeichentrickfigur beim Rennen mit den Ziegen.6 (Abb. 1) Diese einfache Anime-Figur aus den 1970er Jahren verbildlicht die moderne, globale Vorstellung von Heidi. Sie trägt ihr letztes Stück Kleidung, das weiße Hemdlein, und rennt euphorisch bergaufwärts. Im GIF rennt und rennt Heidi und kommt doch nirgendwohin. Und wo auch sollte sie hin? Sie ist schließlich bereits auf dem Berg, wo sie immer bleiben möchte – ein Umstand, den das GIF sehr gut einfängt. Hier sehen wir das »queere« Kind – oder, anders ausgedrückt: das Kind ist ja im Prinzip immer schon queer, und es sind unsere kapitalistischen Fortschrittsnarrative, die der Kindheit eine glatte, lineare Form zu geben versuchen. Kathryn Bond Stockton analysiert die Figur des queeren Kindes in ihrem Buch Growing Sideways. Hier hebt sie das Temporale hervor, um die Zweckfreiheit des Kindes zu betonen. Sie schreibt von […] the matter of children’s delay: their supposed gradual growth, their suggested slow unfolding, which, unhelpfully, has been relentlessly figured as a vertical movement upward (hence, »growing up«) toward full stature, marriage, work, reproduction, and the loss of childishness. Delay, we will see, is tremendously tricky as a conception, as is growth. Both more appropriately call us into notions of the horizontal – what spreads sideways – or sideways and backwards – more than a simple thrust toward height and forward time« (Stockton, 4).7 Stockton möchte Kindheit nicht als lineares Wachstum in die Höhe und nach oben imaginiert sehen, sondern als eine horizontale Bewegung ohne Ziel und ohne Zweck.8 Das Konzept von »delay« (Verzögerung) unterstreicht die nicht-homogene Zeit der Kindheit, das langsame Wachsen, das manchmal nie und nirgendwo ankommt. Die Liminalität von Heidi lädt uns ein, »das Heidi« als »Mignon«-Figur zu lesen, d.h. als Goethes androgynes Weib/Kind in Wilhelm Meisters theatralische Sendung 6 7
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Heidi, Regie von Isao Takahata, Fuji TV Japan, 1974. Die Serie erzielte auch in Deutschland eine bis heute andauernde Popularität. Erstmals ausgestrahlt wurde die Serie dort 1977. »In spite of Anglo-American cultures, over several centuries, thinking that the child can be a carefully controlled embodiment of noncomplication (increasingly protected from labor, sex, and painful understanding), the child has gotten thick with complication. Even as idea. In fact, the very moves to free the child from density – to make it distant from adulthood – have only made it stranger, more fundamentally foreign, to adults. Innocence is queerer than we ever thought it could be.« (Stockton, 5) Ohne sich auf den Begriff »queer« zu stützen, zeigt Perry Nodelman, dass es das Ziel vieler Kinderbücher ist, Kindern zu zeigen, wie sie eine Zukunft haben können, ohne erwachsen werden zu müssen (Nodelman).
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(1777–85) und Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795–96; vgl. auch Hurrelmann). Leimgruber behauptet, dass »Geschlechtlichkeit […] keine Rolle im Heidi-Roman« (179) spielt. Heidi ist in jedem Falle eine androgyne Figur. Spyris bewusste Anspielung auf Goethes Wilhelm Meister-Romane bringt die zwei androgynen Kind-Figuren in einen Dialog miteinander. Die Tradition des Bildungsromans wird hier evoziert und gleichzeitig dadurch unterlaufen, dass Heidi eine Art Spiegelbild von Mignon und eben nicht von Wilhelm ist. Wie Hurrelmann schreibt, dürfen sowohl Mignon als auch Heidi »nicht erwachsen werden« (211). Beide Figuren, sowohl Heidi als auch Mignon, empfinden ein tiefes Heimweh – Mignon nach ihrem geliebten Italien und Heidi nach der Alp. Dazu empfinden beide Figuren ihr Leiden auf eine Weise, die am Körper lesbar wird: Mignon: »Sie [Mignon] blieb lange ruhig. Endlich fühlte er [Wilhelm] an ihr eine Art Zucken, das ganz sachte anfing und sich, durch alle Glieder wachsend, verbreitete.« (Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre, 497–98) Heidi: »Dann setzte er [der Doktor] sich auf den Sessel am Bett und wartete, bis Heidi ein wenig beruhigt war und nicht mehr an allen Gliedern bebte.« (Spyri 1880, 188) Das Leiden beider »Geschöpfe« zeigt sich sofort am Körper, in einer Art hysterischem Beben und Zittern.9 Die Geschlechtslosigkeit bzw. Androgynität von Mignon und Heidi werden durch den Gebrauch von wechselnden Pronomen bzw. neutralen Pronomen betont. Insbesondere in Wilhelm Meisters theatralische Sendung wird Mignon wechselweise mit »er« und »sie« angeredet (vgl. auch Tobin, 94–107). In den Heidi-Romanen bleibt Heidi bis zum Romanende »das Heidi«. Das andere Kind, Klara, wird nur mit »sie« bezeichnet (»… denn sie (Klara) sah das Heidi vor sich…« [Spyri 1881, 12]; »Aber Klara hielt den Aufstehenden fest; erst musste sie ihm ja noch alle Aufträge an das Heidi übergeben…« [Spyri 1881, 8]). Egal, wie alt Heidi wird: Sie bleibt im Gegensatz zu Klara androgyn bzw. geschlechtslos. Heidis Mangel an Geschlechtlichkeit und die begrenzten subjektiven Möglichkeiten, die ein binäres Geschlechtersystem bieten, werden auf eine spielerische Weise angedeutet in dem Moment als Fräulein Rottenmeier Heidi befiehlt, die Diener mit »Sie oder Er« anzureden: »Als er [der Diener Sebastian] auf der letzten Stufe der Treppe angekommen war, trat Heidi vor ihn hin und sagte mit großer Deutlichkeit: ›Sie oder Er!‹« (Spyri 1880, 111). Dieser Moment erinnert an die Unschlüssigkeit des Erzählers in Goethes Theatralischer Sendung Mignons Geschlecht gegenüber. Fräulein Rottenmeiers Versuch, Heidi die Höflichkeitsformen beizubringen, deutet, ohne dass es Fräulein Rottenmeier 9
Siehe hier Annie Pfeifers gender-basierte Leseart. Dazu schreibt Yvonne Fluri, dass die Männer in Spyris Werken nicht erkranken, sondern eher Opfer eines Unfalles sind (Fluri, 88).
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bewusst wäre, auf das Problem der klaren Geschlechtsbestimmung in Sachen Heidi hin. Als Heidi in Frankfurt anfängt, durchs Haus zu »spuken«, indem sie zu schlafwandeln beginnt, verkörpert sie den Begriff des Unheimlichen auf mehr als eine Weise. Niemand im Hause weiß, dass der Geist, der durchs Haus spukt, das schlafwandelnde Heidi ist. Fräulein Rottenmeier beschreibt die Funktion von diesem Geist/Heidi auf eine Weise, die auf Freuds Theorie des Unheimlichen vorausweist: »denn was in dem Haus vorgeht, deutet auf Fürchterliches, das hier in vergangener Zeit muss vorgegangen und verheimlicht worden sein« (Spyri 1880, 183). Der Geist im Haus bringt, Rottenmeier nach, die verdrängten (und ihr unbekannten) Geheimnisse des Hauses ans Licht. Das Unheimliche an sich, so Rottenmeier, deutet auf das furchtbare Geheimnis hin. Obwohl Doktor Classen und Herr Sesemann das Rätsel bald dadurch lösen, dass sie Heidi beim Schlafwandeln erwischen, bleibt die Verbindung zwischen Heidi und dem Unheimlichen da. Heidi hat Heimweh; sie passt einfach nicht in das Haus in Frankfurt und zu den Sesemanns. Ihr Wesen zerstört die implizit postulierte Harmonie des ehemals heteronormativen Hauses Sesemann. Heimlich und unheimlich sind ineinander verwoben, wie Freud so schön zeigt. Fräulein Rottenmeiers Beschreibung vom Geist im Hause gleicht dem berühmten Schelling-Satz, der von Freud zitiert wird: »Unheimlich nennt man Alles, was im Geheimnis, im Verborgnen . . . bleiben sollte und hervorgetreten ist« (Freud, 248). Imke Meyer postuliert, dass Kinder immer etwas Unheimliches an sich haben. Begegnungen mit Kindern, schreibt sie, beeinhalten stets »an element of the uncanny: suspended in the present, the child may signify the return of an adult’s repressed past, and the child can trigger all of the anxieties that attach themselves to the futures adults imagine or fear.« (Meyer, 185) In Bezug auf Erwachsene könnte man mit Meyer behaupten, dass Kinder unheimlicherweise auf den Tod deuten. Freuds Aufsatz zum Unheimlichen endet bekanntermaßen mit der weitverbreiteten Angst vor dem Dunkeln, die den Erwachsenen mit dem Kind eng verbindet und die als Ersatz für die Angst vor dem Tod fungiert: »Von der Einsamkeit, Stille und Dunkelheit können wir nichts anderes sagen, als daß dies wirklich die Momente sind, an welche die bei den meisten Menschen nie ganz erlöschende Kinderangst geknüpft ist« (Freud, 274). Auf diese Weise werden die Begriffe Kind, das Unheimliche und der Tod von Freud auf intimste Weise miteinander verwoben. Aber was ist an Heidi unheimlich? Nur in Frankfurt kann man Heidi mit dem Unheimlichen verbinden. Nur da schlafwandelt sie; nur dort zerstört sie die Ordnung des Hauses. Und nur in Frankfurt kann man sie als neurotisch verstehen, als eine gespaltene, komplexe Figur. Freud argumentiert, dass das Unheimliche im Märchen nicht vorkommt, da die Leser*innen das Unerwartete sowieso erwarten (Freud, 272–274). Man braucht einen realitätsbezogenen Kontext, um das Unheimliche als solches zu spüren. In dem Sinne ist in den Heidi-Romanen Frankfurt die
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realitätsbezogene Welt. Nur dort, in dem mit den gängigen bürgerlichen Normen konformen Haus, empfindet man Heidi als unheimlich. Nicholas Royle schreibt, »The uncanny is queer. And the queer is uncanny.« (Royle, 43) Das Unheimliche ist das, was die Fragilität des Normativen ans Licht bringt. Auf der Alp beim Alm-Öhi ist alles wie im glücklichen Märchen. Da kann das queere Kind glücklich seitwärts wachsen, ohne als unheimlicher Geist interpretiert zu werden. Auf der Alp ist Heidi eine eindimensionale Figur, ohne Neurosen und ohne Widerspruch. Hier kommen wir wieder auf die Ähnlichkeiten zwischen Heidi und Mignon zurück. Wie Heidi ist Mignon im Kontext von ihrer queeren Familie nicht unheimlich. Eine der Verwandtschaftsgruppierungen in Wilhelm Meisters Lehrjahre wird als »wunderbare Familie« bezeichnet, eine Familie, die aus Mignon, dem alten Harfner, dem Kind Felix und Wilhelm besteht.10 Hier ist Mignon zu Hause. Sie stirbt in dem Moment als Wilhelm Natalie heiraten will (eine Ehe, die Mignon als Bedrohung für ihre nicht-normative Beziehung zu Wilhelm versteht), und nimmt dann die Rolle der unheimlichen Märtyrerleiche an. Während Mignon keinen dauerhaften Platz in der queeren Familie finden kann, gelingt es Heidi, einer normativen Zukunft zu entkommen.
Lernen ohne Entwicklung Die Leser*innen der Heidi-Romane erwarten bei ihrer Lektüre vernünftigerweise einen Bildungsroman im Sinne von den Lehr- und Wanderjahren von Goethes Wilhelm Meister. Aber was lernt Heidi? Sowohl das Lesen als auch das Beten bringt ihr die Großmama Sesemann bei. Das Lesen funktioniert aber im Roman nicht als Moment des In-die-Welt-Hinausgehens. Hier haben wir es nicht mit einer Figur wie Berta aus Tiecks Der blonde Eckbert (1797) zu tun, die das Lesen von der alten Hexe lernt und danach nicht mehr glücklich zu Hause ist, da sie von schönen Prinzen und reizenden Welten liest und träumt. Im Gegenteil. Das Lesen spornt Heidi an, wieder nach Hause zu gehen und die »weite Welt« hinter sich zu lassen. Denn Heidi liest immer wieder dasselbe Buch, die biblische Geschichte des verlorenen Sohns. Dies ist die Geschichte einer Wiederkehr, in der ein Kreis sich am Ende schließt.11 Sobald Heidi wieder beim Alm-Öhi zu Hause ist, liest sie nur noch Peters Großmutter die immer selben Hymnen aus ihrem Gesangbuch vor: »Kreuz und Elende – Das nimmt
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»Der Alte und Mignon nahmen den Wiederkehrenden freundlich auf, und alle drei verbanden sich nunmehr, ihrem Freunde und Beschützer aufmerksam zu dienen und ihm etwas angenehmes zu erzeigen.« (Goethe 1992b, 547) Malcolm Usrey und Maria Nikolajeva lesen beide die biblische Geschichte vom verlorenen Sohn als eine Allegorie für das Leben vom Alm-Öhi. Für Usrey fungiert diese Geschichte für den Alm-Öhi als eine Art Bekehrungsimpuls (vgl. Usrey, Nikolajeva).
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ein Ende, Nach Meeresbrausen Und Windessausen Leuchtet der Sonne erwünschtes Gesicht« (Spyri 1880, 223). Alle Hymnen erzählen von dem Leid und dem drauffolgenden Glück, ohne Entwicklung oder Reflexion. Heidi bringt Peter ausschließlich zum Zweck des Hymne-Vorlesens das Lesen überhaupt bei. Hier ist das Lesen nicht eine Art Aufklärung, sondern eher ein Gedächtnisspiel, das Wiederholen eines Mantras, das die Heimat gemütlicher macht. Wir haben es mit einer Art Lesen ohne Entwicklung zu tun; das Lesen macht noch nicht glücklich. Im Gegenteil: Bald nachdem Heidi in Frankfurt gelernt hat zu lesen, fängt das schlimme Heimweh an: »Aber so recht froh sah Heidi nie aus, und seine lustigen Augen waren nie mehr zu sehen« (Spyri 1880, 167). So kann man das Lesen verstehen als eine Art Reflexion, die zu Neurosen und Unglück führt. Das Trauma des Kindes spiegelt sich in den Traumata der alten Männer wider. Freud nach kann man Trauma als einen unerwarteten Verlust verstehen, der zu einem Wiederholungszwang führt. Man möchte das Trauma durch diesen Wiederholungszwang meistern (das Fort-Da Spiel ist das berühmte Beispiel dafür). Im Falle der Kinder Heidi und Klara kann man die Traumata auf den Verlust der Eltern bzw. Mütter zurückführen. Eine Heilung findet in beiden Fällen statt: Heidi wird nach dem Heimweh in Frankfurt wieder gesund und schafft sich eine Wunschfamilie, und Klara lernt das Gehen wieder. Im Vergleich dazu erleben die alten Männer keine klare Heilung: ihre Traumata sind nicht heilbar. Der Alm-Öhi erzählt vom schmerzlichen Verlust seines geliebten Kumpels, den er selbst gepflegt hatte, und zwar im Krieg. Es sind nicht der Verlust seines Sohnes und, kurz darauf, seiner Frau, die sein Trauma definieren, sondern der Verlust seines Hauptmanns im Krieg. Das Homosoziale geht viel tiefer als die Ehe und die Vaterschaft: Vor seinen Augen war aus längst vergangener Zeit das leidende Antlitz eines Mannes aufgestiegen, der so in einen Stuhl gebettet dasaß und so verstümmelt war, dass er kaum ein Glied mehr gebrauchen konnte. Das war sein Hauptmann, den er in Sizilien nach dem heißen Gefechte so an der Erde gefunden und weggetragen hatte und der ihn nachher als einzigen Pfleger um sich litt und nicht mehr von sich gelassen hatte, bis seine schweren Leiden zu Ende waren. Der Öhi sah seinen Kranken vor sich; es war ihm nicht anders, als ob es jetzt seine Sache sei, die kranke Klara zu pflegen und ihr alle die erleichternden Dienstleistungen zu erweisen, die er so wohl kannte. (Spyri 1881, 90) Für den Alm-Öhi ist die Heilung Klaras eine Art Ersatz für seine Unfähigkeit, seinen geliebten Hauptmann zu retten. Die Körperhaltungen von beiden Figuren werden hier als ganz ähnlich geschildert: beide sind an einen Stuhl gefesselt. Des Öhis Fixierung darauf, Klara zu heilen, wird als eine Art Fort-da-Szenario dargestellt, als Versuch, ein Gefühl von Herrschaft über den traumatischen Moment zu gewinnen.
Heidi Schlipphacke: Zur Temporalität von Bildung
Heidi kann brauchen, was es gelernt hat beginnt mit einer Erzählung vom Trauma des Doktors: »Der Doktor hatte eine einzige Tochter gehabt, mit der er seit dem Tode seiner Frau sehr nahe zusammen gelebt hatte und die seine ganze Freude gewesen war. Vor einigen Monaten war ihm das blühende Mädchen durch den Tod entrissen worden. Seither sah man den Herrn Doktor nie mehr so recht fröhlich, wie er vorher fast immer gewesen war.« (Spyri 1881, 1–2) Die Melancholie des Doktors wird hier eher als Produkt des Todes der Tochter, denn als Folge des Verlusts seiner Frau dargestellt. Insofern rückt auch hier die heteronormative Ehe wieder in den Hintergrund. Zudem ist es klar, dass beide Männer den Tod ihrer Geliebten nicht verhindern konnten und dass beide Heiler geworden sind. Hier finden sich weitere Wilhelm Meister-Anspielungen, da auch Wilhelm in den Wanderjahren ja zum Arzt wird. Für beide Figuren, den Alm-Öhi und den Doktor, können die traumatischen Wunden nur durch die Anerkennung eines gleichgesinnten älteren Mannes teilweise geheilt werden. Homosozialität ist die beste Medizin. Insofern überspringt der Heilungsprozess die mittlere Generation. Die Temporalität von Trauma (Wiederholung) und die Temporalität von Bildung (linearer Fortschritt) sind, so können wir annehmen, einander fremd. Die queere Familie in den Heidi-Romanen folgt nicht der Logik von Bildung (d.h. dem linearen Fortschritt). Darstellungen einer mittleren Generation fehlen völlig, und stattdessen begegnet man einer Gemeinschaft aus Kindern, Tieren und alten Männern. So kann man folgern, dass eine Art Stillstand die Traumata im Roman heilen soll. Die queere Verwandtschaft beruht daher auf Nähe (proximity) und nicht auf Sukzession und Generation. Der Doktor beschreibt seine Beziehung zu Heidi auf diese Weise: »Sie müssen die Sache ansehen wie ich. Ich teile alle Freude an dem Kinde mit Ihnen, als wäre ich der Nächste nach Ihnen, zu dem das Kind gehört.« (Spyri 1881, 176) Insofern wird Verwandtschaft in den Heidi-Romanen spontan geschaffen. David Schneider definiert Verwandtschaft laut Judith Butler als »a kind of doing; one that does not reflect a prior structure but that can only be understood as enacted practice.« (Butler 2004, 249) Und für Judith Butler selbst ist die Verwandtschaft [kinship] »… a practice that enacts that assemblage of significations as it takes place.« (Butler 2004, 126)12 Verwandtschaft wird auf der Stelle geschaffen – in der Jetztzeit.
»Queer Futurity« Wenn man Kindheit im Sinne von Stockton versteht, dann kann man nicht von einer Art Zukunft sprechen, die auf Fortpflanzung hin zielt; hier haben wir es nicht mit »reproductive futurism« zu tun, wie Lee Edelman es so schön formuliert (4). Denn 12
Siehe auch Butlers Diskussion zum Thema »queer kinship« (vgl. Butler 2000, 126).
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Heidi braucht keine Kinder: Sie ist gleichzeitig die Mutter und die Tochter von zwei ineinander verliebten alten Männern und zwei Ziegen! Wenn Hurrelmann behauptet, Heidi sei »kein Bildungsroman«, meint sie, dass man es mit Regression zu tun habe (Hurrelmann, 210). Aber Mangel an Bildung muss nicht als Regression verstanden werden. Auf der Stelle zu treten, heißt auch, dass man sich neue Formen und Konstellationen von Verwandtschaft vorstellt und verwirklicht. Man hat es hier mit einer Art Bewegung zu tun, die nicht teleologisch ist.13 Als die queere Familie am Ende des Romans gebildet wird, ändert sich die Zeitform im Text, vom Präteritum ins Präsens, von der Vergangenheit in die ewige Gegenwart: »Das Heidi stellte sich auf den äußersten Rand des Abhanges hinaus und winkte mit seiner Hand der Klara zu, bis das letzte Restchen von Ross und Reiterin geschwunden war…« (Spyri 1881, 175). Das Tempus wird geändert und wir sind plötzlich in der Jetztzeit: »Im Dörfli ist ein großer Bau im Gange. Der Herr Doktor ist angekommen und hat vorderhand sein altes Quartier bezogen« (175, meine Hervorhebungen). Wir sind nun in der Zeit der Gegenwart, der Jetztzeit, wo die Zukunft nicht mehr als Ziel fungiert. So kann man das Ethos, das Edelman zur Diskussion stellt, in dem nicht-heteronormativen Stillstand erkennen, der das quasi-utopische Bild dieser Altmännerfamilie ausmacht. Das queere Narrativ, das ich hier beschreibe, wird konsequent aus den verschiedenen Filmadaptationen der Heidi-Romane getilgt. Nie enden die Filmadaptationen mit der queeren Altmännergemeinschaft. Sehr oft wird stattdessen ein heterosexuelles Paar von der mittleren Generation eingeführt, damit die queere Altmännergeschichte unterminiert und wieder normalisiert wird. In dem Hollywood-Heidi-Film aus dem Jahr 1937 bildet ein gemeinsames Essen beim Alm-Öhi das Schlusstableau. Dort sitzen der Dorfpfarrer (eine Nebenfigur in den Romanen) und seine brandneue Braut am Tisch mit Heidi, dem Alm-Öhi, Klara, Herrn Sesemann und Großmama Sesemann. (Abb. 2) Die Hochzeit des Pfarrers bringt auf eine nichtorganische Weise eine heteronormative Liebesgeschichte der mittleren Generation wieder ins Spiel.14 Der US-amerikanische Film Heidi aus dem Jahr 1968 versucht auf ähnliche Weise heteronormative Liebesbeziehungen mit ins Spiel zu bringen. In dieser Adaptation verlieben sich unerwarteterweise Herr Sesemann und Fräulein Rottenmeier ineinander und der Film schließt mit dem Austausch begehrender Blicke zwischen den beiden Figuren.15 In dem britischen Film Heidi, der im Jahr 2005 gedreht wurde, findet am Ende eine Diskussion zwischen dem Alm-Öhi und
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Die Fixierung auf Milch in den Heidi-Romanen wird von vielen als regressiv gelesen; aber Milch muss nicht nur als Kindergetränk verstanden werden; alle trinken auf der Alp Milch, egal wie alt sie sind. Die Ziege scheint ihre Milch gern mit allen zu teilen (vgl. dazu auch Spinner). Heidi, Regie von Allan Dwan, Twentieth Century Fox, 1937. Heidi, Regie von Delbert Mann, NBC, 1968.
Heidi Schlipphacke: Zur Temporalität von Bildung
dem Doktor statt, die zu einem Punkt kommt, an dem die Romankenner*innen glauben könnten, dass wir eine Inszenierung des Romanschlusses endlich im Film sehen werden.16 (Abb. 3) Leider ist dies nicht der Fall. Die Diskussion bezieht sich auf die Zukunft und auf Heidi, aber Doktor Classen behauptet hier, das Haus im Dörfli gekauft zu haben, damit er mit seiner Frau (die auf wundersame Weise auferstanden sein müsste, wenn man dem Roman folgt) dort einziehen kann. Die queeren Leser*innen seufzen hier fast mit dem Alm-Öhi, als die Szene das Muster der krampfhaften filmischen Re-Normativierung des Romans wiederholt.17 Diese Beispiele zeigen eine fast zwanghafte Tendenz, die queeren Elemente in den HeidiRomanen wieder zu normalisieren und für einen didaktischen Zweck der fixierten Geschlechterrollen zu domestizieren. Christine Müller behauptet, »Judith Butler wäre nicht stolz auf Heidi« (Müller, 136). Damit meint sie sicherlich, dass Heidi keine Marxistin ist und keinen Widerstand gegen Geschlechternormen leistet. Ja, die Romane werden in der Sekundärliteratur oft als konservativ, anti-marxistisch, Heimat-fixiert und traditionell religiös interpretiert (vgl. z.B. Zipes), aber bisher hat man meines Erachtens das queere Potential der Heidi-Geschichte übersehen. Der Schluss der Romane kann durchaus als Alternative zum traditionellen Lebenslauf der Frau im Mitteleuropa des späten 19. Jahrhunderts gelesen werden. Hier diskutieren der Öhi und Herr Sesemann Heidis Zukunft: es [sic!] »soll nie in seinem Leben hinaus [müssen], um sein Brot unter den Fremden zu suchen« (Spyri 1881, 166). Genau dies wäre ja das Schicksal eines Mädchens wie Heidi unter normalen Umständen: Es müsste sich als Dienstmagd bei einer Herrschaft verdingen. Die Tatsache, dass Heidi von diesem Schicksal errettet werden soll – ja, dass sie das ganze Leiden des normativen weiblichen Lebensganges umgehen kann –, ist ein kleines Wunder. So betrachtet werden die Romane zu einem queeren Märchen. Heidi hat keine »Verwandten« (abgesehen von Tante Dete); »[a]ber es hat sich Freunde gemacht« (Spyri 1881, 166). Und Heidi soll unter diesen Menschen bleiben. Heißt das nicht: Heidi bleibt ewig bei ihrer queeren Familie? Und vielleicht ist dies doch eine verlockende Alternative zum zeitgenössischen normativen Leben von einem Mädchen, dessen Zukunft entweder aus harter Arbeit »unter Fremden« oder einer (nicht immer glücklichen) Ehe bestand.
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Heidi, Regie von Paul Marcus, Piccadilly Pictures, 2005. Zu den Heidi-Verfilmungen vgl. Leimgruber und Tomkowiak 2001.
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Abbildung 1: Heidi und ihre Geißen, GIF basierend auf der Anime-Serie: Heidi, Regie von Isao Takahata, Fuji TV Japan, 1974.
Abbildung 2: Gerade geheiratet: Heidi, Regie von Allan Dwan, Twentieth Century Fox, 1937.
Heidi Schlipphacke: Zur Temporalität von Bildung
Abbildung 3: Der Alm-Öhi und Doktor Classen: Heidi, Regie von Paul Marcus, Piccadilly Pictures, 2005.
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Heidi Schlipphacke: Zur Temporalität von Bildung
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Heidi lebt weiter Der Alpendiskurs in der Schweizer Literatur Karin Baumgartner
Der symbolischen Gewalt der Berge waren die Städte nie gewachsen. (Matt, 64) Diä schönheit mosch ja verträge chönne. Diä landschaft, diä tuet aim au provoziere. Zerscht isch d’schönheit, danach merk I, s’stichlet au, es macht mi unruhig, es macht mi zabelig. Und s’hät viel Lüt da’obe …. das eifach das git dan kai stop, sondern, jetzt zerfahrt alles, son idruck so stark. Und do wetsch no meh, do gosch no höher ufe, es isch also ds nümme ufhöre chöne.1
Der Schweizer Literaturwissenschaftler Peter von Matt schreibt, dass das nationale Traumbild vom stadtfernen Volk in der ursprünglichen Natur, frei, friedlich, vernünftig, in der Geschichte der neueren Schweiz eine Funktion habe, wie sie in Amerika das nationale Traumbild der frontier besitze. Die Ideologie der Schweiz sei aber illusionär, eine Überblendung der sozialen und politischen Wirklichkeit mit der antiken Legende von Arkadien und mit der literarischen Praxis der Bukolik (34). Er fährt fort, dass Johanna Spyris Heidifigur die Lebenskraft dieses helvetischen Idylls auf nahezu beklemmende Art unter Beweis stelle, denn, so schreibt von Matt, Heidi ersetze den bröckelnden Mythos Wilhelm Tell und habe Albrecht von Hallers Monumentalgedicht »Die Alpen« erfolgreich für den Tourismus instrumentalisiert.
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»Diese Schönheit muss man ertragen können. Die Landschaft provoziert einem auch. Zuerst ist die Schönheit und dann merke ich, es stichelt auch, es macht mich unruhig, es macht mich nervös. Und es gibt viele Leute hier oben…für die es einfach keine Limite gibt, sondern jetzt zerspringt alles, so ein Eindruck, so stark. Und du willst noch mehr, du gehst noch höher nach oben. Es ist also das nicht mehr aufhören können« (Zen, 10:48-11:21).
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In von Matts Analyse vermischen sich Zeitperioden – Hallers »Die Alpen« damals, der Heiditourismus heute – wie auch die hohe und niedrige Literatur. Johanna Spyris Romane werden als Trivialliteratur gelesen, die einer als kalt codierten Großstadtlandschaft eine idyllische Bergwelt gegenüberstellen und durch ihre kitschigen ›Happy Ends‹ Konflikte verharmlosen. Trotz der von Peter von Matt geäußerten Kritik ist Heidi aber das beliebteste Schweizer Buch aller Zeiten und der Roman bleibt richtungsweisend für die Schweizer Literatur. Neue Schweizer Romane und Filme beziehen sich weiterhin, meistens implizit, auf Spyris Stoff. Der weltweite Erfolg von Heidi, genauso wie Albrecht von Hallers »Die Alpen«, hat die Auseinandersetzung mit den Alpen grundlegend beeinflusst und wird auch im 21. Jahrhundert produktiv verarbeitet, wie ich am Beispiel von Arno Camenischs Roman Sez Ner von 2009 zeigen werde. Der Roman aktiviert das kollektive Wissen um Heidi und kritisiert dadurch den Schweizer Mythos der heilen Bergwelt. Damit stellt sich Camenisch in eine lange Tradition der kritischen Auseinandersetzung mit dem Mythos Alp;2 neu bei Camenisch ist seine Kritik einer radikalen und destruktiven Schweizer Männlichkeit, die an die Berge gebunden ist. Peter von Matts Ablehnung der Heidifigur steht exemplarisch für die Zurückhaltung des Schweizer Literaturestablishments gegenüber Johanna Spyri. Trotz des weltweiten Erfolgs von Heidi und des beachtlichen Gesamtwerks, bestehend aus 31 Büchern, 27 Erzählbänden und 4 Broschüren, bleibt Johanna Spyri weiterhin ein Stiefkind des Schweizer Literaturbetriebs. So lässt das neue Schweizer Literaturlexikon Gesichter der Schweizer Literatur Johanna Spyri unerwähnt, obwohl der Autor Charles Linsmayer »[d]ie Literaturgeschichte der viersprachigen Schweiz […] erfassen« möchte (2015, 8). Das Vorwort verspricht, »den Bogen vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart zu spannen und dabei namhafte wie auch weniger bekannte, vergessene und verkannte Literaturschaffende vorzustellen« (ebd.). Die Liste der Autoren ist beachtlich, einschließlich Jean Jacques Rousseau und Germaine de Staël, lässt aber die Autorin des berühmtesten Schweizer Buchs unerwähnt.3 Die Frage stellt sich, warum das Literaturestablishment der Schweiz der Heidi-Figur nichts abgewinnen kann. Das Besondere an Spyris Heidi ist m.E. nicht die Valorisierung der Bergwelt – andere Bücher tun das auch –, sondern die Darstellung der Bergwelt durch die Au2
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Jürgen Barkhoff und Valerie Heffernan schreiben in der Einleitung zu Schweiz Schreiben wie sich Autoren – hier sind es vor allem die männlichen Autoren – immer wieder mit dem Mythos Alp auseinandersetzen: »Viele Autoren nutzen das literarische Medium zu einer Idyllenkorrektur. Unter den Bedingungen einer von Hochtechnisierung, Industrialisierung, ökonomischen Zwängen und städtischer Zivilisationswüste geprägten Lebenswirklichkeit beleuchten die Autoren eher die Krise der Idylle … und die Nähe und innere Verwandtschaft von Alpen-Traum und Alptraum« (21). In einer früheren Version dieses Lexikons von 1989 wird Spyri erwähnt (Linsmayer, 157 Kurzporträts 28–29).
Karin Baumgartner: Heidi lebt weiter
gen einer Frau. Meine These ist, dass Johanna Spyri mit ihrer Beschreibung der Alpenwelt in den beiden Heidi-Romanen die Geschlechteraufteilung der Schweiz verletzt.4 Die Alpen gehören seit Albrecht von Hallers Gedicht »Die Alpen« zum Diskurs des Erhabenen; in der Schweiz ein Raum, in dem die Bergler entweder ein patriarchalisches Paradies erleben, wie beispielsweise im Film Alpsommer (2013), oder der Enge und dem Spießertum entfliehen möchten wie in den Filmen Höhenfeuer (1985) und Suot Tschel Blau (2020). Besonders in der Schweizer Literatur des 20. Jahrhunderts wird der Mythos Berg mit Maskulinität und Katastrophe in Verbindung gebracht. Thomas Feitknecht beschreibt das so: »Zwei Männer treffen in den Bergen aufeinander und erleben eine Existenzkrise – das ist das Motiv, das in der deutschsprachigen Schweizer Literatur des 20. Jahrhunderts immer wiederkehrt« (95). Diese Tradition führt dazu, dass es kaum Schweizer Autorinnen gibt, die über die Berge schreiben.5 Johanna Spyri ist die große Ausnahme, die mit ihren Romanen den traditionellen Erhabenheitsdiskurs antastete und den mythischen Raum für Frauen, Kinder, Kranke und sozial Ausgegrenzte öffnet. Johanna Spyris Welt ist eine, die das Bezwingen und Erklimmen der Berge verweigert und das Erhabene nicht im Zusammenspiel von Furcht und Schönheit sucht, sondern in einer Existenz im Einklang mit der Natur. Das eckt an und Heidi wird von der hohen Kritik als Trivialliteratur wahrgenommen, als billige Alpenromantik.
Das Erhabene Zu Beginn der Neuzeit wurden die Alpen zum Erlebnisraum erhabener Größe (Hackl, 18). Mit seinem Gedicht »Die Alpen« etablierte sich Albrecht von Haller als Vorreiter einer neuen Ästhetik, die Schönheit und Größe mit der Alpenlandschaft verband. Wolfgang Hackl beschreibt das so: »Mit seiner Poesie und der Gestaltung einer arkadische (sic!) Harmonie hat Haller den Alpen den Schauder des locus horribilis genommen und mit den bis in die Gegenwart nachwirkenden Topoi einen neuen Blick auf die Alpenregion vorbereitet, in der die Menschen in einer ursprünglichen Einheit mit der Natur unschuldig wie im Paradies leben« (19). Haller konstruiert die Alpen als Heterotopie, einen Ort, der gleichzeitig real und mythisch ist, wie Michael Foucault in Des Espace Autres erklärt.6 Die Heterotopie hat der Utopie voraus, dass es 4 5
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Heidis Lehr- und Wanderjahre (1880) und Heidi kann brauchen, was es gelernt hat (1881). M. W. hat sich neben Johanna Spyri nur noch Annemarie Schwarzenbach intensiv mit den Bergen auseinandergesetzt. Siehe Lorenz Saladin: Ein Leben für die Berge (1938) und Flucht nach oben (1933). In der neueren Schweizer Literatur beschäftigt sich auch Christine Viragh mit den Bergen in Pilatus (2003). Ich verdanke diesen Hinweis Christine Lötscher. Dieser Text Foucaults basiert auf einem Vortrag, den Foucault im März 1967 hielt. Er wurde unter dem Titel »Des Espace Autres,« in der Zeitschrift Architecture/Mouvement/Continuité im Oktober 1984 veröffentlicht. Das Manuskript wurde kurz vor dem Tod Foucaults für eine
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scheint, als würde die Utopie (oder deren Inversion) wirklich existieren (4). Foucault erklärt das Konzept anhand eines Spiegels, der ein Bild des Beschauers liefere, wo er/sie nicht sei, also dem Beschauer die Absenz seiner selbst zeige. Gleichzeitig ist der Spiegel selbst real (4). Die Alpen seit Haller sind genauso ein kultureller Ort, der zwar real existiert, jedoch im kulturellen Bewusstsein mythische Züge angenommen hat. Die mentale Umgestaltung der Alpen beginnt am Anfang des achtzehnten Jahrhunderts, nachdem Galileo die mittelalterliche Ordnung zerstört und den Raum ins Unendliche ausdehnt. Orte, denen vorher nicht gedacht wurden, können nun durch die Wissenschaften und Künste in die Mentalität der Gesellschaft integriert werden (Foucault, 1–2). Nachdem die Berge vor dem achtzehnten Jahrhundert vor allem als Hindernis auf dem Weg von Norden nach Süden wahrgenommen wurden, wird die Bergwelt nun dem wissenschaftlichen Blick geöffnet. Die namenlosen und als ›wüst‹ empfundenen Berge werden von ersten Wissenschaftlern, wie Johann Jakob Scheuchzer (1672–1733), durchwandert und beschrieben (Schaumann und Ireton, 2). Scheuzers Aufzeichnung führten zur ersten, genauen Karte der Schweiz, der Nova Helvetiae tabula geographica, die 1712 veröffentlicht wurde. In seiner eigenen Reise orientierte sich Haller zwar an Scheuzer – Fußnote 10 in »Die Alpen« verweist direkt auf Scheuzers Alpenreise –, aber Haller ersetzte die wissenschaftliche Beschreibung durch die Form des Gedichts: er literarisierte die Alpen (Holmes, 755).7 Mit diesem Genre öffnete er die Alpen nicht nur multiplen Diskursen und Sichtweisen, sondern brachte diese auch einer breit gefächerten und nicht nur akademisch gebildeten Leserschaft näher. Von Leiden nach Basel zurückgekehrt, durchreiste Haller 1728 mit seinem Freund Jakob Gessner das Wallis und das Berner Oberland. »Die Alpen« wurden im März 1729 geschrieben und 1732 zuerst anonym, 1734 unter Hallers Namen, veröffentlicht. Haller postulierte die Alpenwelt als eine Gegenwelt nicht nur zur Urbanität der Städte, sondern auch als Gegenwelt zur aristokratischen Lebensweise und übertrug eine moralische Komponente auf die Alpen. Wie Caroline Schaumann schreibt, wird die Schönheit der Alpen und das rustikale Leben bei Haller wegen, nicht trotz, ihrer Kargheit und Abgeschiedenheit, valorisiert (57). Haller kontrastiert das Leben der Schweizer Bergbevölkerung mit der Dekadenz des städtischen
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Ausstellung in Berlin von Jay Miskowiec unter dem Titel »Of Other Spaces: Utopias and Heterotopias« ins Englische übertragen. In seiner Einführung beschreibt Haller, wie die gewählte Gedichtsform – der Alexandriner – eine besondere Schwierigkeit darstellte: »Die zehenzeilichten Strophen, die ich brauchte, zwangen mich, so viele besondere Gemälde zu machen, als ihrer selber waren, und allemal einen ganzen Vorwurf mit zehen Linien zu schließen. Die Gewohnheit neuerer Zeiten, daß die Stärke der Gedanken in der Strophe allemal gegen das Ende steigen muß, machte mir die Ausführung noch schwerer. Ich wandte die Nebenstunden vieler Monate zu diesen wenigen Reimen an, und da alles fertig war, gefiel mir sehr vieles nicht« (20).
Karin Baumgartner: Heidi lebt weiter
Adels: »Ihr werdet arm im Glück, im Reichthum elend bleiben!« (21, Z 10). Er beschreibt aber nicht nur eine edle Welt, sondern er erhebt die alpine Landschaft in das Erhabene, indem sie moralisch konnotiert wird (Schaumann, 57). Inmitten dieser kargen, aber positiv besetzen Welt erweist sich der Blick von der Bergspitze als eine zutiefst empfundene Erfahrung, die das Gesehene an den Körper bindet und die die Landschaft als Totalerfahrung wahrnehmen lässt: Durch den zerfahrnen Dunst von einer dünnen Wolke, Eröffnet sich zugleich der Schauplatz einer Welt, Ein weiter Aufenthalt von mehr als einem Volke Zeigt alles auf einmal, was sein Bezirk enthält; Ein sanfter Schwindel schließt die allzuschwachen Augen, Die den zu breiten Kreis nicht durchzustrahlen taugen. (34, Z 325–331) Der Mensch in Hallers Gedicht erfährt sich als zu schwach, um die Erhabenheit dieser Landschaft aushalten zu können. Die Erfahrung der eigenen Schwäche angesichts der majestätischen Landschaft soll den städtischen Menschen zur Reflexion bringen. Das Gedicht steht so am Anfang der bürgerlichen Emanzipation von adligen Gesellschaftsnormen und ästhetischer Erfahrung. Haller nutzt die Struktur und Form der arkadischen Schäferdichtung, um die adlige Dekadenz zu kritisieren und die Erfahrung des Erhabenen einer breiteren Gesellschaftsschicht nahezubringen. Durch ihn sind die Alpen erstmals real geworden, aber gleichzeitig auch zum Sehnsuchtsort des Bürgertums avanciert. Johanna Spyris Heidi-Romane lehnen sich eng an Hallers Gedicht an. Der AlmOehi wohnt abgeschieden von der Gesellschaf auf dem Berg,8 Heidi trinkt die Milch der beiden Geißen,9 der Großvater hat medizinische Kenntnisse,10 der Roman beschreibt die Bergblumen auf der Alp, die schon bei Haller ausführlich und sehr genau beschrieben wurden (Haller 36–37, Z 375–389) und beide Welten sind zeitlos. Bei Haller heißt es: »Heut ist wie gestern war, und morgen wird wie heut« (Haller 24, Z 295), während der Geißenpeter Heidi versichert: »Es ist morgen wieder so« (Sypri 1880, 46). Heidi darf das von Haller beschworene Erhabene der Alpen empfinden: »Heidi stand mitten in der Herrlichkeit und vor Freude und Wonne liefen ihm die hellen Tränen die Wangen herunter« (Sypri 1880, 213). Wie auch bei Haller sind es nicht die ungebildeten Bewohner der Berge, die das Erhabene empfinden können, sondern das zurückgegehrte Heidi, das in Frankfurt lesen lernte und sein religiöses
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Bei Haller: »dich von der Welt zu zäunen, weil sich die Menschen die grösten Plagen sind« (Haller 22, Z 54). »und Milch die meisten Speisen« (Haller 23, Z 56). »Bald aber schließt ein Kreis um einen muntern Alten, der die Natur erforsche, und ihre Schönheit kennt; Der Kräuter Wunder-Kraft und ändernde Gestalten hat längst sein Witz durchsucht und jedes Moos benennt« (Haller 33, Z 301–304).
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Empfinden durch und mit der Großmutter schulte. Wie auch Haller vertritt Spyri hier die Ansicht, dass erst Bildung die Erfahrung des Erhabenen möglich mache. Im Verlauf des 18. Jahrhunderts wandelt sich der Begriff des Erhabenen jedoch. Gegen Ende des Jahrhunderts erleben wir mit Kant und Schiller eine Weiterentwicklung des Konzepts, das den Körper vom Geist trennt. Ein halbes Jahrhundert nach Haller, 1793, definiert Schiller das Erhabene wie folgt: »Erhaben nennen wir ein Objekt, bei dessen Vorstellung unsre sinnliche Natur ihre Schranken, unsre vernünftige Natur aber ihre Überlegenheit, ihre Freiheit von Schranken fühlt; gegen das wir also physisch den kürzern ziehen, über welches wir uns aber moralisch, d.i. durch Ideen erheben« (489).11 Mit dieser Definition wird das Erhabene mit Furcht, Schrecken und der Erfahrung der menschlichen Vergänglichkeit aufgeladen. Wie Schiller aber betont, darf die Furcht nicht überhandnehmen: das Subjekt darf sich nicht wirklich in Todesgefahr befinden. Die Empfindung des Erhabenen muss eine Empfindung sein, die vom Naturzustand des Menschen losgelöst ist, oder wie Schiller schreibt: »Zum Gefühl des Erhabenen wird also schlechterdings erfordert, daß wir uns von jedem physischen Widerstehungsmittel völlig verlassen sehen und in unserm nichtphysischen Selbst dagegen Hülfe suchen« (495). Das Erhabene wird somit zur reinen Vorstellungsübung. So ist es nicht Laokoon, der sich im Moment des Todes erhaben fühlt – nach Schiller gibt es kein Gefühl der Erhabenheit im Moment des Todes –, sondern der Betrachter der von Winckelmann beschriebenen Laokoon Gruppe empfindet das Erhabene.12 Nach Schiller ist »[g]roß, wer das Furchtbare überwindet. Erhaben ist, wer es, auch selbst unterliegend, nicht fürchtet« (501). Jedoch, so schreibt Schiller, gestatte wirkliches Leiden kein ästhetisches Urteil, weil es die Freiheit des Geistes aufhebe. Deshalb muss das urteilende Subjekt nur ›sympathetisch‹ leiden (509), d.h. es muss das Leiden nicht erleben, sondern empfinden. Die Alpen als das Erhabene werden in der Folge zu einem Ort stilisiert, wo das Subjekt nicht nur moralisch erquickt wird, wie bei Albrecht von Haller, sondern das Subjekt muss sich die Macht der Natur vorstellen können und dieses Angstgefühl angesichts der eigenen Mortalität durch Reflektion überwinden. Gleichzeitig bindet Schiller das Erhabene in die Geschlechterdichotomie ein. In »Über Anmut und Würde« weist er die Anmut dem weiblichen, die Würde dem männlichen Geschlecht zu (469). Wichtig für die Definition der Würde bei Schiller ist die Beherrschung der Triebe als Ausdruck der moralischen Freiheit des Menschen.
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Erstdruck mit einem zweiten Teil, der später als eigenständiger Aufsatz mit dem Titel »Über das Pathetische« erscheint, in: Neue Thalia (Leipzig), 2. Jg., 1793, Heft 3 und 4 (http://zeno.o rg/nid/20005609828). »Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst« wurde 1755 erstmals veröffentlicht und erschien ein Jahr später in einer zweiten, verbesserten Auflage in der Waltherischen Verlagshandlung (Dresden/Leipzig).
Karin Baumgartner: Heidi lebt weiter
Der Mensch soll sich der Naturnotwendigkeit nicht unterwerfen wie das Tier, sondern sich entschließen können, den Naturtrieb (z.B. Schmerz) aushalten zu wollen (471). Auch hier wird das Rationale vom Sinnlichen getrennt und hierarchisch angeordnet: »Bei der Würde also führt sich der Geist in dem Körper als Herrscher auf, denn hier hat er seine Selbständigkeit gegen den gebieterischen Trieb zu behaupten, der ohne ihn zu Handlungen schreitet und sich seinem Joch gern entziehen möchte« (477). Im Verhältnis zur Bergwelt findet sich dieses Konzept des Erhabenen ausgedrückt im männlichen Extrem-Bergsteiger, der gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Berge erobert. Die Bergwelt bleibt nicht länger Erfahrungsraum einer pastoralen Lebensweise wie bei Haller, sondern sie wird zum Ort, wo Männer ihre Furcht zu überwinden lernen (Backhaus, 131). Besonders offensichtlich wird das in (männlichen) Bergsteigerkreisen, wo man beginnt auf lokale Führer zu verzichten, um sich so vom überhandnehmenden Alpentourismus abzusetzen. Wie Wibke Backhaus schreibt, beginnen Männer nun neue, immer gefährlichere Routen auf den Gipfel zu erkunden (131). Gleichzeitig wird die geführte Bergwanderung den Frauen überlassen, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts ihre Wohnzimmer verlassen. Schon 1863 hatte das englische Reisebüro Thomas Cook Travels die erste geführte Wandertour durch die Alpen organisiert, deren Beschreibung uns durch Miss Jemima’s Swiss Journal: the first conducted Tour of Switzerland (The proceedings of the Junior United Alpine Club) erhalten geblieben ist. Auch Johanna Spyri war eine begeisterte Wanderin, die oft in Begleitung ihrer Jugendfreundin Anna von Salis-Hössli in der Umgebung von Jenins wanderte.13 Während sich also die alpine Bergwelt mit Touristen bevölkerte, wurde die Erfahrung des Erhabenen auf die Gipfel verlagert. Dort wird die Auseinandersetzung mit der Lebensgefahr zur Grundlage eines besonderen Männerbundes, der später im Nationalsozialismus zum Äußersten getrieben wird. In den Worten von Johann Lughofer: auf dem Berg erlebt sich der kletternde Mann als moderner Held (12).
Johanna Spyris Heidi In Johanna Spyris Romanen fehlt der im 19. Jahrhundert populäre heldenhafte Mann. Spyri bevölkert ihre Alp mit Frauen (Heidi, Brigitte, und die beiden Großmütter) und Männern, die eine pflegende Rolle wahrnehmen (der Alp-Oehi und der Doktor). Herr Sesemann, das patriarchalische Zentrum des Romans, bleibt der Alp weitgehend fern, so dass der Großvater sowohl Pfleger als auch Vater sein darf.
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Anna von Salis-Hösslis Tochter erinnert sich später: »Die geschätzte Schriftstellerin war als intime Freundin meiner Mutter öfters auf Besuch bei uns und unternahm von Jenins aus mit der Mutter häufig Spaziergänge auf den Hof ob Rofels, und bei diesen Anlässen hat Frau Spyri den Stoff für ihre Erzählung ›Heidi‹ gesammelt, wie sie uns selbst mitteilte« (Schindler, 51).
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Der Berg wird nicht bezwungen wie in der Bergsteigerliteratur, sondern nährt die ideale Gesellschaft durch die Natur (Milch, Käse, die Kräuter und Blumen). Weder der Großvater noch Peter, Heidi oder Klara bezwingen den Berg, sondern vertrauen sich der heilenden Kraft der Alp an. Spyri gestaltete ihre Alpenwelt als eine bewusst anti-heroische. Die Bergwelt, spezifisch die Alp, ist bei Spyri ein locus amoenus, der frei ist von Gefahr und Bedrohung (Büttner und Ewers, 17). Das zeigt schon der erste Absatz in Heidi: »Vom freundlichen Dorf Maienfeld führt ein Fußweg durch grüne, baumreiche Fluren bis zum Fuße der Höhen, die von dieser Seite groß und ernst auf das Tal herniederschauen. Wo der Fußweg anfängt, beginnt bald Heideland mit dem langen Gras und den kräftigen Bergkräutern, dem kommenden entgegenzuduften, denn der Fußweg geht steil und direkt zu den Alpen zu« (Sypri 1880, 1). Bei Spyri laden die Alpen zur Wanderung ein. Der Fokus bei Spyri ist auf den lieblichen Aspekten der Landschaft, dem Graß und den duftenden Bergkräutern, die den Wanderer begleiten, anstatt auf der felsigen Wüste der hohen Alpen. Diese Landschaft ist bestens geeignet für Frauen und Kinder, denn die ersten Figuren, die dem Leser begegnen, sind Heidi, ihre Tante Dete und Bärbel, die Nachbarin aus dem Dörfchen. Die Alp wird bei Spyri zum Kinderspielplatz; eine Heterotopie, die suggeriert, dass alle auf der Alp willkommen sind.
Die Alpendiskurs bei Arno Camenisch Der Topos »Alp« gehört seit 2009 zum Repertoire des Bündner Schriftstellers Arno Camenisch. Sein Erstlingswerk Sez Ner wurde über Nacht zum Bestseller und der Autor zum Liebling des Schweizer Feuilletons. Der kurze Roman, auf der linken Seite auf Romanisch, auf der rechten auf Deutsch gedruckt, beschreibt das Leben auf der Alp Stavonas. Dort hat nämlich der Autor als Kind seine Sommer verbracht: »Ich war einer der Letzten, die als Zehnjährige im Sommer auf die Alp mussten und dort körperlich hart arbeiten« (Sury, 39). Der Roman beschreibt in lockerer Szenenfolge einen Sommer auf der Alp, vom Alpaufzug bis zum herbstlichen Alpabtrieb, der zwar impressionistisch die Eindrücke des jüngeren Camenisch verarbeitet, aber nicht als Dokudrama zu nehmen sei, sondern »Erinnerung, Überlieferung und Fantasie« verbinde (Sury, 39). Im Zentrum von Camenisch’ Texten steht die Schweiz der kleinen Dörfer, die ländliche Alpenschweiz und ihre verarmte Bevölkerung, »die bis vor wenigen Jahrzehnten nur zu gut wusste […], was Armut bedeutet« (Cathomas, 72). Bevölkert wird die Alp vom Senn, dem Zusenn, dem Kuhhirten und dem Schweinehirten, alle namenlos und anonym, die einen Sommer lang ihr karges und streng hierarchisch geordnetes Dasein auf der Alp fristen. In den Worten von Angelika Overarth stellt die Alp Stavonas »ein Männerbiotop« dar, jenseits von Bergromantik oder Idyllenkritik.
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Die Kritik lobt vor allem die Sprachmacht in Camenischs Romanen, in denen die deutsche Sprache durch das Romanische kreativ aufgeladen werde. Alexander Sury schreibt in Der Bund: »Ohne Ausrutscher ins kitschige Terrain und fern nostalgischer Hüttenromantik hat Camenischs musikalische Sprache diese Wirklichkeit voller lauernder Abgründe zwischen Tradition und Moderne eingefangen, nahe dran als Beobachter mit einem stupenden Sinn für sprechende Details und gleichzeitig auf Distanz bedacht durch eine lakonische Beiläufigkeit« (Sury, 39). Auch Christa Baumberger konzentriert sich auf die polyphone Klanglichkeit der Sprache Camenischs, die das Romanisch mit dem Deutschen lautmalerisch verbindet und sich bestens für ›spoken word‹ Performances eigne. So ist Camenisch denn auch einer der gefragtesten Schweizer Autoren mit einer aktiven Präsenz in den Sozialen Medien und einem vollen Aufführungskalender (230 Aufführungen in der 2014/15 Saison) (Cathomas, 69). Camenisch selbst fördert diesen kritischen Ansatz, wenn er auf seiner Webseite hauptsächlich Kritikerstimmen, die das Klangliche betonen, auflistet (https://arnocamenisch.ch/presse/sez-ner). Camenisch wurde bereits mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter der Friedrich-Hölderlin-Förderpreis (2013), der Eidgenössische Literaturpreis (2012), der Raiffeisen Cultura-Preis (2012), der Premio Salerno Libro d’Europa (2013), der Gottfried Keller-Preis (2013), der Förderpreis Komische Literatur (2015) und der Berner Literaturpreis (2021) (Arnocamenisch.ch/about). Arno Camenisch ist heute der (kritische) Vertreter der Schweizer Alpenwelt, der die vergessene Bergwelt ins Augenmerk der deutschen Leser zurückholt. Der zweite Ansatz der Kritik konzentriert sich auf die archaische Hierarchie und die Brutalität auf der Alp, die als Verweigerung einer Bergidylle à la Haller und Spyri interpretiert wird. Bernhard Cathomas, selbst auch aus der Surselva stammend, schreibt: »Die Bündner Trilogie demontiert ohne Polemik die Alpenidylle« (72). Dabei wird jedoch oft kritisiert, dass Camenisch in dieser Kritik nicht weit genug gegangen sei und keine skandalträchtige Sprengkraft miteinschließe: weder Inzucht (wie in Höhenfeuer), noch Sex (»auf der Alm gibt’s ka Sünd«), noch homoerotische oder sodomitische Handlungen werden zum Leidwesen von Angelo Algieri (Berliner Literaturkritik) beschrieben. Die zeitgenössische Schweizer Literaturkritik möchte Kritik sowohl am Fortschritt sowie an der Tradition, an Aberglauben und an degenerierter Sexualität auf der Alp wie z.B. in Hansjörg Schneider’s Senentuntschi.14 Das
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Schneider benützt einen alten Mythos, in dem Sennen ein Sennentuntschi, eine Sexpuppe, aus Gegenständen des täglichen Gebrauchs herstellen, die aber, so der Mythos, im Verlauf des Sommers lebendig wird und sich an ihren Peinigern rächt. 1981 wurde im Schweizer Fernsehen ein Theaterstück desselben Namens zu später Stunde ausgestrahlt, das eine Welle der Empörung hervorrief. Es kam zu einer Anzeige gegen das Schweizer Fernsehen (SRG) wegen Gotteslästerung – denn das eigentlich Verwerfliche war nicht die sexuelle Praxis, sondern die Beseelung einer Puppe – und es kam zur Zensurierung des SRG. Das Stück wird immer wieder
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liefert Camenisch nicht, der nüchtern und präzise das Leben auf der Alp fast dokumentarisch festhält. Der Konsens im Feuilleton weist aber darauf hin, was heute von Autoren der Bergwelt erwartet wird: Der Mythos ›Alp‹ muss dekonstruiert werden. Bisher wurde im Feuilleton nicht darauf hingewiesen, dass Sez Ner durchaus Parallelen zu Heidi aufweist. Diese werden sogar vom oberflächlichen Leser wahrgenommen: beide Romane spielen in den Bergen Graubündens (Spyris Heidi im nordöstlichen Teil des Kantons an der Grenze zu Österreich, während Piz Sezner südwestlich davon angesiedelt ist, im rätoromanisch sprechenden Teil des Kantons) und beide Romane benutzen ein kleines Ensemble von Figuren auf der Alp.15 Der Vergleich geht jedoch tiefer. Sowohl Heidi als auch Sez Ner siedeln ihr Geschehen in einem zeitlosen Raum an. Wie bereits oben erwähnt steht die Zeit bei Heidi still: »Es ist morgen wieder so« (Sypri 1880, 46). Camenisch erzielt den gleichen Effekt durch das epische Präsens, in dem der Roman verfasst ist. Alles, was passiert, ist immer jetzt und die Progression des Sommers auf der Alp ist nur anhand der sich links anhäufenden Buchseiten wahrzunehmen, die der Leser umblättert. Damit wird die Romanwelt aus der Zeit gerissen und als Heterotopie festgeschrieben. Die Andersartigkeit der Alp wird bei Spyri wie auch bei Camenisch erhöht, indem sich beide Romane weigern, die hohen Berge zu besteigen. Sowohl in Heidi wie auch in Sez Ner werden die Berge nur von unten gesehen. Damit entzieht sich Sez Ner dem Bergmythos, der von der Ersteigung und Eroberung des Gipfels lebt. Die Alp als Heterotopie wird in beiden Romanen durch die intensive Naturverbundenheit verstärkt. In Heidi wird diese Naturverbundenheit als Pastoral geschildert – Heidi selber wird zum Geißlein, das herumspringt. In Sez Ner ist das Verhältnis zwischen Mensch und Tier ein grausames jenseits aller Sentimentalität. Tiere werden geschlachtet oder sterben an Blähungen. Der junge Hund, der nicht zum Arbeitshund taugt, wird vom Senn kurzerhand totgeschlagen (Camenisch, 169). Die im Roman herrschende Zeitlosigkeit könnte zum oberflächlichen Fazit führen, dass die Alp als Heterotopie durch eine Abkehr von der Moderne zu verstehen sei. Doch Spyri wie auch Camenisch insistieren, dass die Alp Teil eines modernen Kommunikationssystems ist. Spyri beschreibt eine Welt, die durch Eisenbahn und Post relativ einfach zu erschließen ist. Das Leben auf der Alp wird dadurch zur Wahl; es gibt etablierte Wege in diese Welt, ein schon von Foucault definierendes Merkmal der Heterotopie (7). Bei Camenisch kann die Alp durch die Bergstraße per Auto erreicht werden. Touristen fahren und wandern durch die Alp und die Bauern aus dem Tal scheinen sich ständig für ein Saufgelage einzuladen. Schulklassen kommen auf die
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aufgeführt, z.B. 2009, im Publikationsjahr von Sez Ner, am Stadttheater Basel (siehe Marty und Linsmayer 2009). Bei Heidi sind das Heidi, der Großvater, Peter, Peters Mutter und die Großmutter und bei Camenisch die zwei Erwachsenen – Senn und Zusenn – und zwei Kinder – Kuhhirt und Schweinehirt.
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Alp, um zu lernen, was die Alp für die Geschichte der Schweiz bedeutet. Wie auch bei Heidi ist die Alp in ein europäisches und sogar internationales Transportsystem eingebunden. Camenisch orientiert seinen Roman zwar an den Tropen aus Heidi, dekonstruiert aber die von Spyri geschaffene Idylle auf der Alp. Dies wäre an und für sich nicht bemerkenswert, denn die Dekonstruktion der Alpenidylle ist ein beliebtes Motiv in der Schweizerliteratur wie eingangs bereits erwähnt (Barkhoff und Heffernan, 21). Camenisch schreibt aber gleichzeitig gegen eine Tradition an, die die Alpen, das Erhabene und Männlichkeit verschmilzt. Bei Camenisch haben die Berge die Qualität des Erhabenen – des Schönen wie des Schrecklichen – verloren und kaum einmal heben die Alpbewohner den Blick vom Alltäglichen in die majestätischen Alpen. Das beginnt schon mit dem fulminanten ersten Satz des Buchs: Der Senn hängt an seinem Gleitschirm in den Rottannen unterhalb der Hütte der Alp am Fuße des Sez Ner. Er hängt mit dem Rücken zum Berg, von der Hütte aus hört man ihn fluchen, mit dem Gesicht zur anderen Talseite, wo die Spitzen der Berge gegen Himmel ragen, Seite an Seite, in der Mitte des Péz Tumpiv, mächtig, wie er da steht, mit seinen 3101 Metern, als überrage er die anderen schneefreien Bergspitzen. (Camenisch, 5) Während Spyris Heidi optimistisch mit einem Bergaufstieg beginnt, haben wir es hier mit einem Abstieg, wenn nicht gar Absturz zu tun. In Heidi ist der Leser zusammen mit den Figuren den Bergen zugewandt; hier sehen wir den Senn mit dem Rücken zum Berg. In Spyris Roman legt das Kind Heidi die einschnürende Zivilisation ab, indem sie ihre zu warmen Kleider auszieht. Am Ende des ersten Kapitels begegnet der Leser dem nur leichtbekleideten Kind, das nun in der Heterotopie der Alp als wahrer Mensch leben kann. Bei Camenisch ist der Senn nicht nur abgestürzt, sondern hat sich in der Rottanne verheddert und hängt wie eine Marionette an seinem Gleitschirm. Damit unterwandert die Erzählung von Anfang an die Hierarchie des Männerbiotops. Meine These ist, dass Camenisch die Motive aus Heidi übernimmt und sie in ihr Gegenteil kehrt. Das passiert zum Beispiel mit dem Käse, der bei Heidi zum täglichen Mahl gehört, sich in Sez Ner aber bläht und weggeworfen werden muss (5). Die von Spyri geschilderte Heterotopie gibt es nur noch auf den Fotos des Verkehrsvereins, die zufriedene Älpler vor einer Bergkulisse zeigen (33). Das Erhabene, in Sez Ner z.B. durch ein Gewitter aktiviert, wird von den Bewohnern der Alp nicht als erhaben, sondern als angsteinflößend wahrgenommen. Sie retten sich in ihr Auto und zucken bei jedem Blitz zusammen (19). Die größte Veränderung im Vergleich zu Heidi ist aber die radikale Maskulinisierung der Alpen bei Camenisch. Nicht nur sind sowohl Bewohner als auch Besucher (Bauern, Tierarzt, Pfarrer) der Alp Männer, sondern der Text zeigt auch linguistisch, wie die Alp nur als maskuliner Erfahrungsraum wahrgenommen werden kann. 211 der insgesamt 284 Absätze, d.h. fast drei-
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viertel aller Absätze, beginnen mit einem Nomen (der Senn, der Kuhhirt, der Käse, die Uhr, die Touristen etc.) und davon sind 128, also runde 60 %, männlich. Es gibt 30 Absätze, die mit einem grammatikalisch femininen Nomen beginnen (die Kuh, die Moral, die Pfanne etc.), aber nur zwei Absätze, die sich auf eine weibliche Figur beziehen (die Hirtin). Die Hirtin selbst wird in der Regel in einem sexualisierten Kontext gezeigt. Wir begegnen ihr mit ihrem kürzlich kastrierten Hund, danach als die Geliebte des Zusenns, und zum Schluss wäscht sie ein Betttuch aus vor ihrer Alphütte (9, 111). Die Präsenz der Frauen unterliegt bei Camenisch einem atavistischen Sexismus, der Frauen aus den Bergen fernhält. Indem Camenisch Spyris Roman umschreibt, gelingt es ihm, den Mythos der Alpen als männlicher Erfahrungsraum zu kritisieren. So verbindet er denn auch den Roman mit dem wohl mächtigsten Mythos der Schweiz: die Alpen als Festung Schweiz. Peter Utz schreibt, dass die offizielle Schweiz die mythische Schweizerfreiheit an die Alpen binde, vor allem an das Reduit – die Verteidigungsstrategie des zweiten Weltkriegs und des kalten Kriegs (72). In Sez Ner beschreibt der Erzähler Militärmanöver, die sich auf der Alp abspielen. Gleich zu Anfang des Romans findet der Kuhhirt Geschossteile »zwischen Alpenrosen und Edelweiss« (15). Es ist sicher kein Zufall, dass Sez Ner die nicht explodierten Geschossteile zwischen die von Haller und Spyri beschriebenen Blumen situiert. Die Geschosse »mit und ohne Kopf« bewahrt der junge Kuhhirt unter seinem Bett auf (15). In einer märchenartigen Szene werfen die beiden Kinder die Geschosse in die Luft, und eine latente Gefahr durchzieht den Roman, dass das einfache Spiel zur Katastrophe ausarten könne. Später benachrichtigt der Senn zwar die Armee und einige der herumliegenden Geschosse werden entfernen (17), doch der Text schweigt sich darüber aus, ob der Kuhhirt seine Geschosse auch entsorgt hat oder ob diese Geschosse den ganzen Sommer über als Bedrohung weiterbestehen. Der Mythos der Berge als der Erfahrungsort der (männlichen) Schweizer Identität wird hier als explosive Macht dargestellt, die alles vernichten kann. Im Gegensatz zu Heidi strukturiert Camenisch die Heterotopie der Alp Stavonas nicht als einen heilenden Ort, an dem der kranke Unterländer gesunden kann, sondern als einen Ort, der potentiell seine Kinder (Söhne) tötet. Damit rückt Camenisch die Alpen in die Nähe des von Schiller definierten Erhabenen. Der Alp als ein therapeutischer Ort, wie er in Spyri erlebt wird, setzt Camenisch die Alpen als todbringende Landschaft gegenüber. Mit Heidi hat Johanna Spyri einen Diskurs geschaffen, dem es nur schwer zu entkommen ist. Die positive Traditionslinie, die die Alpen als ein kinderfreundliches Arkadien sieht, schreibt sich im Film Alpsommer fort. Wie auch Sez Ner dokumentiert dieser Dokumentarfilm das Leben auf der Alp zwischen Alpaufzug und -abgang. Ein wichtiges Argument für das karge Leben auf der Alp ist nicht nur die vermeintliche Authentizität eines solch einfachen Lebens, aber auch der Vorteil eines solchen Lebens für die Kinder der Älpler. Wie bei Heidi dürfen die Kinder im Stall mithelfen und der Zuschauer sieht ihnen beim Geißenhüten zu. Kinder sind auch im Zentrum der
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Gegenidyllen, die in Höhenfeuer und Suot Tschel Blau dargestellt werden. In Höhenfeuer zerstört die patriarchalische Ordnung das Leben des verstummten Sohns, in Suot Tschel Blau werden die vielen jungen Drogentoten von den Bewohnern des Bergdorfs Samedan verschwiegen und damit symbolisch noch einmal getötet. Das Kind auf der Alp erweist sich bis heute als produktiv für Schriftsteller und Filmemacher, wie wir es auch in Sez Ner sehen. Die ideologische Macht der Heidi-Romane besteht darin, dass sie sich den männlichen Diskursen des Erhabenen widersetzen und die Alp allen öffnet, ob Schweizern oder Fremden, ob Bergler oder Unterländer, ob reich oder arm. Die von Spyri ins Leben gerufene Heterotopie bleibt attraktiv, weil sie grundsätzliche Inklusivität verspricht. Gleichzeitig ist es aber signifikant, dass Spyri die Alp und den Mythos der Berge nicht für weibliche Autoren (oder Filmemacher) öffnen konnte. Der von Christina Viragh verfasste Roman Pilatus, der am Berg spielt, zeigt dies durch das Verschwinden der Mutterfigur am Berg.
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II. Geräusche, Klänge und Musik
S’Dirndl und s’Dudln Alpenländisches im Wienerlied Melanie Unseld
Stellt man Johanna Spyris Heidi-Romane und deren Rezeption ins Zentrum, geht dieser Beitrag einen weiten Weg: Gegenstand ist nämlich weder ein Jugendroman noch ein Schweizer Milieu oder eine Autorin, sondern der verklanglichte alpenländische Raum östlich der Schweiz, konkreter: das Alpenländische im Wienerlied, mithin einer dezidiert städtischen Unterhaltungskultur. Dass dieser Weg gleichwohl kein Umweg ist, sondern ein anderer Weg im Zusammenhang mit der Imagination der Alpen und der Personifikation damit zusammenhängender Sehnsuchtsräume, fällt unmittelbar ins Auge, wenn die Fragen konkretisiert werden, die im Folgenden ins Zentrum gerückt werden sollen: Welche Räume und/oder Heterotopien werden aufgerufen, wenn von Bergen, genauer: den Alpen, die Rede ist? Wie wird dieser Natur- und Lebensraum als Gegenraum zum Städtischen inszeniert? Wer ›bevölkert‹ diese Räume (sowohl besungenermaßen als auch real – als Sängerin/als Sänger), vor allem auch: Welchen Kristallisationspunkt bildet dabei die Figur des Mädchens/der jungen Frau/des ›Dirndls‹ im alpenländischen Raum? Nicht zuletzt: Welche Praktiken, Topoi und (sozialen) Konstellationen werden aufgerufen, um Figur und Raum in Einklang (bzw. Gegenklang zum Städtischen, ggf. zum Männlichen) zu bringen? Der Beitrag nimmt nicht nur einen anderen Weg, sondern geht auch in einer anderen Gangart: Da hier kein Roman im Zentrum der Betrachtungen steht, sondern Musik und musikalische Praktiken, wird die Gangart eine musikwissenschaftliche sein, die sowohl eine kulturwissenschaftlich historische Perspektive einnimmt, dabei mit einem Schwerpunkt auf unterhaltungskulturelle Praktiken, als auch eine, die nach intersektionalen Resonanzen fragt (Geschlecht, soziale Schicht, Stadt/Land, Alter). Um diesem Weg und seiner Gangart gerecht werden zu können, entstand der Beitrag, in dem das Wienerlied im Zentrum steht, im Dialog mit Herbert Zotti, einem Experten für ebendieses, der mir, zusammen mit Susanne Schedtler, nicht zuletzt auch die Türen des Archivs des Wiener Volksliedwerks geöffnet hat und die dortigen Materialien durchgegangen ist. Mein herzlicher Dank gilt beiden für Quellen, Gespräche und zahlreiche Hinweise; die folgenden Zitate von Herbert Zotti sind einem Interview entnommen, das ich mit ihm am 3. März 2021 im Wiener Volksliedwerk geführt habe.
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Wienerlied: Eine Skizze Zum besseren Verständnis seien ein paar Worte zum (musik)historischen Kontext vorangestellt, um sowohl die Gattung des Wienerliedes (vgl. dazu Schedtler) im Allgemeinen als auch das Thema des Alpenländischen im Wienerlied im Spezielleren besser einordnen zu können. Das Wienerlied war (und ist) Teil einer urbanen Unterhaltungskultur, die sich in der habsburgischen Metropole im Umfeld ihres regen (Vorstadt)Theaterlebens des ausgehenden 18. Jahrhunderts herausgebildet hatte: Theaterlieder, Arietten, Couplets und andere Vokalstücke, die aus den populären Piecen der Vorstadtbühnen und aus dem Volkstheater rasch ihren Weg in die urbane Unterhaltungsmusik der unteren Mittelschicht fanden, verbanden sich mit städtischen Alltagsmusiken und den diversen Praktiken der Unterhaltung in Gaststätten, Heurigen, im Prater und in Gartenlokalen, auf der Straße etc. Von seiner Herkunft aus dem Theater- und Harfenistenmilieu behielt das Wienerlied das latent Szenische, die Tendenz zur Stereotypisierung und den Charakter der Vortragskunst. Themen dieser dialektal gefärbten Unterhaltungskultur waren regional gefärbt, betrafen den Alltag der so genannten ›kleinen Leute‹, aber selbstredend auch allgemeine Themen wie Liebe, Sehnsucht und immer wieder auch den Wein. Wien allgemein und als Lebensraum wurde ebenso besungen wie einzelne Stadtteile (»Grätzel«) und die Heurigenkultur. Zum oftmals humoristischen Charakter des Wienerlieds tritt zuweilen auch Gesellschaftskritisches,1 auffallend außerdem, dass insbesondere die weiblichen Charaktere im Wienerlied außerordentlich stark typisiert werden. Wienerlieder sind komponierte Unterhaltungsmusik, deren Urheber*innen (Komponist*innen/Textautor*innen) durchaus bekannt waren; zudem war eine enge Zusammenarbeit mit Interpretinnen und Interpreten, die Wienerlieder vortrugen (und durchaus individuell weiterentwickelten), nicht unüblich. Durch Notendrucke fanden Wienerlieder über die konkreten Orte ihrer Aufführung hinaus Verbreitung und wurden damit auch (etwa im häuslichen Rahmen) nachsingbar. Nach der Etablierung audio(visueller) Medien wurden Wienerlieder und Wienerliedsänger und -sängerinnen zudem durch Radio, Schallplatte, Film etc. überregional bekannt. Musikalische Eigenheiten ergeben sich einerseits durch eine harmonische Reichhaltigkeit, andererseits aber besonders auch durch die Charakteristik im Vortragen: Die Sängerin oder der Sänger hat bzw. nimmt sich
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Wobei konkretes soziales Elend, im rasant expandierenden Wien der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein gravierendes (gesellschafts)politisches Problem, im Wienerlied kaum präsent ist, eher werden die kleinen Unzulänglichkeiten des gesellschaftlichen Miteinanders ironisch porträtiert. »Da das Wienerlied eigentlich das Lied für die ›kleinen Leute‹ war und für deren Unterhaltung da war, hat man ihnen ja nichts erklären müssen. Sie wussten Bescheid über das Elend der Menschheit« (Zotti).
Melanie Unseld: S’Dirndl und s’Dudln
weitreichende Freiheiten der Interpretation, die nicht nur das Signum des oder der jeweiligen Interpreten/Interpretin ausmacht, sondern auch auf die Vortragssituation, auch die Reaktionen des Publikums, ad hoc eingehen kann. Diese Art des kontingenten Vortragens reagiert unmittelbar auf die Zuhörenden, die – insbesondere in Refrains – auch zum Mitsingen angehalten werden (können).
Sehnsucht nach den Bergen: Wie kommt das Alpenländische ins Wienerlied? Wenn damit das Wienerlied als urbane Unterhaltungsmusik mit Themen aus urbanen Milieus charakterisiert werden kann, stellt sich die Frage, warum die Alpen im Wienerlied überhaupt zum Thema wurden. Herbert Zotti sieht mehrere Gründe dafür: Zum einen spielte der Einfluss der Tiroler Nationalsänger*innen2 eine zentrale Rolle, der die in Klang gefasste Identität des Alpenländischen rezipierbar machte. Auch die Herkunft vieler in Wien lebender Menschen aus den Alpenländern trug dazu bei: »Die Zugewanderten haben ihre Sehnsucht nach zu Hause immer auch verbunden mit der Sehnsucht nach den Bergen, den Alpen« (Zotti). Damit werden ›die Alpen‹ – in der unspezifischen Art eines nicht weiter konkretisierten Orts – zu einer Art ›locus amoenus‹, »im Sinne einer unberührten, glücksverheißenden und erhabenen Natur«.3 Zudem spielte die Idee des (realen wie imaginierten) Freiraums eine Rolle: »Ganz nach dem Motto ›Auf der Alm gib’s ka Sünd‹ klingt da schon die Doppeldeutigkeit an, die beim Alpenländischen im Wienerlied wichtig wird« (Zotti).4
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Dass das Alpenländische im Wienerlied auch (national)politisches Gedankengut mit sich trug, sei hier nur am Rande erwähnt: Über die Tiroler Nationalsänger wurde in Zeiten wachsenden Nationalbewusstseins nicht nur die Idee einer habsburgischen Integrität und Unabhängigkeit am Leben erhalten und in die Hauptstadt und ihre urbane Musikkultur hineingetragen, sondern auch das Konzept einer musikalischen Nationalidioms (kommerziell durchaus erfolgreich) international verbreitet. Auf diese Weise fand die Tirolermode und mit ihr das Jodeln als musikalisches Signum des Alpenländischen allgemein und der Tiroler Identität im Besonderen buchstäblich globale Verbreitung. Vgl. dazu das TWF-Projekt »Tiroler Nationalsänger – The singing families of Tyrol« (Leitung: Sandra Hupfauf; https://uibk.ac.at /musikwissenschaft/forschung/tiroler-nationalsaenger.html) sowie Hupfauf und Erber. Leskau verweist in ihrer Response darauf, dass auch die Figur der Heidi auf diese Weise der Bergwelt ihres Großvaters begegnet: »Heidi wurde niemals unglücklich, denn es sah immer irgendetwas Erfreuliches vor sich«. (Spyri 1880, 52) Vgl. dazu auch Bialek und Pacholski. Die zitierte Zeile stammt aus dem Gedicht »Alpenunschuld« des Wiener Lyrikers Johann Nepomuk Vogl (1802–1866), in dem die im Wienerlied aufgerufenen Motive und Figuren des Alpenländischen bereits auftauchen:
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Schließlich hängt die Imagination des Alpenländischen auch mit realer Erfahrbarkeit, also mit dem (weiterhin urbanen, bürgerlich geprägten) Phänomen des Alpentourismus im 19. Jahrhundert zusammen. Aus transalpiner Perspektive betrachtet waren die Alpen zunächst eine natürliche (und schier unüberwindliche) Grenze zum Sehnsuchtsraum Italien, bevor – und hierbei nicht unberührt durch die Ästhetik des Erhabenen – die Alpen selbst zum Sehnsuchtsort wurden. (Richard Strauss’ Alpensymphonie knüpft noch an die Pathosformeln der alpinen Natur an und gewandet sie musikalisch in ein Nietzscheanisches Selbstfindungsprogramm). Für das finanziell entsprechend ausgestattete Wiener Bürgertum wurden die Alpen im
Von der Alpe ragt ein Haus Schlicht und arm in’s Thal hinaus, D’rinnen haust mit munter’m Sinn Eine junge Sennerin. Sennerin ist frisch und roth, Weiß von Kummer nichts und Noth, Hat ein Herz von Liebe heiß, Wie ich mir kein Zweites weiß. Sennerin singt manch ein Lied, Wenn um’s Thal der Nebel zieht, Horch dann schallt’s durch Duft und Wind: »Auf da Oalm da gibt’s kan Sünd!« Als ich einst auf schroffem Pfad Jenem Paradies genaht, Trat sie flink zu mir heraus, Bot zur Herberg mir ihr Haus. Frug nicht lang’ was ich hanthier’, Setzte traulich sich zu mir, Sang so lieblich dann und lind: »Auf da Oalm da gibt’s kan Sünd!« Als ich d’rauf am Morgen schied, Hört’ ich ferne noch dieß Lied, Und zugleich mit Schmerz und Lust Trug mit mir ich’s unbewußt. Und wo ich seitdem auch bin Schwebt vor mir die Sennerin, Und es ruft: Kehr’ um geschwind, »Auf da Oalm nur gibt’s kan Sünd!«
Melanie Unseld: S’Dirndl und s’Dudln
19. Jahrhundert aber auch zum konkreten Erlebnisraum jenseits des städtischen Alltags. Wandern, Jagen und ein als einfach inszeniertes Leben sollte den Kontrapunkt zum Habitus des städtischen Alltags (Erwerbsarbeit, Bildung, gesellschaftliche Reglements, Luxus etc.) bilden, zumal dabei die Idee der Sommerfrische – ein genuin adeliges Konzept5 – hierhin übernommen (und neu interpretiert) werden konnte. Der Ausbau diverser Bahntrassen, von Wien ausgehend in die (Vor)Alpenregionen, erleichterte seit der Mitte des 19. Jahrhunderts das Reisen der Stadtbewohner*innen in die Berge, die Semmeringbahn (Südbahnstrecke) etwa wurde 1854 als erste Gebirgsbahn eröffnet und als Meisterwerk der Ingenieurskunst – und damit ganz im Sinne des Industrialisierungsdiskurses als menschliche Beherrschung natürlichwidriger Bedingungen – bestaunt. Die Tatsache, dass das Kaiserpaar die Semmeringbahn einweihte, lässt sich darüber hinaus auch als Hinweis auf die sozialen Verhältnisse lesen: Alpentourismus war zunächst kein Massentourismus, sondern adressierte die oberen Schichten. Vor allem die soziale Unterschicht hatte weder Zeit noch die nötigen finanziellen Mittel, um sich einen Sommer im Gebirge leisten zu können. So blieb das Alpenländische im Wienerlied vor allem Sehnsuchtsraum – oder wurde kleiner dimensioniert (Tagesausflüge zu den Wiener Hausbergen oder in die nähere Umgebung).
Heterotopien: Themen und Figuren des Alpenländischen Als ein solcher Sehnsuchtsraum eigneten sich Alpenregionen gerade im Wienerlied umso besser: Die imaginierte Alm konnte als Heterotopie aufgerufen werden, in der eine räumliche und moralische Anderwelt imaginierbar wurde, die von Außenseiter-Typen wie dem Wilderer oder dem ›Dirndl‹/›Diandl‹ bevölkert waren. Kennzeichen dieser Heterotopie war die (fast unerreichbare) Abgeschlossenheit6 gegenüber der eigenen Lebenswelt, die nicht nur durch eigene körperliche Anstrengung überhaupt erreicht werden konnte, sondern in der dann auch in der Einsamkeit moralische Grenzen ohne Zeugen (und damit ohne Gefahr von Sanktionierung) überschritten werden konnten. Die Alm bzw. das Gebirge konnte dabei entweder konkret
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Der Wiener Adel zog über die Sommermonate aus der Stadt auf die jeweiligen Landsitze, einerseits um der sommerlichen Hitze zu entkommen, andererseits um die Verwaltungsaufgaben in den jeweiligen Besitzungen übernehmen zu können. Wie stark auch das städtische Leben von diesem Wechsel (Stadt/Land) geprägt war, zeigen nicht zuletzt die Spielpläne der Theater, die während der Sommermonate, während sich der Adel auf dem Land befand, geschlossen blieben. Vgl. dazu etwa auch das Jodellied »D’Fischerhüttn« (Komposition: Rudolf Kronegger; Text: Andreas Behrend), abrufbar im Audiovisuellen Archiv der Österreichischen Mediathek, dort kann die entsprechende Suchfunktion genutzt werden; vgl. https://mediathek.at (19.1.2022).
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benannt und damit lokal bzw. regional verortet oder (häufiger) auch unkonkret als natürlicher Raum erwähnt werden (im Tal, auf der Höhe, auf der Alm etc.).
Abbildung 1: »D’Jaga san da«, Musik von Rudolf Kronegger, Verlag Josef Blaha Wien, o.J. Abbildung 2: »Da Bua und sein Diandl«, Kärntner-Lied von Johann Fuchs, o.J.
Die Wienerlieder, die auf diese Weise vom temporären Verweilen in den Bergen erzählen, thematisieren dies im immer wiederkehrenden, unverhohlen mehrdeutigen Motiv der Jägerei, wobei der Mann als Jäger bzw. Wilderer auf eine junge, auf den Almen isoliert lebende Frau trifft (Abb. 1). Die Bedeutung des Wilderers als männliche Figur im Wienerlied ergibt sich aus der sozialen Gemengelage der Jagd, eines zunächst rein adeligen Privilegs (mit passioniert jagenden Herrscherfiguren wie Franz Josef I.), das den ›einfachen Mann‹ allenfalls in der Funktion des Jagdgehilfen akzeptiert, und das den Wilderer entsprechend auch als Rebellen gegen die feudale Ordnung und als Gesetzesbrecher (»Wilddieb«) versteht (vgl. dazu Krethlow, 121ff.). Der im Wienerlied auftretende Jäger ist damit, wenn auch nicht immer explizit, auf der Kippe zum Widerständigen und Gesetzesbrecher. Sein Pendant ist die junge Frau, die als Sennerin ›mutterseelenallein‹ eine kleine Almhütte bewohnt. Man mag sich bei der Imagination einer abgeschieden lebenden Frau an die auf Inseln lebenden Zauberinnen der Kulturgeschichte erinnert fühlen – und tatsächlich tragen die im Wienerlied besungenen, alpenländischen Frauen einige Kennzei-
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chen, die auch Circe, Armida oder Alcina eigen sind: Ihr Anderssein wird verbunden mit sexueller Attraktivität (»Da Bua geht zum Diandel im Reg’n und im Wind,/und kriagt er a Busserl, so nimmt er sich’s g’schwind«, aus: »Da Bua und sein Diandl«, Kärntner-Lied von Johann Fuchs, vgl. Abb. 2). Zwar ist die im Gebirge alleinlebende Frau nicht aristokratisch wie Armida und nicht mythisch wie Circe, aber sie ist, wie ihre literarisch-mythischen Vorgängerinnen, von der Gemeinschaft separiert und steht damit (ob selbstgewählt oder als Projektion sei dahingestellt) auch jenseits gesellschaftlicher Moralvorstellungen und wird als besonders naturverbunden dargestellt, erscheint damit im Diskurs des 19. Jahrhunderts als besonders natürlichkreatürlich. Mit den Zauberinnen teilt das »Dirndl« auch jenes Erzählmoment, dass der Mann sie verlässt: In »Wann i von der Alm obageh« heißt es unmissverständlich: »Ja Dirndl was hast dir den denkt/Holera/Wiast ma die Herzerl hast gschenkt/ Hast glaubt i hab di gern/Hast wolln mei Weiberl wern/Aba na da wird ewig nix draus/Holera/Mit unser Liebschaft is aus.« Parodistisch wird sowohl die Bergidylle als auch die Begegnung (auf Zeit) übrigens im Lied »Fahr nach St. Gilgen zur Sommerszeit« (Komposition: Hermann Leopoldi, Text: Peter Herz) aufs Korn genommen, in dem die eheanbahnende Begegnung im Alpenländischen, hier konkret der Ort St. Gilgen am Wolfgangsee im Salzburgischen, besungen wird.
Das Dirndl: Begriff und Figur Der Begriff »Dirndl«7 leitet sich vom Begriff Dirne ab, der – nach der begriffsgeschichtlichen Herleitung der Gebrüder Grimm im Deutschen Wörterbuch – das (junge) Alter, die Jungfräulichkeit8 und auch den sozialen Stand markieren kann: Eine Dirne ist, bei allen erkennbaren Begriffsveränderungen, vor allem eine junge, unverheiratete Frau; im ruralen Kontext wurde der Begriff meist auch im Sinne von Magd/Dienstmagd verwendet. Auch Johann Christoph Adelung in seinem Grammatisch-Kritischen Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart aus der Zeit um 1800 definiert den Begriff zweifach: zum einen als »[e]ine junge unverheirathete Person des andern Geschlechtes«, zum anderen als Magd. Gerade letztere Begriffsverwendung aber stellt die Dirne in einen sozialen Kontext: Die Magd ist Teil des
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Mit diversen dialektal bedingten, phonetischen Schreibweisen (Diandl, Deandl etc.). Zum Dirndl als Kleidungsstück, das selbst eine urban-bürgerliche »Erfindung« alpenländischer Identität ist, vgl. auch Wallnöfer 2020 sowie die Ausstellung »Tracht. Eine Neuerkundung«, im Tiroler Landesmuseum Innsbruck, 19. August 2021 https://tiroler-landesmuseen.at/ausst ellung/tracht/. Die Konnotation der sexuellen Freizügigkeit wird gelegentlich durch Adjektive wie frech, liederlich etc. markiert.
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Sozialgefüges des Hauses,9 und selbst dort, wo sie als einsames Individuum auftritt – wie etwa in Georg Trakls Gedichtzyklus Die junge Magd – ist sie noch Teil des (fast ausgestorbenen, verödeten) Hofes. Die Benennung der jungen Frau als Dirndl/Diandl im Wienerlied nimmt von der Begriffsgeschichte insbesondere die Bedeutungsebene des Alters (junge, unverheiratete Frau) und des sozialen Standes – wobei hier die Stereotypisierung weiblicher Figuren im Wienerlied besonders stark hervortritt: Kaum ein »Dirndl« erhält einen Eigennamen oder andere Identitätsmarker. Das »Dirndl« taucht sowohl im städtischen als auch im alpenländischen Kontext auf. Als Bewohnerin der alpenländischen Abgeschiedenheit bildet es einen Kristallisationspunkt, es steht für eine im Sinne des bürgerlichen 19. Jahrhunderts nicht rollenkonforme weibliche Identität: Der Ort, aus der städtischen Perspektive des Wienerliedes betrachtet, ist ebenso fremd wie die soziale Rolle als allein lebende, autonome, nicht adelige Frau.10 Mit dem »Dirndl« im alpenländischen Setting ist »nie das Dirndl im Dorf gemeint, sondern die herausgehobene, isoliert lebende, Frau als Lustobjekt gemeint«, so Herbert Zotti. In diesen Liedern sind nicht die jungen Frauen im Dorf gemeint, sondern viel eher diese im doppelten Wortsinn herausgehobenen Frauen. Gerade in der Romantik steht das Dorf ja für einen Ort der Ruhe und Geborgenheit, während der Berg und der Wald für das Wilde, das Herausfordernde und Erotische stehen. Die Romantik als literarische Epoche ist zwar längst vorbei, als diese Wienerlieder entstehen, aber von dieser Idee ist noch ganz viel im Wienerlied. (Zotti)11 Mag sein, dass es dieser Hang zum Mythisch-Märchenhaften ist, der eine realsoziale Dimension auszublenden hilft: Ihre Außenseiterinnen-Existenz lässt die Frage nach möglichen sozialen Pflichten gar nicht erst aufkommen, stellt sie außerhalb eines sozialen Netzwerks, das (im Sinne des (klein)bürgerlich-städtischen Publikums des Wienerlieds) ja gerade für junge, unverheiratete Frauen wichtig war, um ihre moralische Integrität zu beglaubigen. Im städtischen Milieu angesiedelt, spielt der soziale Status eine wichtige Rolle. Dabei fällt auf, dass das Wienerlied die Option, die durchaus auch problematischen
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Dass sich dieses Sozialgefüge, das der Dirne idealerweise ökonomische und moralische Sicherheit bietet, realerweise als Raum sozialer und sexueller Ausbeutung dargestellt hat, wird in Trakls expressionistischer Lyrik angedeutet. Der soziale Stand ist insofern hier bedeutsam, als die Freiheit gegenüber sozialen Pflichten eher adeligen Frauen, auch ökonomisch abgesicherten bürgerlichen Frauen und ggf. Künstlerinnen zugestanden wurde, gerade aber nicht Frauen aus sozial niederen Schichten. Wobei er ergänzt: »Die Frau im Wienerlied hat sonst eine ganz andere Rolle: da findet sich entweder ›die Alte‹, die daheim sitzt, oder die Angebetete, wie das ›Wiener Pupperl‹ oder die ›Weaner Maderln‹, aber alles eher als Typ, nicht als Individuum.«
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Lebens- und Arbeitsbedingungen einer Magd oder jungen Frau aus einer sozialkritischen Perspektive zu thematisieren, auslässt: Die junge Frau, die in der Heterotopie der Bergwelt ausschließlich als (sexuell aufgeladener) ›Sehnsuchtsort‹ thematisiert wird (»Alpenvenus« [Zotti]), wird im städtischen Kontext in ihrer sozial prekären Situation als Verlassene eher bespottet als bemitleidet, wie etwa im Wienerlied »Wann i von Wean wegga geh« von ca. 1850:12 Ja, wann i von Wean wegga geh’, Hujo ri di dulijo, da schwing’ i mei Hiaterl in d’ Höh’. Ja wann i von Wean wegga geh’, da schwing’ i mei Hiaterl in d’ Höh’. Wia i zur Bruck’n kumm’, da drah’ i mi nomal um. Da siach i mei Deanderl dort stehn, als wia a weiß’ Täuberl so schön. Da siech i mei Deanderl dort stehn, als wia a weiß’ Täuberl so schön. Aber Deanderl, was hast da denn denkt, wia’st ma dei’ Herzerl hast g’schenkt? Aber Deanderl, was hast da denn denkt, wia’st ma dei’ Herzerl hast g’schenkt? Hast glaubt, i hab’ di’ gern, du wirst mei Weiberl werd’n. Aber na, da wird ewig nix draus, mit unserer Liabschaft is’aus. Aber na, da wird ewig nix draus, mit unserer Liabschaft is’aus. Aber Deanderl, was fangst denn jetzt an, jetzt hast an klan Buam und kan Mann. Aber Deanderl, was fangst denn jetzt an, jetzt hast an klan Buam und kan Mann. Was i jetzt anfangen tua? I sing von auf d’ Nacht bis in der Fruah, Aber Heidi bumbeidi, mei Bua, ’s gibt ma ka Mensch was dazua! Aber Heidi bumbeidi, mei Bua, ’s gibt ma ka Mensch was dazua.
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»In diesen Liedern werden eher die Kinder bedauert als die Frau« (Zotti).
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Dieses Wienerlied, das u.a. auch Wienerliedsängerinnen wie Trude Mally und Luise Wagner zu ihrem Kernrepertoire zählten, schlägt denn auch eine Brücke zu den Sängerinnen selbst: Das »Deanderl« des Liedes singt, wobei infrage gestellt wird, ob sie damit ihren Lebensunterhalt verdienen kann. Das Lied aber erzählt die Biographie einer singenden, weiblichen Außenseiterin, in der für die Wahrnehmung der Zuhörenden die Grenzen zwischen Figur, Bühnenpersona und Sängerin verschwimmen können.
Die Stimme des Dirndl Auch jene oben kurz genannten Zauberinnen in einsamer Natur hatten zumeist besondere Stimmen – die Armiden und Alcesten der Opernliteratur ohnehin, aber auch die verlockenden Sirenen, Loreleyen u. s. w., die als mythisch-märchenhafte Wesen ebenso einsam wie exponiert auftauchen und vorbeikommende Männer verlocken. Dass der Gesang dieser Frauenfiguren besonders sei, davon erzählen Literatur und Mythen zuhauf. Knüpft daran die Stimme des »Dirndls« an? Zumindest lässt sich sagen, dass sich im Wienerlied eine exzeptionelle Gesangspraxis etabliert hat, die untrennbar mit einigen Wienerliedsängerinnen verbunden ist, das Dudeln. Die als Jodeln bezeichnete Gesangspraxis existiert im gesamten alpenländischen Raum. Bereits um 1800 hält sie in Wien Einzug in die urbane Unterhaltungskultur (vgl. Fritz, 8–10), auf den Theaterbühnen treten Figuren des »Tirolers« oder der »Sennerin« auf, deren Gesangsstil als Ludeln, Jodeln oder Dudeln bezeichnet wurde.13 Das Jodeln wurde hier derart populär, dass es nicht nur auf der Bühne als Motor der Unterhaltung14 eingesetzt wurde und »alsbald zu den Fähigkeiten von Schauspielerinnen und Schauspielern im komischen Fach« (Fritz, 9) gehörte, sondern auch in andere städtische Räume bis in die aristokratischen Salons transferiert wurde.15 Dass sich auch das Wienerlied dieser Jodel-Model bediente, war, – die Herkunft des Wienerliedes aus der Vorstadt-Theaterkultur bedenkend, damit absehbar, zumal sich der Charakter des (alpenländischen) Jodelns (städtisch)
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1815 fand der Begriff »Jodeln« dann auch Einzug in das Etymologische Wörterbuch der in Oberdeutschland vorzüglich aber in Oesterreich üblichen Mundart: »Das Ludeln ist wie das Jodeln aus dem grauesten Alterthume zu Haus […]. [Es wird] noch heute von den in Bädern versammelten Weibern mit einem auf mehrere Stunden weit durchdringendem hellen Tone angestimmt«, (zit.n. Wiener Allgemeine Literaturzeitung, 1095). »Denn seh ich seine Stücke noch öfter an, und lache mich dabey zu Tode. Diesen ›Fiacker als Marquis,‹ habe ich schon fünf Mahl gesehen, ich habe im zweyten Akt und am Schluß des ersten Aktes jedes Mahl tüchtig, ich möchte sagen, gewiehert, aber das Stück bleibt doch schlecht, und der dritte Akt mit dem Tyroler, der aus den Wolken fällt, damit wir jodeln hören, ist der Kern des Unsinns« (Anonym, 55). Beispiele dazu bei Fritz.
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veränderte, indem er Elemente der urbanen Musikkulturen übernahm. Dadurch wurde der Jodler »ruhiger, wohlklingender und wurde dann auch ›Salon-Jodler‹ genannt« (Fritz, 9). Zudem bildete sich im urbanen Kontext des Wienerliedes eine spezifische Form des weiblichen Jodelns heraus: Das, was in Wien als Dudler bezeichnet wird (wobei die Differenzierung zwischen Jodler und Dudler erst in den 1990er Jahren entstanden ist), […] ist ein kunstvoll verzierter Jodler, der im Tempo sehr wienerisch klingt, das heißt, es gibt sehr starke Temposchwankungen. Außerdem hat der Dudler chromatische Läufe, Koloraturpassagen, kurz er ist sehr kunstvoll komponiert. Oft wurde er für berühmte Sängerinnen geschrieben. Man kann diese Entwicklung sehr gut verfolgen von den Theaterliedern mit einem ganz einfachen viertaktigen Jodler bis hin zu 24oder 36-taktigen, aufwändigen, schwer zu singenden Koloraturjodlern. Diese Jodelkunst hat in Wien ein sehr großes Publikum gehabt, vor allem auch, weil in diesen kunstvollen Jodlern noch sehr viel Alpines zu hören war und sie damit auch die Sehnsucht nach den Bergen bedienen konnten. (Zotti) Die Entwicklung des Dudlers, die spezifische Gesangskunst der Wiener Sängerinnen (Dudlerinnen),16 lässt sich damit als ein Prozess des Überschreibens verstehen, der den verklanglichten Alpenraum und eine konkrete Gesangspraxis (Jodeln) mit einer urbanen Unterhaltungsmusikkultur überschreibt und dabei auch einen spezifischen Sängerinnen-Typus hervorbringt, für den eine Bezeichnung zu finden offenbar schwierig war: »Jodeldiva« (KulturRorboz) oder Gesangsakrobatin17 sind nur zwei von mehreren Bezeichnungen für Dudlerinnen, die erkennen lassen, dass sich in dieser Gesangsform Sphären von Hochkultur, Theater und Starwesen, Zirkus und Wienerlied mischten.
Bibliografie Adelung, Johann Christoph. »Dirne.« Grammatisch-Kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart. Ausgabe letzter Hand. Leipzig, 1793–1801, digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/21, 19. August 2021, https://woerterbuchnetz.de/Adelung.
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Darunter Maly Nagl (1893–1977), Trude Mally (1928–2009) und Agnes Palmisano (geb. 1974). Audio-Dokumente finden sich u.a. in der Österreichischen Mediathek (https://mediathek. at/). Vgl. etwa die Berufsbezeichnung »Artistin, Gesangsakrobatin und Jodlerin« (vgl. Volkssängerei) für die Wiener Sängerin Minna Reverelli. Den Begriff verwendet auch die Ankündigung des Jazzit (Musik Club Salzburg) für ein Konzert von Erika Stucky (»[…] der Wechsel vom Jodel zur Sinatra-Schnulze gelingt der Gesangsakrobatin nahtlos«).
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[Anonym]. »Gespräch über die Oper ›der Fiacker als Marquis‹ von Bäuerle, mit Musik von Müller«, Wiener Theater-Zeitung (Bäuerles Theaterzeitung), Beylage. 9, 17. Februar 1816, 55–56. Bialek, Edward und Jan Pacholski (Hg.). »Über allen Gipfeln…«. Bergmotive in der deutschsprachigen Literatur des 18. bis 21. Jahrhunderts. Neisse Verlag, 2008, 13–27. Fritz, Hermann. »Ludeln – Dudeln – Jodeln. Die urbane Jodelmode 1800–1830.« Bockkeller, 27, 5, Nov./Dez. 2021, 8–10. Grimm, Jacob und Wilhelm Grimm. Deutsches Wörterbuch, digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/21, 19. August 2021, https://woerterbuchnetz.de/DWB. Hupfauf, Sandra. Die Lieder der Geschwister Rainer und »Rainer Family« aus dem Zillertal (1822–1843), hg. von Thomas Nußbaumer, Universitätsverlag Wagner, 2016. Hupfauf, Sandra und Silvia M. Erber. Liedgeschichten. Musik und Lied in Tiroler Politik und Gesellschaft 1796–1848, hg. von Thomas Nußbaumer und Brigitte Mazohl, Universitätsverlag Wagner, 2013. Jazzit. MusikSalon@Spiegelzelt. Erika Stucky & Roots of Communication (CH). 14. Januar 2022, https://jazzit.at/site/index.php?id=226:erika-stucky-a-roots-of-comm unication-ch&view=details&el_mcal_month=3&el_mcal_year=2057. Krethlow, Carl Alexander. Hofjagd, Weidwerk, Wilderei. Kulturgeschichte der Jagd im 19. Jahrhundert. Ferdinand Schöningh, 2015. KulturRorboz. Christine Lauterburg & Altfrentsch. Die Jodeldiva mit der Landstreichmusik. 14. Januar 2022, https://kultur-rorboz.ch/17/17lauterburg.htm. Schedtler, Susanne. »Zum Wienerlied.« Wiener Volksliedwerk, 19. Aug. 2021, https:// wienervolksliedwerk.at/wiener_musik.php?sid=11. Spyri, Johanna. Heidi’s Lehr- und Wanderjahre. Eine Geschichte für Kinder und auch für Solche, welche die Kinder lieb haben. Perthes, 1880. Volkssängerei. Minna Reverelli. 14. Januar 2022, https://volkssaengerei.de/menschen/ reverelli.htm. Wallnöfer, Elsbeth. Tracht macht Politik. Haymon, 2020. Wiener Allgemeine Literaturzeitung 69, 29. August 1815, 1085–1097. Zotti, Herbert. Interview im Wiener Volksliedwerk, 3. März 2021.
Gipfelklänge Soundscapes in Johanna Spyris Heidi-Romanen Sigrid Nieberle
Soundscapes Als Soundscape bezeichnet man die Summe aller akustischen Ereignisse innerhalb einer begrenzten Umgebung. Der Begriff wurde in den 1970er Jahren für die Sound Studies von dem englischen Wort für Landschaft (landscape) abgeleitet; in den folgenden Jahrzehnten wurde vor allem die soziale und perzeptive Dimension der Soundscape herausgearbeitet (vgl. Mildorf und Kinzel, 15ff.). Das Konzept der Soundscape weist große Ungenauigkeiten auf und gehört somit zu den sogenannten »fuzzy categories«, die nicht mit exakten Definitionen aufwarten können (Sterne, 181, 186). Vor allem die Subjektposition hat daran ihren Anteil, denn Hören sowie die Kommunikation über das Gehörte bedürfen zweifellos der Hörerinnen und Hörer. Eine deutsche Übersetzung des Begriffs (z.B. mit ›Klanglandschaft‹ oder ›Geräuschkulisse‹) bietet sich nur bedingt an, weil die englische Bedeutung von sound nicht nur Klang, sondern auch Schall im allgemeinen sowie Geräusche und Lärm einschließt. Eine präzise Umschreibung der Soundscape bezieht alle akustisch wahrnehmbaren Zeichen in einem von den topographischen Gegebenheiten sowie der Reichweite des Schalls definierten Raum ein. Die Soundscape kann von den umliegenden Bergen in einem Tal begrenzt werden, aber auch von Häuserschluchten in der Großstadt oder architektonischen Strukturelementen, die einen Marktplatz oder eine Gasse begrenzen. Soundscapes werden seit Anfang des 20. Jahrhunderts in technischen Medien gespeichert und lassen sich aus den entsprechenden Audio- und Filmaufnahmen rekonstruieren und duplizieren. Radio, Kino, Bilder und Texte sowie jüngere digitale Medien haben die Konstruktion von Soundscapes und ihrer Wahrnehmung maßgeblich geformt. Auch akustisches Wissen über Geräusche und Klänge – Bedingungen, Dynamik, Frequenz, Amplitude – und deren Bewertung werden auf diese Weise tradiert (vgl. Mieszkowski und Nieberle, 13). Dabei sind die Formationen regelmäßiger Schallwellen (akustisch: Klang) von den unregelmäßigen Wellenmustern (akustisch: Geräusch) kategorisch zu unterscheiden.
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Für eine Rekonstruktion älterer historischer Soundscapes, die sich vor der Schallaufzeichnung ereignet haben, ist die Forschung auf schriftliche Aufzeichnungen angewiesen. In dieser Tatsache liegt eine große interpretatorische Herausforderung. Schriftliche Zeugnisse von akustischen Ereignissen werden entsprechend ihrer generischen Qualität bewertet und anschließend ausgewertet. Hierbei gilt es zu berücksichtigen, dass zum einen von einer stark subjektiv geprägten Notationspraxis und Überlieferungsgeschichte auszugehen ist und zum anderen unterschiedliche Textgenres diese Faktoren ihrerseits beeinflusst haben. Mit Karin Bijsterveld werden in diesem Beitrag unterschiedliche Begriffe für die Beschreibung konventioneller Soundscapes aufgegriffen. Sie beziehen sich auf leicht wiedererkennbare Sound-Konstellationen. Zu diesem Effekt der automatisierten Wahrnehmungsfolie tragen »keynote sounds«, »sound marks« und »sonic icons« bei (vgl. Bijsterveld, 11–28): »Keynote sounds« würde man am ehesten mit Geräuschkulissen übersetzen und z.B. das Rauschen des Verkehrs in der Großstadt bezeichen; unter »sound marks« werden spezifische Geräusche eingeordnet, die sich aus einer Soundscape abheben (wenn Big Ben läutet); unter »sonic icons« versteht man narrativ funktionalisierte Geräusche, die sich ikonisch von spezifischen Örtlichkeiten abgelöst haben und davon unabhängig zu deuten sind (Türklingel, Feuerzeugklicken, Türenschlagen). Konventionelle Soundscapes, wie sie in auditiven Medien eingesetzt werden, setzen sich demzufolge aus der komplexen Performanz signifikanter Geräusche und Klänge zusammen. Die Genrespezifik, etwa von Bergfilmen oder Naturdokumentationen, tragen zu einer kontinuierlichen Fortschreibung solcher Soundscapes bei. Bijsterveld und Kollegen gehen für die mediale Dramatisierung von Soundscapes überdies von auditiven Topoi aus, z.B. »intrusive sound, the sensational sound, the comforting sound, and the sinister sound« (Bijsterveld, 15). Solche auditiven Topoi, die als berührend, reißerisch, beruhigend oder beängstigend wahrgenommen werden, lassen sich auch in allen filmischen und auditiven Umsetzungen des Heidi-Stoffes für Film und Hörbuch finden. Es handelt sich um hochgradig determinierte und dramatisierte Konstellationen von musikalischen Elementen, ikonischen Klängen und Geräuschen, die aufwändig in der filmischen Post Production montiert werden müssen.
»Heidi’s Delight« Ein eindrückliches Beispiel für dieses Konzept liefert ein aktueller Clip aus der TeeWerbung,1 der die bisher erwähnten Aspekte noch einmal vor Augen und Ohren führt: »Heidi’s Delight – Im Gleitflug durch die samova Teewelt« (00:01:34, Samova, 1
Für den Hinweis auf die Teesorte »Heidi’s Delight« bedanke ich mich herzlich bei Melanie Unseld.
Sigrid Nieberle: Gipfelklänge
2021)2 wirbt für eine Kräuterteemischung mit dem Namen »Heidi’s Delight«. Eine Teedose steht auf einem Gartentisch, ein hölzern-metallisches Rhythmus-Pattern leitet die im Folgenden unterlegte Musik ein, dann öffnet eine Hand die silberne Teedose, ganz so, als ob die Kamera mit ihrem dynamischen point of view rasch in diese verschlossene Innenwelt ›einfährt‹. Darin erscheint eine virtuell animierte Almlandschaft, die mit Geräuschen, Klängen und dem Song »Take it to the top« (by Ofrin) aufgeladen wird. Die rhythmisierten Kamerafahrten sind auf eine begrenzte Umgebung beschränkt, die ästhetisch an Figuren und Bauten einer Modelleisenbahn erinnern. Die Story erzählt davon, wie in dieser modellierten Almlandschaft diese anzupreisende Teemischung zustande kommt, indem nämlich die dafür nötigen Kräuter wie in einem Videogame abgefahren und eingesammelt werden. »[D]er Kräuter Wunder-Krafft und ändernde Gestalten/Hat längst sein Witz durchsucht, und jedes Mooß benannt«, heißt es in Albrecht von Hallers 1729 entstandenem, einflussreichen Gedicht »Die Alpen« über einen »muntern Alten,/der die Natur erforscht, und ihre Schönheit kennt« (Haller 1751, 39). Der Name jeder Zutat erscheint wie in einem Lehrfilm als Insert: Zitronenmelisse, Frauenmantel, Pfefferminze, Rosmarin, Apfel, Karotte, Kornblume, Färberdistel. Eine Figur im roten Kleid (Heidi?) wird unvermittelt mit einer Rakete auf eine Wolke geschossen und landet gleichsam auf dem Gipfel des Genusses, einem Hochplateau mit Gipfelkreuz und Ziegen. Dort ist eine Teedose in die Felswand eingelassen, die es für andere Figuren mühsam zu erklettern gilt. Während der Performanz werden nicht nur die Zutaten gesammelt und gemischt, sondern zugleich auch die entsprechenden akustischen Elemente aus der alpinen Landwirtschaft mit einer nostalgisch anmutenden Gaming Soundscape der für Mobilgeräte wiederentdeckten Arcade-Ästhetik verschränkt. Jedes Mal, wenn eine Zutat aus Kräutern oder Früchten gefunden wurde, erklingt als sonic icon ein elektronisches Signal (game coin sound: achievement completed). Außerdem hört man sogenannte keynote sounds (Lachen, Vogelpfeifen, Kuhglocken, Ziegenmeckern, Muhen), sound marks (Raketenstart, Jodler) und die erwähnten sonic icons (game coin). Alles zusammen ergibt eine sehr lebendige, kreative Soundscape, die mit dem auditiven Topos des »sensational sound« bezeichnet werden kann. Ein abruptes Ende findet diese Binnenerzählung mit einem harten Schnitt: Im darauffolgenden Bildframe sehen wir eine junge Frau im rot karierten Hemd, die am anfangs in Großaufnahme gezeigten Holztisch sitzt und versonnen an ihrem Tee nippt. Die »sensational soundscape« mündet abschließend in einen »comforting sound«, eine kontemplative Soundscape, die nur mehr mit Grillenzirpen und Vogelzwitschern angereichert ist. Mit diesen finalen Einstellungen
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Heidi’s Delight – im Gleitflug durch die samova Teewelt, youtoube: https://youtube.com/watch? v=tXabtIJPYWc, zuletzt aufgerufen 22.3.2023. Video: https://edelunderic.de/; Sound: »Take it to the Top« by Ofrin; Creative Direction: Esin Rager; Copyright: 2021 samova GmbH & Co. KG
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erschließt sich auch die anfangs unbekannte Hand, die jene Teedose auf dem Tisch geöffnet hat und offenbar zu einer zeitgenössischen Teetrinkerin gehört.
Abbildungen 1 und 2: Screenshots aus Heidi’s Delight (2021): (1) Sammelstation »Apfel« mit Figur im roten Kleid, Ziege, Almhütte und Teedose am Felsengipfel im Hintergrund (00:00:49); (2) Teetrinkerin in der idyllischen Metadiegese (00:01:24)
Die metadiegetische Rahmung des Clips erzählt von Teezubereitung und -genuss, während die intradiegetische Handlung die virtuelle Welt der Teeproduktion präsentiert. Ob sich der Produktname »Heidi’s Delight« auf die intradiegetische Mädchenfigur oder die extradiegetische namenlose Teetrinkerin oder auf beide Figuren bezieht, bleibt offen. Der Clip greift die Ästhetisierung des gegenwärtigen hochalpinen Event-Tourismus auf und kontrastiert ihn mit der traditionellen Vorstellung von der kontemplativen Stille im Hochgebirge. Das Ziel, eine solche Umgebung der Kontemplation zu erreichen, teilt die Teetrinkerin mit Johanna Spyris Heidi-Figur, was im Folgenden zu zeigen sein wird.
Spyris Heidi-Romane als synästhetische Narration Die Weite der alpinen Landschaft lässt Schallwellen rasch abebben, weil sie sich in großen Entfernungen verlieren. Steile Felswände werfen auftreffende Schallwellen so spät zurück, dass häufig kein Nachhall, sondern – stark verzögert – ein Echo entsteht. In der Enge der dicht besiedelten Großstadt erzeugt hingegen die ungeordnete Vielfalt vieler verschiedener Geräusche eine zumeist enervierende Soundscape, die eher überhört werden muss, damit ein einzelnes akustisches Ereignis wahrgenommen und gewürdigt werden kann.
Sigrid Nieberle: Gipfelklänge
In Kenntnis zahlreicher Medientransformationen3 dürfte die heutige Leser*innenschaft der Heidi-Romane einen starken Kontrast in der Gestaltung der Soundscapes erwarten: In den Bergen würde vermutlich eine beruhigende akustische Kulisse vorherrschen, die das Gewimmel der menschlichen Existenz angesichts der Erhabenheit jener ewigen Felskulisse buchstäblich verstummen lässt; hingegen würde in Frankfurt der ungeordnete Lärm die Soundscape des urbanen Lebensraumes dominieren, wofür typischerweise die Geräusche des Verkehrs und der merkantilen Geschäftigkeit verwendet werden. Eine Heidi-Verfilmung aus dem Jahr 1965 (Regie: Werner Jacobs) nutzt beispielsweise zeitgenössische Aufnahmen des Frankfurter Nahverkehrs für eine aktualisierte Version des Heidi-Narrativs und erzeugt einen starken Stadt-Land-Kontrast mithilfe der Geräusche von Straßenbahnen und Autos (vgl. Tomkowiak, 175). In den Heidi-Romanen lässt sich jedoch dieser inzwischen konventionalisierte Gegensatz zwischen Land und Stadt, Kultur und Natur unter akustischen Gesichtspunkten noch nicht feststellen. Aus der Romanstruktur und den Kapitelüberschriften geht hervor, dass die Erzählinstanz großen Wert auf die auditive Wahrnehmung und Beschreibung der Diegese legt. Die Kapitel des ersten Heidi-Romans sind zum Teil mit auditiven Attributen und Verben überschrieben (unruhig, hören, läuten): »VII. Fräulein Rottenmeier hat einen unruhigen Tag«, »VIII. Im Hause Sesemann geht’s unruhig zu«, »IX. Der Hausherr hört allerlei in seinem Hause, das er noch nicht gehört hat«, »XIV. Am Sonntag, wenn’s läutet« (Spyri 1880). Indem die Spannungskurve ansteigt, drängen sich die akustischen Irritationen in den Vordergrund. Was nicht zu sehen ist, wird gehört – so auch der Spuk, den Heidi im Haus der Familie Sesemann veranstaltet, während sie schlafwandelt. Heidi bringt nicht nur motorische, sondern auch akustisch vernehmbare Unruhe ins Haus. Der zweite Heidi-Roman weist keine entsprechende akustische Codierung in den Kapitelüberschriften auf; vielmehr wird allein in der allerletzten Kapitelüberschrift auf eine visuelle Wahrnehmung, das »Wiedersehen«, verwiesen: »Es wird Abschied genommen, aber auf Wiedersehen (Spyri 1881, 142). Eine homolog angelegte Metonymie des »Wiederhörens« findet ebenfalls nur im zweiten Heidi-Roman seine Verwendung, nämlich mit dem akustischen Effekt des hochalpinen Echos. An einem bestimmten Punkt der Erzählung pfeift der Oehi den Übeltäter Peter herbei, weil er ein Telegramm für die Großmutter in Frankfurt besorgen soll. Oehi und Peter verständigen sich über einen »Pfiff«, der sonst den Ziegen gilt. Dieser Pfiff wird vom Echo verdoppelt, so dass Peter schnell herbeieilt, um wiederum Herrn Sesemann mit dem Telegramm aus Frankfurt herbeizurufen (Spyri 1881, 147). Noch einmal wird das Echo erwähnt, wenn es das Juchzen eines
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Zum Einsatz von Volksmusik in einer arabischen Radiofassung des Heidi-Stoffs (1969) und dem universalen Ansatz in der japanischen Anime-Serie (1974) vgl. Jäggi 137–160. Erhellend in diesem Zusammenhang war auch die Ausstellung »Heidi in Japan« im Landesmuseum Zürich, 17.7.–13.10.2019.
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unbekannten Hirtenbuben (sound marks) allerdings nur so leise verstärkt, dass es die Ruhe, die Klara und Heidi in der alpinen Idylle gemeinsam genießen, nicht stört (Spyri 1881, 109). Folglich lässt sich aus den Kapitelüberschriften allein kein ästhetisches Primat – weder des Hörens noch des Sehens – für das narrative Konzept des Romans ableiten. Die Narration der Heidi-Romane ist vielmehr dem Prinzip der Synästhesie verpflichtet. Alle Sinne sollen angesprochen, die unterschiedlichen Sinneseindrücke zu einem wirksamen Gesamtgefüge kompiliert werden. Heidis Perzeption ihrer neuen Umgebung auf der Alm schließt das Sehen und Riechen der Blumen, das Schauen der Landschaft im Sonnenlicht, das Hören der Tannen und das Fühlen der frischen, kühlen Luft ein. Auch von gustatorischen Reizen berichtet die Erzählstimme, etwa wenn die vom Oehi bereiteten Speisen gegessen werden. Das synästhetische Prinzip wirkt jedoch nicht durchgängig im Roman, sondern besonders an jenen Stellen, die entscheidend für die Etablierung der Soundscape sind. Explizit erwähnt die Erzählstimme eine »Stille« und den damit verbundenen »Frieden«. Synästhetisch relevant sind die personifizierten Berge, die das Blickregime umkehren und selbst auf die Bewohner*innen herniederschauen, Blumen mit einem Namen, der an Klanginstrumente erinnert, und ein Schauen, das zum Trinken wird: Das Thal lag weit unten im vollen Morgenglanz; vor sich sah Heidi ein großes, weites Schneefeld sich erheben hoch in den dunkelblauen Himmel hinauf, und links davon stand eine ungeheure Felsenmasse und zu jeder Seite derselben ragte ein hoher Felsenthurm kahl und zackig in die Bläue hinauf und schaute von dort oben ganz ernsthaft auf das Heidi nieder. Das Kind saß mäuschenstill da und schaute ringsum, und weit umher war eine große, tiefe Stille; nur ganz sanft und leise ging der Wind über die zarten, blauen Glockenblümchen und die goldnen, strahlenden Cystusröschen, die überall herumstanden auf ihren dünnen Stängelchen und leise und fröhlich hin und her nickten. […] Dem Heidi war es so schön zu Muth, wie in seinem Leben noch nie. Es trank das goldne Sonnenlicht, die frischen Lüfte, den zarten Blumenduft in sich ein und begehrte gar Nichts mehr, als so da zu bleiben immerzu. So verging eine gute Zeit und Heidi hatte hatte so oft und so lange zu den hohen Bergstöcken drüben aufgeschaut, daß es nun war, als haben sie alle auch Gesichter bekommen und schauten ganz bekannt zu ihm hernieder, so wie gute Freunde. (Spyri 1880, 36–37) Ein solches kontemplatives, synästhetisch angelegtes Tableau wird von einem Geräusch gestört, das Aktion erfordert und somit einen narrativen Rhythmus erzeugt, etwa mit dem Geschrei eines Raubvogels. Dabei beobachtet die Erzählinstanz ihre Figuren sehr genau und schildert überzeugend und nachvollziehbar die menschliche Wahrnehmung von Geräuschen in der Umgebung. Denn für die Perzeption von Geräuschen ist es entscheidend, dass ihre Quelle identifiziert und die Relevanz
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für das eigene Handeln zur Flucht oder Gefahrenabwehr eingeschätzt werden kann. Gleichwohl Schallwellen um ein Vielfaches langsamer sind als Lichtwellen,4 sie also für gleiche Entfernungen deutlich mehr Zeit benötigen, können sie sehr viel schneller vom Ohr wahrgenommen und neuronal verarbeitet werden als visuelle Reize. Jetzt hörte Heidi über sich ein lautes, scharfes Geschrei und Krächzen ertönen, und wie es aufschaute, kreiste über ihm ein so großer Vogel, wie es nie in seinem Leben gesehen hatte, mit weitausgebreiteten Schwingen in der Luft umher, und in großen (sic!) Bogen kehrte er immer wieder zurück und krächzte laut und durchdringend über Heidi’s Kopf. (Spyri 1880, 37) Heidi hört Geräusche von oben, schaut nach oben und identifiziert sie als eine vermutlich ungefährliche Lautäußerung eines Raubvogels. Sie schlägt Peter vor, dem Vogel in die Höhe nachzusteigen. Heidi entdeckt nicht nur die Quelle des Geräusches, sondern leitet daraus auch eine mögliche Verhaltensweise ab. Ob sie wirklich ungefährlich wäre, bleibt dahingestellt.
Wind und Stille Als signifikantes Geräusch – als keynote sound –, das auf der Alm vorherrscht, muss das »Rauschen« oder auch »Sausen« und »Brausen« der großen Tannen hinter Oehis Hütte gezählt werden. Die Erzählinstanz berichtet von einer engen Verbindung der Hauptfigur mit dieser Geräuschkulisse, die zwischen Bedrohung und Aneignung gelagert ist. Je nach Wetter- und Gemütslage kann sie als »comforting sound« oder »sensational sound« bewertet werden. Aus Heidis Wahrnehmung und Erinnerung an diese natürliche Geräuschkulisse entsteht Zugehörigkeit, die sie später in Frankfurt entsprechend äußert: »Ich habe die Tannen rauschen gehört, aber ich weiß nicht, wo sie stehen, und höre sie nicht mehr«, antwortete Heidi und schaute enttäuscht nach der Seite hin, wo das Rollen der Wagen verhallt hatte, das in Heidi’s Ohren dem Tosen des Föhns in den Tannen ähnlich geklungen hatte, so daß es in höchster Freude dem Ton nachgerannt war. »Tannen! Sind wir im Wald? Was sind das für Einfälle!« […] Damit steig Fräulein Rottenmeier wieder die Treppe hinan; Heidi folgte ihr und stand sehr verwundert vor der großen Verheerung, denn es hatte nicht gemerkt, was es Alles mitriss vor Freude und Eile, die Tannen zu hören. (Spyri 1881, 109) Von der Beobachtung ausgehend, dass der Wind in den Tannen eine wichtige Rolle für die Soundscape in den Heidi-Romanen übernimmt, liegt es für die weitere 4
Schallgeschwindigkeit: 340m/sec; Lichtgeschwindigkeit: 300.000km/sec.
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Analyse nahe, die Geräusche und Klänge im Text nicht einzeln zu registrieren und zu kommentieren. Vielmehr bietet es sich an, die unterschiedlichen Prinzipien der Schallerzeugung für eine systematisierte Auswertung jener Geräusche und Klänge, die zahlreiche Orte der Handlung determinieren und zur Kommunikation zwischen den Figuren eingesetzt werden, zu nutzen. Eine erste Beobachtung betrifft die Unterscheidung zwischen intendiert-mittelbaren Klängen und nicht-intendierten, unmittelbaren Geräuschen. Zu den intendiert-mittelbaren Klangquellen gehören in den dicht besiedelten Kulturräumen zum Beispiel die Kirchenglocken des Dörflis, die Glocke an der Kirchentür in Frankfurt und die Klingel im Hause Sesemann: »Aber wie komm’ ich da hinein?« fragte Heidi, als es die festverschlossenen Thüren sah. »Weiß nicht«, war wieder die Antwort. »Glaubst du, man könne hier klingeln, so wie man dem Sebastian thut?« »Weiß nicht.« (Spyri 1880, 115) Glocken und Klingeln rufen Gläubige herbei oder das Dienstpersonal; sie öffnen damit Türen in mehrfacher Hinsicht. Solche Klänge, die durch einen Schlag auf ein speziell gegossenes Metall hervorgerufen werden, setzen zahlreiche Verarbeitungsschritte für die nötigen Rohstoffe voraus. Sie sind das Ergebnis eines komplexen Herstellungsprozesses, der ökonomisch und sozial determiniert ist. Das bereits erwähnte Tannensausen zählt hingegen zu den nicht-intendierten, unmittelbaren Geräuschen und wird vom Wind erzeugt: Das Frühroth glühte über den Bergen und ein frischer Morgenwind rauschte durch die Tannen und wogte die älten Äste mächtig hin und her. Das Heidi schlug seine Augen auf, der Ton hatte es erweckt. Dieses Rauschen packte das Heidi immer im Innersten seines Wesens und zog es mit Gewalt hinaus unter die Tannen. (Spyri 1881, 13) Die onomatopoetische Qualität des Wortes »Rauschen«, das ein schönes Geräusch mit seinem frikativen »sch« erzeugt, rückt überdies in die semantische Nähe des Rausches. Das »Rauschen« wirkt auf Heidi so stark wie ein Suchtmittel, das sie die Kontrolle verlieren lässt; mit »Gewalt« zieht das Rauschen das Kind hinaus. Als ›natürlich‹ charakterisierte Laute entstehen kontingent oder mittels einer spezifischen Körpertechnik. Auch Peter erzeugt Klänge, indem er Luft unmittelbar in Schwingung versetzt. Er nutzt die häufiger erwähnten »schrillen« oder »fürchterlichen Pfiff(e)«, um mit den Ziegen zu kommunizieren (vgl. Spyri 1880, 11, 28, 31, 46, 216; Spyri 1881, 15, 123). Die Ziege Distelfink trägt den Namen eines Vogels, der seinen Gesang ebenfalls unmittelbar mit der eigenen Atemluft erzeugt:
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Jetzt hörte man von unten herauf die Pfiffe des Peter ertönen, und bald kamen sie heraufgesprungen, die lustigen Gaißen alle, voran der flinke Distelfink in hohen Sprüngen. (Spyri 1881, 15) Die vielfältigen Geräusche und Klänge, die Heidis akustische Umgebungen näher bestimmen, tragen dazu bei, den Eindruck des Kulturellen oder des Natürlichen in den jeweiligen Handlungszusammenhängen zu erzeugen. Dessen ungeachtet läuft es jedoch letztlich auf die idealisierte Abwesenheit jeglichen Schalls hinaus. In diesem Sinn legen die Heidi-Romane eine implizite Fährte der Transzendenz, die sich in der Stille eröffnet. Obwohl oder gerade weil die Erzählstimme zahlreiche auditive Codierungen verwendet und ihre eigene oder auch den Figuren abgelauschte aurale Wahrnehmung genauestens schildert, führt die Entwicklung in die Höhe, die wiederum an die Stille gekoppelt ist: von der »Stille so hoch oben über allen Dörfern und Straßen«, schreibt Klara an Heidi (Spyri 1881, 80). Als die Freundinnen nachher beisammen sind, genießen sie »eine große Stille auf dem ganzen sonnigen Gefilde. Groß und still schauten die hohen Felsenberge herüber und das ganze, weite Thal hinab lag alles wie im stillen Frieden« (Spyri 1881, 109). Nur einzelne Geräusche durchdringen die ansonsten stille Welt der Hochalpen, ein Juchzen und sein Echo, das Geschrei eines Raubvogels oder das Rauschen der Tannen. Die allumfassende Stille verspricht Kontemplation, Orientierung und Ordnung. Bereits als der Doktor auf die Alm kommt und die Erzählstimme vorgreiflich das Romanende mit dem zukünftigen Trio Doktor, Oehi und Heidi exponiert, verstummt die Welt zur Mittagszeit: »der Wind hatte sich schon lange gelegt und die Tannen waren ganz still geworden« (Spyri 1881, 22). Nachdem Heidi dem Doktor drei Strophen aus Paul Gerhardts »Befiehl du deine Wege« (1653) rezitiert hat, heißt es: »Jetzt war Alles still.« (Spyri 1881, 35) Allerdings kennt die Erzählinstanz eine zweite Qualität der Stille, die sie von der transzendenten Erfahrung der Stille in der Natur streng unterscheidet. Denn auch in Frankfurt ist es still, jedoch in anderer Weise. Die Stille, die die Erzieherin und das Dienstpersonal den Kindern Heidi und Klara abnötigen wollen, ist die ambivalente Stille der Immobilität und der Lautlosigkeit. Zwischen dem Stillsitzen und dem Schweigen wird nicht unterschieden. Jene disziplinarische Stille, die Bernhard Dotzler einmal eindrücklich für die Literatur zur Reformpädagogik um 1800 mit den Maßnahmen des Festsetzens beschrieben hat (vgl. Dotzler), ist geisttötend und körperschädigend: »zum Lernen sitzt man still auf seinem Sessel und gibt Acht. Kannst du das nicht selbst fertig bringen, so muß ich dich an deinen Stuhl festbinden«, droht Rottenmeier dem Kind Heidi (Spyri 1880, 110). Die Figur der (psychosomatisch) an den Rollstuhl gefesselten Klara personifiziert diese kollektive Wut einer Gesellschaft, ihre jüngsten Mitglieder festsetzen zu wollen. Heidi unterläuft diese Gebote, weil sie Stille als einen befreienden Zustand des zumindest akustisch nahezu unbegrenzten Raums kennengelernt hat. Es bedarf keines Lautes in einem
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Raum, keiner Pfiffe, keines Krächzens, keiner Stimmen. Ihr Keynote Sound ist – die Abwesenheit von Sound. Seit ihrer Zeit auf der Alm kennt sie jene Stellen in der Landschaft, an der ihr auch die Soundscape innere Zufriedenheit verschafft: Oben angelangt, führte das Heidi seinen guten Freund gleich auf die schöne Stelle, wohin es immer ging und sich auf den Boden setzte und umherschaute, denn da gefiel es ihm am besten. Es that, wie es gewohnt war und der Herr Doktor ließ sich gleich auch neben Heidi auf den sonnigen Weidboden nieder. Ringsum leuchtete der goldene Herbsttag über die Höhen und das weite, grüne Thal. Von den unteren Alpen tönten überall die Herdenglocken herauf, so lieblich und wohltuend, als ob sie weit und breit den Frieden einläuteten. Auf dem großen Schneefeld drüben blitzten funkelnd und flimmernd goldene Sonnenstrahlen hin und her, und der graue Falknis hob seine Felsentürme in alter Majestät hoch in den dunkelblauen Himmel hinauf. Der Morgenwind wehte leise und wonnig über die Alp und bewegte nur sachte die letzten blauen Glockenblümchen, die noch übrig geblieben waren von der großen Schaar des Sommers und nun noch wohlig ihre Köpfchen im warmen Sonnenscheine wiegten. Obenhin flog der große Raubvogel in weiten Bogen umher; aber er krächzte heute nicht; mit ausgebreiteten Flügeln schwamm er ruhig durch die Bläue und ließ sich’s wohl sein. Das Heidi guckte dahin und dorthin. (Spyri 1881, 30–31) Diese erneut synästhetisch ausgestaltete Szenerie, die den Doktor mit seiner künftigen Ziehtochter Heidi zusammenführt, arbeitet mit explizit erwähnten Seh- und Höreindrücken. Die Kulisse der »Herdenglocken«, die der Wind zu den Figuren hinaufträgt, vermittelt zwischen den Sphären der natürlichen und kulturellen Klangräume. Visuelle Codes dominieren die Szene, und wir – als Leser*innen – hören nur mehr die Herdenglocken und: die Erzählstimme.
Stille und Stimme Narrative Texte werfen eine Reihe von Frage nach ihrer Vermittlung auf: Wer spricht? Wer beobachtet das Erzählte? Was wird ausgespart, was wird mitgeteilt? Wer weiß was? Die Erzählinstanz sorgt für die Selektion und Anordnung der Narrateme. Erzählstimmen berichten von Schiffbrüchen, ohne selbst unterzugehen (vgl. Blumenberg); sie nähern sich an Verbrechen oder Intimitäten an; sie beschreiben Klänge, die kein Mensch mehr hören kann. Der Prozess des Lesens, von dem die Heidi-Romane nicht nur hintergründig erzählen, evoziert eine innere Stimme, die den Text erzählt (Herrmann, 32). Je stiller es in der Diegese wird, desto deutlicher tritt die narrative Vermittlung der Erzählinstanz in den perzeptiven Vordergrund. Es handelt sich um eine extradiegetischeheterodiegetische Erzählstimme, die weder der erzählten Welt angehört noch an
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den Handlungen der Figuren beteiligt ist. Wir können von einer Nullfokalisierung ausgehen, die von innerlichen Gemütsregungen ebenso wie von äußeren Ereignissen zu erzählen weiß. Heidi stellt für die Erzählinstanz offenbar ein pädagogisches Projekt dar, das es zu erziehen und von dem es zu erzählen lohnt. Sie präsentiert ihre Hauptfigur deshalb als interessanter und zuwendungsbedürftiger als Klara, den Ziegenpeter oder den Jungen mit der Drehorgel. Die Art und Weise, mit der die Erzählinstanz spricht (insbesondere die Syntax, der Moduswechsel, die didaktisch anmutenden stabilen Attributformeln und Diminutive), lässt auf eine etwas ältere, weiblich sozialisierte, theologisch gebildete Erzählerin schließen, die geordnete bürgerliche, aber keine bourgoisen Verhältnisse kennt. Vor allem schätzt sie Ruhe als sozialen Wert. Sie ist weniger gut situiert als Großmama Sesemann; dabei hat sie zwar kaum Sympathie, aber durchaus Empathie für die von ihrem Dienstherren vollkommen abhängige Hauslehrerin Rottenmeier. Der autoreflexiv angelegte Roman thematisiert auf einer Metaebene den Zugang zur Literatur. Die Androhung Rottenmeiers, dem Kind das von der Großmama geschenkte Buch abnehmen zu wollen, weil es die Technik der stillen Lektüre nicht beherrscht und laut schreiend auf die fiktionalen Geschehnisse reagiert, führt bei Heidi zur spontanen Verinnerlichung der lautlosen Lesetechnik: Heidi wurde ganz weiß vor Schrecken, das Buch war sein höchster Schatz. Es trocknete in größter Eile seine Thränen und schluckte und würgte sein Schluchzen mit Gewalt hinunter, so dass kein Tönchen mehr laut wurde. Das Mittel hatte geholfen, Heidi weinte nie mehr, was es auch lesen mochte; aber manchmal hatte es solche Anstrengungen zu machen, um sich zu überwinden und nicht aufzuschreien, dass Klara öfter ganz erstaunt sagte: »Heidi, du machst so schreckliche Grimassen, wie ich noch nie gesehen habe.« Aber die Grimassen machten keinen Lärm und fielen der Dame Rottenmeier nicht auf, und wenn Heidi seinen Anfall von verzweiflungsvoller Traurigkeit niedergerungen hatte, kam Alles wieder in’s Geleise für einige Zeit und war tonlos vorübergegangen. (Spyri 1880, 172) Lesend bekehrt Heidi kurze Zeit später den Alm-Oehi zur reuevollen Rückkehr in die Dorfgesellschaft, indem sie ihn mit der Geschichte vom verlorenen Sohn konfrontiert: »Heidi’s Lieblingsgeschichte, die es immer wieder las, laut und leise […]« (Spyri 1880, 164–165). Wenn die Augen erblinden, wie es Peters Großmutter widerfährt, dann ist es nicht mehr ohne weiteres möglich, selbst zu lesen und einer inneren Stimme zu lauschen. Mit einer entsprechenden Bitte endet der zweite HeidiRoman: »Heidi, lies mir ein Lob- und Danklied! Es ist mir, als könne ich nur noch loben und preisen und unserem Gott im Himmel Dank sagen für alles, was er an uns gethan hat.« (Spyri 1881, 178) Heidis Stimme wird die tröstliche Soundscape für die Großmutter abgeben. Bereits am Ende des ersten Romans liest ihr das Kind aus Paul Gerhardts Morgenlied »Die güldne Sonne voll Freud und Wonne« (1666) vor. In der letzten Strophe preist das lyrische Ich die »selige Stille« im Paradies. Damit ist
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jene Stille der Transzendenz angesprochen, die innere wie äußere Räume mit einer christlich überhöhten Todeserwartung füllt. Indem die Stille erhofft wird, zeichnet sich ein Ausweg aus »Kreuz und Elende«, »Brausen« und »Sausen« ab: Kreuz und Elende – Das nimmt ein Ende, Nach Meeresbrausen Und Windessausen Leuchtet der Sonne erwünschtes Gesicht. Freude die Fülle Und selige Stille Darf ich erwarten Im himmlischen Garten, Dahin sind meine Gedanken gericht’. (Spyri 1880, 223–224) Die intertextuell mit Gerhardts barockem Kirchenlied verknüpfte »selige Stille« gestaltet die religiöse Dimension in Spyris Heidi-Romanen aus. Ein naheliegender Bezugspunkt ist außerdem das Werk von Johanna Spyris Mutter, der geistlichen Dichterin Meta Heusser-Schweizer. In ihrer Gedichtanthologie von 1863 erscheint zum einen die leise Annäherung an die Erhabenheit der Berge (»Die Berge«, 1825).5 Zum anderen ist Heussers Gedicht »Sei still!« eine Übungsanleitung in pietistischer Demut, die Imperative wie »Schweige still« und »Halte still« verwendet. In der fünften von sechs Strophen bittet das lyrische Ich um die Gnade, demütig sein zu können: Herr, mein Gott! Gieb mir Gnade, still zu schweigen, Still zu halten, mich zu beugen Deiner Führung Machtgebot, Herr mein Gott! (Heusser-Schweizer, 112f.) Neben diesen intertextuellen Referenzen ist darauf hinzuweisen, dass das »Stillen« von Säuglingen deshalb so heißt, weil sie sich dann still verhalten. Heidi wird gleichsam literarisch genährt, d.i. gestillt. Am Ende beider Romane hat sie zwar äußere wie innere Ruhe bei der Lektüre gefunden; aber dies schließt auch die Entwicklungsoption ein, eine innere skeptische Haltung gegenüber der Lektüre zu entwickeln, wie es in der religiösen Kommentarpraxis bereits für die lesenden und kopierenden Mönche mittelalterlicher Skriptorien möglich gewesen war (Grieß, 197–199). Erst im Laufe des 18. Jahrhunderts eröffnet sich auch den Mädchen und Frauen die Möglichkeit, sich der paternalen Kontrolle durch ihre stille Lektüre zumindest zeitweise
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»Die Berge (1825)./ Wie stehn sie da, der ew’gen Allmacht Zeugen,/ Die Berge Gottes hoch und hehr!/ Wem sie in ihrer Herrlichkeit erschienen,/ Der sehnt sich leise hin, als ob von ihnen/ Nur noch ein Schritt zum Himmel wär’!« (Heusser-Schweizer, 6)
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zu entziehen (vgl. Messerli, Schneider, Residenzgalerie Salzburg). Der Kompetenzzuwachs durch die sozial breit angelegten Alphabetisierungskampagnen erzeugte somit auch bildungspolitisch nicht-intendierte Effekte und wurde jungen Mädchen häufig als Eskapismus ausgelegt. »Soundscape. Landscape. Escape«, hat Jonathan Sterne passenderweise einmal gedichtet (Sterne, 181).
Abbildungen 3–5: Topos des lesenden Mädchens: links Emil Rau (1858–1937), »Lesendes Mädchen«; mittig Franz Eybl, »Lesendes Mädchen« (1850); rechts Jean-Baptiste Camille Corot, »Lesendes Mädchen« (1850/55)
Somit lässt sich vom ersten zum zweiten Heidi-Roman eine metanarrative Entwicklungstendenz beobachten. Wenn Heidi lesen lernt, dann schließt dies nicht allein das Textentziffern und -verstehen ein sowie die Möglichkeit, sich in alternative Welten hineinzudenken. Darüber hinaus erlernt sie eine Technik, um die äußeren und inneren Stimmen der Literatur zu artikulieren: laut für die Großmutter oder leise in ihrer eigenen stillen Lektüre: »[…] sobald du nun lesen kannst, bekommst du das Buch, da kannst du seine ganze Geschichte vernehmen, ganz so, als ob sie dir Jemand erzählte […]«, verspricht die Frankfurter Großmama dem Mädchen (Spyri 1880, 157). Heidi lernt in aller Stille lesen und hat damit auch Zugang zu einer inneren Stimme, die wir als Leser*innen just dann selbst erfahren, wenn uns von diesem Prozess von unserer eigenen inneren Stimme bei der stillen Lektüre des Romans erzählt wird.
Fazit Die Soundscapes in Johanna Spyris Heidi-Romanen zu untersuchen, hat folgende vorläufige Ergebnisse erbracht: Ausgehend von den in der Forschung identifizier-
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ten konventionellen Soundscapes, die maßgeblich in filmischen und auditiven Medienprodukten des 20. Jahrhunderts geformt wurden, galt es zunächst daran zu erinnern, dass Spyris Heidi-Romane vor der Etablierung akustischer und filmischer Speichermedien entstanden. Der Blick zurück auf einen Romantext erfordert, die narrativen Strategien für den Einsatz von auditiven Codes zu berücksichtigen. Zwar lassen sich Texte als Überlieferungsarchiv für historische Soundscapes lesen, jedoch nur unter der Maßgabe, dass ihr narrativer Konstruktcharakter entsprechend erkannt wird. Natürliche, d.h. nicht-intendierte und unmittelbare, von Wind und Atem getragene Schallquellen prägen die Soundscape der Alm (Stimmen, Pfiffe, Tannenrauschen) und werden zunächst mit kulturell prozessierten Schallquellen wie Glocke und Klingel kontrastiert, schließlich aber mit dem für die Alm typisierten Keynote Sound der vom Wind »herauf getragenen« Herdenglocken zusammengeführt. Der aus heutiger Perspektive erwartbare starke Kontrast zwischen einer urbanen und alpinen Soundscape spielt für Spyris Texte noch keine exponierte Rolle. Sowohl für die wohlhabende Umgebung in Frankfurt als auch die ärmliche Lebenswelt im Hochgebirge gilt das Ideal der Stille, das diskursiv teils mit gottgegebener Freiheit und teils mit menschengemachter Disziplin verknüpft wird: »Heidi’s Delight« erwächst aus der stillen Lektüre. Im Verlauf beider Heidi-Romane wird die Verarbeitung äußerer auditiver Signale zugunsten eines intrinsisch motivierten Erlernens der stillen Lektüretechnik abgelöst, die wiederum eine innere Stimme evoziert. Weil die ideale Soundscape in diesen Romanen die Abwesenheit von Schall anstrebt, kommen sowohl die Erzählstimme, die davon erzählt, als auch die Technik des inneren Hörens umso stärker zur Geltung. Heidis Praxis der stillen Lektüre macht die metanarrative Konstruktion der Erzählung und ihrer inneren Stimme greifbar; sie ist an narratologische, semiotische und religiöse Interpretationsansätze anschließbar.
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Herrmann, Britta. »Literatur und Stimme.« Handbuch Literatur & Audiokultur, hg. von Natalie Binczek und Uwe Wirth, de Gruyter, 2020, 27–43. Heusser-Schweizer, Meta. Gedichte. Otto Holtze, 1863. Messerli, Alfred. »Leser, Leserschichten und -gruppen. Lesestoffe der Neuzeit (1450–1850).« Buchwissenschaft in Deutschland, hg. von Ursula Rautenberg, de Gruyter, 2010, 443–502. Mieszkowski, Sylvia, und Sigrid Nieberle (Hg.). Unlaute. Noise/Geräusch in Kultur, Medien und Wissenschaften seit 1900. transcript, 2017. Mildorf, Jarmila und Till Kinzel. »Audionarratology. Prolegomena to a Research Paradigm Exploring Sound and Narrative.« Audionarratolgy. Interfaces of Sound and Narrative, hg. von Jarmila Mildorf und Till Kinzel, de Gruyter, 2016, 1–26. Residenzgalerie Salzburg (Hg.). StillLesen. Malerei des 17. Bis 19. Jahrhunderts. Katalog zur Ausstellung 23.11.2001-3.2.2002, Residenzgalerie Salzburg, 2001. Schneider, Ute. »Frühe Neuzeit.« Lesen – Ein interdisziplinäres Handbuch, hg. von Ursula Rautenberg, de Gruyter, 2015, 739–776. Spyri, Johanna. Heidi kann brauchen, was es gelernt hat. Eine Geschichte für Kinder und auch für Solche, welche die Kinder lieb haben. Perthes, 1881. Spyri, Johanna. Heidi’s Lehr- und Wanderjahre. Eine Geschichte für Kinder und auch für Solche, welche die Kinder lieb haben. Von der Verfasserin von »Ein Blatt auf Vrony’s Grab«. Perthes, 1880. Sterne, Jonathan. »Soundscape, Landscape, Escape.« Soundscapes of the Urban Past. Staged Sound as Mediated Cultural Heritage, hg. von Karin Bijsterveld, transcript, 2013, 181–193. Tomkowiak, Ingrid. »Mit dem österreichischen »Heidi« in die Sechziger Jahre.« Kindheit, Kindheitsliteratur, Kinderliteratur. Studien zur Geschichte der österreichischen Literatur. Festschrift für Ernst Seibert, hg. von Gunda Mairbäurl et al., Praesens, 2019, 165–180.
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Klang und Identität Heidis Soundtracks der 1950er und 1960er Jahre Cornelia Bartsch
Egal ob es um Gruppenidentitäten, nation building oder die individuelle Subjektkonstitution geht: Die Bedeutung von Musik für die Identitätskonstruktion ist kaum strittig. Dabei wird die doppelte Bedeutung von Subjekt – einerseits als Agens der eigenen Erzählung und andererseits zugleich als den gesellschaftlichen Erzählungen Unterworfenes – in Anbetracht der fluiden und schwer greifbaren Semantik des ›Mediums‹ Musik besonders deutlich. Denn wer spricht eigentlich durch die Musik und vor allem: Wie funktionieren Semantisierungen, die im Gebrauch von Musik für das Selbsterzählen produktiv werden? Oder braucht es diese gar nicht? Zudem ist Musik imstande, virtuelle Topographien zu schaffen: Sie kann ein Wohnzimmer in einen Konzertsaal oder eine Kirche verwandeln oder eine lateinamerikanische Metropole in eine europäische Großstadt, um hier ein Beispiel aus der Kolonialgeschichte zu wählen (vgl. Magaldi). In Spyris Erzählungen spielen Klänge und Stille sowie deren verschiedene Erscheinungsformen auf der Alp bzw. in der Stadt eine wichtige Rolle für die Entwicklung insbesondere der Hauptfigur – wenn auch gerade nicht so, wie wir es vor dem Hintergrund unserer heutigen Vorstellungen der gegensätzlichen Soundscapes von Alpenlandschaft und Großstadt vielleicht erwarten würden.1 Musik kommt dagegen in den Romanen fast nicht vor. Ganz anders ist es in den Verfilmungen, die von Anfang an eine große Nähe zur Musik aufweisen: Nicht nur Shirley Temple tanzt in der Hollywoodproduktion von 1937, auch eine indische Filmadaptation von Spyris Romanen aus dem Jahr 1958 ist voller Tanz- und Gesangseinlagen und selbst die Heidi in der Schweizer Produktion von 1952, die der ›falschen Hollywood-Heidi‹ das Original entgegensetzen wollte (vgl. Tomkowiak), singt. Im Folgenden soll es anhand von vier Filmen aus den 1950er und 1960er Jahren um die Frage gehen, ob und wie die jeweiligen Filmmusiken mit Sound und Klang verbundene Erzählstränge aus den Romanen aufgreifen, und wie sie diese dann – im Rahmen ihrer jeweiligen kulturellen und politischen Kontexte – für die Produktion ganz anderer Identitäten nutzen. Dabei rückt mit den geopolitischen 1
Vgl. hierzu den Beitrag von Sigrid Nieberle in diesem Band.
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Neuordnungen der 1950er und 1960er Jahre auch die »Reorganisation« der Familien- und damit auch Geschlechterverhältnisse in den Fokus. Mit ihren nicht nur auf den zweiten Blick vielfältigen Figuren – einem Waisenkind, einem armen Ziegenhirten, einem gehbehinderten, wohlhabenden Mädchen, einer blinden Großmutter, einem einsiedlerischen Großvater, verschiedenen Hausbediensteten u.a.m. bieten die Romane den Filmhandlungen eine Vielzahl von Anknüpfungsmöglichkeiten für die Frage nach Differenz, Abgrenzung und nach Zugehörigkeiten: für die Frage, wer hier eigentlich zu wem gehört, die in den 1950er und 1960er Jahren in verschiedener Hinsicht höchst relevant war. Die Auswahl der Filme bietet interessantes Material, um Narrative der Zugehörigkeit tatsächlich anhand des ›Hörens‹ – des Klangs und der Musik – zu verfolgen. Der nur sieben Jahre nach dem zweiten Weltkrieg gedrehte Schweizer Film von 1952 (Regie: Luigi Comencini, Musik: Robert Blum) und die weitgehend auf demselben Drehbuch basierende Produktion der BRD und Österreichs von 1965 (Regie: Werner Jacobs, Musik: Franz Grothe) verlegen die (abgewandelte) Handlung jeweils etwa in die Entstehungszeit der Filme, sodass die Reibungen zwischen einer filmmusikalisch ähnlicher Gesamtdramaturgie bei gleichzeitig teilweise diametral unterschiedlichen Musiken in der Analyse produktiv werden können. Der indische Film Do Phool (dt.: Zwei Blüten, Regie: Abdul Rasihd Kardar, Musik: Vasant Dasai) von 1958 bringt die Unabhängigkeit Indiens von der britischen Kolonialherrschaft und damit transkulturelle Aspekte in den Diskurs um die politischen Neuordnungen der 1950er und 1960er Jahre ein. Der zeitlich letzte Film der Auswahl von 1968, eine Gemeinschaftsproduktion der USA und der BRD, scheint zwar auf den ersten Blick mit geopolitischen Identitäten nichts zu tun zu haben. Im Ensemble mit den anderen Filmen betrachtet, rückt er jedoch die Parallelisierung von nationalen und individuellen Fortschrittsnarrativen in den Fokus. Vor diesem Hintergrund erweisen sich die Filmmusiken, so die These, weniger als Resonanz auf bestimmte zeitpolitische Phänomene. Vielmehr zeigt sich darin die Funktion von Musik im Rahmen individueller und kollektiver »Technologien des Selbst«: als Teil alltagspraktischer Aktivitäten, mit denen Menschen im Spannungsfeld von Selbstermächtigung und Unterwerfung ein Verhältnis zu sich selbst und zur Gesellschaft herstellen (vgl. Reckwitz, 16–17) – und die die Filme gleichermaßen nutzen, wie sie auch daran beteiligt sind.
Eigenwilliges Echo? – Music as Technology of Self Relativ am Beginn des Schweizer Heidi-Films von 1952 gibt es eine Szene, die Johannes Binotto zu der Metapher vom »eigenwilligen Echo« anregt. Ebenso eigenwillig wie das Echo, das Peters Schimpfworte mit Schweigen beantwortet, sei der Umgang der jeweiligen Regisseure mit dem zugrundeliegenden Stoff (Binotto, 90).
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Bemerkenswert ist die Szene jedoch vor allem hinsichtlich einer den Klang betreffenden kognitiven Dissonanz: Obwohl die Klänge, die wir hören – Echo, Jodeln und Jodellied – und die alle als Key-Sounds der Alpenlandschaft gelten können – in den Romanen nicht oder zumindest nicht prominent vorkommen, verweist die Szene auf einen Aspekt der narratologischen Funktion von Klang, den Spyri offenbar sehr bewusst einsetzt. Denn das Lauschen nach dem Echo, das im Zentrum der Szene steht, auch das Rufen ins Echo hinein – mithin die Überlagerung gegenwärtiger und vergangener Klänge – und selbst die »akustische Heimsuchung« der (unheimlichen) Stille, als das Echo der von Peter ausgestoßenen Flüche ausbleibt – rückt eine Verbindung zwischen Hören und Erinnerung in den Fokus, die in den Romanen zentral und auch für das erzählerische Potenzial von Musik essentiell ist. In den Romanen ist die Verbindung zwischen Lauschen, Erinnerung und Identitätskonstruktion vor allem durch den Klang des Windes in den Tannen hinter dem Haus des Großvaters präsent. Dieses Naturgeräusch, das bei Spyri als klangliches Leitmotiv fungiert, ist zwangsläufig mit Bewegung verbunden – und weist damit eine Qualität auf, die in den letzten zwei Jahrzehnten auf ganz unterschiedlicher Materialgrundlage, mit unterschiedlichem Fokus – und auch im Rekurs auf ältere Quellen zur ästhetischen Wirkung von Musik seit dem 18. Jahrhundert – als essenziell für die Fähigkeit der Musik zu erzählen hervorgehoben wurde (vgl. u.a. Hatten; Agawu; Stollberg). Als hätte Spyri Johann Gottfried Herder oder Jean Jacques Rousseau studiert, die im Streit um die Frage nach der schwer fassbaren unmittelbaren Wirkung von Musik, die Eigenschaft des Klangs hervorhoben, Körper durch Mitschwingvorgänge oder durch Mimesis in Bewegung zu versetzen (vgl. zusammenfassend Käuser), setzt sie diese Verknüpfung narratologisch ein. Schon bei Heidis erster Begegnung mit dem Geräusch, das die durch den Wind sich bewegenden Tannenzweige verursachen, wird dies deutlich: »Da blies der Wind durch die Äste so stark, dass es sauste und brauste oben in den Wipfeln. Heidi blieb stehen und hörte zu.« (Spyri 1880, 20). Während der Klang hier bewirkt, dass Heidi ihre eigene Bewegung unterbricht, um sich auf das Lauschen zu konzentrieren, löst die folgende Begegnung innere Regungen aus, die dann auch den Körper in Bewegung versetzen: »Das [mächtige Sausen des Windes in den Wipfeln, CB] tönte dem Heidi so schön in den Ohren und ins Herz hinein, daß es ganz fröhlich darüber wurde, und hüpfte und sprang unter den Tannen umher, als hätte es eine unerhörte Freude erlebt.« (Spyri 1880, 28) In Frankfurt wird die Erinnerung an das Rauschen des Windes in den Tannen zu einer Art akustischen Heimsuchung, die Heidi vor die Tür treibt: »Ich habe die Tannen rauschen gehört, aber ich weiß nicht, wo sie stehen, und höre sie nicht mehr.« (Spyri 1880, 109) Bemerkenswert ist auch die Beschreibung der Großmutter Sesemann, ihrer wichtigsten Verbündeten in Frankfurt, deren Erscheinung mit ihren schönen weißen Haaren und den Bändern ihrer Spitzenkrause Heidi an die Bewegung der Tannen erinnert: Diese »bewegten sich immer irgendwie, so als ob stets ein leichter Wind um die Großmama wehe, was das Heidi ganz besonders
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anmuthete.« (Spyri 1880, 152) Während hier die Bewegung den Klang ›ersetzt‹, geht der Wind in den Tannen am Ende – beim Essen der Gesellschaft Sesemann vor der Alphütte des Großvaters – in Musik über: »Ein milder Wind fächelte den Tischgenossen liebliche Kühlung zu und säuselte drüben in den Tannen so anmuthig, als wäre er eine eigens zum Feste bestellte Tafelmusik.« (Spyri 1881, 93–94) Anders als Key-Sounds im literarischen Erzählen sind Leitmotive in der Musik nichts Ungwöhnliches, sondern ein probates Mittel musikalischen Erzählens, anhand dessen auch der Konnex zwischen Erinnerung, inneren Bewegungsbildern und der Semantisierung von Musik erkennbar wird (vgl. Jeßulat). Es ist daher nicht verwunderlich, dass Filmmusiken mit Leitmotiven arbeiten. Bemerkenswert im Hinblick auf die hier untersuchten Filme ist indes, wie eng insbesondere die Musiken der Filme von 1952 und 1965 an Spyris ›Klang-Narrateme‹ anknüpfen, obwohl die Rolle der Musik in der Filmhandlung sich grundlegend von der in den Romanen unterscheidet. So entspricht dem literarischen Key-Sound des Windes in den Tannen in den Filmen das zentrale Leitmotiv der Soundtracks, das ich hier als »Alpenmelodie« bezeichnen möchte. Es erklingt in beiden Filmen erstmals in der Eingangsmusik, beim ersten Kameraschwenk über das Alpenpanorama – und im Verlauf beider Filme immer wieder dann, wenn Heidi sich an die Berge erinnert. Die funktionelle Nähe zu Spyris Key-Sound ergibt sich jedoch erst aus seiner Verknüpfung mit Heidis Bewegungsfreude und Lebendigkeit als Gegensatz zur disziplinierten Bewegungslosigkeit im Haus Sesemann. So treibt die ›Alpenmelodie‹ Heidi (in beiden Filmen) beim ersten Erwachen in Frankfurt aus dem Bett und ans Fenster; sie erklingt während Heidis Aufstieg auf den Kirchturm bei ihrem unerlaubten Stadtausflug – und bricht in beiden Szenen jeweils ab, wenn Heidi statt der Berge Straßenschluchten erblickt. Im Film von 1952 erklingt die Melodie zudem – in einer leicht verzerrten und durch kleine harmonische Änderungen ›unheimlichen‹ Variante – während der Schlafwandel-Szenen. Die Filmmusiken scheinen hierbei ein erst in den letzten Jahrzehnten näher untersuchtes Phänomen zu nutzen, das durchaus mit den oben erwähnten Studien zur musikalischen Narratologie zusammenzudenken ist, dabei jedoch weniger auf den Gegenstand der Musik als auf die Menschen und ihren alltäglichen ›Gebrauch‹ von Musik abzielt. So hat die britische Musiksoziologin Tia DeNora gezeigt, wie das Hören von Musik mit biographischer Schlüsselfunktion – »biographically key music« (DeNora, 63) – der aktiven Re-Konstruktion der eigenen Biographie und der Selbstvergewisserung in der Gegenwart dient. Dabei rückt wiederum der Konnex von Musik und Bewegung in den Fokus. Denn de Nora zeigt anhand von Interviews mit zahlreichen Probanden, wie die für musikalische Zeitverläufe typischen Strukturen der Wiederholung –etwa rhythmische Patterns oder wiederkehrende melodische Motive – eine Art emotional aufgeladene und eingekörperte »innere Grammatik« bereitstellen, die Begebenheiten aus der Latenz oder aus dem Unbewussten ins Gedächtnis zurückholen, verlebendigen und auf diese Weise für das (re)konstruieren-
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de Erzählen – z.B. der eigenen Geschichte – aktivieren (DeNora, 66). Musik (hören) wird in diesem Sinne sehr konkret als verkörperte soziale Praxis erkenn- und analysierbar, in der sich das Selbst durch den Gebrauch von Musik – im Spannungsfeld von (Selbst)Ermächtigung und ›Unterwerfung‹ als gesellschaftliches Subjekt kreiert. Als soziale Praxis in diesem Sinne werden auch die Musiken der ausgewählten Filme im Folgenden näher betrachtet.
Liedersingen: Heidi singt (nicht) – filmmusikalisches Nationbuilding Das Lieder(mit)singen gehört, wie auch DeNoras Studie deutlich macht, zu den zentralen musikalischen »Technologien des Selbst«. Liedersingen als soziale Praxis kann intimer Selbstausdruck eines Individuums im Privaten sein oder Gemeinschaftspraxis, die auf verschiedenste Art in der Öffentlichkeit Gruppenidentitäten konstituiert (Hottmann, 11). Beim Liedersingen erklingt die eigene Stimme, der seit dem 18. Jahrhundert eine unmittelbare Verbindung zur ›Seele‹ bzw. dem Herzen – und damit zugleich auch eine metaphysische Aura – zugeschrieben wird. Diese Aufladung der Stimme als Verbindung zum innersten Kern einer Person und zu einer metaphysisch-göttlichen ›Wahrheit‹ ist auch in Spyris Romanen bedeutsam. Heidi singt jedoch explizit nicht: Sie liest der Großmutter die Lieder aus dem Gesangbuch vielmehr vor. Menschliches Singen hört sie nur einmal in der Kirche im Dörfli, wobei das eigentliche akustische Ereignis die Störung des Gemeindegesangs beim Eintritt Heidis und des Oehis in die Kirche ist (Spyri 1880, 232). Ungestört singen bei Spyri nur die Insekten, die Heidi bei ihrer Rückkehr auf der Alp begrüßen (Spyri 1881, 77). In dreien der untersuchten Filme ist (Heidis) Liedersingen hingegen zentral, wobei die Verknüpfung zwischen Selbstausdruck und der Konstituierung von Gruppenidentitäten sowohl explizit als Teil der Filmhandlung als auch subtiler im Rahmen einer eigenständigen Narration der Filmmusik eingesetzt wird. Im Schweizer Heidi-Film von 1952 steht hierfür das Lied »Lueged vo Bergen und Thal«, das zusammen mit der damit verwandten instrumentalen ›Alpenmelodie‹ als zentrales Leitmotiv der Filmmusik fungiert. Es erklingt – nach einer leicht umspielten, solistisch mit Violine und Horn besetzten Variante dieser ›Alpenmelodie‹ als Introduktion – erstmals in der zweiten signifikanten Gesangs-Szene des Films (Comencini, 0:16:25-17:15). Nach einem Kameraschwenk über die Alphütte im Abendlicht sehen wir Heidi und den Oehi vor der Hütte an einem Tisch sitzen (Comencini, 15:26–16:24). Während die ›Alpenmelodie‹ im Hintergrund durchgängig hörbar bleibt, sprechen die beiden über das bevorstehende Glockenfest im Dörfli, an dem Heidi gerne teilnehmen und mit den anderen Kindern die neue Glocke auf den Kirchturm ziehen möchte. Den durch die ablehnende Haltung des Oehi sich abzeichnenden Konflikt überbrückt Heidi mit dem Vorschlag das Kommunikationsmedium zu wechseln und stimmt das Lied »Lueged vo Bergen und Thal«
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an, in das der Großvater mit dem zweiten Vers im Wechselgesang einfällt. Nach wenigen Versen gehen die beiden Stimmen in (extradiegetischem) Chorgesang auf, während die Kamera über die Bergwipfel schwenkt. Es folgt ein Schnitt und man sieht Heidi und den Oehi ins Dörfli hinabwandern, aus dem eine Blaskapelle heraufklingt, von deren Klängen sie, unten angekommen, schließlich umgeben sind. Diese gleich zu Beginn des Films als Vorausschau auf das Ende inszenierte und christlich gerahmte »Rückkehr« des Oehi in die Gemeinschaft des Dörfli, die der Film zum Gravitätszentrum der Handlung macht, wird durch das Lied in ein noch größeres Identitätsnarrativ eingebunden. Regina Schmidt bezeichnet das Lied gar als »Heimwehlied der (Deutsch)Schweizer« (Schmidt, 270) bzw. der »Schweizer in aller Welt« (Schmidt, 287) – und macht damit auch den schillernden Charakter des mit der Geschichte des Liedes verbundenen Heimwehbegriffs deutlich. Als »Abendlied der Wehrliknaben zu Hofwil« 1823 von Joseph Anton Henne (1798–1870) gedichtet und wenig später von Ferdinand Fürchtegott Huber (1791–1863) komponiert, ist das Lied mit der auch in vielen Teilen Deutschlands im frühen 19. Jahrhundert entstehenden Sängerbewegungen eng verknüpft. Dichter und Komponist waren zur Entstehungszeit des Liedes Lehrer an der Armenschule zu Hofwil, einer Abteilung der Erziehungsanstalten Carl Philipp Emanuel Fellenbergs, der gemeinsam mit Georg Nägeli »das aus dem ›Volk‹ geschöpfte, für das ›Volk‹ geschaffene moralisch wertvolle Lied« als Mittel der Volkserziehung, insbesondere der unteren Stände propagierte (Schmidt, 278). Der Trompeter und Komponist Ferdinand Huber war zugleich »Förderer des Alphorns« (Ammann et al., 17), dem es gelang, dieses Instrument technisch so weiterzuentwickeln, dass damit dreistimmig musiziert werden konnte. Als Erfinder des »Jodelliedes« und wegen der Integration der Alphornmelodik in seine Volkslieder wurde Huber im Nachhinein dafür gewürdigt, dass er mit Alphorn und Jodel »Urelemente unserer Alpenmelodik« wiederbelebte, wie der Schweizer Musikwissenschaftler Walter Rüsch formulierte (Rüsch, 9). Rüsch sieht in dieser auf Dreiklangsbrechungen und Naturtönen beruhenden Melodik noch mehr: »Das Erlebnis der Alpenlandschaft […], die in ihren Sexten, Terzen und Oktaven die ganze Weite umschliessen will. Die Landschaftsform ist gleichsam durch das Gefühl zu einem Klangbild geworden, und so stehen wir hier lauschend an der Geburtsstätte musikalischer Urelemente« (ebd.). Das Lied »Lueged vo Berg und Thal«, das berühmteste von Huberts Liedern, zeigt, wie dieses Klangbild in Bewegung gerät: Die Melodie vollzieht nicht nur das Schauen nach dem über Berg und Tal verschwindenden Sonnenlicht mimetisch nach, sondern an herausgehobener Stelle, etwa zu Beginn des letzten Drittels der Melodie auch eine Unterbrechung dieser Blickbewegung: Der auf dem Anlaut des Verses »O wie sy d Gletscher so rot!« überlang ausgehaltene Ton zeichnet das Innehalten im Erstaunen beim Anblick des Alpenglühens nach und verweist damit auf das individuelle Erleben zurück. Entsprechend wird der Vers schließlich leise – als »inneres Echo« – wiederholt (vgl. Schmidt, 279). Als in seiner
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vermeintlichen Kunstlosigkeit ausgesprochen kunstvoll gestaltetes ›Volkslied‹ ist das Lied paradigmatisch für die romantisierte Suche nach der Volkskultur zur Zeit der europäischen Nationalbewegungen. Wenn Walter Rüsch sich mit der Alpenmelodik am Ende »an der Geburtsstätte musikalischer Urelemente« schlechthin wähnt, klingt darin zugleich ein übergreifendes, das »authentisch Schweizerische« überschreitendes Narrativ an, das mit dem Lied »Lueged vo Berg und Thal« verbunden war. Anknüpfungspunkt hierfür waren »[d]ie schweizerische Literatur wie die (deutsch)schweizerische Sprache«, die, wie Schmidt hervorhebt, »im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts als noch lebendige Verkörperungen alten Deutschtums [galten] – ursprünglich, unverdorben und frei.« (Schmidt, 282) Nicht zuletzt mit seiner Lichtmetaphorik fügte sich das Lied, wie sie fortfährt, in die »seit der Aufklärung nicht mehr abbrechende Beschwörung des Alpenlebens mit dem Potential, die aufgeklärte Öffentlichkeit Europas für eine Rückkehr zur ursprünglichen Freiheit zu begeistern.« (Schmidt, 282) Die beispiellose Karriere des Liedes – dessen erste Takte ab 1935 vom Schweizer Radio International als Erkennungsmelodie der Schweiz weltweit gesendet wurden – führt sie indessen wesentlich auf seine Verknüpfung mit dem Familienideal im Rahmen der Verbürgerlichung der Singbewegung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zurück, die das ursprüngliche Knaben-/Männerchorlied für das Singen mit gemischten Stimmen im intimen Familienkreis wie auch im Chor empfahl, und »Heimaterleben und vaterländische Erziehung innerhalb der Familie« verorte, jedoch »in der direkten Begegnung mit der Natur« zur »Sache der Väter« erkläre (Schmidt, 284).2 Diese verschiedenen Facetten gesellschaftlicher Ideen, mit denen das Lied von Anfang verknüpft war und mit denen es im Verlauf seiner Geschichte immer wieder neu aufgeladen wurde, qualifizierten das Lied auch für die von Institutionen und Kulturschaffenden getragene »Geistige Landesverteidigung«, mit der die Schweiz ab Beginn der 1930er bis in die 1960er Jahre hinein versuchte, totalitären Ideologien durch die Besinnung auf Schweizerische Werte entgegenzutreten. Hauptproduzentin von Filmen im Dienst dieser Bewegung war die Zürcher Präsens-Film AG, die 1952 auch den Schweizer Heidi-Film produzierte (Tomkowiak, 265). Die Produktion des HeidiFilms stand hierbei im Zeichen einer Umorientierung im Kalten Krieg, als anstelle von Faschismus und Nationalsozialismus der Kommunismus in den Fokus rückte – und die Produktionsfirma sich zudem wirtschaftlich in prekärer Lage befand. Daher war mit dem Film auch der Anspruch verbunden, einen internationalen Absatzmarkt zu erobern und ein touristisches Interesse an der Schweiz zu wecken (Tomkowiak, 268–70). Die von Tomkowiak zusammengefasste Rezeption der auch in der bundesdeutschen Presse dokumentiert eindrücklich, wie sehr schon der in 2
Schmidt verweist hier auf die Illustration des Liedes in der Schweizer Volksliedsammlung Röseligarten. Die Familie, die hier im Abendsonnenschein zu sehen ist, besteht aus einem Vater seinen beiden Söhnen und einem Hund (Greyerz, 60).
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Hennes und Hubers Abendlied mitklingende ›fluide‹ Heimatbegriff des Films nach dem Zweiten Weltkrieg und den damit verbundenen Fluchtbewegungen auf einen ebenfalls schillernden »Heimat- bzw. Heimweh«-Begriff traf, den sich der Film zunutze machen konnte (Tomkowiak, insbes. 266 und 271–272): als Sehnsucht nach Zivilisationsflucht, als Heimweh nach dem einfachen Leben, als Sehnsucht nach einem verlorenen und unerreichbaren Ort auch im territorialen Sinn und schließlich auch konkret bezogen auf die Schweizer Alpenlandschaft. Wie subtil der Film diese verschiedenen Facetten und die in dem Lied aufgehobenen historischen Schichten einsetzt, zeigt ein ›Lehrstück‹ aus dem Geographie-Unterricht mit Fräulein Rottenmeier, das nebenbei auch noch die Funktion biographischer Schlüsselmusik und der damit verbundenen Körperpraxen veranschaulichen könnte: Klaras Vortrag über den Main wird dabei durch Heidis impulsives Nachfragen zum Rhein und zu dessen Mündung (»hört der im Bodensee uf?«) unterbrochen. Nachdem sie erfahren hat, dass der Rhein ins Meer fließt, erinnert sie sich – mit lebhaften, den Aufstieg nachvollziehenden Körpergesten – an ihren Ausflug zum »Echograt« und dem darunter gelegenen See – »wo das Wasser herkommt«.3 Diese Erinnerung geht schließlich über in Gesang: Heidi singt das Lied »Lueget vo Bergen und Thal«, mit dem sie zu Beginn der Filmhandlung den Tag ihres Ausflugs zum Echograt beschlossen hat. Die mit dem Lied verbundene Ursprungsthematik bekommt mit der Erzählung über den Rheinlauf von der Quelle bis zur Mündung plötzlich einen geographischen Rahmen, der wiederum ein altbekanntes national-territorial besetztes Narrativ der deutschen Geschichte in die allgemeine Sehnsuchtsthematik nach dem einfachen Leben in den Alpen einbindet. Auch der US-amerikanische Heidi-Film von 1968 verknüpft Heidis Singen mit einem Ursprungsnarrativ und integriert hierbei das Phänomen der »biographical key music« gleichsam in die Handlung. Zwar singt Heidi in diesem Film nur ein einziges Mal, ihr Gesang ist jedoch Kernbestandteil einer Schlüsselszene, die nicht nur an den ›Ursprung‹ der Handlung zurückführt, sondern darüber hinaus auch noch Aufschluss über die Leitmelodie der Filmmusik gibt. Die Gesangsszene folgt unmittelbar auf ein Gespräch, in dem der Pfarrer Heidi in der stillen Kirche über ihre (signifikant von den Romanhandlungen abweichende) Familie und die Gründe für den Rückzug des Alm-Oehi aus dem Dörfli aufklärt. In dem Moment, in dem der Pfarrer auf ihre verstorbene Mutter zu sprechen kommt, – die hier die Tochter des AlmOehi ist, und wie dieser wunderbar die Orgel spielte –setzt die Filmmusik mit einer Melodie ein, die bereits als Intro des Films und seitdem vielfach zu hören war. In der Folgeszene singt Heidi auf einem Felsen sitzend eben diese Melodie (mit einem Text über das ›Nachhausekommen‹), die sich im Dialog mit dem zufällig vorbeikommenden Oehi als »Lied der Mutter« erweist (das Heidi aufgrund deren frühen To3
Als Rheinquelle gilt der in Graubünden (dem Schweizer Kanton, in dem auch die Orte Bad Ragaz und Maienfeld liegen, die die Handlung geographisch lokalisieren) gelegene Tomasee.
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des eigentlich nicht erinnern kann). Mit dieser speziellen Variante der ›akustischen Heimsuchung‹ macht die Filmmusik eine Figur omnipräsent, deren Abwesenheit in der Romanhandlung maßgeblich für Heidis normabweichende Familienkonstellation ist. Denn die ›queere Wahlfamilie‹ aus zwei alten Männern (dem Oehi und dem Doktor), drei Kindern (Peter, Klara, Heidi) und zwei Ziegen, mit der der Oehi am Ende der Geschichte ins Dörfli zurückkehrt, basiert wesentlich auf der Abwesenheit der mittleren ›produktiven‹ Generation.4 Die Heterosexualisierung dieser Konstellation wird dabei im Film – durch die Musik ebenso subtil wie wirkmächtig unterstrichen – als ›Heilung‹ vorgeführt, wobei nun Klara ins Zentrum rückt: Ihr Gehen, das in der Filmhandlung ebenfalls als Effekt der Überwindung eines Muttertraumas erzählt wird, ermöglicht schließlich die sich anbahnende Beziehung von Fräulein Rottenmeier und Herrn Sesemann, die zusammen mit der ›Musikgeschichte des Großvaters‹ ins Zentrum der Handlung gerückt wird. Klaras Gehen löst den Handlungsknoten und erlöst – eindrucksvoll vorgeführt in der Schlussszene, in der der Oehi seine Finger erstmals wieder auf dem Orgelmanual bewegt – mehrere Figuren der Geschichte aus der buchstäblichen Starre. In dem Schwenk der Kamera auf die glücklich den (Orgel-)Klängen lauschenden Gesichter, bleiben außer der zukünftigen Familie Sesemann – Herrn Sesemann, Fräulein Rottenmeier, Klara – indessen alle allein. Während die durch die Orgelklänge feierlich begleitete Rückführung in eine heterosexuelle Ordnung hier für sich steht, erweisen sich die heterosexuelle Erotisierung der Figuren Heidi und Peter alias Poornima und Jaggu sowie die vielfältigen musikalischen Praxen aller drei Kinder in der indischen Filmadaptation von Spyris Romanen als Teil eines performativen Entwurfs des unabhängigen Staates. Die Heterosexualisierung verläuft dabei direkt über Poornima und Jaggu, die nahezu von Anfang an, vor allem über die Musik- und Tanzszenen vermittelt, in erotisierten Posen gezeigt werden. Michael Lawrence, der den Film im Hinblick auf transkulturelle Aspekte von Kindheitsvorstellungen und -phantasien untersucht hat, betont hierbei drei miteinander verflochtene Funktionen der Kindercharaktere: als Allegorie der jungen »infant nation (for the purposes of Nehruvian propaganda)«, als Vehikel für die Affektübertragung durch Codes des populären Hindi-Cinema, zu denen Musik und Tanzeinlagen zentral gehören, und als Verkörperung von Figuren der Hindu-Mythologie – Jaggu als flötespielender Krishna und Poornima als dessen Gefährtin Rathka – als Tiefenschicht der Filmhandlung (Lawrence, 104). Auch über diesen letztgenannten Aspekt hinaus lässt sich die Filmmusik – die diegetischen Gesangs- und Tanzsequenzen ebenso wie Aspekte der extradiegetischen Musik – als performative Produktion nationaler Identitäts- und Abgrenzungsnarrative interpretieren. Die Kinder Poornima und Jaggu stehen hierbei für eine authentifizierte, an mythologisch-hinduistische Wurzeln rückgebundene indische Identi4
Vgl. hierzu den Beitrag von Heidi Schlipphacke in diesem Band.
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tät, während die städtische Familie die ›westliche Moderne‹ und die Kolonialmacht repräsentiert. Zwar wird diese nicht eindimensional negativ konnotiert – Poornima/Heidi lernt im städtischen Haushalt nicht nur lesen, sondern auch eine Vielzahl indischer Sprachen sowie Englisch, was sich als Ermächtigung zur Citizenship im unabhängigen indischen Staat lesen lässt (vgl. Lawrence, 107). Die städtische Abgrenzung von indischer Tradition wird jedoch buchstäblich als Starre und Bewegungslosigkeit darstellt, und zwar deutlich vermittelt über die Musik. Als sichtbares Bild für westliche Musik steht im städtischen Haushalt der Konzertflügel, der in einer signifikanten Szenenfolge der indischen Musik unmittelbar entgegengesetzt wird: Die Szene beginnt mit Poornimas erstem Erwachen im städtischen Haus – vorausgegangen ist die erst Begegnung zwischen Rupa (alias Klara) und Poornima, in der Poornima die ihr zugedachte Rolle als Rupas Spielgefährtin ablehnt, weil sie sofort zurückmüsse zum Großvater und zu ihrem Spielgefährten Jaggu, woraufhin Rupa entgegnet, als Mädchen müsse sie mit Mädchen spielen. Das Spiel, das Rupa der nur mit Mühe aus dem Tiefschlaf zu weckenden Poornima am nächsten Morgen vorschlägt, ist das Klavierspiel – bzw., nachdem Poornima erklärt hat, sie sei dessen nicht fähig, Poornimas Tanz zu Rupas Klavierspiel. Vor dem Hintergrund des bisherigen Geschehens handelt es sich hierbei gleichsam um den Vorschlag einer »Übersetzung« der im Film vielfältig gezeigten indischen Musikpraxen in den westlich-städtischen Haushalt und dessen musikalische Bedingungen, die in den Folgeszenen unmittelbar aufeinanderprallen. Denn nach einem Filmschnitt sehen wir zunächst den Großvater, der dem traurigen Jaggu Hoffnung macht, er könne Poornima durch sein Flötespielen herbeirufen. Die darauffolgende Musik- und Tanzszene zeigt tatsächlich Poornima, die – wie bereits in früheren Sequenzen des Films – zu Jaggus Flöte tanzt und singt, wobei sie erstmals in aufwändigem Gewand und von der Kamera bis in kunstvolle Bewegungsdetails verfolgt einen vollendeten Tempeltanz darbietet. – Nach dem nächsten Schnitt sehen wir die versierte Tänzerin und Sängerin Poornima, wie sie in Anwesenheit von Rupa am Flügel sitzend durch wildes Getrommel auf den Tasten kakophonische Klänge produziert (Kardar, 00:52:4500:56:45). Auch in der zweiten Begegnung Poornimas mit dem Konzertflügel wird der Gegensatz von westlicher und indischer Musik inszeniert. Wir sehen Poornima in einer Liedperformance im Stil des europäischen romantischen Klavierliedes erstarrt am Flügel stehen, ihr Gesang (über einen gefangenen Vogel) entspricht jedoch mit zahlreichen Melismen indischer Musik – was filmmusikalisch mit komischen Verwirrungen zwischen extra- und intradiegetischen Klängen verknüpft wird: Der am Flügel sitzende hausbedienstete Klavierlehrer hält überrascht und ergriffen inne, während statt seiner Klavierbegleitung indische Streichinstrumente erklingen. Am Ende scheint er selbst dem Instrument wundersamerweise Tabla-Klänge zu entlocken (Kardar, 01:39:16-01:43:54). Insgesamt erklingt westlich-symphonische Musik, wenn Poornima in die Stadt entführt wird und darüber hinaus in weiteren Szenen, in denen sie latent bedroht
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ist. Ansonsten handelt es sich bei der extradiegetischen Musik weitgehend um (mehr oder weniger) popularisierte indische Musik.5 Auch eine ›akustische Heimsuchung‹ wird gestaltet, die die erotisierte Beziehung der Hauptfiguren Poornima und Jaggu weiter ins Zentrum der Handlung rückt: Hier ist es zunächst Jaggu, der einsam in den Bergen wandernd Poornima plötzlich singen hört, und zwar mit der Aufforderung zu ihr zu kommen (Kadar, 01:20:23-01:25:40). Kurz darauf erscheint Jaggu Poornima im Traum und bittet sie ihm zu folgen. Beim Verlassen des Zimmers geht die Traumvision über in Klang: Poornima folgt den Tönen einer tiefen indischen Handtrommel vor die Tür des Hauses (Kardar, 01:27:00-01:29:55) – der Beginn der indischen Variante der Schlafwandel-Szenen. In der Parallelführung mit dem Gegensatz von westlicher und indischer Musik gewinnt der Gegensatz von Bewegung und disziplinierter Stille eine zusätzliche Bedeutungsebene, die insbesondere über die Figur Rupa/Klara vermittelt wird. Denn diese lernt bei ihrem Besuch in den Bergen nicht nur gehen, sondern erhebt sich am Ende zu Tanz und Gesang (Kardar, 02:24:29-02:27:58). Insofern Bildung als Errungenschaft des städtisch-westlichen Haushalts hier durch die Kinder an die indische Tradition zurückgebunden und in diese überführt wird, kehrt Klaras ›FortSchritt‹ ein gängiges westliches Narrativ um: Die indische Musik, die in westlicher Rahmung als ›traditionelle‹ Musik ›ohne Geschichte‹ gilt, steht hier für den Fortschritt, symbolisiert durch die Kinder – Poornima und Jaggu als erotisiertes, musizierendes Paar Krishna und Ratka, das stellvertretend für die junge indische Nation, die im ›westernized household‹ gefangene Ratka befreit.
Fort-Schritte: Musik – Bewegung – Klangtopographien Mit Fortschrittsnarrativen verbundene Klangtopographien, die zugleich das durch Heidi und Klara verkörperte Gegenüber von Bewegung/Unruhe und disziplinierter Bewegungslosigkeit aufgreifen, sind auch im Heidi-Film von 1965 sehr präsent. Als Remake des Schweizer Films von 1952 rückt der Film im Vergleich auch dessen musikalische Gesamtdramaturgie noch einmal in den Blick. Zunächst dominieren die Unterschiede. Nicht nur den Sprachklang betreffend (im Film von 1952 wird Schweizerdeutsch gesprochen), sondern auch musikalisch weicht die Produktion von 1965 signifikant von seiner Vorlage ab: Heidi singt hier kein einziges Mal. Sie jodelt nur – wie auch in der Vorlage – beim Abschied von den Sesemanns im Treppenhaus. Die im Film von 1952 unter anderem in dieser Szene erkennbare Absicht, für die Schweiz als touristisches Ziel zu werben, wird im Remake von 1965 ironisch konterkariert, wenn die Köchin Rosi anmerkt, bevor sie in die Schweiz reise, wolle sie 5
Die indische musikwissenschaftliche Debatte konnte für diesen Beitrag nicht berücksichtig werden.
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erst einmal »nach Mallorca« (01:10:36-01:10:47). Zugleich ist dies nur eine von zahlreichen Szenen, in denen sich moderne Mobilität mit den Fortschrittsnarrativen der 1960er Jahre verbindet. Was den Konnex von Fortschritt und Mobilität betrifft, kann der Film hierbei durchaus auf die Romanvorlagen zurückgreifen. Denn bei Spyri verweist Heidis Mobilität auf die modernsten Verkehrsmittel der Zeit: Als erste Alpenüberquerung wurde die Gotthardbahn 1882 eröffnet; um die Ostalpenbahn, die Graubünden (wo die Heidi-Romane spielen) über die hohen Alpenpässe mit Italien verbindet, gab es ein jahrelanges öffentliches Ringen (vgl. Schutz, 2020). In den Romanen wird dieser Aspekt von Heidis Beweglichkeit zwischen Stadt und Land allerdings, wie eingangs schon erwähnt, klanglich nicht markiert. Dagegen inszeniert der Film von 1965 nicht nur Heidis Weg aus den Alpen in die Stadt per Eisenbahn, sondern auch die Soundscape der Stadt höchst eindrucksvoll: Vom Bahnhof Maienfeld verschwinden die Waggons mit Tante Dete und Heidi im Tunnel, aus dem wir per Filmschnitt direkt in den Frankfurter Straßenverkehr der Nachkriegs-Bundesrepublik ca. um 1960 katapultiert werden (Jacobs, 00:30:35-00:31:42). Bemerkenswert ist vor allem die musikalische Dramaturgie, die den harten Schnitt akustisch überbrückt: Bereits vor der Einfahrt in den Tunnel verwandelt sich das Zuggeräusch in den Klang einer Hi-Hat und geht über in die Rhythmusgruppe eines quirligen Big-Band-Jazz-Arrangements, das schließlich die ›Tanzmusik‹ zum Stadtverkehr im Nachkriegswirtschaftswunderland abgibt. Die Zugehörigkeiten und geopolitischen Identitäten, die hier durch die Musik konstruiert und bekräftigt werden, sind eindeutig. Die BRD (und Österreich) gehören ins westliche Bündnis, zu den USA. Sie sind Teil der mit diesen verbunden Freiheits- und Fortschrittserzählung, für die musikalisch der Jazz steht (vgl. hierzu auch Binotto). Nebenbei überschreibt dieses Narrativ die Nazi-Zeit, in der Jazz und Swing verboten waren, und stellt gleichzeitig verharmlosende Kontinuitäten her: Denn während des Nationalsozialismus diente gemäßigter Jazz in NS-Unterhaltungsfilmen dazu, der faschistischen Kulturpolitik einen ›modernen‹ Anstrich zu geben.6 Doch nicht nur die Straße, sondern auch ein Raum im Inneren des Hauses Sesemann wird im Film von 1965 mit der Musik der ›westlichen Moderne‹ markiert. Auch hier geht der betreffenden Szene ein harter Schnitt voraus: Unmittelbar nachdem Klara sich im Pferdestall des Sesemann’schen Gestüts – einem in Anbetracht der im Film gezeigten Verkehrsmittel anachronistischer Ort – aus dem Rollstuhl erhebt, werden wir in die Sesemann’sche Küche versetzt, wo die Köchin Rosi und Tante Dete bei der Arbeit zu Bigband-Jazz tanzen und singen. Mit der Küche und der urbanen Straße markiert die Filmmusik zwei Orte als ›Orte der Moderne‹, die zur
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Franz Grothe, der 1936 acht Monate in Hollywood arbeitete, komponierte die Musik zu zahlreichen dieser Filme. Ab 1942 hatte er Leitungsfunktionen in der Reichsmusikkammer inne. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde er zu einem der bekanntesten Schlagerkomponisten der BRD (vgl. Henkel und Messmer).
Cornelia Bartsch: Klang und Identität
Entstehungszeit der Romane mit den Unterschichten verbunden waren: mit dem niederen weiblichen Dienstpersonal oder mit den städtischen Massen des verelendenden Industrieproletariats. Letzteres bekommt in Spyris Romanen sogar ein Gesicht in Gestalt des Drehorgel spielenden Straßenjungen, der Heidi den Weg zum Kirchturm zeigt – der einzigen Figur in den Romanen übrigens, die Musik macht und sie ins bürgerliche Haus bringt. Nun gilt diese Codierung von Straße und Küche als Ort der Unterschichten zur Entstehungszeit des Films in den 1960er Jahren nicht, zumindest nicht mehr in derselben Weise wie Ende des 19. Jahrhunderts. Zudem ist eine Küche mit der Menge ständig anwesenden Dienstpersonals in einem Haushalt der 1960er Jahre, dessen Hausherr mit dem Flugzeug auf dem Frankfurter Flughafen landet, ein ebenso anachronistischer Ort wie der Pferdestall in der unmittelbar vorausgehenden Szene. Trotzdem stellt sich die Frage, was der Film hier eigentlich musikalisch erzählt, wenn er gerade jene Orte, die zur Entstehungszeit der Romane und durch die Anwesenheit des betreffenden Personals latent auch in der Filmerzählung mit den ›rückständigen‹ Unterschichten verbunden werden, als ›modern‹ codiert. Eine Spur liefert die musikalische Gesamtdramaturgie, die in allen vier näher betrachteten Filmen – trotz der großen kulturellen Differenzen – schon deshalb Parallelen aufweist, weil sie jeweils Klaras Aufstehen aus dem Rollstuhl ins Zentrum rückt. Auch die Musiken der Filme von 1952 und 1965 sind in diesem Punkt trotz der signifikanten Unterschiede ähnlich. Beide unterlegen diesen Moment mit einer Musik, die Parameter der jeweiligen Alpenmusiken aufgreift. Besonders auffällig ist dies im Film von 1965, wo der Soundtrack auf die filigranen Klänge von Flöte, Harfe und dann auch Klarinette zurückgreift, die der »Alpenmelodie« zu Beginn des Films als Intro vorgeschaltet sind. Die Melodien sind zwar nicht identisch, weisen jedoch jeweils einen latent improvisatorischen Charakter auf und streben dabei – mimetisch an Klaras vorsichtiges Aufstehen angepasst – aufwärts. Diese musikalische Parallelisierung von Klaras Aufstehen mit Heidis – immer mit Bewegung und Unruhe verknüpften – Erinnerungen an die Alpenlandschaft, lässt verschiedene Interpretationen zu bzw. ruft beim Hören verschiedene Assoziationsketten auf. Sie lässt sich als Versuch lesen, die Alpenlandschaft, in der Klara im Roman Gehen lernt, musikalisch in die Stadt zu transferieren; die Musik würde dann also erzählen, was den Straffungen des Filmdrehbuchs zum Opfer gefallen ist: die Reise der Sesemanns in die Berge zu Heidi, Peter und dem Alm-Oehi. – Diese Assoziation setzt jedoch die Kenntnis der Romanvorlagen voraus. Immanent erzählt die musikalische Parallele eher, dass Heidis – mit der Erinnerung an die Alpen verbundene – Bewegungsfreude sich auf Klara überträgt. Das klingt zunächst banal, entspricht es doch latent sowohl dem, was wir sehen als auch den Romanerzählungen. Allerdings wird Klaras Gehen in den drei Filmen, deren filmmusikalische Klangtopographien deutlich mit nationalen oder geopolitischen Identitätserzählungen aufgeladen werden, jeweils in Fortschrittsnarrative eingebunden, die Spyris
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Erzählung mindestens glätten oder ihr gar entgegengesetzt sind. Die in Spyris Erzählung angelegte Verbindung von ländlichem Raum und Großstadt kehrt ein im späten 19. Jahrhundert gängiges Narrativ um, insofern mit Heidi als weiblicher Vertreterin der Landbevölkerung (wie auch der Straßenjunge als Vertreter der städtischen Unterschicht) ›Fortschritt‹ in Form von Bewegung in das (erstarrte) bürgerliche Haus eindringt. Die Soundscapes von Stadt und Land werden dabei kaum markiert bzw. entsprechen dieser Umkehrung, da Heidi den Key-Sound der Tannen mit in die Stadt bringt. Dagegen fokussieren die Filmmusiken den Moment, in dem Klara aus dem Rollstuhl aufsteht, als narrativen Kern einer die differenten ›Klanglandschaften‹ verbindenden Fortschrittserzählung (besonders deutlich und latent ironisch gebrochen im Film von 1965). Musikalisch wird Klara zur Schlüsselfigur für die Verbindung zwischen ländlichem und städtischem Raum, wobei ihre ›Heilung‹ als Fortschritt gerahmt wird. Das Assoziationsnetzwerk, das dadurch aufgerufen wird, ist sowohl im indischen Film als auch im Heidi-Film von 1968 mit der Tilgung der ›queeren‹ Elemente von Spyris Erzählung verbunden. Die beiden Filme von 1952 und 1965 sind zwar in diesem Punkt nicht so plakativ wie der Film von 1968, doch tritt an die Stelle der (neuen) queeren Gemeinschaft, mit der Heidi bei Spyri ins Dörfli zieht,7 hier die (christlich gerahmte) Rückkehr in die (alte) Dorfgemeinschaft, die musikalisch von Anfang an durch die ›Alpenmelodie‹ bzw. das Jodellied mit einem Heimweh- und Sehnsuchtsmotiv aufgeladen und zudem mit Klaras ›Heilung‹ parallel geführt wird. Je nach Bedarf werden die geopolitischen Zugehörigkeiten hierbei musikalisch unterschiedlich codiert. Gemeinsam ist den Dramaturgien aller Filme, dass für queere Wahlfamilien in der über die Figur Klaras musikalisch als Fort-Schritt inszeniertern Rückkehr kein Platz mehr ist.
Bibliografie Agawu, V. K. Music as Discourse: Semiotic Adventures in Romantic Music. Oxford studies in music theory. Oxford University Press, 2009. Ammann, Raymond, Andrea Kammermann, Yannick Wey. »Ferdinand Fürchtegott Huber: Initiator der musikalischen Beziehung zwischen Alphorn und Jodel.« Schweizer Jahrbuch für Musikwissenschaft/Annales Suisses de Musicologie Neue Folge 36, 2016, 11–37. Binotto, Johannes. »Eigenwillige Echos: Zu Heidis Nachleben im Film.« Viceversa. Jahrbuch der Schweizer Literaturen 10, 2016, 90–97. DeNora, Tia. »Music as Technolgy of Self.«Music in Everyday Life, Cambridge University Press, 2000, 46–74.
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Vgl. den Beitrag von Heidi Schlipphacke in diesem Band.
Cornelia Bartsch: Klang und Identität
Greyerz, Otto von. Im Röseligarte. Schweizerische Volkslieder. Buchschmuck von Rudolf Münger, Bd. 3, A. Francke, 1910. Hatten, Robert S. Interpreting Musical Gestures, Topics, and Tropes: Mozart, Beethoven, Schubert. Musical meaning and interpretation, Indiana University Press, 2004. Henkel, Theresa und Franzpeter Messmer (Hg.). Franz Grothe. Komponisten in Bayern 64, Allitera, 2019. Hottmann, Katharina (Hg.). Liedersingen: Studien Zur Aufführungsgeschichte des Liedes. Jahrbuch Musik und Gender Bd. 6, Olms, 2013. Jeßulat, Ariane. Erinnerte Musik: Der Ring des Nibelungen als musikalisches Gedächtnistheater. Wagner in der Diskussion, Bd. 8, Königshausen & Neumann, 2013. Käuser, Andreas. »Der anthropologische Musikdiskurs: Rousseau, Herder und die Folgen.« Musik & Ästhetik 4, 16, 2000, 24–41. Lawrence, M. »Hindianizing Heidi: Working Children in Abdul Rashid Kardar’s Do Phool.« Adaptation 5, 1, 2012, 102–118. Magaldi, Cristina. Music in Imperial Rio de Janeiro: European Culture in a Tropical Milieu. Lanham, Md. Scarecrow Press, 2004. Reckwitz, Andreas. Das hybride Subjekt: Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne. 2. Aufl., Velbrück Wissenschaft, 2012. Rüsch, Walter. Die Melodie der Alpen: Gedanken über Ferdinand Huber. Zöllikon, 1942. Schmidt, Regula. »›Luaged, vo Bergen u Thal‹: Das Lied als Erinnerungsort.« Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 61, 3, 2011, 269–289. Schutz, Luzi C. Ostalpenbahn: Geschichte eines langlebigen Bündner Verkehrsprojekts. Quellen und Forschungen zur Bündner Geschichte Bd. 37, Bündner Monatsblatt Verlag Desertina, 2020. Spyri, Johanna. Heidis Lehr- und Wanderjahre. Eine Geschichte für Kinder und auch für Solche, welche die Kinder lieb haben. Perthes, 1880. Spyri, Johanna. Heidi kann brauchen, was es gelernt hat: Eine Geschichte für Kinder und auch für Solche, welche die Kinder lieb haben. Perthes, 1881. Stollberg, Arne. Tönend bewegte Dramen: Die Idee des Tragischen in der Orchestermusik vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert. edition text + kritik, 2014. Tomkowiak, Ingrid. »Die ›Heidi‹-Filme der fünfziger Jahre.«Heidi – Karrieren einer Figur, hg. von Ernst Halter, Offizin, 2001, 263–275.
Filmografie Heidi. Regie Luigi Comencini, Musik Robert Blum, Präsens Film AG Zürich, 1952. Heidi. Regie Werner Jacobs, Musik Franz Grothe, Hebert Gruber GmbH und Eichberg Film GmbH München, 1965. Heidi (Fernsehfilm, dt.: Heidi kehrt heim). Regie Delbert Mann, Musik Robert Williams, National Broadcasting Company, New York USA, 1968.
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Geräusche, Klänge und Musik
Do Phool (Zwei Blüten). Regie Abdul Rashid Kardar, Musik Vasant Desai, Kardar Studios, Silverstone Film Laboratory Indien, 1958.
III. Bildung und Vermittlung
Religion und religiöse Bildung in den Heidi-Romanen von Johanna Spyri Claudia Gärtner
Einleitung Idyllische Berglandschaften, fröhliche Kinder, ein wortkarger Großvater, Geißen und gesunde Landluft – diese und ähnliche Assoziationen und Bilder tauchen vermutlich bei vielen jungen und alten Leser*innen auf, wenn sie an die HeidiRomane denken. Aber Religion? Sicherlich darf in vielen Filmen und Illustrationen die Kirche im Dorf nicht fehlen, aber als zentrales Thema fällt Religion in der Regel nicht auf. Dennoch, oder gerade deshalb soll in diesem Beitrag der Bedeutung von Religion und religiöser Bildung in den Heidi-Romanen nachgegangen werden. Denn diese stellen – so die These – entgegen der verbreiteten Wahrnehmung durchaus eine zentrale Dimension in den Romanen dar. Maßgeblich unterstützt wird die fehlende Rezeption der religiösen Dimensionen durch die zahlreichen Verfilmungen, Illustrationen und teils auch Neuauflagen der Romane, in denen Religion weitgehend ausgeblendet oder sogar ersetzt wird. So liest z.B. Heidi in der Romanausgabe von Peter Stamm (2008) Peters Großmutter Soldatenlieder statt religiöser Gebete von Paul Gerhardt vor (Wissmer, 103). Vielleicht geht aber auch – wie Regine Schindler vermutet, die Gebetsbelehrung, die Heidi von Großmutter Sesemann erfährt, über die Köpfe der lesenden Kinder hinweg, sodass diese Szenen später nicht mehr erinnert werden (Schindler 1999, 194). Wie verzichtbar ist jedoch Religion im Buch? Was fehlt, wenn die religiöse Dimension fehlt? Und was können heutige Leser*innen in einer weltanschaulich pluralen, (post-)säkularen Gesellschaft mit einer religiösen Heidi anfangen? Im folgenden Beitrag geht es zuerst darum, die religiösen Elemente und Dimensionen in den Romanen zu rekonstruieren und deren Funktion zu ergründen (Kap. 1). Anschließend wird die Rezeptionsgeschichte der Heidi-Romane mit besonderem Fokus auf die Bewertung der religiösen Elemente und Dimensionen untersucht. Um diese unterschiedlichen Rezeptionen einordnen zu können, ist eine historische und religiöse Verortung hilfreich (Kap. 2). In dieser Perspektive wird abschließend gefragt, welche
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Bildung und Vermittlung
Relevanz die religiösen Dimensionen für heutige Leser*innen und das Nachdenken über religiöse Bildung besitzen können (Kap. 3).
Religiöse Elemente und Dimensionen in Heidi Im Gegensatz zur verbreiteten Rezeption der Heidi-Romane geht Jean-Michel Wissmer von drei Säulen aus, auf denen die Romane beruhen: Bildung, Religion und Verherrlichung der Natur (93). Ein zentraler Baustein für die Säule Religion stellt das biblische Gleichnis vom »Barmherzigen Vater« (Lk 15, 11–22), teilweise auch Gleichnis vom »Verlorenen Sohn« genannt, dar. Das Gleichnis ist für die Gesamtkomposition der Romane von zentraler Bedeutung. Der erste Roman setzt mit einer zurückhaltenden, spärlichen Schilderung der Biografie des Großvaters ein. Hierbei wird er als ›verlorener‹ Sohn charakterisiert, mit Anspielungen auf das biblische Gleichnis: Sein Verlust des Familienerbes wird erwähnt, er zieht – dem biblischen Sohn ähnlich – in die Fremde, verdingt sich im Militär, kehrt als Sonderling in die Berge zurück und meidet sowohl die Religion als auch die Dorfgesellschaft. Der zweite Roman setzt mit der ›Bekehrung‹ des Großvaters ein, indem Heidi ihm das Gleichnis des »Barmherzigen Vaters« vorliest und ihn so zu einer sehr zügigen Rückkehr in die Religions- wie auch Dorfgemeinschaft bewegt. Damit verbindet das Gleichnis die zwei Romane miteinander. Verschränkt wird dieser Handlungsstrang mit einem weiteren Auszug in die Fremde, nämlich mit Heidis Aufenthalt in Frankfurt. Dass die Geschichte von Heidi selbst zur Parabel des Zurückkehrens wird und dass das biblische Gleichnis zum sehr direkten Bindeglied der Heidi-Geschichte und jener des Großvaters wird, ist deutlich. Es ergibt sich darum am Schluss fast selbstverständlich, dass Heidi dem Großvater die Geschichte vom verlorenen Sohn vorliest und damit seine Rückkehr ins Dorf bewirkt. (Schindler 2005, 213) Auch durch den Begriff »Heimweh« werden die Handlungsstränge von Großvater und Heidi miteinander verbunden (Schindler 1999, 188). Während der Großvater zurück in der Heimat abgeschieden auf der Alm lebt, erlernt Heidi in der Fremde das Lesen und erwirbt somit die Grundfähigkeiten, um dem Großvater die Bibel vorzulesen. Diese Kompetenzen erwirbt sie selbst wiederum durch das Lesen in der Bibel, wobei Lk 15 zu ihren Lieblingsperikopen zählt. Nach der glücklichen Rückkehr in die Berge betrachtet Heidi ihre Heimat und ihr Leben aus einer religiösen Perspektive. Existenzielle Dimensionen wie Heimat- und Fremdheitserfahrungen, Einsamkeit und Gemeinschaft werden von ihr nun religiös gedeutet. Neben der Bibellektüre besitzen das Beten und die Gebetserziehung an vielen Stellen in den Romanen eine zentrale Bedeutung. Großmutter Sesemann ermahnt Heidi zum täglichen Gebet, das für alle Menschen verpflichtend sei. Obwohl Heidi anfänglich dem Gebet eher kritisch gegenübersteht und dessen Wirkung anzwei-
Claudia Gärtner: Religion und religiöse Bildung in den Heidi-Romanen von Johanna Spyri
felt, übernimmt sie diese (moralische) Gebetsverpflichtung auch aufgrund von Großmutter Sesemanns moralischer Belehrung: Ja, so geht’s nicht zu, Heidi! Das musst du nicht meinen! Siehst du, der liebe Gott ist für uns alle ein guter Vater, der immer weiß, was gut für uns ist, wenn wir es gar nicht wissen. Wenn wir aber nun etwas von ihm haben wollen, das nicht gut für uns ist, so gibt er uns das nicht, sondern etwas viel Besseres, wenn wir fortfahren, so recht herzlich zu ihm zu beten, aber nicht gleich weglaufen und alles Vertrauen zu ihm verlieren. (Spyri 1880, 168) Heidis plötzlich ermöglichte Rückkehr in die Heimat deutet sie schlussendlich so, dass Gott ihr Bittgebet erhört habe. Hierdurch werden ihre Gebetszweifel zerstreut und sie misst der Gebetsverpflichtung nun selbst hohe moralische und religiöse Bedeutung bei. Diese religiösen Verpflichtungen und der moralische Impetus von Großmutter Sesemanns religiöser Erziehung gehen jedoch zugleich mit einem großen Gottesvertrauen und einer Lebensbejahung einher, die im weiteren Verlauf Heidis Welt- und Lebensdeutung ebenfalls stark prägen. Gebete und religiöse Liedtexte prägen nach Heidis Rückkehr auch die Beziehung zu Peters erblindeter Großmutter, der Heidi fortan vorlesen kann. Hierbei kommen Gebete und Lieder des religiösen Dichters Paul Gerhardt in den HeidiRomanen, aber auch in weiteren Veröffentlichungen von Johanna Spyri besonders oft vor, am häufigsten »Befiehl du deine Wege« (Schindler 1999, 195). In diesen Texten werden Religion und Natur miteinander eng verknüpft, wenn z.B. Heidi acht Strophen von Gerhardts: »Die güld’ne Sonne/Voll Freud und Wonne« vorliest (Spyri 1880, 222–224). Für die blinde Großmutter bringt Heidi damit sowohl das Licht der Bergwelt als auch himmlisches Licht in die armselige Bauernstube hinein (Schindler 2005, 208). Johanna Spyri interpretiert die Liedtexte in der Szene so, »als sähe sie [die Großmutter] schon mit neuen, hellen Augen in den schönen himmlischen Garten hinein« (Spyri 1881, 225; vgl. auch Mergenthaler, 354). Hier verbinden sich Naturfrömmigkeit, Gebet und zugleich die Gedanken an den eigenen Tod in den Gefühlen der Großmutter, »die nicht nur als moralisierend, fromm oder pietistisch bezeichnet werden dürfen« (Schindler 2005, 208). In den Gebeten und Liedern wird bereits die hohe religiöse Bedeutung, die in den Heidi-Romanen der Natur zugemessen wird, deutlich. Die Natur wird zum Ausdruck göttlicher Gegenwart und Allmacht. Dabei geht es jedoch eher um eine Lebenshaltung, ein ›Verhalten‹ dem Himmel, der Bergwelt gegenüber als eine strenge theologische Lehre, ein Verhalten, das Johanna Spyri fast ausschließlich in Heidi in dieser Form zum Ausdruck bringt. Naturfrömmigkeit und Alpenthematik machen Heidi zum Erfolgsbuch, aber auch zum Sonderfall in J. Spyris Werk. (Schindler 1999, 190)
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Besonders deutlich wird diese Verschränkung von Natur und Religion bei Heidis Rückkehr im ersten und bei Claras wundersamer Heilung im zweiten Roman. Als Heidi nach ihrem Frankfurter Exil zum ersten Mal das Alpenglühen sieht, wird sie von dieser Naturerfahrung überwältigt. Es wird zu einem religiös gedeuteten Moment der Erhabenheit. Heidi stand mitten in der Herrlichkeit, und vor Freude und Glück liefen ihm die hellen Thränen die Wangen herunter, und es mußte die Hände falten und in den Himmel hinaufschauen und ganz laut dem lieben Gott danken, daß er es wieder heimgebracht hatte, und daß Alles, Alles noch so schön sei und noch viel schöner, als es gewußt hatte, und das alles wieder im gehöre, und Heidi war so glücklich und so reich in all´ der großen Herrlichkeit, daß es gar nicht Worte fand, dem lieben Gott genug zu danken. (Spyri 1880, 213) Den religiösen Rang der Landschaft bezeugt auch der Großvater. Auch wenn er nicht explizit die Hände zum Gebet faltet, so wird doch die Landschaft hier zum »Andachtsraum« (Rutschmann, 213): Auf den hohen Bergspitzen lag ein röthlich-goldner Schein; ein frischer Wind fing an die Aeste der Tannen hin und her zu wiegen; die Sonne wollte kommen. Eine Weile noch stand der Alte und schaute andächtig zu, wie nach den hohen Berggipfeln die grünen Hügel golden zu schimmern begannen und dann aus dem Thale leise die dunkeln Schatten wichen und ein rosiges Licht hineinfloß und nun Höhen und Tiefen im Morgengold erglänzten; die Sonne war gekommen. (Spyri 1881, 118) Auch in dieser Szene geht es weniger um die religiöse Lehre einer spezifischen Religionsgemeinschaft oder Konfession, sondern es geht um ein ganzheitliches Erleben im religiösen Deutungshorizont. »Hier ist der ganze Mensch angesprochen und fühlt sich im religiösen Sinne als ganzer gemeint. Mystische Einheitsvorstellungen klingen an, ohne daß Religiöses genannt wird« (Hurrelmann, 206). Diese Ganzheitlichkeit kommt auch bei Claras Heilung zum Ausdruck. Diese wird vom Alm-Oehi auf Gott, genauer auf »Sonnenschein und Almluft« (Spyri 1881, 146) zurückgeführt, Clara wiederum betont die heilende Natur in Form von Schwänlis guter Milch und Frau Sesemann deutet es als das Werk des Alm-Oehis. Gott, Natur und Mensch kommen hier zusammen und bilden »nun einmal mehr das perfekte Dreigestirn, insbesondere in der Alpenwelt« (Wissmer, 101).
Claudia Gärtner: Religion und religiöse Bildung in den Heidi-Romanen von Johanna Spyri
Religiöse Kinderliteratur oder frömmlerischer hohler Pathos? Heidi im Spiegel sich wandelnder Religiosität »Fromm, aber nicht frömmlerisch« (zit.n. Schindler 1999, 17) sind die Romane von Johanna Spyri aus Sicht des Schweizer Literaturkritikers Josef Victor Widmann (1842–1911). Diese anfängliche Wertschätzung der religiösen Dimensionen der Werke schlägt jedoch im Verlauf der Rezeptionsgeschichte zunehmend in Kritik um. Spyris Veröffentlichungen werden als frömmlerisch und religiös-kitschig wahrgenommen. So lobt Heinrich Joachim Wolgast (1860–1920) die hohe ästhetische Qualität von Spyris Arbeiten, doch sowie Spyri eine ihrer Personen das religiöse oder moralische Thema anschlagen lässt, entsteht oft ein seitenlanger Wortschwall. Diese auffällige Länge beweist ausser allen inneren Gründen, dass die moralischen und religiösen Reden der Kinder nicht beobachtet, sondern um der Tendenz willen konstruiert sind. Überhaupt dieser Wortreichtum bei religiösen und moralischen Betrachtungen! […] Selbst in dem besten Spyrischen Werke, ›Heidi‹, geht die grosse Charakterisierungskunst, die auf guter Beobachtung des Lebens beruhen muss, in die Brüche, sobald religiöse Mächte eingeführt werden. (Zit.n. Schindler 1999, 176) Dieses Urteil prägt die Rezeption von Religion in Spyris Werken über Jahrzehnte. Die Kritik hieran wird im Zuge der 1968er, in denen Religion als ideologische, nichtemanzipative Dimension oftmals strikt abgelehnt wurde, verschärft. So charakterisiert Winfred Kaminski Spyris Werke als »sentimentale Frömmelei«, die von »einfältiger Religiosität« zeugten, von »hohlem Pathos« und »unangemessener Vergöttlichung reiner Natur« (446–448). Teilweise wird die Funktion von Religion im Roman sogar ganz in Frage gestellt. Die religiöse Dynamik bleibt nach Bettina Hurrelmann äußerlich: »Heidi ist im Kern ein psychologischer Roman und kein religiöser Erziehungsroman« (202). Wie lassen sich diese unterschiedlichen Rezeptionen und Beurteilungen begründen und was bedeutet dies für eine zeitgenössische Lektüre der Heidi-Romane? Diesbezüglich ist es weiterführend, die Romane gesellschaftlich und religiös bzw. theologisch zu kontextualisieren und einen Blick zurück in den historischen Entstehungskontext zu werfen. Johanna Spyri wächst in einem pietistischen Umfeld auf (Wissmer, 33–41, 104–109). Sie ist Enkelin eines Pfarrers und Tochter der pietistischen Dichterin Meta Heusser-Schweizer. Nach ihrer Hochzeit nimmt Spyri rege an literarischen Gesprächskreisen teil und hat Kontakt zu Literaten. Ihr Leben in der mondänen Züricher Gesellschaft ist aber auch durch psychische und physische Krankheiten gezeichnet, wobei sie Zuflucht und Unterstützung in streng religiösen Kreisen findet (Wissmer, 39). Literarisches, großstädtisches Leben auf der einen und pietistischer Rückzug und Naturidylle auf der anderen Seite prägen Spyris Leben. Dabei
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hat Spyri schon frühzeitig familiäre Kontakte zum pietistischen Bremer Pfarrer Pastor Cornelius Rudolf Vietor (Richter, 88–94), der sowohl begeistert über die religiöse Dichtung von Spyris Mutter ist als auch Johanna Spyri selbst zum Schreiben motiviert, wie sich Vietor selbst erinnert: Ich bin daher früh schon, als ich zum zweiten oder dritten Male sie sah, mit der Aufforderung und Bitte ihr nahe getreten, sie solle doch etwas schreiben, etwa eine Erzählung; ich wolle dann sorgen, daß diese im Bremer Kirchenblatte abgedruckt werde. Sie wies aber diesen Gedanken weit ab und meinte, zu so etwas werde sie nie im Stande sein. (Zit.n. Richter, 88) Doch schlussendlich gibt Spyri ihren Widerstand auf und verfasst Ein Blatt auf Vrony’s Grab (1871), ein Werk, das als religiöse Erbauungsliteratur bezeichnet werden kann. Rückblickend bestätigt Spyri den Einfluss von Vietor: »Ohne den dringenden und zwingenden Wunsch des Bremer Freundes wäre ich aber wohl nie zur Schriftstellerin geworden« (zit.n. Richter, 89). Spyris Frühwerk (1871–1873) ist religiös und ästhetisch stark durch Vietor geprägt »Den weiblichen Hauptfiguren wird durch sanfte, aber autoritäre Pfarrherren eine sehr bestimmte Moral verordnet: Unterordnung in einer patriarchalen Gesellschaftsstruktur, auch in der Kirche« (Schindler 2005, 201). Später distanziert sich Spyri sowohl ästhetisch als auch religiös von Vietor, die Heidi-Romane atmen nicht mehr diesen pietistischen und religiös erbaulichen Geist, was Vietor in seiner Rezension mit Bedauern feststellt (Schindler 1999, 182). Um dennoch die verbliebenen religiösen Elemente und Dimensionen in den Heidi-Romanen analysieren zu können, sei ein kurzer Blick auf Grundzüge des Pietismus geworfen, von dem Spyri zeitlebens geprägt war (Wissmer, 104–110). Die protestantische Reformbewegung ist historisch und regional unterschiedlich ausgeprägt, es lassen sich allenfalls einige gemeinsame Grundzüge herausstellen. Wesentliches Charakteristikum ist die Betonung der individuellen Frömmigkeit, die oftmals mit einer Kritik an einer rationalen Durchdringung und Institutionalisierung des Glaubens einhergeht. Durch Introspektion, Innerlichkeit, Umkehr und dem individuellen Gebet soll die Frömmigkeit gestärkt und das Leben und Handeln hiervon ganz geprägt werden. In Spyris Werken sind es oftmals die Großmütter, die Kindern, die religiös nur unzureichend sozialisiert werden, »eine erste religiöse Erziehung vermitteln, wobei die Erziehung zum ›Recht-Tun‹ und zum Gebet im Vordergrund steht; es ist eine moralische Haltung, wobei – bei aller Liebe und Fürsorglichkeit der Großmütter – eine Art ›Polizistengott‹ ins Spiel kommt« (Schindler 2005, 206). Hiermit einher gehen bzw. gingen oftmals rigide moralische Vorstellungen, aber zugleich auch ein ausgeprägtes diakonisches Handeln, das auch von missionarischen Intentionen mitgeprägt wurde. Entsprechend hat der Pfarrer Vietor die »Norddeutsche Missionsgesellschaft« mitgegründet, die Kolonialhandel und Mission miteinander verband, was bereits im 19. Jahrhundert als nicht
Claudia Gärtner: Religion und religiöse Bildung in den Heidi-Romanen von Johanna Spyri
unproblematisch wahrgenommen wurde (Pabst) und heute in einer postkolonialen Perspektive äußerst kritisch zu reflektieren ist. Für das Verständnis von Heidi ist dabei aufschlussreich, dass der Pietismus trotz seiner moralischen »Strenge und Austerität das goldene Zeitalter der Kindheit stets verklärt und verteidigt hat« (Wissmer, 109). Kinder werden als rein und unschuldig betrachtet, gleich so, wie Heidi in den Romanen gezeichnet wird. Und so bedarf es bei Heidi nur einer klaren religiösen Belehrung und Gebetserziehung durch Frau Sesemann, um das Mädchen zu einem guten, liebevollen Menschen zu machen, der die Welt mit religiösen Augen sieht und selbst missionarisch tätig ist, wie die Bekehrung des Großvaters zeigt. Und dennoch ist der Pietismus in den HeidiRomanen nicht die allein prägende gestalterische und inhaltliche Kraft. Die Bücher zielen nicht auf die Einführung in ein geschlossenes religiöses Weltbild, in ihnen ist keine eindeutig greifbare Theologie auszumachen. Wohl finden sich – allerdings kaum je als Strukturelemente, welche Handlung und Tendenz eines Buches im Ganzen bestimmen – erweckliche Züge oder eine traditionelle Kirchlichkeit, wie sie vor allem in ausgesprochen konservativen Dorfstrukturen – ähnlich J. Spyris Heimatort Hirzel – lebten. Daneben spiegelt sich aber eine liberale vielseitige Religionspraxis, wie sie im bürgerlichen Zürich der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verbreitet war. (Schindler 1999, 197) Es sind diese Brüche und Spannungen, die sich sowohl in Spyris Biografie und Religiosität als auch in den Heidi-Romanen finden lassen, die ein Grund für die wechselvolle Rezeptionsgeschichte der Romane ist. Hierin liegen ebenfalls Ansatzpunkte für eine zeitgenössische Lektüre – auch aus religionspädagogischer Perspektive.
Was fehlt, wenn die Religion fehlt? Relevanz religiöser Elemente und Dimensionen in der (post-)säkularen Gesellschaft Auch wenn es heute noch pietistisch geprägte Leser*innen gibt, die Heidi als stimmige religiöse Kinderliteratur wahrnehmen könnten, so ist die religiöse und weltanschauliche Pluralität junger Leser*innen nicht zu übersehen. Religiosität ist gegenwärtig nicht nur als multireligiös und multikonfessionell zu charakterisieren, sondern sie lässt sich vielfach auch als Patchworkreligiosität kennzeichnen. Gläubige wählen selektiv aus unterschiedlichen Religionen, Konfessionen und Weltanschauungen Aspekte aus, die sie für ihre Religiosität als passend empfinden. Insbesondere die religiösen Traditionen der christlichen Kirchen verlieren hierbei an Bedeutung, es kann von einem breiten Traditionsabbruch gesprochen werden (Gärtner 2015, 114–127). Im Gegenzug gibt es eine zahlenmäßig kleine, aber teils wachsende Gruppe Religiöser, die sich sehr stark an hoch religiöse, manchmal fundamentalistische Gemeinschaften binden. Religion(en) besitzen für viele Men-
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schen weiterhin eine Bedeutung, sie sind Thema im öffentlichen Diskurs, aber ihr Einfluss auf das öffentliche, staatliche Leben schwindet. Während lange Zeit ein gradliniger Weg in eine säkulare Gesellschaft vorgezeichnet schien (sog. Säkularisierungsthese), so zeigt sich die Gesellschaft heute vielfältiger, mit säkularen und religiösen Tendenzen zugleich. Jürgen Habermas hat hierfür den Begriff der postsäkularen Gesellschaft geprägt (Habermas, 242–269). Religion verschwindet somit nicht, doch in einer postsäkularen Gesellschaft kann eine so normative und auch autoritäre religiöse Erziehung, wie sie in den Heidi-Romanen skizziert wird, nicht mehr gesamtgesellschaftlich greifen (Gärtner 2015, 101–108). Auch die Gottes-, Gebets- sowie die rigiden Moralvorstellungen sind zeitgenössischen Leser*innen weitgehend fremd: Ein Gott, der wie ein Polizist über alles wacht und bestraft, Gebete, die stets zum Wohle der Menschen erfüllt werden, das stille Ertragen von Leid in der Hoffnung auf ein besseres Jenseits – all dies ist religiös und theologisch weitgehend nicht mehr zu vermitteln. So lässt sich zwar bei Heidi in »den Motiven, in ihren Einstellungen zu sozialen Problemen und in der immer wiederholten Berufung auf Gott und seinen Beistand […] eine weitgehende Übereinstimmung mit Erzählungen für Kinder aus den [damaligen] religiösen Verlagen feststellen« (Rutschmann, 210), aber inwiefern diese heute noch durchgängig tragfähig sind, ist fraglich. Und dennoch, so soll abschließend aufgezeigt werden, lohnt sich aus einer religionspädagogischen Perspektive die Auseinandersetzung mit den Heidi-Romanen (Gärtner 2015, 101–108). Denn zum einen kann anhand der Romane auf einer Metaebene über Formen religiöser Erziehung und Bildung reflektiert werden. Zum anderen tauchen in den Romanen (religiöse) Themen auf, die auch gegenwärtig relevant, diskutabel und produktiv irritierend sind. Religiöse Themen und Dimensionen können erstens – anders als im Roman – heute nicht mehr intersubjektiv oder intergenerativ ungebrochen übertragen oder vermittelt werden, wie dies in Erziehungsformen der »religiösen Formation« (Englert, 281–283) geschieht. Auch wachsen Kinder und Jugendliche nicht mehr in geschlossenen religiösen Milieus auf, in denen sie quasi von allein die entsprechenden Praktiken und Traditionen übernehmen (»religiöse Inkulturation«). Vielmehr wird religiöses Lernen als eine Art ›Expedition‹ verstanden: Bei diesem gegenwärtig zentralen Lerntyp stehen die individuelle Prüfung und Aneignung von religiösen Traditionen im Mittelpunkt. Religiöses Lernen ist Teil eines individuellen Selbstentwurfs, einer Suche nach dem eigenen Lebensweg. Religiöses Lernen erhält den »Charakter einer Expedition in ›offenes Land‹« (Englert, 283). Dieser Lerntyp ist durch hochgradig individualisierte Verlaufsmuster, wechselnde religiöse Referenzsysteme und ein hohes Maß an Selektivität in Bezug auf Traditionen und Institutionen gekennzeichnet. Betrachtet man die religiösen Lernprozesse in Heidi, dann wird deutlich, dass diese der religiösen ›Formation‹ zugerechnet werden können. Sowohl die Intentionen von Großmutter Sesemann in Bezug auf Heidi als auch die Heidi-Romane insgesamt zielen darauf, dass die religiös Lernenden die Botschaft des Christen-
Claudia Gärtner: Religion und religiöse Bildung in den Heidi-Romanen von Johanna Spyri
tums kennenlernen und die entsprechenden religiösen Praktiken bekenntnishaft mitvollziehen. Deutlich wird in Heidi auch, dass sich religiöses Lernen als Inkulturation selbst in der Abgeschiedenheit des Alpendorfes nicht mehr durchgängig vollzieht. Der subjektive Glaube sowie die Teilhabe am kirchlichen Leben werden »immer mehr zum Gegenstand individueller Entscheidung« (Schröder, 103), wie dies beim Alm-Oehi reflektiert wird. Mit dieser Entwicklung wachsen auch die Notwendigkeit und der Einfluss von Bildung und Erziehung für die Glaubensweitergabe. Der Anstieg religiöser Kinder- und Jugendliteratur im 19. Jahrhundert kann als eine Folge hieraus betrachtet werden. Belehrung und Bekehrung geschieht in Heidi durch biblische (Vorbild-)Geschichten – weshalb Lesefähigkeit erwünscht ist – und durch die Übernahme religiöser (Gebets-)Praxis. Heute greifen die Grundtypen der Inkulturation und Formation in der religionspädagogischen Praxis kaum noch. Die Rahmenbedingungen religiösen Lernens und religiöser Bildung haben sich derart verschoben, dass diese Grundtypen in Theorie und Praxis nur noch ein Schattendasein führen. Dennoch kann Heidi auf Leerstellen heutiger religiöser Bildungsprozesse aufmerksam machen, die vornehmlich dem expeditiven Grundtyp zuzurechnen sind. Denn dieser gegenwärtig dominierende Typ läuft Gefahr, zentrale Aspekte religiösen Lernens und religiöser Bildung zu vernachlässigen, die in den mittlerweile als historisch zu betrachtenden Grundtypen deutlicher zum Ausdruck kommen. So knüpft die ›Expedition‹ nur locker oder selektiv an religiöse Traditionen an und führt damit zu einem schleichenden Verlust derselben. Religionspädagogisch scheint eine Balance zwischen individueller Identitätssuche und Rückbindung an Tradition gefragt. Welche Bedeutung hierbei der religiösen Instruktion zukommt, wie sie in den Heidi-Romanen und insbesondere im Lerntyp der ›Formation‹ ihren Ausdruck findet, gilt es dabei neu auszuloten. In diesem Horizont können zweitens auch einzelne religiöse Themen und Dimensionen aus Heidi (neu) in religiöse Bildungsprozesse eingebracht werden, allerdings nicht im Modus der Vermittlung oder Übertragung, sondern im Modus der Expedition, der Kommunikation und der individuellen Aneignung. So kann durchaus die strittige Gebetspraxis in Heidi zum Anlass genommen werden, um über die Relevanz des Betens nachzudenken. Gerade in multireligiösen Lerngruppen werden vielfältige Gebetspraktiken gelebt, vor deren Hintergrund auch Heidis Gebete sowie die Gebetspraxis der Großmütter in den Romanen erörtert und ihre Relevanz in Hinblick auf das eigene Leben diskutiert werden können. Diesbezüglich ist auch das Alter potenzieller Leser*innen zu berücksichtigen. Schaut man auf gängige, wenn auch nicht unumstrittene Modelle religiöser Entwicklung, so befinden sich diese im Grundschul- und frühem Sekundarstufenalter nach Fritz Oser und Paul Gmünder weitgehend auf der zweiten Stufe der relativen Heteronomie (79–96): Demnach besitzen Kinder die Vorstellung, dass sie durch ihr eigenes Tun das Handeln Gottes begünstigen können. »Do-ut-des« wird diese Stufe lateinisch entsprechend benannt. Eben diese Logik wird in der Gebetserzie-
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hung in den Heidi-Romanen eingespielt. Gott greift, wenn auch auf seine eigene Weise, in die Welt helfend ein, wenn Heidi regelmäßig hierfür betet. Und umgekehrt kann unterlassenes Beten zu Leid und Unglück führen. Diese religiöse Logik ist entwicklungsbedingt für Kinder nach Oser und Gmünder plausibel – und damit auch für zeitgenössische jüngere Leser*innen kognitiv anschlussfähig. Zugleich stellt dies auch eine Problematik der Heidi-Romane dar. Denn in ihnen wird dieser do-ut-des-Zusammenhang nicht hinterfragt, er wird nicht aufgebrochen und bietet damit auch keine Möglichkeit, die Gottesvorstellungen zu erweitern oder zu transformieren. Denn die Erfahrung, dass Gottes Handeln durch menschliches Handeln beeinflusst und dass zugleich Leid und Unheil durch mangelnden Glauben mit bedingt sind, ist theologisch eine hochambivalente und letztlich in dieser Kausalität nicht durchtragende Konzeption. Damit einher geht ein in Heidi ambivalenter Umgang mit Kontingenz. Zum einen zeugen die Romane davon, wie viel Kraft, Zuversicht und Hoffnung aus einer religiösen Weltdeutung geschöpft werden kann. Es ist der Glaube an die Erlösung von Leid und Armut, die Peters Großmutter Lebensmut verleiht. Heidi versprüht aus ihrem Glauben heraus und aus einer religiösen Deutung der erhabenen Natur Lebensfreude, die wiederum zur Kraftquelle ihrer Mitmenschen wird. Zugleich wendet sich Heidi liebevoll und helfend den Bedürftigen zu. Es geht »Johanna Spyri offensichtlich in erster Linie darum, zu zeigen, wie der Glaube in den schwierigsten Lebenssituationen helfen kann« (Beutler, 20). Dabei verbleibt der Umgang mit Kontingenz jedoch auf einer religiösen resp. individuell-diakonischen Ebene. Diese pietistisch geprägte Religiosität fordert hingegen keine gesellschaftlichen oder politischen Veränderungen, Ursachen für Armut oder Ausgrenzung werden nicht thematisiert, sondern diakonisch abgefedert und – durchaus ambivalent – mit dem Ausblick auf jenseitige Erlösung erträglich gemacht. Anschlussfähig für heutige Leser*innen erweist sich hingegen die im Roman an vielen Stellen deutlich gewordene erhabene bzw. religiöse Deutung der Natur. Naturerfahrungen besitzen gegenwärtig für viele Menschen eine hohe Bedeutung: hier werden Erfahrungen eröffnet, die für sie den Alltag entgrenzen, die das Gespür für ein ›Mehr‹ eröffnen und oftmals religiös als Transzendenzerfahrungen gedeutet werden. Gerade angesichts der fortschreitenden Naturzerstörung, der Fragilität und Verwundbarkeit des Planeten muten die ungebrochenen Naturbeschreibungen in Heidi diesbezüglich schon fast nostalgisch und verklärend an. Zugleich erscheint die reduzierte, einfache Lebensweise in den Alpen aktueller denn je. Fragen nach einem suffizienten Lebensstil, nach Postwachstum und nach einem guten Leben für alle (buen vivir) prägen Debatten einer notwendigen sozial-ökologischen Transformation unserer Gesellschaft angesichts der sozialen und ökologischen Katastrophen (Gärtner 2020, 9–20). In Konzeptionen einer Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) wird herausgestellt, wie wichtig Naturerfahrungen und Beispiele gelingenden sozial-ökologischen Lebens sind, damit
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Heranwachsende motiviert und ermutigt werden, sich für den Erhalt der Umwelt einzusetzen (Gärtner 2020, 74–82). Heidi führt den Leser*innen, wenn auch teils verklärend und romantisierend, Naturerfahrungen vor Augen, die in ihrer Erhabenheit bewegen und den Wunsch entfalten können, in diese Naturwelten selbst einzutauchen. Zumindest zeugen die vielen Aktualisierungen der Romane und die Besucher*innenströme, die die ›Heidi-Berge‹ jedes Jahr aufsuchen, von dieser Faszination. Die Romane verdeutlichen somit zum einen die historische Bedingtheit religiöser Bildungs- und Lernprozesse. Heidi kann diesbezüglich heute nur noch bedingt als zeitgemäßes religiöses Kinderbuch gelesen werden. Die Protagonistin fungiert für Kinder kaum noch als religiöses ›Vorbild‹. Zugleich eröffnen Spyris Romane Diskurs- und Erfahrungsräume, um über religiös relevante Themen und Dimensionen sowie über Fragen eines guten, nachhaltigen Lebens miteinander ins Gespräch zu kommen.
Bibliografie Beutler, Kurt. Die Schweiz und ihr Geheimnis. Warum dieses Land anders ist. Fontis, 2017. Englert, Rudolf. Religionspädagogische Grundfragen. Anstöße zur Urteilsbildung. Kohlhammer, 2008. Gärtner, Claudia. Religionsunterricht – ein Auslaufmodell? Begründungen und Grundlagen religiöser Bildung in der Schule. Schöningh, 2015. Gärtner, Claudia. Klima, Corona und das Christentum. Religiöse Bildung in einer verwundeten Welt. transcript, 2020. Habermas, Jürgen. »Glauben u. Wissen. Friedenspreisrede 2001.« Zeitdiagnosen. Zwölf Essays, hg. von Jürgen Habermas, Suhrkamp, 2003, 242–269. Hurrelmann, Bettina. »Mignons erlöste Schwester. Johanna Spyris ›Heidi‹.« Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur, hg. von Bettina Hurrelmann, Fischer, 1995, 191–215. Kaminski, Winfried. »Spyri, Johanna.« Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur. Personen-, Länder- und Sachartikel zu Geschichte und Gegenwart der Kinder- und Jugendliteratur. Band 3: P-Z, hg. von Klaus Doderer, Beltz, 1979, 446–448. Mergenthaler, Volker. »Woher das Licht kommt. Sakralisierungstendenzen in ›Heidi’s Lehr- und Wanderjahren‹.« Herkünfte, historisch – ästhetisch- kulturell, Festschrift zum 60. Geburtstag von Bernhard Greiner, hg. von Babara Thums, Volker Mergenthaler, Nicola Kaminski und Doerte Bischoff, Universitätsverlag Winter, 2004, 337–359. Oser, Fritz und Gmünder, Paul. Der Mensch – Stufen seiner religiösen Entwicklung. Ein strukturgenetischer Ansatz. Verlagshaus Gerd Mohn, 1988.
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Pabst, Martin. »Mission« und Kolonialpolitik. Die Norddeutsche Missionsgesellschaft an der Goldküste und in Togo bis zum Ausbruch des 1. Weltkrieges. Anarche, 1988. Richter, Dieter. »Ein Beitrag zu den schweizerisch-hansestädtischen Literaturbeziehungen und zu den schriftstellerischen Anfängen der »Heidi«-Autorin.« Librarium 31, 2, 1988, 84–94. Rutschmann, Verena. »›Gott sitzt im Regiment und führet alles wohl.‹ Zu den Kinderbüchern von Johanna Spyri.« Heidi – Karrieren einer Figur, hg. von Ernst Halter, Offizin, 2001, 207–219. Schindler, Regine. »Form und Funktion religiöser Elemente in Johanna Spyris Werken.« Nebenan. Der Anteil der Schweiz an der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur, hg. von Verena Rutschmann, Chronos-Verlag, 1999, 173–199. Schindler, Regine. »Johanna Spyris Religion der Großmütter.« Denk-Würdige Stationen der Religionspädagogik: Festschrift für Rainer Lachmann, hg. von Horst F. Rupp, IKS Garamond, 2005, 199–219. Schröder, Bernd. Religionspädagogik. Mohr Siebeck, 2012. Spyri, Johanna. Heidis Lehr- und Wanderjahre. Friedrich Andreas Perthes, 1880. Spyri, Johanna. Heidi kann brauchen, was es gelernt hat. Friedrich Andreas Perthes, 1881. Stamm, Peter. Heidi. Nach der Geschichte von Johanna Spyri. Nagel & Kimche im Carl Hanser Verlag, 2008. Wissmer, Jean-Michel. Heidi. Ein Schweizer Mythos erobert die Welt. Schwabe, 2014.
Wiedersehen mit Heidi/Re-reading Heidi Diversität in der schulischen Bildung gestern und heute Chantal Lepper und Nele McElvany
1.
Einleitung
In den Romanen Heidis Lehr- und Wanderjahre (1880) und Heidi kann gebrauchen, was es gelernt hat (1881) von Johanna Spyri spielen sowohl der Wert schulischer Bildung als auch Kriterien des Bildungserfolgs, die am Ende des 19. Jahrhunderts bedeutsam waren, eine wichtige Rolle. So wird in verschiedenen Szenen der Romane beispielsweise der Erwerb der Lesekompetenz als eine bedeutsame Schlüsselfähigkeit thematisiert (z.B. Spyri 1880, 157). Am Beispiel der Romanfiguren Heidi, Peter und Clara werden unterschiedliche individuelle Ausgangslagen ersichtlich, die zu Gründerzeiten für den schulischen Bildungserfolg relevant waren. Während Heidi und Peter aus einer bildungsferneren, ärmeren Sozialschicht stammen und in den Schweizer Bergen leben, wächst Clara in sehr privilegierten Familienverhältnissen in der Großstadt Frankfurt auf. Clara ist körperlich beeinträchtigt und sitzt im Rollstuhl. Sie wird von einem Privatlehrer unterrichtet, wohingegen Peter und Heidi eine öffentliche Dorfschule besuchen. Der vorliegende Beitrag befasst sich im Kontext des Herausgeberbandes »Wiedersehen mit Heidi – Re-reading Heidi« mit der Frage, inwiefern die angeführten bildungsrelevanten Diversitätsmerkmale nicht nur am Ende des 19. Jahrhunderts wichtige Determinanten des Bildungserfolgs darstellten, sondern auch heutzutage noch von Relevanz sind. Dabei stehen die Diversitätsmerkmale soziale Herkunft, Geschlecht, sonderpädagogischer Förderbedarf und regionale Herkunft im Fokus. Um diese Frage aus der Perspektive der empirischen Bildungsforschung beantworten zu können, werden zunächst grundlegende theoretische Rahmenmodelle zu den verschiedenen Determinanten des Bildungserfolgs eingeführt. Danach werden empirische Befunde zu Zusammenhängen zwischen den Diversitätsmerkmalen und Kriterien des Bildungserfolgs skizziert. Dabei werden insbesondere Ergebnisse von großangelegten Schulleistungsvergleichsstudien, wie der Trends in International Mathematics and Science Study (TIMSS), der Internationalen GrundschulLese-Untersuchung (IGLU), dem Programme for International Student Assessment (PISA)
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oder dem IQB-Bildungstrend, in den Blick genommen. Der Fokus dieser Studien liegt dabei auf Schlüsselkompetenzen, wie dem Lesen oder mathematischen Fähigkeiten. Abschließend wird die Frage, ob die Heidi-Romane hinsichtlich Diversität in schulischer Bildung aus heutiger Sicht neu geschrieben werden müssten, kritisch diskutiert.
2.
Bildungsrelevante Diversitätsmerkmale
Schulischer Bildungserfolg gilt als eine bedeutsame Zielgröße von Schule und Unterricht und wird als wichtige und begünstigende Voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe, Selbstbestimmung und ökonomischen Wohlstand erachtet. Bildungserfolg wird als multidimensionales Konstrukt definiert und umfasst neben zentralen Schlüsselkompetenzen auch eine günstige motivationalen Orientierung von Lernenden (Kunter; Seidel). Nicht nur die Romanfiguren Heidi, Peter und Clara unterscheiden sich hinsichtlich ihrer individuellen Ausgangslagen und ihres schulischen Lernerfolgs voneinander. Auch heutzutage bestehen Ungleichheiten im schulischen Erfolg, sodass der Identifikation von Determinanten des Bildungserfolgs eine wesentliche Rolle zukommt (Baumert et al.). Abbildung 1 bietet einen schematischen Überblick zu ausgewählten bildungsrelevanten Diversitätsmerkmalen, die durch die Romanfiguren Heidi, Peter und Clara präsent sind und im Folgenden spezifischer betrachtet werden. Dabei lassen sich individuelle, familiäre und kontextuelle Determinanten, die als Erklärungsfaktoren von Bildungserfolg dienen, unterscheiden.
Abbildung 1: Übersicht zu ausgewählten Determinanten des Bildungserfolgs
Chantal Lepper und Nele McElvany: Wiedersehen mit Heidi/Re-reading Heidi
2.1 Individuelle Determinanten von Lernenden 2.1.1 Geschlecht als bildungsrelevantes Merkmal Das Geschlecht wird als ein wichtiges Personenmerkmal erachtet (Hyde; Kessels et al.). Im Schulkontext wird das Geschlecht überwiegend als individuelle Determinante von Bildungserfolg angesehen, da Unterschiede in schulischen Leistungen und motivationalen Merkmalen anhand des Geschlechts der Lernenden erklärt werden konnten (Bandura; Hadjar und Berger; Halpern). Den Geschlechterunterschieden liegen jedoch auch sozialisationsbedingte Kontexteffekte zugrunde. Daher existieren auch theoretische Verortungen des Geschlechts als soziale Determinante. In Theorien zur Erklärung von Geschlechterunterschieden, wie der Erwartungs-WertTheorie von Eccles und Wigfield oder dem Interest as Identity Regulation Model (IIRM) von Kessels et al., wird postuliert, dass sich geschlechtsbezogene Überzeugungen und Erwartungen sozialer Akteure auf die Leistungen und motivationalen Merkmale von Lernenden in akademischen Kontexten auswirken können. Diese können wiederum Folgen für bildungs- und berufsrelevante Entscheidungen von Schülerinnen und Schülern haben. So wird in der Wert-Erwartungstheorie von Eccles und Wigfield beispielsweise angenommen, dass Mädchen und Jungen zum Teil über unterschiedliche Wertzuschreibungen und Erfolgserwartungen in Bezug auf Fachdomänen oder Themen verfügen, die unter anderem von geschlechtstypisierenden Überzeugungen und Erwartungen von Lehrkräften, Eltern und Peers geprägt werden. Geschlechtsbedingte Unterschiede können nicht nur mit den Leistungen und motivationalen Merkmalen der Schülerinnen und Schüler zusammenhängen, sondern auch die Fach- oder Berufswahl von weiblichen und männlichen Lernenden betreffen (Gaspard et al.; Hadjar und Berger; Lazarides und Lauermann; Widlund et al.). Hinsichtlich motivationsbezogener Unterschiede zwischen weiblichen und männlichen Lernenden, geht das Interest as Identity Regulation Model von Kessels et al. davon aus, dass eine wahrgenommene Kongruenz zwischen dem Geschlecht eines Individuums und der Typisierung einer Domäne oder Aktivität als stärker weiblich oder stärker männlich günstig für die Interessensentwicklung des Schülers bzw. der Schülerin ist. Während die sprachliche Domäne oder das Lesen als stärker weiblich konnotiert gelten, werden mathematische oder naturwissenschaftliche Fächer stärker männlich attribuiert (Plante, Théorêt et al.; Plante, O’Keefe et al.; Steffens et al.; Voyer und Voyer). Der Theorie von Kessels et al. gemäß sind die Übereinstimmung des geschlechtsbezogenen Selbstbilds und gesellschaftlich vorherrschende Geschlechtsstereotypen förderlich für die Interessensentwicklung von Mädchen und Jungen. Soziale Sanktionen bei ›geschlechtsuntypischem‹ Verhalten könnten diese Verknüpfung möglicherweise erklären. Darüber hinaus gehen Unterschiede in motivationalen Merkmalen wiederum mit Leistungsunterschieden einher (z.B. Huang; Muenks et al.; Steinmayr et al.).
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2.1.2 Sonderpädagogischer Förderbedarf als bildungsrelevantes Merkmal Körperliche, geistige oder sozial-emotionale Beeinträchtigungen von Lernenden können ebenfalls als individuelle Determinanten des schulischen Erfolgs angesehen werden. Lernende mit einem diagnostizierten Förderbedarf in den Bereichen Lernen, sozial-emotionale Entwicklung, Sprache, körperliche oder geistige Beeinträchtigungen werden im schulischen Kontext als Individuen mit sonderpädagogischem Förderbedarf (SPF) bezeichnet (Autorengruppe Bildungsberichterstattung). Lernende mit SPF benötigen häufig zusätzliche Unterstützungs- und Hilfsangebote, um den Schul- und Unterrichtsalltag erfolgreich bewältigen zu können. Gemäß der UN-Behindertenrechtskonvention aus dem Jahr 2010 steht Lernenden mit SPF das Recht zu, gezielte Förderung innerhalb des Regelschulsystems zu erfahren und damit uneingeschränkten Zugang zu Bildung zu erhalten. Diese Forderung unterstützt auch die Ständige Kultusministerkonferenz Deutschlands, indem sie sich dazu verpflichtet hat, »den Grundsatz der Inklusion von Menschen mit Behinderungen auch im Schulbereich umzusetzen und das allgemeine Schulsystem in Deutschland zu einer inklusiven Schullandschaft weiterzuentwickeln« (KMK, 6). Aktuell werden Lernende mit SPF an Förderschulen und allgemeinbildenden Schulen unterrichtet, wobei der prozentuale Anteil der Lernenden mit SPF an Förderschulen (ca. 58 %) höher ausfällt als der Anteil der Lernenden mit SPF (ca. 42 %) an allgemeinbildenden Schulen (Autorengruppe Bildungsberichterstattung).1 Dabei sind vor allem Lernende der Förderschwerpunkte Lernen und sozial-emotionale Entwicklung an allgemeinbildenden Schulen repräsentiert (Statistisches Bundesamt). Vor dem Hintergrund der Frage, welchen Bildungserfolg Lernenden mit und ohne SPF erzielen, sollte allerdings bedacht werden, dass Lernende mit SPF sehr heterogene individuelle Ausgangslagen hinsichtlich lernrelevanter kognitiver Fähigkeiten und motivationaler Merkmale aufweisen (Grünke und Grosche). Der Heterogenität in der Zusammensetzung der Gruppe von Lernenden mit SPF können die folgenden Ausführungen daher leider nicht gerecht werden. Anzunehmen ist jedoch, dass Lernende mit SPF im Durchschnitt geringere Bildungserfolge verzeichnen als Lernende ohne SPF. Dabei können unterschiedliche Erklärungsansätze herangezogen werden, um Leistungs- und Motivationsunterschiede zwischen Lernenden mit und ohne SPF theoretisch zu begründen. Zum einen können kognitive und sprachliche Grundfähigkeiten sowie die Aufmerksamkeitsregulation den Kompetenzerwerb der Lernenden bedeutsam beeinflussen (ebd.). Zum anderen kann das durchschnittliche Leistungsniveau des Lernumfelds von Bedeutung sein. So ließe sich für Schülerinnen und Schüler mit SPF in leistungsstärkeren Lernumgebungen, wie dem Unterricht an allgemeinbildenden 1
Die Debatte um Unterschiede im Bildungserfolg von Lernenden mit SPF an Förderschulen im Vergleich zu Allgemeinbildenden Schulen steht in diesem Beitrag nicht im Fokus (siehe dazu Kocaj, Kuhl, Kroth et al.; Kocaj, Kuhl, Haag et al.).
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Schulen, eine positive Leistungsentwicklung erwarten, die anhand höherer Leistungserwartungen von Lehrkräften im Sinne des Pygmalion-Effekts erklärt werden könnte (Hornstra et al.; Jussim und Eccles; Kocaj, Kuhl, Rjosk et al.). Mit Blick auf motivationale Merkmale können sich jedoch auch negative Effekte in Bezug auf das subjektive Fähigkeitsselbstkonzept der Lernenden mit SPF ergeben. Da den subjektiven Erfolgserwartungen bzw. dem Fähigkeitsselbstkonzept häufig soziale Vergleiche zugrunde liegen, können sich bessere Leistungen von Mitschülerinnen und Mitschülern negativ auf das Selbstkonzept der Lernenden mit SPF in leistungsstärkeren Lernkontexten auswirken (Kocaj et al.; Nusser und Wolter; siehe auch Big-Fish-LittlePond-Effect nach Marsh et al.).
2.2 Soziale Herkunft als familiäre Determinante Die soziale Herkunft von Schülerinnen und Schülern wird als eine wichtige familiäre Determinante des Bildungserfolgs angesehen (Becker 2011; Sirin). Basierend auf der Theorie primärer und sekundärer Herkunftseffekte nach Boudon (aktuell z.B. Dumont et al.; Maaz, Baumert et al.; Neugebauer und Schindler) und der Humankapitaltheorie von Bourdieu (aktuell z.B. Edgerton und Roberts; Helsper et al.; Sullivan), kann angenommen werden, dass Lernende in Abhängigkeit ihrer sozialen Herkunft über verschiedene ökonomische, soziale und kulturelle Ressourcen verfügen, die wiederum Angebot und Nutzung von Lerngelegenheiten bedingen. Bourdieu geht von milieuspezifischen Denk- und Handlungsweisen aus, die die soziale Herkunft von Individuen auszeichnen (siehe auch Habitus-Begriff). Der sozioökonomische Status (SES), der zur Erfassung der sozialen Herkunft bestimmt wurde, berücksichtigt neben materiellen Indikatoren, wie Einkommen und Vermögen, auch immaterielle Indikatoren, z.B. den beruflichen Status, erworbene Bildungsabschlüsse sowie vorhandene Netzwerke der Eltern (Boudon; Bourdieu). Diese Kapitalien werden als bildungsrelevante Ressourcen erachtet. Um den SES von Personen zu bestimmen, wurden unterschiedliche Maße entwickelt (z.B. Erikson et al.; Ganzeboom et al.; für eine Übersicht siehe Baumert und Maaz). Den theoretischen Modellen von Boudon und Bourdieu zufolge verfügen Kinder aus wohlhabenderen und gebildeteren Familien über einen besseren Zugang zu Bildung, da ihnen mehr lernrelevante Ressourcen und bessere Fördermöglichkeiten zur Verfügung stehen. Diese Ressourcen können für den Kompetenzerwerb und Bildung von Vorteil sein. In der Theorie der primären und sekundären Herkunftseffekte nach Boudon werden direkte Einflüsse (primäre Herkunftseffekte) und indirekte Effekte (sekundäre Herkunftseffekte) der sozialen Herkunft auf den Bildungserfolg differenziert. Während primäre Herkunftseffekte Leistungsunterschiede zwischen Lernenden anhand von direkten Effekten der Herkunft erklären, fokussieren sekundäre Herkunftseffekte auf indirekte Effekte der sozialen Herkunft, die beispielsweise bei der Wahl einer weiterführenden Schule eine wichtige Rol-
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le spielen. Familien unterscheiden sich in ihren Kosten-Nutzen-Abwägungen in Abhängigkeit ihrer sozialen Herkunft, sodass Kriterien wie der Investitionsaufwand oder spätere berufliche Chancen unterschiedlich bewertet werden. In diesem Kontext sind auch Motive des Statuserhalts für die Entscheidungsbegründung bedeutsam (Ditton). Der SES der Familie fungiert somit als ein wichtiger Einflussfaktor, der Bildungsentscheidungen über die erbrachten schulischen Leistungen der Schülerinnen und Schüler hinaus beeinflusst (z.B. Dumont et al.; McElvany et al.; Scharf et al.). Neben den primären und sekundären Herkunftseffekten wurden außerdem tertiäre Herkunftseffekte beobachtet (Esser; Maaz und Nagy). So konnte für den Übergang in die weiterführende Schule gezeigt werden, dass die Notenvergabe oder die Übergangsempfehlung für weiterführende Schulen von Lehrkräften durch die soziale Herkunft der Lernenden mitbestimmt wurden, sodass sich unabhängig von den erbrachten Leistungen soziale Herkunftseffekte ergaben (Helbig und Morar; Maaz und Nagy). Da soziale Herkunftseffekte sekundärer und tertiärer Art dem meritokratischen Leistungsprinzip widerstreben (Becker und Hadjar; Hadjar; Solga), kann die Identifikation von sozial bedingten Ungleichheiten als besonders relevant erachtet werden.
2.3 Regionale Herkunft als kontextuelle Determinante Die regionale Herkunft von Lernenden wird als eine wichtige kontextuelle Determinante des Bildungserfolgs angesehen (Ditton und Krüsken; Kozol; Leventhal und Brooks-Gunn). In Anlehnung an die zuvor angeführten Theorien von Boudon und Bourdieu, in denen Lernprozesse und Bildungsentscheidungen durch milieuspezifische Denk- und Handlungsweisen sowie sozial bedingte Kosten-NutzenAbwägungen beeinflusst werden, können auch regionalbedingte Aspekte eine wichtige Rolle für das Vorhandensein von Disparitäten bezüglich Bildungsressourcen spielen. So lassen sich beispielsweise regionalbedingte Unterschiede in infrastrukturellen Gegebenheiten aufzeigen, die sich in der Nutzung des zur Verfügung stehenden Bildungsangebots zeigen. Generell können dabei unterschiedliche Ebenen der regionalen Herkunft betrachtet werden: International, bundeslandspezifisch, regional oder stadtteilbezogen. Von Interesse ist dabei beispielsweise, ob städtische im Vergleich zu ländlichen Regionen einen besseren Zugang zu Bildung ermöglichen. Diese Frage wurde insbesondere im Zuge der Bildungsexpansion verstärkt diskutiert (Henz und Maas). Im Rahmen von Stadt-Land Vergleichen werden neben infrastrukturellen (z.B. Entfernung zwischen Schule und Wohnort) auch soziokulturelle Faktoren der regionalen Herkunft (kollektive Wertüberzeugung hinsichtlich schulischer Bildung) in den Blick genommen (Helbig; Horr). Aktuell erfährt die Diskussion um regionale Herkunftseffekte und den Zusammenhang mit schulischem Bildungserfolg jedoch erneut Aufmerksamkeit, da sich die sozialräumliche Segregation innerhalb von Regionen und Städten verstärkt
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(Horr; Parade und Heinzel; Schuchart et al.). So kann sich auch innerhalb von Regionen oder Städten eine hohe Varianz bezüglich bildungsrelevanter Ressourcen ergeben. Zudem können weitere wichtige Kompositionsmerkmale von Schulen oder Klassen, wie dem durchschnittlichen SES oder dem Anteil an Lernenden mit sonderpädagogischem Förderbedarf, mit der regionalen Herkunft konfundiert sein (Bellin; Gresch et al.).
3. Empirische Befundlage 3.1 Geschlechtsbedingte Unterschiede Geschlechtsbedingte Unterschiede im Bildungserfolg wurden in den letzten Jahrzehnten nicht global, jedoch in spezifischen akademischen Domänen identifiziert. Insbesondere in der Lesedomäne ergaben sich wiederholt Vorteile in der Leseleistung und der Lesemotivation zugunsten von Mädchen (IGLU 2016: McElvany et al.). In Mathematik ließen sich im Grundschulkontext hingegen keine bedeutsamen Unterschiede in den mathematischen Leistungen zwischen Mädchen und Jungen feststellen (TIMSS 2019: Nonte et al.; TIMSS 2015: Wendt et al.). Allerdings wurden vereinzelt statistisch bedeutsame, jedoch geringe Unterschiede in der Mathematikkompetenz zugunsten von Jungen im Grundschulkontext beobachtet (TIMSS 2019: Nonte et al.). Betrachtet man den weiterführenden Schulkontext, zeigt sich ein ähnliches Bild: Während Mädchen bessere Leseleistungen und eine höhere Lesemotivation erzielten als Jungen (PISA 2018: Diedrich et al.; Weis et al.), verfügten Mädchen im Fach Mathematik über geringere Fähigkeiten und ein ungünstigeres Fähigkeitsselbstkonzept als Jungen (PISA 2018: Reinhold et al.; IQB-Bildungstrend 2018: Schipolowski et al.). In Bezug auf Schulnoten erhielten Mädchen sowohl in der Grundschule als auch im weiterführenden Schulkontext durchschnittlich bessere Noten im Vergleich zu Jungen (Kuhl und Hannover; Maaz et al.; Voyer und Voyer). Außerdem waren Mädchen im Vergleich zu Jungen am Gymnasium überrepräsentiert (Statistisches Bundesamt) und erzielten höhere Bildungsabschlüsse (Hannover und Kessels; Helbig). Im Trendvergleich zeigte sich, dass in Bezug auf die bestehenden Geschlechterunterschiede in den Domänen Lesen und Mathematik keine substanziellen Veränderungen in leistungsbezogenen und motivationalen Merkmalen vorlagen (IGLU 2016: McElvany et al.; TIMSS 2019: Nonte et al.; IQB-Bildungstrend 2018: Stanat et al.), wenngleich sich eine Verringerung der Leistungsunterschiede zwischen Mädchen und Jungen in einzelnen Domänen und Altersgruppen, wie Mathematik in der Sekundarstufe, andeutete (z.B. IQB-Bildungstrend 2018: Schipolowski et al.). Nichtsdestotrotz fungiert das Geschlecht von Lernenden nach wie vor als ein wichtiger Faktor zur Erklärung von Unterschieden im Bildungserfolg.
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3.2 Unterschiede zwischen Lernenden mit und ohne sonderpädagogischem Förderbedarf Im Vergleich des erzielten Bildungserfolgs zwischen Lernenden mit und ohne SPF sollten die sehr heterogenen Lernvoraussetzungen (Kocaj, Kuhl, Haag et al.; Kocaj, Kuhl, Kroth et al.; Müller et al.) stets berücksichtigt werden. Auch die Frage nach einer geeigneten Vergleichsgruppe für Lernende mit SPF lässt sich nicht leicht beantworten. Vor dem Hintergrund dieser genannten Einschränkungen, können jedoch einige allgemeine Befunde zum Bildungserfolg von Lernenden im SPF berichtet werden. Beispielsweise zeigten Müller, Prenzel et al. anhand einer Sonderauswertung von PISA-Daten, dass Lernende mit SPF an Förderschulen Leistungsnachteile in den Domänen Lesen und Mathematik im Vergleich zu 15jährigen Lernenden an allgemeinbildenden Schulen aufwiesen. Jugendliche mit SPF verfügten demnach nur in ungenügendem Maße über Basiskompetenzen in Lesen und Mathematik. Zudem wurde im Rahmen der National Educational Panel Study (NEPS) in Bezug auf die Lesekompetenzen von 9. Klässlerinnen und Klässlern gezeigt, dass Lernende mit SPF im Förderbereich Lernen über geringere Lesekompetenzen als Lernende ohne SPF verfügten (Pohl et al.). Für Lernende mit SPF im Förderbereich Lernen wurden in aktuelleren Studien außerdem geringere Kompetenzen im logischen Denkvermögen in der 9. Klasse berichtet (Kocaj, Kuhl, Kroth et al.; Nusser und Messingschlager). Weitere, allerdings etwas ältere Studien, wie KESS-7-F oder BELLA, ergaben für einzelne Regionen Deutschlands, dass Lernende mit SPF im weiterführenden Schulkontext durchschnittlich schlechtere Leistungen in Lesen und Mathematik erzielten als Lernende ohne SPF (Lehmann und Hoffmann; Wocken und Gröhlich). Hinsichtlich der erreichten Bildungsabschlüsse von Lernenden mit und ohne SPF wird anhand aktueller Schulstatistiken ersichtlich, dass über 60 % der Lernenden mit SPF die Schullaufbahn ohne einen Schulabschluss beendeten und etwa 26 % der Lernenden mit SPF einen Hauptschulabschluss absolvierten (Statistisches Bundesamt). Die Hochschulreife bzw. das Abitur erwarben ca. 1 % der Lernenden mit SPF. Diese Befunde sind besonders vor dem Hintergrund der späteren Erwerbstätigkeit und der beruflichen Ausbildung von Schülerinnen und Schülern zentral, da Bildungsabschlüsse als bedeutsame Kriterien für den Zugang zu beruflichen Positionen fungieren und darüber hinaus Aufschluss über erworbene Schlüsselkompetenzen geben. In einer weiteren Studie zeigte sich für Schülerinnen und Schüler mit SPF in der 9. Jahrgangsstufe, dass sie nur unzureichend über bedeutsame schulische Kompetenzen verfügten, die jedoch für den Arbeitskontext besonders relevant sind (Gebhardt et al.). Resümierend bleibt festzuhalten, dass Lernende mit SPF im Vergleich zu Lernenden ohne SPF durchschnittlich schlechtere schulische Leistungen und geringere Bildungserfolge erzielten. Wie Lernende mit SPF durch gezielte Förderangebote in ihrem
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Kompetenzerwerb noch besser unterstützen könnten, sollte daher weiterführend diskutiert werden.
3.3 Sozialbedingte Unterschiede Für den Zusammenhang zwischen der sozialen Herkunft von Schülerinnen und Schülern und Kriterien des Bildungserfolgs liegen zahlreiche empirische Befunde vor (z.B. Deutschland: Haag et al.; Mahler und Kölm; Stubbe et al.; International: Andersen und Hansen; Evans et al.; Sirin). Übergreifend lässt sich konstatieren, dass Lernende aus Familien mit höherem SES durchschnittlich bessere schulische Leistungen als Schülerinnen und Schüler aus Familien mit niedrigerem SES erzielten. Die enge Verknüpfung zwischen sozialer Herkunft und SES der Lernenden in Deutschland lässt sich zudem als weitgehend stabiler Befund beschreiben, der sich über unterschiedliche Altersgruppen und Jahrzehnte hinweg wiederkehrend aufzeigen lässt (IGLU 2016: Hußmann et al.; TIMSS 2019: Stubbe et al.; PISA 2018: Weis et al.; IQB-Bildungstrend 2018: Mahler und Kölm). Für das Ende der Grundschulzeit wird anhand von Daten unterschiedlicher Schulleistungsvergleichsstudien für Deutschland erkennbar, dass Lernende mit einem niedrigerem SES über geringere Kompetenzen in den Domänen Lesen und Mathematik verfügten (IGLU 2016: Hußmann et al.; TIMSS 2019: Stubbe et al.; TIMSS 2015: Stubbe et al.). Im weiterführenden Schulkontext wiesen Jugendliche mit höherem SES durchschnittlich höhere Kompetenzen im Lesen und in Mathematik auf als Lernende mit niedrigerem SES (IQB-Bildungstrend 2018: Mahler und Kölm; PISA 2018: Weis et al.). Außerdem waren Lernende mit höherem SES im Vergleich zu Lernenden mit niedrigerem SES an Gymnasien überrepräsentiert (Ditton und Krüsken; Pietsch). Darüber hinaus erhielten Lernende mit höherem SES im Vergleich zu Lernenden mit niedrigerem SES trotz vergleichbarer schulischer Leistungen häufiger bessere Noten und eine Empfehlung für die gymnasiale Oberstufe (Maaz et al.; Maaz und Nagy). Diese Befunde unterstützen die theoretischen Annahmen zu sekundären und tertiären Herkunftseffekten. Hinsichtlich einer möglichen Veränderung des Zusammenhangs zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg im Verlauf der Zeit demonstrieren die Ergebnisse aus großangelegten Schulleistungsvergleichsstudien, dass im Allgemeinen keine bedeutsamen Veränderungen des Zusammenhangs zwischen sozialer Herkunft und Leistungskriterien über die letzten zwei Dekaden hinweg verzeichnet werden konnten (IGLU 2016: Hußmann et al.; TIMSS 2019: Stubbe et al.; PISA 2018: Weis et al.; IQB-Bildungstrend 2018: Mahler und Kölm). Wenngleich für spezifische Untergruppen an Lernenden beispielsweise eine positive Veränderungstendenz hinsichtlich der Verknüpfung zwischen der Lesekompetenz und der sozialen Herkunft von Lernenden im Sekundarschulbereich beobachtet wurde (Müller und Ehmke; Weis et
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al.), sind die soziale Herkunft und der Bildungserfolg von Lernenden nach wie vor bedeutsam miteinander verknüpft.
3.4 Regionalbedingte Unterschiede Inwiefern sich Unterschiede im Bildungserfolg von Schülerinnen und Schülern basierend auf der regionalen Herkunft verzeichnen lassen, wurde im Vergleich zu sozialen Herkunftseffekten oder geschlechtsbedingten Befundmustern im schulischen Bildungserfolg bislang weniger stark beforscht. Angesichts sinkender Geburtenraten und zunehmender Urbanisierung (Daniel et al.) gewinnen regionale Herkunftseffekte jedoch erneut an Bedeutung für die Erklärung von Bildungsungleichheiten. Im Rahmen eines Gutachtens des Aktionsrats Bildung zum Thema »Region und Bildung − Mythos Stadt – Land« (Daniel et al.) wurden städtische und ländliche Regionen hinsichtlich bildungsrelevanter Aspekte verglichen. Die Ergebnisse verdeutlichen, dass die Regionen zum Teil über sehr unterschiedliche infrastrukturelle Voraussetzungen aufwiesen, beispielsweise eine schlechtere Erreichbarkeit von Grundschulen im ländlichen Raum. Zudem wurde in weiteren Studien deutlich, dass ländliche Schulen stärker von Schulschließungen betroffen waren und immer noch sind als Schulen in städtischen Regionen, was sich zusätzlich auf längere Anfahrtswege zur Schule auswirkt (Clausen; Riedel et al.). In Bezug auf extracurriculare Lernangebote von Grundschulen in ländlichen und städtischen Gebieten ergaben sich basierend auf Daten des IQB-Bildungstrends 2016 ebenfalls bedeutsame Unterschiede, die zugunsten von städtischen Schulen in Form einer größeren Angebotsvielfalt ausfielen (Stirner et al.). Eine Studie von Sixt verdeutlichte mithilfe von Daten des Sozio-ökonomischen Panels (SOEP), dass die Wahl für das Gymnasium als weiterführende Schulform durch einen höheren Anteil an Gymnasien in dem regionalen Schulangebot begünstigt wurde. Außerdem erwarben Lernende in Regionen, in denen Gymnasien stärker repräsentiert waren, häufiger die Hochschulreife am Gymnasium als Lernende aus Regionen mit einer geringeren Anzahl an Gymnasien. In dem Gutachten des Aktionsrats Bildung (Daniel et al.) wurde in Bezug auf die schulischen Leistungen der Lernenden aus verschiedenen Regionen ebenfalls ersichtlich, dass Lernende aus ländlicheren Gebieten seltener die Hochschulreife erwarben (ca. 28,1 %) als Schülerinnen und Schüler aus städtischen Regionen (ca. 34,1 %) und Großstädten (ca. 41,7 %). Für den Grundschulkontext zeigte sich basierend auf IGLU-Daten, dass Schülerinnen und Schüler im ländlichen Raum über höhere Lesekompetenzen verfügten als Lernende aus städtischen Regionen. Allerdings ließen sich die Leistungsunterschiede über relevante Hintergrundmerkmale bzw. über individuelle Merkmale und die Zusammensetzung der Lernenden auf Klassenebene vollständig erklären (Daniel et al.). Hinsichtlich affektiv-motivationaler Merkmale ließen sich für Grundschulkinder keine statistisch bedeutsamen Unterschiede in der Schulfreude oder der
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Freude am Lesen in Abhängigkeit der regionalen Herkunft beobachten. Festzuhalten ist außerdem, dass die Übergangsquoten für weiterführende Schulen nicht nur bedeutsam zwischen unterschiedlichen Regionen, sondern auch innerhalb von Regionen und Stadtgebieten variierten (Ditton; Hauf; Schräpler und Weishaupt; Terpoorten). In diesem Kontext lassen sich auch Leistungsunterschiede der Lernenden von Schulen in Abhängigkeit des Schulstandorts aufzeigen (Baumert et al.). Regionen unterscheiden sich jedoch auch in weiteren bildungsrelevanten Faktoren voneinander, wie dem Anteil der Lernenden mit Migrationshintergrund oder sonderpädagogischem Förderbedarf (Dumont et al.). Daher sollten zur Erklärung von Unterschieden im Bildungserfolg auch mögliche Interaktionseffekte zwischen relevanten Faktoren berücksichtigt werden. Insgesamt deuten sich bedeutsame Unterschiede im Bildungsangebot und der schulischen Bildung von Lernenden basierend auf der regionalen Herkunft an. Diese sind mit Blick auf den Besuch des Gymnasiums und des Erwerbs höherer Bildungsabschlüsse besonders eindrücklich.
4. Diskussion und Ausblick Die theoretischen und empirischen Befunde verdeutlichen, dass individuelle, familiäre und regionale Determinanten bedeutsam mit verschiedenen Kriterien des Bildungserfolgs verknüpft waren und sind. Im Rahmen des vorliegenden Beitrags wurden die Merkmale Geschlecht, sonderpädagogischer Förderbedarf, soziale und regionale Herkunft als wichtige Ungleichheitsdimensionen in den Fokus gesetzt. In Bezug auf die Frage, ob die Heidi-Romane hinsichtlich Bildungsfragen heutzutage neu geschrieben werden müssten, werden im Folgenden sowohl ein abschließendes Fazit als auch ein Ausblick auf anknüpfende Fragestellungen geboten. Anhand der in den Heidi-Romanen thematisierten Diversitätsdimensionen lässt sich veranschaulichen, dass verschiedene Determinanten nicht nur in der Vergangenheit, sondern auch im 21. Jahrhundert noch hohe Relevanz für die Erklärung von Unterschieden im Bildungserfolg von Kindern und Jugendlichen besitzen. Die Identifikation bedeutsamer Zusammenhangsmuster, die sich zwischen individuellen, familiären sowie regionalen Determinanten und dem schulischen Bildungserfolg von Lernenden zeigen, spielt nach wie vor eine wesentliche Rolle für die Qualität des Bildungssystems (Schwippert et al.; Stanat et al.). Wenngleich im Zuge der Bildungsexpansion seit den 1960er Jahren einschneidende Veränderungen in der Bildungsbeteiligung von Schülerinnen und Schülern zu verzeichnen waren, die insbesondere hinsichtlich der stärkeren Partizipation von Mädchen und jungen Frauen an schulischer Bildung festzustellen sind, stellt die Verringerung sozialer Bildungsungleichheiten eine auch heute noch besonders relevante Aufgabe dar (Breen et al.; Ditton). Befunde großangelegter Schulleistungsvergleichsstudien zeigen, dass Ler-
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nende aus Familien mit niedrigerem SES einen schlechteren Zugang zu Bildung aufweisen und geringere Bildungserfolge als Lernende mit höherem SES erzielen. Dieses Bild zeichnete sich auch in den Heidi-Romanen ab. Geschlechterunterschiede in wichtigen Basiskompetenzen entwickelten sich im Verlauf der Zeit eher zugunsten von Mädchen. Auch im 21. Jahrhundert lassen sich eher Nachteile für Jungen beobachten, beispielsweise in Bezug auf den Erwerb höherer Bildungsabschlüsse. Auch mit Blick auf Lernende mit SPF ergaben sich große Veränderungen in den letzten Dekaden, sodass heutzutage inklusiver Unterricht verstärkt angeboten wird und Lernende mit SPF häufiger innerhalb des Regelschulsystems unterrichtet werden. Zuletzt spielen regionale Disparitäten auch im 21. Jahrhundert noch eine Rolle für den Bildungserfolg von Lernenden, wobei aktuell der Wandel innerhalb von Regionen, z.B. durch die Herausbildung von Großstadtquartieren, an Relevanz für schulisches Lernen gewinnt. Vor diesem Hintergrund spielen auch weitere Aspekte, wie der Migrationshintergrund von Lernenden und die damit einhergehende Diversität in sprachlichen Kompetenzen, eine wichtige Rolle für die schulische Bildung von Lernenden (z.B. Henschel et al.; Kempert et al.; Stanat und Edele). Im Wechsel der Perspektiven von »Müsste Heidi heute aufgrund der aktuellen Bildungsforschungsbefunde neu geschrieben werden?« zu »Müsste die heutige Bildungsforschung aufgrund der Lektüre von Heidi weiterentwickelt werden?« weisen diese beiden Romane gerade anhand der Titelfigur daraufhin, dass die Diversitätsmerkmale Geschlecht (= weiblich), sozio-ökonomische Herkunft (= ›niedrig‹ respektive benachteiligt) sowie regionale Herkunft (= provinziell) in Bildungsfragen verschränkt gedacht und analysiert werden müssen. In weiteren Analysen sollte daher auch die Intersektionalität bildungsrelevanter Merkmale stärker in Betracht gezogen werden, wie beispielsweise die Verflechtung von Geschlecht und sozialer Herkunft (Becker und McElvany; Lühe et al.). Die Romane Spyris demonstrieren anhand der Figur Heidi jedoch auch explizit, dass bestehende Ungleichheiten durch gezielte Förderung individueller Potenziale adressiert und zum Teil bedeutsam reduziert werden können. Die im Roman gewählte Variante – Integration von Heidi in die sozioökonomisch privilegierte Familie in der Stadt – ist selbstverständlich in dieser Form nicht in der Breite umsetzbar. Dennoch spielt heutzutage die Reduktion sozialer Ungleichheit im Bildungssystem ebenfalls eine wichtige Rolle im Bildungssystem, sodass sich Interventionsstudien oder spezifische Förderprogramme mit dieser Zielsetzung befassen (z.B. Züchner und Fischer zur kompensatorischen Wirkung von Ganztagsschulen). Weiterführend sollte hinsichtlich der Frage, ob die Heidi-Romane in Bildungsfragen heutzutage neu geschrieben werden müssten, konstatiert werden, dass sich das Begriffsverständnis von Bildung im Verlauf der Zeit zumindest partiell gewandelt hat (Tenorth). Im Zuge gesellschaftlicher Entwicklungen haben sich somit auch die als relevant erachteten Kriterien des Bildungserfolgs teilweise verändert. Im Kontext des vorliegenden Beitrages wurde vorwiegend auf fachbezogene Kompe-
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tenzen und motivationale Merkmale von Lernenden fokussiert. Darüber hinaus könnte weiterführend noch stärker reflektiert werden, wie Begriffe wie Bildung und Begriffserfolg im 19. Jahrhundert aus gesellschaftlicher Perspektive definiert wurden. Deutlich wird, dass dabei die jeweiligen gesellschaftlichen Umstände berücksichtigt werden müssten. Am Ende des 19. Jahrhunderts waren sowohl die Alphabetisierung als auch die Vermittlung basaler Fähigkeiten für alle Lernenden unabhängig ihrer Herkunft vorrangige Bildungsziele. Im Kontrast dazu gewinnen heutzutage weitere Kompetenzen an Relevanz, die im Zuge der Digitalisierung und Globalisierung gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen (OECD). Deutlich wird jedoch auch, dass bestimmte Kriterien des Bildungserfolgs wie basale Kompetenzen im Lesen oder in Mathematik über die Zeit hinweg nicht an Relevanz verloren haben. Schließlich ist kritisch zu diskutieren, dass das vorliegende Kapitel bewusst zur vergleichenden Analyse mit dem Fokus auf die Beherrschung von Schlüsselkompetenzen eine einschränkende Definition des Begriffs »Bildung« bzw. »Bildungserfolg« vorgenommen hat. Die Heidi-Romane knüpfen hingegen an ein breites, idealistisch-humanistisches Konzept von Bildung an: Bildung findet demnach gerade auch jenseits von Bildungsinstitutionen wie der Schule mit ihrem Unterrichtskonzept statt. Gelingende Bildung ist über Schlüsselkompetenzen wie das Lesen hinausgehend dabei eher auf Selbst-Bildung und Selbst-Formung in Kontakt mit äußeren Einflüssen, gerade auch im Kontakt mit der Natur, hin gedacht. Diese mehrdimensionale Fassung des Bildungsbegriffs ist selbstverständlich auch heutzutage in bildungsbezogenen Diskursen unterschiedlicher Disziplinen hoch relevant. Resümierend bleibt festzuhalten, dass die Heidi-Romane hinsichtlich der angeführten Befundmuster in Bezug auf Bildungsfragen zum Teil umgeschrieben und um zusätzliche relevante Merkmale erweitert werden müssten, um die sozialen Disparitäten der heutigen Gesellschaft widerspiegeln zu können. Nichtsdestotrotz gelten die Diversitätsmerkmale Geschlecht, Beeinträchtigung, soziale und regionale Herkunft nach wie vor jedoch als wichtige Ungleichheitsdimensionen, sodass die Heidi-Romane mögliche Anknüpfungspunkte für die heutige Diskussion zu Determinanten des Bildungserfolgs bieten.
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Zur fachdidaktischen Relevanz empirischer digitaler Medienforschung im Germanistik-Studium am Beispiel von Heidis Medienwelt Gudrun Marci-Boehncke, Hanna Höfer, Esther Weber und Lisa Hannich
Abstract: Texte sind immer auch Spiegel der zeitgeschichtlich erlebten und ideologisch bewerteten Medienwelt ihrer Autor*innen – mit dieser Überlegung auf der Basis der Mediatisierungsthese (Krotz 2001, 2007) untersuchen wir Johanna Spyris Roman Heidi. Dabei geht es sowohl um explizite Medienhandlungen der Figuren in der Geschichte als auch um Hinweise darauf, wie die Kommunikationsbedingungen zur Zeit der literarischen Produktionszeit der Autorin insgesamt im Werk dargestellt und reflektiert wurden. Der Beitrag stellt die Analyse als Teil eines didaktischen Ansatzes vor, der vermitteln soll, wie verschiedene historische und aktuelle Perspektiven auf Kinder- und Jugendliteratur einerseits und andererseits Hermeneutik und Empirie als forschungsmethodische Zugänge in der Lehramtsausbildung Platz finden können.
Einleitung Unser Beitrag verfolgt verschiedene Ziele: Am Gegenstand des Heidi-Romans1 arbeiten wir zunächst werkimmanent, dann zeitgeschichtlich-kontextualisierend und zuletzt historisch-vergleichend. Dabei geht es uns um Erkenntnisse über Literatur – konkretisiert am Beispiel von Johanna Spyris Buch. Dies ist allerdings nur der erste Teil des Beitrags. Vor allem im zweiten Teil geht es uns um Erkenntnisse über mediale Reflexionsfähigkeit selbst als Teil der Medienkompetenzvermittlung im Rahmen des universitären Lehramtsstudiums ›Deutsch‹.
1
Im Folgenden wird mit dem Kurztitel Heidi der in zwei Bänden erschiene Text von Johanna Spyri, Heidis Lehr- und Wanderjahre (erschienen 1880) und Heidi kann brauchen, was es gelernt hat (erschienen 1881), bezeichnet. Aussagen unter diesem Kürzel beziehen sich auf das Gesamtwerk der beiden Bände.
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Bildung und Vermittlung
Das vorgestellte kleine Projekt2 steht dabei im Kontext einer eigenen Forschungsreihe zu studentischen Analysen der Mediatisierung in Preisträgerbänden aus dem Corpus des Deutschen Jugendliteraturpreises zwischen 2014 und 2017 (vgl. Marci-Boehncke und Trapp; Marci-Boehncke). Als Fokus für die studentischen Arbeiten dient dabei jeweils die Forschungsfrage: Wie wird in den entsprechenden Werken die Medienwelt qualitativ und quantitativ präsentiert? Wir werden für die vorliegende Analyse in folgenden Schritten vorgehen: •
•
• •
•
Zunächst wird der disziplinäre und theoretische Kontext des Theorieansatzes vorgestellt und im Rahmen der konkreten Aufgabe verortet, Studierenden des Lehramts ›Deutsch‹ fachspezifisch Medienkompetenz zu vermitteln. Danach blicken wir auf die werkimmanente Analyse und rekonstruieren die historische Medienwelt von Johanna Spyris Werk im 19. Jahrhundert. Die Medienwelt, die Spyri 1880 in ihrem Entwicklungsroman en passant skizziert, gibt wichtige Hinweise auf normative Überzeugungen der Autorin und ihrer Zeit, sie ist eng mit weiteren Themen wie Bildung, religiöse Überzeugungen, Literalität, aber auch Genderverständnis und Naturbild verbunden. Dazu stellen wir ein methodisches Werkzeug vor, mit dem die eben genannte Forschung durchgeführt werden kann. Anschließend gehen wir näher auf den Vergleich der für die Romanfigur Heidi zeitgenössischen Medienwelt mit der heutigen Medienwelt aktueller Lesender ein und diskutieren, welche Erkenntnismöglichkeiten gerade unter Rückbezug auf die Mediatisierungsthese sich aus diesem Vergleich ergeben. Ein Blick auf die Perspektive der studentischen Arbeiten zeigt abschließend Möglichkeiten und Grenzen einer solchen Vorgehensweise auf und reflektiert das didaktische Potential einer solchen Forschungsaufgabe als Teil der Lehramtsausbildung im Fach ›Deutsch‹.
Zur disziplinären und theoretischen Verortung Ein kontextualisierender und vergleichender Zugriff auf einen literarischen Text wie im hier vorzustellenden Projekt verbindet eine Vielzahl an Disziplinen und unterschiedliche Theorieansätze. Bezugsdisziplinen sind dabei die Literaturwissenschaft, die Kulturwissenschaft, die Soziologie und Medienwissenschaft sowie
2
Die Grundlage dieses Beitrags sind die Textanalysen durch zwei Studentinnen im Rahmen ihrer Bachelor-Arbeiten (vgl. Weber; Hannich). Beide – zugleich Mitautorinnen dieses Beitrags – führten diese Analysen mit Wissen um den Projektcharakter der Aufgabenstellung durch. Beide wurden im Vorfeld durch die beiden anderen Autorinnen des Beitrags propädeutisch begleitet und unterstützt.
Marci-Boehncke et al.: Zur fachdidaktischen Relevanz empirischer digitaler Medienforschung
die Fachdidaktik und die Erziehungswissenschaft. Theoretisch und methodisch werden in diesem Zugriff vor allem folgende Aspekte relevant: die Hermeneutik allgemein (Gadamer) sowie die »objektive Hermeneutik« (Oevermann), die verschiedenen Konzepte der Inhaltsanalyse sowie der Rekonstruktiven Sozialforschung (Mayring; Bohnsack et al.), das Ökosystemische Modell nach Urie Bronfenbrenner, die Mediatisierungstheorie nach Krotz sowie, als Medienkompetenzmodell, der europäische digitale Kompetenzrahmen DigComp 2.1 (Carretero et al.). Die Ausgangsperspektive ist einerseits die der Germanistik: ein literarischer Gegenstand, dessen Zielpublikum Kinder darstellen, soll literatur- und sprachwissenschaftlich im Sinn literarischer Hermeneutik analysiert werden. Was man erwarten kann, sind Erkenntnisse über intersubjektiv nachvollziehbare Belege und Argumente, die die je individuellen Lesarten differenzierter machen und anreichern. Der Gegenstandsbereich dieser Analyse selbst ist kulturwissenschaftlich zu verstehen: Es geht nicht nur um die Betrachtung eines literarischen Motivs, sondern um eine im Text gestaltete und gewertete gesellschaftliche Praxis – nämlich den Umgang der literarischen Figuren der Heidi-Handlung mit Medien – und um die Kommentierungen dieser Praxis durch die Erzählfigur. Erwartbar aus der historischen Distanz zwischen der Entstehungszeit des Werkes 1880/1881 und der heutigen Rezeptionszeit ist schon allein bezogen auf die technische Entwicklung eine Unterschiedlichkeit, die zu der Überlegung führt, was von dieser Geschichte heute anders zu erzählen wäre und inwiefern die für eine heutige Narration historisch rekonstruierbaren medialen Veränderungen die Rezeption dieser medial aktualisierten Geschichte beeinflussen würden. Medien gestalten und beeinflussen Gesellschaft auf unterschiedlichen Ebenen. Wir nutzen daher das Modell des Ökosystemischen Ansatzes des Psychologen Urie Bronfenbrenner, um die sozialen Ebenen der Kulturgestaltung in den Blick zu nehmen. Dieses Modell wird auch im Kontext der Medienwissenschaft verwendet. So differenziert Friedrich Krotz auf Basis dieses Modells die Veränderungen der Gesellschaft im Kontext der Mediatisierung. Mediatisierung meint dabei eine Metatheorie, mit der das Verhältnis zwischen den Menschen und ihren Kommunikationspraxen seit Anfang der Hominidisierung beschrieben wird unter der anthropologischen Vorannahme, dass Medialität die Bedingung menschlicher Kommunikation – ja, menschlichen Denkens überhaupt – darstellt (Rath 2014). Bereits ein Gedanke ist medial – nicht erst eine Vermittlung an andere; bereits die Kommunikation mit sich selbst ist ohne Zeichen nicht möglich. Insofern schließt die Theorie der Mediatisierung auch mündliche und gedankliche Kommunikation mit ein und grenzt sich so von dem Begriff der Medialisierung (Meyen) ab, der meist im Zusammenhang mit massenmedialer Kommunikation verwendet wird und vor allem technische Geräte als ›Medien‹ in den Blick nimmt. Die Arbeit am literarischen Text ist in dem diesem Beitrag zugrunde liegenden Lehr- und Forschungsprojekt schließlich eingebettet in einen Medienbildungs-
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kontext, der Studierende und ihr Theoriewissen sowie ihre Reflexionsfähigkeit über mediale Bedingungen als gleichwertigen Fokus neben die textanalytischen Erkenntnisse setzt. Studierende sollen lernen, literarische Texte historisch-kritisch zu analysieren und vor dem Hintergrund aktueller Gesellschaftsbedingungen zu reflektieren.
Die Mediatisierungsbedingungen Die Analyse von Texten der Kinderliteratur gerade auch hinsichtlich ihrer Axiologie spielt in Vermittlungskontexten für Lehramtskandidat*innen eine wichtige Rolle, weil für die Zielgruppe der Kinder die literarischen Texte immer auch Modellcharakter besitzen und damit eine Sozialisationsfunktion (vgl. Ewers; Gansel) haben. Dies explizit als Konstruktionsintention der Texte anzusetzen, trifft auf jeden Fall für die Kinder- und Jugendliteratur des 19. Jahrhunderts und in besonderer Weise auf Spyris Roman zu – mit dem Titel von Band 1 Heidis Lehr- und Wanderjahre bringt sie nicht zufällig ihr Buch in Beziehung zu Goethes bekanntem Bildungsroman. Gesellschaftliche Machtstrukturen und die jeweiligen kommunikativen Gegebenheiten stehen in engem Zusammenhang (vgl. Luhmann) und gerade Medien sind vor allem im deutschsprachigen Raum moralisch determiniert (vgl. Kerlen). Die Erziehungswissenschaft diskutiert solche sozialisatorisch vermittelten Überzeugungen, die sich auf Seiten der Lehrkräfte auch in unterrichtlichen Vermittlungskontexten auswirken, unter dem Terminus der »Beliefs« (vgl. Calderhead; Fenstermacher; Pajares). Gerade die Einstellungen zu Medien gehen bis heute gesellschaftlich weit auseinander und dies hat gravierende Folgen für die Bildungspolitik, wie die internationalen Vergleichsstudien IAE/ICILS und damit auch indirekt IGLU und PISA zeigen. Deutschland ist sowohl in der technischen Infrastruktur als auch in der Umsetzung aktueller, digitaler Medienbildung in den Schulen immer noch international rückständig (Fraillon; Eickelmann et al.). Schulen bilden in dieser Hinsicht oft aus »for an outdated world« (Jenkins und Kelly, 9). Ziel unseres Lehr- und Forschungsprojektes ist es deshalb, literarische Analysen und Bewertungen mit dem Prozess der Vermittlung medialer Beliefs in der Rolle der Lehrkraft zu verbinden und Studierende sowohl medientechnisch als auch in ihrer historisch-kritischen Reflexionsperspektive zu stärken. Die Studierenden arbeiten im Projektkontext mit und über Medien, sie sollen Theoriekenntnis und technische wie medienkommunikative Kompetenzen erwerben. Als Transferleistung geht es schließlich um die Verbindung der Theorie mit der analysierten Lektüre – auf der Basis der medientechnisch realisierten systematischen Codierung. Vor allem für die Beurteilung der technischen und medienkommunikativen Kompetenzen hilft auch der neue
Marci-Boehncke et al.: Zur fachdidaktischen Relevanz empirischer digitaler Medienforschung
europäische Medienkompetenzrahmen DigComp 2.1 bei der Einschätzung ihrer Leistung.
Methodologische Überlegungen zur Forschungsund Kompetenzentwicklung Wir betrachten nun den Gesamtprozess des in seinem Kern didaktisch ausgerichteten Projektes. Zur Analyse der Mediatisierung im 19. Jahrhundert am Beispiel von Johanna Spyris Kinderbuch Heidi ist für die Studierenden zunächst eine Einarbeitung in den notwendigen Theoriehintergrund der Mediatisierung notwendig. Krotz versteht Mediatisierung als Meta-Prozess, der mit weiteren Meta-Prozessen wie Globalisierung und Individualisierung gesellschaftlichen Wandel erklärbar macht (vgl. Krotz 2007, 88–89). Dabei ist das Verständnis davon, was als Medium betrachtet wird, grundlegend. Eine Operationalisierung dieses Medienverständnisses erarbeiten wir mit den Studierenden zunächst auf der Basis eines technischen Medienbegriffs. Hierzu werden »primäre«, »sekundäre«, »tertiäre Medien« nach Pross sowie in Ergänzung nach Faßler »quartäre« Medien unterschieden. Dieses Medienverständnis differenziert dabei je nach der Notwendigkeit des Einsatzes von Technik auf Seiten der Kommunikationsbeteiligten und ihre jeweilige zeit-räumliche Verbindung (Faßler, 147). Vor dem Hintergrund dieser medialen Systematisierung erarbeiten sich die Studierenden zunächst den historischen Mediatisierungskontext der Entstehungszeit des Heidi-Textes unter Rückgriff auf einschlägige Medien- und Literaturgeschichten (z.B. Faulstich). In Bezug auf Johanna Spyri ist zudem ein Blick auf die Situation der Kinder- und Jugendliteratur in der Schweiz notwendig (vgl. Tomkowiak). Methodisch geht es dann darum, den Text zunächst auf die zitierten Medien(-handlungen) hin zu analysieren und diese in ihrer Axiologie näher zu interpretieren. Dazu nutzen die Studierenden das digitale Programm für computergestützte Analysen MAXQDA® , das zur qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring in der Erweiterung von Kuckartz verwendet wird. Das Instrument wird zwar bisher vorrangig in der empirischen Sozialwissenschaft eingesetzt, eignet sich aber ebenso für literaturwissenschaftliche Inhaltsanalysen von fiktionalen Texten (vgl. MarciBoehncke; Marci-Boehncke und Trapp). Mithilfe dieses Instruments gelingt es, Interpretationen qualitativ-empirisch genau durchzuführen, zu dokumentieren und zu plausibilisieren. Deshalb unterstützt es methodologisch den Forschungsansatz der Objektiven Hermeneutik (Oevermann).3
3
An dieser Stelle geht es nicht darum, diesen Ansatz mit einem Anspruch der »Objektivität« zu übernehmen – Interpretationen werden immer als subjektiv verstanden –, aber die inter-
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Da es nicht um die quantitative Analyse des Textes geht, sondern um die (De-/ Re-)Konstruktion einer literarisierten Gesellschaft, werden die literarisch fiktionalisierten gesellschaftlichen Kommunikationshandlungen so behandelt, als wären sie Aufzeichnungen über eine tatsächliche soziale Begebenheit. Die Erzählendenperspektive wird dabei mit der Forschendenperspektive verglichen. Dies geschieht vor dem Hintergrund eines seit der Antike immer wieder diskutierten Paktes des*r Autors*in mit den Lesenden, das Geschriebene als Gegebenes zu akzeptieren. Ohne, dass damit etwas über den ›Realitätsgehalt‹ für die gesellschaftliche Medienrealität der Autorin Johanna Spyri gesagt wird, wird auf der Basis einer literarischen Wahrhaftigkeit eine Vergleichbarkeit zwischen Autorin-Intention und der Haltung von Forschenden hergestellt und der Ansatz einer ›literarischen‹ Gesellschaftsanalyse plausibilisiert. In der vertiefenden Analyse wird außerdem der Ökosystemische Ansatz nach Bronfenbrenner genutzt, um die Medienhandlungen den Sozialräumen der Mikro-, Meso- und Makroebene zuzuordnen und damit zu einer Beschreibung der literarisch entworfenen Gesellschaft und ihrer medialen Bedingungen und Machtstrukturen zu gelangen. Diese ist abschließend abzugleichen mit den medialen Bedingungen, unter denen die heutigen Rezipierenden die Gesellschaft erleben.
Heidis Medienwelt Zur Analyse des Romans pflegen die Studierenden eine digitale Version von Spyris Erstausgabe in MAXQDA® ein. Der Analyseprozess selbst basiert auf Codierungen des Textangebots, wobei MAXQDA® erlaubt, den Text mit den Farbschemata der jeweiligen Codes zu strukturieren. Diese Codes können als kategoriales System zur inhaltlichen Analyse des Narrativs verstanden werden. Dabei werden zunächst ›deduktiv‹ auf der Basis der Theorieerarbeitung solche Codes erstellt, die den jeweiligen theorieimmanenten Kategorien entsprechen. Zunächst orientieren sich die Studierenden an der Terminologie nach Pross und Faßler und unterscheiden die vier oben genannten Medienformen nach Beteiligung technischer Medien auf Sender- und Empfängerseite. Außerdem berücksichtigen sie, auf welcher sozialen Ebene die Kommunikation auftritt. Mikro-, Meso- und Makroebene nach Bronfenbrenner werden zunächst grundlegend unterschieden. Eine Differenzierung inhaltlicher Funktionen der Medien erfolgt dann in einem zweiten Schritt auf der Basis gemeinsamer Reflexionsprozesse. Das Programm bietet im Rahmen der Analysearbeit eine Visualisierung der angelegten Codierung, den so genannten Codebaum (vgl. Abb. 1).
subjektive Plausibilisierung der Interpretation wird empirisch gestützt und kann damit auch einen Beitrag zur eigenen Belief -Reflexion leisten.
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Abbildung 1: »Codebaum« in MAXQDA® zu Heidi (vgl. Weber; Hannich).
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Im Text von Spyri finden sich nach Analyse der Studierenden hauptsächlich primäre Medien. Darunter sind direkte interpersonale (verbale) Kommunikation, Mimik und Gestik zu verstehen, also alle Medien, die kein zusätzliches technisches »Gerät« erfordern. Insgesamt konnten Weber sowie Hannich 118 Stellen identifizieren, in denen solche Kommunikation metakommunikativ berichtet wird. Für sekundäre Medien sind 47 Stellen markiert, als tertiäres Medium wird ausschließlich das Telegramm mit fünf Markierungen genannt. Doch betrachten wir zunächst die primären Medien. Sie werden von den Studierenden in einer vertiefenden Codierung (in-vivo-Codierung) in ihrer Funktion binnendifferenziert. Dabei werden zunächst die konkreten Textstellen in ihrer jeweiligen textlichen Gestalt (z.B. »Der Oehi drückte dem Herrn Doktor lange die Hand«; Spyri 1881, 316) visuell ausgezeichnet und erst in einem zweiten Schritt dann unter eine eigene Subkategorie (z.B. »Gestik«) subsumiert. Dieses Beispiel zeigt die konstruktive Leistung einer qualitativen Kategorisierung. Die Weiterentwicklung einer in-vivo-Codierung bedarf einer eigenen kategorialen Thesenbildung, die von der jeweiligen Forschungsfrage abhängig ist. In diesem Fall ging es nicht um die konkrete medientechnische Ausformung (also eine nichttechnische, sprachunabhängige und symbolisierende primäre Medienhandlung), sondern um die symbolisierende Intention der Medienhandlung selbst. So finden sich verschiedene Kommunikationen in geschäftlicher Absicht (neun Markierungen) – darunter solche, die von Heidi ausgehen (vier Markierungen), und solche, bei denen über Heidi verhandelt wird (vier Markierungen) (vgl. Weber, 34), wie eben der Händedruck zwischen dem Oehi und dem Doktor. Weitere sind etwa: Dete nimmt den Oehi zu Beginn der Handlung in die Pflicht, sich nun weiter um Heidi zu kümmern – und am Ende verspricht zunächst Herr Sesemann aus Frankfurt, dass Heidi nicht arbeiten muss und testamentarisch mit Alimenten berücksichtigt werden wird (Spyri 1881, 308). Wenig später – und aus dieser Szene ist unser eben genanntes Beispiel – gelingt dem Großvater sogar noch eine bessere Zukunftssicherung. Im Gespräch mit dem Doktor aus Frankfurt, dessen Frau und Tochter verstorben sind, erreicht er, dass dieser Heidi »in alle Kindsrechte […] eintreten« lässt, sie zur Erbin macht – Heidi aber im Gegenzug seine Pflege zu übernehmen hat. »Mein lieber Freund«, sagte kürzlich der Herr Doktor, mit dem Oehi oben auf der Mauer stehend, »Sie müssen die Sache ansehen wie ich. Ich teile alle Freude an dem Kinde mit Ihnen als wäre ich der nächste nach Ihnen, zu dem das Kind gehört; ich will aber auch alle Verpflichtungen teilen und nach bester Einsicht für das Kind sorgen. So habe ich auch meine Rechte an unserem Heidi und kann hoffen, dass es mich in meinen alten Tagen pflegt und um mich bleibt, was mein größter Wunsch ist. Das Heidi soll in alle Kindsrechte bei mir eintreten; so können wir es ohne Sorge zurücklassen, wenn wir einmal von ihm gehen müssen, Sie und ich«. Der Oehi drückte dem Herrn Doktor lange die Hand. Er sagte kein Wort, aber sein
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guter Freund konnte in den Augen des Alten die Rührung und hohe Freude lesen, die seine Worte erweckt hatten. (Spyri 1881, 316) Neben der inhaltlichen Codierung sind unter der Forschungsfrage der literalen Mediatisierung im Text also zugleich Sprache, Gestik und Mimik relevant. Ein Handschlag kann als Besiegelungsgeste verstanden werden und die Augen verraten die wahrhaftige Absicht und gefühlsmäßige Ehrlichkeit. Ebenfalls als kommunikative Absicht haben die Studierenden hierarchische Kommunikation (13 Markierungen) und freundschaftliche Gespräche (31 Markierungen) unterschieden, wobei letztere dominieren (vgl. Weber, 34). Als weitere Codeebenen lassen sich die inhaltlichen Kommunikationsbereiche »Religion«, »Unterricht«, »Alltag« und »Klatsch und Tratsch« unterscheiden. Medien fungieren auch bei Heidi schon als »Weltbildgeneratoren« (Rath 2000, 81). Über sie wird im Roman Gesellschaft konturiert und ideologisiert. So ist etwa die Kommunikation über religiöse Themen für Spyri ein wichtiger Teil der Axiologie ihres Textes und seiner Sozialisationsfunktion als kinderliterarischer »Erziehungsroman«.4 Gleiches gilt auch für die Bildungsorientierung, die mit dem Thema »Unterricht« verbunden ist. Die gewünschte Bildung ist jedoch noch nicht die eines aufgeklärten Geistes – auch da bleibt Spyri dem titelgebenden Vorbild, vor allem Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre, treu. Heidi ist, wie Wilhelm, fest in den Grenzen eines göttlichen Ordo definiert (vgl. Wiethölter). Orientierung an der Bibel garantiert gesellschaftliche Akzeptanz. Dies gilt sowohl für das Verhalten des Oehi als auch für Heidis Ort in der Gesellschaft. Trotz aller Resilienz, die Heidi immer wieder gegen die bevormundenden Erziehungsbemühungen aufzubringen im Stande ist: Spyri sieht, wie schon Goethe für Wilhelm, für die wohl versorgte Heidi letztlich nicht Aufklärung und Mündigkeit vor. Heidis wie Wilhelms »Modus ist die dankbare Affirmation« (Kammertöns, 16–17). Geschäfte, Normen, Bildung – aber auch gesellschaftliche Interaktion – alles Bereiche, in denen Medien auch heute wichtig sind – werden bei Spyri über primäre Medien vermittelt. Man schüttelt Hände zur Vertragsbesiegelung, schaut sich zur Überprüfung der Ernsthaftigkeit und Wahrhaftigkeit tief in die Augen, Heidi erhält vom Oehi die Bergwelt erklärt – er erfüllt lexikalische Funktion zur Vermittlung geographischer Kenntnisse – und der Großvater pfeift auf den Fingern, um Peter zur Alm zu rufen. Auch in der Dorfgemeinschaft spielen primäre Medien die maßgebende Rolle. Man erzählt sich schon zu Anfang so manches über den Oehi, und auch die Inszenierung des Pfarrers von seiner Predigt bis zum Händeschütteln am Kirchenausgang als Geste zur Reintegration des Oehis in die Dorfgemeinschaft gegen Ende der
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Auch heute noch lesenswert und erhellend zur Problematik der literaturwissenschaftlichen Typologisierung von Erziehungs-, Bildungs- und Entwicklungsroman vgl. Köhn, v.a. 4-19.
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Geschichte – eine Analogie zur biblischen Geschichte vom verlorenen Sohn (Lk 15, 11–32) – hat die gewünschte soziale Kommunikation unter der Bevölkerung zur Folge. Soziale Medien in Heidi funktionieren analog – aber dann auch wieder analog zu den digitalen Social Media heute. Die sozialen Funktionen, die Medien übernehmen, sind früher und heute vergleichbar – die Technik hat sich weiterentwickelt und damit das mögliche Handlungsspektrum. Denn auch hier gilt das – wenngleich auch ambivalent diskutierte – »Rieplsche Gesetz«: dass sich durch neue Technik alte Medienformen nicht auflösen, sondern sie ergänzt werden oder die alten Medien andere Rollen erhalten (vgl. auch Krotz 2001, 193). Als sekundäre Medien, bei denen nur »Gerät« auf Seiten des Sendenden vorhanden sein muss, die Rezeption aber ohne Mediengeräte möglich ist, treten in Heidi Alarm-Medien auf, wie der Zug-Lautsprecher, eine Klingel und eine Glocke, außerdem analog-schriftsprachliche Kommunikations- und Informationsmedien wie Bericht, Brief und Karte und narrative bzw. fiktionale (Lang-)Medien wie die analog-schriftsprachlich geschriebene »Geschichte« und das Buch. Außerdem wird mit einem Liederbuch auch noch eine weitere Sprachebene – die Musiknotation – mit einbezogen. Schon diese Medien finden sich mehrheitlich im Kontext der städtischen Erfahrungen Heidis. Dort kommt das Mädchen in Kontakt mit formaler Bildung, lernt das Lesen – und zwar nicht als »formale Kompetenz«, sondern als Kulturtechnik zur persönlichen Reifung. Erst durch die Verbindung der prozeduralen Ebene des Leseerwerbs auf hierarchieniedriger Stufe mit einer Subjektebene (vgl. Rosebrock und Nix), die die individuelle Bedeutung der Textinhalte für Heidi deutlich macht – durch die Geschichten im Buch der Großmama Sesemann –, erhält Heidi die intrinsische Motivation zur Übung und wird schließlich eine kompetente Leserin. Für Peter im Dorf hingegen bleibt die Lesemotivation extrinsisch, er will Anerkennung für seine Mühe und seiner Großmutter und Heidi einen Gefallen tun. Aber er hat kein Interesse an den Inhalten der gelesenen Texte, versteht sie gar nicht und überspringt Passagen, ohne dass er das selbst bemerkt. Lesen als Kulturtechnik mit sekundären Medien bleibt also letztlich mehrheitlich städtisch und damit bürgerlich. Modernere Technik – etwa der »Zug-Lautsprecher« – ist an Verkehrsmittel gebunden, die ebenfalls im Dorf nicht vorhanden sind und zur mittelständischen Welt der Städter*innen gehören. Über die Nutzung der Medien werden also auch zugleich Sozialräume definiert, die soziale Hierarchien vermittelt. Dazu passt auch, dass als tertiäres Medium einzig ein Verweis auf ein Telegramm erfolgt. »Nein, ist es denn auch wahr? Ich kann dich ja nicht genug ansehen! Aber nun muß auf der Stelle telegrafiert werden an meinen Sohn in Paris, er muß sogleich kommen. Ich sag ihm nicht, warum, das ist die größte Freude seines Lebens. Mein lieber Oehi, wie machen wir das? Sie haben wohl die Männer schon entlassen?« »Die sind fort«, antwortete er, »aber wenn’s der Frau Großmama pressiert, so läßt man den Geißenhüter herunterkommen, der hat Zeit.«
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Die Großmama bestand darauf, sofort ihrem Sohne eine Depesche zu schicken, denn dieses Glück sollte ihm keinen Tag vorenthalten bleiben. Nun ging der Oehi ein wenig auf die Seite, und hier tat er einen so durchdringenden Pfiff durch seine Finger, dass es hoch oben von den Felsen zurückpfiff, so weit weg hatte er das Echo geweckt. Es währte gar nicht lange, so kam der Peter heruntergerannt, er kannte den Pfiff wohl. Der Peter war kreideweiß, denn er dachte, der Alm-Oehi rufe ihn zum Gericht. Es wurde ihm aber nur ein Papier übergeben, das die Großmama unterdessen überschrieben hatte, und der Oehi erklärte ihm, er habe das Papier sofort ins Dörfli hinunterzutragen und auf dem Postamt abzugeben, die Bezahlung werde der Oehi später selbst in Ordnung bringen, denn so viele Dinge auf einmal konnte man dem Peter nicht übertragen. (Spyri 1881, 295) Das dörfliche Postamt bietet den medialen Zugang zur Welt mit dem Telegrafen. In Heidi kommunizieren die Sesemanns auch aus dem Dörfli heraus mehrfach über »Depeschen« – und als Zeichen der Gastlichkeit übernimmt der Oehi im Postamt später die Kosten. Allerdings ist der Telegraf als Medium auf der institutionellen (Meso-)Ebene (bereitgestellt durch die Postämter) oder der Makroebene zu verstehen – denn es gibt meist nur ein Gerät im Ort. Der Telegraf ist zwar Teil der modernen medialen Infrastruktur – vergleichbar dem WLAN-Ausbau heute –, allerdings kein Individualmedium, denn nur die Postbediensteten konnten den vorgeschriebenen Text in den Telegrafen eingeben und übermitteln. Telegrafen waren damit zwar für individuelle Nachrichten gedacht, diese waren aber sozial durch die Kosten – und auch die Anlässe – nur beschränkt zugänglich. Das – zumindest in der sich später durchsetzenden Nutzung – Individualmedium Telefon war schon 1861 erfunden worden und damit zu Spyris Lebzeiten vorhanden, es hatte jedoch noch keine breite Verfügbarkeit in der Gesellschaft erreicht. Auch Grammophon und Kino sind Medien, die unmittelbar vor der Jahrhundertwende – aber nach der Erstausgabe von Heidi – auf den Markt kamen und erst langsam Verbreitung fanden. Lediglich Fotoapparate und Fotografen waren zur Zeit Spyris bereits etwas weiter verbreitet, wenngleich sie auch eher in einem städtischen und bürgerlichen Milieu zu finden waren. Sie lösten die im Großbürgertum und Adel übliche Portraitmalerei ab, beziehungsweise sie ermöglichten auch im Bürgertum für kleineres Geld eine Selbstdarstellung zu feierlichen Gelegenheiten. Bei Heidi ist von dieser Art der medialen Dokumentation jedoch nicht die Rede. Quartäre Medien sind selbstverständlich ebenfalls nicht zu finden, sie sind an die Digitalisierung, die Erfindung des Computers und die Möglichkeiten des Internets im 20. Jahrhundert gebunden. Heidis (literarische) Medienwelt entspricht also nahezu der Medienwelt ihrer Erschafferin Spyri. Lesende um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert fan-
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den hier die Gestaltung einer für sie zeitgenössischen Mediatisierung vor. Dabei dominieren primäre Medien und mediale Praxen sind auf Bildung und Kommunikation, nicht auf Unterhaltung, bestenfalls auf ›Mood-Management‹ gerichtet. Was für heutige Jugendliche aktuelle Musik leistet – nämlich Hilfe bei der Bewältigung eigener Gefühle – wird in Heidi von den religiösen Geschichten übernommen. Diese Funktion hatten biblische Geschichten von alters her. Spyri rekurriert in ihrem Erziehungsroman über die Titelgebung aber auf weltliche Literatur ihrer Zeit: Wie oben bereits erwähnt, legt Spyri mit dem Romantitel eine Spur zu Goethes Bildungsroman. Allerdings relativieren sich in Heidi die bei Goethe und vielen seiner Zeitgenossen positiven Reiseeindrücke: Die Heimat und hier vor allem der Aspekt der Natur macht viel Kultur (etwa Betten oder hübsche Kleidung) entbehrlich. In diesem Zusammenhang ist noch ein Blick auf ein Accessoire zu werfen, das textimmanent und kontextbezogen Bedeutung erhält: der Hut. Er kann zunächst als Medium der Identitätskonstruktion auf Mikro-Ebene verstanden werden – ähnlich wie andere Kleidung, Haartrachten oder Körperbemalungen und Schmuck lassen sich dann jedoch auch makroräumliche Bezüge zu einer medial vermittelten Nationalidentität finden (vgl. Marci-Boehncke und Rath). Heidi reist ab nach Frankfurt, auf dem Kopf ihr »altes, zerdrücktes Strohhütchen« (Spyri 1880, 72). Der Oehi hatte beim Abschied Dete davor gewarnt: »Komm mir nie mehr vor die Augen mit Heidi. Ich will sie nie sehen mit dem Federhut auf dem Kopf […]« (Spyri 1880, 65). Heidi erinnert sich an seine Worte und auf dem Rückweg von Frankfurt macht sie bei Peter, Brigitte und der Großmutter Halt und nimmt als erstes das »Federhütlein« vom Kopf (Spyri 1880, 211), schenkt es Brigitte, lässt es in deren Haus. Sie zieht auch die formalere Kleidung der Stadt aus und legt den Rest des Wegs im Unterkleid und nur mit ihrem alten roten Halstuch zurück. »Sie hatte nicht vergessen, wie der Großvater beim Abschied gerufen hatte, in einem Federhut wolle er sie niemals sehen; darum hatte auch Heidi ihr Hütchen sorgfältig aufgehoben« (Spyri 1881, 165). Innerhalb des Textes verweist der Federhut ausschließlich auf die städtische Umgebung und das gehobene bürgerliche Milieu der Familie Sesemann. Außerhalb des Textes kann man hier – ähnlich wie die Parallele zu Wilhelm Meisters Lehrjahre und Wanderjahre im Titel – eine weitere Anspielung vermuten: Schillers Wilhelm Tell könnte dazu den literarischen Kontext darstellen – oder auch eine zeitgenössische Diskussion, man könnte auch von einem »Historikerstreit« in der medialen Öffentlichkeit der Schweiz zu Lebzeiten der Autorin sprechen. Denn der Hut spielt dort gerade für den Schweizer Gründungsmythos eine zentrale Rolle: In Wilhelm Tell verweigert der Titelheld dem Hut des Reichsvogts Gessler die von ihm geforderte »Ehrerbietung«: […] Man soll ihn mit gebognem Knie und mit Entblösstem Haupt verehren – Daran will
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Der König die Gehorsamen erkennen. Verfallen ist mit seinem Leib und Gut Dem Könige, wer das Gebot verachtet. (Schiller, Wilhelm Tell, I. Aufzug, 3. Szene) Der Rütlischwur, mit dem sich die drei Schweizer Kantone Schwyz, Unterwalden und Uri gegen die Demütigungen des Landvogts Gessler laut verschiedener Quellen des 15. Jahrhunderts solidarisieren, wird zur Geburtsstunde der Schweizer Eidgenossenschaft und damit zur nationalen Identitätsstiftung. Sein Auslöser ist – so die Überlieferung – die Verweigerung des Grußes. Die Eidgenossen zeigen nicht den gewünschten Respekt vor dem »Hut« als Dingsymbol der Abhängigkeit von den Habsburgern. Sie verweigern den Gruß als Geste des Widerstands gegen die Demütigung durch ihre Vögte und der Befreiung aus dieser Abhängigkeit. Dieser Befreiungsmythos jedoch wurde Mitte des 19. Jahrhunderts aus historischer Sicht hinterfragt.5 Inwiefern Spyri von diesem Diskurs Kenntnis gehabt hat, ist an dieser Stelle nicht zu klären – auf jeden Fall ist aber der Hut als Symbol kultureller Macht und Vereinnahmung aus der Geschichte um den Rütlischwur gerade für Schweizer Schreibende bekannt und kann als wichtig vorausgesetzt werden. Da Spyri offensichtlich Goethes Text als Orientierung verwendet hat, ist auch die Bekanntheit von Schillers Drama bei ihr nicht unwahrscheinlich. Auf jeden Fall können die kleinen Episoden um den Hut in Heidi als Anspielung auch auf den nationalen Machtdiskurs verstanden werden, bei dem sich nun die ›kleine natürliche Schweiz‹ gegen das ›großbürgerlich-städtische Deutschland‹ behauptet. Hier wird man gesund, dort wird man krank – was für Heidi genauso wie für Klara gilt. Es ist also nicht ›die Heimat‹, sondern die Bergwelt der Schweizer Alpen, die gesunden lässt. Das Schweizer Dörfli steht gegen Frankfurt und Holstein – die Orte, die vergleichend als Heimat der Sesemanns erwähnt werden. Versteht man den Hut also als eine intertextuelle Anspielung, die als Mehrfachadressierung (vgl. Ewers) des Kinderbuchs an die erwachsenen Vorlesenden gerichtet ist, so ist diese auf der gesellschaftlichen Makroebene angesiedelt. Der Federhut als Symbol städtischer Eitelkeit und Anti-
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Angestoßen wurde diese Auseinandersetzung durch die Recherchen im Vatikan von Joseph Eutych Kopp mit seinen Urkunden zur Geschichte der eidgenössischen Bünde. »Beachtung fand er (d. i. Joseph Euych Kopp, GMB) jedoch v.a. als Historiker und Bahnbrecher der krit. Quellenforschung, der in den ›Urkunden zur Geschichte der eidg. Bünde‹ und der ›Geschichte der eidg. Bünde‹ ein neues Bild der Gründung der Eidgenossenschaft schuf. Im Gegensatz zu Johannes von Müller stützte sich K. ganz auf urkundl. Überlieferungen, eliminierte die volkstüml. Elemente der Befreiungstradition wie Tell oder Rütlischwur und bewertete die bislang verfemten Habsburger positiv. Polemische Debatten innerhalb und ausserhalb wissenschaftl. Kreise waren die Folge.« (Bossard-Borner)
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Natürlichkeit innerhalb der Kommunikation des Großvaters mit Heidi bleibt zuletzt innerhalb der Handlung bei der arglosen Brigitte, Peters Mutter, die mit ihm keine Entscheidung für oder gegen die Berge verbindet. Der kleine Luxus – »Er ist gewiss mehr als zehn Franken wert« (Spyri 1881, 181) – ist ihr in der bescheidenen Lage, in der sie lebt, auch von der Erzählerin gegönnt.
Lessons learned: Zum didaktischen Potential des Projektansatzes Die hier vorgestellte Projektarbeit zur Mediatisierung in Johanna Spyris Heidi bietet einerseits einen Einblick in ein auch methodisch spannendes Verfahren, literarische Texte mit qualitativ-empirischen digitalen Instrumenten zu erfassen und kategorial zu analysieren. Zugleich übernehmen diese und ähnliche Projekte die nicht zu unterschätzende Aufgabe, Lehramtsstudierenden durch innovative Zugänge im Rahmen des literaturwissenschaftlichen Studiums mediale Reflexionsfähigkeit zu ermöglichen – als Teil der grundsätzlichen Medienkompetenzvermittlung im Rahmen des universitären Lehramtsstudiums ›Deutsch‹. Diese Vermittlungsaufgabe – neben den klassischen Aspekten literaturwissenschaftlicher Studien – ist um so notwendiger, als die digitalisierte Lehre an deutschen Schulen, wie seit vielen Jahren wissenschaftlich nachgewiesen (z.B. Fraillon) und aktuell in der CoronaKrise praktisch erlebbar, hinter den internationalen Standards zurückbleibt. Im Folgenden sollen vor allem das hochschuldidaktische Setting des Projekts und seine Lernziele explizit gemacht werden. Grundlage jeder Inhaltsanalyse ist ein kategoriales Konzept. Die deduktiven Kategorien der digital gestützten Inhaltsanalyse wurden mit dem vorgestellten mediensoziologischen und medientheoretischen Hintergrund des Projektes vorab nahegelegt. Auch der Ökosystemische Ansatz von Bronfenbrenner diente der sozialräumlichen Orientierung der Studierenden. Vor diesem Horizont bestand die praktische Aufgabe in der fokussierten, aufmerksamen Lektüre des Primärtextes und zusätzlich in der Einarbeitung in ein digitales Programm zur empirisch gestützten Inhaltsanalyse. Deutlich geworden ist, dass die Programmerprobung Zeit braucht. Einfache Anwendungsformen wie etwa die lexikalische Suchfunktion ist bei der Codierung hilfreich, verlangt aber dennoch Überlegungen zu den Suchalgorithmen des Programms – so müssen z.B. Diminutive oder Synonyme eigens berücksichtigt werden. Darüber hinaus verlangt eine wirklich satte Codierung auch eines einfachen Kinderbuchtextes selbst als gemeinschaftliche Aufgabe hohe Konzentration und mehrere Codierungsschleifen. Besonders wichtig ist bei dieser Aufgabenstellung, dass Theorie, Methodologie und Textinterpretation verbunden wurden. Formal konnten alle Bereiche bearbeitet werden. Dennoch scheint der Ansatz, von medial-kommunikativen Strukturen ausgehend gesellschaftliche Beziehungen zu interpretieren, sehr abstrakt.
Marci-Boehncke et al.: Zur fachdidaktischen Relevanz empirischer digitaler Medienforschung
Die Nachhaltigkeit der Auseinandersetzung mit diesem Projekt und seinen Theoriegrundlagen kann noch nicht beurteilt werden. Berücksichtigung fanden auf jeden Fall die technische Mediensystematik nach Pross und Faßler und auch die drei maßgeblichen Ebenen des Ökosystemischen Modells nach Bronfenbrenner. Die medienpraktischen und literaturwissenschaftlichen Herausforderungen – die Progamminstallation und technische Nutzung der Grundfunktionen, das Finden einer geeigneten digitalen Textversion zur Erstausgabe – wurden gut gelöst. Damit wurden auch wichtige Medienkompetenzen aktiviert. Die Studierenden zeigen sich damit technisch auf einem intermediären Niveau im Bereich der Informationsund Daten-Literacy, ihre Fähigkeiten zur digital-fachspezifischen Kommunikation und Kollaboration sind gestärkt worden, sie haben eigenen digitalen Content erstellt. Insofern haben sie auch wichtige und bewertbare Medienkompetenzen gemäß den Kategorien des europäischen Referenzrahmens DigComp 2.1 erworben. Diese sind jetzt noch nicht lehramtsorientiert, sondern beziehen sich zunächst auf die allgemeine Medienkompetenz von Bürger*innen. Sie können aber zur Überprüfung der Medienfertigkeiten im akademischen Lehrkontext herangezogen werden. Für uns zeigt ein solches Modell, wie es gelingen kann, Fachkompetenzen aus dem Bereich des Germanistikstudiums mit digitaler Medienbildung sowie der dafür grundlegenden medienwissenschaftlichen Theorie zu verbinden und damit die Voraussetzung zu schaffen für einen angemessenen, Digitalisierung berücksichtigenden, medienkompetenten und mediatisierungssensiblen Unterricht im medialen Leitfach Deutsch.
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IV. Intersektionale Perspektiven
Zwischen Alp und Alphabetisierung Spyris Heidi als transclasse-Figur Eva Blome
Einführung (vom Ende her) Johanna Spyris zweiter Heidi-Roman, Heidi kann brauchen, was es gelernt hat (1881), stellt schon im Titel eine Verbindung zum ersten Teil der beiden Romane, Heidis Lehr- und Wanderjahre (1880), her. Heidi hat, so wird hier angedeutet, einen Bildungsprozess durchlaufen, der ihr schließlich von Nutzen sei. Damit stellen sich die Fragen: Um welche Fähigkeiten handelt es sich hier? Und, noch weiter gefasst: Zu welchem Ende und Ergebnis führen überhaupt die Ereignisse, von denen in den HeidiRomanen erzählt wird? Am Ende von Heidi kann brauchen, was es gelernt hat steht eine Schlussszenerie, die – zumindest auf den ersten Blick – von Einklang und sozialer Harmonie handelt. Der behandelnde Arzt von Heidis Frankfurter Freundin Klara hat nämlich [a]uf den Rath seines Freundes hin […] das alte Gebäude angekauft, das der Oehi im Winter mit dem Heidi bewohnt hatte und das ja schon einmal ein großer Herrensitz gewesen war, was man immer noch an der hohen Stube mit dem schönen Ofen und dem kunstreichen Getäfel sehen konnte. Diesen Teil des Hauses läßt der Herr Doktor als seine eigene Wohnung aufbauen. Die andere Seite wird als Winterquartier für den Oehi und das Heidi erstellt, denn der Herr Doktor kennt den Alten als einen unabhängigen Mann, der seine eigene Behausung haben muß. Zuhinterst wird ein festgemauerter, warmer Geißenstall eingerichtet, da werden Schwänli und Bärli in sehr behaglicher Weise ihre Wintertage zubringen. (Spyri 1881, 175f.) Zwei noch recht neue Freunde ziehen hier »mit ihrem fröhlichen Kind« in ein Haus ein, das Herrschaftlichkeit und Dorfexistenz vereint; in der kalten Jahreszeit wollen sie dort gemeinsam wohnen: Alt und Jung, Mensch und Tier, Stadtmensch der Upper Class und der ehemals als »alter Heide und Indianer« (Spyri 1880, 4) titulierte Öhi, der Großvater Heidis, unter einem Dach. Und wichtiger noch: Für alles und jeden am Berg ist nun gesorgt, weil die wohlhabenden Frankfurter*innen, allen vor-
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an Klaras Großmama, als karitativ-philanthropische Wohltäter*innen1 in Erscheinung treten: Die blinde Großmutter in ihrer Berghütte wird von der Großmama mit »großen Warenballen« ausgestattet, damit diese »nie mehr zitternd vor Kälte in ihrer Ecke sitzen muß« (Spyri 1881, 175); Heidi und Peter werden gar mit einem lebenslangen ›Grundeinkommen‹ versehen: Peter erhält von der Großmama bzw. aus ihrer Hinterlassenschaft »jede Woche […] einen Zehner […] sein Leben lang« (Spyri 1881, 164); das Kind Heidi, das ist ihres Großvaters größter Wunsch, soll gar »nie in seinem Leben hinaus [müssen], um sein Brot unter den Fremden zu suchen« (Spyri 1881, 166). Dafür will Klaras Vater, Herr Sesemann, auch über seinen Tod hinaus Sorge tragen (Spyri 1881, 166). Heidi, so die entscheidende Mitteilung am Ende der erzählten Geschichte, wird für immer vor Lohnarbeit bewahrt sein.2 Diese Schlussszenerie löst offenbar ein Versprechen ein, das bereits durch den letzten Satz von Heidis Lehr- und Wanderjahre angedeutet wurde: »[W]o die Großmama hintritt, da kommen alle Dinge bald in die erwünschte Ordnung und Richtigkeit, nach außen wie nach innen.« (Spyri 1880, 240) Es lässt sich jedoch danach fragen, worin diese Ordnung konkret besteht: Werden hier, wie Heidy M. Müller vermutet, »utopische Möglichkeiten der Harmonie zwischen Exponenten verschiedener Gesellschaftsschichten angedeutet […], von denen auch die Leser des zwanzigsten Jahrhunderts nur träumen konnten und können« (Müller, 929)? Geht es um eine »Zivilisierung der Alpen« (Messerli)? Oder trifft vielmehr zu, was Tihomir Engler behauptet, dass die Heidi-Romane eine »Regression in alte, vorbürgerliche soziale Verhältnisse« (Engler, 215) betreiben? Und in welcher Beziehung stehen die Sozialstrukturen der Heidi-Romane eigentlich zu den erzählten Lebensstationen und Lernprozessen der jungen Protagonistin? Auf der Suche nach einer Antwort auf diese Fragen möchte ich dem Gedanken nachgehen, dass das von räumlichen und sozialen Transgressionen erzählende Schlusstableau von Heidi auf ganz spezifischen Varianten von Bildungsprozeduren und -programmen beruht. Dabei handelt es sich um zwei unterschiedliche Bildungskonzepte, zum einen um eine freiheitliche Vorstellung von Bildung, die mit der Idylle der abgeschiedenen Alp und dem Milieu der Bergbauern verbunden ist. Und zum anderen um eine pragmatische Art der Ausbildung, die mit dem Versuch einer Sozialisation Heidis in das Frankfurter Großbürgertum einhergeht und bei der es zentral um den Erwerb der grundlegenden Kulturfähigkeit des Lesens geht,
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Vgl. die Worte der Großmama aus dem Hause Sesemann: »Wenn uns der liebe Gott was Gutes schickt, müßten wir doch gleich an diejenigen denken, die so vieles entbehren!« (Spyri 1881, 168) und diejenigen von Herrn Sesemann: »[V]or unserem Herrn im Himmel sind wir alle gleich armselig, und alle haben wir es gleich nötig, daß er uns nicht vergesse.« (Spyri 1881, 173) Heidi, so der Subtext, erfährt auf diese Weise nicht das Schicksal der Tante Dete. Diese erscheint vielmehr als (ältere) Kontrastfigur zur Titelheldin.
Eva Blome: Zwischen Alp und Alphabetisierung
auf deren Darstellung in Heidis Lehr- und Wanderjahre viel erzählerische Energie verwandt wird.3
Heidi als (soziale) Grenzgängerin Ausgehend von diesen Beobachtungen wird Heidi im Folgenden als eine Figur betrachtet, die sich durch eine spezielle Form des sozialen passing auszeichnet,4 die sich, mit anderen Worten, als eine so genannte transclasse-Figur verstehen lässt.5 Mit diesem Begriff beziehe ich mich auf einen von der französischen Philosophin Chantal Jaquet geprägten Neologismus (Les transclasses), den sie verwendet, um das Phänomen des »Transits zwischen zwei Klassen« zu fassen; dabei bezeichnet »[d]as Präfix trans- […] keine Überwindung oder Erhöhung, sondern die Bewegung eines Übergangs, einer Passage von einer Seite auf die andere« (Jaquet, 122, 20).6 Im Zentrum der Heidi-Romane, so meine These, stehen solche Übergänge, deren Grundstruktur sich mit Arnold van Genneps ethnologischem Konzept auch als rite de passage beschreiben lässt, die aus Trennungs-, Schwellen- und Wiedereingliederungsphase besteht (vgl. van Gennep).7 Die sozial-räumlich bewegliche Figur der Heidi erschafft und exemplifiziert dabei das Sujet des Textes, indem sie über die Grenze eines semantischen Feldes in ein anderes ver-setzt wird. Laut Jurij Lotman
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Eine solche Frageperspektive, die die narrativen Parameter Raum und Zeit mit den auf der Ebene der histoire des Textes angesiedelten sozialen Größen Struktur, Kategorie und Ordnung in Verbindung bringt, schließt in methodischer und theoretischer Hinsicht an das Programm einer literaturwissenschaftlichen Intersektionalitätsforschung an (vgl. dazu Nieberle, 108–110 sowie Blome). In gewisser Hinsicht lässt sich eine solche Perspektivierung von Heidi als Beitrag zur Sozialgeschichte der Literatur des 19. Jahrhundert verstehen – insofern nämlich, als sich diese in dem Kontext einer These von Heinrich Bosse verorten lässt, der zufolge die zentrale gesellschaftliche Konsequenz der Bildungsrevolution um 1800 in der Tradierung von »früheren Standesunterschieden […] in Form von Bildungsunterschieden« bestehe (Bosse, 50). Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass Johanna Spyri selbst Tochter eines ›sozialen Aufsteigers‹ ist: Ihr Vater wurde in ein bäuerliches Milieu geboren, es gelang ihm aber, Arzt zu werden (vgl. dazu Doderer und Doderer). Jaquet beschreibt die Mechanismen der Nicht-Reproduktion sozialer Macht ausgehend von einer Auseinandersetzung mit der mehrdimensionalen Klassentheorie Pierre Bourdieus, die zwischen sozialen, ökonomischen und kulturellen Aspekten der Klassenbildung unterscheidet. Werden hier also im Folgenden die Begriffe transclasse und Klasse verwendet, dann in diesem – sich von Klassenkonzepten von Karl Marx oder Max Weber – abhebenden Sinn (vgl. dazu Eder sowie Rehbein, Schneikert und Weiß). Eva Eßlinger bringt eine Lesart einer Heimkehr-Erzählung mit van Genneps und Lotmans kultursemiotischen Ansätzen für einen anderen Text des Realismus in Anschlag, für Gottfried Kellers Legionärsnovelle Pankraz, der Schmoller (vgl. Eßlinger 2017, 122f.).
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verhält sich die durch eine solche Transgression gestiftete Erzählstruktur zur sozialkategorialen Einteilung der Welt ambivalent: Einerseits bestätigt sie sie, andererseits bringt sie aber auch soziale Kategorien nicht nur miteinander in Berührung, sondern stiftet unter ihnen auch Verwirrung (vgl. Lotman 1993 [1972], 63; vgl. Lotman 1990). Genau eine solche Verschränkung von Erzähl- und Sozialstrukturen lässt sich für die Heidi-Romane beobachten, wobei den Bildungsnarrativen eine entscheidende Bedeutung zukommt. In der ersten Phase von Heidis Lehr- und Wanderjahre begegnet uns ein Geschöpf, das zunächst als »völlig formlose Figur« (Spyri 1880, 2) vorgestellt wird, sich aber bereits auf den ersten Seiten als unverbildetes Geschöpf ›entpuppt‹ – metaphorisch dargestellt durch das Ablegen mehrerer konventioneller Kleidungsschichten, die Heidi bei ihrer Ankunft in den Bergen trägt (vgl. Spyri 1880, 13). Ausgehend vom Rousseau’schen Idealzustand des status naturalis entwickelt sich das von Natur aus wissbegierige, von zivilisatorischen Einflüssen noch ›unverdorbene‹ Kind von nun an in Wechselwirkung mit seiner Umwelt und seinen Gefährten, Peter, den Ziegen und natürlich dem Großvater. Dabei entfaltet sich ein Bildungsprozess, der im Austausch mit gesellschaftlichen Randexistenzen und im sozial peripheren Raum der Alp (vgl. Escher) ganzheitlich und ohne erzieherisches Programm abläuft: Heidi entwickelt sich in dieser Umgebung aus sich selbst heraus und zu sich selbst.8 Institutionelle Formen der Bildung und des Lernens finden hingegen ausdrücklich nicht statt. Den Schulbesuch Heidis lehnt der Großvater ab – auch deshalb, weil dies mit einer (Re-)Integration in die soziale Gemeinschaft des Dorfes einhergehen würde, die für ihn, den Einsiedler aus eigenem Entschluss, nicht in Frage kommt. Die daran anschließende Zeit in Frankfurt ist dann von einem völlig anderen Bildungskonzept geprägt. Statt auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit setzt es auf eine Ausbildung von Basiskompetenzen, die zudem in den Kontext sozialer Hierarchien eingebettet ist. Heidi wird hier nicht als in einem positiven Rousseau’schen Sinne ›unverbildet‹, sondern vielmehr als defizitär und ›ungebildet‹ wahrgenommen.9 Das achtjährige Kind wird wegen seiner mangelnden Bildung besonders vom 8
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Damit liest sich Heidi – wenig überraschend – auch als Variation von Wilhelm Meisters Bildungsprogramm aus Goethes paradigmenbildenden Bildungsroman (vgl. dazu auch Bettina Hurrelmann, 209, die betont, dass es sich bei Heidi gerade nicht um einen Bildungsroman handle, sondern um einen Roman der Regression). Den diskurs- und literaturgeschichtlichen Kontext dieser Zuschreibungen, zwischen denen die Figuration Heidis diffundiert, stellt Davide Giuriato prägnant dar: »Im bürgerlichen Zeitalter gibt der literarische Diskurs konkurrierende Kindheitsbilder weiter, die nicht nur die poetische Selbstreflexion, sondern auch die gesellschaftliche Rede vom Kind prägen. Auf der einen Seite nimmt der aufklärerische Blick ein ungebildetes Wesen ohne Vernunft wahr – es sieht wild, anarchisch, triebgesteuert, unzivilisiert aus und gleicht eher einem Tier oder einem minderwertigen Wilden, der zu einem Menschen erst noch erzogen werden muss. Auf
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Dienstpersonal verachtet: Das Hausmädchen Tinette etwa spricht »niemals mit dem ungebildeten Heidi, denn das war ihr zu gering.« (Spyri 1880, 198) Und Hausdame Rottenmeier ist der Ansicht, das Kind denke »verkehrtes Zeug […], Dinge, die sich in gebildeter Gesellschaft kaum erzählen« (Spyri 1880, 154) ließen. Für sie ist seit Heidis Ankunft »im Hause Sesemann alles aus den Fugen gekommen« (Spyri 1880, 131). Heidi stört offenbar die gewohnte Ordnung – und gerade auch diejenige von Bildungs- und Sozialverhältnissen – deutlich. Die Hierarchie, die zwischen großstädtischem Bildungsbürgertum und bildungsfernem, bäuerlich-ländlichem Milieu besteht, wird hier interessanter Weise nicht von der Familie Sesemann selbst, sondern von intermediären Figuren, eben Angehörigen des Hauspersonals, in Szene gesetzt.10 Als Merkmal der sozialen Nicht-Zugehörigkeit wird dabei weniger Heidis Herkunft als vielmehr ihre mangelnde Lesekompetenz ins Spiel gebracht. Entsprechend ist das Lesenlernen als die Frankfurter Bildungserfahrung Heidis konzipiert. Sie wird zudem in direkten Zusammenhang mit ihrem Heimweh gestellt: Einerseits macht das Lesen die Sehnsucht nach der Welt der Berge, dem Hirtenjungen Peter und der Großmutter erträglicher, da es diese in Heidis Inneren – als seien diese Realität, »volle Gegenwart« (Spyri 1880, 171) – erstehen lässt; andererseits forciert das Lesen aber auch das Heimweh11 und löst, als Heidi von Fräulein Rottenmeier gezwungen wird, ihre mit den Lektüren verbundenen Emotionen zu unterdrücken, ein Krankheitsbild aus, das der zeitgenössischen Hysterievorstellung Charcot’scher Prägung nahekommt: Heidi schneidet »schreckliche Grimassen« (Spyri 1880, 172), sie redet wirr, schlafwandelt und verliert den Appetit.12 Solcherart mit einer besonderen Vulnerabilität in Verbindung stehend ist Heidis Literalität stark mit einer Form von Liminalität verknüpft, die laut Victor Turner die
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der anderen Seite beginnt nach Rousseau die Vorstellung einer unverbildeten Daseinsform zu kursieren – demnach ist das Kind unschuldig, ungebrochen, eins mit der Natur, genial, kreativ, selbsttätig und muss so lange als möglich von zivilisatorischen Einflüssen freigehalten werden.« (Giuriato, 19) Peter Härle hat darauf hingewiesen, dass ein deutlicher »Antagonismus der Stände« errichtet wird, wenn Fräulein Rottenmeier, »selbst in der gefährdeten Randzone zwischen Herrschaft und Dienerschaft angesiedelt, sich mit besonderer Vehemenz gegen alles, was der ›Gens Öhi‹ angehört, abgrenzen muss«; es zeige sich darin »das Zerrbild ihres eigenen potentiellen sozialen Abstiegs« (Härle, 66). Interessanterweise wird das Lesenlernen in Heidi damit – ex negativo – in den Kontext dessen gerückt, was als Hauptziel der Alphabetisierung bereits von Johann Heinrich Campe und anderen im 18. Jahrhundert ausgegeben wurde: »Wer lesen und schreiben kann, kann eine bestimmte Form von Schmerz vermeiden: den Trennungsschmerz.« (Koschorke, 609) Zu Heidis Heimweh vgl. auch Brauer und Pfeiffer. Vgl. zur zeitgenössischen Hysteriesymptomatik nach Jean-Martin Charcot Didi-Huberman; zur Hysterieproblematik in Heidi vgl. Pfeiffer.
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Schwellenphase als mittlere Phase des von van Gennep beschriebenen Übergangsritus (rite de passage) auszeichnet (vgl. Turner). Der Zustand der Liminalität ist von Mehrdeutigkeit, Wandel und Fluidität geprägt, bisher als verlässlich erscheinende Klassifikationssysteme sozialer Ordnung scheinen außer Kraft gesetzt zu sein. Dies macht sich in der Frankfurter Phase auch räumlich bemerkbar, so kommen dem Treppenhaus und der Türschwelle als entscheidende Handlungsräume des Dazwischen besondere Bedeutung zu.13 Wie verletzlich und angreifbar ein Individuum während einer solchen Initiationsphase ist, wird durch Heidis Hysteriesymptomatik eindrucksvoll zum Ausdruck gebracht. Der Umstand, dass das Merkmal der Liminalität mit Erzählungen des Comingof-Age in Verbindung steht und daher oftmals gattungstypologisch in Zusammenhang mit dem Bildungsroman diskutiert wird, stellt eine deutliche Verbindungslinie zu diesem Genre dar. An dessen Prototypus, Goethes Wilhelm Meister, knüpft Spyri schon mit ihrem Titel Heidis Lehr- und Wanderjahre geradezu plakativ an, wobei in ihrem Roman jedoch eher eine Variation denn eine Adaptation von Goethes Erzählmuster festzustellen ist. So tritt Heidi anders als Goethes Protagonist nicht freiwillig in eine liminale Schwellenphase ein. Die Trennung führt nicht wie bei Wilhelm Meister aus dem bürgerlichen Milieu hinaus, sondern geradewegs in dieses hinein. Und zudem fügen die Heidi-Romane die in den Wilhelm Meister-Romanen dargestellte Differenz von Bildung und Ausbildung, von Lehr- und Wanderjahren, gewissermaßen wieder zusammen, wenn der Erwerb der Basiskompetenz des Lesens als zentraler bürgerlicher Initiationsritus Heidis erzählt wird,14 während zugleich Anteile eines idealistisch-humanistischen Bildungskonzepts in die ganzheitliche Persönlichkeitsentfaltung Heidis verlegt werden, die in der ersten Zeit auf der Alp stattgefunden hat.
Heidi lernt lesen Hinsichtlich der Alphabetisierung Heidis ist zunächst einmal festzustellen, dass dieser Prozess im Roman eine markante Leerstelle bildet, denn wie Heidi das Lesen eigentlich lernt, wird gar nicht dargestellt. Nur, dass es geschehen ist, wird durch den Hauslehrer verkündet. Die Leser*innen erfahren gemeinsam mit ihm und Klaras Großmutter lediglich vom Resultat dieser Literarisierung:
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Vgl. dazu z.B. folgende Textstellen: »›Sperrangelweit offen die Tür‹, keuchte Johann, ›und auf der Treppe eine weiße Gestalt, […] nur so die Treppe hinauf – husch und verschwunden.‹« (Spyri 1880, 179); »Durch die weitgeöffnete Tür floß ein bleicher Mondschein herein und beleuchtete eine weiße Gestalt, die regungslos auf der Schwelle stand.« (Spyri 1880, 187) In der Forschung wird Heidi in eine Reihe mit anderen Alphabetisierungsromanen – wie z.B. Carlo Collodis Pinocchio – gestellt (vgl. Ulrich, 21).
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Richtig saß hier Heidi neben Klara und las dieser eine Geschichte vor, sichtlich selbst mit dem größten Erstaunen und mit einem wachsenden Eifer in die neue Welt eindringend, die ihm aufgegangen war, da ihm mit einemal aus den schwarzen Buchstaben Menschen und Dinge entgegentraten und Leben gewannen und zu herzbewegenden Geschichten wurden. (Spyri 1880, 163) Wenn Heinrich Bosse mit Bezug auf die Bildungsrevolution um 1800 formuliert »Selberlernen-Können heißt das neue Ausbildungsziel« (Bosse, 71), so hat Heidi dieses offenbar mit Bravour erreicht. Ihre autodidaktische Alphabetisierung ist dabei allerdings stark mit der Figur der Großmama verbunden: Typischer Weise tritt mit dieser ein weiblich-mütterliches didaktisches Prinzip auf, mit dem »[e]in neuer Lerneifer und eine neue Lehrmethode« (Spyri 1880, 163) zur Entfaltung kommen.15 So hatte die Großmama erkannt, dass sich Heidi mit dem Analphabeten Peter identifiziert und deshalb das Lesenlernen für unmöglich hält.16 Daraufhin entwirft sie ein Lernprogramm, das zum einen aus der Aufforderung zu Selbstvertrauen und Selbstlernen besteht – »man muß [es] selbst probiren« (Spyri 1880, 157) – und zum anderen aus dem Versprechen eines besonderen Geschenks, das als Belohnung für den Fall in Aussicht gestellt wird, dass Heidi doch noch Lesen lernt. Es handelt sich dabei um ein Buch, in dem Heidi zuvor ein Bild entdeckt hatte, das sie zu Tränen rührt: Es war eine schöne, grüne Weide, wo allerlei Tiere herumweideten und an den grünen Gebüschen nagten. In der Mitte stand der Hirt, auf einen langen Stab gestützt, der schaute den fröhlichen Tieren zu. Alles war wie in Goldschimmer gemalt, denn hinten am Horizont war eben die Sonne im Untergehen. (Spyri 1880, 155f.) Um das weinende Kind zu beruhigen, tröstet Frau Sesemann: »[S]ieh, da ist auch eine schöne Geschichte dazu, die erzähl’ ich heut’ abend. Und da sind noch so viele schöne Geschichten in dem Buch, die kann man alle lesen und wiedererzählen« (Spyri 1880, 156; Hervorhebung von mir, E.B.). Heidis Lesemotivation geht also von einem
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Nach Friedrich A. Kittler (37ff.) ist die Lesedidaktik ganz ursprünglich mit der Mutter verbunden, so dass, wie Heinrich Bosse herausstellt, »›Mütterlichkeit‹ nicht nur für das Lesenlernen, sondern für Poesie und Bildungspolitik des ganzen bürgerlichen Zeitalters ausschlaggebend wird« (Bosse 150, F. 442). Lesen erscheint Heidi als eine Herausforderung, die zu groß ist, um ihr gerecht zu werden – zumindest gilt dies offenbar für Peter, denn, so beklagt die blinde Großmutter, die so gerne die Lieder aus dem alten Gebetsbuch von ihrem Enkelsohn vorgelesen bekommen würde, »er kann es nicht lernen, es ist ihm zu schwer« (Spyri 1880, 157). Nur in dieser Form der Negation spielt das Lesen zunächst in Heidis Welt eine Rolle. Gleich dreimal wiederholt das Kind gegenüber der Großmama das Diktum der Großmutter, dass das Lesen (für Peter) zu schwer sei, um es zu lernen (vgl. Spyri 1880, 157). Zum Komplex des »Analphabetismus in der Kinderund Jugendliteratur« vgl. Hänny.
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Bild und der dazugehörenden mündlich vorgetragenen Geschichte aus.17 Die Alphabetisierung folgt auf die Erzählung und das Gelesene eignet sich zum Wiedererzählen. Bemerkenswert ist dabei der Umstand, dass es sich bei der Geschichte, die uns als Illustration, als mündliche Überlieferung durch die Großmama und schließlich als Heidis eigenständige Lektüre begegnet,18 nicht um einen beliebigen Text handelt, sondern um das biblische Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lukas, 15, 11–32).19 Als Heidi auf die Alp zurückkehrt, bringt sie diese Geschichte, gleichermaßen Resultat wie auch Ursache ihrer Alphabetisierung, mit und liest sie ihrem Großvater vor (Spyri 1880, 229). Genau diese Situation löst sodann die soziale Reintegration des Großvaters aus. Denn der Öhi erkennt sich selbst in dem verlorenen Sohn wieder.
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Nachdem Frau Sesemann verstanden hat, das Heidi (noch) gar nicht lesen kann, verspricht sie: »Und nun mußt du wissen, was nachher kommt, wenn du dann lesen kannst – du hast den Hirten gesehen auf der schönen grünen Weide –, sobald du nun lesen kannst, bekommst du das Buch, da kannst du seine ganze Geschichte vernehmen, ganz so, als ob sie dir jemand erzählte […].« (Spyri 1880, 157) Zum Beispiel erfreut in der Inselausgabe von 1978 die Buchillustration eines von der Sonne beschienenen Hirtens (Spyri 1978, 144f.); das dazugehörige Gleichnis erzählt der Text als Bilder-Geschichte zum Zeitpunkt aus, als Heidi lesen gelernt und das Buch zum Geschenk erhalten hat – und erst am Ende von Heidis Lehr- und Wanderjahren wird uns die Geschichte als von Heidi vorgelesene präsentiert, dann nämlich, wenn sie dadurch – natürlich unwissentlich und unbeabsichtigt – ihren Großvater dazu bewegt, in die (Christen-)Gemeinschaft zurückzukehren: »Heidi kam wieder herbeigerannt, sein großes Buch unter dem Arm: ›Oh, das ist recht, Großvater, daß du schon dasitzest‹, und mit einem Satz war Heidi an seiner Seite und hatte schon seine Geschichte aufgeschlagen, denn die hatte es schon so oft und immer wieder gelesen, daß das Buch von selbst aufging an dieser Stelle. Jetzt las Heidi mit großer Teilnahme von dem Sohne, der es gut hatte daheim, wo draußen auf des Vaters Feldern die schönen Kühe und Schafe weideten und er in einem schönen Mantel, auf seinen Hirtenstab gestützt, bei ihnen auf der Weide stehen und dem Sonnenuntergang zusehen konnte, wie es alles auf dem Bilde zu sehen war. Aber auf einmal wollte er sein Hab und Gut für sich haben und sein eigener Meister sein und forderte es dem Vater ab und lief fort damit und verpraßte alles. Und als er gar nichts mehr hatte, mußte er hingehen und Knecht sein bei einem Bauer, der hatte aber nicht so schöne Tiere, wie auf seines Vaters Feldern waren, sondern nur Schweine, diese mußte er hüten, und er hatte nur noch Fetzen auf sich und bekam nur von den Trebern, welche die Schweine aßen, ein klein wenig. Da dachte er daran, wie er es daheim beim Vater gehabt und wie gut der Vater mit ihm gewesen war und wie undankbar er gegen den Vater gehandelt hatte, und er mußte weinen vor Reue und Heimweh«. (Spyri 1880, 228f.) Vgl. zu dieser Textstelle auch Regine Schindler, die ausführt: »Durch den Begriff ›Heimweh‹ werden die Geschichten des Großvaters und jene Heidis nahe zusammengerückt, beide aber mit jener des verlorenen Sohnes verbunden.« (188) Vgl. zur Positionierung und Umschrift des Gleichnisses vom verlorenen Sohn in der Literatur des Realismus, etwa in Theodor Storms Novelle Hans und Heinz Kirch (1883), in der das biblische Gleichnis vom verlorenen Sohn »lediglich [wie] eine die scheiternde Verständigung zwischen Vater und Sohn umso schmerzlicher fühlbar machende Negativfolie« in Erscheinung tritt, Eßlinger 2018, 124.
Eva Blome: Zwischen Alp und Alphabetisierung
Wie dieser hat er nämlich einst seinen materiellen Reichtum, unter anderem »eins der schönsten Bauerngüter« (Spyri 1880, 7) der Gegend, durch eigenes Verschulden verloren; wie dieser lebt er fernab von Familie und Heimat. Ausgelöst von Heidis Vortrag des Gleichnisses vom verlorenen Sohn, das die soziale Grenzgängerin Heidi zurück in ihr Herkunftsmilieu trägt, strebt er nun wie dieser seine Resozialisierung an.20 Vor diesem Hintergrund erscheint es überaus stimmig, dass das letzte von Heidi selbst gesprochene Wort in Heidi kann brauchen, was es gelernt hat »heilsam« (Spyri 1881, 172) lautet: Heidi kann aufgrund ihrer Alphabetisierung und ihrer Erfahrungen als soziale Grenzgängerin eine Integration von eigentlich getrennten gesellschaftlichen Sphären bewirken. Nicht nur für ihren Großvater, sondern auch für ihre Freundin Klara, deren Doktor, für ihre Großmutter und für den Geißenpeter bedeutet dies eine Form der Heilung.
Fazit Die eingangs zitierten gegensätzlichen Einschätzungen hinsichtlich des sozialen Gehalts der Heidi-Romane lassen sich auf Grundlage dieser Lesart auf den Umstand zurückzuführen, dass sie keine statischen, sondern vielmehr bewegliche Sozialgefüge zum Thema haben und dies eine eindeutige Positionierung erschwert.21 Die Figur der Heidi fungiert dabei als eine Art Scharnier zwischen verschiedenen sozialen Sphären, wobei dem Lesen(lernen) die Bedeutung einer Übergangsbewegung zukommt, welche die Klassen- und Bildungsunterschiede für Heidi (und/oder die Lesenden) überhaupt erst ›lesbar‹ macht.22 Als transclasse-Figur überschreitet sie sozial-räumliche Grenzen und lässt dadurch deren Konturen, aber auch verschiedene Konzeptionen von Bildung sichtbar werden. Die erste Zeit auf der Alp ist nicht nur mit dem idealistischen Bildungsprogramm einer freien Selbstentfaltung
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Zur Konversionsgeschichte des Großvaters vgl. auch Usrey. Soziale Integration wird dabei an die Basiskompetenz des Lesens gebunden – gilt doch: »Wer zweifelnd noch beim Z bleibt stehn, Muß zu den Hottentotten gehn!« (Spyri 1881, 70), während Peters Mutter in den rudimentären Lesekenntnissen, die ihrem Sohn durch Heidis schwarze Pädagogik vermittelt wurde, gleich das Potential für einen sozialen Aufstieg entdeckt: »Man kann sich doch nicht genug freuen, daß der Peterli das Lesen so schön erlernt hat; jetzt kann man gar nicht mehr wissen; was noch aus ihm werden kann.« (Spyri 1881, 74) Bereits Christiane Hänny (232) hat darauf hingewiesen, dass der darauffolgende ironische Erzählerkommentar die Aussage jedoch sogleich wieder relativiert und die Auffassung, die reine – offenbar nur sehr dürftig ausgeprägte – Lesefähigkeit reiche für einen sozialen Aufstieg, als naiv darstellt. Es bleibt zu überlegen, ob dies Spyris Heidi bereits in die von Jaquet beschriebene typische Übersetzer*innen-Position setzt, die den transclasse-Figuren eignet.
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verbunden, sondern zudem auch idyllisch aufgeladen, während die Darstellung von Heidis Alphabetisierung in der Frankfurter Zeit eher von einem bürgerlichen Realismus geprägt zu sein scheint. Die dritte Phase trägt dann schließlich Merkmale einer Sozialutopie,23 in der sich Elemente der Idylle mit Erzählweisen des Realismus vermischen.24 Nach Heidis Alphabetisierung und der Resozialisation des Großvaters kann ein milieuübergreifender Vergesellschaftungs- und Bildungsprozess stattfinden: Klara, ihr Arzt und ihr Vater lernen durch den Kontakt mit Heidi und ihrem Großvater, und umgekehrt. Diese Situation lässt sich als ein wechselseitiger Unterricht begreifen, dessen Gegenstände unterschiedlichen schichtspezifischen Kontexten entstammen und der einem umfassenden Streben nach einem guten Leben dient.25 Die soziale Frage wird hier nochmals anders gestellt und anders beantwortet (vgl. Bosse, 128), wobei – und das ist von entscheidender Bedeutung – Spyris Heidi am Ende auch die sozialen Voraussetzungen und ökonomischen Kosten eines solchen Bildungsprogramms implizit ausweist. Denn ihre zukünftige finanzielle Sicherheit wird zur grundlegenden Bedingung eines auf Vermehrung von Bildung und Selbstentfaltung abzielenden lebenslangen Prozesses; die Lohnarbeit in fremden Diensten steht dem entgegen, weshalb Heidi davor bewahrt werden muss. Ihre ökonomische Freiheit wird allerdings durch Patronage und somit um den Preis einer lebenslangen sozialen Abhängigkeit gestiftet, die offenbar auch die Pflicht zur Care-Arbeit umfasst.26 Heidis Grundeinkommen ist insofern keineswegs ein bedingungsloses. Idylle stößt hier auf Realismus, Idealismus auf Kapitalismus und Patriarchat. Das sozialutopische Setting der Schlussszenerie von Heidi kann gebrauchen, was es gelernt hat weist also nicht zuletzt auf einen Umstand hin, der von den Bildungsromanen des 18. und 19. Jahrhunderts oftmals gerade nicht auserzählt wird (vgl. Blome und Meyzaud), sondern als unhinterfragte Selbstverständlichkeit im Hintergrund mitläuft: dass nämlich die Möglichkeit von Bildung im Sinne einer Verweigerung gegenüber den zweckrationalen Ansprüchen des modernen Lebens gerade eben nicht als unabhängig von der sozialen und ökonomischen Ver-
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Heidy M. Müller (929) fasst Spyris Heidi, wie sie am Ende des zweiten Romans in Erscheinung tritt, als »sozialutopisches Idealgeschöpf« auf. Wie bereits an dem Hybrid-Gebäude – teils bürgerliches Haus, teils ehemaliger Stall in idyllischer Alpenumgebung –, das eingangs dieses Artikels angesprochen wurde, zu erkennen ist. Zum Konzept des Idyllischen in den Heidi-Romanen vgl. auch Nikolajeva. Eine solche Vorstellung erscheint Ende des 19. Jahrhunderts freilich bereits als Anachronismus, findet sie sich doch bereits bei Adolph Freiherr Knigge in seinem Über den Umgang mit Menschen (1788) als Diktum »Man kann in jeder Gesellschaft etwas lernen« (Knigge, S. 68f.) formuliert (vgl. dazu auch Bosse, 128). Denn der Herr Doktor formuliert gegenüber dem Öhi: »So habe ich auch meine Rechte an unserem Heidi und kann hoffen, daß es mich in meinen alten Tagen pflegt und um mich bleibt, was mein größter Wunsch ist.« (Spyri 1880, 176f.)
Eva Blome: Zwischen Alp und Alphabetisierung
fasstheit der Gesellschaft zu denken ist. Die durch die Heidi-Romane entworfene Hybridisierung sozialer Milieus bleibt dem Bereich des Utopischen vorbehalten.
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Intersektionale Perspektiven
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Das kranke Töchterlein Behinderung und Krankheit in den Heidi-Romanen Johanna Spyris Victoria Gutsche
In Johanna Spyris Werken finden sich recht viele Kranke und mitunter auch Figuren mit Behinderung. Das mag nun angesichts des biografischen Hintergrundes der Autorin nicht allzu sehr verwundern und dementsprechend wird in der Forschung die Thematisierung von Krankheit und Behinderung häufig mit einem Hinweis auf die Kindheit der Autorin versehen, kam sie doch als Tochter eines Arztes schon früh mit physisch und psychisch Erkrankten in Berührung und litt wohl selbst unter depressiven Episoden (Villain; Hurrelmann). Nun ist eine solche biografistische Lesart jedoch nicht unproblematisch, wie Yvonne Fluri zu Recht festhält (84). Vielmehr entdecken wir ein komplexes literarisch-künstlerisches Bedeutungs- und Verweisungsgeflecht, eine narrative Semantik der Krankheit, in der physische oder psychische Krankheiten erzählerisch ganz unterschiedlich eingesetzt und behandelt werden und worin auch die Geschlechterdifferenz von Mann und Frau durch die je verschiedenen Krankheitsbilder charakterisiert werden. (84) Fluri stellt fest, dass in Spyris Romanen Frauen und Mädchen unter Schwäche leiden, die Männer hingegen werden Opfer eines Unfalls, womit eine Geschlechterordnung affirmiert werde, die das Weibliche als ›schwaches‹ und das Männliche als ›starkes Geschlecht‹ ausweist (Fluri, 89f.). Fluri bezieht sich hier in erster Linie auf physische Erkrankungen, doch lässt sich der Befund auch mit Blick auf psychische Erkrankungen bestätigen: In den Heidi-Romanen leiden Männer (Doktor Classen, Oehi) unter Traumata, die durch den Verlust nahestehender Personen ausgelöst werden, doch erweisen sich diese als heilbar.1 Frauen und Mädchen (Klara, Heidi, Heidis Mutter) weisen gleichfalls psychische Leiden auf – im Falle von Klara hat dies Auswirkungen auf ihre Physis –, jedoch erscheinen sowohl das Leiden selbst wie auch die Ursache dessen – mit Ausnahme von Heidis Mutter – nicht eindeutig
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Vgl. dazu den Beitrag von Heidi Schlipphacke in diesem Band.
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Intersektionale Perspektiven
festlegbar zu sein.2 Zudem gelingt auch nicht in jedem Fall eine Heilung, bleibt doch Heidi auch nach der Rückkehr auf die Alm ›mondsüchtig‹ und Heidis Mutter stirbt. Krankheit und Behinderung sind jedoch nicht nur geschlechtlich codiert, sondern werden mit weiteren Differenzkategorien wie Alter und sozialem Status verschränkt und sind zudem an spezifische Raumarrangements gebunden. Diese Differenzsetzungen sind von Seiten der Forschung zwar schon mehrfach in den Blick genommen worden – so wurden etwa Krankheit und Behinderung wiederholt thematisiert, gleiches gilt für das damit verbundene Motiv des Heimwehs, den Gegensatz von Stadt und Land usw. (Fluri; Villain; Keith; Bunke; Pfeifer; Härle; Rutschmann; Hurrelmann u. ö.) –, doch die Verschränkung und gegenseitige Abhängigkeit der Differenzkategorien wurde bisher kaum untersucht. Davon ausgehend werden im Folgenden die Romane einer intersektionalen Lektüre unterzogen, die auf der Annahme beruht, dass diese Ungleichheitskategorien nicht einfach nebeneinanderstehen, sondern in ihren Verschränkungen analysiert werden müssen. Zudem muss beachtet werden, dass diese Differenzkategorien nicht starr, sondern selbst zu historisieren sind, sodass nicht nur die Behinderungs-, Krankheits- und Heilungsprozesse in den Heidi-Romanen im Fokus stehen, sondern auch aufgezeigt wird, an welche medizinischen Diskurse die Romane anschließen.
Klara Sesemann – Eine dissoziative Bewegungsstörung und ihre wunderbare Heilung Klara ist auf den ersten Blick als Antagonistin zur Hauptfigur angelegt: Während Heidi auf der Alm frei und unbeschwert mit den Geißen herumspringt und arm, aber glücklich ist, ist die blasse Klara an den Rollstuhl gefesselt und verbringt ihre Zeit ausschließlich im Haus. Daran kann auch der Wohlstand ihrer Familie nichts ändern, obgleich sie es recht bequem hat: Sie wird im kostbaren Rollstuhl (vgl. Spyri 1881, 136–137) Tag und Nacht vom Dienstpersonal herumgeschoben. Doch diese vermeintlichen Gegensätze weichen auf, zumal – so viel sei vorweggenommen – Klara und Heidi an einer ähnlichen Krankheit leiden; freilich mit signifikanten 2
Der Tod von Heidis Mutter wird von ihrer Schwester Dete in direkten Zusammenhang mit dem Verlust ihres Mannes Tobias gebracht: »Schon zwei Jahre nachher, wie er an einem Hausbau mithalf, fiel ein Balken auf ihn herunter und schlug ihn todt. Und wie man den Mann so entstellt nach Haus brachte, da fiel die Adelheid vor Schrecken und Leid in ein heftiges Fieber und konnte sich nicht mehr erholen, sie war sonst nicht sehr kräftig und hatte manchmal so eigene Zustände gehabt, dass man nicht recht wusste, schlief sie oder war sie wach. Nur ein paar Wochen, nachdem der Tobias tot war, begrub man auch die Adelheid.« (Spyri 1880, 9). Wodurch die schon vor dem Unfall bestehende ›Mondsucht‹ ausgelöst wird, an der auch Heidi leidet, bleibt jedoch unklar.
Victoria Gutsche: Das kranke Töchterlein
Unterschieden. Zunächst ist jedoch unklar, woran Klara eigentlich leidet, erst durch ihre Heilung wird offenbar, dass es sich um eine funktionelle Lähmung, eine dissoziative Bewegungsstörung handelt, deren Ursache jedoch im Dunkeln bleibt.3 Dies verweist schon darauf, dass anhand von Klara keine Krankheits- oder Behinderungsgeschichte erzählt werden soll, sondern eine Heilungsgeschichte. Muskulatur und Nervensystem sind nämlich durchaus intakt, es liegt folglich eine psychisch bedingte Lähmung vor (Villain, 76), die im zeitgenössischen medizinischen Diskurs als Symptom der Hysterie angeführt wird. Ende des 19. Jahrhunderts findet sich eine zunehmend breit geführte Diskussion um psychogenetische Aspekte der Hysterie. So prägt etwa der Londoner Arzt John Russel Reynolds 1869 den Begriff der »Paralysis dependent on idea«: […] some of the most serious disorders of the nervous system, such as paralysis, spasm, pain, and otherwise altered sensations, […] depend upon a morbid condition of emotion, of idea and emotion, or of idea alone; […] such symptoms often exist for a long time, appearing as complicated diseases of the brain or spinal cord […]. (483) Einen Konnex zwischen Parese und Hysterie stellt auch Paul Möbius her: »Hysterisch sind alle diejenigen krankhaften Veränderungen des Körpers, welche durch Vorstellungen verursacht sind.« (66)4 Dabei wisse der Kranke jedoch nicht, wie er zu seiner Lähmung komme (68), behandelt werden könne eine solche Erscheinung der Hysterie daher nur durch eine Aufhebung der Vorstellung: Die psychische Therapie darf daher nicht darin bestehen, dass man sich ermahnend oder erklärend an die Einsicht des Kranken wendet, sondern sie muss ihr Ziel auf Umwegen erreichen. […] Sobald das Interesse des Kranken vollständig von etwas Neuem in Anspruch genommen wird, kann, freilich nur unter bestimmten Umständen, welche sich zumeist unserer Beurteilung entziehen) [sic!] die Krankheit wie durch einen Zauber gehoben sein. Der durchschnittlichen Beschaffenheit der Menschen gemäss muss es sich in der Regel um Dinge handeln, von denen das eigene Wohl und Wehe abhängt. […] Der zweite Weg ist der der Eingebung. Als sein Schema kann man die im engeren Sinne so genannte Suggestion bezeichnen: der Arzt sagt zu dem hypnotisirten [sic!] Kranken: du kannst den gelähmten Arm bewegen, und der Kranke kann es wirklich. […] Es kommt eben nur darauf an, die feste Zuversicht auf Heilung zu erwecken. […] Das Heil liegt im Glauben […]. (69–70)
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Anders Villain (74), der die Lähmung Klaras auf den traumatischen Verlust ihrer Mutter zurückführt. Vgl. dazu weiter auch Janet und Breuer/Freud.
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Tatsächlich ist es genau dies, eine neue Vorstellung, ein neues Interesse, das zu Klaras ›Heilung‹ führt (und nicht etwa Gottes Wirken, wie Heidi meint). Als Klara zu Besuch auf der Alp ist, kümmert sich der Oehi um das kranke Kind, gibt ihr kräftigende Milch zu trinken und versucht die Vorstellung zu vermitteln, dass eine Heilung möglich ist, er fungiert mithin als Arzt bzw. Therapeut. Wichtiger aber noch ist, dass Peter aus Eifersucht den Rollstuhl zerstört, sodass Klara nun noch mehr auf Unterstützung angewiesen ist. Auf der Alp bleibt Klara zurück, sie kann nicht mit zur Blumenwiese: Der Klara kam es so köstlich vor, so ganz allein auf einem Berge zu sitzen, nur mit einem zutraulichen Geißlein, das ganz hilfsbedürftig zu ihr aufsah; ein großer Wunsch stieg auf in ihr, auch einmal ihr eigener Herr zu sein und einem andern helfen zu können und nicht nur immer sich von allen anderen helfen lassen zu müssen. Und es kamen der Klara jetzt so viele Gedanken, die sie gar nie gehabt hatte, und eine unbekannte Lust, fortzuleben in dem schönen Sonnenschein und etwas zu tun, mit dem sie jemand erfreuen konnte, wie sie jetzt das Schneehöppli erfreute. (Spyri 1881, 126f.) Damit ist der Zeitpunkt der Heilung gekommen. Mit Hilfe von Heidi und Peter macht Klara ihre ersten Schritte.5 Dass diese Heilung nicht schon früher in Frankfurt geschehen konnte, liegt nun weniger an der frischen Luft und der guten Nahrung in den Schweizer Bergen, sondern vor allem an der Entfernung vom Frankfurter Umfeld, denn wie Klara selbst halten dort auch alle anderen Figuren an der Vorstellung einer dauerhaften Lähmung fest. Es wird keine Zuversicht auf Heilung geweckt und jede Veränderung wird als potenzielle Gefahr eingeschätzt. Dies ist, wie Villain argumentiert, interessengeleitet: Die sie umgebende Dienerschaft, allen voran Fräulein Rottenmeier, sichert sich durch das Umsorgen von Klara ihren Arbeitsplatz. Sie wird nicht trainiert, sondern zur Kranken gemacht bzw. in ihrer Vorstellung bestätigt (75). An der Be-Hinderung Klaras, der aus der Rückschau falschen Behandlung, haben jedoch auch positive Figuren wie Doktor Classen teil, der sich nach Heidis Rückkehr einer allzu schnellen Reise in die Schweiz verweigert, die der zunehmenden Schwäche von Klara entgegengewirkt hätte. Jedoch wird er durch seine große Trauer um seine verstorbene Tochter entschuldigt. Als die ›Heilung‹ dann geschieht, stellt diese eine zweifache Grenzüberschreitung dar: Zum einen kann Klara aufgrund ihrer neuen Mobilität in die Gesellschaft integriert werden und damit aktiv am Leben teilnehmen, zum anderen wird sie durch die Heilung zur Frau. So findet die Heilung nämlich im Alter von vierzehn Jahren statt und damit in dem entscheidenden Übergangsalter zwischen Mädchenund Frauendasein; zudem bliebe sie bei anhaltender Lähmung stets das Objekt der Fürsorge und ewiges Kind, da sie die normativen Erwartungen an eine Frau, 5
Vgl. dazu auch den Beitrag von Anna-Katharina Gisbertz in diesem Band.
Victoria Gutsche: Das kranke Töchterlein
die fortdauernde Sorge um andere, eben nicht erfüllen kann (vgl. Keith, 112). Dass es sich dabei um eine ›weibliche Tugend‹ handelt wird mit Blick auf die anderen Figuren deutlich: Alle positiven Frauen- bzw. Mädchenfiguren im Roman – Großmutter Sesemann, Brigitte, die Mutter von Peter, Heidi und Klara – zeichnen sich durch ein hohes Maß an Empathie aus und sorgen für andere, ja widmen ihr Leben ganz der Sorge und Pflege jener, die nicht mehr zu heilen sind. Die männlichen Figuren – allen voran Doktor Classen und der Oehi – pflegen zwar ebenfalls, doch ist diese Pflege auf Heilung ausgerichtet und daher zeitlich begrenzt. Dass der Oehi sich dabei durch herausragende Fähigkeiten auszeichnet, die er ja schon bei der Pflege seines verwundeten Hauptmanns unter Beweis gestellt hatte, widerspricht der Rollenzuschreibung nicht. Vielmehr zeugt die wiederholte Betonung (vgl. Spyri 1881, 90, 104) dessen von der Außergewöhnlichkeit der Fähigkeiten des Oehis, er bestätigt als Ausnahme die Regel. Indem Klara durch die Heilung befähigt wird, für andere zu sorgen, wird sie also zur Frau, und so erkennt ihr Vater sie zunächst nicht als Kind: Als er den letzten Schritt zur Höhe gethan hatte, kamen ihm von der Hütte her zwei Gestalten entgegen. Es war ein großes Mädchen mit hellblonden Haaren und einem rosigen Gesichtchen, das stützte sich auf das kleinere Heidi, dem ganze Freudenblitze aus den dunkeln Augen funkelten. Herr Sesemann stutzte, er stand still und starrte die Herankommenden an. Auf einmal stürzten im die großen Thränen aus den Augen. Was stiegen auch für Erinnerungen in seinem Herzen auf! Ganz so hatte Klaras Mutter ausgesehen, das blonde Mädchen mit den angehauchten Rosenwangen. Herr Sesemann wußte nicht, war er wachend, oder träumte er. ›Papa, kennst du mich denn gar nicht mehr?‹ rief ihm jetzt Klara mit freudestrahlendem Gesicht entgegen, ›bin ich denn so verändert?‹ Nun stürzte Herr Sesemann auf sein Töchterchen zu und schloß es in seine Arme. ›Ja, du bist verändert! Ist es möglich? Ist es Wirklichkeit?‹ Und der überglückliche Vater trat wieder einen Schritt zurück, um noch einmal hinzusehen, ob denn das Bild nicht verschwinde vor seinen Augen. ›Bist du’s, Klärchen, bist du’s denn wirklich?‹ mußte er ein Mal ums andere ausrufen. Dann schloß er sein Kind wieder in die Arme, und gleich nachher mußte er noch einmal sehen, ob es wirklich sein Klärchen sei, das aufrecht vor ihm stand. (Spyri 1881, 153–154, Hervorhebung der Verf.) Klara ist eine andere geworden, sie kann (noch mit Hilfe) aufrecht stehen, hat rosige Wangen und ist auf dem Weg, zur Frau zu werden. War sie zuvor aufgrund ihrer Krankheit nicht nur vollkommen abhängig vom sie umsorgenden Dienstpersonal, das den Rollstuhl durch das Haus schiebt – an keiner Stelle ist zu lesen, dass sie sich selbstständig im Rollstuhl fortbewegen kann, der Rollstuhl fungiert hier also nicht als Instrument eigenständiger Mobilität –, sondern geradezu eingesperrt im Sese-
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mannschen Haus, da ein Blick nach draußen aufgrund der verschlossenen Fenster und der eigenen körperlichen Schwäche kaum möglich war. Durch die neugewonnene Mobilität ist sie nun fähig, die Anforderungen an eine Tochter aus gutbürgerlichem Hause wahrzunehmen. Tatsächlich scheint Mobilität nämlich geradezu ein Signum der Sesemannschen Familie zu sein: Die Familienmitglieder reisen stets hin und her, wobei im Falle von Herrn Sesemann die Mobilität Garant seines wirtschaftlichen Erfolges ist, wenn wiederholt betont wird, dass er geschäftlich verreisen muss. Mit Blick auf die Mobilität des Frankfurter Bürgertums erscheint es dann auch nur konsequent, dass Klara nach ihrer Heilung nicht bei Heidi bleibt, sondern sich mit Vater und Großmama auf Reisen begibt. Die Botschaft, die mit der wunderbaren Heilung ausgesendet wird, ist klar: […] children who cannot walk are to be pitied and cared for but they can never be accepted. In order for them to live into adulthood, they must be cured. […] another message from these stories is that faith in God, nature or self, has the ability to produce cure. (Keith, 99–100) Eine Akzeptanz der Behinderung mit größtmöglicher gesellschaftlicher Teilhabe ist keine Option. Rosmarie Zimmermann hat dieses Muster der Verharmlosung von Behinderung durch die Aufhebung der Schädigung als »Heidi«-Syndrom bezeichnet (172). Dies lässt sich auch eindrücklich am Beispiel von Peters Großmutter aufzeigen.
Alt, arm, immobil und eine Frau – Zur mehrfachen Ausgrenzung der Großmutter Grit Dommes hat zu Recht darauf verwiesen, dass Heidi »sich gerade gegen die Einsicht [wehrt], dass die Blindheit der Großmutter irreversibel ist, wodurch diese Tatsache noch betont wird.« (54) Dementsprechend zielen die Erzählungen und Vorträge Heidis nicht allein auf Unterhaltung der Großmutter, sondern vor allem auf eine Substitution der nicht mehr herzustellenden Sehkraft. Insbesondere Heidis Rezitation der geistlichen Lieder lässt – wie Volker Mergenthaler gezeigt hat – die Großmutter wieder sehen, insofern ihre Vorstellungskraft reaktiviert und die Welt so »wieder hell« gemacht wird (348–355): »Hatten die lebendigen Erzählungen von Heidi ihr ›Etwas auf der Welt‹ gegeben, woran sie sich ›freuen‹ […] konnte: anschauliche Schilderungen der der Erblindeten entzogenen Welt, so stellt nun das Lied ›Etwas‹ jenseits ›der Welt‹ in Aussicht.« (355) Dass sich der Blick der Großmutter auf Jenseitiges richtet, verwundert nicht, da sie kaum noch zu dieser Welt gehört, wenn mehrfach darauf verwiesen wird, dass ihr Tod wohl nicht mehr allzu fern ist (vgl. Spyri 1881, 57, 84, 172). Die Großmutter gehört auch in anderer Hinsicht nicht recht zu ›dieser‹ Welt, kann sie doch aufgrund ihrer Erblindung und ih-
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res Alters nicht am Leben im Dörfli teilnehmen und wird in ihrer Hütte geradezu eingeschlossen. Sie geht nicht ins Dörfli, unternimmt selbst keine Besuche, nimmt nicht am Gottesdienst teil, obwohl dies mit Hilfe – auf die sie ja ohnehin angewiesen ist – wohl möglich wäre. Am Beispiel der Großmutter zeigen sich verschiedene, miteinander verschränkte Ausgrenzungsmechanismen, sie unterliegt mithin einer mehrfachen Diskriminierung: Sie kann nicht geheilt werden, ist alt und gebrechlich und kann daher – anders als Klara oder Heidi – nichts zur Gemeinschaft beitragen. Sie kann den Erwartungen, die in den Heidi-Romanen an Frauen gestellt werden, nicht mehr entsprechen, da sie unfähig ist, für andere zu sorgen und selbst Objekt der Zuwendung ist. Zudem steht sie auch in sozialer Hinsicht am Rand der Gesellschaft. Da von Seiten der Forschung schon wiederholt darauf verwiesen wurde, dass in den Heidi-Romanen das soziale Elend nur am Rande eine Rolle spielt und damit keine Sozialkritik einhergeht (Doderer; Escher; Rutschmann), sei nur kurz auf den Zusammenhang von Raum und sozialer Differenz verwiesen.6 Es wurde schon angeführt, dass sich die wohlhabende Frankfurter Familie Sesemann durch ein hohes Maß an Mobilität auszeichnet. Demgegenüber sind vor allem die armen und ärmsten Figuren auf einen spezifischen Ort festgelegt, den sie nicht verlassen können. So lebt die bitterarme Familie von Peter an einem Ort, der ihrer sozialen Randexistenz entspricht, und zwar jenseits des Dorfes zwischen Alm und Dörfli in einer baufälligen Hütte (Escher, 280). Während sich Peter zumindest noch zwischen Dorf und Alm bewegt, ist die Großmutter an die Hütte gebunden, sodass sie – auch wenn sie am Schluss dank der Großzügigkeit der Großmama Sesemann ein bequemeres, wenn auch gebrauchtes, Bett und viele Decken bekommt – ausgegrenzt bleibt. Dass jeder einen spezifischen, ihm zugewiesenen Ort hat, der seinem sozialen Stand und zudem seiner physischen und psychischen Verfassung entspricht, lässt sich auch am Beispiel des Oehis zeigen, der als vom Dorf aufgrund seiner früheren Taten Verachteter und Gemiedener am Rande der Alp wohnt, dank Heidi jedoch in die Dorfgemeinschaft zurückkehrt und, als er Reue bekennt, vom Pfarrer öffentlichkeitswirksam wieder in die Gemeinde aufgenommen wird. Damit steht auch einer räumlichen – zumindest vorübergehenden – Rückkehr ins Dorf nichts mehr im Wege, wo er mit Heidi ein verfallenes Herrenhaus bezieht, das sich einst ein »tapferer Kriegsmann« (Spyri 1881, 45) errichtet hatte.7 Als schließlich der Doktor miteinzieht, werden umfangreiche Baumaßnahmen ausgeführt, sodass das Haus dem Stand des Doktors entspricht, zudem zieht der Doktor in den repräsentativen Teil des Herrenhauses ein. Noch ein letztes Beispiel: Als Klara bei Heidi auf dem Heuboden schläft,
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Zu den sozialen Differenzen, die auch über die Namensgebung markiert werden, vgl. Härle (66). Mit Blick auf die Geschichte des Hauses handelt es sich dabei um ein dem Oehi ›angemessenes‹ Haus, war er doch selbst Angehöriger des Militärs (vgl. Spyri 1880, 7f.).
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wird ihr Bett mit zahlreichen Decken und Pelzen hergerichtet. Schließlich stellt die Großmama fest: »›Jetzt soll mir noch ein einziger Heuhalm durchstechen, wenn er kann‹, sagte die Großmama, indem sie noch einmal mit der Hand auf allen Seiten eindrückte, aber die weiche Mauer war so undurchdringlich, daß wirklich keiner mehr durchstach.« (Spyri 1881, 98) Bei Heidis Bett wird über das Heu dagegen nur ein »langes, grobes Tuch« (Spyri 1880, 23) gebreitet. Hier sei nur am Rande bemerkt, dass die Alp keineswegs als unberührte Natur erscheint, die gerade aufgrund ihrer ›Unzivilisiertheit‹ und ›Urtümlichkeit‹ heilend wirkt, stellt sie doch – wie Escher gezeigt hat – eine »geordnete[…] Kultur-Natur« (280) dar. Und mehr noch: Die Alp wird von Seiten der Städter geradezu kolonisiert (Escher, 286–287; zum Verhältnis von ›Natur‹ und ›Zivilisation‹ vgl. auch Engler), was durchaus als Voraussetzung für die Heilung Klaras verstanden werden kann, da der Ortswechsel eine neue Vorstellung hervorruft. Die Alp bzw. das Dörfli wird zum Kurort und mag als Vorstufe zum berühmten Kurort Davos gelesen werden, das ja ebenfalls einen Aufstieg vom armen Bergdorf zum glamourösen Kurort vollzog, siedelt sich doch mit Doktor Classen am Schluss des zweiten Romans ein Arzt im Dörfli an, dessen Pflegekraft Heidi schon dort ist.
Heidi – die heimwehkranke Hysterikerin Die sozial-räumliche Zuweisung entsprechend des jeweiligen Seelenzustands der Figuren betrifft in besonderem Maße auch Heidi, die ebenfalls aufgrund ihrer spezifischen psychischen Verfassung zu den Kranken zu rechnen ist. In Frankfurt leidet sie unter Heimweh, der ›Schweizer Krankheit‹, die – darauf verweist Doktor Classen – zum Tode führen kann, wenn sie nicht nach Hause, d. h. auf die Alp, zurückkehren kann. Angesichts der immer ernster werdenden und für das Heimweh ganz typischen Symptome erscheint diese Befürchtung keineswegs unbegründet. Tatsächlich galt Heimweh – wie Simon Bunke gezeigt hat – im 18. und 19. Jahrhundert als überaus ernstzunehmende, tödlich verlaufende Krankheit, die sich durch einen relativ festen Satz an Symptomen auszeichnet, darunter etwa Abnahme der Kräfte, geringer Appetit, fortwährendes Denken an die Heimat, unruhiger Schlaf usw. (83). Dabei galt die Krankheit »primär als eine Krankheit der Schweizer, sowohl in der Medizin als auch im kulturellen Wissen insgesamt: Wenn auch natürlich prinzipiell jeder an dieser Krankheit leiden kann, so sind doch in erster Linie die Schweizer betroffen.« (Bunke, 83) Als Ursachen werden äußerliche Veränderungen wie Luftdruck, aber auch persönliche Dispositionen wie »weichlicher Charakter, unzureichende Erziehung oder das Aufwachsen in abgeschiedenen Bergregionen« angeführt (Bunke, 85). Insbesondere die beiden letzten Ursachen treffen auf Heidi zu, allerdings war die Schweizer Krankheit vor allem eine Krankheit der Männer, v. a. von jungen Soldaten. Frauen, Kinder und
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Alte waren kaum betroffen (Bunke, 86). Nun handelt es sich bei Heidi jedoch um ein sehr junges Mädchen, das an Heimweh erkrankt und unter akustischen Halluzinationen, quälenden Träumen von der Heimat, Appetitlosigkeit, Schwäche und Blässe usw. leidet. Das schwerwiegendste Krankheitssymptom, das zugleich – neben der im 19. Jahrhundert zunehmenden Übertragung des Krankheitsbildes auch auf Pubertierende (Bunke, 549) – zu erklären vermag, warum hier ein Mädchen an der ›Männerkrankheit‹ Heimweh leidet, ist ihr Nachtwandern (vgl. zum Nachtwandern Goltz). So diagnostiziert Doktor Classen gegenüber Herrn Sesemann: Sesemann, dein kleiner Schützling ist erstens mondsüchtig, völlig unbewußt hat er dir allnächtlich als Gespenst die Haustür aufgemacht und deiner ganzen Mannschaft die Fieber des Schreckens ins Gebein gejagt. Zweitens wird das Kind vom Heimweh verzehrt, so daß es schon jetzt fast zum Geripplein abgemagert ist und es noch völlig werden würde; also schnelle Hülfe. (Spyri 1880, 190f.) Herr Sesemann jedoch kann mit der Diagnose wenig anfangen, was sich etwa zeigt, als er Klara berichtet und nur auf die Mondsucht eingeht, nicht aber auf das Heimweh. Bunke hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass Ende des 19. Jahrhunderts »der Heimweh-Diskurs schon fast verschwunden war und Heimweh nicht mehr als Krankheit galt«: »Der Text thematisiert mit der Krankheit also etwas, das nicht mehr selbstverständlich vorausgesetzt werden kann, sondern immer wieder neu verdeutlicht werden muss« (563). Daher werde eine »überdeterminierte Fallgeschichte« erzählt, Heidis Symptome entsprechen fast mustergültig dem typischen Krankheitsbild (562). Die Mondsucht und die damit zusammenhängende »Nervenaufregung« hingegen sind Krankheiten des ausgehenden 19. Jahrhunderts und damit für Sesemann wie auch die zeitgenössischen Rezipienten näher. Beispielhaft sei auf einen auch von Bunke und Pfeifer8 herangezogenen zeitgenössischen Beitrag von Lipp verwiesen, in dem Heidis Krankheit als Nervenschwäche gelesen wird: Aber das Heimweh nach der Alm […] zehrt an Heidi. Es wird bleich, verliert den Appetit […]. Der Arzt erklärt, dass des Kindes überreizte Nerven nur daheim wieder gesunden werden, und darum darf Heidi, das sein Heimweh, um nicht undankbar zu scheinen in sich verschlossen, wieder heim. (Lipp, 28) Das Heimweh wird hier zu einer Begleiterscheinung der Hysterie und Heidi in den Augen Sesemanns und anderer zur Hysterikerin gemacht, womit sie an einer im zeitgenössischen Diskurs ›frauenspezifischen‹ Krankheit leidet (Schmehrsahl, 277; zum Zusammenhang von Nachtwandern und Hysterie Goltz, 339). Tatsächlich lassen sich ihre Symptome nämlich auch der Hysterie zuordnen, vor allem wenn man 8
Auch Pfeifer verweist auf den Zusammenhang von Heimweh und Hysterie, liest jedoch das Heimweh als Folge eines Traumas, nämlich dem Verlust der Eltern (52–63).
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bedenkt, dass auch Heidis Mutter an Mondsucht litt und nach dem Unfalltod ihres Ehemanns an einem schockinduzierten Fieber starb, ging man doch Ende des 19. Jahrhunderts meist davon aus, dass die Disposition zur Hysterie vererbbar sei (Löwenfeld, 15; Pfeifer, 62). Jedoch leidet Heidi nicht entweder an Heimweh oder an Hysterie, wobei das Nachtwandern als Begleiterscheinung auftritt, sondern – wie auch Doktor Classen diagnostiziert – an beidem: der ›männlichen‹ Krankheit Heimweh sowie der weiblich konnotierten Hysterie. Nach der Rückkehr in die Alpen ist sie nämlich keineswegs geheilt. Zwar ist das Heimweh besiegt, aber die Mondsucht bleibt, weist der Arzt den Oehi doch an, die Luke im Dach zu verschließen, sodass sie der Mond nicht mehr bescheinen kann (Spyri 1880, 218). Diese Aktion wäre bei vollständiger Heilung Heidis unnötig. Dass nun Heidi zwei auf den ersten Blick gegensätzliche geschlechtsspezifische Krankheiten zugeschrieben werden, sie – wie Heidi Schlipphacke festhält – Zuschreibungen ›queert‹, ist im Hinblick auf die Figurenanlage jedoch nur konsequent. Das Heidi wird entsexualisiert und auf die Rolle der Tochter, nicht der zukünftig geschlechtsreifen Frau, festgelegt.9 Sie wird, wie Gerhard Härle festhält, »als ewiges Kind und als ewige Tochter figuriert, die aus dem Besitz eines alten Mannes [dem Oehi] in den Besitz eines anderen alten Mannes übergeht« (83). ›Mein lieber Freund‹, sagte kürzlich der Herr Doktor, mit dem Oehi oben auf der Mauer stehend, ›Sie müssen die Sache ansehen, wie ich. Ich theile alle Freude an dem Kinde mit Ihnen, als wäre ich der Nächste nach Ihnen, zu dem das Kind gehört; ich will aber auch alle Verpflichtungen theilen und nach bester Einsicht für das Kind sorgen. So habe ich auch meine Rechte an unserem Heidi und kann hoffen, daß es mich in meinen alten Tagen pflegt und um mich bleibt, was mein größter Wunsch ist. Das Heidi soll in alle Kindesrechte bei mir eintreten; so können wir es ohne Sorge zurücklassen, wenn wir einmal von ihm gehen müssen, Sie und ich.‹ (Spyri 1881, 176–177) Heidi, die sich ja schon von Beginn an stets für andere aufopfert, steht als präfigurierte ›Alte Jungfer‹, so noch einmal Härle, ganz im Dienst anderer (83). Die Entwicklung zur geschlechtsreifen Frau bleibt ihr im Gegensatz zu Klara versagt, zumal diese wie auch die Emanzipierung aus den Abhängigkeitsverhältnissen und der Auszug in die Welt tödliche Konsequenzen hätte, würden in diesem Fall die Krankheiten doch wieder ausbrechen. Anders gesagt: Die Pathologisierung Heidis durch die Diagnose potenziell tödlicher Krankheiten hält sie im Dörfli bzw. auf der Alp, macht sie immobil. Sie bleibt somit für andere verfügbar und kann gebraucht
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Vgl. zur liminalen Figur Heidi auch den Beitrag von Agnes Bidmon in diesem Band und zum ›queeren Prinzip Heidi‹ den Beitrag von Heidi Schlipphacke und zu Heidi als Figur des Dritten den Beitrag von Christine Künzel.
Victoria Gutsche: Das kranke Töchterlein
werden, was ganz ihrer Anlage zur Selbstaufopferung entspricht (Frey und Griffith, 110–111).
Zusammenfassung In den Heidi-Romanen Johanna Spyris werden Krankheit und Behinderung als Mangel begriffen, der zu beseitigen ist. Gelingt dies nicht, wird die Person ausgegrenzt bzw. fungiert als Objekt der Fürsorge, an dem zugleich normative Erwartungen an das weibliche Geschlecht aufgezeigt werden. Behinderung und Krankheit sind dabei geschlechtlich codiert, insofern nur Frauen und Mädchen unter physischen und psychischen Krankheiten leiden. Die männlichen Figuren erkranken hingegen nicht bzw. nur vorübergehend, sondern fungieren als Beschützer. Und mehr noch: Eine Heilung ohne sie ist nicht möglich. So kümmert sich der Oehi um Klara und der Geißenpeter zerstört ihren Rollstuhl, womit der Heilung Klaras der Weg bereitet wird. Der Doktor wird von seiner Trauer um die verstorbene Tochter vor allem durch die Gespräche mit dem Oehi geheilt – auch wenn Heidi daran mitwirkt. Frauen und Mädchen sind hingegen für jene zuständig, die nicht mehr gesund werden, wie zum Beispiel die Großmutter. Affirmiert werden so Vorstellungen von einem schwachen und einem starken Geschlecht und den entsprechenden Rollenzuschreibungen. Zudem leiden Klara und (mit Einschränkungen) Heidi an vermeintlich ›weiblichen‹ Krankheiten. Doch das Verhältnis von gender und disability ist komplexer: Dort wo der Körper beeinträchtigt ist und die Figur als passiv, unfähig und abhängig präsentiert wird, wird ihr Weiblichkeit abgesprochen (Köbsell, 20–21). Dies lässt sich etwa ex negativo bei Klara aufzeigen, die nach ihrer Heilung zur jungen Frau wird. Aber nicht nur gender und disability bzw. Krankheit müssen als interdependente Kategorien begriffen werden, werden Behinderung und Krankheit doch mit weiteren Kategorien der Ungleichheit verknüpft, zu nennen sind hier Alter und soziökonomischer Status. Die arme, alte, blinde Frau wird ausgegrenzt, ihre Devianz macht sie zum Objekt der Fürsorge, an dem sich wiederum die anderen Figuren beweisen können. In Johanna Spyris Heidi-Romanen erscheinen Behinderung und Krankheit somit auf der einen Seite als Funktionsstörungen, die bei der Ausübung einer bestimmten Rolle behindern, auf der anderen Seite fungieren sie als Aufgabe im Sinne der christlichen Caritas.
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»Das Heidi« als Figur des Dritten Christine Künzel
Es mag auf den ersten Blick ein wenig abwegig oder gar überambitioniert anmuten, einen Kinder- und Jugendbuchklassiker auf der Folie eines komplexen kulturtheoretischen Konzeptes aus dem Bereich der Hybriditätsforschung und der Postcolonial Studies lesen zu wollen. Das Modell der Hybridität und die Figur des Dritten gewinnen jedoch bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts als Kulturtheoreme an Bedeutung (vgl. Rath, 138) – also zu eben jener Zeit, da die beiden Heidi-Romane erscheinen (1880/81). In literarischen Texten wird die »Kategorie der Drittheit« allerdings wesentlich früher als »poetologische Struktur« (Jahraus) präfiguriert, so etwa in den Werken Heinrich von Kleists (vgl. Jahraus; Bridgham). Vor diesem Hintergrund erscheint es durchaus nachvollziehbar, dass die Autorin Johanna Spyri in ihren Texten mit dieser Denkfigur operiert und experimentiert.
Zum Konzept der Figur des Dritten Die Figur des Dritten ist eng verbunden mit der Denkfigur des ›Dritten Raums‹ (Third Space) (vgl. Rath, 137). Dieser Dritte Raum fungiert im Sinne eines kulturtheoretischen Modells als »metaphorische[r] Zwischenraum« (Rath, 140), in dem jenseits essentialistischer Theorien und binärer Codierungen Mischformen entstehen können, sprich: Hybridität. In der Hybriditätsforschung im Rahmen der Postcolonial Studies steht die Kritik an einer »bipolaren Dichotomisierung zwischen Eigenem und Fremdem« (Bachmann-Medick, 20) im Vordergrund. Es handelt sich somit um ein anthropologisches Denkmodell, das dazu dient, gesellschaftliche Dichotomien zu unterlaufen und zu subvertieren (vgl. Koschorke, 23), indem es einen imaginären Raum schafft, in dem inkommensurable Differenzen verhandelt werden können (vgl. Struve, 227). Auch die beiden Heidi-Romane Johanna Spyris sind von zahlreichen Dichotomien geprägt: Stadt/Land, Kultur/Natur, Zivilisation/Barbarei, christlich/heidnisch, männlich/weiblich, krank/gesund, alt/jung, Herz/Verstand – um nur einige zu nennen. Die These, die diesem Beitrag zu Grunde liegt, lautet, dass Spyri mit Heidi eine hybride Figur entwirft: eine Figur des Dritten, die durch ihr Hin- und
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Intersektionale Perspektiven
Herreisen einen Transitraum zwischen verschiedenen Kulturen schafft (im Sinne eines Dritten Raums), in dem Differenzen zunächst benannt und erkannt, aber letztlich versöhnt werden können.
Heidi als hybride Figur Bemerkenswert ist die Konsequenz, mit der Spyri ihre Protagonistin mit den Merkmalen eines Mischwesens, einer hybriden Figur ausstattet. Vordergründig deutet sich dies bereits in der Bezeichnung als »das« Heidi an. Die deutsche Sprache verfügt in diesem Sinne über ein grammatisches Drittes, nämlich ein drittes, sächliches Genus, das zwischen Femininum und Maskulinum steht. Auch wenn die Bezeichnung »das Heidi« weitgehend auf die Schweizer Mundart zurückzuführen ist, so lässt der konsequente (fast ausnahmslose) Gebrauch dieser Namensformel doch vermuten, dass etwas mehr dahintersteckt, dass hier bewusst auf eine Figur des Dazwischen, des Dritten angespielt wird. Das spiegelt sich deutlich in der Beschreibung von Heidis äußerem Erscheinungsbild. Mit ihrem »kurze[n], krause[n] Haar« (Spyri 1880, 95, 125, 209) entspricht Heidi so gar nicht dem imaginären Stereotyp eines Schweizer Mädchens, sondern eher der Figur eines Tomboy.1 Zudem markiert das Nebeneinander sich widersprechender Eigenschaften Heidi als hybride Figur – etwa wenn über sie gesagt wird, dass sie ein »großes, kräftig aussehendes Mädchen« (Spyri 1880, 1), aber gleichzeitig »so fein gegliedert« (ebd., 60) sei. Auf Heidis Hybridität verweist jedoch wohl am deutlichsten das oxymoronische Kompositum »Erdbeerapfel« (Spyri 1880, 70) – eine Wortschöpfung von Peters Großmutter. Aber es ist nicht allein die Geschlechterdifferenz, die hier durchlässig wird; Spyri geht mit ihrem Text einen entscheidenden Schritt weiter, indem sie Heidi, auch was ihre kulturelle Identität betrifft, als hybriden Körper entwirft. Neben dem kurzen, krausen Haar stattet die Autorin ihre Protagonistin mit einer »völlig braune[n] Haut« (Spyri 1880, 1) und »schwarzen Augen« (ebd., 60, 21) aus. Diese Merkmale markieren Heidi insgesamt als Fremde bzw. als Figur des Fremden – verstärkt durch eine Semantik des Dunklen im Sinne eines Spiels mit Graden der Dunkelheit (in Anlehnung an Toni Morrison). Es ließe sich einwenden, dass auch in den Heidi-Romanen das Moment der Fremdheit über eine dunkle(re) Hautfarbe vermittelt wird und die Texte damit Teil eines kolonial geprägten literarischen Diskurses sind, in dem ›Rasse‹ (definiert über Hautfarbe) als Metapher des Fremden, des Anderen schlechthin fungiert (vgl. Morrison, 63). Bemerkenswert ist allerdings die Tatsache, dass das Dunkle hier weder negativ konnotiert ist noch anstößig wirkt. Heidi ist keine Figur, die Ängste auslöst, sie ist im wörtlichen Sinne harm-los. 1
Ich werde diesen Aspekt hier nicht vertiefen, weil es dazu einen Beitrag von Agnes Bidmon in diesem Band gibt.
Christine Künzel: »Das Heidi« als Figur des Dritten
Allein die Figur des Fräulein Rottenmeier fungiert als Instanz, die die Position Heidis als der/des Fremden bei verschiedensten Gelegenheiten betont. Indem sie Heidi als »Barbarin« (Spyri 1880, 130) bezeichnet,2 verweist Rottenmeier zugleich auf die ursprüngliche Bedeutung des Begriffes Barbar zur Bezeichnung von Menschen, die der heimischen Sprache unkundig sind, wenn sie konstatiert, dass Heidi nicht einmal »reden« könne wie sie (Spyri 1880, 125).3 Aus dieser Perspektive betrachtet, ist Heidi die Personifizierung des Fremden, das in den Haushalt der Familie Sesemann in Frankfurt gewissermaßen ›hereinbricht‹. Und es ist die Figur des Fräulein Rottenmeier, die diesem ›Einbruch‹ des Fremden mit »Beunruhigung, Störung und Verstörung« (Waldenfels, 125) begegnet: »als sei seit seiner [Heidis] Erscheinung im Hause Sesemann alles aus den Fugen geraten« (Spyri 1880, 131). Die Markierung Heidis als Fremde wird durch zahlreiche weitere Äußerungen unterstützt, so etwa, wenn das Mädchen als »sonderbar« (Spyri 1880, 93) oder als »curioses Kind« (ebd., 95) bezeichnet wird. Das Adjektiv sonderbar ist semantisch mit dem Topos der Absonderung verbunden: »abgesondert von dem gewöhnlichen, normalen und dadurch befremden erregend« (Grimm, 01/2021) – heißt es im Wörterbuch der Gebrüder Grimm. Zusammen mit dem aus dem Französischen stammenden Begriff »apart« (Spyri 1880, 94), der ebenfalls mit Bezug auf Heidi verwendet wird, ergibt sich hier eine räumliche Dimension, in der Heidi in einer eigenen Sphäre, abseits verortet wird.4 Diese Sphäre könnte man im Sinne des Konzeptes des Third Space metaphorisch als einen Dritten Raum begreifen, der in der postkolonialen Forschung der »Beschreibung kultureller Kontaktsituationen« (Struve, 226) dient: als »Schwellenraum zwischen festen Identitätskonstruktionen«, der eine »Bewegung des Hin und Her, einen Übergang zwischen Polaritäten« (ebd.) ermöglichen soll. Insofern kann – wie der Kulturhistoriker Franz Borkenau (1900–1957) konstatiert – »›Barbarei‹ auch […] [als] ein schöpferischer Prozess« (Lüscher, 5) begriffen werden. Die Ambivalenz des ›Dritten‹ eröffnet […] einen metaphorischen Zwischenraum, der als Raum der kulturellen Aussage und Identifikation binäre Kategorisierungen unterläuft. Als kulturtheoretisches Modell lenkt der ›Dritte Raum‹ auf metaphorische Weise das Augenmerk auf die ›Verortung‹ kultureller Identitäten. ›Hybridität‹ geht dabei auf die in einem ›Dritten Raum‹ der Übersetzung stattfindende
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Auch Heidis Großvater wird zu Beginn des Romans von den eigenen Landsleuten als »alter Heide und Indianer« (Spyri 1880, 4) bezeichnet. Abgeleitet aus dem griechischen bárbaros (βάρβαρος): Fremder, Ausländer, der heimischen Sprache Unkundiger; vgl. den Eintrag zum Lemma »Barbar« (Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache). Das aus dem Französischen entlehnte Adjektiv apart geht auf die Formulierung à part zurück, die eigen, gesondert, für sich, einzeln bedeutet (vgl. auch das lateinische ad partem).
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Kontamination essentialistischer Kategorien zurück und wird damit direkt an jenes Modell des ›Dritten Raums‹ gekoppelt. (Rath, 140) Die Bezugnahme auf Konzepte aus der postkolonialen Forschung ist jedoch auch auf anderer Ebene bedeutsam. Wenn man nicht wüsste, dass es sich bei Heidi um ein »Schweizermädchen« (Spyri 1880, 142) handelt (als Bio-Schweizerin ›weiß‹ markiert), könnte man als Leser*in aus der Beschreibung der äußeren Merkmale (kurzes krauses Haar, dunkle Haut und schwarze Augen) schließen, dass es sich um eine fiktive person of colour handelt. Mit dieser in jeder Hinsicht hybriden Darstellung Heidis unterläuft der Text so gut wie alle gängigen Klischees. In Anlehnung an Kleist ließe sich Heidi als »mosaische Arbeit« verstehen, die aus verschiedenen »Reichen der Natur zusammengesetzt« (Kleist 2001, Bd. 1, V/3, 520) ist. In diesem Kontext gewinnt Klaras Äußerung über Heidi, »ich habe aber auch nie ein Kind gesehen, das so aussieht wie du« (Spyri 1880, 95), besondere Relevanz. Die Radikalität dieser Hybridisierung der Protagonistin ist nicht nur bemerkenswert, sie sorgt auch dafür, dass sich die Heidi-Figur jeglicher Form der bildlichen Darstellung verweigert. Dies ergibt sich aus dem paradoxalen Status der Hybridität, der einerseits »nur durch Verkörperung erreichbar« (Krämer, 137; Hervorhebung im Original) ist, sich zugleich aber jeglicher Übersetzung in ein Bildmedium entzieht. Hier tritt die besondere Funktion fiktionaler Literatur in den Vordergrund, die jede Leserin und jeden Leser in die Lage versetzt, Körper und Identitäten jenseits konventioneller Bildregime zu imaginieren.5 Vor diesem Hintergrund erscheint es umso bemerkenswerter, dass Heidi, die als Figur eher für ein bestimmtes Konzept, sprich: für eine Figuration6 steht, trotz allem ganz hervorragend auch als Identifikationsfigur fungiert. Möglicherweise verdankt sich dieser Effekt gerade der Tatsache, dass Heidi als Figuration in ihrer Hybridität als offene Figur angelegt ist und somit auch Raum für verschiedene Anknüpfungs- und Identifikationsangebote schafft.
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Insofern wäre die Feststellung Walter Müller-Seidels, das Dritte sei eben »jener Bereich, der sich den Vorstellungen entzieht, in denen Satz und Gegensatz, Teil und Gegenteil gelten« in Bezug auf fiktionale Literatur zu relativieren (Müller-Seidel, 150). Zur literarischen Figur als Funktionsträger und zur funktionalen Dimension der Figur vgl. Lahn und Meister, 234ff.
Christine Künzel: »Das Heidi« als Figur des Dritten
Abbildung 1: Heidi-Illustration von Rudolf Münger (1918).
Die Übertragung in ein Bildmedium hat dagegen nicht allein eine Schließung der fiktionalen Offenheit zur Folge, sondern tendiert auch zu einer Aufhebung des ambivalenten Status der Figur des Dritten »zwischen Symbolischem und Realem« (Stoellger, 419). Vor diesem Hintergrund muss jeder Versuch der Übertragung in ein Bildmedium scheitern, da er zwangsläufig zu Vereindeutigungen führt und damit die Komplexität der Figurenkonzeption reduziert – zumeist auf ein Klischee. Dies lässt sich besonders gut an den Heidi-Verfilmungen erkennen (zumindest an den älteren Filmen7 ), wo die Protagonistin weder kurz- noch kraushaarig ist und keine dunkle(re) Hautfarbe aufweist. Heidi wird dort im Gegenteil mit den stereotypischen Mädchen-Merkmalen ausgestattet: mit langen (zumeist blonden oder hellbraunen) Haaren, die zu Zöpfen geflochten sind. Die japanische Animationsfilmserie (1974) zeigt Heidi zwar mit einer braunen Kurzhaarfrisur, verzichtet aber auf alle weiteren hybriden Merkmale – wie dunkle(ere) Haut – und stattet Heidis helles Gesicht dafür mit rosaroten Bäckchen aus. Das zeigt, dass es insbesondere der Topos der dunkle(re)n Hautfarbe ist, der in der Rezeption der HeidiFigur offenbar als Zumutung, als »anstößig« (Kleist 2001, Bd. 2, 172) empfunden und daher ausgeblendet wird.
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So z.B. in den beiden Schwarz-Weiß-Verfilmungen aus den frühen 1950er Jahren: Heidi (CH 1952) und Heidi und Peter (CH 1955) mit Elsbeth Sigmund in der Titelrolle.
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Nimmt man die Hinweise zu den äußerlichen Merkmalen Heidis ernst, dann ergeben sich erstaunliche Parallelen zu Beschreibungen von Hybridität im Hinblick auf die Differenzierung von Hautfarben. Nicht zufällig lassen sich auch hier Verbindungen zu den Texten Heinrich von Kleists herstellen. Die Beschreibung Tonis, der fünfzehnjährigen »Mestize« (Kleist 2001, Bd. 2, 162) in Kleists Erzählung Die Verlobung in St. Domingo, mit ihrem »Haar, in dunklen Locken« und ihren »großen schwarzen Augen« (ebd., 172) weist deutliche Parallelen zur Darstellung Heidis auf.8 Eine der wenigen bildlichen Darstellungen, die dieser Ikonographie folgt, sind die Heidi-Illustrationen des Schweizer Malers Rudolf Münger (1862–1929), eines Zeitgenossen Johanna Spyris. Hier wird Heidi tatsächlich mit schwarzem, kurzem und krausem Haar dargestellt (siehe Abb. 1). Klara, das Mädchen, das in Frankfurt an den Rollstuhl gebunden ist, wird von ihrem Äußeren her deutlich als Gegensatz zu Heidi entworfen, als »großes Mädchen mit hellblonden Haaren und einem rosigen Gesichtchen […]. Ganz so hatte Klaras Mutter ausgesehen, das blonde Mädchen mit den angehauchten Rosenwangen« (Spyri 1881, 153). So entspricht Klara zwar äußerlich dem Klischee eines nordeuropäischen Mädchens, doch wird dieses Stereotyp durch eine körperliche Dysfunktionalität (ihre Gehbehinderung) gebrochen.
Heidi als besondere Figur des Dritten Es sollte deutlich geworden sein, dass Heidi durch ihre hybride Gestaltung bereits hinlänglich als Figur des Dritten markiert ist. Doch handelt es sich bei Heidi um eine besondere Figur des Dritten. Das Mädchen aus den Schweizer Alpen tritt gewissermaßen als Verkörperung des Konzeptes des Third Space auf, was zugleich eine Dynamisierung des Modells bewirkt, indem Heidi durch ihr Hin- und Herreisen zwischen verschiedenen Kulturen (hier ein Dorf in den Schweizer Alpen, dort die Großstadt Frankfurt a.M.) die Position einer Vermittlerin einnimmt. In diesem Sinne fungiert Heidi als Botschafterin zwischen zwei räumlich und kulturell voneinander entfernten Orten: »Heidis Wanderschaft zeigt, dass es möglich ist, das Gute aus beiden Welten herauszufiltern, um daraus eine neue, eigene Welt zu schaffen« (Fragoso, 59). Heidi ist also nicht einfach da, sondern sie ist mobil und entfaltet an beiden Orten eine besondere Wirkung: Auf der Schweizer Alp bewirkt sie die Annäherung und Wiedereingliederung ihres Großvaters in die soziale Gemeinschaft; in Frankfurt initiiert sie einen Prozess der Heilung Klaras, der dann später (im zweiten Teil des Heidi-Romans) in der Natur der Schweizer Berge abgeschlossen wird. In ihrer Position als »mediatisierende[r] Dritte[r]« (Krämer, 124f.) in Kombination mit 8
Heinrich von Kleist orientierte sich bei seiner Gestaltung der Figur der Toni offenbar an zeitgenössischen Berichten und bildlichen Darstellungen (vgl. u.a. Heckner; Bay).
Christine Künzel: »Das Heidi« als Figur des Dritten
ihrer heilstiftenden Wirkung entsprechen Heidis Funktionen denen eines Engels.9 Am Ende des zweiten Teils des Heidi-Romans stellt der Pfarrer (!) fest, »in welcher erfreulichen Weise der Oehi und das Heidi in der Gemeinde wirkten« (Spyri 1881, 74). Engel stiften […] Relationen, indem sie durch ihre Übermittlungstätigkeiten einen intermediären Raum entstehen lassen, der zwischen den voneinander abweichenden Welten des Göttlichen und Menschlichen situiert ist und deren Verbindung durch Wegbahnung im buchstäblichen Sinne eröffnet. (Krämer, 123) Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass sich im Text Hinweise finden lassen, die Heidi der Sphäre himmlischer Wesen zuordnen. Da ist zunächst einmal Fräulein Rottenmeiers Imagination eines Schweizer Mädchens als ideale ›Gespielin‹ für Klara als einem jener »Wesen […], welche der reinen Bergluft entsprossen, sozusagen ohne die Erde zu berühren, durch das Leben gehen« (Spyri 1880, 142), als »eine jener […] Gestalten, die nur wie ein idealer Hauch an uns vorüberziehn« (ebd.). Diese Äußerungen spielen auf die paradoxale Konzeption des Engels im Grenzbereich zwischen Materialität und Immaterialität an.10 Einerseits wird der Engel als immaterielles Wesen gedacht, andererseits kann er aber nur durch seine Verkörperung als Bote tätig sein: ein Körper also, aber ein Körper ohne Gewicht (vgl. Krämer, 127f). Einen weiteren Aspekt des Paradoxes der entkörperlichten Verkörperung des Engels bietet der Hinweis darauf, dass Heidi »fast nie«11 weint. Tränen sind Körperflüssigkeiten, und diese verweisen – mit all ihren negativen Konnotationen (Blut, Urin, Kot, Sperma) – auf das profane menschlich-irdische Dasein, vor allem auf das Moment der Sterblichkeit. Auch die geschlechtsneutrale und damit zugleich entsexualisierte Konzeption Heidis weist Parallelen zur Figur des Engels auf.12
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»Engel sind nicht einfach da, sondern sie sind tätig […]. ›Engel‹ ist also der Name eines Amtes, einer Funktion. Das griechische ›angelos‹, das hebräische ›malakh‹, das arabische ›malak‹ und das persische ›fereshteh‹: Alle diese Worte bezeichnen den ›Botschafter‹« (Krämer, 122). Auch die Assoziation Heidis mit einem Gespenst, das nachts sein Unwesen im Hause Sesemann treibe, unterstützt den Topos der Immaterialität (vgl. Spyri 1880, 176–188). Im ersten Teil des Romans heißt es: »Heidi weinte fast nie« (Spyri 1880, 62); und Sebastian stellt fest: »Wir haben ja ein ganz vernünftiges Mamsellchen, hat noch gar nie geweint, seit es bei uns ist, sonst weinen sie ja zwölf Mal am Tag in dem Alter« (ebd., 135). Engel zeichnen sich insbesondere durch »Unsterblichkeit und Geschlechtslosigkeit« aus (Lang, 538).
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Auffällig häufig wird Heidi zudem mit Vögeln assoziiert,13 was der allgemeinen Vorstellung des Engels als geflügeltem Boten entspricht und im Sinne »gründungsmythische[r] Bedeutsamkeit« eine »Ursprungsnähe von Vögeln und Engeln« (Macho, 88) suggeriert: »Engel sind Zwischenwesen, in deren Erscheinung Vögel und Menschen verschmelzen« (Macho, 83). Auch der Zustand der Unwissenheit (»es weiß Nichts«, Spyri 1880, 81), des »begriffslosen Dasein[s]« (ebd. 106), der Heidi charakterisiert, lässt sich als Hinweis auf die Figur des Engels lesen. Signifikant ist in diesem Zusammenhang der Hinweis darauf, dass Heidi keine Beziehung zu Geld hat und auch nicht gezwungen sein soll, ihren Lebensunterhalt durch Lohnarbeit im herkömmlichen Sinne zu verdienen. Das in seiner Funktion als Kommunikationsmedium mit Gott konkurrierende Geld (vgl. Hörisch 2004) soll nicht mit Heidi assoziiert werden, denn »[w]er am Geldverkehr teilhat, läßt sich […] auf ungeheure Abstraktionen ein« (Hörisch 1997, 681). Und es ist ja gerade die Verweigerung der Abstraktion im Sinne eines Operierens mit abstrakten Begriffen, die Heidi als Figur auszeichnet: »Nicht Einen Urbegriff hat das Wesen!« (Spyri 1880, 109; vgl. auch 98) Die Gleichgültigkeit gegenüber Geld knüpft darüber hinaus aber auch an die Vorstellung der Immaterialität der Engelsfigur an, die sich zugleich auf die Konzeption des Engels als geschichtslosem Wesen bezieht, das nichts erschafft, nichts hinterlässt und somit auch nicht dem Muster einer Erfolgsgeschichte im Sinne einer (ökonomisch gedachten) Karriere folgt: »Die Hände der Engel bleiben leer« (Krämer, 126). Für Heidi trifft dies in besonderer Weise zu, da sie Geld, das sie bekommt, stets weitergibt: »Ich brauch′ es gewiss nicht« (Spyri 1880, 215). Und am Ende des zweiten Heidi-Romans wird auf doppelte Weise sichergestellt, dass Heidi niemals einer Lohnarbeit wird nachgehen müssen: zum einen durch den Doktor, der das Mädchen als seine Erbin (an Kindes Statt) einsetzt (vgl. Spyri 1881, 177), zum anderen durch Herrn Sesemann, der dem Alp-Öhi versichert: »Nie in seinem Leben soll dieses Kind hinaus, um unter fremden Menschen sein Brod zu verdienen; dafür will ich sorgen. Auch über meine Lebenszeit hinaus.« (Spyri 1881, 166) Mit der Figur des Engels verbindet Heidi aber nicht allein die Funktion des Boten, sondern insbesondere die des Heilbringens – hier durchaus wörtlich zu nehmen im Sinne der Fähigkeit des Heilens: »Gelt, Großmutter, heilsam heißt, wenn Alles heilt, daß es einem wieder ganz wohl wird?« (Spyri 1881, 85) Als Figur des Dritten versöhnt Heidi kulturelle und soziale Differenzen, als Engel zeugt sie »von Gott vor den Menschen« als »Spur Gottes in der menschlichen Wirklichkeit« (Krämer, 126). Der Topos einer Wunderheilung wird insbesondere im zweiten Teil des Heidi-
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Vgl. etwa folgende Textstellen, auf der Alp: »[…] so froh und glücklich lebte Heidi von einem Tag zum anderen, wie nur die lustigen Vögelein leben« (Spyri 1880, 51); und in Frankfurt: »Wie das Vögelein, das zum ersten Mal in seinem schön glänzenden Gefängnis sitzt, […] so lief Heidi immer von dem einen Fenster zum andern, um zu probieren, ob es nicht aufgemacht werden könnte« (ebd., 103).
Christine Künzel: »Das Heidi« als Figur des Dritten
Romans aufgerufen.14 Das größte ›Wunder‹ stellt selbstredend die Genesung Klaras bei ihrem Besuch auf der Alp dar. Und die Beteiligten fragen sich, »wie nur dieses Wunder hatte geschehen können« (Spyri 1881, 155). Aber auch der Lehrer möchte angesichts der Tatsache, dass Peter das Lesen doch noch erlernt hat, an ein Wunder glauben: »Woher können zu unserer Zeit denn noch solche Wunder kommen, Peter?« (Spyri 1881, 73)
Fazit Und hier schließt sich der Kreis. Die Figur des Engels verweist auf den Ausgangspunkt dieses Beitrags zurück, nämlich auf den Aspekt der Hybridizität. […] Hybridizität, also in der Idee, einen Kontakt zwischen heterogenen Welten durch ein ›Kontaktorgan‹ herzustellen, das sich aus den Attributen beider zu vermittelnder Welten zusammensetzt. Gerade das Zugleich und das Nebeneinander von opponierenden Eigenschaften befähigt den Engel zum Mittleramt. (Krämer, 137, Hervorhebungen im Original) In ihrer Konzeption als Zwischenwesen, als unmöglicher Körper (Krämer, 128) entspricht Heidi der Figur eines Dritten, und zwar der eines besonderen Dritten: des Engels. Doch stellt das Experiment Johanna Spyris, die hybride Heidi-Figur mit der des Engels zu verknüpfen, eine Gratwanderung dar. Es bestand und besteht immer die Gefahr, diesen Text, der »als Inbegriff des religiös-sentimentalen Lesegeschmacks jener Zeit in die Kinderliteratur eingegangen ist« (Fragoso, 53) zu unterschätzen, indem man ihn auf die religiös-sentimentalen Aspekte, die sich durchaus identifizieren lassen, reduziert. Spyri gelingt es allerdings nicht zuletzt durch den Entwurf hybrider, unmöglicher Körper, dem Kitsch zu entgehen. Die Autorin schafft es, mittels einer Strategie der Überkreuzung bzw. Durchkreuzung ikonografischer Stereotype des Engels zumindest eine Irritation hervorzurufen: Klara mit ihrem blonden Haar und ihren blauen Augen entspricht zwar dem Klischee des Engels, kann jedoch aufgrund ihrer Immobilität nicht dessen Funktion(en) erfüllen. Und auf der anderen Seite Heidi, die mit ihren kurzen, krausen Haaren, ihren schwarzen Augen und ihrer dunklen Haut von ihrer äußeren Darstellung her so gar nicht der allgemeinen Vorstellung eines Engels entspricht, ja das klischeehafte Bild des Engels auf radikale Weise negiert und damit auch den Kitsch-Reflex unterläuft, indem sie eben nicht als »niedliche[r] Telegraph[] des Allmächtigen« (Krämer, 124) entworfen wird. So hat Johanna Spyri mit ihren Heidi-Romanen den literarischen Versuch unternommen, ein unmögliches Wesen im Raum der Möglichkeiten der Literatur
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Vgl. dazu den Beitrag von Claudia Gärtner in diesem Band.
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zu schaffen. Literatur fungiert hier in vorbildlicher Art und Weise selbst als Dritter Raum.
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Christine Künzel: »Das Heidi« als Figur des Dritten
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Re-reading Heidi Eine Betrachtung von Diversitätsmerkmalen aus Sicht der Anti-Stigma-Kommunikationsforschung Cosima Nellen, Alexander Röhm, Michélle Möhring und Matthias R. Hastall
Hintergrund Johanna Spyris Roman über die Waise Heidi, die als Kind zu ihrem Großvater auf die Alm gelangt und Freundschaft mit Peter und Clara schließt, fasziniert Menschen unterschiedlichster Kulturen seit Generationen. Aus den beiden Heidi-Romanen entstanden unzählige Adaptationen in Form von Filmen, Serien, Bilderbüchern, Comics, Musicals und vielem mehr. Die Kernthemen der Ursprungsromane (Naturverbundenheit von Heidi, Entwicklung von Freundschaften zu Peter und Clara, Beziehungsaufbau zum Großvater, Entdeckung neuer Orte abseits der Heimat) werden dabei kaum verändert. Aus Perspektive der Anti-Stigma-Kommunikation und der Rehabilitationswissenschaften liegt ein großes Potenzial der HeidiGeschichte darin, dass verschiedene Diversitätsmerkmale (insbesondere sozioökonomischer Status, Geschlecht und Behinderung) bereits jungen Zielgruppen in einem Narrativ medial vermittelt werden. So stammen Heidi und Peter aus ärmeren Lebensverhältnissen mit eher schwach ausgeprägten familiären bzw. sozialen Unterstützungssystemen. Insbesondere die körperliche Beeinträchtigung tritt bei Clara Sesemann sehr deutlich in den Vordergrund: Ihre Einschränkungen durch den Rollstuhl und ihre »Heilung« durch Heidi stellen wichtige Handlungsstränge dar. Bei Heidi und Peter sind die Diversitätsmerkmale subtiler dargestellt. Durch die Beschreibungen und Darstellungen von Heidi lassen sich aus heutiger Lesart Hinweise auf eine Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS) finden, während Peter Symptome einer Lernschwierigkeit zeigt. Obwohl mediale Darstellungen von Personen mit Behinderung in den letzten Jahrzehnten stark zunahmen, ist diese Personengruppe weiterhin sowohl stark verzerrt dargestellt als auch medial unterrepräsentiert (Aguayo-Krauthausen; Oberholzer). Während beispielsweise die Häufigkeit der Darstellung von Menschen, die im Rollstuhl sitzen, in Film und Fernsehen zunimmt, galten Menschen mit komplexeren Behinderungen lange Zeit als »dem Publikum nicht vermittelbar« (Radtke,
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126). Dass Menschen mit Behinderung in medialen Darstellungen Raum finden, sehen viele Forscher*innen sowie Betroffene als Fortschritt an (Aguayo-Krauthausen; Maskos; Oberholzer). Allerdings waren diese Darstellungen aus historischer Perspektive bislang häufig von Stereotypen, Verzerrungen und Ungenauigkeiten geprägt, die eine Ablehnung und Ausgrenzung eher förderten (Kallman). Im Gegensatz dazu konnten Forschungen, die sich auf die Kontakthypothese nach Allport (1954) beziehen, zeigen, dass Kontakte zu Menschen mit einer Behinderung, wohlgemerkt auch medienvermittelte Kontakte, Vorurteile gegenüber der Personengruppe reduzieren können (z.B. Corrigan et al. 2012; Röhm 2017). In vielen dieser Studien wurden unterschiedliche Arten von Darstellungen, beispielsweise Vignetten oder Fallbeispiele in Medienberichten, genutzt, um die Effekte eines derartigen medialen Kontakts auf Einstellungen und Verhaltensweisen gegenüber dieser Personengruppe zu testen. Dabei zeigte sich, dass nicht jeder mediale Kontakt und insbesondere nicht jede realistische Darstellung tatsächlich Vorurteile abbauen, sondern dass bestimmte Portraitierungen im Gegenteil sogar Irritationen, Verärgerung und soziale Distanzierung verstärken können (z.B. Ritterfeld & Jin). Wie über Menschen mit Behinderung in stigmasensibler Art kommuniziert werden kann, ist eine der zentralen Fragestellungen der Anti-StigmaKommunikation, deren Perspektive in dieser Studie auf die Romane von Heidi übertragen wird. Die hier vorliegende Studie geht der Frage nach, inwieweit dezente Hinweise auf eine Ähnlichkeit bestimmter Merkmale (Name, Setting) eines Fallbeispiels einer Person mit Behinderung wie ADHS mit denen des fiktionalen Charakters Heidi stigmarelevante Einstellungen und Verhaltenstendenzen der Rezipierenden gegenüber Personen mit ADHS beeinflussen. Um dies zu testen, wird das Setting von Heidi in einen modernen Kontext übertragen (vgl. Abb. 1) und der Bezug zur Originalgeschichte durch entsprechend angepasste Personen-, Städte- und Landesnamen sowie durch eine Anpassung der familiären Bezugsperson (Großvater vs. Großmutter) experimentell variiert.
Stigmatisierung Menschen mit Behinderung sind stärker von Stigmatisierungen betroffen als Menschen ohne Behinderung (z.B. Röhm et al. 2019). Basierend auf Goffmans (1963) Stigma-Theorie ist ein Stigma ein Merkmal, das eine Person herabwürdigt und abwertet. Stigmatisierung ist dabei keine starre Merkmalszuschreibung, sondern ist von Prozesshaftigkeit gekennzeichnet (Röhm & Ritterfeld 2020). Link und Phelan (2001) definieren Stigma als das Vorhandensein eines Labels (eines Merkmals; labeling) in Kombination mit stereotypischen Vorurteilen (positive wie negative) gegenüber den Merkmalsträger*innen (stereotyping), einer Abgrenzung
Cosima Nellen, Alexander Röhm, Michélle Möhring und Matthias R. Hastall: Re-reading Heidi
von diesen Personen zu anderen Personen und Personengruppen (separating), einem einhergehenden Statusverlust (status loss) und Diskriminierung (discrimination) in einer Machtkonstellation, die eine Entfaltung dieser Prozesse ermöglicht. Stigmatisierung kann dabei in unterschiedliche Arten (z.B. öffentliche Stigmatisierung oder Selbststigmatisierung) differenziert werden und sich auf unterschiedlichen Ebenen (z.B. institutionelle Ebene, soziale Ebene) ausdrücken (z.B. Röhm et al. 2019). Als Folge von Stigmatisierung können Betroffene beispielsweise Einschränkungen ihres körperlichen und psychischen Wohlbefindens, einen niedrigeren Gesundheitszustand, verstärkte Barrieren im Zugang zum Gesundheitssystem, gehemmte Wahrnehmungen von Unterstützungs- und Partizipationsmöglichkeiten, einen geringeren Selbstwert und eine geringere Lebensqualität aufweisen oder beispielsweise verstärkt von Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot oder Problemen im Bildungskontext betroffen sein (z.B. Griffiths et al. 2006; Griffiths et al. 2008; Röhm et al. 2019; Toye et al.).
Fallbeispiele Fallbeispiele (engl.: exemplars) sind Darstellungen von Einzelpersonen, die als Stellvertreter*innen ihrer Gruppe agieren (Geppert et al.; Krämer & Peter). Sie werden häufig zur Illustration komplexer oder abstrakter Themen verwendet, sowie zur Personalisierung oder Emotionalisierung von neutralen Themen, um eine hohe Anschaulichkeit und Verständlichkeit bei den Rezipierenden zu erreichen (z.B. Möhring et al.; Peter 2019). Zur Erklärung der Wirkungsweise von Fallbeispielen werden insbesondere die Verfügbarkeits- und Repräsentationsheuristik angeführt (Brosius), welche Menschen aufgrund limitierter Verarbeitungskapazitäten verwenden (Peter 2019). Durch die im Vergleich zu summarischen Realitätsbeschreibungen erhöhte Lebhaftigkeit der Fallbeispiel-Darstellungen erinnern sich Rezipierende stärker an diese und werden daher stärker in Urteilsbildungen zu Themen einbezogen, die Ähnlichkeit mit dem Fallbeispiel aufweisen (Verfügbarkeitsheuristik; Geppert et al.; Peter 2019). Die Repräsentationsheuristik hingegen beschreibt die Übertragung des Einzelfalls auf die Gesamtheit aller Personen, die zu der Gruppe des Fallbeispiels gehören (Geppert et al.). Heuristiken basieren auf individuellen Erfahrungen, weshalb es bei der Interpretation von Fallbeispielen zu Fehlurteilen kommen kann, beispielsweise weil die Übertragung des Fallbeispiels auf die Grundgesamtheit der Personengruppe, der das Fallbeispiel angehört, nicht valide ist (Geppert et al.; Peter 2019). Auch bei Verfügbarkeit von valideren Informationen werden Rezipient*innen stark von Fallbeispiel-Darstellungen in ihren Meinungen beeinflusst (z.B. Krämer & Peter). Der Einfluss von FallbeispielDarstellungen ist demnach sehr stark und robust in Bezug zur Urteilsbildung, zur
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Einstellungsänderung und Verhaltensänderung im Vergleich zu summarischen Beschreibungen. Durch die Nutzung von Heuristiken können langfristig Einstellungen, Verhaltensweisen und Urteile gegenüber den dargestellten Personengruppen, die durch das Fallbeispiel repräsentiert werden, verändert werden. Diese Prozesse untersucht auch die Anti-Stigma-Kommunikation, da durch die Darstellung von Fallbeispielen stigmabezogene Einstellungen und Verhaltensweisen in intendierter Weise beeinflusst werden können. In diesem Kontext ist jedoch nicht nur von einem positiven Effekt der Fallbeispiele auszugehen (siehe Möhring et al.). Wie vorherige Forschungen zur Nutzung von Fallbeispielen im Anti-Stigma-Kontext zeigten, können Fallbeispiele stigmabezogene Einstellungen (z.B. soziale Distanz), Emotionen und Verhaltensweisen sowohl nicht-intendiert hervorrufen als auch in angestrebter Weise verhindern (z.B. Baumann et al.; Röhm et al. 2019). Um Stigmatisierungsprozesse und Möglichkeiten der Destigmatisierung durch Medien besser zu verstehen, ist es wichtig, zu wissen, welche Merkmale eines Fallbeispiels eher stigmaförderlich und welche Merkmale eher stigmareduzierend sind. Über die stigmatisierungsbezogene Wirkungsweise der Merkmale der dargestellten Person und der Rezipierenden herrscht bislang Uneindeutigkeit und Unklarheit (z.B. Röhm et al. 2019). Die bisherige Forschungslage legt nahe, dass es auf das spezifische Zusammenspiel der dargestellten Merkmale im Medium auf der einen Seite und den Merkmalsdispositionen der Rezipient*innen auf der anderen ankommt, um Aussagen über die stigmatisierende bzw. destigmatisierende Wirkungsweise treffen zu können (Röhm 2017). Die zentrale Fragestellung dieser Studie ist daher vor dem Hintergrund der Exemplification Theory (Zillmann & Brosius), inwiefern eine singuläre moderne Adaptation von Heidi in Form eines journalistischen Fallbeispiels geeignet ist, stigmatisierungsbezogene Einstellungen gegenüber Personen mit einer Behinderung am Beispiel ADHS zu beeinflussen.
Bezug zu Heidi-Romanen als möglicher Einflussfaktor Wie dargestellt wurde, können Fallbeispiele eine stigmareduzierende Wirkung zeigen. Basierend auf der Annahme, dass die Rezeption der Heidi-Geschichte in unterschiedlichen Formaten positiv konnotiert ist, gehen wir in unserer Studie davon aus, dass die positive Assoziation mit der Heidi-Geschichte durch Priming des Namens (Heidi) und des Heidi-spezifischen Settings (Aufwachsen beim Großvater in der Schweiz) die Grundlage für positivere Bewertungsprozesse darstellt (z.B. Arendt; Castelli und Zogmaister; Peter 2002). Durch mediales Priming können bereits wenige dargestellte Hinweise die Zugänglichkeit zu spezifischen kognitiven Schemata und Wissenseinheiten erhöhen, wodurch sie eher für die Interpretation und Bewertung der nachfolgenden Informationen genutzt werden (z.B. Castelli
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und Zogmaister; Peter 2002; Schemer). Wir vermuten daher, dass die Bekanntheit der Heidi-Geschichte, die durch Priming im experimentellen Fallbeispiel adressiert wird, mit weniger stigmatisierenden Einstellungen und Handlungsintentionen einhergeht: Hypothese 1: Die Fallbeispiel-Darstellung mit starkem Bezug zur Heidi-Geschichte ruft weniger stigmatisierungsbezogene Einstellungen bei Personen hervor, die diese Geschichte kennen, als bei Personen, denen die Heidi-Geschichte nicht oder kaum bekannt ist. Zudem nehmen wir an, dass neben den präsentierten Merkmalen des Fallbeispiels auch Merkmale der Rezipierenden eine Rolle spielen. Auf Grundlage von Erkenntnissen zu sozialen Vergleichsprozessen (Festinger), zu Prozessen der sozialen Identität (Tajfel und Turner) sowie auf Basis von Erkenntnissen aus eigenen Vorarbeiten (z.B. Röhm et al. 2018; Möhring et al.) gehen wir davon aus, dass das biologische Geschlecht der Rezipierenden ebenfalls einen Einfluss auf die stigmatisierungsbezogene Wirkung von Fallbeispielen hat: Hypothese 2: Die Rezeption der Fallbeispiele ruft bei weiblichen Rezipierenden weniger stigmatisierungsbezogene Einstellungen und Handlungsintentionen hervor als bei männlichen Rezipierenden.
Methode Durchführung Zur Beantwortung der Hypothesen wurde eine experimentelle Online-Studie im 2 × 2 Between-Subjects-Design umgesetzt. Die Studienteilnehmenden wurden zufällig einem von vier Versionen eines fiktiven Online-Artikels als Stimulusmaterial zum Thema »Studieren während der Corona-Pandemie« über eine Studierende mit Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS) zugeordnet. Die Artikel wurden hinsichtlich der Merkmale Name der Studierenden (Heidi vs. Anna) sowie Ähnlichkeit des Settings im Bezug zur Heidi-Geschichte (originales Setting vs. adaptiertes Setting) manipuliert. Nach dem Lesen des Artikels wurden soziale Distanz und positive Verhaltensintentionen gegenüber Personen mit ADHS als primäre abhängige Variablen, Bekanntheit der Figur Heidi als potentieller Moderator sowie soziodemographische Angaben der Teilnehmenden erhoben.
Stimulusmaterial Der Stimulus-Artikel (Abb. 1) schildert die Geschichte einer Studierenden mit ADHS, die ihr Elternhaus verlassen hat, um Medienwissenschaften zu studieren.
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Um die Ähnlichkeit mit den originalen Heidi-Geschichten zu unterstreichen oder zu verbergen, ist der Name der Studierenden entweder Heidi oder Anna sowie das Setting entweder ein Aufwachsen bei ihrem Großvater in der Schweiz (originales Setting) oder bei ihrer Großmutter in Dänemark (adaptiertes Setting).
Stichprobe Insgesamt nahmen N = 282 Studierende (M = 23.63 Jahre; SD = 5.55; 70,2 % weiblich) vollständig an der Umfrage teil. Die Figur Heidi war 71,6 % (n = 202) der Teilnehmenden zum Zeitpunkt der Erhebung bekannt.
Instrumente Soziale Distanz gegenüber Personen mit ADHS wurde mit der Sozialen Distanz Skala (SDS; Angermeyer & Matschinger) mit sieben Items (Cronbachs Alpha = .87) erfasst. Positive Handlungsintentionen wurden mit der deutschen Übersetzung (Röhm, 2017) der Reported and Intended Behaviour Scale (RIBS; Evans-Lacko et al.) mit vier Items (Cronbachs Alpha = .91) erhoben.
Ergebnisse Zur Testung der beiden Hypothesen mittels der Bestimmung von Unterschieden in den stigmatisierungsrelevanten Maßen durch die (1.) Manipulation des Namens, (2.) Manipulation des Settings, (3.) Bekanntheit von Heidi sowie (4.) das Geschlecht der Teilnehmenden wurden univariate Varianzanalysen (ANOVAs) mit den genannten Faktoren für beide abhängigen Variablen berechnet. Zunächst zeigen die Analysen einen Haupteffekt des Geschlechts der Teilnehmenden auf soziale Distanz (F(1,271) = 8.827, p < .01, η² = .004) und positive Handlungsintentionen (F(1,271) = 11.552, p < .01, η² = .003). Demnach berichteten Frauen signifikant geringere soziale Distanz (M = 1.45; SE = .06) und höhere positive Handlungsintentionen (M = 4.23; SE = .10) gegenüber Menschen mit ADHS als Männer (soziale Distanz: M = 1.72, SE = .07, p < .01; positive Handlungsintentionen: M = 3.71, SE = .12, p < .01). Für positive Handlungsintentionen zeigte sich zudem eine signifikante Setting × Bekanntheit von Heidi Zwei-Wege-Interaktion (F(1,271) = 5.390, p = .021, η² = .001) sowie eine signifikante Setting × Geschlecht der Teilnehmenden ZweiWege-Interaktion (F(1,271) = 4.543, p = .034, η² = .001). Abbildung 2 zeigt, dass Teilnehmende signifikant höhere positive Handlungsintentionen berichteten, wenn ihnen Heidi bekannt war und das Fallbeispiel in einem adaptierten Setting präsentiert wurde, im Vergleich zum originalen Setting. Zudem berichteten Frau-
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en signifikant höhere positive Handlungsintentionen als Männer, wenn sie das originale Setting gelesen hatten. Des Weiteren ergaben die Analysen eine Bekanntheit von Heidi × Geschlecht der Teilnehmenden Zwei-Wege-Interaktion für soziale Distanz (F(1,271) = 4.020, p = .046, η² = .002): Männer gaben signifikant höhere soziale Distanz an als Frauen, wenn ihnen Heidi kaum oder gar nicht bekannt war (Abb. 3).
Diskussion und Ausblick Die vorliegende Studie wurde durch das Projekt »Re-reading Heidi« inspiriert und untersucht die Wirkung der Darstellung von Heidi in einem modernen Setting aus Perspektive der Anti-Stigma-Kommunikation. Hierbei interessierte uns, inwiefern dezente Hinweise auf eine Ähnlichkeit der beschriebenen Situation einer Person mit einer Behinderung mit der eines bekannten und vermeintlich positiv konnotierten fiktionalen Charakters (Heidi) stigmarelevante Einstellungen und Verhaltenstendenzen der Rezipierenden gegenüber Personen mit ADHS beeinflussen. Insgesamt konnten wir in unserer Studie zeigen, dass Assoziationen mit den Heidi-Geschichten durch eine moderne Adaptation grundsätzlich das Potenzial besitzen, stigmatisierungsbezogene Einstellungen und Handlungsintentionen gegenüber Menschen mit ADHS zu beeinflussen. Im Detail bestätigen die Ergebnisse unserer Untersuchung zunächst einen Befund, der häufig in Studien im Bereich der Anti-Stigma-Forschung vorzufinden ist (z.B. Möhring et al.): Männer weisen demnach insgesamt eine stärkere Tendenz zu stigmatisierenden und eine geringere Tendenz zu prosozialen Einstellungen und Verhaltensabsichten gegenüber stigmatisierten Individuen und Gruppen auf als Frauen. Allerdings scheint sich die stärkere Tendenz von Männern zu stigmatisierenden Urteilen nur dann im Vergleich zu Frauen zu zeigen, wenn ihnen die Medienfigur Heidi wenig bekannt war und wenn sie ein Fallbeispiel im originalen Setting lasen. Dieser durchaus interessante Befund lässt sich auf Basis unserer Ergebnisse noch schwer erklären, könnte jedoch darauf hindeuten, dass die Bekanntheit der Medienfigur Heidi durchaus einen positiven Einfluss auf die Stigmatisierung von Menschen mit ADHS haben könnte, insbesondere bei Männern. In zukünftigen Studien sollte idealerweise die Qualität der Erinnerung an eine interessierende Medienfigur erfasst werden. Wir konnten mit der vorliegenden Studie auch einen Einfluss der Bekanntheit der Medienfigur Heidi und der Nähe der modernen Interpretation der HeidiNarration zur originären Geschichte auf prosoziale Verhaltensabsichten gegenüber Menschen mit ADHS feststellen: Es zeigte sich, dass ein von der Originalgeschichte abweichendes Setting, das keine Rückschlüsse auf die Medienfigur Heidi zulässt, bei Personen, die die Medienfigur Heidi kennen, Prosozialität gegenüber Menschen
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mit ADHS begünstigt im Vergleich zu einem originalgetreuen Setting. Es ist zum einen denkbar, dass die Ähnlichkeit zur originären Heidi-Geschichte bei Personen, die Heidi kennen, Reaktanz oder andere negative Reaktionen begünstigte. Andererseits wäre es möglich, dass die Erinnerung an die Medienfigur und Geschichte von Heidi negative Emotionen in Bezug auf ADHS evoziert. Ebenso ließ sich für die Nennung des Namens Heidi, im Vergleich zu einem Namen ohne Bezug zur Originalgeschichte, kein Effekt verzeichnen. Zur Erklärung der inkonsistenten Befunde und insbesondere um den Einfluss der Bekanntheit im Zusammenspiel mit der Ähnlichkeit einer modernen Erzählung mit originären Erzählungen näher zu bestimmen, sollten emotionale Reaktionen während der Rezeption oder Elemente des Leseerlebens in weiterführende Analysen einbezogen werden. Offen blieb in dieser Analyse auch, inwiefern der Umgang mit der Behinderung einen Einfluss auf die Wahrnehmung des eingesetzten Fallbeispiels hat und inwiefern hier Assoziationen zu den Heidi-Geschichten einen Einfluss nehmen. Zusammenfassend konnte unsere Untersuchung im Rahmen des »Re-reading Heidi« zeigen, dass Medienfiguren, die bestimmte Diversitätsmerkmale aufweisen, auch modern adaptiert das Potenzial haben, Stigmatisierung und positive Handlungsintentionen gegenüber betroffenen Personengruppen zu beeinflussen. Aus Sicht der Anti-Stigma-Kommunikation ist jedoch zu beachten, dass immer wieder die Art und Weise einer Darstellung auf ihr stigmatisierendes oder destigmatisierendes Potenzial hin überprüft werden sollte. Die Wechselwirkungen, die sich in unserer Studie für verschiedene Einflussfaktoren zeigten, lassen einen komplexen Zusammenhang zwischen medialem Priming durch Referenzen zur Heidi-Geschichte und Stigmatisierung erkennen. Einen eindeutigen Befund, dass allein die Assoziation mit den Heidi-Geschichten durch den Namen der Protagonistin des Fallbeispiels oder durch den Bezug zum Originalsetting eine destigmatisierende Wirkung hat, fanden wir nicht. Insgesamt erwies sich das alleinige Priming durch den Namen als weniger effektiv in der Beeinflussung von stigmatisierungsbezogenen Einstellungen und Verhaltensintentionen als die zusätzlichen Informationen zum Heidi-Setting – ein Befund, den es in weiteren empirischen Studien zu untersuchen gilt.
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Abbildung 1: Beispiel-Stimulusmaterial (eigene Darstellung) in der Heidi × originales Setting-Bedingung. Für das Layout fand eine Orientierung an vorhandenen Online-Informationen statt, die dem experimentellen Kontext entsprechend angepasst wurden.
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Abbildung 2: Geschätzte Randmittel der Setting × Bekanntheit von Heidi sowie Setting × Geschlecht der Teilnehmenden Zwei-Wege Interaktionen auf positive Handlungsintentionen gegenüber Menschen mit ADHS (* p < .05; *** p < .001; Sidak-korrigierte Post-hoc-Vergleiche).
Cosima Nellen, Alexander Röhm, Michélle Möhring und Matthias R. Hastall: Re-reading Heidi
Abbildung 3: Geschätzte Randmittel der Bekanntheit von Heidi × Geschlecht der Teilnehmenden Zwei-Wege Interaktion auf soziale Distanz gegenüber Menschen mit ADHS (** p < .01; Sidak-korrigierte Post-hocVergleiche).
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Mökke essen. Das tut nicht nur dem Großvater gut! Dialekte und sprachliche Varietäten im Spiegel der Mehrsprachigkeit Barbara Mertins
Mehrsprachigkeit ist ein Thema, das in vielen wissenschaftlichen Disziplinen, aber auch in der Öffentlichkeit, auf viel Interesse stößt. Es ist ein lokales sowie globales Phänomen – überall auf der Welt können Leute mehr als eine Sprache sprechen. Nun stellt sich die Frage, was als Sprache gilt. Dieser Beitrag setzt genau an diesem Punkt an. Dabei wird es weniger darum gehen, den Versuch zu unternehmen, Sprache als System zu definieren, also Kriterien aufzulisten, die zum Beispiel eine Hochsprache von einer Varietät unterscheiden sollen, sondern vielmehr darum, welche Erkenntnisse es im Hinblick auf den Status der Dialekte und Varietäten aus der Psycholinguistik gibt. Der Beitrag wird sich zunächst mit der sogenannten monolingualen Fiktion befassen und diese in Bezug auf die Nutzung der Dialekte beleuchten. Es wird ein Spagat zwischen der sogenannten ›Standardsprache‹ und den Dialekten gespannt, der im Kontext der Ergebnisse aus der Psycholinguistik interpretiert wird. Im darauffolgenden Schritt wird der Beitrag den Sprachwechsel (CodeSwitching) erklären. Dabei werden die kognitiven sowie neuronalen Grundlagen des Code-Switching beleuchtet und auf den Gebrauch der Dialekte bezogen. Im nächsten Schritt wird es um die sogenannte Wertigkeit von Sprachen und ihre Auswirkung auf den gesellschaftlichen sowie individuellen Nutzen von Sprachen und Dialekten gehen. Abschließend wird der Beitrag die kognitiven Vorteile präsentieren und erklären, die durch die Nutzung von mehreren Sprachen entstehen und fragen, warum der Gebrauch der Dialekte neben einer Standardsprache auch solche kognitiven Effekte hervorbringen kann. Der Beitrag schließt mit einem Fazit und Ausblick ab, der Heidi als erste in der deutschsprachigen Literatur auftauchende weibliche mehrsprachige Figur feiert, die ihre Sprachen nicht mit Vorurteilen, sondern mit Freude zu ihrem Vorteil nutzt.
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Dialekte und Mehrsprachigkeit in der Gesellschaft In der Verfilmung von Heidi aus dem Jahre 1952 (Heidi, Regie: Luigi Comencini) gibt es eine Szene, in der Heidi kurz nach ihrer Ankunft in Frankfurt im Hause Sesemann am Esstisch sitzt und das erste Mal Klara Sesemann begegnet. Sie wird von Fräulein Rottenmeyer wegen schlechter Tischmanieren und ihrer freundlichen Art, in der sie mit dem Diener Sebastian umgeht, getadelt. Außerdem echauffiert sich Fräulein Rottenmeyer regelrecht darüber, wie Heidi spricht – nämlich im schweizerdeutschen Dialekt. So auch der Titel des Beitrags: Es geht um Mökke. Dem Zuschauer wird nicht explizit erklärt, was Mökke ist, der Szene ist aber zu entnehmen, dass Mökke so entsteht, dass einer Suppe gebrochenes Brot hinzugefügt wird. Heidi erklärt dies selbstbewusst und überzeugend. Bei Fräulein Rottenmeyer kommt all dies vermutlich nicht besonders gut an. Diese Szene steht symbolisch für den Spagat zwischen dem Gebrauch der Standard-Hochsprache und dem der unterschiedlichen Dialekte. Obwohl der Film fast 70 Jahre alt ist, hat sich die Lage um die Dialekte trotz intensiver Forschung weder in Deutschland noch in der Schweiz besonders entwickelt: Die Frage, vor allen Dingen in den Bildungsinstitutionen, ob Dialektgebrauch ein Problem oder Potenzial darstellt, hängt stets in der Luft. In der Schweiz besteht zum Beispiel ein großer Zusammenhang zwischen dem Dialektgebrauch und dem Bildungserfolg. Teilweise wird Schüler*innen, die Dialekt gebrauchen, vorgehalten, sie würden kein Hochdeutsch sprechen und somit geringere Bildungschancen haben (Berthele 2008, 2010). Die Forschung zeigt aber, dass hier der sogenannte mehrsprachige Vorteil gilt. Aus linguistischer Sicht lässt sich hier anmerken, dass es keine harten Kriterien gibt, um zwischen Hochsprachen und Dialekten zu unterscheiden. Die Unterschiede sind graduell, so dass sich Dialekte bzw. sprachliche Varietäten und Hochsprachen auf einem Kontinuum befinden. Außerdem ist weder totale Gleichberechtigung noch völlige funktionale Äquivalenz der Sprachen/Dialekte im mehrsprachigen Kontext möglich. Im Hinblick auf den Bildungskontext lässt sich feststellen, dass die Bewertung von Nichtstandard- und Standardvarietäten in Deutschland sowie in der Schweiz stark ideologiegeleitet ist (vgl. z.B. den »Masterplan Grundschule« des Schulministeriums NRW 20201 ). Zu beobachten ist, dass Minderheitssprachen oft nicht berücksichtigt werden und dass es große Bestrebungen gibt, durch 1
So lautet es im von der Landesregierung NRW vorgelegten »Masterplan Grundschule« zur Begründüng der Abschaffung des Faches Englisch in den Klassen 1 und 2, dass sich auf das »Wesentliche« konzentriert werden soll, »Zeit für die individuelle Förderung, insbesondere beim Erwerb der Basiskompetenzen, gewonnen« werden soll. Die nicht »wesentliche« Förderung von Mehrsprachigkeit (durch Fremdsprachenunterricht) zu Beginn der Grundschule wird nach diesem Plan offenbar als dem monolingualen Spracherwerb des Deutschen hinderlich betrachtet – dies zeigt, wie schulpolitische Entscheidungen aus der Luft gegriffen, d.h. ohne eine Basis gut etablierter wissenschaftlicher Erkenntnis getroffen werden können.
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die Nutzung ein und derselben Sprache (dem Standard) Chancengleichheit zu verwirklichen. Wie wir später in der folgenden Ausführung sehen werden, geht dabei aber zweierlei verloren: Zum einen der kognitive mehrsprachige Vorteil, zum anderen die sprachliche Diversität. Bezüglich der sprachlichen Situation in der Schweiz, der Heimat von Heidi, gilt, dass die Schweiz einen Prototyp der sogenannten Diglossie darstellt. Diglossie bedeutet eine Sprachsituation, in der zwei verwandte Varietäten koexistieren, sich aber funktional und im Hinblick auf ihr Prestige unterscheiden: Die Sprache der Nähe, der Dialekt, der für die elementare interpersonelle Kommunikation bestimmt ist und eher mündlich ist, und dann die Sprache der Distanz, also die Bildungssprache, die akademische Kompetenz bedeutet und eher schriftlich ist. Auch unterschiedliche metasprachliche Vorstellungswelten gehen mit der Diglossie einher. Die Verwendungsmuster hinterlassen Spuren in den kulturellen Vorstellungswelten der Sprecher*innen. Dialekte stehen für die authentische, historisch gewachsene Sprache und werden von Sprecher*innen oft als weich, rund, natürlich, blumig, schön, heimatlich, gemütlich und warmherzig wahrgenommen, Standardsprache wird als klar, komplex, strikt und unpersönlich wahrgenommen (vgl. z.B. Berthele 2008). Für die Dialektförderung in der Gesellschaft sowie auch in schulischen Bereichen sprechen die folgenden Erkenntnisse: Wenn Dialekt (sowie auch eine weitere Sprache) gefördert wird, bewahrt dies die linguistische Diversität. Außerdem nutzen mehrsprachige Sprecher*innen metasprachliches Wissen zum Erlernen weiterer Sprachen. Der Aufbau von rezeptiven Kompetenzen in mehreren Sprachen ist ein wertvolles Instrument der Förderung und Vergrößerung des sprachlichen Repertoires. Außerdem zeigt die Forschung, dass Dialektsprecher*innen mehr Wörter ohne Kontext oder eine neue Sprache im Kontext eingebunden besser verstehen können. Dies zeigte sich in einer Studie mit Schweizer Germanistikstudierenden, die Knobelaufgaben für fremdsprachige Wörter lösen mussten (Berthele 2008). Hier schnitten bilinguale Studierende, die neben dem Standarddeutschen auch einen Schweizer Dialekt gesprochen haben, deutlich besser ab. Als Fazit lässt sich feststellen, dass Dialekt-Standard-Sprecher*innen per se mehr sprachliche Kompetenz im Sinne einer Transferfähigkeit für eine neue Sprache besitzen als Sprecher*innen, die einsprachig sind. Sie besitzen nämlich eine ausgebaute Wahrnehmungstoleranz und erkennen schnell mögliche (linguistische) Bezüge. Dies geht mit einer größeren Fokussierungsfähigkeit einher, die es den Dialekt-Standard-Sprecher*innen ermöglicht, die sogenannten Kognate (also Wörter, die in beiden Sprachen existieren, sich eventuell in der Schreibweise unterscheiden, z.B. Kaffee vs. coffee) im mehrsprachigen Lexikon schneller zu identifizieren und abzurufen. Bereits an dieser frühen Stelle meines Beitrags lässt sich eine wissenschaftlich basierte Empfehlung aussprechen: Die Bildungsinstitutionen müssen/sollten einen Spagat zwischen gespaltenen Sprachloyalitäten der Dialekt-
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Standard-Sprecher*innen schaffen, den nicht nur Dialektsprecher*innen sondern auch Sprecher*innen von Herkunftssprachen tagtäglich erleben. Es stellt sich mehr und mehr heraus, dass die Dialekt-Standard-Kompetenz messbare Vorteile für den Aufbau einer weiteren Mehrsprachigkeit hat (Berthele 2006, 2008, 2010). Man könnte sagen, dass Dialekt und Standard eine mehr als »embryonale« (Berthele 2008) Form der Mehrsprachigkeit bilden.
Psycho- und neurolinguistische Sicht auf Dialekte und Mehrsprachigkeit Nach dieser eher soziolinguistischen Einführung in die Standard-Dialektforschung werden wir uns jetzt den psycholinguistischen Hintergründen der Mehrsprachigkeit und somit auch der Dialektnutzung widmen. Grundsätzlich gilt, dass wenn mehrere Sprachen beherrscht werden (dazu gehört auch ein Dialekt), zwischen diesen bewusst oder unbewusst gewechselt wird. Dieser Vorgang ist hochgradig automatisiert und für multilinguale Sprecher*innen nicht abstellbar. Die Fähigkeit des Sprachwechsels (auch Code-Switching genannt) wird darüber hinaus als Fähigkeit des Aufgabenwechsels angesehen. Forschung zeigt, dass der Wechsel bzw. das Management von mehreren Sprachen Bilingualen eine strukturelle Plastizität in neuronalen Strukturen verschafft sowie bei der sogenannten kognitiven Kontrolle (wie z.B. Entscheidungstreffen oder Konfliktüberwachung) Vorteile ermöglicht (vgl. Mechelli et al.; Kroll & Bialystok; Bialystok et al. 2012). In der Forschung herrscht der Konsens, dass dieser Wechsel, das Code-Switching, eine Kompetenz ist und auf keinen Fall als Anzeichen gedeutet werden kann, dass die Sprachen nicht ausreichend oder mangelhaft beherrscht werden (wie dies z.B. mit der sogenannten ›doppelten Halbsprachigkeit‹ behauptet wird). Das Code-Switching geht mit einem weiteren Sprachverarbeitungsphänomen einher: der Koaktivierung. Koaktivierung ist etwas, was auch einsprachige Sprecher*innen tagtäglich erleben. In dem Satz Sie kuschelte sich unter die Decke werden z.B. bei allen Deutschsprecher*innen, sobald sie das Wort Decke hören, für etwa 250 Millisekunden beide Bedeutungen des Wortes koaktiviert. Erst nach etwa 250 Millisekunden entscheidet der Kontext (in dem obigen Beispiel das Verb kuscheln), dass die Zimmerdecke für diesen Satz nicht relevant ist. In dem Moment unterdrückt das Gehirn das nichtzutreffende Wort und wählt das Wort Decke im Sinne einer Bettdecke aus. Dieser Mechanismus läuft extrem schnell ab, ist hochautomatisiert und komplett unbewusst. Jede Sprache dieser Welt ist mehrdeutig; Koaktivierung ist daher kognitiv omnipräsent. Für das mehrsprachige Lexikon haben Forschungsergebnisse bestätigt, dass alle aktiven Sprachen in einem mentalen Lexikon gespeichert sind und aus diesem abgerufen werden (Costa & Santesteban). Die Lexeme sind somit nicht nur semantisch, sondern auch phonologisch, morphologisch, graphemisch usw. miteinander verbunden (dies gilt natürlich auch für das monolinguale mentale Lexikon). Die
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Anzahl der Verbindungen im mehrsprachigen Lexikon ist aber logischerweise viel größer. So funktioniert die Koaktivierung von Mais (dt. ›Maiskolben‹) und mice (engl. Plural von mouse) in einem deutsch-englischen Gehirn. Auch hier gilt, dass für die ersten 250 Millisekunden losgelöst von Sprachwahl und Kontext erst einmal alle irgendwie linguistisch miteinander verbundenen Wörter (Lexeme) koaktiviert werden. Erst dann wird das zutreffende Lexem abhängig von Sprachwahl und Kontext ausgewählt. Dass multilinguale Sprecher*innen die ›richtige‹ Sprache so gut produzieren und verstehen können, ist dem sogenannten Modell der unterdrückten Kontrolle (Inhibitory Control, Green) zu verdanken. Nach diesem empirisch belegten Modell werden konkurrierende Sprachaktivierungen durch Inhibition der nicht zielbezogenen Sprachkonkurrenten aufgelöst. Das Ausmaß der Hemmung hat konsequenterweise Einfluss auf die Sprachproduktion. Wenn man zwischen Sprachen wechselt, wird eine bestimmte Zeit benötigt, um die zielbezogene intendierte Sprache auszuwählen und gleichzeitig die Hemmung aufzulösen. Hier stellt die Forschung einen starken Zusammenhang zwischen dem Beherrschungsgrad der beiden aktiven Sprachen und der sogenannten Asymmetrie der Wechselkosten her: Die Studien zeigen, dass der Wechsel von der nicht dominanten (also der wenig ausgeprägten Sprache) in die dominante Sprache länger dauert, weil mehr Inhibition aufgelöst werden muss (Costa & Santesteban). Grundsätzlich gilt, dass die Asymmetrie umso geringer ist, je höher der Beherrschungsgrad der beiden Sprachen ist. Bei mehrsprachigen Individuen, die alle Sprachen gleich gut beherrschen, kann die Asymmetrie komplett verschwinden. Darüber hinaus stellen Costa und Santesteban eine extrem interessante Erkenntnis fest: Bei balancierten Bilingualen (wenn beide Sprachen sehr gut beherrscht werden und somit keine Wechselkosten entstehen) kann diese Symmetrie auf eine schwache L3 übertragen werden. Mit anderen Worten: Das Bilinguale Gehirn überträgt die Fähigkeit des ›Gratis‹-Wechsels auf eine noch nicht gut beherrschte dritte Sprache (aus meiner Sicht ist dies eine atemberaubende Erkenntnis, die es verdienen würde, in Anwendungsbereichen, z.B. Didaktik/Fremdsprachenunterricht weiterverwendet zu werden). Aus der Sicht der Neurolinguistik ist anzumerken, dass das Code-Switching bei geringem oder mittlerem Beherrschungsgrad einer zweiten Sprache (L 2) eine zusätzliche Aktivierung neuronaler Strukturen im linken präfrontalen Kortex erfordert (Abutalebi & Green). Wie schon zuvor angemerkt: Mit steigendem Fähigkeitsniveau wird das Code-Switching vermehrt zu einem automatischen Prozess, bis bei sehr hohem Beherrschungsgrad diese Aktivierung komplett verschwindet. Auch diesen Befund erachte ich für hochgradig relevant. Inhibition hingegen ist immer noch vorhanden – diese kann nicht schwinden. Im Licht der neurolinguistischen Forschung zum Code-Switching bei Bilingualen möchte ich noch eine Studie von Abutalebi et al. erwähnen, die zeigt, dass die graue Substanz im bilingualen Gehirn sowie sprachrelevante Regionen bei Bilingualen besser ausgebildet sind. In den
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Broca- und Wernicke-Arealen werden somit systematisch erhöhte Aktivierungen bei Bilingualen gemessen. Als Fazit will ich hier ziehen, dass bilinguale/multilinguale Sprecher*innen, zu denen auch Standard-Dialekt-Sprecher*innen zählen, ein besonderes kognitives und neuronales Profil darstellen. Bilinguale Menschen verfügen im Kopf nicht über zwei oder mehr voneinander getrennte sprachliche Systeme, sondern ihre Sprachen werden im selben Netzwerk gespeichert, verarbeitet und abgerufen; ihre Sprachen stehen stets in Wechselwirkung miteinander. Die Vorstellung, der man immer noch im öffentlichen Diskurs begegnet, dass multilinguale Sprecher*innen, wenn sie eine bestimmte Sprache sprechen, die andere ausschalten, ist falsch und soll weder herangezogen noch weiter diskutiert werden. Vielmehr würde ich mir wünschen, dass in den Vordergrund gerückt wird, dass sich nur durch die gemeinsame Verarbeitung von Sprachen im bilingualen/mehrsprachigen Gehirn kognitive und neuronale Vorteile entwickeln und zum Tragen kommen.
Die vermeintliche Wertigkeit von Sprachen Zurück zu Heidi und der zu Beginn des Beitrags beschriebenen Szene. Womit hängt die kompromisslose und harsche Haltung Fräulein Rottenmeyers zu Heidis sprachlicher Kompetenz zusammen? Fräulein Rottenmeyer macht sich wohl keine Gedanken über die neuronalen und kognitiven Zusammengänge von Mehrsprachigkeit. Ihre Haltung hängt vielmehr mit der sogenannten Wertigkeit von Sprachen zusammen. Die Wertigkeit von Sprachen ist ein menschliches Konstrukt. Linguistisch gesehen lassen sich Sprachen weder auf einer Skala bewerten noch im Hinblick auf ihre Komplexität in verschiedene Kategorien einstufen. Nichtsdestotrotz weisen Sprecher*innen verschiedenen Sprachen verschiedene Wertigkeiten zu. Pauschal lässt sich sagen, dass im deutschsprachigen Gebiet Dialekte keine besonders hohe Stellung haben. Dies trifft sicherlich auch auf andere Länder zu (etwa das Prestige des Standardenglischen aus Südengland im Vergleich zu (insb. nördlichen) Dialekten, vgl. Wales). Frau Rottenmeyer erhebt sich über den Dialekt und urteilt über Heidis sprachliche Kompetenz genau aus dieser Haltung heraus. Bezüglich der Region der Ruhr-Metropole, in der ich lebe und arbeite, möchte ich anmerken, dass die vermeintliche Wertigkeit von Sprachen eine Kluft zwischen den sogenannten Bildungs- und Migrationssprachen verfestigt. Sprachen, die Sprecher*innen aus dieser Region tatsächlich sprechen, sind in der Regel nicht die Bildungssprachen, die in der Schule vermittelt werden. Auch hier entsteht ein Loyalitätskonflikt, der dem der Dialektsprecher sehr ähnlich ist. Außerdem ist die Stigmatisierung der sogenannten Herkunftssprachen insofern fatal, weil sie dazu beitragen kann, dass sich Eltern aus Prestigegründen dafür entscheiden, ihre Herkunftssprachen nicht an ihren Nachwuchs weiterzuvermitteln bzw. weil
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sich Herkunftssprecher schämen, ihre Herkunftssprachen in der Öffentlichkeit zu sprechen und sich somit um den wertvollen Input in der Herkunftssprache bringen (vgl. z.B. Cantone 2019, 2020).
Die monolinguale Fiktion Global gesehen ist Mehrsprachigkeit eher die Regel als die Ausnahme – andersherum stimmt es sicherlich nicht, dass Monolingualität die globale Weltnorm ist. Rein rechnerisch würde diese These nicht aufgehen: Es gibt schätzungsweise 6.500 bis 7.000 Sprachen auf dieser Welt und 195 offiziell anerkannte Staaten. Außerdem muss auch der Begriff der monolingualen Norm genau unter die Lupe genommen werden. Mit Bezug auf die deutsche Sprache wird von monolingualen Sprecher*innen erwartet, dass sie ihre Sprache ›perfekt‹ beherrschen (wie etwa von Quiztests in populären Nachrichtenportalen suggeriert wird, z.B. im Quiz »Wie gut sprechen Sie wirklich Deutsch?« auf welt.de). Was bedeutet aber ›perfekt‹? Bezogen auf welche sprachlichen Modalitäten ist diese perfekte Beherrschung gemeint? Es gibt vier sprachliche Modalitäten: Sprechen, Hören, Lesen und Schreiben. Sprechen und Hören lernen Kinder im typischen Entwicklungsverlauf ungesteuert und komplett natürlich. Lesen und Schreiben dagegen sind gesteuerte Fähigkeiten, die systematisch erst mit dem Eintritt in die Schule vermittelt werden. Diese erste Differenz macht deutlich, dass schon per se alle vier Modalitäten nicht gleichermaßen ausgebildet werden müssen. Darüber hinaus ist die Entwicklung vom Sprechen und Hören hochgradig abhängig davon, wieviel Input ein Kind pränatal und postnatal bekommt. So zeigen Studien, dass Kinder aus Familien mit niedrigem sozioökonomischem Status in dieser Hinsicht Defizite aufweisen, die sich dann auch auf den späteren Erwerb von Lesen und Schreiben auswirken (vgl. u.a. Hoff; Hoff & Tian; Schwab & Lew-Williams; De Cat). Dies hängt auch mit Defiziten aus anderen erworbenen Bereichen wie Kognition, Motorik, neuronale Gehirnentwicklung usw. zusammen. Die Vorstellung idealer Sprecher*innen, die aufgrund der Tatsache, dass sie in ein Land als monolinguale Sprecher*innen hineingeboren werden, eine perfekte Beherrschung der Landessprache in allen vier Modalitäten aufweisen, kann nicht stimmen und ist utopisch. Diese Vorstellung wird dennoch in der Schule als Norm gelebt und alle anderen Gruppen, z.B. bilinguale Sprecher*innen, Dialektsprecher*innen oder Sprecher*innen mit atypischem Entwicklungsverlauf bzw. einer Sprachstörung, werden an dieser Norm gemessen. Dabei stellt sich ganz dringend die Frage: Wer wäre der/die ideale Sprecher*in? Bezugnehmend auf die Literatur würde sich der Meister aller Meister anbieten: Johann Wolfgang von Goethe. Das amüsante an Goethe ist, dass er zwar die Kriterien der Perfektion sicherlich erfüllt, jedoch mit spätestens zehn Jahren deutsch-italienisch bilingual war. Zusammenfassend möchte ich betonen, dass die Vorstellung einer monolingualen
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Welt einer Fiktion gleicht und dass die sprachliche monolinguale Norm, so wie sie vor allen Dingen in schulischen Kontexten verwendet wird, eine Modellvorstellung ist und auf keiner linguistischen Grundlage beruht.
Kognitive Vorteile des bilingualen Gehirns Die langjährige und systematische Forschung von Ellen Bialystok zeigt, dass bilinguale Kinder bereits im Alter von drei Jahren eine besser entwickelte kognitive Kontrolle als gleichaltrige monolinguale Kinder aufweisen. Kognitive Kontrolle umfasst dabei besonders die Kontrolle der Aufmerksamkeit bei mehrdeutigen Reizen, Informationsfilterung bei Reizflutung sowie die Kapazität des Arbeitsgedächtnisses. Das Beherrschen von zwei oder mehreren Sprachen wirkt sich positiv auf die Entwicklung des kindlichen Gehirns aus. Wie bereits oben erwähnt, werden bei Mehrsprachigen alle Sprachen in bi-/multilingualen Gehirnen in demselben Netzwerk verarbeitet und immer gleich koaktiviert. In diesem Sinne muss das bi-/multilinguale Gehirn entsprechend mehr leisten und mehr können: Es wird stets abverlangt, dass eine Sprache bzw. ein Lexem ausgewählt, während das andere, mitaktivierte, unterdrückt wird. Das bilinguale Gehirn kann diesen Erfahrungswert aus dem Sprachlichen auf Planung, Steuerung und Überwachung nichtsprachlicher Situationen übertragen. Genau das führt dazu, dass viele Bereiche der sogenannten kognitiven Kontrolle bei Bilingualen besser ausgebildet sind. Bialystok (z.B. 1992, 1999, 2001; Bialystok & Martin) zeigt dies z.B. mithilfe der Sortierungsaufgabe. Diese besteht darin, dass Kinder Objekte mit verschiedenen Farben und Formen vor sich haben. Diese können entweder nach Farbe oder nach Form sortiert werden. Die Kinder müssen die zwei Regeln ohne Vorwarnung anwenden bzw. zwischen diesen wechseln. Bialystok zeigt, dass bilinguale dreijährige Kinder in ihren Leistungen gleichaltrige monolinguale Kinder übertreffen und eineinhalb Jahre älteren monolingualen Kindern gleichen. Mit anderen Worten: Verglichen mit monolingualen Kindern haben bilinguale Kinder in Bezug auf diese Aufgabe eineinhalb Jahre Vorsprung. So zeigt die Forschung, dass Bilingualität einen kognitiven Vorsprung ermöglicht, der den Faktor Alter ausgleichen kann. Bialystok zeigt auch in vielen anderen Studien (u.a. Craik et al.; Olsen et al.; Anderson et al.), dass die bessere Entwicklung der kognitiven Kontrolle lebenslang hält und bei älteren bilingualen Menschen auch eine Art kognitive Reserve darstellt, die den Ausbruch von Alzheimer-Demenz verzögern kann.
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Fazit Bilingualität und/oder Mehrsprachigkeit sind ein Zeichen von besonderen Fähigkeiten und Fertigkeiten. Für die meisten Menschen dieser Erde beruht die Bilingualität auf keiner aktiven Wahl, sondern ist eine natürliche Situation, in die sie hineingeboren werden. Dies trifft auch auf Dialekte zu. Der gesellschaftliche und bildungsinstitutionelle Diskurs, ob Mehrsprachigkeit sinnvoll sei, ist daher absurd. Bi-/Multilingualität bedarf daher größerer gesellschaftlicher Selbstverständlichkeit, Wertschätzung und Lebendigkeit. Es ist wünschenswert, dass Bi-/ Multilingualität bzw. Dialekte selbstverständlich dazu gehören und an sich auch keiner besonderen Förderung bedürfen. Dies betrifft vor allem schulische Institutionen, wo unsinnige monolinguale Normen verlangt werden, die, erlauben Sie mir diese persönliche Anmerkung, oft von den Lehrkräften selbst nicht erfüllt werden können (z.B. hinsichtlich der deutschen Kommasetzung). Das Managen und Nutzen von zwei oder mehreren Sprachen verschafft Bi-/Multilingualen einen Vorteil in der neuronalen und kognitiven Entwicklung. Der Grad der Bilingualität hängt vom Beherrschungsgrad der Sprachen ab. Aus diesem Grund ist es von absoluter Wichtigkeit, dass bilinguale Kinder den größtmöglichen Input bekommen und dass sie ihre Sprachen ohne Scham und Widerwillen in allen öffentlichen Situationen gebrauchen können. Heidi stellt in ihrer unbeschwerten und stolzen Nutzung ihrer Muttersprache ein Vorbild dar, zu dem auch nach 141 Jahren hochgeblickt werden kann. Mökke essen tut nicht nur Heidi und dem Alp-Öhi gut, sondern uns allen.
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Intersektionale Perspektiven
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V. Transformation und Fortschreibung
Von der schönen Seele zum Tomboy? Mediale und historische Transformationen der Heidi-Figur in Roman, Anime und Spielfilm Agnes Bidmon
Doing Heidi – Hinführung Begibt man sich auf die Suche danach, welches Heidi-Bild – und zwar nicht nur im deutschsprachigen Kulturraum – vorherrschend ist, ist das Ergebnis mehr als eindeutig: Bis heute gilt sie in der Populärkultur als paradigmatische Repräsentantin von girlhood und wird im kapitalistischen Warenkreislauf auch entsprechend als solche vermarktet, angefangen von zielgruppengerecht zugeschnittenem Spielzeug über alle denkbaren Wohnaccessoires bis hin zu einer internationalen Reihe von Heidi-Themenparks. Die ursprünglich literarische Figur kann folglich auf einen rasanten Aufstieg zurückblicken und verkörpert als international erfolgreiche Marke mittlerweile sogar einen wirtschaftlichen Global Player; ein Umstand, der im Übrigen schon Anfang der 2000er Jahre von der Ausstellung »Heidi. Mythos, Marke, Medienstar«1 reflektiert wurde. Dass ausgerechnet Heidi diese steile Karriere beschieden war und die Figur im kulturellen Gedächtnis zum Prototyp klischeehaften Mädchen-Seins avanciert ist – oder besser: gemacht wurde –, erscheint bei genauerer Betrachtung jedoch mehr als paradox. Schließlich verkörpert Heidi in Johanna Spyris Romanen und damit der Ausgangserzählung eigentlich gerade eine Figur der Transgression, die statische Zuschreibungen ebenso konsequent zurückweist wie sie binäre Systematiken durchkreuzt – und somit Grenzüberschreitungen sowohl in Bezug auf die Kategorie Geschlecht als auch im Hinblick auf andere Diversitätsdimensionen praktiziert (vgl. Wilkending, 189). Ausgehend von dieser Beobachtung möchte der folgende Beitrag untersuchen, wie eben dieses Doing Heidi in unterschiedlichen medialen Inszenierungen funktioniert und auf welche kulturellen Folien dabei jeweils rekurriert wird. Der Begriff Doing Heidi ist dabei bewusst an das intersektionalitätstheoretische Konzept eines
1
https://alpenverein.de/kultur/sonderausstellungen-rueckblick/heidi-mythos-marke-medie nstar-eine-ausstellung-zum-phaenomen-heidi_aid_30582.html (30.1.2022).
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Transformation und Fortschreibung
Doing Difference angelehnt, das als Set von Praktiken und Diskursmechanismen zur Erzeugung von sozialer Differenz mithilfe eines Zusammenspiels unterschiedlicher Diversitätsdimensionen verstanden werden kann (vgl. dazu West und Fenstermaker 1995; Fenstermaker und West 2001). Dazu zählen klassische Dimensionen wie »Race, Class und Gender« (Winker und Degele, 10), in jüngster Zeit aber auch vermehrt »Migration, Religion oder Bildung« (Kulaçatan und Behr) und nicht zuletzt Kategorien wie ›Alter‹ oder ›(Dis-)Ability‹. Signifikanterweise handelt es sich bei all diesen kulturwissenschaftlich virulenten Kategorien um Phänomenbereiche, die in der Heidi-Erzählung als einem Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur bereits eine zentrale Rolle spielen und so als Indiz für die Vielschichtigkeit des vermeintlich so simplen Textes gewertet werden können. Obwohl eine Durchdringung der angesprochenen Diversitätsdimensionen bzw. ihr Zusammenwirken in intersektionalitätstheoretischer Hinsicht als konstitutiv gilt (vgl. exemplarisch Winker und Degele), fokussieren sich die folgenden Überlegungen primär auf das Geschlecht als soziale Ungleichheit generierende Kategorie. Im Zentrum der folgenden Ausführungen steht also eine Analyse der Konstruktionsmechanismen, welche die Heidi-Figur als Mädchen hervorbringen und markieren, und zwar sowohl im historischen als auch im medialen und nicht zuletzt im kulturellen Kontext. Um den Anteil der einzelnen Parameter an der Gender-Konstruktion genauer herausarbeiten zu können, werden mit Johanna Spyris Roman Heidis Lehr- und Wanderjahre (1880), der Anime-Serie Heidi (1974) und dem Realfilm Heidi (2015) bewusst drei Erzählformate als Untersuchungsgegenstand gewählt, die nicht nur die Wissensordnungen dreier Jahrhunderte widerspiegeln, sondern zudem auch unterschiedliche Medienspezifika aufweisen und denen nicht zuletzt eine je eigene kulturelle Matrix zugrunde liegt.
Heidi als Figur der Liminalität in Johanna Spyris Heidis Lehr- und Wanderjahre Auffällig an der literarischen Gestaltung der Heidi-Figur in Johanna Spyris Romanen ist zunächst einmal die sprachliche Unbestimmtheit in Bezug auf ihre Geschlechtsidentität, die bereits auf der Zeichenebene durch das grammatische Geschlecht zum Ausdruck kommt, indem sie durchgängig als »das Heidi« bezeichnet wird. Auf diese Weise wird sowohl eine Aussage über ihre Geschlechtsidentität als auch über ihre Herkunft (race) und nicht zuletzt ihren Stand (class) getroffen. Denn bei dem neutralen Determinativ, das als sogenanntes »Femineutrum« eine Genus-Bezeichnung ausschließlich für Mädchen – und nicht etwa analog auch eine genderneutrale Bezeichnung für präpubertäre Jungen – darstellt, handelt es sich um eine zwar seltener werdende, aber nach wie vor verbreitete dialektale Mundartvariante des Schweizer-Deutschen (vgl. Frey). Durch diese Bezeichnungs-
Agnes Bidmon: Von der schönen Seele zum Tomboy?
praxis wird die helvetische Landbevölkerung im Roman folglich zunächst als rural geprägter und damit zusammenhängend auch als niederer Stand markiert, der im Kontrast zu den im urbanen Kulturraum Frankfurt lebenden Menschen – dem Bürgertum – steht und dementsprechend auch kein Hochdeutsch spricht. Dass damit auch bereits eine Aussage über die jeweiligen Bildungsbiografien der in diesen divergenten Räumen angesiedelten Personen getroffen wird, sei hier nur am Rande erwähnt.2 Interessanterweise eröffnet die Verwendung dieser geschlechtsunspezifischen Bezeichnung, in der – wie von der FAZ völlig zurecht konstatiert worden ist – »Heidis ganzes Wesen [liegt]« (vgl. FAZ [o. V.] 2008), nun allerdings einen liminalen Raum, der ob seiner Mehrdeutigkeit zwei völlig konträre Lesarten bezüglich der symbolischen Zuweisung einer Geschlechtsidentität erlaubt. Beide beruhen auf populären kulturellen und literarischen Topoi, die der Figur eingeschrieben sind und die Differenz entweder aufheben oder im Gegenteil gerade herstellen. Die erste Lesart steht für eine Durchkreuzung der zweigeschlechtlichen Ordnung und eine damit einhergehende Erzeugung von Indifferenz. Durch diese Überschreitung des kulturell verankerten binären Geschlechtersystems wird Heidi mithin als tertium non datur lesbar und somit als Figur des ›Dritten‹,3 das im philosophischen Diskurs häufig das bzw. den Andere/n repräsentiert, welches/r außerhalb der eigenen Ordnung steht, dem etablierten Kategoriensystem nicht unterworfen werden kann und daher irreduzibel fremd bleibt (vgl. exemplarisch Waldenfels). Die kulturwissenschaftlich relevante Folie dieser Lesart innerhalb der Heidi-Erzählung ist der literarische Topos vom ›fremden Kind‹. Dieser Topos wurde in der Literatur um 1800 begründet und lässt sich etwa in der MignonGestalt in Johann Wolfgang Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96), im Kind in Novalis’ Lehrlinge zu Sais (1802), in Zerina in Ludwig Tiecks Die Elfen (1812) und v.a. in E.T.A. Hoffmanns Erzählung Das fremde Kind (1817) finden (vgl. Bidmon, 117–119). Seine Bedeutung reicht bis weit in die Kinderliteratur des 20. Jahrhunderts – man denke in diesem Zusammenhang etwa an Antoine de Saint-Exupérys Der kleine Prinz (1943), Astrid Lindgrens Pippi Langstrumpf (1945) oder Michael Endes Momo (1973) (vgl. Kümmerling-Meibauer, 224f.). Das wesentliche Element, das all diese fremden Kinder als literarische Figuren verbindet und das auch auf Heidi zutrifft, ist gerade die Unmöglichkeit, sie in logischen Kategorien erfassen zu können. Sie entziehen sich traditionellen Zuschreibungen und Deutungshoheiten gleich in mehrfacher Hinsicht: Erstens ist ihre Herkunft nicht eindeutig lokalisierbar bzw. die Familiensituation meist unklar oder ungewöhnlich, was durchaus auch für Heidis Status als Vollwaise gilt. Zweitens besitzen sie ein von der Norm abweichendes Aussehen, das sich in Heidis Fall insbesondere in der im Text gleich mehrfach erwähnten Augenfarbe und v.a. im »kurzen, krausen Haar« manifestiert (vgl. Spyri 2 3
Vgl. hierzu ausführlicher den Beitrag von Eva Blome in diesem Band. Vgl. hierzu auch den Beitrag von Christine Künzel in diesem Band.
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Transformation und Fortschreibung
1880, 60, 95, 125, 209, 210, 235). Diesen Umstand unterstreicht auch Klara, wenn sie bei ihrer ersten clash-of-cultures-artigen Begegnung mit Heidi feststellt: »[I]ch habe aber auch nie ein Kind gesehen, das so aussieht wie du.« (94) Solch eine nicht der gesellschaftlichen Norm entsprechende und damit deviante Phänomenologie ist – und dieser Umstand ist entscheidend – in der Literatur häufig auch mit einer indifferenten Geschlechtsidentität verbunden. So nimmt in E.T.A. Hoffmanns bereits erwähnter Erzählung der Junge das fremde Kind beispielsweise als einen Jungen wahr, das Mädchen als ein Mädchen, wodurch fremde Kinder gleichzeitig auch als Projektionsfläche kindlicher Fantasien in einem quasi-paradiesischen Stadium der Indifferenz erkennbar werden (vgl. Bidmon, 119). Drittens schließlich verfügen fremde Kinder in der Kinder- und Jugendliteratur allesamt über außergewöhnliche oder fantastische Fähigkeiten und unterliegen zumeist nicht den Regeln der menschlichen Welt mitsamt ihrer logisch-empirischen Wissensordnung. In Bezug auf dieses letzte typologische Merkmal nimmt Heidi allerdings eine Sonderstellung ein. Zwar verfügt auch Heidi zweifellos über außergewöhnliche Fähigkeiten, die etwa in ihrem harmoniestiftenden Umgang mit Mensch und Tier oder in der Versöhnung von Alp-Öhi und den Dorfbewohnern sowie im zweiten Teil schließlich in der Heilung Klaras zum Ausdruck kommen, allerdings bewegen sich diese Fähigkeiten allesamt streng innerhalb der pietistischen Matrix der Erzählung. Demnach resultieren Heidis Fähigkeiten aus einer von individueller Frömmigkeit geprägten vertrauensvollen Beziehung zu Gott, dem die letztliche Verantwortung für die Wundertaten wie etwa die sozialutopische Wiederherstellung der Dorfgemeinschaft auf der Folie des biblischen Gleichnisses vom verlorenen Sohn oder die Wunderheilung Klaras zugeschrieben wird. Die Bedeutung der Kategorie ›Religion‹ für den Text ist bereits in Johanna Spyris eigener Sozialisation angelegt, die als Tochter der religiös motivierten Dichterin Meta Heusser-Schweizer in einem pietistisch geprägten Elternhaus aufwuchs und diesem Weltbild trotz einiger Ablösungsversuche verpflichtet blieb (vgl. Schindler). Durch die im Roman erfolgende Rückbindung der Wundertaten an die göttliche Instanz installiert Spyri somit nicht nur ein pietismuskonformes intratextuelles Rechtfertigungsnarrativ für das Metaphysische, sondern zugleich eine in der Tradition der Erbauungsliteratur stehende extratextuelle Moraldidaxe in Form einer Handlungsanweisung an die Rezipient*innen. Denn so wie sich die Wunder für Heidi durch ein unerschütterliches Vertrauen und die individuelle Zwiesprache mit Gott im Gebet erfüllen, wird dieses analog auch den Rezipient*innen in Aussicht gestellt, wenn sie Heidis Beispiel folgen. Neben dieser von Heidi verkörperten Überschreitung der geschlechtlichen Binarität ist interessanterweise aber auch eine gegensätzliche Lesart möglich, gemäß der geschlechtliche Differenz gerade erzeugt wird. Die entscheidende Folie für diese Lesart ist der prominente Topos von der ›schönen Seele‹, der u.a. bereits im Namen der Protagonistin anklingt. Schließlich stellt Heidis Geburtsname Adelheid etymologisch betrachtet ein Kompositum aus ahd. ›adal‹ und ›heit‹ dar und bedeutet dem-
Agnes Bidmon: Von der schönen Seele zum Tomboy?
entsprechend ›von edlem Wesen‹ bzw. ›von edler Gestalt‹. Das insbesondere im 18. Jahrhundert und maßgeblich von Friedrich Schiller 1793 in Über Anmut und Würde wiederbelebte und vieldiskutierte Konzept der schönen Seele bedeutet, wie Christine Lubkoll betont, das »Ideal einer harmonischen Durchdringung von Sinnlichkeit und Sittlichkeit, körperlichem Trieb und Freiheit des Geistes« (Lubkoll, 89). Handelt es sich bei Schiller dabei noch um ein anthropologisch-philosophisches Konzept, entwickelt es sich im Diskurs der Zeit durch die »opulente Sprache der Empfindsamkeit« (Konersmann 1993a, 158) schon bald zu einem Modewort und erlangt im Zuge einer im 19. Jahrhundert einsetzenden Trivialisierung vor allem innerhalb der zeitgenössischen pietistischen Literatur enorme Popularität (vgl. dazu Ebrecht, 4). War die abendländische Denkfigur, deren Geschichte bis in die antike Literatur zurückreicht (vgl. Wokalek), lange Zeit geschlechtsunabhängig konzipiert, ist der Topos der schönen Seele spätestens seit Herders Projektion »der Seelenschönheit […] auf das weibliche Geschlecht, das ›schöne Geschlecht‹, wie es bei ihm heißt« (Lubkoll, 93), eng mit dem Weiblichkeitsmythos verknüpft. Dieser wirkmächtige Mythos schreibt Frauen im Unterschied zu Männern, die komplementär als Repräsentanten der Kultur gedacht werden, eine genuine Naturnähe zu. »Solche Zuschreibungen dienten«, wie Angelika Ebrecht herausgearbeitet hat, »um die Wende zum 19. Jahrhundert zur Legitimation sozialer wie psychischer Ungleichheit der Geschlechter« (Ebrecht, 11).4 Die schöne Seele avanciert so zum zeitgenössischen Weiblichkeitsideal, das im Kontext der Distribution von gesellschaftlichem Orientierungswissen auch von vielen Umgangs- und Benimm- bzw. Manierenbüchern des 18. und 19. Jahrhunderts als Ziel der weiblichen Sozialisation propagiert und dementsprechend popularisiert wird (vgl. Konersmann 1993a, 162; Döcker, v.a. 219–275). Auch Heidi kann als geradezu paradigmatische Verkörperung dieses sozial konstruierten und zugleich Herrschaftsverhältnisse zementierenden populären Ideals der schönen Seele gelesen werden, wobei sich in der literarischen Figur gleich mehrere Diskurstraditionen überschneiden: 1) das Rousseau’sche Postulat, wonach die schöne Seele dem unverbildeten Naturzustand entspricht und als solche in einem idealen Sozialgefüge nutzbar gemacht werden kann. Dieser Diskursstrang findet sich insbesondere in der Schlussszene des Textes realisiert, also der Rückkehr und Reintegration des Alp-Öhis ins Dörfli, das als ideale Synthese der Dialektik von Natur (Alp) und Kultur (Stadt) imaginiert wird. 2) die christlich tradierte Idee des ›Werde, was du bist!‹, die insbesondere von der pietistischen Frömmigkeitsbewegung aufgegriffen und im Kontext eines sittlichen Perfektibilisierungsstrebens des eigenen Selbst in eine Bildungsidee über4
Zwar zweifelt Konersmann in seiner Replik auf Ebrechts Beitrag (1993b) diese Interpretation an, allerdings folgt dieser Beitrag Angelika Ebrechts überzeugender Lesart.
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führt wird (vgl. Ebrecht, 4). Diese Traditionslinie ist dem Roman bereits durch seinen Titel und den plakativen intertextuellen Verweis auf Goethes stilbildenden Bildungsroman Wilhelm Meister eingeschrieben. 3) der medizinische Diskurs um 1800, der eine Einheit von Körper und Seele im Sinne des philosophisch-anthropologischen Konzepts vom ›ganzen Menschen‹ postuliert. So führt der Text am Beispiel von Heidis zunehmendem Heimweh sowie der sich verstärkenden Mondsucht während ihres Aufenthalts in Frankfurt und also dem durch die Dislokation hervorgerufenen Ungleichgewicht von Physis und Psyche vor, welche psychopathologischen Konsequenzen die Disharmonie von Körper und Geist für eine schöne Seele haben kann.5 Auch wenn sie ihren Fokus also auf je unterschiedliche wissensgeschichtliche Kontexte legen, so ist diesen drei Diskurstraditionen doch eine grundlegende Vorstellung gemeinsam: Durch ihre als außergewöhnlich bzw. ideal konzeptualisierten charakterlichen wie körperlichen Dispositionen entzieht sich die schöne Seele zwangsläufig gewöhnlichen Kategorisierungen, weshalb sie konsequenterweise auch mit konventionalisierten Begriffen nicht einzuholen ist. Insbesondere die Hausdame der Sesemanns, Fräulein Rottenmeier, bringt diese buchstäbliche Unfassbarkeit Heidis gleich auf mehrfache Weise zum Ausdruck: Zum einen, indem sie sich darüber echauffiert, dass »dem Wesen« alle bildungsbürgerlichen »Urbegriffe fehlen« (Spyri 1880, 98) oder sie Heidis »begriffsloses Dasein« (106) beklagt; zum anderen, indem sie vergeblich versucht, »das Wesen« mit konventionellen Begriffen einzuholen und sie Heidis Existenz sprachlich also immer nur umkreisen kann (vgl. z.B. 136–138). Gemäß der hier vorgestellten Lesart dient diese sprachliche Uneinholbarkeit Heidis dann allerdings nicht ihrer Entgrenzung und NichtFestschreibbarkeit, sondern im Gegenteil zu ihrer Einhegung und sprachlichen wie sozialen Domestikation. Die Unbegrifflichkeit wird hier folglich zum Signum des Weiblichkeitsideals umgewertet, da die schöne Seele, wie Ralf Konersmann unterstreicht, auf paradigmatische Weise »Unbegrifflichkeit« (Konersmann 1993a, 159) signalisiert. Die Konsequenz aus diesem Umstand ist – wie schon Christoph Martin Wieland betont hatte –, dass die schöne Seele dementsprechend auch nicht darstellbar ist, sondern sich lediglich in ihren Handlungen zeigen kann. Diese Vorstellung realisiert sich in der Figur Heidi auf geradezu exemplarische Weise, wie sich etwa in ihrem durchgängig panempathischen Verhalten gegenüber Mensch (Öhi, Peter, Großmutter, Klara) und Tier (Schneehöppli) dokumentiert. Heidis sprachliche Nicht-Darstellbarkeit dient gemäß dieser Lesart dann also gerade nicht als Marker von Unbestimmtheit, sondern wird in einem dialektischen Umschlag als Differenzierungskriterium eingesetzt und dient zur Festschreibung und Perpetuierung eines populärkulturellen Weiblichkeitsideals des 19. Jahrhunderts. 5
Vgl. hierzu ausführlich den Beitrag von Victoria Gutsche in diesem Band.
Agnes Bidmon: Von der schönen Seele zum Tomboy?
Heidi als Repräsentantin der kawaii-culture im Anime Heidi Knapp ein Jahrhundert nach der Erstveröffentlichung von Spyris Roman Heidis Lehrund Wanderjahre wird 1974 in Japan die Anime-Serie Heidi (org.: Arupusu no Shōjo Haiji, dt.: Alpenmädchen Heidi) produziert, welche die Rezeptionsgeschichte der Figur in besonderem Maß prägen sollte. Die 52 Folgen umfassende serielle Erzählung, die beide Heidi-Romane adaptiert und für das Fernsehen als neues populärkulturelles Leitmedium der Zeit aufbereitet, entsteht als eine von mehreren ZeichentrickfilmAdaptationen bekannter westlicher Kinder-Klassiker, die ab 1969 in der Reihe World Masterpiece Theatre auf Fuji-TV gesendet wurden (vgl. Domenig, 150). Die Erstausstrahlung des Anime in Deutschland findet von September 1977 bis zum September 1978 im ZDF statt. Bis auf wenige Details bewegt sich die animationsfilmische Adaptation relativ nahe an der Textvorlage. Allerdings findet auch eine der Zielgruppe geschuldete Verschiebung innerhalb der Plot-Struktur sowie der Figurenzeichnung statt, die sich als äußerst folgenreich für die Verankerung der Figur Heidi im kulturellen Gedächtnis erweisen sollte. So liegt der Fokus der Anime-Erzählung noch expliziter auf Heidis Tierliebe und einer Idyllisierung der Natur, wie u.a. an der Installierung zusätzlicher Tiere wie dem Bernhardiner Joseph oder dem Vogel Piep deutlich wird, welche die Notwendigkeit eines harmonischen multispeziesistischen Zusammenlebens unterstreichen. In diesem ausgleichenden Sinne werden auch menschliche Konflikte entschärft, indem beispielsweise Klaras Rollstuhl in der Anime-Erzählung anders als im zweiten Teil des Romans Heidi kann brauchen, was es gelernt hat, in der er Peters Eifersucht zum Opfer fällt, durch einen Unfall zerstört wird (Ep, 51, TC: 00.18,40-00.19,16). Vor allem aber findet eine Profanisierung statt, indem sämtliche christlich aufgeladenen Motive, Intertexte und vor allem die pietistische Matrix vollständig getilgt werden, da diese dem vorrangig shintoistisch und buddhistisch geprägten Publikum unverständlich gewesen wären. Exemplarisch lässt sich dies daran veranschaulichen, dass Heidi im Anime das Lesen nicht etwa in der Bibel, sondern in Grimms Kinder- und Hausmärchen und somit einem säkularen Supertext der deutschsprachigen (Volks-)Kultur lernt (Ep. 27, TC: 00.21,00-00.21,25). Und auch in Bezug auf die Weiblichkeitskonstruktion sind deutliche Verschiebungen festzustellen: So wird das Alpenmädchen Heidi im Sinne einer Vertreterin der cuteness-culture (kawaii) gezeichnet, die im Medienkontext von genderspezifischen Mädchenmangas, den sogenannten Shojo-Mangas (Schikowski, 153–156), ab den 1950er Jahren begründet wurde (vgl. Abb. 1). Eine massenmediale Verbreitung der cuteness-culture setzte dann durch den gezielten Einsatz von Marketinginstrumenten Mitte der 1970er Jahre ein, was nicht zufällig mit der Entstehungszeit der Anime-Serie zusammenfällt. Aus diesem Grund gilt Heidi auch als kawaii-Prototyp, der die japanische Jugendkultur der folgenden Jahrzehnte prägte (vgl. Domenig, 155). Entscheidend für die rezipient*innenseitige Wahrnehmung eines Objektes als
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kawaii – und das kann ein industriell gefertigtes Produkt ebenso wie die Figur einer Erzählung sein – ist eine spezifische Ästhetik, die sich folgendermaßen beschreiben lässt und exakt auf Heidis Inszenierung im Anime zutrifft: »The archetypical kawaii good is small, round, soft, and pastel, but anything that can be made and/or marketed can rightfully be termed kawaii, including cars, computers, and power shovels.« (Domenig, 155f.) (vgl. dazu Abb. 2) Es ist neben einer Harmonisierung der Geschichte also buchstäblich die Zeichnung der Figuren im Anime, die in den 1970er Jahren eine Vereindeutigung der Heidi-Figur als stereotypes Mädchen herbeiführt, indem sie mit traditionellen kawaii-Attributen wie etwa »sweet, adorable, innocent, pure, simple, genuine, gentle, vulnerable, weak« ausgestattet wird und zudem über »inexperienced social behaviour and physical appearances [sic!]« (Kinsella, 220) verfügt. In der japanischen Jugendkultur dient die cuteness-culture allererst dazu, sich imaginär in das Stadium vor der Differenzierung und somit in eine vermeintlich geschlechtsneutrale Kindheit zurückzuversetzen – in diesem Sinn werden auch die innerhalb dieser Kultur häufig thematisierten Geschlechtswechsel oder gleichgeschlechtliche Liebesverhältnisse interpretiert. Denn, so betont die Ethnologin Aya Domenig, eine wesentliche Motivation der cuteness-Kultur [besteht] in der Ablehnung der sozialen Konventionen der Erwachsenenwelt […]. Die Geschlechtlichkeit spielt dabei eine zentrale Rolle, da der Eintritt ins Erwachsenenalter die Wahrnehmung von gesellschaftlich definierten Rollen bedeutet. (Domenig, 158) Allerdings ist diese imaginäre Regression in eine utopisch überhöhte Kindheit zur Entstehungszeit des Animes Heidi noch alles andere als geschlechtsneutral, stattdessen steht sie fest auf dem Boden einer zweigeschlechtlichen Ordnung und bietet somit nur die scheinbare Möglichkeit einer Überschreitung, wie schon allein die Verankerung der cuteness-culture innerhalb einer ausgewiesenen Mädchenkultur belegt.6 Und so ist es auch kein Wunder, dass alle Diskurs- und Verhaltensmuster der Asymmetrie wie »Zurückhaltung, Dienstbarkeit und Subordination«, die gemeinhin als »›weibliche‹ Qualitäten« (Gildemeister, 139) gelten, von Heidi im Anime erfüllt und von den Zuschauer*innen internalisiert werden – ein Umstand, der dem ZDF als konservativ geprägtem Sender und Multiplikator konservativer Wertvorstellungen (vgl. Hickethier), der Ende der 1970er Jahre erheblich zur Naturalisierung traditioneller Rollenbilder beitrug, sicher in die Programmplanung gepasst hat.
6
Dieser Umstand hat sich erst ab den späten 1970er Jahren durch die »hohe Qualität der shōjo-Manga in ihren Narrativen und visuellen Darstellungen und durch die Idee der shōjo, die durch ihr ›unmarked gender‹ und ihren unbestimmten sozialen Status ein Widerstandspotential gegen die heteronormative Gesellschaftsordnung entwickeln kann« (Mae, 21), entscheidend verändert.
Agnes Bidmon: Von der schönen Seele zum Tomboy?
Heidi 2.0 – ein neues Heidi-Bild für das 21. Jahrhundert? Im Jahr 2015 schließlich wird Heidi abermals filmisch adaptiert, diesmal aber in Form eines in Deutschland produzierten 106-minütigen Realfilms, der als All-AgesFilm mit Starbesetzung konzipiert ist. Der »Film für die ganze Familie«, wie es die Rezension im Tagesspiegel verspricht, welche exponiert auf dem DVD-Cover abgedruckt ist, will ganz bewusst alle Altersklassen adressieren, also nicht nur die Zielgruppe der Kinder, sondern vor allem auch die Generation ihrer Eltern, die ihrerseits größtenteils mit der Anime-Erzählung sozialisiert worden ist. Ein erklärtes und bereits am Titelbild deutlich abzulesendes Ziel des Films ist es vor diesem Hintergrund, ein intergenerational gültiges neues Heidi-Narrativ zu generieren, das reduktionistische Bild der idyllisierten Anime-Heidi zu überschreiben und einen zeitgemäßen Gegenentwurf zur ubiquitären »Cute Heidi« in den massenmedialen Diskurs einzuspeisen (vgl. dazu Abb. 3). Da sich auch der Spielfilm inhaltsseitig ziemlich nahe entlang der Textvorlage bewegt, wird dieses Vorhaben insbesondere durch den Einsatz von kinematographischen Codes realisiert, allem voran durch Kleidung und Auftreten (Mimik, Gestik, Proxemik) der Protagonistin, aber z.B. auch durch die Wahl der Musik, welche die Szenen begleitet. Dabei ist auffällig, dass der Film sehr deutlich auf ein sogenanntes GenderCrossing setzt. Durch die Betonung des Gender-Crossing greift der Film somit das bereits im Buch angelegte Grenzgängertum der Figur auf, indem Heidi ganz dezidiert als »unfeminine female« (Stahl, o. S.) und somit als Tomboy inszeniert wird. Mit dem Begriff Tomboy wird ein Konzept bezeichnet, das bereits auf eine lange Diskurstradition zurückblicken kann (vgl. dazu Abb. 4 und 5). So findet sich schon um 1600 ein Eintrag im Oxford English Dictionary, laut dem ein Tomboy ein Mädchen bezeichnet, »who behaves like spirited or boisterous boy; a wild romping girl.« (Knox, 44) Bis heute wurde diese Begriffsbestimmung nur geringfügig modifiziert, denn noch die aktuelle Ausgabe des Oxford Dictionary definiert einen Tomboy als »girl who enjoys rough, noisy activities traditionally associated with boys« (Knox, 45). Gemeinhin soll mit dem Begriff also »gender nonconformity« (Bailey, Bechtold und Berenbaum) zum Ausdruck gebracht werden, d.h. eine Transgression des Weiblichen hin zum Männlichen und damit ein Durchkreuzen kulturell vorgegebener Rollen- bzw. tradierter Geschlechterbilder. Diese Nonkonformität bezieht sich sowohl auf die Optik – also Kleidungsstil, Frisur etc. – als auch auf das Verhalten der Tomboys. Die Kulturwissenschaftlerin Lynne Stahl beschreibt dies folgendermaßen: »Tomboys are female children distinguished by resistance to stereotypically ›girly‹ behaviors; they’re rambunctious, grass-stained and generally disinclined to passivity, dolls, frills and flirting with boys« (Stahl, o. S.). Diese Typologie wird vom Spielfilm fast schon übererfüllt, indem traditionelle passiv-weibliche Elemente wie beispielsweise der Frömmigkeitsdiskurs komplett getilgt werden und der Fokus stattdessen deutlich auf Aktivität, auf Wildheit und Ungezügeltheit der Protago-
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nistin liegt (vgl. dazu Abb. 6 und 7). Darüber hinaus setzt der Film in eben diesen Szenen noch ein weiteres Tomboy-typisches Charakteristikum sehr deutlich ins Bild, indem die Beziehung zwischen Heidi und Peter als prototypisches Beispiel für eine »sexual-tension-free-friendship« fungiert, welche die präpubertären Tomboys der Weltliteratur zumeist mit Jungen pflegen (Davis, 27; Knox, 45). Allerdings handelt es sich beim Konzept des Tomboy gendertheoretisch betrachtet um ein alles andere als unproblematisches, da es sich in der jüngeren Forschung vermehrt dem Vorwurf gegenübersieht, selbst statische Kategorien zu bedienen und ein Denken in Binarismen zu reproduzieren, anstatt es aufzubrechen. Schließlich beruht das Konzept des Tomboy auf der Annahme, dass konventionalisierte Gender-Kategorien unterlaufen werden könnten, was eine tatsächliche Existenz und Differenzierbarkeit solcher essenzialistischer Kategorien zwangsläufig voraussetzt. Dementsprechend unterstreicht Lisa Selin Davis in ihrem jüngst erschienenen Buch über das kulturgeschichtliche Phänomen Tomboy völlig zurecht: The meaning of tomboy is completely dependent on a binary of opposites, with separate criteria of what’s normal for boys and girls. It’s a name for girls who cross the divide, who act or play or dress like a boy, who gravitate toward boytypical things: clothes, people, toys, activities. But what’s typical for boys and girls has constantly been in flux. (Davis, 26) Vor diesem Hintergrund erweist sich das Konzept des Tomboy letztlich als gefährlicher Bumerang, der essenzialisierende Differenzen durch den Akt ihrer Überschreitung von »girls who dare to be different« – so der Untertitel des Buches von Lisa Selin Davis – reproduziert und letztlich fortschreibt. Das eigentlich intendierte progressiv-liberale Narrativ, das der Spielfilm bedienen will, nämlich dass Mädchen im Verständnis einer offenen Gesellschaft der Gegenwart alles sein bzw. zur Aufführung bringen können und ›Geschlecht‹ als intersektionale Differenzierungskategorie mittlerweile abgedankt hat, erweist sich so als verhängnisvoller Trugschluss, da die vermeintliche Freiheit von Kategorien um den Preis der Reinstallierung einer geschlechtsspezifischen Differenz erkauft wird, die auf einer in jüngster Zeit vermehrt zu beobachtenden und v.a. ökonomisch befeuerten »hypergendered childhood« (Davis, 8) beruht, der das traditionalistische Denkmuster einer rosa/blauen Leitdifferenz zugrunde liegt.
Weil ich ein Mädchen bin? – Fazit Durch die erfolgte Zusammenschau von Roman, Anime-Serie und Spielfilm lässt sich in Bezug auf die Konturierung der Diversitätsdimension ›Geschlecht‹ abschließend lediglich festhalten, dass Heidi zuallererst eines ist: eine Projektionsfläche für heterogene kulturelle Folien und Diskurstraditionen von Weiblichkeitskonzeptio-
Agnes Bidmon: Von der schönen Seele zum Tomboy?
nen. Aus diesem Grund treffen die medialen Artefakte – egal welcher Zeit und Kultur sie entstammen und in welchem Medium sie angesiedelt sind – letztlich auch keine Aussage über die Geschlechtsidentität der Figur an sich, dafür aber umso mehr über die Art und Weise des Doing Heidi, also des aus einer spezifischen Gegenwart heraus erfolgenden und kulturell codierten Zugriffs auf ›Geschlecht‹ sowie seinen Einsatz als Differenz stiftende Kategorie. Dabei ist auffällig, dass die RomanErzählung durch die Absorption verschiedenartiger literarischer und kultureller Traditionslinien der Figur den größten Raum der Unbestimmbarkeit zugesteht, wodurch letztlich auch eine Dynamisierung von Identitätskonstrukten betrieben wird. Auf diese Weise werden eindeutige Zuschreibungen verunmöglicht und den Rezipient*innen vermeintliche Deutungshoheiten entzogen, was der Figur in erzählethischer Hinsicht vielleicht am gerechtesten wird. Einen erheblichen Anteil an diesem Entzug von ethischer Gewalt (Butler) hat auch das Medium, in dem erzählt wird. Schließlich arbeitet die Literatur primär mit dem semiotischen System Sprache, das zeichentheoretisch betrachtet ein weitaus abstrakteres Medium darstellt als der mimetisch verfahrende, wirklichkeitsimitierende Film mit seiner Notwendigkeit einer visuellen Konkretion des Erzählten. Dementsprechend sind beide untersuchten filmischen Adaptationen im Verhältnis zum Text zwangsläufig weitaus offensichtlicher in einer binären Systematik verfangen und müssen sich für eine spezifische Lesart der Geschlechtsidentität entscheiden – und zwar selbst dann, wenn sie eigentlich mit dem erkennbaren Ziel angetreten sind, binäre Denkstrukturen zu verabschieden.
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Abbildungen
Abbildung 1: Bsp. eines frühen Shojo-Mangas: Coverbild des ersten Bandes von Der Ritter der Schleife, Japan 1953–1965 Abbildung 2: Heidi als prototypische kawaii-Figur (Ep, 1, TC: 00.06,59)
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Abbildung 3: Coverbild der DVD des Spielfilms Heidi (2015) Abbildung 4: Gemälde The Tomboy (George Brown, 1873), zit.n. Davis 2020, 28.
Abbildung 5: Gedicht Tomboy Kate (Josephine Pollard, 1888), zit.n. Davis 2020, 18.
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Abbildungen 6 und 7: Inszenierung von Heidi als Tomboy im Spielfilm Heidi (2015) (TC: 00.18,30, (TC: 00.20,36)
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Heidi lebt: »To be sure, she was no longer the little girl of yesterday«1 Die Heidi-Romane des Johanna Spyri Übersetzers Charles Tritten Tanja Nusser
Um das Thema des Beitrags ein wenig reißerisch vorzustellen: Auf den nächsten Seiten geht es um Heidis Amerikanisierung (siehe Hermann, 206–221); es geht um ihr literarisches Nach- bzw. Weiterleben! Und eines ist definitiv sicher: Heidi lebt! Johanna Spyris Heidi-Romane haben, seit sie 1880 und 1881 erschienen, eine Erfolgsgeschichte hinter sich, die danach fragen lässt, was diese Romane auszeichnet. Sie verhandeln die Schweizer Nationalität und scheinen das Lebensgefühl der Alpen und die Gedankenwelt der Bewohner*innen wiederzugeben, so eine frühe britische Rezension von 1882 (N. N. 1882, 431). Heidi fungiert als »schweizerisches Markenzeichen« (Gyr 1999, 88; siehe auch Gyr 2001) oder als Botschafterin der Schweiz (siehe Shepard, 40–41); sie ist in der Schweiz ein touristischer Magnet (siehe Adamo), aber auch weltweit erfolgreich, wie vor allen Dingen die Übersetzungen in unzählige Sprachen und die japanische Anime-Serie von 1974 belegen. Neben Wilhelm Tell als schweizerischer Mythos (bspw. Wissmer, The Federal Department of Foreign Affairs, Gros) oder auch als Legende apostrophiert, werden in den Romanen mit Heidi, Klara und Peter sowohl normative Rollenbilder von (schweizerischer) Kindheit, Männlich- und Weiblichkeit und im weiteren Sinne von Körperlichkeit als auch eines gesunden, durchaus religiösen Lebens in und mit der Landschaft etabliert. Davon ausgehend, dass die zwei Bände Heidi’s Lehr- und Wanderjahre und Heidi kann brauchen, was es gelernt hat heißen, muss bedacht werden, dass sie sich auf das Genre des Bildungsromans beziehen. Jedoch positionieren die Romane in abgrenzender Bezugnahme zu Johann Wolfgang von Goethes Wilhelm MeisterRomanen Bildung als gelebte Erfahrung in und mit der Natur und in Abgrenzung von der industriellen (deutschen) Großstadt und schulischer Bildung. Es geht in den Romanen Spyris nicht darum, in die Welt zu gehen, zu lernen und Erfahrungen zu sammeln, sondern sich aus dieser in die Alpen zurückzuziehen und in der Natur, 1
Tritten 1939b, 10.
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die als das Private fungieren kann, wirksam zu werden, und die Rolle der (schweizerischen) nur bedingt gebildeten Frau spielend zu erlernen. Letztlich formulieren die Heidi-Romane eine extrem begrenzte Utopie der Handlungsmacht/Agency der Frau in der Schweizer Gesellschaft – vor allen Dingen, wenn man bedenkt, dass in der Schweiz Frauen erst 1971 rechtlich die vollständige Staatsbürgerschaft im Sinne des Wahlrechts erhielten. Jedoch, auch wenn ich gerade die beschränkte Utopie hervorgehoben habe, so muss auch festgehalten werden, dass Spyris Heidi-Romane, indem sie eine Abkehr von größeren sozialen Gefügen (wie bspw. dem Stadtleben) beschreiben, auch eine Hinwendung zur Natur formulieren, die in der Traditionslinie von Jean-Jacques Rousseaus Konzeptualisierung des natürlichen Zustands (der Kindheit) und der »Idee einer ›Herzensbildung‹, die der Empfindsamkeit entstammt« (Härle, 69), steht. Heidis Bildung besteht in einem imitativen Prozess, der Heidi in der Natur bzw. als Naturkind verankert. Kaum ist Heidi im ersten Band in den Bergen angekommen, fängt die Anpassung an die neue Umgebung der Alpen qua Lernimitation (im Sinne der sozialkognitiven Lerntheorie) an: Nachdem Heidi Peter und die Geißen beobachtet hat, setzt sie sich hin und zieht sich bis aufs Unterhemd aus: Es sagte kein Wort, blickte aber unverwandt bald auf den Peter, der mit seinen nackten Füßen und leichten Höschen ohne alle Mühe hin- und hersprang, bald auf die Geißen … Auf einmal setzte das Kind sich auf den Boden nieder, zog mit großer Schnelligkeit Schuhe und Strümpfe aus, stand wieder auf … Blitzschnell war auch das Alltagsröcklein weg und nun stand das Kind im leichten Unterröckchen … Wie nun das Kind sich so frei und leicht fühlte, fing es ein Gespräch mit Peter an … (Spyri 1880, 13–14). Sich frei zu fühlen, das Entkleiden bis auf ein »leichte(s) Unterröckchen« mit »kurzen Hemdsärmelchen« (13) und erst der im Anschluss an diese körperliche Befreiung (oder Entdisziplinierung) stattfindende kommunikative Akt mit Peter gehen inhaltlich zusammen und scheinen zu suggerieren, dass die Alpen der Platz des Rousseau’schen Naturzustandes sind: Alle Menschen sind frei und gleich. An diese Gleichheit qua Entkleidung schließt das ambivalente Gendering Heidis an – der initiale Lernakt ihrer Lehr- und Wanderjahre ist die Imitation Peters (und der Geißen); d.h. Heidis Rollenvorbilder sind ein Junge und die Geißen. Es wird sowohl die Gleichheit der Geschlechter – Heidi und Peter befinden sich auf einer Stufe des Bekleidetseins – als auch ein Queering Heidis positioniert (sie identifiziert sich mit Peter und den Geißen). Die Alpen werden als Ort des Naturzustandes und als Gegenentwurf zur Industrialisierung und zu den Großstädten usw. etabliert. Heidi – als Person und Buch – verspricht Glück und Freiheit von Zwang, Normierung, Entfremdung (in einer kapitalistischen Warenlogik), wenn die Leser*innen bereit sind, in einem kommunikativen Akt Peter via Heidi zu imitieren (sprich: Imitation durch Rezeption) und barfüßig, leichtbekleidet in die Natur einzutauchen.
Tanja Nusser: Heidi lebt: »To be sure, she was no longer the little girl of yesterday«
Dass die Romane die Bildung und Entwicklung Heidis mit ungefähr neun Jahren enden lassen, denn Spyri schreibt keine Fortsetzung, wird im Folgenden noch eine Rolle spielen. Betrachtet man Spyris Werk, könnte man sagen, dass ihre Protagonist*innen in der Kindheit festgesetzt werden, zwar nicht wie Peter Pan, aber das Entwicklungspotential zum*r Erwachsenen liegt nicht im Interesse der Autorin; Geschlechtlichkeit und Sexualität werden – nicht nur in den Figuren der Kinder – komplett ausgeklammert (siehe Leimgruber, 179f.).2 Schon der Untertitel der in Deutschland verlegten Erstausgaben beider Bände weist darauf hin: Eine Geschichte für Kinder und auch für Solche, welche die Kinder lieb haben (Spyri 1880, 1881). Eindeutig wird eine doppelte Adressierung (für Kinder und welche die Kinder lieb haben) vorgenommen (siehe Mergenthaler, 338). Der Titel kann aber auch anders gewichtet werden: Es sollen sich nur diejenigen adressiert fühlen, die sich mit dem Thema Kinder beschäftigen wollen.
Fortschreibungen: Heidi wird erwachsen Was also bringt nun Charles Tritten – Übersetzer der Heidi-Romane ins Französische und Englische – dazu, 55 Jahre nach dem Erscheinen des zweiten Bandes zwei weitere Bände auf Englisch bzw. drei Bände auf Französisch zu veröffentlichen und die Geschichte Heidis (durchaus vergleichbar mit den Nesthäkchen-Romanen Else Urys, die zwischen 1913 und 1925 erschienen) weiterzuerzählen? In seinen englischsprachigen Heidi-Romanen, Heidi Grows Up (1938) und Heidi’s Children (1939), entwirft Tritten ein Frauenbild (Heidi als christlich motivierte Helfende, Sorgende, Lehrende, Ehefrau, Mutter und in der französischsprachigen Ausgabe auch Großmutter), dessen Konservatismus und Rückwärtsgewandtheit auch als eine Antwort auf zeitgenössische historische Entwicklungen gelesen werden muss. Die Romane lassen keine Ambivalenzen mehr zu und artikulieren ihre Botschaft sehr klar, indem sie mit Stereotypen und Klischees operieren: Die (neutrale) Schweiz und Heidi (als Roman und Figur) werden in den Fortschreibungen als nationale und patriotische Gegenentwürfe positioniert.3 Heidi, so meine These, wird von 2
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Zurecht spricht Leimgruber die Versächlichung Heidis als »das Heidi« an (179). Es »fehlen in der Regel Frauen in einem sexuell aktiven Alter, die als Vorbilder und Identifikationsfiguren dienen könnten. Insbesondere Mütter sind weitgehend absent oder werden negativ gezeichnet (die ebenfalls häufig abwesenden Väter werden wie Herr Sesemann zwar etwas distanziert, aber liebevoller beschrieben). Erst in der Rolle der Großmutter erhalten Frauen wieder Bedeutung und Vorbildcharakter« (180). Während ihre Bücher eine enorme transnationale Berühmtheit erlangen und schon im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts den Status als Kinderbuch-Klassiker aufweisen, hebt die New York Times 1925 hervor, dass Spyris Name weder in englischen, noch französischen oder amerikanischen Enzyklopädien erwähnt wird (Ulrich, o. P.).
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möglichen Zwischentönen, Ambivalenzen und Gegenbewegungen sowohl auf der Ebene der Textperformanz als auch in Bezug auf die eingeschränkte Agency der Protagonistin ›bereinigt‹ und – vor dem Hintergrund der sich abzeichnenden Neuordnung Europas – einem (Re)Nationalisierungsprojekt unterworfen, das sowohl eine Normierung von Sprache (keine Ambivalenzen, einfache und klare Botschaften usw.) als auch von Geschlechterstereotypen und Kultur vornimmt. Soweit also zunächst erst einmal der Kurzüberblick. Wie kann es passieren, dass zwei Romane, die für Kinder und über Kinder und für diejenigen, die Kinder liebhaben, geschrieben worden sind, über 50 Jahre später diesem von der Autorin Spyri formulierten Anspruch sozusagen ›entrissen‹ werden? In dem Vorwort zur amerikanischen Ausgabe von Charles Trittens erster Fortsetzung Heidi Grows Up (1938) gibt der Verlag eine erstaunliche Begründung: »The children of today, and their parents as well, owe a debt of gratitude to Charles Tritten, not merely because he has rolled back that curtain and fulfilled the promise of the last chapter, but for the way in which he has done it, … for his simplicity and understanding of young children embarked upon the breathless adventure of growing up.« (N. N. 1938, o. S.) Mit dem »promise of the last chapter« bezieht sich der Verlag wahrscheinlich auf Spyris zweiten Band Heidi kann brauchen, was es gelernt hat, dessen letztes Kapitel in der deutschen Ausgabe IX. Es wird Abschied genommen, aber auf Wiedersehen heißt und in einer der vielzähligen englischsprachigen Ausgaben als IX. Parting to meet again (Spyri 1899, 334) übersetzt wird.4 Interessanter Weise wird allerdings dieser Satz im Kapitel von Frau Sesemann beim Abschied von der Alm gegenüber der Großmutter ausgesprochen: »Und nun nehmen wir Abschied, aber auf Wiedersehen, denn sobald wir nächstes Jahr wieder nach der Alm kommen, suchen wir auch die Großmutter wieder auf; die wird nie mehr vergessen!« (Spyri 1881, 173) Somit kann der Satz gerade nicht als Begründung für eine Weiterschreibung der Romane verstanden werden, denn Klara und somit die Familie Sesemann spielen in Heidi Grows Up nur am Rande eine Rolle. Klara ›führt‹ Heidi am Anfang des Textes ihrer neuen Bestimmung (als spätere Lehrerin) zu; sie fungiert quasi als Botin und Gate Keeperin in einem. Sie begleitet Heidi auf ihrem Lebensweg gerade mal bis zum Internat, indem sie ihren Abschluss gemacht hatte und das Heidi nun besuchen wird– einer wie es im Text heißt »fashionable boarding school«, zu der Heidi »not without great sacrifice … had been sent« (Tritten 1938, 10). Heidi wird in die Zukunft entlassen, indem Klara ihr mit ihrem deutschen, großbürgerlichen Hintergrund im übertragenen Sinn die Türen öffnet, dann aber allerdings auf der Plot-Ebene und von der Erzählinstanz aus Heidis Leben in eine
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Der Band enthält beide Heidi-Romane als Part I. – Heidi’s Years of Learning and Travel und Part II. – Heidi Makes Use of what She has Learned. In der Übersetzung des Titels geht der Bezug auf Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre und Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden leider verloren.
Tanja Nusser: Heidi lebt: »To be sure, she was no longer the little girl of yesterday«
Nebenrolle verabschiedet wird. Könnte man argumentieren, dass damit Klara in Trittens Fortschreibung die Rolle für Heidis Entwicklung übernimmt, die Heidi für Klara in Spyris Bänden hatte (in beiden Fällen könnte man von einem Turning Point reden: Klara lernt laufen, wird damit ›geheilt‹ und unabhängig; Heidi erfährt eine schulische Ausbildung sowie Erziehung und kann deshalb später als Lehrerin ihr Geld verdienen), so funktionieren die beiden Rollen unterschiedlich: In Spyris Roman gehen Klara und Heidi in das jeweils andere Leben hinein und machen damit Erfahrungen, die sie im eigenen Umfeld nicht machen konnten, in Trittens Roman verabschiedet Klara Heidi in ein neues Leben, indem sie ihr den Zugang qua gesellschaftlicher Position ermöglicht. In der zweiten Hälfte von Heidi Grows Up besucht Klara dann Heidi einmal in den Bergen, letztlich um wie in einem Staffellauf die Staffel an Jamy (kurz für Jeanne-Marie) weiterzugeben, die nun die Rolle Klaras als Sidekick in Trittens Romanen übernehmen wird. Mit Jamy wird Heidi allerdings nicht mehr eine Weggefährtin zur Seite gestellt, die aus einer deutschen kommerziell erfolgreichen Familie stammt, sondern eine ungarische Botschaftertochter, die Heidi in Trittens Romanen in das und im Erwachsenenleben begleiten wird. Hier deutet sich indirekt an, wie Trittens Heidi-Romane Bezug auf die Zeit nehmen: geographisch wird Deutschland durch Ungarn ersetzt, Frankfurter Geldadel durch die Politik der Botschafter.5 Charles Tritten fügt eine weitere Erklärung für die Fortschreibung der Geschichte um Heidi in der Einleitung zum zweiten Fortsetzungsband Heidi’s Children (1939) hinzu – es beschleicht einen der Verdacht, dass diese Begründungen durchaus als Rechtfertigungen für die Enteignung/Aneignung oder Inbesitznahme Heidis zu verstehen sind (zu vergessen ist nicht, dass 1931 die Urheberrechte erloschen und damit Heidi frei verfügbar auf dem medialen Markt wurde):6 A few days ago the mother of a little girl to whom I had been reading these very pages which you now are about to read … asked me whether Johanna Spyri might not disapprove, were she alive, of the liberty I have taken in these later books of interpreting for the children of today what the ›happily ever after‹ may have meant in the life of Heidi. In the first place, I knew Madame Spyri as well as one human, even of a different race, could know each other. Every book she wrote was a labor of love for children she knew so well. … I know that she never refused to grant a child’s wish as long as she lived.
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Es sei nur kurz erwähnt, dass in Trittens französischsprachigen Heidi-Romanen Heidi und Peter beide Weltkriege durchleben bzw. entfernte Zeugen des Weltgeschehens sind, denn sie leben ja in der neutralen Schweiz. Anna Wegener spricht dementsprechend von einer »well-known instance of a translator appropriating the characters and narrative universe of a work that he had translated.« (301)
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So I went to my desk and showed the mother some of the hundreds and hundreds of children’s letters that have come to me since Heidi Grows Up was published. ›Truly,‹ said the mother, ›Heidi belongs to all those children from all those faraway places.‹ (Tritten 1939, o. S.) Ich zitiere diese Stelle so ausführlich, da sie eine sehr interessante Argumentation aufmacht. 1) Charles Tritten spricht aus der Position desjenigen, der auf einem Kennen der Autorin basierend behaupten kann, was diese gewollt hätte. 2) Wird eine Demokratisierung gegen eine singuläre Autorschaft gesetzt: Heidi gehört allen Kindern. 3) Wird Heidis Leser*innenschaft erweitert – alle Kinder an entfernten Plätzen; ergo der Adressatenbezug ist nicht mehr nur deutsch-schweizerisch (zu bedenken ist hier auch, dass die ersten beiden Heidi-Filme in den USA entstanden7 ) –, gleichzeitig wird diese aber auch eingeschränkt; die Bücher werden dezidiert als Kinderbuchliteratur ausgewiesen und schließen nicht mehr diejenigen mit ein, welche die Kinder lieb haben. Der letztere Punkt ist insofern relevant, da sich mit der inhaltlichen Verschiebung auf Heidis erwachsenes Leben die Frage stellt, was von der Substanz der beiden Heidi-Romane von Spyri und ihren Protagonist*innen bestehen bleibt. Denn durchaus zu Recht stellt Ingrid Tomkowiak fest, dass Spyri »played a pioneering role in children’s literature by propagating respect for the child as a child. … Spyri demonstrates that different styles of education can ultimately work together to foster a child’s personality.« (26)8 Dieser Aspekt fällt nun allerdings bei Trittens Neubzw. Weiterschreibungen der Heidi-Saga weg: es geht definitiv nicht mehr um Kinder und Kindheit, bzw. die Bildung und Erziehung derselben. Wenn überhaupt, dann wird Bildung und Erziehung nur thematisiert, indem Heidi als Mutter und Pflegemutter sowie Lehrerin für diesen Bereich einsteht. Jedoch liegt mit dem Titel der Tritten’schen Romane der Fokus immer noch auf ihr als Hauptprotagonistin, d.h. es geht um Heidi und nicht die Kinder, auf die sie Einfluss hat. Diese Verschiebung wird auch noch dadurch unterstützt, dass sich die Erzählhaltung in Trittens Übersetzungen und Fortsetzungen ändert. Hatte er in den Übersetzungen massiv in Spyris Texte eingegriffen, indem er bspw. die Namen änderte und die Handlung straffte (ich kann hier nicht weiter auf Übersetzungen
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1920 eine Stummfilmversion unter der Regie von Frederick A. Thomson und 1937 die erste Tonversion mit Musikeinlagen, in denen Heidi, gespielt von Shirley Temple, singen und tanzen darf (Regie: Allan Dwan). Tomkowiak argumentiert weiterhin: »Spyri’s evocation of childhood, however, draws not only on the romantic tradition of the mystical, divine child but also on the cultural anthropological reflections of Rousseau and Johann Gottfried von Herder, which are rooted in the Enlightenment. According to this view, childhood is a revocation of the state of nature and the childlike state of humankind (a theory better known as »ontophylogenesis,« as explored in Elisabeth Wesseling’s volume The Child Savage).« (30)
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und Übersetzungstheorien eingehen, aber im Hintergrund läuft natürlich die Frage mit, was eine getreue Übersetzung oder Adaptation in einer anderen Sprache ist), so ist schwerwiegender, dass sich der ›Ton‹ der Geschichten ändert (siehe Wissmer). Definitiv ist die wichtigste Veränderung, die Tritten in den Übersetzungen vornimmt, die Ersetzung einer personalen Erzählhaltung, die identifikatorische Angebote für die Leser*innen anbietet, durch eine auktoriale und der Wegfall der »semantische[n] Ambivalenz« (Mergenthaler, 358). Damit einher gehen u.a. eine Veränderung des Satzbaus, dessen was erzählt wird, aber auch eine Reduzierung der direkten Rede des innerlichen Monologs, aber auch von Dialogen (siehe Abgottspon 2001), die quasi mimetisch die Leser*innen in die Welt Heidis einbezieht. Dadurch verschiebt sich die Erzählung von Heidis Perspektive auf eine Erzählinstanz, die allwissend Heidis Erleben in einem größeren Rahmen situiert und damit für eine durchaus konservative, bewahrende Verortung der Erfahrungen öffnet, die Heidi innerhalb eines traditionellen Geschlechterstereotyps verortet, aber auch die ihr eigene lebhafte Art, die Welt zu erleben und sich durch Bewegung auszudrücken, mäßigt (siehe Abgottspon 2001, 224). Trittens Umschreibungen tragen weniger zu dem Mythos Heidi bei, als dass sie die Botschaft verschieben. In den Fortsetzungen spitzen sich diese Verschiebungen noch weiter zu. Hier wird Heidi innerhalb eines christlich-pietistischen Weltbildes in der Mutterschaft als Heilige inszeniert, indem Heidi und Peter quasi unbefleckt Eltern und Großeltern werden – doch dazu gleich mehr. Den Weg jedoch zu dieser Neuausrichtung Heidis haben die Übersetzungen gebahnt. Letztlich kann man festhalten, dass Trittens Heidi-Romane mit Spyris Romanen kaum etwas gemein haben, außer die Protagonist*innen (deren Namen noch nicht einmal die gleichen bleiben) und die Landschaft (die Schweizer Alpen und das Heidi-Dorf: Maienfeld); nicht einmal das Sujet bleibt das Gleiche.
Verwirrende Familienverhältnisse Jedoch möchte ich mich kurz der eigentümlichen, weil verwirrenden Editionsgeschichte der Fortsetzungen zuwenden, bevor ein genauerer Blick auf die massiven inhaltlichen Verschiebungen in Trittens Romanen anhand der Familienkonstellationen geworfen wird. Tritten war, (man findet sehr wenig Informationen über ihn), »verantwortlich für die Bücherabteilung in den Grands magasins Innovations in Lausanne« (Francillon; siehe auch Abgottspon 2014), und er übersetzte 1933/34 für Flammarion in Paris Spyris Heidi-Romane neu. Zwischen 1935–1939 schreibt er auf Französisch die Fortsetzungen, um dann 1938 und 1939 zwei, massiv abweichende Versionen in Englisch zu veröffentlichen. Im März 2021 erschien dann erstaunlicher Weise eine englische Übersetzung von Trittens französischsprachigen Roman Heidi grand’mère, der wahrscheinlich 1946 erschien (siehe Francillon), unter dem
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Titel Heidi Grandma als ein Kindle Ebook. Auf der Titelseite des Ebooks wird nur noch erwähnt »Based on ›Heidi‹ by Johanna Spyri«. Diese Übersetzung nun kann sehr genau aufzeigen, wie unterschiedlich die englischsprachige und französischsprachige Version von Tritten fortgeschrieben wurden. In der englischsprachigen Version haben Peter und Heidi in Heidi’s Children Zwillinge mit den Namen Marta und Anton (oder auch Martali und Töni nach den Großeltern benannt) – und ja, Peter und Heidi heiraten am Ende von Heidi Grows Up, und einen seltsameren und unmotivierteren Heiratsantrag kann man sich nicht vorstellen (aber davon gleich mehr). Heidi Grandma, die englischsprachige Übersetzung von Trittens Heidi grand’mère, beginnt überraschenderweise mit einer komplett neuen Familiensituation. Heidi und Peter haben jetzt drei Kinder und keines der Kinder heißt Marta oder Anton: »Henry, after completing his studies at the Zurich Polytechnicum, has recently become deputy director of a major mechanical engineering company in Winterthur. Annette is currently taking the final exams at the Teacher Training College in Chur. Paul has stayed in Dörfli, attached to his land and mountains.« (Tritten 2021, o. S.) Die Familienverhältnisse in Trittens englischen Fortschreibungen sind – auch unabhängig von diesen Unstimmigkeiten zwischen dem zweiten und dritten Roman – an sich schon verwirrend, da die Familienstrukturen massiv von Spyris Texten abweichen. Dies deutet sich schon im Band Heidi’s Children an, als Heidi auf einmal zwei Cousinen und einen Onkel entdeckt (der Almöhi und seine Frau hatten sich getrennt, die Kinder zwischen sich aufgeteilt und so weiter und so weiter). Nun könnte man vermuten, dass diese Inkongruenz zwischen dem zweiten und dritten Band einfach nur schlechte Schriftstellerei sei, die weniger darum bemüht ist, innerhalb der erzählten Welt eine Realität zu erschaffen, die in ihren Fakten stimmt. Man könnte eventuell auch versuchen, herauszubekommen, ob wir es mit einer unglaubwürdigen Erzählinstanz zu tun haben. Jedoch liegt etwas anderes weitaus näher: Tritten hat zwei unterschiedliche Fortsetzungsromane geschrieben. Die französischsprachige Version Heidi et ses enfantes erzählt eine fundamental andere Geschichte als Heidi’s Children. Und an diesem Punkt wird es nun wirklich spannend. Wie kann man diese zwei Versionen erklären? Den Ausgangspunkt für die Familiensaga (die definitiv den Status von Heidi als schweizerischer Mythos untergräbt) und Heidis Erziehung sowie Entwicklung zur Hausfrau und Mutter bildet eine Szene, die kaum weniger auffällig sein könnte, aber gewaltige Konsequenzen für Heidis Leben hat. Nachdem gegen Ende von Trittens Heidi Grows Up der bettlägerige Almöhi eines Abends seiner Sorge gegenüber Heidis Internatsmitschülerin Jamy (die in Heidi’s Children als bis dato unbekannte Cousine enthüllt wird) Ausdruck gegeben hat: »When I am gone, Heidi will be left alone. Who will keep my house? Who will take care of Schwänli und Bärli?« (205f), hält Peter am nächsten Morgen »quite unexpectedly« um Heidis Hand an, und sie antwortet »in the utmost surprise, ›Why Peter! I think that must have been what I wanted. That was the reason why I stayed in Dörfli.‹« (208) Ich teile Heidis Erstaunen, denn
Tanja Nusser: Heidi lebt: »To be sure, she was no longer the little girl of yesterday«
nichts, aber auch wirklich gar nichts deutet in dem Roman darauf hin, dass dieser Heiratsantrag durch Liebe, Begehren oder Freundschaft motiviert ist.9 Im gleichen Ton informiert dann auch die Erzählinstanz die Leser*innen, dass eine Straßenhochzeit geplant ist und der bettlägerige Almöhi wieder gesund wird, das Gras schneidet und am Haus arbeitet. »Heidi was delighted«, denn so die Erzählinstanz die Geschichte um Heidi quasi beendend, »[t]here was nothing to mar the beauty of her wedding day.« (209) Während die französischsprachige und englischsprachige Version der ersten Fortsetzung mehr oder weniger noch die gleiche Geschichte erzählen, weichen die zweiten Fortsetzungen enorm voneinander ab. Der französischsprachige Roman Heidi et ses enfantes ist 14 Jahre nach dem letzten Roman angesiedelt, und spielt zu Zeiten des Ersten Weltkrieges. Heidi hat drei Kinder im unterschiedlichen Alter, Peter reist ab, um die schweizerischen Grenzen zu verteidigen, und Jamy ist aus Amerika mit ihren Kindern zu Besuch und muss für die Kriegsjahre bleiben. Der amerikanische zweite Roman Heidi’s Children schließt zeitlich direkt an den vorherigen Band, d.h. Heidis und Peters Heirat an: »Nothing was really changed in the house« (Tritten 1939b, 13) – wie es gleich zu Beginn heißt – was übersetzt werden könnte in: kein politisches Weltgeschehen dringt in die heile Welt des Dörflis ein. Die dritte französischsprachige (gerade ins Englische übersetzte) Fortsetzung spielt dann 1939 und der Zweite Weltkrieg bricht aus; sprich Heidi hat ungefähr siebzig Jahre in den Romanen Spyris und Trittens durchlebt.
Familie, Natur und mythische Heimat Die Frage, die mich zum Abschluss beschäftigt, lautet: Wie lassen sich die zwei Fortschreibungen erklären, die so unterschiedliche Akzente setzen? Die französischsprachigen Fortsetzungen wurden für die Schweiz geschrieben, d.h. der Adressat*innenbezug ist klar markiert: Für Schweizer*innen in Abgrenzung von einem Hitler-Deutschland (siehe auch Francillon, 251). Anna Wegener ist zuzustimmen, dass die Bücher in einer Zeit veröffentlicht wurden, in which Switzerland sought to protect itself from the influence and demands of its totalitarian neighbors, particularly Germany but also Italy, through the Spiritual National Defense (die geistige Landesverteidigung) aimed at developing and strengthening a specific Swiss national identity. Tritten’s family saga takes place in a historical period during which Switzerland underwent radical social
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Sie hierzu auch Roger Francillon, der die gleiche Beobachtung für die französischsprachige Fortsetzung Heidi jeune fille macht (240).
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and economic changes but the author suppressed this historical reality to instead propose a mythical image of Switzerland as a proud, independent, and vigilant country that knew how to protect itself. (300) Für die amerikanischen Veröffentlichungen der ersten zwei Bände hat dieser historische Hintergrund jedoch nicht die gleiche Bedeutung, und ist der Adressat*innenbezug weiter gefasst (»all those children from all those faraway places.« [Tritten 1939b, o. P.]). Die USA treten erst zwei Jahre nach der Veröffentlichung von Heidi’s Children in den Krieg ein, die Grenzen sind nicht so direkt bedroht, wie die schweizerischen; d.h. die Romane und vor allen Dingen die zweite Fortsetzung müssen nicht die europäische Geschichte verhandeln und auch nicht eine schweizerische Identität postulieren, die nach Innen gegen Nazideutschland stabilisiert werden muss. Während die französischsprachigen Fortschreibungen damit durchaus politisches Potenzial aufweisen, indem sie die Bedrohung der Schweiz durch zwei Weltkriege thematisieren, die durch ihre Nachbarstaaten initiiert wurden, entwickeln die amerikanischen Romane eine schweizerische Identität, die folgendermaßen umschrieben werden kann und die durch die englischsprachigen Romane in der Welt propagiert wird: naturverbunden, jenseits von industrieller Ausbeutung, rückwärtsgewandt, konservativ, familienorientiert und jeden Bezug auf Deutschland ausschließend (bzw. minimierend wie in der Figur Klaras). Damit schließen die englischsprachigen Romane in all ihren Veränderungen (thematisch, stilistisch usw.) an die Spyri-Romane an. So eigentümlich es anmutet, dass weder Liebe noch Sexualität noch Schwangerschaft oder Geburt eine ausgewiesene Rolle spielen und biologische Funktionen und Veränderungen kontinuierlich umschrieben werden (aber das teilen die Romane mit vielen anderen Kinderbüchern), sich die Familie vermehrt, sich die Familienverhältnisse verkomplizieren und verändern, die Schweiz bleibt stabil und zeitlos. In diesem Sinne, so schlecht die Romane sind (um einmal kurz zu werten), partizipieren sie dann doch an dem Mythos Heidi. Dies geschieht bspw., indem Fortpflanzung narrativ dem Zyklus der Jahreszeiten unterworfen wird. Wie es im Text heißt, um die Schwangerschaft Heidis zu beschreiben: »Spring held this promise. … Now Heidi’s cherished wish was to come true and, with the first strawberry blossoms, she looked forward to holding her baby in her arms.« (Tritten 1939b, 11). Mit diesen Formulierungen wird Schwangerschaft und Geburt einerseits naturalisiert, entkulturalisiert (die menschliche Prokreation ist nicht Jahreszeiten abhängig, wie wir alle wissen) und als wiederkehrendes Muster etabliert, das außerhalb jeder zeitlich-linearen und historischen Fortentwicklung angesiedelt wird. Andererseits wird damit Heidis Leben als makrokosmisches Muster lesbar, das keine individuelle Bedeutung mehr hat, sondern Allgemeingültigkeit beansprucht: Die Natur ist so, die Schweiz ist so, menschliches Leben ist so. Jedoch muss genau die Art, wie Heidis Schwangerschaft, Geburt und Elternschaft
Tanja Nusser: Heidi lebt: »To be sure, she was no longer the little girl of yesterday«
von der narrativen Instanz beschrieben werden, in einem größeren Zusammenhang betrachtet werden, den der Text nicht anspricht, der aber als historischer Diskurs mitgedacht werden muss. Solche Beschreibungen positionieren die Schweiz politisch gegen die Entwicklungen Europas als a-historisch, zentriert auf Familie und Natur – oder anders zusammengefasst – auf einen engen Begriff von mythischer Heimat, in der eine Ausländerin wie Jamy (als Ungarin und spätere New Yorkerin; sprich Amerikanerin) nur Platz findet, weil sie eine ›Heritage Schweizerin‹ und die Cousine von Heidi ist.10 Damit schaffen die Romane etwas Erstaunliches: Sie thematisieren eine vermeintliche Offenheit und Öffnung der Schweiz zu anderen Kulturen in dem Adressaten*innenbezug (die Texte sind für alle Kinder in allen Ländern geschrieben), während sie gleichzeitig die Schweiz diskursiv nach außen abgrenzen, nicht um die Grenzen zu schützen (wie in den französischsprachigen für die Schweiz geschriebenen Ausgaben), sondern um eine herausgehobene, quasi zeitlose Position in den historischen Verhältnissen zu behaupten. Indem die Romane dies machen, beanspruchen und besetzen sie die Position des/der Anderen der Kultur in der historischen Situation Europas. Die Romane beschreiben damit letztlich die schweizerische Variante des Going Native!
Bibliografie Abgottspon, Elisabeth. »Heidi – übersetzt und verändert von Charles Tritten.« Halter, 2001, 221–235. Abgottspon, Elisabeth. »Charles Tritten.« Historisches Lexikon der Schweiz HLS, Version vom 07.01.2014, https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/047664/2014-01-07/; gesichtet am 29.3.2021. Adamo, Ghania. »Heidi, oder wie ein Waisenkind zur Legende wurde.« SWI swissinfo.ch, Schweizer Perspektiven in 10 Sprachen, 12. Juli 2012, https://swissi nfo.ch/ger/schweizer-mythos_heidi--oder-wie-ein-waisenkind-zur-legendewurde/33045752, gesichtet am 29.3.2021. Francillon, Roger. »Heidis Metamorphosen.« Heidi – Karrieren einer Figur, hg. von Ernst Halter, Offizin, 2001, 237–251. Gros, Christophe: »Heidi – die kleine Berggottheit.« Heidi – Karrieren einer Figur, hg. von Ernst Halter, Offizin, 2001, 115–129. Gyr, Ueli. »Heidi überall. Heidi-Figur und Heidi-Mythos als Identitätsmuster.« Ethnologia Europaea 29, 2, 1999, 75–95.
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Eine andere Interpretation bietet Roger Francillon an, der sich auf die französischsprachigen Romane bezieht. Indem Tritten »die Vereinigten Staaten von Amerika als Repräsentanten der Wirklichkeit außerhalb der Schweiz wählt, will er überdies die gemeinsamen Tugenden der beiden Länder unterstreichen.« (247)
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Gyr, Ueli. »Herzfigur und Markenzeichen. Zur Heidisierung im Schweizer Tourismus der Gegenwart.« Heidi – Karrieren einer Figur, hg. von Ernst Halter, Offizin, 2001, 187–199. Halter, Ernst (Hrsg). Heidi – Karrieren einer Figur. Offizin, 2001. Härle, Gerhard. »Die Alm als pädagogische Provinz – oder: Versuch über Johanna Spyris Heidi.« Erfolgreiche Kinder- und Jugendbücher. Was macht Lust auf Lesen?, hg. von Bernhard Rank, Schneider Verlag Hohengehren, 1999, 59–86. Hermann, Anne. Coming Out Swiss. In Search of Heidi, Chocolate, and my Other Life. The University of Wisconsin Press, 2014. Leimgruber, Walter. »Heidi – Wesen und Wandel eines medialen Erfolges.« Heidi – Karrieren einer Figur, hg. von Ernst Halter, Offizin, 2001, 167–185. Mergenthaler, Volker. »Woher das Licht kommt. Sakralisierungsstrategien in Heidi’s Lehr und Wanderjahren.« Herkünfte. Historisch ästhetisch kulturell, hg. von Barbara Thums, Volker Mergenthaler, Nicola Kaminski und Doerte Bischoff, Universitätsverlag Winter, 2004, 337–359. N. N. Foreword. Heidi Grows Up, von Charles Tritten, Grosset & Dunlap, 1938, o. S. N. N. »Heidi’s Early Experiences (Book Review).« The Academy, 16.12.1882, 554, 431. Shepard, Lyn. »Heidi, an Ambassador.« Swiss News, October 2005, 40–41. Spyri, Johanna. Heidi kann brauchen, was es gelernt hat. Eine Geschichte für Kinder und auch für Solche, welche die Kinder lieb haben. Friedrich Andreas Perthes, 1881. Spyri, Johanna. Heidi. A Story for Children and Those that Love Children. Translated from the Thirteenth German Edition by Helen Dole, Ginn & Company, 1899. Spyri, Johanna. Heidi’s Lehr und Wanderjahre. Eine Geschichte für Kinder und auch für Solche, welche die Kinder lieb haben. Friedrich Andreas Perthes, 1880. The Federal Department of Foreign Affairs presents House of Switzerland. Heidi: behind the scenes of a Swiss myth, https://houseofswitzerland.org/swissstories/socie ty/heidi-behind-scenes-swiss-myth (29.3.2021). Tomkowiak, Ingrid. »United by God and Nature. Johanna Spyri’s Heidi and Her Relationship with the Elderly.« Connecting Childhood and Old Age in Popular Media, hg. von Vanessa Joosen, University Press of Mississippi, 2018, 26–42. Tritten, Charles. Heidi et ses enfantes. Henri Studer, 1939a. Tritten, Charles. Heidi grand’mère. Flammarion, 1950. Tritten, Charles. Heidi Grandma. Translated by Greg and Claire Baker. Amazon Kindle Ebook. 4. März 2021. Tritten, Charles. Heidi Grows Up. Grosset & Dunlap, 1938. Tritten, Charles. Heidi’s Children. Grosset & Dunlap, 1939b. Ulrich, Anna. »The Author of ›Heidi‹. Johanna Spyri’s Childhood.« New York Times. 6 September 1925, o. S. Wegener, Anna. Karin Michaëlis’ Bibi books: Producing, Rewriting, Reading and Continuing a Children’s Fiction Series, 1927–1953. Frank und Timme, 2021. Wissmer, Jean-Michel. Heidi. Ein Schweizer Mythos erobert die Welt. Schwabe, 2014.
Der ›naive‹ Blick auf die unvergängliche Heimat: Heidi (A 1965) Irina Gradinari
Heidi als filmische Mythologie Die Romane und beeindruckenden historischen Zeitdokumente Heidi’s Lehr- und Wanderjahre und Heidi kann brauchen, was es gelernt hat von Johanna Spyri erfuhren in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine breite filmische Umarbeitung, die den Heidi-Stoff fortdauernd aktualisierte. Das hängt mit dem ästhetischen Potenzial der Werke zusammen, aber auch mit der kollektiven Aufarbeitung der NS-Diktatur in der BRD und im Österreich der Nachkriegszeit und infolgedessen mit dem Aufkommen des Heimatfilm-Genres. Die Heidi-Romane von Johanna Spyri sind selbst bereits Antworten auf die Verunsicherung in der Moderne, verarbeiten sie doch neue Familienstrukturen sowie die Themenbereiche Großstadt und Entwurzelung. Allerdings musste der literarische Heidi-Stoff zunächst nicht zwangsläufig im Heimatfilm verarbeitet werden. Zum Beispiel wurden Spyris Romane 1937 in Hollywood mit dem Kinderstar Shirley Temple in der Hauptrolle verfilmt. Das Drama enthält Elemente von Märchen, Musical, Abenteuerfilm, Slapstick, Kriminalfilm und Actionfilm und damit alle in der Filmkultur der Great Depression erfolgsversprechenden Zutaten (Kasson 2014). Der Heimatfilm der Nachkriegszeit war jedoch das Genre, das dem Heidi-Stoff zum fortdauernden filmischen Erfolg verhalf. Im Rahmen dieses Genres wurde Spyris Heidi neu gelesen und dazu benutzt, den zu jener Zeit politisch ersehnten Ursprungsmythos einer unvergänglichen Heimat zu konstruieren. Zwar ist die Handlung in der neutralen Schweiz angesiedelt, doch es wird in diesen Filmen zu jedem Zeitpunkt deutlich, dass der Ursprungsmythos des deutschen Volkes das Thema ist. Vor allem verbindet das österreichisch-deutsche Remake der schweizerischen Verfilmung aus dem Jahr 1952, Heidi (A 1965, Regie: Werner Jacobs), drei Völker gerade in der im Zweiten Weltkrieg neutralen Schweiz als Ursprung. Der von historischen Gräueltaten unbefleckte Anfang wird dabei in der Natur gesucht, wie er mit dem friedlichen und ewigen Lebensspender, dem Bergsee, dessen Wasser in den Rhein fließt, imaginiert wird (Abb. 1). Über Flüsse und Berge hinweg werden drei deutschsprachige Staaten in einem natürlichen
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Ursprung über staatliche Grenzen und kulturelle Differenzen hinweg verbunden. Zumindest in Form von Bildern, die über den historischen Verlauf wie Berge hinausragen und so auch eine ›heilsame‹ Quelle bilden, gibt es hier ein Gemeinsames, auf das sich diese Staaten besinnen können. All die genannten diskursiv-ästhetischen Phänomene bündelt im Heimatfilm – und darin besteht die Brisanz der Heidi-Filme – die Figur des Kindes. So möchte ich mich vor allem mit dem Kind und seinen medienästhetischen Konsequenzen beschäftigen, die vorwiegend an der Verfilmung von Werner Jacobs aus dem Jahr 1965 diskutiert werden. Das Mythische entsteht dabei nicht im Sinne der bürgerlichen Mythologie Roland Barthes’ – es gibt bei der Figur des Kindes keine ›ursprüngliche‹, denotative Bedeutung –, sondern durch die Genrestrukturen des Heimatfilms, die hier vor allem die besondere visuelle Wirksamkeit der Landschaften und Berge entfalten. Die Mythologie besteht daher in der bildlichen Evidenz einer nie dagewesenen Heimat, in der retroaktiven Erschaffung einer vormals inexistenten Tatsache durch die Kraft der Bilder. In diesem Zusammenhang wird der kindliche Blick auf die Welt zentral, den ich als einen ›naiven‹ Blick definiere, wobei der Begriff bewusst in einfache Anführungszeichen gesetzt wird. Naivität ist in diesem Fall eine Strategie, gesellschaftliche Missstände freizulegen, aber auch zu heilen.
Das Kind als ästhetische Figur Kinder in der Literatur und im Film haben wenig mit ›realen‹ Kindern zu tun, sondern stellen Zukunftsentwürfe einer Gesellschaft dar. Mit dem bekannten DDRDramatiker und Autor Peter Hacks geht es hier also um ein poetisiertes Kind, das existierende Kindheitskonzepte auf Konzepte »eines unschuldigen, nicht festgelegten, zukunftsgerichteten Menschen« erweitert (Hacks, 621). Da den Kindern jedoch die Lebenserfahrung fehlt – sie sind, um es mit den Worten von Hacks zu sagen, »Menschenlehrlinge« (ebd., 617) –, und sie daher im Gegensatz zu Erwachsenen die sittliche »Wahrheit« dem literarischen Werk selbst nicht entnehmen können, muss die Darstellung überdeutlich gezeichnet und eigentlich autoritativ gesetzt werden. Hacks spricht hier beispielsweise von den »gröbsten Unterscheidungen«: »Gerecht soll das Gegenteil von Ungerecht, Haß das von Liebe sein.« (Ebd.) So hat die Kinderliteratur stets einen didaktischen, belehrenden Charakter. Das findet sich durchgehend in allen Heidi-Verfilmungen, die durch eine mehr oder weniger klare Differenzbildung von Stadt und Land, Mann und Frau, Gut und Böse, Jung und Alt, Gesund und Krank, entfremdendem Fortschritt und ersehntem Ursprung gekennzeichnet sind. Dadurch scheint der Film nach der Perspektive Heidis strukturiert zu sein, wobei Heidi-Verfilmungen durchaus keine Kinderfilme im eigentlichen Sinne darstellen. Die meisten Kinderfilme haben eine doppelte Rezeptionsadressierung; deutschsprachige Heidi-Verfilmungen nach 1945 richten
Irina Gradinari: Der ›naive‹ Blick auf die unvergängliche Heimat: Heidi (A 1965)
sich durch das Genre Heimatfilm vor allem an Erwachsene, an die die Sehnsucht nach der verlorenen Heimat adressiert ist. Der US-amerikanische Kultur- und Literaturwissenschaftler Lee Edelman (2005) beschreibt nicht zufällig vor allem anhand von Filmen das Kind (the CHILD) – explizit im Singular mit dem bestimmten Artikel, um die Festlegung der Kinder im ästhetischen und politischen Repräsentationssystem zu signalisieren – als eine ideologische Figur. Das Kind kann eine starke politische Wirkung entfalten, die weit über die Medienbilder hinausgeht, aber unmittelbar mit der Funktion des Kindes in ästhetischen Repräsentationen zu tun hat. Das Kind fungiert im Film nach Edelman als Signifikant der Zukunft, als Zeichen des reproduktiven Futurismus, der aus der Heterosexualität heraus legitimiert wird und zugleich das Fortbestehen der aktuellen Gesellschaft und der Heteronormativität als Garant der Ordnung in der Zukunft sichert. Mit dem Kind wird so die Realisierung gegenwärtiger Sinnkonzepte in der Zukunft imaginiert, bei der es sich tatsächlich um eine Projektion der Vergangenheit auf die Zukunft handelt. Mit dieser Operation bekommt die Geschichte ein Ziel, das in einer besseren, helleren Zukunft der aktuellen Gesellschaft besteht. Diskursiv wird so ein Begehren nach Unsterblichkeit, Gemeinschaftlichkeit und Identität gestiftet, auch jegliche Art von Ideologie kann durch das Kind als zukunftsfähig legitimiert werden. Kinder als Projektionsfiguren dürfen im Gegenzug nicht sexualisiert oder pathologisiert werden, um diese ideologische Funktion zu erfüllen. Das machen auch die Heidi-Filme deutlich, die Heidi als ideales, hübsches Kind inszenieren, das immer pflegeleicht, selbstständig und guter Laune ist und nie etwas fordert, was von den Erwachsenen auch nicht erwünscht ist. Mit Heidi werden aber auch ganz konkrete kulturelle Vorstellungen dazu sichtbar, wie das ideale Kind auszusehen hat. Die Hollywood-Heidi hat perfekte Locken, wodurch sie einer niedlichen Puppe ähnelt (Abb. 2). Zu dieser Zeit gibt es noch keinen richtigen Kinderfilm in Hollywood – selbst Animationsfilme richten sich mehrheitlich an Erwachsene –, und so wird Heidi hier wie eine Erwachsene gestylt, was bei einem kleinen Mädchen diesen puppenhaften, ja künstlichen Effekt zur Folge hat. In der schweizerischen Schwarz-Weiß-Verfilmung von Luigi Comencini aus dem Jahr 1952 (Abb. 3) hat Heidi (Elsbeth Sigmund) schwarze Haare und erscheint als Kontrastfigur zur blonden Frau Rottenmeier, die das deutschnationalsozialistische Denken verkörpert. Der Film grenzt sich so visuell von der deutschen NS-Vergangenheit ab. In der österreichischen Produktion des deutschen Regisseurs Werner Jacobs von 1965, die auf den Film von Comencini referiert, wird Heidi (Eva Maria Singhammer) blond – bis heute eine gängige Vorstellung von deutschen Kindern (Abb. 4). Andeutungen auf die nationalsozialistische Gesinnung Frau Rottenmeiers werden jedoch gelöscht. Die Heidi-Filme sind aber nicht in die Zukunft gerichtet – auch wenn sie diese symbolische Implikation trotzdem haben –, sondern in die Vergangenheit, in der
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die verlorene Heimat gesucht wird. Die Funktion der Figur des Kindes variiert so offensichtlich je nach dem konkreten Genre, in dem sie Einsatz findet. Wenn man so will, schwächt jedes Genre jene universalistische Bedeutung des Kinds als Zukunftssignifikant etwas ab und koppelt das Kind dafür mit der Genre-Ideologie, in diesem Fall mit dem Topos der unvergänglichen Heimat, die Gegenstand der HeidiFilme ist. Es gibt noch eine weitere medienästhetische Dimension, die Hacks und Edelman nicht im Fokus haben: den Bezug zu aktuellen kulturellen Diskursen. Der Film bezieht sich durch die Technik und Ästhetik immer auf die Zeit seiner Darstellung, aber auch mit seinen Themen (Mai und Winter 2006). Der Film, der einen großen Arbeits- und finanziellen Aufwand bedeutet, möchte diskursästhetisch immer für das Publikum aktuell sein, um es ins Kino zu locken. So ist das Kind nicht allein als eine Projektionsfigur für die gesellschaftliche Zukunft zu verstehen, sondern auch – gerade weil es um einen Film geht – Verhandlungs- und Verdichtungsmedium aktueller Diskurse, welche in Verbindung mit Idealvorstellungen gleich als eine Art Wunscherfüllung erscheinen. So verarbeiten die Heidi-Filme der 1950er und 1960er Jahre auch das Thema der deutschen Vertriebenen aus den Ostgebieten, auch wenn davon im Film nicht die Rede ist. Die historische Situation ermöglicht es, den Film neu zu lesen, verhandelt er doch eine kleine deutsch-deutsche Differenz und das Fremdsein an einem neuen Ort, obwohl sich die Sprache nur minimal unterscheidet. Auch wenn die Auseinandersetzung mit dem Anderen nach Maja Figge (2015) ein struktureller Bestandteil des Heimatfilms ist, ist diese diskursive Bedeutung der 1950er und 1960er Jahre nicht festgeschrieben. Das macht zum Beispiel der Vergleich mit der aktuellen Verfilmung aus dem Jahr 2015 deutlich, in der Heidi (Anuk Steffen) aus der Perspektive der Diversität, etwa als Tomboy, gestaltet wird (Abb. 5). So geht eine eindeutige Identifizierung eines Kindes als Mädchen und damit auch die Festlegung auf der heterosexuellen Matrix zunächst verloren (Halberstam). Neben der Absage an heteronormative Weiblichkeitskonzepte ist Heidi visuell auch eine ethnische Andersheit eingeschrieben, etwa der Bezug zu Sinti*zze und Rom*nja, wodurch nun zugleich die intersektionale Situierung eines Subjektes und damit verbundene partikulare Interessen in einer Mehrheitsgesellschaft mitverhandelt werden. Heidi wird zum Anderen, das die der Gesellschaft zugrunde liegenden gewaltsamen Strukturen aufdeckt. Étienne Balibar spricht von einem Zwang zu einer Gemeinschaft, der vor allem die Opfer, also die Anderen, sichtbar macht (24). So führt Heidi die faschistische Beschaffenheit der deutschen Gesellschaft vor, die vor dem Hintergrund der historischen Kulisse zugleich auch als Erklärung für die spätere NS-Diktatur verstanden werden kann. Mit Heidi wird so eine alternative Entwicklung Deutschlands denkbar, hätte es seinen eigenen Umgang mit dem Anderen reflektiert. In den 1950er und 1960er Jahren geht es um Heidi als das Eigene, das die Fremderfahrung macht.
Irina Gradinari: Der ›naive‹ Blick auf die unvergängliche Heimat: Heidi (A 1965)
Wir haben damit also mindestens drei Dimensionen, mit denen die Figur des Kindes ins mediale Feld rückt. Zum einen geht es um die etablierte ideologische Vereinnahmung der Kinder. Sobald die Kinder im Film oder in der Literatur thematisiert werden, wird zugleich die gesellschaftliche Zukunft vor dem Hintergrund der Heteronormativität mitverhandelt. Eine weitere Dimension berührt den Darstellungsmodus, der sich durch eine besondere, da kindliche Perspektivierung der Welt auszeichnet, sobald die Kinder Hauptfiguren sind. Zuletzt geht es um die Verarbeitung aktueller Diskurse und somit um eine metaphorische Lesart Heidis. Alle drei Dimensionen bündelt die Genre-Logik des Heimatfilms.
Heidi als Heimatfilm Den Rahmen für die Inszenierung eines ›naiven‹ Blicks bietet der Heimatfilm, der sich selbst durch mythische Strukturen auszeichnet: Zum einen geht es darum, eine nie dagewesene Heimat zu (er)finden. Nach Johannes Pause fungiert die Heimat als »räumlicher Garant der Verbundenheit mit sich selbst, mit dem eigenen Ursprung und den Menschen, mit denen dieser geteilt wird: Sie ist Residuum einer vermeintlich unverfälschten, durch Tradition und Kollektividentität verbrieften Herkunft.« (Pause, 273) Im Film erscheint sie daher nicht einfach als gezeigter Ort oder als Bild – das reicht nicht aus –, sondern als Effekt komplexer Semiotisierungsprozesse. Die Heimat als solche und vor allem heimatliche Gefühle der Figuren als Zeichen der Verbundenheit mit der eigenen Herkunft, durch die dann die Heimat definiert wird, werden durch die Handlung konstituiert. Denn die Heimat kann erst durch den Verlust erfahren werden. Das charakterisiert alle Heidi-Verfilmungen – der Heimatverlust konstituiert die Sehnsucht nach der Heimat und so auch die Heimat als solche. Allerdings zeichnet sich der Heimatfilm nach Pause durch Widersprüche aus, da der Film als Medium selbst ein Produkt von Modernität und Technik darstellt. Im Heimatfilm wird jedoch die mediale Modernität ständig kaschiert und intradiegetisch als Gegensatz zur Heimat entworfen, was auch in allen Heidi-Verfilmungen der Fall ist. Diese Tradition ist bereits im Bergfilm, dem Vorläufer des Heimatsfilms, als »Imagination des völkischen Ursprungsraums« (ebd.) zu finden, zum Beispiel in den Filmen von Luis Trenker (Rentschler; Riemann). Der Heimatfilm der 1950er Jahre verarbeitet dabei die Unmöglichkeit der Widerherstellung einer nationalhistorischen Kontinuität, die für die junge Republik notwendig, jedoch durch das erlebte NS-Regime unmöglich ist. Es geht also im Heimatfilm nach Barbara Schrödl um »Vorschläge zur Neukonstruktion der Nation« (29), zugleich ist die Heimat nach Jürgen Trimborn (29; auch Höfig 1973) immer schon ein utopischer Ort, ein Ort der Trauer und Sehnsucht und des unerfüllten Verlangens: »Zusammenfassend lässt sich feststellen, daß sich in den Heimatbildern des Kinos der fünfziger Jahre die Heimat widerspiegelt, die die Deutschen gerne gehabt hätten, nicht die, die sie tat-
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sächlich hatten.« (Trimborn, 33) Hinter der Fassade der geborgenen Heimat scheint, so Trimborn weiter, immer auch die Problematik der beschädigten und verletzten Heimat auf, die auf die politische Situation der fünfziger Jahre zurückführt. Auch in Heidi-Verfilmungen ist das Trauma – als Elternverlust – ein Thema, das allerdings nur wenig Raum einnimmt. Zentral wird das Verlusttrauma der Heimat, das erst durch die Narration konstituiert und so durch Zuschauende erfahren wird. Ein weiteres Merkmal des Heimatfilms der 1950er Jahre ist laut Trimborns Studie der bereits angesprochene Antagonismus von Stadt und Land, der für Heidi-Filme strukturbildend erscheint. Das Land wird gegenüber der Stadt als idyllischer Ort inszeniert, wobei die Heimat auf dem Land liegt. Dabei stellen nach Trimborn die Vater-Kind-Beziehung und das Fehlen der Mutter dar, was in der Nachkriegszeit als Kompensation für den Männermangel in der Öffentlichkeit, aber auch als Abwehr der aktiven Rolle der Frau im und nach dem Krieg zu verstehen ist. Die Vaterfigur steht im Film für die konservative Ordnung. Auch in den Heidi-Verfilmungen fehlt die leibliche Mutter, allerdings wird auch die Vaterfigur massiv geschwächt. Heidi ist Waise, Klaras Vater ist ständig unterwegs. Ordnung stiftet die vorherige Generation – Großvater in den Bergen, Großmutter in der Stadt –, die selbst mit dem Ursprung assoziiert werden kann. Vor allem in Bezug auf die 1950er und 1960er Jahre kann die fehlende Elterngeneration als jene markiert sein, die im Krieg gefallen ist, was auch den Bezug zum Heimatverlust durch den Krieg herzustellen ermöglicht. Zum Heimatfilm gehört das traditionelle Frauenbild, das interessanterweise in Heidi nicht im Zentrum steht. Allerdings ist die Aufspaltung der symbolischen Mutterfigur in eine gute Großmutter und eine böse oder zumindest unzuverlässige Tante Dete sowie die Gouvernante Frau Rottenmeier zu finden, was auf den Projektionsmodus des Weiblichen verweist – sie stehen im Dienst der männlichen Subjektivität, hier im Dienst der entworfenen Ordnung. Eine solche Aufspaltung des Weiblichen hat eine große Tradition im Film, wie insbesondere von Annette Brauerhoch (1996) ausgearbeitet wurde. Zum Heimatfilm gehören laut Trimborn komische Elemente, die Heidis Kindheit charakterisieren, wie auch das Happy End. Im Heimatfilm bedeutet das Happy End eine Entscheidung für die Tradition, die mit einer heterosexuellen Paarbildung – einer Art Konsolidierung des Gesellschaftlichen um die Reproduktion herum (Cavell) – einhergeht. Auch die Heidi-Filme haben ein Happy End, in dem die aufgezeigten Probleme, etwa der Heimatverlust und das Trauma der Fremderfahrung, symbolisch geheilt werden: Die Heimat wird für die Zuschauenden als Sehnsuchtsort konstituiert und mit Heidi auch begehbar. Der Alm-Öhi, der selbst der Ausgestoßene war, versöhnt sich mit der Gemeinschaft, Klara wird wieder gesund, und Peter lernt lesen. Die Heidi-Filme der Nachkriegszeit sind dabei in Abgrenzung zum NS-Jugendfilm zu verstehen. Daher spielt das Geschlecht des Kindes eine erhebliche Rolle für die Popularität der Filme, auch wenn Heidi ein kleines Mädchen bleibt. In
Irina Gradinari: Der ›naive‹ Blick auf die unvergängliche Heimat: Heidi (A 1965)
den Kriegsfilmen der Nachkriegszeit etabliert sich die Tradition, eine pazifistische Zukunft mit Töchtern und eine wehrhafte Zukunft mit Söhnen anzudeuten (Gradinari). Frauenfiguren als Symbol eines neuen Anfangs, des Friedens und des Fortbestehens der Nation spielen im deutschen Kriegsfilm daher bis heute eine bedeutende Rolle. Die Heidi-Verfilmungen nach 1945 sind dabei doppelt verortet: Mit dem Heimatgenre wird die Geschichte in der Nachkriegszeit angesprochen; als Verfilmung der Romane verweisen die Werke jedoch auf die Vorkriegszeit, auf eine vergangene Epoche, die nun mehr oder weniger mit der Gegenwart zusammenfällt. Diese Doppelausrichtung spielt der Film von 1965 als eine konfligierende zeitliche Struktur aus: Die Alm erscheint zeitlos, hauptsächlich wird aber der Eindruck erweckt, es gehe um eine historische Verfilmung. Im »Dörfli« sehen wir einzelne Anzeichen von Modernität, etwa eine Kasse im Laden oder eine Armbanduhr, allerdings sind sie leicht zu übersehen. Alle, die auf die Alm gehen, gehören einer anderen Zeit an als der Opa und Heidi, welche in Tracht erscheinen. In Frankfurt a.M. kommt die Handlung in der Gegenwart an, aber auch nicht sofort. Zunächst verbleibt Heidi im Haus Klaras, in dem mit seinem Interieur, einer Gouvernante und dem Diener das 19. Jahrhundert aufgerufen wird. Erst wenn Heidi das Haus verlässt, wird sie mit modernen Verkehrsmitteln und modisch gekleideten Menschenmassen konfrontiert. In dieser Verfilmung werden so drei Zeitebenen aufgemacht, wobei vor allem das Haus als Aufbewahrungsort der Traditionen und Werte konstituiert wird, das auch eine historische Kontinuität im Kreise der Familie ermöglicht und ein Stück Schutz gegenüber der Modernisierung, Technisierung und Mobilität bietet, die als Überforderung der Sinne inszeniert werden. Heidi erteilt jedoch auch dieser Vorstellung vom Haus als Schutz eine Absage – sie kehrt in die Berge zurück, die im Gegensatz zum Haus nie vergehen können.
Der ›naive‹ Blick Alle diese Strukturen ermöglichen den ›naiven‹ Blick auf die Gegenwart, der durch die Referenz auf die Romane auch historisch legitimiert wird. Mit den Kindern wird ein pseudo-mimetischer Darstellungsmodus initiiert, mit dem die Fiktionalität des Films verlassen wird und der Film als Erfahrungsraum, der vielleicht etwas ›realer‹ oder realistischer wirkt, erscheint. (Hierzu forschten bereits Béla Balázs und André Bazin, ein Überblick findet sich bei Henzler.) Diese Wirkung entsteht durch das unprofessionelle Schauspiel der Kinder im Film – sie spielen so angeblich sich selbst, wodurch der ›naive‹ Blick als Zusammenfallen von Signifikanten und Signifikaten hervorgebracht wird. Der ›naive‹ Blick beruht dabei auf den bereits erwähnten, genrespezifisch konkretisierten »gröbsten Unterscheidungen«. Durch die binären Strukturen wird jegliche Instabilität der Ordnung vermieden und intradiegetisch
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eine klare Weltstruktur gebildet, die es ermöglicht, sittliche ›Wahrheiten‹ zu setzen. Die Zuschauenden können sich darauf einlassen, weil das Kind als Hauptfigur einen proto-dokumentarischen Darstellungsmodus suggeriert. Die Binarität der Filmstruktur wird von ihnen aber auch deshalb akzeptiert, weil den Zuschauenden durch Heidi als Identifikationsfigur nahegebracht wird, es ginge um den Blick eines Kindes auf die Welt der Erwachsenen. Zentral ist dabei die Entpolitisierung, die den Heimatfilmen teilweise innewohnt. Mit dem Fokus auf die Kinderwelt geht jedoch die Verdrängungsstruktur der Heimatfilme in einem gewissen Sinne auch wieder verloren, und zwar das Aufscheinen des Traumas, das die Heimatfilme in der Regel auszeichnet. Indem die Handlung visuell Heidi folgt, während die Welt der Erwachsenen (und alle damit verbundenen Probleme und Traumata) in der Regel allein in der Sprache artikuliert wird, wird das Visuelle über dem Symbolischen angesiedelt, dominiert das Bild also die Sprache. Die Heidi-Filme vollziehen so eine psychologische ›Verflachung‹. Sie fixieren bildlich ein einziges Begehren – die Sehnsucht nach der Heimat, die durch das Kind weder politisch noch erklärungsbedürftig erscheint. Der ›naive‹ Blick engt also die Perspektive auf die Welt ein (Balázs, 59), woraus eine Enthistorisierung von Klassenantagonismen, Familienstrukturen und sozial wirksamen Differenzen (wie Gender, Gesundheit, Nation) hervorgeht. Feministische angelsächsische Blicktheorien haben vor allem auf den Blick als Machtstruktur hingewiesen (Mulvey). Auch die Blickstruktur in Jacobs’ Verfilmung ist von Macht durchsetzt, wird hier doch ein hierarchischer Blick der Erwachsenen auf die Kinder sowohl hervorgebracht als auch durch die Missverständnisse Heidis transparent gemacht. Zu beobachten ist eine Aufspaltung des Blickes durch die asymmetrische Informationsaufteilung unter den Figuren, die die gesellschaftlichen Probleme von Heidi regelrecht abspaltet. Soziale Konflikte oder Missstände werden stets in Abwesenheit Heidis thematisiert, wodurch die Zuschauenden gegenüber Heidi in eine allwissende Position versetzt werden. Zum Beispiel erfahren wir nur in ihrer Abwesenheit, dass dem Alm-Öhi der Brand im Dörfli angelastet wird und dass Heidi Waisenkind ist. Diese Strategie ermöglicht einerseits, mit Heidis Augen zu sehen, zugleich aber auch, auf sie herabzublicken, sie als ›naiv‹ und ›unwissend‹ einzustufen. Es handelt sich also um einen Machtblick, der sowohl durch den Blick des Kindes als auch durch den Blick auf das Kind erzeugt wird. Aus dieser Diskrepanz entsteht in der Rezeption ein Machtgefühl, über den Kopf des Kindes die Geschehnisse zu überblicken. Der ›naive‹ Blick bringt aber nicht nur eine Befriedigung durch die Kontrolle über die Handlung, sondern auch einen ›frischen‹ Blick auf die gezeigte Gesellschaft, weil die Kinder unwissend handeln und so die Erwartungen der Erwachsenen verfehlen. Durch die Verfehlungen wird den gesellschaftlichen Zuständen die Selbstverständlichkeit genommen, so als ob wir mit Heidis Augen einen Blick darauf werfen könnten. Das wird zum Beispiel deutlich, wenn Heidi vergeblich
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versucht, die Gebirge in der Stadt aus dem Fenster oder vom Kirchenturm zu erblicken. So erfahren die Zuschauenden aus Heidis Perspektive, wie beengend es sich anfühlt, in einer großen Stadt zu leben. Oder ein anderes Beispiel: Wenn Heidi in Frankfurt Brötchen für Peters blinde Großmutter sammelt, bis dann eine Dienerin das ganze vertrocknete Brot bei ihr im Zimmer findet, werden damit Klassenunterschiede markiert, die sonst nicht auffallen würden. Dadurch entstehen Momente der Rührung, die durch die Aktivierung der Erinnerungen von Zuschauenden an eigene Kindheitserfahrungen bedingt sind. Annette Kuhn schlägt vor, Filme mit Kindern über eine andere Rezeptionsaktivität zu erschließen. Kinder aktivieren demzufolge nicht die Triebe und so das Unbewusste, sondern das Vorbewusste, das bei Sigmund Freud mit den Aktivitäten und der Werdung des Ichs verbunden sind, ohne dass sie wie das Unbewusste verdrängt werden. Die Inhalte des Vorbewussten können vergessen werden, sie sind also bewusst, wenn auch nicht präsent. In Anlehnung an Donald W. Winnicotts Theorie (vgl. auch Bergala) argumentiert Kuhn, dass auch die Zuschauenden durch die Kinder jenen Zustand der Transition (betweenness, transition space) verspüren können, die sie einst selbst erlebt haben – die Ausdifferenzierung des Ichs durch die Trennung von der Mutter mit Hilfe der Übergangsobjekte, welche zugleich dem Inneren und Äußeren angehören und noch nicht ganz symbolisiert werden können. Diesem Ansatz folgend, konstituieren die Filme mit der Heidi-Figur ein Übergangsobjekt für die Zuschauenden, das die Kindheit wieder zum Leben erweckt und mit dem die Welt aus der Sicht des Noch-Nicht-Symbolischen betrachtet werden kann. Da den Zuschauenden zugleich immer auch die erwachsene Perspektive zur Verfügung steht, oszillieren sie stets zwischen dem Symbolischen und dem Noch-Nicht-Symbolischen. Die eigentümliche Wirkung der Heidi-Filme beruht mithin darauf, dass sie die Kindheit nicht nur zeitlich durch die Erinnerungen wachrufen, sondern auch örtlich durch das Genre Heimatfilm in den Bergen fixieren. Die Berge entziehen sich der kulturellen Semiotisierung, da sie in filmischen Inszenierungen semantisch leer und zeitlos, daher auch erhaben erscheinen und jenseits des Geschichtlichen bleiben. In den Bergen nähert sich der Film ebenfalls einem dokumentarischen Darstellungsmodus an, etwa im Rahmen eines mimetischen Abbildmodus. Das ist insofern für die Rezeptionserfahrung als besonders zu verzeichnen, weil Kuhn in ihrem Ansatz der Transition zum Vorsymbolischen vor allem das Heim als Ort im Fokus hat. Die Heidi-Filme führen jedoch die Kindheitserfahrung mit der Erhabenheit der Gebirge zusammen. In diesem Zusammenhang erscheinen die früheren Überlegungen von Gertrud Koch von Bedeutung, derzufolge die Faszination des Kinos auf der vorsymbolischen, vorsprachlichen Kraft der Kinobilder basiert. Koch rekurriert dabei auf phänomenologische Überlegungen von Theodor W. Adorno in Filmtransparente, welcher dort selbst auf die Erfahrung von Gebirgen und Landschaften zu sprechen kommt, die auch durch den Film vermittelt werden können: »Kunst wäre der Film als objektivierende Wiederherstellung dieser Weise der Erfah-
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rung. Das technische Medium par excellence ist tief verwandt dem Naturschönen.« (Die Zeit 47/1966) Gebirge und Landschaften, aber auch Meer oder Wald – also alle kulturell und historisch nicht codifizierbaren Bilder – haben eine indexikalische Qualität und ermöglichen es so, den Film selbst in seiner Materialität als ›reines Bildmedium‹ zu erfahren, was Zuschauende symbolisch nicht erfassen können. Die Bilder wirken im Sinne einer vorsymbolischen Affizierung, ohne einen Sinn zu entfalten. Im Film findet also permanent ein Wechsel des Darstellungsmodus statt, der die Fiktion mit verschiedenen Intensitäten des ›Dokumentarischen‹ versieht. Über die Kinder wird dabei ein Transitionsmodus aktiviert und zugleich konstituiert Heidi die Heimat zeitlich – jede Kindheit ist als Metapher für die Heimat als Ursprung des Individuums zu verstehen. Über die Berge wird die Heimat aber auch topografisch erfasst und somit außerhalb von Familienstrukturen und Kindheit fixiert. Die HeidiFilme produzieren somit eine besondere Heimat-Allegorie, die einerseits jenseits kultureller, weitgehend nationaler Codierungen und auch jenseits menschlicher Geschichte liegt, andererseits zugleich auch als Ort begehbar erscheint. Die filmische Heidi-Mythologie entfaltet ihre Wirkung also nicht nur in die Zukunft hinein, sondern vor allem in der an der Schnittstelle von Heimatfilm und Kindheit performativ hervorgebrachten Unvergänglichkeit der Heimat, die nun nicht nur zeitlich – als nie aufholbarer Ursprung –, sondern durch den ›naiven‹ Blick topografisch in den Bergen fixiert wird, welche jederzeit, auch im Erwachsenenalter, aufgesucht werden können, um jegliche Art von Traumata zu heilen. Die Heidi-Filme, so ließe sich pointiert zusammenfassen, ›kulturalisieren‹ die Sehnsucht nach der Unschuld der Kindheit, nach einem Zustand ›vor‹ jenem großen historischen Sündenfall, der in der Handlung der Filme noch nicht stattgefunden hat. In weitaus weniger unschuldigem Sinne, als dies bei anderen Kinderfilmen der Fall ist, richten sie sich somit immer auch an Erwachsene, deren Blick auf die Kindheit sie gerade dadurch politisieren, dass sie ihn strategisch verharmlosen. Der ›naive‹ Blick entfaltet dabei eine besondere Lust, bei der sich Zuschauende als Kinder fühlen und über die Rückkehr in die Kindheit fantasieren können.
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Abbildung 1: Heidi 1965, 00:11:46.
Abbildung 2: Heidi 1937, 00:04:51; Abbildung 3: Heidi 1952, 01:29:15.
Abbildung 4: Heidi 1965, 00:56:46; Abbildung 5: Heidi 2015, 1:38:05.
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Bibliografie Adorno, Theodor W. »Filmtransparente. Notizen zu Papas und Bubis Kino.« Die Zeit 47/1966 vom 18. November, https://zeit.de/1966/47/filmtransparente. Béla Balázs. Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films [1924]. Suhrkamp, 2001. Bergala, Alain. »Der filmische Schaffensprozess und das Spiel in der Kindheit. Zu Pierrot Le Fou von Jean-Luc Godard.« Kino und Kindheit, hg. von Bettina Henzler und Winfried Pauleit, Bertz und Fischer, 2017, 117–128. Brauerhoch, Annette. Die gute und die böse Mutter. Kino zwischen Melodrama und Horror. Schüren, 1996. Cavell, Stanley. Pursuits of Happiness: The Hollywood Comedy of Remarriage. Harvard UP, 1981. Edelman, Lee. No Future. Queer Theory and the Death Drive. Duke UP, 2005. Figge, Maja. Deutschsein (wieder-)herstellen: Weißsein und Männlichkeit im bundesdeutschen Kino der fünfziger Jahre. transcript, 2015. Freud, Sigmund. »Das Ich und das Es.« Gesammelte Werke, Bd. 13 (1913–1917). Fischer, 1999, 235–289. Gradinari, Irina. Kinematografie der Erinnerung. Bd. 1: Filme als kollektives Gedächtnis verstehen. Springer, 2020. Hacks, Peter. »Was ist ein Drama, was ist ein Kind?« Die Massgaben der Kunst. Gesammelte Aufsätze 1959–1994, hg. von Peter Hacks, Edition Nautilus, 1996, 609–623. Halberstam, Jack. Female Masculinity. Duke UP, 1998. Henzler, Bettina. »Kino, Kindheit, Filmästhetik – Ein Forschungsfeld.« Kino und Kindheit. Figur – Perspektive – Regie, hg. von Bettina Henzler und Winfried Pauleit, Bertz und Fischer, 2017, 10–29. Henzler, Bettina und Winfried Pauleit (Hg.). Kino und Kindheit. Figur – Perspektive – Regie. Bertz und Fischer, 2017. Höfig, Willi. Der deutsche Heimatfilm 1947–1960. F. Enke, 1973. Kasson, John F. The Little Girl Who Fought the Great Depression. Shirley Temple and 1930s America. W. W. Norton, 2014. Koch, Gertrud. »Was ich erbeute, sind Bilder«. Zum Diskurs der Geschlechter im Film. Stroemfeld, 1989. Kuhn, Annette. »Cinematic Experience, Film Space, and the Child’s World.« Canadian Journal of Film Studies 19, 2, 2010, 82–98. Mai, Manfred und Rainer Winter. »Kino, Gesellschaft und soziale Wirklichkeit. Zum Verhältnis von Soziologie und Film.« Das Kino der Gesellschaft – die Gesellschaft des Kinos. Interdisziplinäre Positionen, Analysen und Zugänge, hg. von dies., Herbert von Halem, 2006, 7–23. Mulvey, Laura. »Visuelle Lust und narratives Kino.« Weiblichkeit als Maskerade, hg. von Liliane Weissberg, Frankfurt a.M., 1994, 48–64.
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Pause, Johannes. »Der Chor der Heimat. Arnold Ulitz, Luis Trenker und der frühe deutsche Tonfilm.« Heimat in Literatur und Kultur: Neue Perspektiven, hg. von Thorsten Carstensen und Oliver Kohns, Fink, 2022, 273–291. Rentschler, Eric. »There’s No Place Like Home. Luis Trenker’s ›The Prodigal Son‹ (1934).« New German Critique 60, 1993, 33–56. Riemann, Andreas. »Die Funktionalisierung der Priesterfigur im Bayerischen Heimatfilm.« Medien–Texte–Kontexte, hg. von Stephanie Großmann und Peter Klimczak, Schüren, 2010, 229–240. Schrödl, Barbara. »Heimatfilme und die Neuordnung des Nationalen.« FKW. Zeitschrift für Geschlechterforschung und visuelle Kultur 37, 2004, 29–37. Trimborn, Jürgen. Der deutsche Heimatfilm der fünfziger Jahre. Motive, Symbole und Handlungsmuster. Teiresias, 1998.
Filmografie Heidi. Directed by Alain Gsponer, Claussen Wöbke Putz Filmproduktion, Zodiac Pictures International, Schweizer Radio und Fernsehen (SRF), StudioCanal, und Teleclub AG, 2015. Heidi. Directed by Allan Dwan, Twentieth Century Fox, 1937. Heidi. Directed by Luigi Comencini, Praesens-Film/Schweizer TV SF, 1952. Heidi. Directed by Werner Jacobs, Sascha-Verleih/Constantin Film, 1965.
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Das »Wunder an unserem Kinde« Körper, Dis_ability, Krankheit in Heidi-Comics – am Beispiel Klara Marina Rauchenbacher
Einleitung In Johanna Spyris Romanen Heidis Lehr- und Wanderjahre (1880) und Heidi kann brauchen, was es gelernt hat (1881) ist die Diskussion von Körpernormen bzw. die (genderpolitische) Normierung von Körpern und deren binäre Klassifizierung als gesund oder krank omnipräsent. Edith Huemer spricht etwa dezidiert von »Heidi zwischen Pathologisierung und Selbstoptimierung« (69). Verhandelt wird dies insbesondere an den als weiblich identifizierten Körpern – zu denken ist etwa an Klaras (psychosomatisch bedingte) Parese, Heidis Heimweh nach der Alp oder die Blindheit von Peters Großmutter. In meinem Beitrag zu Wiedersehen mit Heidi/Re-reading Heidi untersuche ich ausgehend von Forschungen zu Körpern im Medium Comics1 die Auseinandersetzung mit Krankheit bzw. Dis_ability2 in Comics-Adaptationen der Heidi-Romane und konzentriere mich dabei auf die Figur Klara. Die folgenden Ausführungen tragen solchermaßen zu einem Verständnis der Rezeptionsgeschichte der Heidi-Romane sowie Modi der Re-Medialisierung3 bei; zum Wissen über Repräsentationen von Krankheit und Dis_ability aus kulturwissenschaftlicher Perspektive sowie zu einer Einordnung der analysierten Comics in das Feld der Graphic Medicine. Dieses gewinnt innerhalb Comics-Produktion und -Forschung zusehends an Relevanz und
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Die Pluralform bezeichnet hier und dann, wenn sie mit Singularverb kombiniert ist, das Medium Comics (McCloud, 9; Chute 2008). Die Schreibweise dis_ability (u.a. Köbsell) verweist anhand des Unterstrichs auf Zwischenräume und Unbestimmtheitsstellen und – in Anlehnung an die etablierte Bedeutung in den Gender Studies – auf eine Subversion binärer Konstrukte bzw. zeigt (und öffnet) einen (Zwischen)Raum durch das gleichsam unterstrichene Spatium. Auch Dan Goodleys dis/ability legt das Augenmerk auf »the interplay between ›normality‹ and ›disability‹« (Waldschmidt, 26; Goodley) und im Zuge dessen auf das verbindende und trennende Moment. Vgl. zu Re-Medialisierungsprozessen im Medium Comics v.a. Sina.
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ist zudem wesentlicher Teil der Illness bzw. Dis_ability Studies. Leitfragen sind: Wie werden Krankheit/Dis_ability (nicht) gezeigt? Welche subversiven Lesarten ermöglichen Comics? Wie werden genderpolitische bzw. intersektionale/interdependente Strukturen verhandelt?
Analysematerial Die hier besprochenen Heidi-Comics bespielen bzw. bespielten einen populären, kommerziellen Ansatz, der Natur und Landleben idyllisiert und stereotype Figuren konstruiert. Ausgehend von der noch zu diskutierenden subversiven Dimension des Mediums sind diese Comics jedoch durchaus diverser, als es auf den ersten Blick erscheinen mag und leisten einen aufschlussreichen Beitrag zur Heidi-Rezeption. Im Bastei-Verlag erschienen in den 1970er und 1980er-Jahren drei Serien (sowie darüber hinaus diverse Sammel- und Sonderhefte),4 die populär vermarktet wurden. Gleichzeitig sind diese Publikationen auch ein Beispiel dafür, wie schwierig sich die Archivierung und Sammlung von Comics gestaltet. So kann der Verlag selbst, nicht zuletzt auch aufgrund verlagsorganisatorischer Gegebenheiten, keine detaillierte Auskunft geben.5 Erhältlich sind die Hefte – wenn überhaupt – nur mehr vereinzelt und verstreut, oft in schlechtem Zustand. Die zwischen 1977 und 1981 in 179 Heften erschienene Serie folgt der bekannten und – für die Heidi-Rezeption im deutschsprachigen Raum – zentralen, japanischen Anime-Serie (1974; auf Deutsch Alpenmädchen Heidi, erstausgestrahlt im ZDF zwischen 1977 und 1978) des Studios Zuiyo Enterprises (heute: Nippon Animation), die als »ikonisch und populärkulturell vermutlich breitenwirksamste Inkarnation« Heidis (Giesa und Kagelmann, 176) gelten kann. Diese 179 Hefte begründen die spezifische Heidi-Ästhetik und deren Ikonisierung im Sinne der cuteness culture (Kawaii).6 Sie unterscheiden sich grundlegend von den zwischen 1976 und 1977 sowie 1987 und 1988 erschienenen Bastei-Comics, die eine deutlich westlich-volkstümliche Ästhetik bedienen. Rezeptionsgeschichtlich aufschlussreich sind darüber hinaus die vier Bände der sogenannten Original-Heidi nach Johanna Spyri (1978–1981) des Condor-Verlags,7 die insofern auffallen, als sie die hier tendenziell als Teenager und weniger als Kinder realisierten Figuren nicht nur stereotyp binär geschlechtsdeterminiert zeichnen – 4
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Heidi: Die schönsten Geschichten nach dem berühmten Roman. 21 Hefte. Bastei, 1976–1977; Heidi. 179 Hefte: Mit neuen Geschichten zur Fernseh-Serie (1–168); Ganz neue Geschichten zur Fernseh-Serie (169–179). Bastei, 1977–1981; Heidi: Die schönsten Geschichten nach dem berühmten Roman. 28 Hefte. Bastei, 1987–1988. E-Mail-Korrespondenz mit Lektorat Kinderbuch von Bastei-Lübbe vom 17. März 2021. Vgl. dazu auch den Beitrag von Agnes Bidmon im vorliegenden Band. Die Original-Heidi nach Johanna Spyri. 4 Bände. Condor, 1978–1981. Der Condor-Verlag publizierte 1979 auch zumindest ein Heidi Comic-Sonderheft.
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wie dies etwa auch in den zuletzt genannten Bastei-Folgen der Fall ist –, sondern phasenweise deutlich sexualisieren. Ergänzend herangezogen wird die einbändige englischsprachige Adaptation von Academic Industries (1984), die – im Gegensatz zu den Bastei- und CondorPublikationen – die Romane nicht fortschreibt, sondern episodenhaft zentrale Motive und Handlungsstränge aufgreift.8
Comics-Körper Forschung zur Bedeutung und Funktionalisierung von Körpern ist für das Verständnis des Mediums Comics grundlegend, ist doch ihre Darstellung eine narrative Grundbedingung. Sie auszusparen ist schwierig und wird selten praktiziert. Die Ergebnisse der Comics Studies sind dementsprechend umfangreich (u.a. Beckmann; Chute 2010; El Refaie passim; Frahm passim; Klar 2014; Klar 2011; Krüger-Fürhoff und Schmidt; Rauchenbacher und Serles; Sina; Szép) und können im Folgenden nur in wenigen Aspekten ausgeführt werden. Für die Analyse der HeidiComics ist jedenfalls die Wiederholungsstruktur, die übergreifend als konstitutiv für das Medium gelten kann, entscheidend. Die wiederholten Körper der Figuren müssen in Comics notwendig modifiziert werden; sie werden aus unterschiedlichen Perspektiven gezeigt, werden zugeschnitten, vom Panelrand abgeschnitten, fragmentiert und dann doch wieder vollständig gezeigt (Klar 2011, 2014). Dadurch entsteht in der Multiplikation bzw. der Serie Unsicherheit – auch unterstützt durch ihre abweichenden und nie vollständig identen grafischen Realisierungen. Die Figur der Wiederholung verdeutlicht die Brüchigkeit von (erzählten) Identitäten, das Moment der Differenz als (mögliche) Subversion (Frahm, mit Bezug auf Deleuze) und damit das Angebot, Identität als produktiv-prekär und jenseits eines konservativ-homogenisierenden Verständnisses einzuordnen (Rauchenbacher). Comics erweisen sich bei dieser Betrachtung als ideal für die kritische Diskussion von Körpernormen (u.a. gesund und krank), wie sie in Spyris Romanen verhandelt werden; sie bieten nicht zuletzt durch das Gutter, den Raum zwischen den Panels, offensichtlich Zwischenräume und Platz für antihegemoniale Lesarten. Essentialistische Körperkonzepte und damit gesellschaftlich gesetzte Körpernormen sowie Vorstellungen von Originalität können analysiert und kritisiert werden. Comics können dabei zur Ausbildung einer transmedialen Lektürekompetenz, einer visual literacy dienen. Bei den im Folgenden analysierten Auszügen aus Heidi-Comics sind Wiederholung und Differenz der Körper darüber hinaus deswegen augenfällig, weil diese Comics seriell produziert wurden – und zwar (teils) über längere Zeiträume mit wech8
Heidi. Pocket Classics C-53. Academic Industries, 1984.
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selnden Zeichner*innen, Colorist*innen und Autor*innen bzw. divergierenden ästhetischen Konzepten. Dies kann etwa schon an den Kapiteln der einzelnen Bände der Original-Heidi des Condor-Verlags nachvollzogen werden: Anhand der – durch die Produktionsbedingungen zu begründenden – Differenz der Körper einer Figur (Statur, Haare, Haarfarbe, Gesichtszüge) wird Unsicherheit deutlich, selbst dann, wenn sie nicht inhaltlich angelegt ist. Heidi ist immer eine andere – Peter ist immer ein anderer. Über den Band verstreut, gibt es also – schon durch diese offensichtlich diverse Realisation der Figuren – mehrere Heidis, mehrere Peter usw. Dies tritt produktiv in Konflikt zur Erzeugung von Kohärenz mittels bestimmter visueller Marker: Heidi hat – im Gegensatz zum Roman – blondes Haar und blaue Augen, sie ist stereotyp feminisiert, teilweise sexualisiert. Peter hat dunkelbraunes bis schwarzblaues Haar und Klara ist schwarzhaarig. Die Brüchigkeit und Unsicherheit des Mediums, das Fragmentarische (Rauchenbacher und Serles) und Ambige (Beckmann) – speziell der Körper –, steht stets in einem produktiven Konflikt mit einer narrativen Homogenisierung, die durch die Leser*innen erzeugt wird/werden kann, indem Lücken gefüllt, Zwischenräume ausgedeutet und Panels miteinander verbunden werden. Für das »phenomenon of observing the parts but perceiving the whole« prägte Scott McCloud den Begriff closure (McCloud, 63, Herv. i. O.). Comics »fracture both time and space, offering a jagged, staccato rhythm of unconnected moments.« »But closure allows us to connect these moments and mentally construct a continuous, unified reality« (67; Herv. i. O.); Leser*innen sind dabei »equal partner[s] in crime« (68; Herv. i. O.), denn nur sie überbrücken das Dazwischen. Diese Spannung und deren Produktivität kann vorab an einem prägnanten Beispiel aus dem ersten Band der Original-Heidi (Abb. 1) gezeigt werden. In einer Szene, die in den Romanen nicht vorkommt, wird Fräulein Rottenmeier misogyn klischeehaft als jähzornig, dümmlich und verständnislos gezeichnet. Trotz der wenig elaborierten Darstellung ist diese Szene insofern aufschlussreich, als der/die Körper anhand der Verletzung durch die Bienenstiche gezeigt und gleichzeitig entzogen wird/werden. Was zwischen der zweiten und der letzten Sequenz links passiert, muss von den Leser*innen erschlossen werden – auch, dass es sich immer um die gleiche Figur handelt. Die Leser*innen sehen so Fräulein Rottenmeier, aber sehen sie auch nicht.
Marina Rauchenbacher: Das »Wunder an unserem Kinde«
Abbildung 1: Fräulein Rottenmeier wird von Bienen gestochen – Erschließung/Brüchigkeit der Identität, »Original-Heidi«, Bd. 1, 1978.
Klara und das Gehen Das »Wunder« Der Höhepunkt bzw. eines der »Mountain Miracles« (Koppes, 62) der Heidi-Romane ist zweifellos Klaras wiedergewonnene Fähigkeit zu gehen, die Frau Sesemann, Klaras Großmutter, als von Gott initiiertes »Wunder an unserem Kinde« (Spyri 1881, 172) beschreibt. Der Grund für Klaras Parese muss dabei implizit erschlossen werden. Es
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handelt sich um eine psychosomatische Belastung infolge des Todes der Mutter9 – das Gehen Klaras verweist also vor allem auf eine Verbesserung ihres psychischen Zustands. Die wundersame Heilung wird – wie Frederick Hale betont – im Roman anhand mehrerer Kontexte motiviert: der Alpenluft, dem Sonnenschein, dem ländlichen Essen und schließlich der Initiative Heidis (532). Klaras Verfassung kann jedoch auch als didaktischer Kommentar zu einem Gesundheits- bzw. Krankheitsdiskurs der Entstehungszeit der Romane gelten, in der die Lebensverhältnisse der Stadt in Kritik gerieten und mit der (vermeintlich) heilsamen Natur in Kontrast gesetzt wurden (Leimgruber, 178). Klaras Parese steht dabei durchwegs in Kontrast zum Springen und Rennen auf der Alp, das vor allem in Zusammenhang mit Peter betont wird. Zwar übt der Großvater nach Klaras Ankunft auf der Alm recht bald mit ihr das Stehen und Gehen, doch ausschlaggebend für den Erfolg sind schließlich Peters Eifersucht, die ihn dazu verleitet, den Rollstuhl den Berg hinunterzustoßen, und Klaras Verlangen, gemeinsam mit Heidi die schönen Blumen auf der Weide zu bewundern. Frau Sesemann fasst dies in einer moralisch-belehrenden Lektion für Peter folgendermaßen zusammen: Sieh, wie das Böse, das du thatest, zum Besten ausfiel für die, der du es zufügen wolltest! Weil Klara keinen Sessel mehr hatte, auf dem man sie hinbringen konnte, und doch die schönen Blumen sehen wollte, so strengte sie sich ganz besonders an, zu gehen, und so lernte sie’s und geht nun immer besser, und bleibt sie hier, so kann sie am Ende jeden Tag hinauf zur Weide gehen, viel öfter, als sie in ihrem Stuhl hinaufgekommen wäre. (Spyri 1881, 160) Während Klaras Heilung die beiden Heidi-Romane abschließt, ist dies für die Bastei-Serien und die Original-Heidi des Condor-Verlags – die Romane fortschreibend – vielmehr der Ausgangspunkt für eine Vielzahl von Abenteuern, die die Kinder gemeinsam erleben. Erst eine gehende/laufende Klara scheint normgerechte kindliche Abenteuer und kindliches Spiel zu ermöglichen. So endet etwa bereits der erste Band der Original-Heidi mit Klaras Gesundung; der erste Band der ersten BasteiSerie und auch in der Bastei-Serie nach dem Anime folgen danach noch zahlreiche Abenteuer.
Isolation und Nähe Von besonderem Interesse für das Verständnis von Krankheit und Gesundheit ist zuerst der Rollstuhl, der in Comics als piktorales Zeichen von Dis_ability verstanden werden kann (Ratto) und dem Gehen entgegengesetzt wird. Im ersten Heft der
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Vgl. dazu auch den Beitrag von Victoria Gutsche im vorliegenden Band.
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ersten Bastei-Serie10 wird der Rollstuhl nur einmal vollständig dargestellt (Abb. 2) – vergleichbar mit dem entsprechenden Panel im ersten Band der Original-Heidi (Abb. 3) – nämlich als er von Peter den Berg hinuntergestoßen wird. Deutlich wird auch, dass der Rollstuhl in den Bergen potenziell gefährlich ist, worauf im Roman bereits an früherer Stelle hingewiesen wird: »Ich will dich schon stoßen«, beruhigte sie [Klara] das Heidi und nahm nun zum Zeichen, wie leicht das gehe, einen solchen Anlauf um die Ecke herum, daß der Stuhl fast den Berg hinunter geflogen wäre. Da stand aber der Großvater in der Nähe und hielt ihn eben noch rechtzeitig auf in seinem Lauf. (Spyri 1881, 93)
Abbildung 2: Peter stößt den Rollstuhl den Berg hinunter – die Inszenierung des Rollstuhls, Bastei, Nr. 1, 1976.
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Im Impressum ist keine Jahreszahl angegeben; nur indirekt kann mit Hilfe der eingeschalteten Werbungen erschlossen werden, dass es sich um das erste Heft der ersten Serie von 1976–1977 handeln muss, beworben wird nämlich als »Jede Woche neu« die Serie Bonbon (14) die im Bastei-Verlag zwischen 1973 und 1977 erschien.
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Abbildung 3: Der Rollstuhl fällt den Berg hinunter – Inszenierung des Rollstuhls, »Original-Heidi«, Bd. 1, 1978.
Der Rollstuhl wird – dies wird in diesem Zitat bereits angedeutet und dann im weiteren Verlauf des Romans ausgeführt – zusehends ersetzt durch die soziale Gemeinschaft auf der Alp, wobei der Großvater als Erwachsener und Pfleger Klaras eine zentrale Rolle spielt. Besonders im zitierten Bastei-Heft, Eine Freundschaft fürs Leben, wird der Fokus auf jene Körper gelenkt, die den Rollstuhl ersetzen und dadurch auch die körperliche Isolation Klaras aufheben. Denn bevor Klara auf der Alp eintrifft, wird sie ausschließlich im Bett liegend bzw. sitzend gezeigt. Das BasteiHeft setzt nämlich damit ein, dass Heidi von Klara einen Brief erhält, in dem sie
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ihre Ankunft ankündigt; Heidis Lebenssituation und die Vorgeschichte der beiden Mädchen werden in Erzählboxen rudimentär zusammengefasst,11 dann wechseln sich zwei Erzählstränge – Heidi auf der Alp und Klara in Frankfurt – ab, bis Klaras Ankunft auf der Alp erzählt wird. Der Fokus wird somit unmittelbar auf die als leidend und krank charakterisierte Klara gelenkt. Während sie in Frankfurt isoliert – das Bett steht für diese Isolation –, dem ärztlichen Blick ausgesetzt und dem Stillstand ergeben ist, werden Bewegung und (enger) körperlicher Kontakt mit der Alp verbunden. Fürsorglichkeit und körperlicher Einsatz des Großvaters, die auch im Roman immer wieder beschrieben werden, werden auffallend akzentuiert.
Lücken und Stützen Der Comic arbeitet dabei explizit mit der Gegenüberstellung der im Rollstuhl sitzenden und der vom Großvater getragenen Klara, was exemplarisch an einer Seite gezeigt werden kann (Abb. 4): In sechs Panels wird der Rollstuhl dargestellt, nur in einem, rechts oben, nicht. Es handelt sich hier um die erste Szene, die eine zentrale Funktion des Großvaters hervorhebt, wie sie auch im Roman mehrfach betont wird. Dieser fungiert nämlich nicht nur als Motivator für Klaras Genesung, indem er mit ihr Stehen und Gehen übt, sondern garantiert vielmehr eine neue Form der Mobilität für sie, indem er sie trägt. Die abgebildete Seite lenkt den Fokus auf diese Rolle des Großvaters, wobei eine aufschlussreiche Diskrepanz zwischen dem, was gezeigt wird, und dem, was im Erzähltext formuliert wird, deutlich wird. Während nämlich dort der Vorgang des In-den-Rollstuhl-Hebens betont wird – »Wie ein besorgter Krankenpfleger hebt der Großvater Clara in ihren Rollstuhl.« –, akzentuiert das Bild vielmehr eine quasi intime Szene zwischen Großvater und Klara. In mehrfacher Weise unterbricht das Panel somit den Erzählfluss: durch seine Form (rund im Gegensatz zu rechteckig), durch Klaras Blick aus dem Panel auf die Leser*innen und schließlich signifikant durch die Sprengung des Panelrahmens. Klaras Beine/ Füße nämlich, die sonst zumeist nicht sichtbar sind, werden hier nachgerade ausgestellt. Sie ragen über den Panelrahmen hinaus in das Gutter und – entgegen der Leserichtung – in das Panel links. Die solchermaßen unter-brochene Darstellung unterbricht auch eine eindimensionale Lesart und legt nahe, zum Rollstuhl zurück zu lesen bzw. lenkt sie das Augenmerk aufgrund der Simultaneität der Körper auf das Wechselspiel zwischen sichtbar und nicht sichtbar, zwischen Stillstand und Bewegung (vgl. Abb. 4).
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Z. B.: »Clara [sic!] Sisemann [sic!] ist Heidis liebste Freundin und wohnt in Frankfurt am Main. Heidi hat sie erst vor kurzem dort besucht, aber das Heimweh brachte sie bald wieder nach Hause in die Berge. Clara trägt ein schweres Los, denn ihre Beine sind gelähmt, und sie muß immer im Rollstuhl sitzen.« (»Eine Freundschaft fürs Leben«, 3).
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Abbildung 4: Klara im Rollstuhl und vom Großvater getragen – die Funktion des Großvaters, Bastei, Nr. 1, 1976.
Diese Rolle des Großvaters, die zudem ein schon in Spyris Romanen formuliertes geschlechterbedingtes Rollenverhältnis unterstreicht, erhält somit signifikante visuelle Präsenz. Insgesamt wird der Großvater neun Mal als Klara tragend gezeigt bzw. Klara als vom Großvater getragen; wiederholt werden – im Gegensatz zu den Rollstuhl-Szenen – Klaras Beine/Füße hervorgehoben. In Hinblick auf die Funkti-
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on der Comics-Körper und ihre Aussagekraft für Körperdarstellungen – besonders im Kontext von Krankheit und Dis_ability – ist es spannend, dieses Zeigen und Verbergen von Klaras Beinen/Füßen mit der Sichtbarkeit oder Nicht-Sichtbarkeit der Beine/Füße des Großvaters zu vergleichen. Diese stehen zwar für seine – auch in den Romanen betonte – (männliche) Stärke, werden aber zumeist nicht gezeigt. Insbesondere in Hinblick auf Klaras Behinderung ergibt sich damit ein spannender (und spielerischer) Zugang zur Frage der Wahrnehmung von Körperlichkeit bzw. Ablebodiedness, die auch als Kommentar zum – für die Heidi-Romane zentralen – Heilungsgedanken im Sinne einer Heilung zur Norm gelesen werden kann. Potenziell sind eben alle Comics-Körper (temporär) verletzt. Klaras (neuerliches) Gehen-Lernen ist darüber hinaus eng mit Heidi und Peter verbunden, wobei ebenfalls das Durchbrechen der körperlichen Isolation Klaras ausschlaggebend ist und wiederum einen Stadt-Land-Kontrast markiert wird. Im Roman heißt es zum Dreiergespann Klara, Heidi und Peter etwa: Bei Klara angelangt, ordnete nun das Heidi an, auf der einen Seite sollte der Peter, auf der anderen wollte es selbst Klara fest unter dem Arm fassen und aufheben. Das ging nun ziemlich gut, aber jetzt kam das Schwierigere. (Spyri 1881, 129) Dieses »Schwierigere« besteht darin, dass Heidi »zu klein« ist, »um ihr mit seinem Arm eine Stütze zu bieten« (Spyri 1881, 129) und dass Peter »noch nie Jemandem den Arm gegeben« habe und diesen Arm »ganz steif am Leib herunter« halte – »wie einen langen Stecken« (130). Klara ist zudem »nicht so leicht und das Gespann zu ungleich in der Größe«, wodurch es »eine ziemliche Unsicherheit in den Stützen« (130) gebe. Diese »Unsicherheit« ist in dem besprochenen Bastei-Heft explizit nicht thematisiert, vielmehr erscheint das Dreiergespann (Abb. 5) – nach einem kurzen Hinweis auf Peters Zögern – als geradezu natürlich. Das neue Erlernen des Gehens wird zwar in Roman und Comic zumindest ansatzweise durch die Anstrengungen des Großvaters motiviert, insgesamt jedoch kann gesagt werden, dass sich ein episodenhafter, nachgerade »unglaubwürdige[r]« und »verharmlost[er]« Charakter dieses Heilungsprozesses zeigt, der »als probates Mittel für die Herbeiführung eines Happy-Ends dient« (Huemer, 57) bzw. in den Comics als narrative Bedingung für weitere Abenteuer gelten kann. Im besprochenen Bastei-Heft wird diese Unvermitteltheit schon dadurch nachvollziehbar, dass sich die Darstellung des Gehen-Lernens im Wesentlichen auf drei Panel beschränkt (Abb. 5), was in dieser Kürze auch mit dem Roman korrespondiert (Spyri 1881, 130–131).
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Abbildung 5: Heidi und Peter stützen Klara – die Episodenhaftigkeit des Heilungsprozesses, Bastei, Nr. 1, 1976.
Das subvertierte »Wunder« Das Gehen bzw. Klaras (wieder)erlangte Fähigkeit zu gehen, wird im hier analysierten Bastei-Heft auffallend zurückhaltend behandelt bzw. ausgespart. Klara wird gestützt, im Sitzen oder getragen gezeigt – oder gar nicht. Sie bleibt von der Hilfe anderer abhängig. Der Comic greift damit ein paradoxes Narrativ des Romans auf: Zwar wird Klaras Heilung umfassend thematisiert, jedoch wird gleichzeitig darauf
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hingewiesen, dass sie zwar wieder gehen könne, aber nur gestützt. So heißt es unter anderem: Dann hob er [Großvater] Klara vom Boden auf, umfaßte sie mit dem linken Arm und hielt ihr seine Rechte als starke Stütze für ihre Hand hin, und Klara marschirte, mit der festen Wand im Rücken, noch viel sicherer und unerschrockener dahin, als sie vorher gethan hatte. (Spyri 1881, 136) Klara hatte sich schnell auf seine [Heidis] Schultern gestützt, und fort wanderten die Kinder, ganz gelassen einen kleinen Spaziergang machend. (145) Als er [Klaras Vater] den letzten Schritt zur Höhe gethan hatte, kamen ihm von der Hütte her zwei Gestalten entgegen. Es war ein großes Mädchen mit hellblonden Haaren und einem rosigen Gesichtchen, das stützte sich auf das kleinere Heidi, dem ganze Freudenblitze aus den dunkeln Augen funkelten. (153) Im Bastei-Comic wird dieses Gestützt-Sein vielfach gezeigt und durch die Wiederholung akzentuiert, wobei das Spannungsfeld zwischen Stillstand und Bewegung durch die Struktur des Mediums unterstrichen wird: Die drei Panels, die Heidi und Peter, Klara stützend und mit ihr gehend, zeigen (Abb. 5), verweisen bereits durch die relativ großen zeitlichen Sprünge als »distinct action-to-action progressions« (McCloud, 70; Herv. i. O.; im Gegensatz zu »moment-to-moment«Abläufen; ebd.; Herv. i. O.) darauf, dass die Leser*innen dieses Gehen erschließen müssen, was wiederum kontrastiert wird mit Erzähltext und Figurenrede: »[…] als sie langsam Schritt vor Schritt setzt«/»Wie gut du schon gehen kannst! Gleich sind wir da!« (»Eine Freundschaft fürs Leben« 27; Abb. 5). Auch am ersten Band der Original-Heidi (Abb. 6) kann die Darstellung von Handlung bzw. Bewegung diskutiert werden. Bewegung ist in Comics sowohl in den Einzelpanels angelegt als auch in der Sequenzialität und Simultaneität der Panels über die Seiten und den gesamten Comic hinweg. Diese strukturelle Eigenschaft des Mediums ist spannungsgeladen, denn »in order to create action, comics freeze it and break it down. The comics form does not create movement or action, it only implies it.« (Postema, 58) Bewegung wird im besprochenen Beispiel in der Aneinanderreihung der Panels kreiert, indem von einer annähernden Ganzkörperansicht Klaras zunehmend auf ihren Kopf perspektiviert wird (vergleichbar mit dem Ablauf der drei Panels im Bastei-Heft), währenddessen auch Heidi und Peter die Position verändern bzw. Klara und der Hintergrund/Baum anders zueinander positioniert werden.
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Abbildung 6: Klara lernt gehen – Stillstand, Bewegung und Unterbrechung, »OriginalHeidi«, Bd. 1, 1978.
Die Abfolge der Panels legt also die Bewegung Klaras nahe. Gleichzeitig aber ist nicht klar, wieviel Zeit hier vergeht; eine quasi-geschlossene Bewegung wird durch die relativ großen perspektivischen Sprünge verhindert; auch wird die versuchtgleichförmige Perspektivierung von Klaras Gesicht durch die plötzliche Rückenansicht rechts oben unterbrochen. Was zudem auffällt, ist, dass – auch hier – Klaras Beine/Füße nicht gezeigt werden. Ihr »Ich laufe! Seht nur, ich laufe!« (Abb. 6)12 lenkt so das Augenmerk wörtlich auf die Leerstelle. Wir sehen anhand des Gutters den stockenden Heilungsweg Klaras und gleichzeitig sehen wir ihn auch nicht, denn dieses Laufen kann nur indirekt erschlossen werden. Die Aufmerksamkeit wird vielmehr auf Klaras Gesicht und Mienenspiel gelenkt – auf das eigene Erstaunen über das Gehen. In diesem Kontext aufschlussreich ist zudem – vor allem im Bastei-Heft – jene Episode, in der Klara ihrem Vater ihre wieder errungene Fähigkeit zeigt (Abb. 7): Die Feststellung, »Dann geht Clara ihrem Vater entgegen.« (n.p.), steht in Gegensatz 12
In der Adaptation der Pocket Classics, die die beiden Heidi-Romane auf 61 Seiten komprimiert, wird auch die Heilungs-Szene nur in einem Panel abgehandelt: Im Zentrum steht die von Heidi und Peter gestützte Klara sowie die Anweisung, Letztere solle ihren Fuß aufsetzen und Klaras Feststellung, dass sie gehen könne – ebenfalls den expliziten Hinweis auf das Sehen zitierend: »Look, look!« (Heidi. Pocket Classics, 60).
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zum Gezeigten. Bewegung ist nämlich dem Körper des Vaters eingeschrieben (etwa durch Handhaltung und Falten der Jacke), während die als gehend charakterisierte Klara von Heidi gestützt im Hintergrund steht. In frappanter Weise kommentiert der Comic so den Status von Klaras Heilungsprozess und die Dominanz der männlichen Figuren, des Großvaters und des Vaters, wie sie auch in den Romanen ausgeführt werden.
Abbildung 7: Klara und ihr Vater – Text-Bild-Widersprüche, Bastei, Nr. 1, 1976.
Resümee Auch wenn die besprochenen Comics wenig elaboriert erscheinen, sind sie als aufschlussreicher Teil der Heidi-Rezeption zu verstehen. Sie bieten aufgrund der Konstitution des Mediums Comics subversive Lesarten, die mit Normierungsprozessen (u.a. gesund versus krank) in einen produktiven Konflikt treten bzw. das Augenmerk auf diese lenken. Jene Szenen, die Klaras Gehen-Lernen zeigen, konfrontieren die Konstruktion einer »positive ›narrative arch‹« (Couser, 4), die auf Klaras Gesundung zur Norm zielt, mit einer intrikaten Politik des Zeigens und Nicht-Zeigens, in deren Zuge klar wird, wie Comics-Körper eine binäre Klassifizierung von Körpern unterwandern können. Die Körper sind eben immer anders, werden ständig modifiziert, verletzt und wie-
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der vervollständigt; diskutiert werden kann so über gesellschaftliche Konstruktionen des menschlichen Körpers; beigetragen kann zu einer Neubetrachtung von Spyris Romanen werden. Die medialen Bedingungen von Comics bieten so die Möglichkeit, homogenisierende und affirmative Lesarten zu unterwandern und in diesem Zuge auf die Brüchigkeit des Gezeigten sowie auf die notwendigen (Re-)Evaluationsprozesse des Lesens und Interpretierens zu verweisen. Im Wechselspiel von Zeigen und NichtZeigen bzw. durch die Konfrontation von Text und Bild, wird das Augenmerk immer wieder auf die Frage gelenkt, was hier – auch in den Zwischenräumen – denn überhaupt zu sehen/lesen sein kann. Die besprochenen Beispiele sind darüber hinaus von Interesse für das Verständnis der Heidi-Romane, weil sie die (fehlende) Motivation für Klaras plötzliche Heilung herausarbeiten und im Zuge dessen – so das schwerpunktmäßig besprochene Bastei-Heft, Eine Freundschaft fürs Leben – auch den Widerspruch zwischen dem Heilungsgedanken und Klaras andauerndem Angewiesen-Sein auf Hilfe unterstreichen sowie macht- bzw. genderpolitische Fragen und auch in den Romanen forcierte binäre Konstrukte wie – neben Gesundheit/Krankheit etwa auch Land/Stadt und Nähe/Distanz – diskutieren. Deutlich wird auch, dass Klaras Gehen-Lernen funktionalisiert wird, um die propagierte heilsame Wirkung von Natur, die – im Gegensatz zur Stadt – nach Bewegung verlangt, und einem damit in Verbindung gebrachten sozialen Gefüge zu untermauern. Die Zerstörung des Rollstuhls wird auffallend in Szene gesetzt und an dessen Stelle treten das idealisierte soziale Gefüge auf der Alp und die körperliche Nähe – aber eben strukturell schon widersprochen. Die Körper und die ihnen eingeschriebenen Attribute verlangen so tatsächlich kontinuierlich nach einem Re-Reading und initiieren ein immer neues Wieder-Sehen von Heidi im ganz wörtlichen Sinn. Klara ist dabei nur ein Beispiel, geht doch – wie eingangs erwähnt – die Auseinandersetzung mit Krankheit und Dis_ability in Heidi-Comics über die Figur Klara hinaus. Die Comics können hierbei im Vergleich mit den Romanen – dies wird an anderer Stelle noch zu erörtern sein – auch zu einer Re-Lektüre der HeimwehSzenen oder einem Verständnis der Funktion der Betten (in Frankfurt und auf der Alp) beitragen.
Bibliografie Primärwerke Die Original-Heidi nach Johanna Spyri. 4 Bände. Condor, 1978–1981. Heidi: Die schönsten Geschichten nach dem berühmten Roman. 21 Hefte. Bastei, 1976–1977.
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Heidi. 179 Hefte: Mit neuen Geschichten zur Fernseh-Serie (1–168); Ganz neue Geschichten zur Fernseh-Serie (169–179). Bastei, 1977–1981. Heidi: Die schönsten Geschichten nach dem berühmten Roman. 28 Hefte. Bastei, 1987–1988. Heidi. Pocket Classics C-53. Academic Industries, 1984. Spyri, Johanna. Heidis Lehr- und Wanderjahre. Eine Geschichte für Kinder und auch für Solche, welche die Kinder lieb haben. Friedrich Andreas Perthes, 1880. Spyri, Johanna. Heidi kann brauchen, was es gelernt hat. Eine Geschichte für Kinder und auch für Solche, welche die Kinder lieb haben. Friedrich Andreas Perthes, 1881.
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Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: »Heidis Leben auf der Alm.« Die Original-Heidi nach Johanna Spyri, vol. 1, Condor 1978, o. S. Abbildung 2: »Eine Freundschaft fürs Leben.« Heidi. Die schönsten Geschichten nach dem berühmten Roman, no. 1, Bastei, 1976, 24. Abbildung 3: »Heidis Leben auf der Alm.« Die Original-Heidi nach Johanna Spyri, vol. 1, Condor 1978, o. S.
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Abbildung 4: »Eine Freundschaft fürs Leben.« Heidi. Die schönsten Geschichten nach dem berühmten Roman, no. 1, Bastei, 1976, [16]. Abbildung 5: »Eine Freundschaft fürs Leben.« Heidi. Die schönsten Geschichten nach dem berühmten Roman, no. 1, Bastei, 1976, 27. Abbildung 6: »Heidis Leben auf der Alm.« Die Original-Heidi nach Johanna Spyri, vol. 1, Condor 1978, o. S. Abbildung 7: »Eine Freundschaft fürs Leben.« Heidi. Die schönsten Geschichten nach dem berühmten Roman, no. 1, Bastei, 1976, 30.
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Geschlecht im Neoliberalismus René Polleschs Heidi Hoh arbeitet hier nicht mehr Franziska Bergmann
Der folgende Beitrag beleuchtet den 1998 uraufgeführten Theatertext Heidi Hoh arbeitet hier nicht mehr von René Pollesch. Der intertextuelle Bezug von Heidi Hoh arbeitet hier nicht mehr auf Johanna Spyris Heidi-Romane gestaltet sich dabei eher subtil: Angedeutet wird die Referenz vor allem durch den im Titel erscheinenden Namen »Heidi« und die wiederkehrende Frage nach (geschlechtlich semantisierten) Klassenverhältnissen. Diese Art der Bezugnahme ist ein häufiges Verfahren bei Pollesch. Es geht ihm weniger um die intensive Auseinandersetzung mit einem Prätext bzw. um die detaillierte Adaptation eines Prätextes als vielmehr um das knappe Aufgreifen einiger weniger markanter Elemente, die kurze assoziative Verbindungen zu einer Vielzahl anderer diskursiver Felder zulassen. Heidi Hoh arbeitet hier nicht mehr setzt sich mit der Widersprüchlichkeit des Neoliberalismus auseinander. Dieser verspricht einerseits die Befreiung aus vormals starren Machtkonstellationen wie z.B. binarisiert-hierarchisiert organisierten Geschlechtermodellen, andererseits generiert er jedoch neue hegemoniale, dem Diktat des Ökonomischen unterworfene Muster. Neoliberale Neustrukturierungen schlagen sich, so Heidi Hoh arbeitet hier nicht mehr, insbesondere im Bereich geschlechtlicher Subjektkonstitution wie auch damit einhergehend im Bereich räumlicher Semantisierungen nieder.1 Zunächst möchte ich in diesem Beitrag auf formale Aspekte von Heidi Hoh arbeitet hier nicht mehr eingehen und erläutern, was sich unter dem von René Pollesch entwickelten Genre des sogenannten Diskurstheaters (Diederichsen) verstehen lässt. Im Anschluss daran widme ich mich der Analyse von Heidi Hoh arbeitet hier nicht mehr anhand ausgewählter Textpassagen. 1
An den Münchner Kammerspielen hatte Anfang der Spielzeit 2021/22 ein Theaterstück Premiere, das sich ebenfalls mit Geschlechterrollen im Neoliberalismus auseinandersetzt und das ebenfalls den Namen Heidi im Titel trägt: Heidi weint. Eine Gefühlsversammlung von Dennis Seidel und Julia Weber. Allerdings bezieht sich hier der Name Heidi auf das Model Heidi Klum, die Produzentin und Moderatorin von Germany’s Next Topmodel (https://muenchnerkammerspiele.de/de/programm/5240-heidi-weint-eine-gefhlsversammlung, letzter Zugriff: 6. November 2021).
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René Polleschs Diskurstheater René Pollesch zählt zu den einflussreichsten Theaterkünstler*innen der Gegenwart im deutschsprachigen, aber auch internationalen Raum; im Sommer 2021 hat er die Intendanz der Berliner Volksbühne übernommen. Bekannt geworden ist René Pollesch durch seine neuartige Ästhetik des Diskurstheaters. Dessen Ästhetik zeichnet sich durch radikale Brüche mit konventionellen Theaterformen aus. Er wendet sich unter anderem dezidiert gegen eine bürgerlich konnotierte Theaterpraxis wie die des Repräsentationstheaters. Pollesch geht es in Abgrenzung zu diesem Theater nicht darum, dass seine Schauspieler*innen auf der Bühne in eine Rolle schlüpfen, also eine fiktive Figur wie beispielsweise Hamlet verkörpern (im Folgenden spreche ich daher von Performer*innen, da der Begriff im Kontext von Polleschs Theater präziser ist). Theater solle Dinge eben nicht repräsentieren, da dies vielmehr einer affirmativen Reproduktion gleichkomme (Pollesch und Beck, 15). In Polleschs Stücken stellen die Performer*innen nicht einen ihnen vorgegebenen Text dar, vielmehr bezieht sich ein während des Probenprozesses entwickelter Text direkt auf die Persönlichkeit der Performenden. Genau in diesem Umstand liegt das meines Erachtens politische Potenzial des Pollesch-Theaters. Pollesch arbeitet nicht im Sinne eines traditionellen politischen Theaters, wie es besonders in den 1970er und 1980er Jahren Hochkonjunktur hatte und auch heute noch in vielen Theaterhäusern auffindbar ist und das gezielt eine kritisch-distanzierte Perspektive auf gesellschaftliche Missstände wie inhumane Asylverfahren, Hartz IV etc. wirft, eine Perspektive, die Pollesch zufolge nichts mit den Theaterschaffenden selbst zu tun habe: »Der Regisseur sagt bei solchen Veranstaltungen doch die ganze Zeit unterschwellig: ›Das bin ich nicht‹«, konstruiere also konsequent ein »ausgeklammertes Anderes« (Raddatz, 197). Pollesch hingegen verfolgt eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Themen, über die er aus eigener Erfahrung schreiben kann und die sowohl seine jeweiligen Theaterschaffenden als auch sein Publikum unmittelbar und persönlich tangieren. Pollesch geht es darum, das »Nicht-Lesbare […] alltägliche[r] Verrichtungen heraus[zu]schreibe[n] […] und einen Blick auf uns und die Normalität zu werfen.« (Raddatz, 200) Ziel von Polleschs Schaffen ist es, das Geläufige, Alltägliche und Unhinterfragte kritisch zu verhandeln. Zwei Aspekte, die in Polleschs Stücken umfangreich behandelt werden, sind zum einen neoliberale Arbeitsverhältnisse und zum anderen das westliche Geschlechtersystem, das die Gender-Theoretikerin Judith Butler treffend als »heterosexuelle Matrix« (Butler) betitelt. Pollesch macht zugleich darauf aufmerksam, dass diese beiden Teilbereiche eng miteinander verknüpft sind und sich fundamental bedingen. Signifikant für die gegenwärtige Arbeitswelt sei, so betont Pollesch in diversen Interviews immer wieder (Pollesch et al.), das kollektive Phantasma der Selbstverwirklichung. Daher adaptierten Unternehmen heute die Arbeitsweisen von Künst-
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ler*innen, um ihre ökonomischen Ziele zu erreichen. Das bedeutet konkret, dass inzwischen verstärkt auch in nicht-künstlerischen Berufen die Trennung von Öffentlichkeit und Privatheit nicht mehr gegeben ist – Kategorien wie Arbeit versus Freizeit lassen sich nicht mehr klar voneinander unterscheiden. Individualität und Flexibilität sind die Schlagwörter der Stunde. Pollesch illustriert diesen Umstand folgendermaßen: Das Angebot lautet, sich selbst zu verwirklichen. Die Frage ist dann, wer hat etwas von dieser Selbstverwirklichung, die einen nicht nach acht Stunden nach Hause gehen und von der eigenen Produktion abgespalten erscheinen lässt. Heute wird eine absolute Rechtlosigkeit in dem sich auflösenden Wohlfahrtsstaat als Selbstverwirklichung in der Selbstständigkeit verkauft. (Pollesch et al., 6) Individualität nimmt demgemäß in neoliberalen Kontexten einen äußerst zentralen Stellenwert ein. Neue Jobs zeichnen sich dadurch aus, dass sie die Subjektivität der Arbeiten verwerten. Eng mit dieser Subjektivität ist geschlechtliche Identität verknüpft, darauf weisen verschiedene kapitalismuskritische Arbeiten der Nullerjahre hin und auch Pollesch greift diese Debatten auf. Dem Theatermacher gelingt es mittels intertextueller Referenzen auf kultur- und gendertheoretische Fragestellungen, das Geschlechtersystem als diskursive Konstruktion zu entlarven. Trotz der stellenweise sperrigen und schwer verständlichen kultur- und gendertheoretischen Arbeiten begreift Pollesch deren explizites Zitieren nicht als hochnäsigen Gestus, der die Theateraufführung gleichsam zu einer universitären Veranstaltung werden lasse. Vielmehr glaubt er an die Theoriefähigkeit [des] […] Alltags, daß der Alltag mit Theorie zu bearbeiten ist. Man muß nur von dem Vorurteil weg, daß es sich um etwas Elitäres handelt, wenn ich mich auf eine Philosophie beziehe, um mein eigenes Handeln zu begreifen. Auf eine Philosophie allerdings, die sehr nah an dem ist, was gerade stattfindet. (Pollesch und Raddatz, 200) Im Gegensatz zu einer universitären Veranstaltung hat Polleschs Theater den Vorzug, dass die kulturtheoretischen Überlegungen nicht bloß vorgetragen werden, sondern auf der Bühne bespielt bzw. ausagiert werden können. Die Lektüre und Bearbeitung der kulturtheoretischen Schriften auf dem Theater fungierten, so Pollesch, als »Sehhilfe« (Pollesch und Beck, 21), die auf Missstände verweisen sollen: »Da stimmt was nicht, da wird was für selbstverständlich gehalten, was eigentlich, mit einer Sehhilfe betrachtet, nicht mehr allzu selbstverständlich ist.« (Pollesch und Beck, 21) Polleschs Theater, das vielfach als Diskurstheater (Diederichsen) bezeichnet wird, soll das Publikum zur Reflexion über eigene Lebenszusammenhänge – also auch die jeweilige geschlechtliche und sexuelle Identität oder die persönliche Jobsituation – anregen. Wie Pollesch konkret dabei vor-
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geht, wird im Folgenden in der Analyse seines Theatertextes Heidi Hoh arbeitet hier nicht mehr gezeigt.
Analyse Heidi Hoh arbeitet hier nicht mehr demonstriert, dass neoliberale Strukturen partiell flexibilisierte Geschlechtermodelle ermöglichen und dass derartige Neuordnungen auch die Definition der vormals eindeutig geschlechtlich konnotierten Sphären Öffentlichkeit versus Privatheit betreffen. Diese modifizierten räumlichen Semantisierungen lassen sich in Heidi Hoh daran ablesen, dass die Performerinnen durch das Ergreifen von Berufen in die vormals männlich codierte Sphäre des Öffentlichen vordringen und sie infolgedessen nicht länger weiblich konnotierte Tätigkeiten der unbezahlten Familien- und Hausarbeit auszuführen haben. Wie die Performerinnen betonen, zeigt sich in dieser erhöhten Mobilität von Frauen ein progressiver Aspekt kapitalistischer Neuordnungen. Daraus ergibt sich folgendes Paradox: Während die Performerinnen einerseits aufgrund ihrer oftmals prekären Arbeitsverhältnisse in neuen Machtstrukturen gefangen sind, ermöglichen neoliberale Lebensweisen den Frauen andererseits eine Existenz jenseits bürgerlich-patriarchaler Repressionen. Neoliberale Modelle von identitärer Flexibilisierung korrelieren daher teilweise durchaus mit Leitbildern des liberalen Feminismus. Heidi artikuliert in einem rebellischen Jargon ihre Ablehnung gegenüber bürgerlichen Lebenskonzepten folgendermaßen: »Bürgerliche Lebensstile, aber die will ich nicht leben. Widerliche Dinge. Die will ich nicht leben.« (Pollesch, 98) Bemerkenswert an dieser Passage ist die Verkehrung herkömmlicher Affektökonomien, Pollesch zwingt hier zu einem verfremdenden Blick auf Gewöhnliches. Indem Heidi bürgerliche Lebensstile als »widerliche Dinge« betitelt, verlagert sie das, was den Fluchtpunkt und das Maß innerhalb von Normalitätskonstrukten darstellt – nämlich das besagte Bürgerliche –, in den entgegengesetzten Bereich des Abjekten. Bürgerliche Lebensstile werden hier mit dem Affekt des Ekels besetzt, einem Affekt, der, wie Winfried Menninghaus schreibt, einen »Alarm- und Ausnahmezustand, eine akute Krise der Selbstbehauptung gegen eine unassimilierbare Andersheit« (Menninghaus, 27) darstellt. Bürgerlichkeit wird in Heidis Äußerung also zum verworfenen ›Anderen‹, sie artikuliert eine Abwehrhaltung des »kräftige[n] Nein-Sagen[s]« (Menninghaus, 8). Eine zusätzliche Distanzierung wird dadurch gewonnen, dass Heidi »bürgerliche Lebensstile« als »Ding[]« klassifiziert, also als etwas, das objekthaften Charakter annimmt und als vom Selbst klar abgegrenzte Größe erscheint. Die Strategie der Performerinnen, sich einem bürgerlichen Lebensstil und somit einem konventionellen Weiblichkeitsbild zu entziehen, ist ihre Abwendung vom Bereich des Privaten. Innerhalb der neoliberalen Neuordnung, die partiell
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flexibilisierte Geschlechtsentwürfe erlaubt, rücken in Polleschs Stücken oftmals auch Auseinandersetzungen um Emotionen ins Zentrum des Interesses, so auch in Heidi. Dieser thematische Fokus wird dadurch begründet, dass die weibliche Sphäre des Privaten in der Vergangenheit stark mit Emotionen, die männliche Sphäre des Öffentlich-Ökonomischen hingegen mit rationalen Prozessen assoziiert wurde. Im Zuge neoliberaler Strukturen findet zugleich eine Neubewertung des emotionalen Feldes statt. Dabei spielen nicht nur feministische Belange der 1970er und 1980er Jahre eine Rolle. Damals wurde dafür plädiert, emotional konnotierte Haus- und Reproduktionstätigkeiten finanziell zu entlohnen, um auf ökonomischer Ebene geschlechtliche Gerechtigkeit zu erzielen und häusliche Tätigkeiten als tatsächliche Arbeit sichtbar werden zu lassen. Vielmehr wurden vom Spätkapitalismus, dem es um die beständige Erschließung neuer Marktsegmente geht, Emotionen selbst als ertragreiche Ressource erkannt. Die betonte Auseinandersetzung mit Emotionen in Polleschs Arbeiten speist sich aus einer Vielzahl von Theorien, die sich dem Komplex ›Gefühle und Kapitalismus‹ widmen. Zu nennen wären zum Beispiel neben der Studie Reproduktionskonten fälschen! von Pauline Boudry et al. (auf die sich Pollesch häufig in seinen Stücken bezieht) insbesondere eine soziologische Analyse von Eva Illouz. Illouz entwickelt in ihrer Studie Gefühle in Zeiten des Kapitalismus die These, dass die Bildung des Kapitalismus Hand in Hand geht mit der Entstehung einer stark emotionalisierten Kultur. Eine Grenze zwischen öffentlicher (männlich codierter) Sphäre, die als emotionsfreier Raum konstruiert ist, und einer emotionsgesättigten (weiblich codierten) Sphäre des Privaten könne im Laufe des 20. Jahrhunderts nicht länger gezogen werden. Angehörige der westlichen Mittelschicht seien zunehmend dazu aufgefordert worden, sich sowohl am Arbeitsplatz als auch im Privatleben auf intensive Weise mit ihren Emotionen auseinanderzusetzen. Illouz spricht diesbezüglich von einem »emotionalen Kapitalismus«, das heißt einem ökonomischen System, in dem sich »emotionale und ökonomische Diskurse gegenseitig formen«: »Affekte werden einerseits zu einem wesentlichen Bestandteil ökonomischen Verhaltens, andererseits aber wird das emotionale Leben (v.a. der westlichen Mittelschichten) der Logik ökonomischer Beziehungen und Austauschprozesse unterworfen« (13). Auf jene von Illouz beobachtete unauflösliche Verquickung von Gefühlen und neoliberaler Ökonomie spielt Pollesch an, wenn er seine Performerinnen davon berichten lässt, dass sie ihre Emotionen nunmehr ausschließlich im Berufsalltag einsetzen. Bambi erkennt Gefühle als lukrativen Bestandteil kapitalistischer Tauschprozesse: Emotionen sind so wichtig … verdammt wichtig! Mit Emotionen können wir haushalten, wir können sie ausgeben, sie sind ein ziemlich gutes Tauschgeschäft. Wir können sie vermieten und verkaufen, wir können einfach alles damit machen. Emotionen sind so etwas wie Gold! GOLD! JA GOLD! Emotionen sind business.
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Und einfach nur emotional zu sein ist irgendwo ganz toll. Wirklich. Ihr müsst es einfach nur probieren. Es bringt so viel Geld ein […]. (Pollesch, 78) Emotionen werden in direkte Verbindung gebracht mit einer Terminologie, die dem semantischen Feld des Ökonomischen entlehnt ist: haushalten, ausgeben, Tauschgeschäft, verkaufen, Gold, Business. Dadurch erhalten Emotionen den Charakter einer Ware. Zugleich erinnert Bambis Ausdrucksweise an die Idiomatik eines gegenwärtig äußerst einträglichen Genres: die Ratgeberliteratur. Es werden Versatzstücke, die so in einem psychologischen Ratgeber stehen könnten, mit Passagen, die einem Wirtschaftsmanagement-Ratgeber entstammen könnten, kombiniert. Pollesch nimmt hier also bereits auf der Ebene des Sprachlichen eine Kopplung von Emotion und Ökonomie vor. Mit der Kennzeichnung von Gefühlen als Ware gelingt Pollesch eine Entmystifizierung des Emotionalen als vermeintlich authentische Äußerung, die als romantisches Überbleibsel des Außerdiskursiven den Gesetzen des Marktes widersteht. Gefühle, so die hier vorgeführte Erkenntnis, sind »sehr wohl integrierbar in den ökonomischen Tauschverkehr […]. Ihre Authentizität erscheint […] als Schein, der das gesellschaftliche Sein – ihren Tauschwert – verdeckt.« (Geisenhanslüke, 261) Der emanzipative Impetus, der dieser Neubewertung des Emotionalen anhaftet, wird daran sichtbar, dass sich die Performerinnen in Heidi nicht länger den weiblichen Rollenmustern unterwerfen; mit Nachdruck verweigern sie unbezahlte emotionale Reproduktionsarbeit: Susanne (Bambi): […] Aber ich bin ja gar nicht gerne zu Hause. Ich arbeite viel lieber in meinem Büro als zu Hause. Da sind Leute, die mich verstehen, und nicht meine verfickten Kinder, die herumbrüllen. Anja (Gong): Und wer kümmert sich um die? Susanne (Bambi): Die kümmern sich um sich selbst. DIE KÜMMERN SICH SEHR GUT UM SICH SELBST! Rolli (Heidi): Gute Mutter! […] Anja (Gong): Und was ist mit Muttergefühlen? […] Anja (Gong): Umwertung von Muttergefühlen. […] Susanne (Bambi): Und dann bin ich manchmal zu emotional, um effizient zu sein. Aber zu Hause bin ich dafür sehr effizient. Ich bringe völlig emotionslos meine Kinder ins Bett und erzähle ihnen emotionslos eine Gute-Nacht-Geschichte […]. Anja (Gong): Vielleicht hast du einfach gelernt, dass Emotionen am Arbeitsplatz das Klima verbessern und dich effektiver machen! Susanne (Bambi): Ja, das hab ich, aber ich kann doch nicht mehr nur noch fühlen, um effektiver zu sein.
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Anja (Gong): Dieser Betrieb setzt auf Emotionen und das macht dich effektiver […]. (Pollesch, 72f.) Bambi nimmt in ihren Sprechpassagen eine Verkehrung von Arbeitsplatz und Familienkreis vor. Ihr Betrieb wird hier zur Sphäre, innerhalb derer menschliche emotionale Beziehungen in den Vordergrund rücken, während sie den Bereich des Familialen rational-ökonomischen Prozessen unterwirft. Dabei weist Bambi insbesondere jene Emotion zurück, die innerhalb heterosexueller Muster an Weiblichkeit gekoppelt ist und mittels derer unbezahlte Frauenarbeit im häuslichen Bereich legitimiert wird: ihre angeblichen »Muttergefühle«. Mit der Verlagerung starker Emotionen wie der Muttergefühle in die betriebliche Sphäre wird jedoch – wieder in paradoxer Weise – die Unterwerfung unter andere Machtmechanismen deutlich, nämlich die Unterwerfung unter kapitalistische Zwänge. Gong verweist in einem an Managementsprache erinnernden Jargon darauf, als sie konstatiert, dass »Emotionen am Arbeitsplatz das Klima verbessern«, was Bambi »effektiver arbeiten« ließe. Genau diese Einsicht veranlasst Bambi zu einer anderen, gegen die Verhältnisse aufbegehrenden Replik: »[A]ber ich kann doch nicht mehr nur noch fühlen, um effektiver zu sein.« Dieses »aber« ist hier wichtig, denn diese adversative Konjunktion zieht sich geradezu motivisch durch René Polleschs Arbeiten. Damit verweist Pollesch auf den ständigen Versuch seiner Performerinnen, sich den Verhältnissen zu entziehen, indem sie Widerspruch leisten, dabei jedoch kontinuierlich scheitern. So ist auch Bambis Einwand, Emotionen jenseits rationalisierter Arbeitsprozesse für sich in Anspruch zu nehmen, letztendlich zwecklos. Wie die folgende Passage verdeutlicht, tappen die Performerinnen auf ihrer Suche nach uneffektiven Emotionen nur erneut in eine Falle, in die Falle heteronormativer Strukturen: Rolli (Heidi): Bürgerliche Formate. […] Susanne (Bambi): In deinem Herzen überleben nur bürgerliche Lebensstile. […] Du bist zwanghaft heterosexuell in deinem Herzen, und da kannst du es dir schon überhaupt nicht schön machen, DU FICKSAU! Rolli (Heidi): Vielleicht richtet die Liebe irgendein heterosexuelles Zwangsregime ein in deinem Herzen, und das lebst du dann. Anja (Gong): Ich lebe Zwangsregime. Bürgerliche Lebensstile. (Pollesch, 80) Durch den Gebrauch von Diskursfragmenten, die queerer Theoriebildung entstammen, reflektieren die Figuren die Schwierigkeiten, die sich aus dem Wunsch nach dem Erleben von Emotionen jenseits ökonomischer Zusammenhänge ergeben. Solche Gefühle, vor allem Liebe, sind, so die Überlegungen, an »bürgerliche Lebensstile« und Heteronormativität geknüpft. Die Opposition der Performerinnen gegen den Rückfall in diese klassischen Muster wird durch die sprachspielerische Abwand-
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lung des Begriffs »heterosexuelles Zwangsregime« offenkundig. Mit der Variation »zwanghaft heterosexuell« wird der normierende Charakter, der durch den Terminus der Zwangsmatrix angezeigt ist, in das semantische Feld des Pathologischen verlagert. Die Unfähigkeit der Performerinnen, sich endgültig von heteronormativen Mustern zu lösen, erscheint als zwangsneurotischer Akt. Pollesch nimmt also, wie so oft, auch hier eine Entstellung vor: Er verdreht den klassischen Kausalzusammenhang, demzufolge alles vom Heterosexuellen Abweichende als pathologisch erscheint, in sein Gegenteil und legt so den Blick auf alltägliche Konstruktionsmechanismen frei. Ein weiteres wichtiges Problemfeld, das mit den emanzipativen Bestrebungen der Performerinnen einhergeht und das die Queer Theory kritisch beleuchtet, wird in folgender Textpassage verhandelt: Anja (Gong): Was ich wirklich genieße, ist der logische und wissenschaftliche Charakter meiner Arbeit. Eine Arbeit, die eigentlich männlich codiert ist, deshalb werde ich oft in diesem Hotel mit einem Zimmermädchen verwechselt und versuche unattraktive Tätigkeiten und so was für jedermann sichtbar vom Personal erledigen zu lassen. Rolli (Heidi): SCHEISSRASSISTIN! (Pollesch, 44) Mit dieser Passage stellt Pollesch eine zentrale Paradoxie des westlich-liberalen Feminismus heraus, nämlich dass die Emanzipation westlicher Frauen oftmals auf Kosten migrantischer Arbeiter*innen geht, die in vormals weiblich konnotierte, unterbezahlte Arbeitsfelder verbannt werden. Das Problem hegemonialer Strukturen wird somit nicht aufgehoben, sondern lediglich verlagert. Die Blindheit gegenüber solchen Paradoxien auf feministischer Seite tritt in Gongs Äußerung dadurch hervor, dass erst durch die Replik Heidis, mit der Gong als »SCHEISSRASSISTIN« betitelt wird und die eine kurzfristige antagonistische Gegenrede herstellt, der Aspekt von ›race‹ zur Sprache kommt. Eine intersektionale Perspektive, die von Heidi aufgerufen wird, macht sichtbar, dass das Konfliktfeld, das vormals primär über die Kategorie ›gender‹ verhandelt wurde, sich nun verschoben hat auf die Kategorie ›race‹. Mit der Aufgabe konventioneller Geschlechterrollen werden, das führt diese Passage vor Augen, nur andere Machtkonstellationen evoziert, keinesfalls aber aufgegeben. Polleschs Performerinnen befinden sich also in einer endlos erscheinenden Schleife aus Befreiung und Unterwerfung. Der Versuch, sich aus heteronormativen Zusammenhängen als Hausfrau und Mutter, die unbezahlte Arbeit zu verrichten hat, zu lösen, mündet nicht in einem Leben jenseits von Machtstrukturen. Stattdessen finden sich die Performerinnen in neuen Machtkonstellationen gefangen oder produzieren selbst andere Machtgefälle. Diese lassen zwar partikular flexibilisierte geschlechtliche Existenzweisen zu, erfordern gleichzeitig aber eine Unterwerfung unter die Logik des neoliberalen Marktes, dem es gelingt, in alle noch so intimen, privaten Bereiche vorzudringen, und der eine Position jenseits des Ökonomischen
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obsolet werden lässt. Polleschs Texte werfen also eine extrem deprimierende Perspektive auf gegenwärtige neoliberale Verhältnisse und vermitteln zunächst den Eindruck, dass ein Entrinnen aus diesem System ein unmögliches Unterfangen darstellt. In Anlehnung an eine Überlegung von Natalie Bloch soll abschließend jedoch ein Blick auf die tatsächlichen Aufführungen der Texte geworfen werden; ein theaterästhetischer Blick, der auf eine zusätzliche Dimension der Kritik Polleschs an neoliberalen Strukturen verweist und einen Ausgangspunkt für die »Suche nach dem Rest, der der Ökonomisierung widersteht« (Diederichsen, 60), bilden könnte. In den konkreten Inszenierungen der Pollesch’schen Texte scheinen, so Natalie Bloch, letzte Reste einer Subjektivität auf, die sich gegen die vom Neoliberalismus forcierten inhumanen Anforderungen wendet, ein sogenanntes »Restsubjekt« (168). Die in den Texten in Versalien gedruckten Passagen werden von den Performerinnen während der Inszenierungen geschrien und markieren so eine Position des Protestes. Hinzu kommt, dass diese Passagen oftmals gespickt sind mit wüsten Schimpfwörtern, die, gepaart mit der Lautstärke der vorgetragenen Texte, auf die enorme Wut der Performerinnen auf das System, in dem sie leben, deuten. Natalie Bloch vermerkt hierzu: Der renitente Rest, der hier schreit, was er nicht möchte und sich in sinnlosen Aktionen ausagiert, deutet auf ein Restsubjekt, das vehement versucht, sich in den komplexen diskursiven Vorgängigkeiten zu orientieren. Obwohl [in neoliberalen Verhältnissen gefangen, meine Ergänzung, F.B.], […], geht das Subjekt nicht in diesen Verhältnissen unter, denn es kann immerhin noch im Versuch des Anschlusses und der Übersetzung der gegenkulturellen Theorien auf die eigene Lage die Lautstärke aufdrehen und lauthals protestieren (was im Theaterraum oft sehr komisch wird). (Bloch, 175) Es ist jedoch nicht allein die lauthals vorgetragene Wut auf die Verhältnisse, die den (Stimm-)Körper der Performerinnen grotesk hervortreten lässt, sondern zugleich auch der Aspekt der körperlichen Überforderung, der offensiv in die Ästhetik des Pollesch’schen Theaters integriert ist. Die für die Performerinnen auswendig zu lernende Textmenge sowie die Komplexität des Materials sind niemals vollständig memorierbar und so ist das Versagen der Performerinnen in den jeweiligen Aufführungen vorprogrammiert. In den »Textgebirgen«, die die Performerinnen »so schnell wie möglich sprechen müssen, verlieren [sie] immer wieder den Faden und müssen sich an die Souffleusen wenden, die im Höchsteinsatz sind, um den Anschluss an die voranpreschenden Diskurse wieder zu finden« (Bloch, 176). Pollesch geht es also darum, durch die Präsenz der Performerinnen die Fehlbarkeit des Körpers auszustellen, seine Inszenierungen verweisen nachdrücklich auf die Grenzen körperlicher Leistungsfähigkeit. Die ostentative Zurschaustellung des physischen Scheiterns kann so als einzig verbleibende Möglichkeit gewertet werden, sich neo-
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liberalen Ideologien, denen »reibungsloses Funktionieren über alles geht« (MeyerGosau, 23), zu widersetzen.2
Bibliografie Bergmann, Franziska. »Die Dialektik der Postmoderne in Theatertexten von René Pollesch. Zur Verschränkung von Neoliberalismus und Gender.« Ökonomie im Theater der Gegenwart. Ästhetik, Produktion, Institution, hg. von Franziska Schössler und Christine Bähr, transcript, 2009, 193–208. Bergmann, Franziska. Die Möglichkeit, dass alles auch ganz anders sein könnte. Geschlechterverfremdungen in zeitgenössischen Theatertexten. Königshausen & Neumann, 2015. Bloch, Natalie. »›ICH WILL NICHTS ÜBER MICH ERZÄHLEN!‹ Subversive Techniken und ökonomische Strategien in der Theaterpraxis von René Pollesch.« SUBversionen. Zum Verhältnis von Politik und Ästhetik in der Gegenwart, hg. von Thomas Ernst et al., transcript, 2008, 165–182. Boudry, Pauline, et al. (Hg.). Reproduktionskonten fälschen! Heterosexualität, Arbeit und Zuhause. 3. Auflage, b_books, 2004. Butler, Judith. Das Unbehagen der Geschlechter, übersetzt von Kathrina Menke, Suhrkamp, 1991. Diederichsen, Dietrich. »Denn sie wissen, was sie nicht leben wollen. Das kulturtheoretische Theater des René Pollesch.« Theater heute 43, 3, 2002, 56–63. Geisenhanslüke, Achim. »Schreie und Flüstern: René Pollesch und das politische Theater in der Postmoderne.« Politisches Theater nach 1968. Regie, Dramatik und Organisation, hg. von Ingrid Gilcher-Holtey, et al., Campus, 2006, 254–268. Illouz, Eva. Gefühle in Zeiten des Kapitalismus, übersetzt von Martin Hartmann, Suhrkamp, 2006. Menninghaus, Winfried. Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung. Suhrkamp, 2002. Meyer-Gosau, Frauke. »›Ändere dich, Situation!‹ René Polleschs politisch-romantisches Projekt der ›www-slums‹.« World Wide Web-Slums, hg. von Corinna Brocher, Rowohlt, 2003, 9–26. Pollesch, René. »Heidi Hoh arbeitet hier nicht mehr.« World Wide Web-Slums, hg. von Corinna Brocher, Rowohlt, 2003, 29–100.
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Beim vorliegenden Beitrag handelt es sich um einen Wiederabdruck mehrerer Passagen aus Bergmann, »Die Dialektik der Postmoderne in Theatertexten von René Pollesch« und Die Möglichkeit, dass alles auch ganz anders sein könnte.
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Pollesch, René und Andreas Beck. »Die Möglichkeit, dass alles auch ganz anders sein könnte. Ein Gespräch mit René Pollesch zu Beginn der Proben.« Programmheft. Das purpurne Muttermal, Burgtheater/Akademietheater Wien, 2006/2007, 8–26. Pollesch, René und Frank-M. Raddatz. »Penis und Vagina, Penis und Vagina, Penis und Vagina. René Pollesch über Geschlechterzuschreibungen, das Normale als Konstruktion und die Theoriefähigkeit des Alltags.« Brecht frißt Brecht. Neues Episches Theater im 21. Jahrhundert, hg. von Frank-M. Raddatz, Henschel, 2007, 195–213. Pollesch, René et al. »Verkaufe dein Subjekt! René Pollesch im Gespräch mit Anja Dürrschmidt und Thomas Irmer.« Theater der Zeit 12, 2001, 4–7.
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Autor*innenverzeichnis
Cornelia Bartsch, TU Dortmund, Gastprofessorin für interdisziplinäre Diversitätsstudien, Musikwissenschaftlerin. Forschungsschwerpunkte: Musikwissenschaftliche Gender- und Diversitätsforschung, Sound und Gender, Musikalische Wissensordnungen, Musik und Erzählen sowie Transmedialität, insbesondere zwischen Musik/Sound, (bewegtem) Bild und Schrift, Musik und Szene sowie transkulturelle Musikgeschichte(n) im Machtgefüge des europäischen Kolonialismus. Web: https:/ /div.kuwi.tu-dortmund.de/bartsch Karin Baumgartner, University of Utah, Professor of German Studies. Forschungsschwerpunkte: Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts, Frauenliteratur, Reiseliteratur, Literatur der Romantik und des Biedermeier, Deutschschweizerliteratur, Gender Studies. Web: https://faculty.utah.edu/u0487100-KARIN_BAUMGARTNE R/hm/index.hml Franziska Bergmann, Universität Aarhus/Dänemark, Associate Professor of Comparative Literature. Forschungsschwerpunkte: Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Komparatistik, Literatur vom 18. bis zum 21. Jahrhundert, Interkulturalität, Exotismus, Lyrik, Dramatik, Gender und Postcolonial Studies. Web: https://pure.au.dk/portal/da/persons/franziska-ursula-gabriele-bergmann(6 dc2ee19-0367-4ccf-9eab-271cf5564375).html Agnes Bidmon, FAU Erlangen-Nürnberg, Postdoc. Forschungsschwerpunkte: Literatur- und Kulturwissenschaft, Inter- und Transmedialität, Dokufiktionalität, Gegenwartsliteratur, Literatur und Film, Narrative der (Ent-)Differenzierung. Web: https://www.germanistik.phil.fau.de/person/bidmon-agnes Eva Blome, Universität Hamburg, Vertretungsprofessorin für Neuere deutsche Literatur. Forschungsschwerpunkte: Literatur des 18. bis 21. Jahrhunderts, Literaturund Kulturtheorien, Ästhetik und Gesellschaft, Gender Studies und Intersektionalität. Web: https://www.slm.uni-hamburg.de/germanistik/personen/blome.html
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Claudia Gärtner, TU Dortmund, Professorin für Praktische Theologie. Forschungsschwerpunkte: Religiöse Bildung für nachhaltige Entwicklung, Bilddidaktik, Fachdidaktische Entwicklungsforschung, Jugendverbandsarbeit in der Ganztagsschule. Web: https://kth.ht.tu-dortmund.de/institut/personen/prof-dr-claudia-gaertner/ Anna-Katharina Gisbertz, TU Dortmund, Institut für Diversitätsstudien, Vertretungsprofessur Neuere deutsche Literatur, apl.Prof. Universität Mannheim. Forschungsschwerpunkte: Zeitwahrnehmung und Erzähltheorie, Gender Studies, Emotionsforschung, Ästhetische Theorie, Gedächtnisforschung und Traumaliteratur, Inszenierung von Autorschaft. Web: https://div.kuwi.tu-dortmund.de/gi sbertz Irina Gradinari, FernUniversität in Hagen, Junior-Professur für literatur- und medienwissenschaftliche Genderforschung am Institut für Neuere deutsche Literaturund Medienwissenschaft. Forschungsschwerpunkte: Feministische Blicktheorien, Genre und Intersektionalität, Erinnerungskulturen, europäisches Kino, Verhältnis von Politik und Ästhetik. Web: https://www.fernuni-hagen.de/literatur/genderfors chung/team/irina.gradinari.shtml Victoria Gutsche, FAU Erlangen-Nürnberg, Akademische Rätin auf Zeit am Lehrstuhl für Neuere deutsche Literaturwissenschaft mit systematischem Schwerpunkt. Forschungsschwerpunkte: Literatur der Frühen Neuzeit, Deutsch-jüdische Literatur, Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, historische Diversität. Web: https:// www.germanistik.phil.fau.de/person/gutsche-victoria/ Lisa Hannich, TU-Dortmund, Lehramtsstudentin im Fach Deutsch, Fächer: Sprachliche Grundbildung, Mathematische Grundbildung, Sachunterricht und Bildungswissenschaften. Matthias Hastall, TU Dortmund, Professor für qualitative Forschungsmethoden und strategische Kommunikation für Gesundheit, Inklusion und Teilhabe. Forschungsschwerpunkte: Qualitative Forschungsmethoden und Strategische Kommunikation für Gesundheit, Inklusion und Teilhabe. Web: https://chip.reha. tu-dortmund.de/fachgebiet/team/hastall Hanna Höfer, TU Dortmund, Akademische Rätin auf Zeit am Institut für Diversitätsstudien, Mitglied der Forschungsstelle Jugend-Medien-Bildung. Forschungsschwerpunkte: Medien-, Literatur- und Theaterdidaktik, Theater und Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts, Diversität, Geschichte der Psychoanalyse, Ohnmacht. Web: https://div.kuwi.tu-dortmund.de/hoefer
Wiedersehen mit Heidi: Autor*innenverzeichnis
Christine Künzel, Universität Hamburg, Privatdozentin am Institut für Germanistik der Universität Hamburg; Vertretungsprofessuren und Lehraufträge im Bereich Neuere deutsche Literatur u.a. an der TU Dortmund, TU Dresden und Universität Hamburg. Forschungsschwerpunkte: Literatur- und kulturwissenschaftliche Geschlechterforschung, Recht und Literatur (insbesondere Darstellungen sexualisierter Gewalt), Literatur und Ökonomie, Theater/Drama/Performance. Web: https:// www.slm.uni-hamburg.de/germanistik/personen/kuenzel.html Chantal Lepper, Bertelsmann Stiftung, zuvor TU Dortmund, Postdoc am Institut für Schulentwicklungsforschung, Project Managerin im Programm Bildung und Next Generation. Forschungsschwerpunkte: Qualität von Lehr-Lernprozessen, Motivationale Merkmale, Non-kognitive Kompetenzen. Web: https://www.bertels mann-stiftung.de/de/ueber-uns/wer-wir-sind/ansprechpartner/mitarbeiter/cid/ chantal-lepper Linda Leskau, TU Dortmund, Akademische Rätin auf Zeit am Institut für Diversitätsstudien. Forschungsschwerpunkte: Deutschsprachige Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Literary Disability Studies, Gender und Queer Studies, Geschichte der Sexualität, Literatur und Wissen. Web: https://div.kuwi.tu-dortmu nd.de/leskau Gudrun Marci-Boehncke, TU Dortmund, Institut für Diversitätsstudien, Professorin für Neuere deutsche Literatur/Elementare Vermittlungs- und Aneignungsaspekte, Leiterin der Forschungsstelle Jugend-Medien-Bildung. Forschungsschwerpunkte: Lese- und Medienforschung und -förderung, Diversität und Bildungsforschung. Web: https://div.kuwi.tu-dortmund.de/marci-boehncke Nele McElvany, TU Dortmund, Prorektorin für Forschung der TU Dortmund, Professorin für Empirische Bildungsforschung, Geschäftsführende Direktorin des Instituts für Schulentwicklungsforschung. Forschungsschwerpunkte: Lehr-/ Lernforschung im schulischen Kontext, Kompetenzen von Lehrkräften und Unterrichtsqualität, Erfassung, Entwicklung und Förderung von Schriftsprachkompetenzen, Bildung und Migration, Pädagogische-psychologische Diagnostik. Web: https://ifs.ep.tu-dortmund.de/institut/unser-team/nele-mcelvany/ Barbara Mertins, TU Dortmund, Institut für Diversitätsstudien, Professorin für empirische und experimentelle Linguistik des Deutschen – Psycholinguistik. Forschungsschwerpunkte: Mehrsprachigkeit, bilingualer Erstspracherwerb, Sprache und Kognition, linguistische Relativität. Web: https://div.kuwi.tu-dortmund. de/mertins
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Michélle Möhring, TU Dortmund, Praedoc für Qualitative Forschungsmethoden und Strategische Kommunikation für Gesundheit, Inklusion und Teilhabe. Web: https://chip.reha.tu-dortmund.de/fachgebiet/team/moehring Cosima Nellen, Diakonisches Werk im Kirchenkreis Recklinghausen, Referat für Teilhabe und Inklusion. Web: https://www.diakonie-kreis-re.de/teilhabe/kontakt Sigrid Nieberle, TU Dortmund, Professorin für Neuere und neueste deutsche Literatur mit dem Schwerpunkt Gender und Diversität, Geschäftsführende Direktorin des Instituts für Diversitätsstudien. Forschungsschwerpunkte: Intermedialität der Literatur, insbesondere zu Musik und Film, Gender and Diversity Studies. Web: htt ps://www.div.kuwi.tu-dortmund.de/nieberle Tanja Nusser, University of Cincinnati, Professorin für Germanistik & Film- und Medienwissenschaft. Forschungsschwerpunkte: Deutsche Literatur und Kultur des 18. bis 21. Jahrhunderts, Literatur-, Medien- und Kulturwissenschaft, Visual Studies, Wissenschaftsgeschichte, Gender Studies, Disability Studies und Postcolonial Studies. Web: https://researchdirectory.uc.edu/p/nusserta Marina Rauchenbacher, Universität Wien und Österreichischen Akademie der Wissenschaften, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Germanistik, Vorstandsmitglied des Arbeitskreises Kulturanalyse und der Österreichischen Gesellschaft für Comic-Forschung und -Vermittlung. Aktuelles Projekt zu Visualitäten von Geschlecht in deutschsprachigen Comics. Forschungsschwerpunkte: Visual Culture Studies, Gender Studies, Comics und deutschsprachige Literatur. Web: htt ps://www.germ.univie.ac.at/marina-rauchenbacher/ Alexander Röhm, TU Dortmund, Postdoc für Qualitative Forschungsmethoden und Strategische Kommunikation für Gesundheit, Inklusion und Teilhabe. Web: https:/ /chip.reha.tu-dortmund.de/fachgebiet/team/roehm Heidi Schlipphacke, University of Illinois at Chicago, Professor of Germanic Studies and Director of Graduate Studies. Forschungsschwerpunkte: Deutschsprachige Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Film, Gender Studies, Queer Studies, Comparative Cultural Studies (Deutschland/USA). Web: https://german.uic.ed u/profiles/schlipphacke-heidi/ Alexandra Tischel, Universität Stuttgart, Akademische Oberrätin am Institut für Literaturwissenschaft in der Abteilung Neuere Deutsche Literatur I. Forschungsschwerpunkte: Gender, Animal und Diversity Studies. Zuletzt erschien: Affen wie wir.
Wiedersehen mit Heidi: Autor*innenverzeichnis
Was die Literatur über uns und unsere nächsten Verwandten erzählt. Stuttgart 2018. Web: https://www.ilw.uni-stuttgart.de/institut/team/Tischel/ Melanie Unseld, Universität für Musik und darstellende Kunst Wien (mdw), Professorin für Historische Musikwissenschaft mit Schwerpunkten in der europäischen Musikgeschichte des 18. bis 21. Jahrhunderts sowie Biographik, Erinnerungsforschung, (Musik)Geschichtsschreibung und Gender. Web: https://www.mdw.ac.at/i mi/melanie_unseld/ Esther Weber, TU Dortmund, Lehramtsstudentin mit den Fächern Deutsch und Sport, Lehrerin in Vertretung an einer Förderschule.
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Kulturwissenschaft Tobias Leenaert
Der Weg zur veganen Welt Ein pragmatischer Leitfaden 2022, 232 S., kart., 18 SW-Abbildungen 20,00 € (DE), 978-3-8376-5161-4 E-Book: PDF: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5161-8 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-5161-4
Markus Gabriel, Christoph Horn, Anna Katsman, Wilhelm Krull, Anna Luisa Lippold, Corine Pelluchon, Ingo Venzke
Towards a New Enlightenment – The Case for Future-Oriented Humanities 2022, 80 p., pb. 18,00 € (DE), 978-3-8376-6570-3 E-Book: available as free open access publication PDF: ISBN 978-3-8394-6570-7 ISBN 978-3-7328-6570-3
Marc Dietrich, Martin Seeliger (Hg.)
Deutscher Gangsta-Rap III Soziale Konflikte und kulturelle Repräsentationen 2022, 378 S., kart., 2 Farbabbildungen 35,00 € (DE), 978-3-8376-6055-5 E-Book: PDF: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-6055-9
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Kulturwissenschaft Michael Thompson
Mülltheorie Über die Schaffung und Vernichtung von Werten 2021, 324 S., kart., 57 SW-Abbildungen 27,00 € (DE), 978-3-8376-5224-6 E-Book: PDF: 23,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5224-0 EPUB: 23,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-5224-6
Thomas Hecken, Moritz Baßler, Elena Beregow, Robin Curtis, Heinz Drügh, Mascha Jacobs, Annekathrin Kohout, Nicolas Pethes, Miriam Zeh (Hg.)
POP Kultur und Kritik (Jg. 11, 2/2022) 2022, 180 S., kart. 16,80 € (DE), 978-3-8376-5897-2 E-Book: PDF: 16,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-5897-6
Eva Blome, Moritz Ege, Maren Möhring, Maren Lickhardt, Heide Volkening (Hg.)
»Süüüüß!« Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2022 2022, 128 S., kart., 5 Farbabbildungen 14,99 € (DE), 978-3-8376-5898-9 E-Book: PDF: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5898-3
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de