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German Pages 336 Year 2014
Sabine Frost Whiteout
Lettre
Sabine Frost lebt in Berlin und arbeitet an einem Projekt zur ökologischen Zivilisationskritik in der Literatur. Weitere Forschungsschwerpunkte sind Literaturtheorie, Metaphern der Medialität und Reiseliteratur.
Sabine Frost
Whiteout Schneefälle und Weißeinbrüche in der Literatur ab 1800
Zugleich Dissertation an der Universität Erfurt.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt Danksagung | 9
1. WHITE IN . WHITE OUT 1.1 Weiße Räume | 15 1.1.1 Welcome to Whiteout | 15 1.1.2 Ortswechsel | 21 1.1.3 Simulierte Wahrnehmungsstörungen | 27 1.2 Die Literarizität des Schnees | 31 1.3 Der Blick auf das der Sicht Entzogene | 37 1.4 Kursvorgabe | 41
2. VERWEHUNGEN UND GESTÖBER 2.1 Textgestöber | 47 2.1.1 Das „Gestöber der Lettern“ | 47 2.1.2 Abwege | 52 2.2 Eingeschneite Schmugglerpfade. Ludwig Tieck, „Die Klausenburg. Eine Gespenster-Geschichte“ (1837) | 57
2.2.1 Wettervorhersage | 57 2.2.2 Das wunderbar Alltägliche | 59 2.2.3 Übergriffe des Wunderbaren | 60 2.2.4 Das vierte Rad der Novelle | 66 2.2.5 Entwendungen | 69 2.2.6 Schwarz auf weiß | 71 2.2.7 Die Macht der Rede | 75
2.2.8 Der nicht zu verortende Sinn der Rede | 77 2.2.9 Gespenstische Ambivalenz | 79 2.3 Textuelle Verwehungen. Aleksander Pukin, „Der Schneesturm“ („Metel’“, 1831) | 87
2.3.1 Verliebt, verweht, verheiratet | 87 2.3.2 Der Grund der Schrift | 89 2.3.3 Aus der Bahn geworfen | 93 2.3.4 Der Schneesturm | 99 2.3.5 Verwehungen und Kollisionen | 102 2.3.6 An den Leser: Zum Durchqueren verschneiter Texträume | 108 2.3.7 Die Ruhe nach dem Sturm ist die Ruhe vor dem Sturm. Lev Tolstoj, „(Im) Schneesturm“ („Metel’“, 1856) | 110
3. VERGLETSCHERUNG 3.1 Literatur als Oszillieren zwischen Verfestigung und Verflüssigung | 117 3.2 Autobiographie als Eiskammer des Herzens. Adalbert Stifter, Die Mappe meines Urgroßvaters (1841-1867) | 125
3.2.1 Wasser und Eis als Figuren der Medialität | 125 3.2.2 Heilmittel mit unkontrollierten Nebenwirkungen | 133 3.2.3 Die „Semiotik des Herzens“ | 148 3.2.4 Die Eiskammer des Herzens | 154 3.3 Zwischen Meereshöhen und Meerestiefen. Christoph Ransmayr, Der fliegende Berg (2006) | 161
3.3.1 Terra poetica | 161 3.3.2 Seilschaften | 173 3.3.3 Über Meere, Gebirge und Abgründe hinwegerzählen | 176 3.3.4 Geröllströme, Eisfluten und fliegende Riesen | 180 3.3.5 Am Nullpunkt des Erzählens | 186 3.3.6 Weltentwürfe | 188 3.3.7 Das organisierte Verschwinden | 190
4. WEISSE 4.1 DIE NAVIGATION DER SCHRIFT 4.1.1 Reisen an den Rand und auf den Grund der Schrift | 201 4.1.2 Das Ende der Welt und das Ende des Textes. Edgar Allan Poe, The Narrative of Arthur Gordon Pym of Nantucket (1838) | 207
4.1.2.1 „Still farther“. Die literarische Überbietung | 207 4.1.2.2 Abseits des Kurses | 214 4.1.2.3 Intoxiertes Erzählen | 219 4.1.2.4 Exkursives Erzählen | 223 4.1.2.5 Gegenwelten und Rückseiten | 226 4.1.3 Der Weiße auf den Grund gehen. Herman Melville, Moby-Dick, or the Whale (1851) | 237
4.1.3.1 Bibliotheken und Ozeane | 237 4.1.3.2 Spin me the yarn, Ishmael | 240 4.1.3.3 Von Schiffen und Weberschiffchen | 244 4.1.3.4 Ahab und der Wal: Schicksalhafte Verstrickungen | 247 4.1.3.5 Jäger und Gejagte | 250 4.1.3.6 Ishmael oder das ungeschriebene Leben des Pottwals | 252 4.1.3.7 Der weiße Grund | 256
4.2 SPEKTRUM UND PHANTOM 4.2.1 Ausweißung und Einweißung | 263 4.2.2 „Between him and the words“. Conrad Aiken, „Silent Snow, Secret Snow“ (1934) | 271
4.2.2.1 Überschreiten | 271 4.2.2.2 Abgrenzungen | 279 4.2.2.3 Indifferenzen | 283 4.2.2.4 Die Stimme des Schnees | 285
4.2.3 Gespenstisches Schneeflirren. Adalbert Stifter, „Aus dem bairischen Walde“ (1867) | 291
4.2.3.1 „Schickung“ | 291 4.2.3.2 Begrenzungen | 292 4.2.3.3 Schneien und Schreiben | 295 4.2.3.4 Ausweißung und Entleerung | 299 4.2.3.5 „Lackerhäuserschneeflirren“ | 302 4.2.3.6 Die Semiotik der Sinne | 304 5. Die Lust an der Störung | 311 6. Literaturverzeichnis | 315
Danksagung
Mein Dank gilt all jenen, die mich auf unterschiedliche Weise unterstützt und zu dieser Dissertation beigetragen haben. Ganz besonders möchte ich mich bei meinem Doktorvater Prof. Dr. Wolfgang Struck sowie bei Prof. Dr. Bettine Menke bedanken, die diese Arbeit mit großem Engagement betreuten und mich dabei immer wieder mit ihrer eigenen Faszination für Schnee, Eis und Weiße ansteckten. Der Universität Erfurt spreche ich meinen Dank aus, da sie mir mit dem Christoph-Martin-Wieland-Stipendium die Promotion finanziell ermöglichte. Weiterhin danke ich dem Forum „Texte – Zeichen – Medien“ sowie dem Literaturwissenschaftlichen Kolloquium der Universität Erfurt für konstruktive Diskussionen. Mein Dank gilt zudem Geert Goiris, der mir gestattete, eine seiner wundervollen Whiteout-Photographien für die Covergestaltung dieses Buches zu verwenden. Auch meinen Korrekturlesern, im Besonderen Isabel Kranz, Christina Hünsche, Volker Zimmermann und Angelika Künne; meinen Freunden sowie meiner Familie möchte ich für ihre Unterstützung danken und nicht zuletzt Fabian Sax, der mich für diese Arbeit fast bis zum Nordpol begleitete.
„Ein begränzter Blick in das Innere war der einzige Lohn für ihre unendlichen Mühen und Anstrengungen.“ Carl Weyprecht, Die Metamorphosen des Polareises. Die österreichisch-ungarische Arktische Expedition 1872-1874
1. WHITE IN. WHITE OUT
1.1 Weiße Räume
1.1.1 W ELCOME
TO
W HITEOUT
„Alles ist weg“, stellt der Protagonist in Tina Uebels Roman Horror Vacui bei seinem Blick aus dem Zelteingang fest. Bis auf das Nachbarzelt, aus dem der Leiter der touristischen Expedition an den Südpol „Welcome to White-out“ ruft, ist „plötzlich gar nichts mehr“:1 „Kein Himmel und keine Landschaft, aber auch kein Boden“; die Zelte schweben „vor leerer Leinwand“.2 Noch irritierender als der Blick in die weiße Leere ist jedoch der Versuch des Protagonisten, sich in dieser fortzubewegen. „Ein diffuses Licht ebnet alles ein, keine Schatten, keine Konturen, es ist nicht zu erahnen, wo man seinen Fuß hinsetzt, der Bodenkontakt kommt plötzlich und unerwartet.“ Schon kleine Vertiefungen oder Unebenheiten im Schnee verursachen „das Gefühl, ins Bodenlose zu fallen“ bzw. in einem „zweidimensionalen Vakuum aufgehängt“3 zu sein. Die folgende Untersuchung setzt sich mit Prosatexten auseinander, die ihrem Leser dem polaren Whiteout vergleichbar den Boden unter den Füßen fortreißen: In unterschiedlicher Weise wird der Leser mit Störungen konfrontiert, die seinen Gang durch den literarischen Textraum beeinträchtigen und dabei seinen Blick von den erzählten Gegenständen auf die „leere Leinwand“ des Textes lenken. Die semantische Konstante der heterogenen Texte, die nahezu 200 Jahre umspannen und von Aleksandr Pukins Erzählung „Metel’“ („Der Schneesturm“) von 1831 bis hin zu Christoph Ransmayrs Roman Der fliegende Berg aus dem Jahr 2006 reichen, bilden die Thematik Schnee sowie verwandte Motive wie Eis und Weiße. In den Texten von Adalbert Stifter, Ludwig Tieck, Lev Tolstoj, Edgar Allan Poe, Herman Melville und Conrad Aiken geraten die Protagonisten in
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Uebel, Tina: Horror Vacui, Köln 2005, S. 71.
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Hier und im Folgenden: ebd., S. 72.
3
Ebd., S. 75.
16 | W HITEOUT Schneestürmen vom Weg ab, fürchten Verschneiungen und Vereisungen, gehen auf Expedition in Polarregionen und jagen sowohl weißen Monstren als auch weißen Flecken nach. Die Analyse der Texte zielt allerdings auf keine spezifische Motivik ab, sondern vielmehr auf störende Effekte, die die Wahrnehmung und Rezeption des Lesers verunsichern und derart den Prozess der Bedeutungssetzung erschweren. Um diese Effekte zu benennen, wird der Begriff Whiteout aus der atmosphärischen Optik metaphorisch auf literarische Verfahren übertragen: Zum einen ermöglicht er eine thematische Verbindung zwischen den Schnee- und Eislandschaften, von denen die Texte erzählen, und der Art und Weise ihrer Darstellung. Zum anderen markiert der Begriff die Interaktion zwischen der Literatur und den Naturwissenschaften, die die Ausgestaltung der Texte maßgeblich beeinflusst. Vor der Untersuchung der textuellen Störungen ist daher zunächst die Rede vom Whiteout als einem meteorologischen und insbesondere als einem psychophysiologischen Phänomen. Denn nicht die Wetterkondition selbst ist Gegenstand der Analyse, sondern das durch sie beeinträchtigte Subjekt, durch dessen gestörte Wahrnehmung sich das Whiteout erst ereignet. Bei diesem Wetterphänomen, das in Polargebieten und im Hochgebirge auftritt, wird Sonnenlicht diffus von der Schnee- und der Wolkendecke sowie von Schneekristallen in der Luft reflektiert, so dass sich im Auge bzw. im Gehirn des Betroffenen bestimmte Kontraste auflösen. Im Unterschied zur Sichttrübung durch Nebel und Niederschlag zeichnet sich das Overcast-Whiteout durch eine weiterhin hohe Sichtweite und das Ausblenden der Kontraste heller Objekte aus, während diejenigen dunkler Gegenstände erhalten bleiben. Man möchte meinen, in einer weißen Schneelandschaft spielt der Verlust der Kontraste heller Oberflächen keine besondere Rolle. Dass die berüchtigte Hand vor Augen sichtbar bleibt, während sich alles andere der Sicht entzieht, führt allerdings zu extrem desorientierenden Effekten, von denen der U.S. Navy-Klimatologe C.O. Fiske berichtet: „Many a polar traveler has experienced the eerie sensation of looking down at his feet and being able to see his foot gear yet being unable to distinguish the surface on which he stands. The next step may plunge him over an ice cliff or bring him into collision with a raised object. Explorers have reported actually walking into the side of a camp building while being under the distinct mental impression that the building was yet some distance away.“4
4
Fiske, C.O.: „White-out – a polar phenomenon“, in: U.S. Naval Institute (Hg.): Proceedings 82/9 (1956), S. 954-959, hier: S. 956.
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Abbildung 1: Whiteout in der Antarktis, Byrd Polar Research Center, November 2007.5
Das Whiteout beeinträchtigt die visuelle Wahrnehmung demnach nicht durch eine vollständige Ausweißung der Landschaft, sondern im nur teilweisen Entzug ihrer Sichtbarkeit. Unter anderem entzieht sich die Horizontlinie der Sicht und mit ihr ein wesentlicher Anhaltspunkt der räumlichen Orientierung im Freien, um Richtungen oder Entfernungen zu bestimmen. Zudem verschleiern die noch verbliebenen Konturen dem Subjekt die massive Einschränkung seiner Orientierungsmöglichkeiten: Während sich eine Person in völliger Dunkelheit des kompletten Sichtverlustes bewusst ist, sieht jene im Whiteout mehr als nur Schwärze bzw. Weiße. Im Vertrauen auf die nur unvollständig und daher fehlerhaft wahrgenommenen Anzeichen seiner Orientierung stolpert das beeinträchtigte Subjekt über unsichtbare Hindernisse, fällt in plötzlich aufklaffende Löcher und geht zwangsläufig in die Irre.6 Eine von Forschern des Byrd Polar Research Centers aufgenommene Photographie (Abbildung 1) veranschaulicht diese Situation, in
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https://images.asc.ohio-state.edu/is/image/byrd/8/8789ff61-1ff9-4e15-a7705bb923877
6
Vgl. Kasten, Fritz: „Sichtweite und Albedo, insbesondere im Polargebiet. Theorie der
51d.jpg, eingesehen im November 2009. horizontalen Sichtweite nicht selbstleuchtender Objekte unter bedecktem Himmel“, in: Beiträge zur Physik der Atmosphäre 34 (1961), S. 234-258.
18 | W HITEOUT der weder der Horizont noch die Oberflächenstruktur des Bodens ausgemacht werden können. Die fehlenden Kontraste machen es dem Betrachter unmöglich, seine Entfernung zu den erkennbaren Objekten bzw. deren Distanz zueinander zu bestimmen. Teilweise übernimmt diese Funktion die am rechten Bildrand abgebildete Messleiste. Den Namen „Arctic Whiteout“, meist lediglich als „Whiteout“ abgekürzt, prägte 1946 der amerikanische Meteorologe Leonard J.C. Hedine. Er benennt damit ein Wetterphänomen, das schon die Polarfahrer des 19. Jahrhunderts in ihren Berichten schilderten, dem eine allgemeingültige Bezeichnung bis dahin allerdings fehlte.7 Dieser Mangel erschwert auch die zeitliche Situierung einer ersten Beschreibung des Phänomens: Selbst unter Ausschluss jener Expeditionen, die ihre meteorologischen Beobachtungen nicht auf den dafür notwendigen weiten Schneeflächen, sondern an Bord ihrer Schiffe vornahmen, bleibt eine ungeheure Masse von Wetteraufzeichnungen zurück, in der es etwas zu suchen gilt, das noch keinen eindeutigen Namen trägt. Auch bei Beachtung der Parameter Saison und Witterung – einem Wissen, das nachträglich die Feststellung erleichtert, ob überhaupt die Entstehungsvoraussetzungen für ein Whiteout vorlagen – lässt sich kaum rekonstruieren, ob die Rede vom „thick white fog“ oder „milchigem Dunst“ auf ein Whiteout abzielt. Erich von Drygalski skizziert das Wetter der Antarktis in seinen Aufzeichnungen von 1901 etwa mit den Worten „in Dunst gehüllt“, „dicht“ und „zusammengezogen“. Unmittelbar aus dem Nichts taucht ein riesiger Eisberg auf, der bis dahin nicht sichtbar war.8 Edward Wilson, Teilnehmer der Terra Nova Expedition in die Antarktis, hält 1911 in seinem Tagebuch fest: „We couldn’t see where we were going as everything was obscured by fog“, „no landmarks visible“.9 In der Annahme, dass diese Beobachter einem bisher weder benannten noch analysierten Phänomen gegenüberstehen, stimmen ihre Beschreibungen mit denen eines Whiteout durchaus überein. Nebel und Dunst wären dann mehrdeutig als Ersatzbegriffe zur Benennung des noch unbenannten Phänomens oder im Vokabular Hans Blumenbergs als „Vorläufiges“10 zu lesen. Nebel und Dunst könnten mit großer Wahrscheinlichkeit aber auch eindeutig bezeichnen, was sie sind – nämlich Nebel und Dunst.
7
Hedine, Leonard J.C.: „The ‚Arctic Whiteout‘“, in: Bulletin of the American Meteorology Society 27 (1946), S. 130-131.
8
Drygalski, Erich von: Zum Kontinent des eisigen Südens, hg. v. Hans-Peter Weinhold, Leipzig 1989, S. 149.
9
Wilson, Edward: Diary of the Terra Nova Expedition to the Antarctic 1910-1912, London 1972, S. 146f.
10 Vgl. Blumenberg, Hans: Paradigmen zu einer Metaphorologie, Frankfurt/M. 21999.
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Andere Polarfahrtentexte sind, ohne dass auch hier das Whiteout explizit benannt wird, in ihrer Darstellung eindeutiger. Robert E. Peary etwa erlebt 1908 auf dem Weg zum Nordpol „that condition […] of a hazy atmosphere in which the light is equal everywhere. All relief is destroyed, and it is impossible to see for any distance“.11 Der Pilot Joe Fletcher, der 1952 gemeinsam mit William P. Benedict erstmals zum geographischen Nordpol flog, hält wiederum fest: „Everywhere there was only whiteness.“12 Richard E. Byrd schreibt 1930 in „Narrative of the South Pole Flight“ über „a world that has turned to milk“ und vergleicht die Landschaft mit „a bowl of milk“ – eine Wendung, die den Begriff „milky weather“ prägte.13 „Milky“ im Sinne von trüb und undurchsichtig lässt sich aber ebenso mit schlechter Sichtweite durch Nebel und Niederschlag in Verbindung bringen. Hedine verweist jedoch auf die Notwendigkeit, „that this phenomenon [should] not be confused with snowblindness, fog, snowstorms, or blowing snow“.14 Die Distinktion des Whiteout von bereits bekannten und einschätzbaren Gefahren, die hinter dem Streben nach einer eindeutigen Bezeichnung steht, unterstreicht dessen besonderen Status. Im Gegensatz zu Nebel und Niederschlag handelt es sich um eine fremdartige Erscheinung, die sich auf spezifische, schwer zugängliche Regionen beschränkt und damit der alltäglichen Erfahrbarkeit entzogen bleibt. Der bereits genannte C.O. Fiske, der als Klimatologe an der Ronne Antarctic Expedition (1946-1948) sowie an der Operation Deepfreeze (1956) beteiligt war, beschreibt in den Proceedings des U.S. Naval Institutes das Whiteout als gravierende Störung im Expeditionsablauf:
11 Peary, Robert E.: „Peary’s Story of his March over the Ice from Cape Columbia toward the North Pole“, in: New York Times, 09.09.1909; zit. nach: Fiske, „White-out – a polar phenomenon“, S. 956. 12 Joseph O. Fletcher; zit. nach: Fiske, „White-out – a polar phenomenon“, S. 956. 13 „Flying down here with a cloud-covered sky is like flying in a world that has turned to milk. There is nothing to check on. Horizons disappear and there is no way to tell where the snow begins, how rough the surface is, nor even how high we are above it. […] With such weather, navigation would be uncertain, landing impossible. Visibility down here is like the little girl with the curl – very good when it is good and terrible when it is bad.“ (Byrd, Richard E.: „Narrative of the South Pole Flight“, in: Joerg, Wolfgang Louis Gottfried (Hg.): The Work of the Byrd Antarctic Expedition 19281930, New York 1930, S. 36) 14 Hedine, „The ‚Arctic Whiteout‘“, S. 130.
20 | W HITEOUT „The effect of white-out is a complete loss of shadow and of horizon definition. Depth perception and visual perspective rapidly approach the vanishing point. Some aviators caught in a white-out may also experience acute vertigo. Aerial existence during this meteorological condition has often been likened with surprisingly little exaggeration, to ‚fly in a bowl of milk‘.“15
Deutlich wird in Fiskes Bericht insbesondere die Verschiebung des wissenschaftlichen Interesses, das sich nicht mehr nur auf das meteorologische Phänomen und dessen Entstehungsbedingungen richtet, sondern das in seiner Wahrnehmung gestörte Subjekt in den Mittelpunkt der Forschung stellt. 1958 legt der Psychophysiologe George S. Harker vom Experimental Psychology Department des U.S. Army Medical Research Laboratory einen Whiteout-Report unter der Rubrik „Basic Problems of Vision and Perception in Human Behaviour“ vor.16 „The phenomenon of ‚Arctic whiteout‘“, heißt es darin, „has been placed in context of research contributory to an understanding of its physical source and physiological and psychological effect […]“.17 Harker untersucht den Zusammenhang zwischen der visuellen Wahrnehmung und der räumlichen Orientierung. „In an whiteout with inadequate or misleading visual stimulation, the individual is dependent upon his kinesthetic and gravitational senses for his spatial frame of reference.“18 Die beeinträchtigte Kontrastwahrnehmung macht es dem betroffenen Subjekt unmöglich, die Richtung zu bestimmen, Entfernungen oder Tiefen einzuschätzen. Das Whiteout stört ebenso den Gleichgewichtssinn und kann Schwindel, mitunter sogar Höhenangst, verursachen. Dass es bei den physiologischen Fragestellungen und der pragmatischen Whiteout-Forschung um die Erkenntnis körperlicher Funktionsweisen und darin auch um die Möglichkeiten ihrer Manipulation geht, steht außer Frage.19 Der
15 Fiske, „White-out – a polar phenomenon“, S. 955; mit Bezug auf: Byrd, „Narrative of the South Pole Flight“, S. 36. 16 Harker, George S.: „Whiteout – A bibliographical Survey“, Experimental Psychology Department, U.S. Army Medical Research Laboratory Fort Knox, Kentucky 1958. 17 Ebd., S. 7. 18 Ebd., S. 5. 19 Harkers Beschäftigung mit den Orientierungsstörungen verfolgt beispielsweise die Frage, auf welche Eigenschaften menschlicher Orientierungsfähigkeit dieses Verhalten zurückzuführen ist. Folgt man den Verweisen der Literaturliste seines Berichts, werden Verbindungen deutlich, die dieser nicht explizit benennt. Harker bezieht sich unter anderem auf F.H. Lund, der 1930 mit der Erforschung physischer Asymmetrien und deren Auswirkung auf die räumliche Orientierung den Schlüssel zum menschli-
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Zeitraum dieser Untersuchungen ist keineswegs zufällig: Eine systematische Polarpsychologie entwickelt sich in den 1950er Jahren und dient einerseits der Vorbereitung des Internationalen Geophysischen Jahrs (1957/1958), in welchem verschiedene Nationen gemeinsam in der Arktis und Antarktis forschen, die Ergebnisse aber zum Großteil zur Sicherung nationaler Vormachtstellungen in Bezug auf die ökonomische und militärische Nutzung der polaren Gebiete verwerten.20 Andererseits fungiert insbesondere die Antarktis als „gigantic laboratory and research field“21 für die bemannte Raumfahrt. Beim Sezieren und Bekämpfen physischer, physiologischer und psychischer Defizite ist das Whiteout lediglich ein Randphänomen. In Ove Wilsons Beschreibung der „Human Adaption to Life in Antarctica“ aus dem Jahr 1965 beispielsweise ist es ein Stressfaktor unter vielen, denen sich der Mensch in Extremlandschaften wie den Polarregionen aussetzt. Wegen des Einbeziehens eines Subjekts, in dessen Wahrnehmung sich erst der Horizont und andere Kontraste auflösen, dient das Whiteout allerdings in besonderer Weise der Auseinandersetzung mit der visuellen Orientierung im Raum und vor allem mit ihren Störungen.
1.1.2 O RTSWECHSEL Die Verunsicherung der Wahrnehmung und die permanente Sinnestäuschung, der ein Subjekt im Whiteout erliegt, werden in dieser Untersuchung auf einen
chen „sense of direction“ und Möglichkeiten zu dessen Beeinflussung sucht (Lund, F.H.: „Physical asymmetries and disorientation“, in: American Journal of Psychology 42 [1930], S. 51-62). Lund wiederum zitiert einen Aufsatz, der den Kreis schließt: Hasses und Dehners „Unsere Truppen in körperlicher Beziehung“ von 1893 (Hasse, C./Dehner, M.: „Unsere Truppen in körperlicher Beziehung“, in: Archiv für Anatomie und Entwicklungsgeschichte 16 [1893], S. 249-256). Die Assistenten der Anatomie untersuchen Körperasymmetrien und Gleichgewichtsempfinden „an der Hand eines grösseren, einheitlichen Materials jugendlich kräftiger und vollkommen gesunder Personen“ (ebd., S. 249) und bedanken sich für das „liebenswürdige[] Entgegenkommen der Kriegsverwaltung“ (ebd.), die ihnen über 5.000 Soldaten für diesen Zweck zur Verfügung stellt. 20 Vgl. Suedfeld, Peter: „Polar Psychology. An Overview“, in: Environment and Behavior 23/6 (1991), S. 653-665. 21 Wilson, Ove: „Human Adaption to Life in Antarctica“, in: van Mieghem, Jacques/van Oye, P. (Hg.): Biogeography and Ecology in Antarctica, Den Haag 1965, S. 690-752, hier: S. 734.
22 | W HITEOUT Leser literarischer Texte übertragen, der bei seinem Lektüregang ebenso auf Zeichen der texträumlichen Orientierung angewiesen ist. Wenn im Folgenden vom Leser gesprochen wird, zielt diese Rede auf keinen konkreten, sondern vielmehr auf einen Modellleser ab, dessen Mitarbeit den Text bedingt.22 In dem metaphorischen Modell des Whiteout, das Effekte und Verfahren literarischer Texte exponiert, nimmt er die Rolle des Subjekts ein, durch dessen gestörte Wahrnehmung sich das meteorologische Phänomen erst ereignet. Ausgangspunkte für die Analogisierung des territorialen und des textuellen Raumes sind zum einen die Metapher vom Text als Raum und zum zweiten die Zuschreibung literarischer Texte als schwer begehbare Räume, die dem Leser Widerstände entgegensetzen. Eine Verbindung zwischen dem geographischen und dem Textraum eröffnet bereits der naturwissenschaftliche Begriff Whiteout selbst. Hedine nennt seinen Begriff einen „descriptive term“23, der die Wirkung des Phänomens auf den Betrachter veranschaulichen soll. „[T]he picture is one of an unrelieved expanse of white“24, schreibt er und markiert damit den Zusammenhang zwischen dem territorialen und dem Textraum. Was Hedine nämlich als „descriptive term“ bezeichnet, sind mehrfache Übertragungen und Rückübertragungen von dem einen auf den anderen Raum. Diese Mehrstufenmetaphorik wird insbesondere dann deutlich, wenn man Whiteout nicht als „polare Weißblendung“, sondern wortwörtlich als „Ausweißung“ ins Deutsche überträgt. Die Vorstellung der ausgeweißten Landschaft rekurriert dabei nicht primär auf das Auftragen weißer Farbe, das der Duden mit dem „vollständigen Weißen eines Raumes“ nahelegt.25 Stattdessen bezieht sie sich auf die so genannten „Whites“, jegliche mikro- wie makrotypographische Auslassungen im Buchdruck. Jenen „white space“ zu erstellen, heißt „whiten, to make white, white out“.26
22 Vgl. Eco, Umberto: Lector in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten, übers. v. Heinz G. Held, München 1990. 23 Hedine, „The ‚Arctic Whiteout‘“, S. 130. 24 Ebd. 25 „[E]inen Raum vollständig weißen“ (Duden – Deutsches Universalwörterbuch, Mannheim u.a. 62007). 26 Vgl. The Random House Dictionary of the English Language, New York 1966: „white space: the unprinted area of a piece of printing“ (S. 1630); „white: of the color of pure snow, of the margins of this page; blank, as an unoccupied space in printed matter“, „whiten, to make white, white out: to leave space“ (S. 1628). Oxford English Dictionary (=OED), Oxford 2005, Bd. 20, S. 266: „white“: „printing. Blank space in certain letters or types, a space left blank between words or lines“.
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Zuschreibungen des territorialen Raumes werden aber nicht nur auf den leeren Textraum bzw. auf die Auslassungen in der Schriftfläche übertragen: Die „blank“ und „unoccupied spaces“ auf dem Papier etablieren umgekehrt die Metapher der weißen Flecken, die ab dem 18. Jahrhundert jene unerforschten Gebiete bezeichnen, die sich noch nicht in Karten eintragen lassen. „[U]nbeschriebenes oder unbedrucktes papier wird weisz genannt, vgl. purae chartae“ heißt es dazu im Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm.27 Diese verweisen zudem auf Chomels Öconomisches Lexikon, in dem „weisz oder leer […] dasjenige theil in den tagebüchern der kauffleute, so nicht beschrieben“28 ist, bezeichnet. Die weißen Flecken sind buchstäbliche Aussparungen in den Landkarten: Es wird nämlich keine zusätzliche Farbschicht aufgetragen; was aus den Karten hervorleuchtet, ist das Weiß des unbedruckten Papiers. Diese Verbindung zwischen dem Papier und dem Raum kommt unter anderem in der idiomatischen Redewendung „in the white“ als einem schwebenden und noch unfertigen Zustand, der sich gestaltlos weder nachzeichnen noch ablesen lässt, zum Ausdruck.29 Was sich Hedine bei seiner Suche nach einem allgemeingültigen Begriff sicher nicht vorstellte, die Verknüpfung zwischen dem Whiteout und der ausgeweißten Schriftfläche nachträglich jedoch unterstreicht, ist die Verwertung des Namens durch das amerikanische Unternehmen BIC. Dieses benennt 1966 eine Korrekturflüssigkeit, die Tinte erstmals nicht nur überdeckt, sondern die entsprechende Stelle erneut beschreibbar macht, „Wite-out Brand“ (Abbildung 2). Das Ausstreichen der Schrift ist hier zwar positiv als Vorbedingung der Wiederbeschreibung konnotiert, der Name „Wite-out“ eröffnet durch die falsche Schreibweise aber auch eine Verbindung zu „atwite“/„wite“, das semantisch mit „censure“ und somit auch mit „censor“ in Zusammenhang steht.30
27 Grimm, Jacob u. Wilhelm: Deutsches Wörterbuch, Leipzig 1854ff., Bd. 28, Sp. 11781203. 28 Chomel, Noël: Die wahren Mittel, Länder und Staaten glücklich, Ihre Beherrscher mächtig, und die Unterthanen reich zu machen: Mehrerer Bequemlichkeit halber in alphabetischer Ordnung vorgetragen: Oder Großes und Vollständiges Oeconomischund Physicalisches Lexikon, Leipzig 1750, Bd. 2, S. 175. 29 Vgl. The Random House Dictionary of the English Language, S. 1628: „in the white: unfinished state or condition, widen the interlinear spacing by inserting leads“. 30 Vgl. OED, Bd. 20, S. 441: wite, wyte: „to observe, consider, censure, blame, punish“. Inzwischen listet das OED „White-out“ (mit „h“ wohlgemerkt) als gängige Bezeichnung für Korrekturflüssigkeiten auf (analog dem deutschen „Tipp-Ex“): „A white liquid that can be brushed on to paper to obliterate marks and provide a white surface in which to type or write afresh.“ (Bd. 20, S. 279)
24 | W HITEOUT Abbildung 2: Wite-Out, BIC. Werbekampagne für FedEx-Kinkos von BBDO.31
Die Auslassungen auf bedrucktem Papier und die nachträglich ausgestrichene Schrift stellen zunächst die Verbindung zwischen dem ausgeweißten Territorium und der Schriftfläche her. Um von dieser zum Textraum zu gelangen, seien metaphorische Konzepte genannt, die sowohl die Verfertigung als auch die Rezeption von Texten räumlich verstehen. Auf die Räumlichkeit von Texten verweisen bereits antike Metaphern der Textualität wie jene der textura, des Gewebes, und insbesondere die architektonische Strukturmetapher des Aufbaus als ordentliche Zusammenfügung der Gedanken oder Worte in der Rede.32 Die Vorstellung vom Text als Raum bezieht sich dabei gleichermaßen auf die äußere Gestalt des Textes sowie auf seinen metaphorischen Innenraum. Beide werden vom Leser – oder auch vom Verfasser – wie ein territorialer Raum wahrgenommen und deiktisch beschrieben. Lokaldeiktika wie „oben“, „hier“ oder auch Wendungen wie „eingangs“, „beiläufig“ und „andernorts“ sind inzwischen derart ubiquitär, dass sich
31 http://www.wite-out.com/; http://www.bbdo.com/worldwide; http://images.business week.com/ss/06/07/weird_ads/source/12.htm; eingesehen im Oktober 2007. 32 Quintilianus, Marcus Fabius: Ausbildung des Redners. Institutio oratoria, lat./dt., 12 Bücher, hg. u. übers. v. Helmut Rahn, Darmstadt 1988: Quintilian nennt die Wörter ‚Bausteine‘ (VIII, 6, 63), hebt die ‚Struktur‘ der Rede hervor (VIII, 5, 27) oder auch deren ‚Fundament‘ (I, 4, 5): „differenda igitur quaedam et praesumenda, atque ut in structuris lapidum impoli torum loco quo convenit quodque pomendum“. Vgl. auch: Assfahl, Gerhard: Vergleich und Metapher bei Quintilian, Stuttgart 1932.
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die eigentliche Rede über den materiellen Ort des Textes von der uneigentlichen Rede über dessen Innenraum mitunter schwer abtrennen lässt, zum Beispiel, wenn dieser ein Thema „zentral“ oder „randständig“ behandelt und damit keineswegs nur die räumliche Situierung innerhalb des Textes gemeint ist. Gerade diese Schwierigkeit verdeutlicht, inwiefern beide Texträume miteinander verbunden sind und sich wechselseitig aufeinander beziehen. Wolfgang Raible spricht von der Semiotik der Textgestalt33 und zeichnet die Entwicklung nach, die der geschriebene Text vom Abbild des gesprochenen Wortes, das laut vorgelesen und vom Ohr dekodiert werden muss, zu einem visuell erfassbaren Text vollzieht. Spätestens die Errungenschaften der Scholastik – Überschriften, Zusammenfassungen, Fußnoten usw. – verhelfen der inneren Organisation des Textes zu einer äußeren Sichtbarkeit und lassen den Leser „an jeder Stelle des Textes erkennen“, wo im „ganzen er sich gerade befindet“.34 Sie ermöglichen ihm, sich im Textraum wie in einem territorialen Raum zu orientieren.35 Das heißt, die ordnenden Operatoren des Textes – die Schrift und deren Auslassungen – dienen nicht nur der Übertragung, sondern bilden einen zusätzlichen Signifikanten, der den Text und seinen Inhalt mitbestimmt. In seiner eigentümlichen Vorstellung eines idealen Textraumes weitet Winfried Nöth die Orientierungsfähigkeit des Lesers aus: Nicht nur die äußere Textgestalt trägt demnach zur optimalen „Darstellung und Entwicklung von Gedanken“ bei, sondern auch die Merkmale des textuellen Innenraumes, etwa die „Kohärenz und strukturelle[] Stabilität der metaphorischen Räume und Körper“.36 Der leicht begehbare Text-
33 Raible, Wolfgang: Die Semiotik der Textgestalt. Erscheinungsformen und Folgen eines kulturellen Evolutionsprozesses, Heidelberg 1991. 34 Ebd., S. 31. 35 Auf die metaphorische Übertragung der räumlichen Orientierung auf geistige Prozesse verweist beispielsweise Immanuel Kant: „Sich orientieren heißt in der eigentlichen Bedeutung des Worts: aus einer gegebenen Weltgegend (in derer vier wir den Horizont einteilen), die übrigen, namentlich den Aufgang zu finden. Sehe ich nun die Sonne am Himmel und weiß, daß es um die Mittagszeit ist, so weiß ich Süden, Westen, Norden und Osten zu finden.“ (Kant, Immanuel: „Was heißt: sich im Denken orientieren?“, in: ders.: Gesammelte Schriften, hg. v. Wilhelm Weischedel, Berlin 1973ff. [Repr. der Ausg. v. 1957], Bd. VIII, S. 134) 36 Nöth, Winfried: „Der Text als Raum“, in: Halwachs, Dieter W. (Hg.): Sprache. Onomatopöie. Rhetorik. Namen, Idiomatik. Grammatik, Graz 1994, S. 163-173, hier: S. 168.
26 | W HITEOUT raum gewährleistet somit im doppelten, nämlich im eigentlichen und uneigentlichen Sinne, eine „freie visuelle Orientierung“.37 Sowohl im buchstäblichen als auch im übertragenen Sinne kann ein unübersichtlicher Textraum hingegen die Wahrnehmung des Lesers beeinträchtigen. Demnach verhindern nicht nur Störungen wie Materialschäden, Tintenflecke oder Leerseiten die Sicht- und Lesbarkeit des Textes: Die „freie visuelle Orientierung“ scheitert ebenso in einem ungeordneten Textraum, in dem orientierende Operatoren fehlen oder fehlgehen bzw. aufgrund von Merkmalen, die den Textraum im metaphorischen Sinn in einen schwer begehbaren Zustand versetzen. Texträume, die instabile Zusammenhänge und Brüche aufweisen, die den Leser mit Mehr- bzw. Uneindeutigkeiten konfrontieren, sind weder problemlos zu überblicken noch zu durchschreiten. Eben diese Texträume, die Nöths Vorstellung eines idealen Textraumes sicherlich nicht entsprechen, werden hier als literarische Texte charakterisiert, deren Lektüre sich nicht auf das schnelle Erfassen eines informativen Gehalts beschränkt, sondern Erzählweisen einschließt, die auf die Störung und Verunsicherung des Lesers abzielen. Um dessen Blick von der histoire auf das Sprachmaterial und die narrativen Verfahren des Textes (den discours) zu lenken, wirken literarische Texte auf unterschiedlichen Ebenen bzw. in verschiedenen Räumen des Textes dem Automatismus des Lesevorgangs entgegen.38 Nöths Vorstellung eines übersichtlichen und leicht begehbaren Textraumes setzt voraus, dass dieser über einen geradlinigen Weg verfügt, von dem der Leser im unübersichtlichen Gelände abgebracht werden kann. An die Stelle einer solchen linearen Abfolge der Schrift rückt hier ein räumliches Modell, das sich weder auf einem singulären noch auf einem bereits festgeschriebenen Weg begehen lässt. Vielmehr sind der Text und die Möglichkeiten seiner Durchquerung als komplexes Netz gedacht, in dem sich der Weg des Lesers durch den Text erst während der Lektüre bahnt. Der entscheidende Unterschied zu Nöths Textraum besteht nicht nur in der Unmöglichkeit einer vorherigen und endgültigen Übersicht, die den gesicherten Gang durch den Textraum gewährleistet. Nöths Modell setzt den Leser in einen bereits vorhandenen, auch ohne ihn existenten Textraum, während der Leser des hier vorgestellten Textmodells an dessen Konstitu-
37 Ebd. 38 Auf die Begriffe histoire und discours zur Unterscheidung zwischen der im Text erzählten Geschichte und der Art und Weise ihrer Darstellung greife ich auf Tzvetan Todorov zurück (Todorov, Tzvetan: „Die Kategorien der literarischen Erzählung“, in: Blumensath, Heinz [Hg.]: Strukturalismus in der Literaturwissenschaft, Köln 1972, S. 263-294).
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tion beteiligt ist. Durch seine Entscheidung, eine bestimmte Richtung bei der Lektüre einzuschlagen, wird diese mitunter erst begehbar. Das bedeutet, dass sich mit der jeweiligen Bezugnahme und dem aktuellen Blick auf den Text auch die Wege ändern, diesen zu durchqueren. Im Rückbezug auf die Metapher der textura ließe sich an dieser Stelle Roland Barthes’ generative Vorstellung vom Textgewebe anschließen, bei dem es sich nicht um „einen fertigen Schleier handelt […], hinter dem sich, mehr oder weniger verborgen, der Sinn (die Wahrheit) aufhält“, sondern um ein Gewebe, das „durch ein ständiges Flechten entsteht und sich selbst bearbeitet; in diesem Gewebe – dieser Textur verloren, löst sich das Subjekt auf wie eine Spinne, die selbst in die konstruktiven Sekretionen ihres Netzes aufginge“.39 Literarische Texte stellen nicht den von Nöth geforderten Leitfaden zur Verfügung, um den Leser sicher und schnell durch das Gelände des Textes zu führen. Sie erweisen sich im Gegenteil als eine mehrfädige Textur, die eine festgeschriebene Abfolge verhindert. Das Geflecht verschiedener Fäden, die sich zu und in diesem Gewebe kreuzen und verbinden, beinhaltet die Möglichkeit des Umwendens, der Schleifenbildung, das Aus- und Nachbilden des Raumes, den dieses Netz ergibt. Das verweist zum einen auf die multiplen Möglichkeiten, den Textraum zu durchqueren, zum anderen auf die Widerstände, die den Leser immer wieder desorientieren, vom Weg abbringen und dadurch zwingen, neue Varianten auszutesten, das vor ihm liegende Gebiet zu durchschreiten.
1.1.3 S IMULIERTE W AHRNEHMUNGSSTÖRUNGEN Formen, den Gang des Lesers durch den Textraum zu stören, sind hinsichtlich seiner äußeren Gestalt beispielsweise eine experimentelle Typographie, bei der die Schrift unlesbar und gerade dadurch sichtbar wird, bzw. Auslassungen der Schrift, mit denen der Text ebenfalls auf seine materielle Verfasstheit verweist. Denn die Sichtbarkeit der Schrift ist an die Störung ihrer Lesbarkeit gebunden: Indem die Schrift sichtbar wird, dient sie nicht mehr der Orientierung im Textraum. So wird dieser zu einem unwegsamen Terrain mit eingeschränkten Sichtverhältnissen – zu einem Gebiet unter Whiteout-Bedingungen. Solange die Schrift reibungslos der Informationsübertragung dient, macht sie sich unsichtbar. Erst wenn sie nicht mehr als verlässliches Kommunikationsmedium taugt, weil ihre Zeichen mehrdeutig sind, wird die Schrift zu einem „Wahrnehmungsmedi-
39 Barthes, Roland: Die Lust am Text, übers. v. Traugott König, Frankfurt/M. 1986, S. 94.
28 | W HITEOUT um“40, das selbst in Erscheinung tritt. Im Aufzeigen der Schrift als Medium, in dem die materielle Präsenz des Schriftkörpers und die Repräsentationsfunktion seiner Zeichen interferieren, wird allerdings etwas lesbar, das über den Sinn hinausgeht, den ein störungslos zu rezipierender Text offeriert.41 Indem literarische Texte die „sichtbare Unsichtbarkeit“42 der Schrift ausstellen, werden ihre Techniken „hinterfragbar als Imaginationstechniken, als Operatoren von Phantasmen“.43 Aber auch Texte mit einer unversehrten Oberfläche, wie die hier besprochenen Prosatexte, simulieren ‚Wahrnehmungsstörungen‘, die ihre Lesbarkeit ebenso be- oder sogar verhindern wie äußere Beeinträchtigungen. Schwer lesbar oder auch unlesbar werden Texte trotz ihrer unbeschädigten Verfasstheit, da „Autoreferentialität, Abweichungen, Überschüsse, Konventionsausbrüche und Mehrfachdeterminierungen […] die Möglichkeit einer vollständigen Erfassung […] fraglich erscheinen“44 lassen. Die Erzählungen und Romane thematisieren und simulieren ‚Wahrnehmungsstörungen‘, die – dem Whiteout vergleichbar – die Wahrnehmung verunsichern, da sie als solche nicht sofort auszumachen sind. Dabei übertragen sie Zuschreibungen des territorialen Raumes – das sind sowohl materielle Störungen des konkreten Textraumes als auch desorientierende Eigenschaften der Textgestalt – auf den metaphorischen Innenraum des Textes und produzieren ‚Ausweißungen‘ oder ‚Leerstellen‘ in einem ‚auslassenden‘ und ‚leeren‘ Erzählen. Die ‚Materialität‘ aber, die dadurch sichtbar wird, ist nicht mehr nur das Papierene der Schreibunterlage, sondern eine ebenso textuell erschaffene ‚Materialität‘. Die Texte verhandeln den Diskurs um die ‚sichtbare Unsichtbarkeit‘ der Schrift metaphorisch und exponieren damit gleichermaßen ihre Literalität als auch ihre Literarizität. Die metaphorische Auseinandersetzung mit dem territorialen Raum zielt auf zwei unterschiedliche Räume des Textes ab: zum einen auf den buchstäblichen Ort der Schrift, um die beim Lektürevorgang vergessen gemachte Schrift und deren Grund in Erinnerung zu rufen, und zum
40 Krämer, Sybille: „Zur Sichtbarkeit der Schrift oder: Die Visualisierung des Unsichtbaren in der operativen Schrift. Zehn Thesen“, in: Strätling, Susanne/Witte, Georg (Hg.): Die Sichtbarkeit der Schrift, München 2006, S. 75-83, hier: S. 75. 41 Vgl. Strätling, Susanne/Witte, Georg, „Die Sichtbarkeit der Schrift“, in: dies. (Hg.): Die Sichtbarkeit der Schrift, München 2006, S. 7-20, hier: S. 7. 42 Ebd., S. 8. 43 Ebd. 44 Groß, Sabine: „Schrift-Bild. Die Zeit des Augen-Blicks“, in: Tholen, Georg Christoph/Scholl, Michael O. (Hg.): Zeit-Zeichen. Aufschübe und Interferenzen zwischen Endzeit und Echtzeit, Weinheim 1990, S. 231-246, hier: S. 237, Fn. 18.
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zweiten auf den strukturellen Textraum. Derart lassen sich beispielsweise Bewegungen innerhalb der Narration, wie die Reise in der Kutsche oder die Schifffahrt, analog setzen zur Durchquerung des Textraumes durch den Leser und damit als metatextuelle Reflexion der eigenen räumlichen Bedingungen lesen.
1.2 Die Literarizität des Schnees
Der Transfer des Begriffes Whiteout auf Verfahren in literarischen Texten, um deren simulierte ‚Wahrnehmungsstörungen‘ zu benennen, erfolgt im Kontext der vielfachen Übertragungen und Rückübertragungen, die zwischen dem territorialen Raum und dem Textraum sowohl im eigentlichen als auch im uneigentlichen Sinne stattfinden. Die Texträume literarischer Texte sind Gebiete, in denen der Leser weder den ausliegenden Zeichen noch der eigenen Wahrnehmung trauen kann. Die Adaption eines Begriffes, der ursprünglich eine polare Wetterkondition bezeichnet, stellt ebenso eine thematische Verbindung zu den besprochenen Prosatexten her. Texte mit dem semantischen Schwerpunkt Schnee auf ihre literarische Selbstbezüglichkeit hin zu untersuchen, begründet sich in der Tradition von Schnee, Eis und Weiße als Motive und Metaphern der Medialität. Die Flussund Frostmetapher verhandelt beispielsweise den Übergang der ‚fließenden‘ Rede zum ‚gefrorenen‘ Wort, die antike Metapher des Kristalls repräsentiert hingegen den Wechsel vom Materiellen ins Geistige und animierte Schneefiguren stehen in Relation zu den Figurationen des Textes. Sie verweisen sowohl auf dessen schöpferische Kraft als auch – in einer schriftkritischen Auslegung – auf seine Surrogatfunktion. Die weiße Schneefläche wiederum referiert auf das noch unbeschriebene Blatt Papier als Inbegriff der Potentialität der Schrift sowie als Bedrohung der durch sie gesetzten Bedeutung. Die Rede von Schnee und verwandten Motiven in literarischen Texten ist gleichsam ein metaphorischer Metatext über die eigenen Entstehungsvoraussetzungen und die Zuschreibungen ihrer spezifisch schriftlichen Verfasstheit. In den ausgewählten Erzählungen und Romanen sind Schnee und Eis zudem jeweils an die Erfahrung von Räumen gebunden: In ihnen ist die Rede von verschneiten und von Schneestürmen heimgesuchten Gebieten, von Polarregionen und eisigen Hochgebirgsgipfeln sowie von ungewöhnlichen meteorologischen Phänomenen wie einem Eisregen, der erst am Boden gefriert und die Landschaft mit einer kristallinen Schicht überzieht. Schnee und Eis als mediale Metaphern
32 | W HITEOUT etablieren einen inhaltlichen Zusammenhang zwischen der Begehung winterlicher Räume und dem Abfassen oder auch Erfassen von Texten. Den Schreibund Leseprozess explizit der Durchquerung eines Raumes analog zu setzen, in dem extreme Witterungs- und Sichtbedingungen vorherrschen, beschreibt die Text- und Sinnproduktion nicht nur als Reise durch den Textraum. Dieser wird zugleich als schwer begehbares Gebiet bestimmt, in dem die Wahrnehmung und das Vorankommen des Lesers gestört werden. Zum Beispiel beeinträchtigt ihn die Ambivalenz des Schnees, die Unmöglichkeit, dessen eigentliche und uneigentliche Bedeutung klar voneinander abzugrenzen. Die semantische Verbindung zwischen Schnee, Eis und Weiße sowohl auf der wörtlichen Ebene, etwa bei der Beschreibung einer Winterlandschaft, als auch auf der metaphorischen Ebene, beim Verhandeln von Literarizität, erschafft ein Geflecht von unterschiedlichen Sinnzuweisungen. Dessen einzelnen Bestandteilen kann zwar jeweils eine Referenz zugeordnet werden, aus deren Kombination und Überlagerung gehen jedoch neue Bedeutungen hervor, die sich nicht mehr im Eigentlichen auflösen lassen. Über die Bestimmungen des winterlichen territorialen Raumes, von dem in den Erzählungen und Romanen die Rede ist, wird der Textraum nicht nur beschreibbar: Er steht zu der histoire in einem wechselseitigen Verhältnis und eben dieses Mitwirken des discours an der im Text zu erzählenden Geschichte kann die Wahrnehmung des Lesers verunsichern und den Prozess der Sinngebung erschweren. Denn nicht immer wird die Narration im Text realisiert wie in Pukins Erzählung „Metel’“, in der der Bericht über den Sturm den Leser ebenso am Fortgang hindert, wie der Schneesturm den Protagonisten selbst. Mitunter wird der discours zu einer Gegenstimme, die sich in die histoire einmischt oder deren Ambivalenz aufzeigt, etwa in der Darstellung eines erstarrten Winterwaldes als fließender Unterwasserlandschaft in der so genannten Eisgeschichte in Adalbert Stifters Die Mappe meines Urgroßvaters (1841-1867). In Herman Melvilles Moby-Dick, or the Whale (1851) trägt das eisige Vokabular hingegen zu einer eigentümlichen Präsenz der Weiße bei: Der Erzähler fühlt sich in seiner spärlichen Unterkunft gleichsam „in the heart of an arctic crystal“1, vergleicht Personen mit Schneeflocken2, bricht das „ice of indifference“3 oder nennt das Aussetzen der Beiboote zum Walfang eine Schlittenfahrt – dies alles wohlgemerkt ohne inhaltlichen Bezug zu polaren Gegenden. Die Rede von Schnee und Eis öffnet nichtsdestotrotz einen semantischen Raum, in dem der abwesende weiße Wal sowie
1
Melville, Hermann: Moby-Dick, New York 2003, S. 70.
2
Ebd., S. 238.
3
Ebd., S. 68.
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der Bezug auf die Polarfahrten, die aufgrund unheilvoller Grenzüberschreitungen zum Scheitern verurteilt sind, immanent werden. Doch auch wenn der Text das Erzählte bekräftigt, die Sprache bei der Beschreibung des Eises einzufrieren droht oder sich der weißen Eintönigkeit des Schnees durch Wiederholung ganzer Sätze anpasst, verweist er dennoch auf eine Stimme neben der des Erzählers und macht damit die eigenen Zeichen spürbar.4 Whiteout als Bezeichnung eines störenden Effekts bezieht sich nicht ausschließlich auf Verfahren der Ausweißung und Überblendung. Literarische Whiteout-Konditionen verunsichern in erster Linie die Wahrnehmung und Rezeption des Lesers, indem sich zum Beispiel eigentliche und uneigentliche Bedeutungen überlagern oder histoire und discours wechselseitig aufeinander beziehen. Die Erzählverfahren oder die Rhetorik des Textes können dessen Semantik bestätigen, ihr aber ebenso widersprechen, etwas ganz anderes erzählen. Dadurch werden die Zusammenhänge instabil und der Leser verliert bei seinem Gang durch den Textraum allmählich das Gleichgewicht und gerät ins Wanken. Die Unsicherheit des im Whiteout Wahrgenommenen schafft Misstrauen gegenüber offensichtlichen Bedeutungen und herkömmlichen Formen literarischer Repräsentation. Der Vielzahl optischer „inadequate or misleading stimulations“ – wie es Harker in seinem Whiteout-Report nennt – steht die stets zurückgenommene, verweigerte Bedeutung gegenüber, die sich einer endgültigen Fixierung verwehrt und immer wieder neu gelesen und gedeutet werden muss. Das Verhängnis des Individuums im Whiteout ist sein Vertrauen in die noch sichtbaren Zeichen, die unvollständig sind oder in einem wortwörtlich neuen Licht ganz andere Bedeutungen stiften. Ebenso wird der Leser literarischer Texte mit Zeichen konfrontiert, die sich als unerwartet mehr- bzw. uneindeutig erweisen und ihn in die Irre führen, in diesem Fehlgehen im mehrfachen Sinn jedoch auf ihre literarische Verfasstheit und deren Bedingungen verweisen. Das Whiteout als simulierte ‚Wahrnehmungsstörung‘ des Textes lässt sich in der Gegenüberstellung eines Theaterbegriffes veranschaulichen, der ebenfalls eine Störung bezeichnet: „[T]o black out“ oder „blackout“ meint das plötzliche Verdunkeln der Bühne, wobei dies ein intendierter Effekt sein kann, um einen Moment des Bühnengeschehens zu unterstreichen oder einen Szenenwechsel einzuleiten, als auch bloßer Zufall im Sinne eines Unfalls durch den Bühnen-
4
Roman Jakobson spricht von der „palpability of signs“ (Jakobson, Roman: „Closing Statement: Linguistics and Poetics“, in: Sebeok, T.A. [Hg.]: Style in Language, New York 1960, S. 350-377, hier: S. 356).
34 | W HITEOUT techniker.5 In der Luftfahrt meint „blackout“ einerseits „[a]n enforced period during which all lights in an area are turned off or concealed, so as not to be visible from the air“6 – dem entspricht im Deutschen die „Verdunklung“ – und in einer Übertragung dieser von außen herbeigeführten Sichtstörung auf die subjektive Wahrnehmung des Piloten andererseits „[a] condition of temporary loss of vision, possibly also loss of consciousness, resulting from the effect of high and sustained positive acceleration on the body“.7 Das unbeabsichtigte Versagen der Bühnenbeleuchtung und der ebenfalls übertragene Gebrauch des Begriffes Blackout in der Luftfahrt, um eine durch Blutmangel im Gehirn ausgelöste Bewusstlosigkeit zu beschreiben, führen – ähnlich dem Whiteout als Bezeichnung für Korrekturflüssigkeiten – zu einem erneuten „common use“, der das Versagen eines Zustandes meint. Den Kreis zum Whiteout schließt das Blackout als zufällige Störung des Bühnengeschehens. Im Prozess der Verdunklung erhellt es nämlich etwas, das unsichtbar, in einem anderen Dunkel hätte bleiben sollen: die Tatsache, dass Hilfsmittel des Theaters – wie zum Beispiel die Beleuchtung – zur Erzeugung von Illusionen dienen. Ein Blick auf die Übergangszeit der natürlichen zur künstlichen Bühnenbeleuchtung im 19. Jahrhundert veranschaulicht das: War die vormoderne Bühne des 17. und 18. Jahrhunderts kaum mehr als „ein Lichtrahmen, ein Guckkasten, der von den Rändern her weniger beleuchtet als mit Lichtern markiert wurde“ – also „chronisch unterbelichtet“8 –, ermöglicht das elektrische Licht, „die Szene im ganzen sehr hell zu machen“.9 Allerdings erleuchtet dieses nicht nur die Bühne; „[g]nadenlos stellte das neue Licht die alten Illusionsmittel bloß“.10 Paul Lindau, Zeuge der ersten Beleuchtungsexperimente, berichtet:
5
Bowman, Walter P./Ball, Robert H.: Theatre Language. A Dictionary of Terms in English of the Drama and Stage from Medieval to Modern Times, New York 1961, S. 31.
6
Kumar, Bharat: An illustrated Dictionary of Aviation, New York 2005, S. 106.
7
Ebd., S. 105.
8
Schivelbusch, Wolfgang: Lichtblicke. Zur Geschichte der künstlichen Helligkeit im
9
Karl Friedrich Schinkel; zit. nach: Biermann, Franz Benedikt: Die Pläne für Reform
19. Jahrhundert, München 1983, S. 183. des Theaterbaus bei Karl Friedrich Schinkel und Gottfried Semper, Berlin 1928, S. 35. 10 Schivelbusch, Lichtblicke, S. 187.
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„Das unverhältnismäßig starke und intensive Licht […] frisst alle Farben der Umgebung weg und zerstört dadurch, daß in der hellen Beleuchtung die äußeren Hilfsmittel grob hervortreten, die Täuschung in empfindlicher Weise. Anstatt des Baumes sieht man die gemalte Leinwand und anstatt des Himmels ein gezogenes Segeltuch.“11
Nicht nur das Bühnengeschehen, sondern das Medium selbst wird „ins hellste Licht gesetzt“.12 Die Neue Freie Presse kritisiert anlässlich der Probebeleuchtung der Wiener Hofoper im Mai 1883, dass „das elektrische Licht die Art und Weise der Mache, das grobe Stoffliche dieser Kunststücke, die unentbehrlichen Hilfsmittel derselben allzu deutlich erkennen läßt“.13 Ohne das Whiteout in direkte Verbindung zur noch ungewöhnlich hellen Beleuchtung des Theaters zu stellen, wird an dieser Stelle deutlich, inwiefern Störungen oder Abweichungen wie die Unter- oder auch Überbeleuchtung des Schauspiels sowie des Textes diese aus ihrer Semantik ausbrechen lassen. Die Illusionsmittel treten zurück und dafür „die Art und Weise der Mache, das grobe Stoffliche“ umso deutlicher hervor.
11 Paul Lindau; zit. nach Baumann, Carl-Friedrich: Entwicklung und Anwendung der Bühnenbeleuchtung seit der Mitte des 18. Jahrhunderts, unveröff. Dissertation, Köln 1956, S. 360; zit. nach: Schivelbusch, Lichtblicke, S. 189. 12 Schivelbusch, Lichtblicke, S. 189. 13 Neue Freie Presse anlässlich der Probebeleuchtung der Wiener Hofoper, 11.05.1883, Nr. 6718; zit. nach: Schivelbusch, Lichtblicke, S. 189.
1.3 Der Blick auf das der Sicht Entzogene
Zu den konventionellen Bestimmungen traditioneller Motive und Metaphern wie jener der Kristallisation treten um 1800 nicht nur zunehmend subjektive, lediglich auf einen singulären Text und dessen Verfahren beschränkte Sinnzuweisungen. Das Metaphernfeld von Schnee und Eis speist sich zudem aus naturwissenschaftlichen Erkenntnissen, die im Zuge des wissenschaftlichen Paradigmenwechsels im 19. Jahrhundert weitestgehend restrukturiert werden. Den Prozess der Sinngebung erschwert somit zusätzlich die Diskrepanz zwischen den Setzungen der antiken Naturlehre und deren Revidierungen. Beispielhaft für derartige Neubestimmungen ist die metaphorische Umdeutung des Kristalls: Ausgehend von der antiken Annahme, der Bergkristall sei verfestigtes Eis, das sich nicht mehr verflüssigen lässt und somit außerhalb des natürlichen Kreislaufs der Kristallisation und Fluidisierung steht, veranschaulicht die Kristallmetapher bis ins 18. Jahrhundert hinein den Übergang des Materiellen ins Geistige. Der Kristall steht für die Grenzüberschreitung des ontologisch Geschiedenen und markiert den disparaten Status der voneinander abgetrennten Bereiche. In einer texttheoretischen Ausdeutung repräsentiert er das Verhältnis zwischen dem Referenten als einer außersprachlichen Wirklichkeit und dessen Zeichen. Um 1800 vergleicht die Mineralogie die anorganische Kristallbildung hingegen einem organischen Wachstum: Anstelle des Übergangs von dem einen in den anderen Zustand veranschaulicht der Kristall in der metaphorischen Bezugnahme der deutschen Frühromantiker deren harmonische Vereinigung.1 Dass sich sein Heranwachsen erst in der chemischen Analyse erschließt, geht ebenfalls in ihre Kristallkonzeption ein; denn Prozesse, die in einem der Sicht entzogenen Bereich stattfinden, stören die unmittelbare Korrespondenz zwischen dem Zeichen und
1
Vgl. Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph: „Über das Verhältnis der bildenden Künste zur Natur“ (1807), in: ders.: Schellings Werke, hg. v. Manfred Schröter, 3. Ergänzungsband, München 1968, S. 399f.
38 | W HITEOUT dem Bezeichneten erheblich. Das Zeichen wird opak und verweist nicht mehr auf den Referenten, sondern auf dessen Abwesenheit und mediale Ersetzung.2 Die metaphorische Neubestimmung des Kristalls durch die Frühromantiker ist lediglich ein markanter Punkt in der Geschichte seiner Umdeutung. Neben der Beziehung zu den Naturwissenschaften wird an dieser Stelle vor allem die historische Wandelbarkeit texttheoretischer Bestimmungen deutlich. Die Naturwissenschaften – insbesondere die Geowissenschaften, die in direktem Zusammenhang mit Schnee und Eis stehen, wie die Meteorologie, Glaziologie, Nevologie oder Kristallographie, – stellen aber nicht nur Motive oder metaphorische Modelle bereit, sondern erweisen sich als ebenso abhängig von rhetorischen Konzeptionen, etwa indem Zuschreibungen des organischen Wachstums metaphorisch auf die Kristallbildung übertragen werden. Die Interaktion zwischen den Naturwissenschaften und der Literatur wird auch am Beispiel der Polarfahrten deutlich: Die Texte, die den Expeditionen als Reiseberichte nachfolgen oder ihnen in literarischer Form bereits vorangehen, versorgen den Diskurs eisiger Welten mit Fakten und Phantasmen. Sowohl die Polarfahrer als auch die Schriftsteller jagen weißen Flecken auf der Landkarte nach: Die faktische Datenleere zwingt die einen und ermöglicht den anderen, ein Wissen um die weißen Weltenden zu imaginieren. Selbst als die Phantasielandkarten des 16. und 17. Jahrhunderts allmählich fundierten geographischen Erkenntnissen weichen, nehmen die fiktiven und nicht-fiktiven Berichte über die polaren Gebiete noch immer aufeinander als Vorgänger und Nachfahrer intertextuell Bezug. Sie beliefern sich gegenseitig mit Vorstellungen und Erwartungen und vor allem mit einer Sprache, die diese Gegenden nicht lediglich beschreibt, sondern konstituiert.3
2
Vgl. Menninghaus, Winfried: „Die frühromantische Theorie von Zeichen und Metapher“, in: German Quarterly 62 (1989), S. 48-58.
3
Die gegenseitige Bezugnahme vergegenwärtigt unter anderem die Vielzahl semiwissenschaftlicher Mythen dieser Zeit, zum Beispiel Hanns Hörbigers Welteislehre, die astronomische Erscheinungen auf der Grundlage von Eis erklärt (Hörbiger, Hanns/ Fauth, Phillip: Glazialkosmogonie, Kaiserslautern 1913); John Symmes Aufarbeitung von Edmund Halleys Hohlwelttheorie, die von Öffnungen der Erdkruste jeweils am Süd- sowie Nordpol ausgeht, durch die man ins bewohnte Innere der Erde gelangt (Symmes, John Cleve: Theory of Concentric Spheres, 1826) oder William F. Warrens Annahme, der Nordpol sei die Wiege der Menschheit (Warren, William F.: Paradise Found. The Cradle of the Human Race at the North Pole. A Study of the Prehistoric World, London 1885). Einhergehend mit dem von Herodot erstmalig genannten Hyperborea, jenem Land jenseits des Nordwinds (Herodot: Historien, griech./dt., hg. v.
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Die Relation zwischen der Literatur und den Naturwissenschaften beschränkt sich jedoch weder auf die romantische Naturphilosophie, in der die unterschiedlichen wissenschaftlichen Ausrichtungen als Glieder eines organischen Ganzen fungieren, noch auf ein semimythisches Wissenschaftsverständnis, das der Erfahrbarkeit Entzogenes mit Phantasmen kompensiert. Zu den wesentlichen naturwissenschaftlichen Problemstellungen des 19. Jahrhunderts gehört – wie bereits das Beispiel der Kristallographie zeigte – die Diskrepanz zwischen dem Offensichtlichen und Prozessen, die in einem wahrnehmungsentzogenen Bereich stattfinden. War es eine der Antike und dem Mittelalter unbekannte Vorstellung, „[d]aß es in der Welt für den Menschen nicht nur zeitweise und vorläufig, sondern definitiv seiner natürlichen Optik Entzogenes und Unzugängliches geben könnte“4, richtet sich das neuzeitliche Interesse auf jenes innerweltlich Unsichtbare. Was sich der Sichtbarkeit oder Erfahrbarkeit entzieht – seien dies nun die chemischen Prozesse im Inneren des Kristalls, die Metamorphose von Gletschereis oder die meteorologischen Phänomene an den schwer zugänglichen Enden der Welt – wird zwar als naturgegebene, aber nicht mehr als naturgewollte Verborgenheit respektiert.5 Literarische Texte greifen auf derartige Fragen und Problemstellungen der Naturwissenschaften zurück, indem sie wie Edgar Allan Poe ihre eigene Expedition – und mit ihr den Leser – in südpolare Breitengrade schicken oder indem sie Erfahrungen, die den Abenteurern an den Rändern der Welt vorbehalten sind, auf den Textraum übertragen. Durch unterschiedliche Verfahren, die hier nach-
Josef Feix, Bd.1: Bücher I-V, Düsseldorf 2000, IV.13), das bislang das Rätsel aufgibt, ob sich der Name auf ein reales oder mythisches Gebiet bezieht, entstehen zahlreiche Polmythen: Warren greift beispielsweise in Paradise Found zur Beweisführung auf meteorologische Beobachtungen von Polarexpeditionen ebenso wie auf Dantes Vorstellungen der Hölle als „simply unrecognized ‚survivals‘ of prehistoric thought“ zurück (Warren, Paradise Found, S. 309. Vgl. Dante, Göttliche Komödie, ital./dt., übers. u. komm. v. H. Gmelin, München 1988 [Repr. d. Ausg. v. 1949]). Die FantasyAutoren Robert E. Howard und H.P. Lovecraft erschaffen in ihren Erzählungen hingegen ein „hyborisches Zeitalter“, eine vorzeitliche Zivilisation auf Grönland (vor allem Robert E. Howards Erzählungen um „Conan the Cimmerian“, die ab 1932 erscheinen). Die okkulte nationalsozialistische Thule-Gesellschaft vermutet sogar eine nordpolare Herrenrasse (Vgl. Godwin, Joscelyn: Arktos. The Polar Myth in Science, Symbolism, and Nazi Survival, London 1993, insbes. Kap. 5: „The Thule Society“, S. 47ff.). 4
Blumenberg, Hans: Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt/M. 31996, S. 426.
5
Vgl. ebd., S. 425.
40 | W HITEOUT gezeichnet werden, verhandeln und vor allem verunsichern sie Seh- und Raumgewohnheiten auf dem Boden literarischer Tatsachen. Bei dem in diesen Texten bereitgestellten Wissen handelt es sich um keine konkret formulierten Erkenntnisse, die in Konkurrenz zu den naturwissenschaftlichen Forschungen treten. Vielmehr sind es Erfahrungen, die sich nur in und durch die Literatur vermitteln lassen, indem jene die Wahrnehmung und Orientierung beeinträchtigenden Störungen nicht (nur) thematisiert, sondern dem Leser anhand verschiedener Effekte und Verfahren im Text vorgeführt werden.
1.4 Kursvorgabe
Die Effekte und Verfahren, die den Gang des Lesers durch den Textraum behindern, das heißt den Prozess der Lektüre und der Bedeutungssetzung erschweren, greifen in den besprochenen Texten verschiedentlich auf die Themen Schnee, Eis und Weiße zurück. Die folgenden Lektürekapitel sind daher an diesen drei Schwerpunkten ausgerichtet und setzen sich mit den jeweiligen metaphorischen Zuschreibungen der Schrift oder der literarischen als einer genuin schriftlichen Rede auseinander. Der konventionellen metaphorischen Bedeutung von Schnee, Eis und Weiße werden dabei metapoetische Neubestimmungen gegenübergestellt. Das erste Lektürekapitel VERWEHUNGEN UND GESTÖBER verbindet zwei verschiedene Themen: Den Mittelpunkt bildet der Schneesturm, der in Ludwig Tiecks Novelle „Die Klausenburg. Eine Gespenster-Geschichte“ sowie in den Erzählungen von Aleksandr Pukin und Lev Tolstoj mit dem gleichnamigen Titel „Metel’“ („Der Schneesturm“) Wege verschneit und dadurch Postschlitten von ihrem vorgesehenen Kurs abbringt. In den Erzählungen stehen der fiktionale territoriale Ort und der Textraum in einem analogen Verhältnis zueinander, denn der Schneesturm schreibt sowohl die Topographie der Landschaft als auch die des Textes um. In seinen Auswirkungen ähnelt er dem Whiteout, da die Postillons und der Leser weiterhin auf Zeichen vertrauen, die ihrer (text-)räumlichen Orientierung längst nicht mehr dienen. Bei seinem Gang durch den Text wird der Leser nämlich mit Zeichen konfrontiert, die im ‚Gestöber des Textes‘ eine veränderte Bedeutung angenommen haben. Die an Walter Benjamin angelehnte Metapher des Textgestöbers verhandelt das Verhältnis von Sichtbarkeit und Lesbarkeit der (Schrift-)Zeichen: Deren Oszillieren realisiert sich in den Erzählungen zum Beispiel durch narrative Muster, Konventionen und Leseerwartungen, die zunächst etabliert, dann aber unterlaufen werden und sich nachträglich lesbar als unerwartet mehrdeutig erweisen. Über die in den Texten errichtete Verbindung zwischen dem Reisen und der Bewegung durch den Textraum thematisiert
42 | W HITEOUT das Kapitel ebenso die Relation zwischen der zielgerichteten Bewegung durch den Text und der Lektüre auf Abwegen. Das Schriftmodell des Gestöbers, das nur in der flüchtigen Konstellation lesbar wird, impliziert bereits verschiedene Lesarten und verweist darauf, dass literarische Texte sich nicht linear auf einem vorab festgelegten Weg begehen lassen, sondern ihre Lektüre per se auf Umwegen, Abwegen und Irrwegen erfolgt. Im zweiten Lektürekapitel VERGLETSCHERUNG werden ausgehend von Adalbert Stifters Die Mappe meines Urgroßvaters und Christoph Ransmayrs Der fliegende Berg die Metaphorik der Vereisung und deren Implikationen verhandelt. Beide Texte setzen sich mit der Kristallisation als einem allegorischen Prozess der Verschriftlichung auseinander und stellen der Erstarrung der ‚fließenden‘ Rede in ‚gefrorene‘ Schriftzeichen das Modell der Vergletscherung gegenüber. Dies erfolgt vor allem, indem sie sich trotz der Rede über Eis und Kristallisation der in der konventionellen Frostmetapher proklamierten Erstarrung im Textraum verwehren. Denn das Verständnis von Schrift als einem bloßen Derivat der mündlichen Rede bestimmt diese zu einem Mittel der Fixierung und Konservierung. Demgegenüber machen die besprochenen Texte die in der Vergletscherung allegorisierte Schrift als ein Gefüge erfahrbar, das sich im anhaltenden Wechsel von Gefrieren und Tauen stets verändert. Anstelle der fixierenden Abbildung exponieren sie den Prozess des Schreibens als einen Vorgang der Deformation, Defiguration und zugleich auch (Re-)Figuration. Mit der Referenz auf die traditionelle Metaphorik der Vereisung wird diese zum einen als Modell von Schriftlichkeit ausgestellt; zum anderen verweisen die Texte durch deren literarische Neubestimmung auf ‚erstarrte‘ Konventionen und die Notwendigkeit ihrer Aktualisierung. Das Kapitel ergänzt nicht nur das Textmodell des Gestöbers um die themenverwandten medialen Fluss- und Frostmetaphern. Das mit der Vergletscherung aufgerufene Textmodell veranschaulicht ebenso, dass sich literarische Whiteout-Effekte nicht auf Verfahren der Ausweißung oder visuellen Beeinträchtigung beschränken, sondern Störungen der Wahrnehmung und Orientierung des Lesers einschließen, die aus der metapoetischen Verwirklichung, der textuellen Realisation des Erzählten resultieren. Das abschließende Kapitel WEISSE widmet sich zwei verschiedenen Aspekten, die in unterschiedlicher Weise mit der literarischen Selbstreflexion in Zusammenhang stehen. Der erste Teil DIE NAVIGATION DER SCHRIFT thematisiert das den Schriftzeichen buchstäblich zugrunde liegende Weiß. Dazu werden in der Kombination der nautischen und der textilen Metaphorik die Seereisen in Edgar Allan Poes The Narrative of Arthur Gordon Pym of Nantucket und Herman Melvilles Moby-Dick, or the Whale als Reisen an den weißen Rand bzw. auf den weißen Grund der Schrift nachgezeichnet. Die semantischen Orte stehen
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damit nicht mehr nur in einem analogen Verhältnis zum metaphorischen Textraum, sondern machen den konkreten Ort der Schrift erfahrbar. Im Mittelpunkt des Kapitels steht die Polarität von Schwarz und Weiß als Paradigma der Gegensätzlichkeit bzw. des fundamentalen Spannungsbezugs zwischen Seiendem und Nichts. Das Weiß bedroht die Signifikanten als Ausweißung und Auslöschung, gleichzeitig ermöglicht es erst in seiner Opposition zum Schwarzen dessen Bestimmung und dient der Signifikanz wortwörtlich als weiße Fläche, in die sie ihre Zeichen und Redundanzen einschreiben kann. Der Whiteout-Effekt beider Romane resultiert insbesondere aus der Ambivalenz der vielfältigen Bezüge auf literarische und nicht-literarische Texte und deren mitunter konträre Konventionen sowie aus der Überlagerung eigentlicher und uneigentlicher Bedeutungen. Im zweiten Teil des WEISSE-Kapitels SPEKTRUM UND PHANTOM stehen die Aus- und Einweißungen in Conrad Aikens „Silent Snow, Secret Snow“ und Adalbert Stifters „Aus dem bairischen Walde“ im Zusammenhang mit Wahrnehmungsstörungen. Der halluzinierte Schnee beeinträchtigt den Betrachter nicht mehr nur temporär, indem er die Landschaft unter einer weißen Schicht verdeckt und damit ihre differenzierenden Begrenzungen aufhebt. Indem die Protagonisten etwas zu sehen bekommen, das keine Referenz besitzt, stellt der Schnee die auf Sichtbarkeit gegründete Wahrnehmbarkeit der Wirklichkeit selbst infrage. Ob es sich bei dem halluzinierten Schnee um eine eigentliche oder uneigentliche Störung der Wahrnehmung handelt, lässt sich in den Texten nicht immer eindeutig bestimmen. In Verschiebung zum Kapitel VERWEHUNGEN UND GESTÖBER steht hier nicht das Textmodell des Gestöbers im Mittelpunkt der Betrachtung, sondern das Bedrohliche halluzinierter Ein- bzw. Ausweißungen, die die Wahrnehmung des Subjekts in einer ganz anderen Weise beeinträchtigen. Denn das, was die Sicht der Protagonisten stört, ist in jeder Hinsicht eine gespenstische Erscheinung: Das lateinische „spectrum“ verweist in seiner Doppeldeutigkeit sowohl auf sichtbare, körperlose Erscheinungen wie das Licht als auch auf unheimliche Phänomene wie Geister. In der Auseinandersetzung mit dem die Wahrnehmung verunsichernden Phantomschnee verweisen die besprochenen Texte auf eine ‚Wirklichkeit‘, die der Sprache nicht äußerlich ist, sondern erst in ihr und durch sie statthat. Selbstreflexiv erschaffen die Erzählungen in der Rede von der halluzinierten Einweißung proleptisch jene Fläche, in die sie sich einschreiben.
2. VERWEHUNGEN UND GESTÖBER
2.1 Textgestöber
2.1.1 D AS „G ESTÖBER
DER
L ETTERN “
In Ludwig Tiecks Novelle „Die Klausenburg. Eine Gespenster-Geschichte“ (1837)1 sowie in den beiden gleichnamigen Erzählungen „Der Schneesturm“ („Metel’“) von Aleksandr Pukin (1831)2 und Lev Tolstoj (1856)3 gerät jeweils eine Postkutsche bzw. ein Postschlitten im Schneesturm von seinem Weg ab. Ebenso wie die Reise in der Postkutsche steht der Schneesturm als Motiv im Zusammenhang mit literarischen Traditionen und Konventionen: Er ist beschreibenswertes Ereignis in Reiseberichten, Metapher emotionaler Aufruhr während der romantischen Postkutschenfahrt, schicksalhafte Macht in sentimentalen Dramen oder ein spannungssteigerndes Hindernis, das sich den Protagonisten von Abenteuergeschichten in den Weg stellt. In den besprochenen Erzählungen ist der Schneesturm allerdings kein ausschließlich narratives Ereignis, sondern ein strukturelles Element des Textes, das den Konflikt zwischen der Lesbarkeit und der Sichtbarkeit von (Schrift-)Zeichen ausstellt. Die Protagonisten der Erzählungen reisen durch winterliche Gebiete, die Heinrich Reichards Post-Reisehandbuch als „meist sehr langweilig und einförmig“4 beschreibt. Denn die Landschaft, die den Reisenden beim Blick aus dem
1
Tieck, Ludwig: „Die Klausenburg. Eine Gespenster-Geschichte“, in: ders.: Ludwig Tiecks Schriften, Bd. 25: Ludwig Tiecks gesammelte Novellen. Bd. 9, Berlin 1966 (Repr. d. Erstauflage v. 1853), S. 73-174.
2
Pukin, Aleksandr S.: „Metel’“, in: ders.: Povesti pokojnogo Ivana Petrovia Belkina, Moskau 1999 (Repr. d. Ausg. v. 1831), S. 19-29.
3
Tolstoj, Lev N.: „Metel’“, in: ders.: Polnoe Sobranie Soinenij. Chudoestvennye Proizvodenija. Tom vtoroj 1852-1856, Moskau 2002, S. 182-204.
4
Reichard, Heinrich A.O.: [Passagier auf der Reise in Deutschland.] Mit besonderer Berücksichtigung der vorzüglichsten Badeörter, der Gebirgsreisen, der Donau- und
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Fenster eine gewisse Abwechslung bieten könnte, ist unter einer weißen und homogenen Schneedecke verborgen. Die Witterungsbedingungen wirken sich ebenso auf die Wahrnehmung der Reisenden aus: Pukins Landschaft verschwindet „hinter einem undurchsichtigen und gelblichen Schleier“5; Tiecks Erzähler spricht von „einer Art von Schimmer“, der mehr dazu dient, „Augen und Sinne zu verwirren, als zu irgendeinem Sehen zu verhelfen“6, und Tolstojs Reisender ermüdet vom „gleichmäßige[n] Hinstarren nach der einförmigen weißen Fläche“7. In diesen Texten begibt sich keiner der Fahrgäste auf Bildungsreise, um seinen Erfahrungshorizont zu erweitern, oder beschreibt ein Stück stürmischen Lebensweg. Im Mittelpunkt der Beschreibungen stehen die Bewegungen der Kutsche bzw. des Schlittens – sein Vorankommen, insbesondere jedoch die Aboder Irrwege und die Unterbrechungen der Fahrt. Denn der Schneesturm verschneit Wege und Markierungen, bis die den Postillons vertraute Landschaft zu einem „fremden Welttheile“8 wird. In seinen Auswirkungen gleicht er einem Whiteout, da die Navigierenden auf Zeichen vertrauen, die ihrer räumlichen Orientierung längst nicht mehr dienen, und von diesen dementsprechend in die Irre geleitet werden. Als Zeichen wird hier ganz allgemein eine „sinnlich wahrnehm-
Rheinfahrt. Ein Reise-Handbuch für Jedermann, Berlin
10
1839, Nr. 238, S. 699; zit.
nach: Kupec, Hans: Postgeschichte Kaiserreich Russland, Bd. I: Von der Botenpost zur Eisenbahn. Estafettenpost. Schwarzes Kabinett. Cholerapost und Perfins. Auslandspostämter. Kreta und Mt. Athos, Buchara, Sinzing 2006, S. 61. 5
Puschkin, Alexander S.: „Der Schneesturm“, in: ders.: Die Erzählungen des verstorbenen Iwan Petrowitsch Belkin, in: ders.: Romane und Novellen, übers. v. Michael Pfeiffer, Leipzig 1969, S. 74. „ , .“ (Pukin, „Metel’“, S. 20) Zur Vereinheitlichung der unterschiedlichen Schreibweisen wird Aleksandr Pukin im Fließtext in der üblichen deutschen Transkription geschrieben.
6
Tieck, „Die Klausenburg“, S. 95.
7
„Das gleichmäßige Hinstarren nach der einförmigen weißen Fläche hatte meine Augen ermüdet, und ich blickte wieder geradeaus.“ (Tolstoi, Leo N.: „Im Schneesturm“, in: ders.: Die Kosaken. Drei Erzählungen, übers. v. August Scholz, Berlin 1946, S. 217-254, hier: S. 223) „ , .“ (Tolstoj, „Metel’“, S. 184) Zur Vereinheitlichung der unterschiedlichen Schreibweisen wird Lev Tolstoj im Fließtext in der üblichen deutschen Transkription geschrieben.
8
Tieck, „Die Klausenburg“, S. 7.
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bare Größe, die als Träger von Bedeutung fungiert oder interpretiert wird“9, verstanden. Der Schneesturm fügt durch seine Verwehungen den bereits vorhandenen Zeichen, etwa den Markierungen des Weges, neue und veränderte Bedeutungen hinzu und deckt in der einsetzenden Verunsicherung die Konventionalität der Zeichen als Fiktion auf. Anstatt Mehrdeutigkeit zu produzieren, legen die Sichtstörungen im Schneesturm die bereits bestehende Ambivalenz der Zeichen offen. Für Irritation sorgt nämlich kein Mangel an diesen, vielmehr das Zuviel ihrer Bedeutung sowie die verwischte Grenze zwischen dem Sehen und dem Lesen der Bedeutungsträger. Wenn Peirce „alles Schließen und Räsonieren“ als „die Interpretation einer Art von Zeichen“ ansieht10, stehen im Mittelpunkt des folgenden Kapitels zum einen das Fehldeuten von Zeichen sowie zum anderen das Unvermögen, diese als solche zu identifizieren und einem Bedeutungssystem zuzuordnen. Statt auf eine „bedeutungstragende Einheit“11 starren die Postillons der Erzählungen noch immer auf eine weiße Fläche und wo sie nichts als Leere vermuten, haben sich längst Zeichen eingeschrieben, die sich ihrer Lesbarkeit entziehen. Erst in dieser durch den Schneesturm ausgelösten Verunsicherung der räumlichen Orientierung, da Zeichen aufgewirbelt und deplaziert, eingeschneit und verdeckt werden, wird die Mehr- bzw. Uneindeutigkeit der scheinbar eindeutigen Zeichen offensichtlich. Der Schneesturm wirkt sich aber nicht nur störend auf den fiktionalen territorialen Raum aus, von dem der Text erzählt, sondern hindert auch den Leser bei seinem Lektüregang durch den Textraum. In der Analogie der Texträume verbinden sich das Reisen und das Schreiben bzw. das Lesen: Der Reisende in der Kutsche lässt sich derart als Allegorie des sich durch den Text bewegenden Subjekts deuten. Dies kann sowohl der Erzähler (der Postillon als der Lenkende und Navigierende) als auch der Leser (der Reisende, der vom Kutscher befördert wird oder mitunter selbst agiert) sein. So geht Blomberg, der Erzähler in Tiecks Novelle „Die Klausenburg“, mit der Irrfahrt in der Postkutsche seinem Text voraus und lässt den Leser in einer gleichartigen Bewegung folgen. Ebenso ist in den „Schneesturm“-Texten von Pukin und Tolstoj der Fortgang der Erzählung an das Geschick der Postillons und an deren Orientierung im Schnee gebunden.
9
Titzmann, Michael: Art. „Zeichen“, in: Weimar, Klaus/Fricke, Harald/Müller, JanDirk (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. III, Berlin 2003, S. 877.
10 Peirce, Charles S.: „Was ist ein Zeichen?“, in: Bisanz, Elize (Hg.): Kulturwissenschaft und Zeichentheorien. Zur Synthese von Theoria, Praxis und Poiesis, Münster 2004, S. 39. 11 Titzmann, Art. „Zeichen“, S. 877.
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In umgekehrter Wechselwirkung verhindert mitunter sogar der durch textuelle ‚Wahrnehmungsstörungen‘ ins Stocken gebrachte Leser das Vorankommen des Textes und damit die Weiterfahrt des Schlittens. Durch den die Landschaft verdeckenden Schnee wird der (Text-)Raum in mehrfacher Hinsicht erfahrbar, denn indem die Landschaft unter einer weißen Schneedecke verschwindet und sich dem Blick des Betrachters entzieht, wird sie als Fehlendes und Abwesendes wahrgenommen. Erst nachdem die Wegmarkierungen nicht mehr sichtbar bzw. lesbar sind, verlassen die Postillons ihre routiniert abgefahrene Strecke und brechen aus ihrem bisherigen Automatismus aus: Sie geben Acht auf jeden Tritt der Pferde, der ein Tritt in eine unbekanntbekannte Gegend ist und sowohl auf sicheren Grund als auch auf versteckte Abgründe führen könnte. Sie hoffen auf das (Wieder-)Erkennen eines Weges oder einer richtungsweisenden Markierung, doch eben dieses Vertrauen in die Eindeutigkeit der konventionalisierten Zeichen und das Verkennen, dass diese unter den neuen (Wetter-)Bedingungen längst andere Formen und Bedeutungen angenommen haben, führen die Postkutschen auf Ab- und Irrwege. In einer Übertragung auf den Textraum wird dessen Subjekt ebenso mit Zeichen konfrontiert, die in ihrer Verweiskraft unerwartet mehr- oder auch uneindeutig sind. Das Lesen als Bewegung durch den Textraum geht nur schwer voran. Immer wieder muss unterbrochen, erneut eingesetzt, zurückgekehrt, der Weg verlassen oder im Kreis gefahren werden, um den Zeichen eine Bedeutung zuzuweisen. Durch das analoge Verhältnis des erzählten territorialen Raumes, dessen Extrembedingungen die visuelle Orientierung und das Vorankommen des Subjekts erschweren, zum Textraum, werden auch dessen Zeichen zu einem ‚Gestöber‘ – zu einer flirrenden, flimmernden Masse, die immer wieder aufwirbelt und verweht und dabei alte Bedeutungen mit neuen überlagert. Karl Kastners Handbuch der Meteorologie definiert das Schneegestöber als das „Gegenwehen […] temperaturungleiche[r] Winde“, als „Folge der Abstoßung zwischen […] elektrisirten Schneeflocken“.12 Als „aufscheuchung, aufruhr, auflauf, getümmel“13 greift das ‚Gestöber des Textes‘ auf ambivalente und gegenläufige Elemente der Sinnzuweisung zurück, setzt sie in veränderten Konstellationen zusammen und weht auch diese wieder auseinander. In der Einleitung des Deutschen Wörterbuchs etabliert Jacob Grimm die Verbindung zwischen dem Gestöber des Schnees und dem der Lettern: „Wie wenn tagelang feine, dichte Flocken vom Himmel niederfallen, bald die ganze Gegend in unermeßlichem Schnee zugedeckt liegt, werde ich von der Masse aus allen Ecken und Ritzen auf mich andringender Wörter
12 Kastner, Karl W.G.: Handbuch der Meteorologie, Erlangen 1832, Bd. 2, S. 569. 13 Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 5, Sp. 4241.
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gleichsam eingeschneit.“14 Die „aus allen Ecken und Ritzen“ „andringenden Wörter“ verweisen auf eine Historizität, die jedoch keine Linearität meint, sondern auf ein Oszillieren der Worte im Raum und somit auf deren ‚Gestöberhaftigkeit‘ abzielt. Analog dazu benennt Roland Barthes in „Am Nullpunkt der Literatur“ mit der „enzyklopädischen“ Eigenschaft des lyrischen Wortes dessen poetisches Potential: Das „enzyklopädische“ Wort umfasst „gleichzeitig alle Bedeutungen, unter denen auszuwählen es durch einen beziehungsreichen Diskurs gezwungen worden wäre“, „zurückgeführt auf eine Art Nullzustand, der alle vergangenen und zukünftigen Spezifizierungen enthält“.15 Das ‚Gestöber der Lettern‘ verhindert die Stagnation der Bedeutungen, da sie ständig in Bewegung bleiben, sich neu zusammensetzen und zu anderen Kontexten verbinden. Die damit einhergehende Unmöglichkeit, den Zeichen eine feste Bedeutung zuzuschreiben, erschwert allerdings auch ihre Lesbarkeit. In der „Lehre vom Ähnlichen“ beschreibt Walter Benjamin die Konstellation als Schriftmodell, das als ‚Gestöber‘ lesbar wird.16 Benjamins Konzept einer „unsinnlichen Ähnlichkeit“ setzt Sprache und Schrift dabei nicht sekundär zu einem vorgängigen Verhältnis: Die „Einsicht [in die Bereiche des ‚Ähnlichen‘] [ist] weniger im Aufweis angetroffener Ähnlichkeiten als durch die Wiedergabe von Prozessen, die solche Ähnlichkeit erzeugen [zu gewinnen]“.17 Die Wahrnehmung (von Ähnlichkeiten) ist das „Lesen“ einer „Configuration (in) der Fläche“18 und somit die Sichtbarkeit einer flüchtig aufblitzenden Konstellation. Lesbar wird diese durch die Zäsur als augenblicklicher Fixierung, die das oszillierende Gestöber feststellt und den Zeichen, die sich von ihrem Untergrund abhe-
14 Ebd., „Vorwort“, Bd. 1, S. IIf. 15 Barthes, Roland: „Am Nullpunkt der Literatur“, in: ders.: Am Nullpunkt der Literatur. Literatur oder Geschichte. Kritik oder Wahrheit, übers. v. Helmut Scheffel, Frankfurt/M. 2006, S. 41. 16 Benjamin, Walter: „Lehre vom Ähnlichen“, in: ders.: Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/M. 1976, Bd. II/1, S. 204213. 17 Ebd., S. 204. 18 Benjamin, Walter: Fragmente vermischten Inhalts: Zur Sprachphilosophie und Erkenntniskritik, in: ders.: Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/M. 1976ff., Bd. VI, S. 32: „Wahrnehmung ist Lesen/ Lesbar ist nur in der Fläche [E]rscheinendes./ […] Fläche die Configuration ist – absoluter Zusammenhang.“
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ben, Bedeutung verleiht.19 Denn sowohl Schwarz als auch Weiß, Vorder- und Hintergrund, Zeichen und Schriftfläche gehören dem „Gestöber von wandelbaren, farbigen und streitenden Lettern“20 an. Ohne mit der äußeren Gestalt des Textes habitualisierte Seh- und Lesegewohnheiten zu verunsichern, etwa durch das Einfügen von Leerseiten, bezeichnet das ‚Gestöber der Lettern‘ dem Leser zeitgleich das weiße unbeschriebene Blatt und die Textseite, auf der sich mehrere Zeichen übereinanderlegen und das Papier schwärzen, bis es nicht mehr gelesen werden kann. In den im Folgenden besprochenen Erzählungen ist die Rede vom Schnee gleichsam eine Rede über den Text und seine Verfahren. Dabei nimmt der Schneesturm in allen drei Texten einen unterschiedlichen Ort und eine jeweils mit diesem verbundene Funktion ein: In Tiecks Novelle „Die Klausenburg“ findet er nur beiläufig Erwähnung und stiftet mit seiner Platzierung am Rande eine spezifische Bedeutung im Text. In den Erzählungen von Pukin und Tolstoj steht der Schneesturm hingegen – wie im Titel angekündigt – im absoluten Mittelpunkt; so sehr, dass seine Beschreibungen sogar das vom Leser erwartete Ereignis während des Sturmes, die Entwicklung einer Narration, verhindern. Indem die Rede vom Schnee als die Rede vom Text einen so gewaltigen Raum einnimmt, thematisieren die Erzählungen ebenso ihre eigene Genese und die Bedingungen, denen das Subjekt in der Bewegung durch den Text ausgesetzt ist.
2.1.2 A BWEGE Auch wenn sich die Erzählungen von Ludwig Tieck, Aleksandr Pukin und Lev Tolstoj den Konventionen der traditionellen Postkutschenreise entziehen, erlaubt es das Motiv dennoch, Elemente der deutschen und russischen Postgeschichte bei ihrer Betrachtung einzubinden. Zur Entstehungszeit der Texte (1831 bis 1856) lässt sich weder in dem in Kleinstaaten zersplitterten Deutschen Reich noch im Kaiserreich Russland von einem einheitlichen Postsystem sprechen. An dieser Stelle soll aber nicht auf die Geschichte der Post und ihre regionalen Unterschiede eingegangen werden, vielmehr geht es darum, grundlegende Gemeinsamkeiten als Voraussetzung für eine konkrete Lesart herauszuarbeiten. Dies ist insbesondere der Umstand, dass das Reisen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in beiden Regionen fast ausschließlich über das von der Post etablierte
19 Vgl. Menke, Bettine: „Ornament, Konstellation, Gestöber“, in: Kotzinger, Susi (Hg.): Zwischen Klartext und Arabeske, Amsterdam u.a. 1994, S. 307-326, hier: S. 316. 20 Benjamin, Fragmente vermischten Inhalts, S. 103.
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Streckennetz erfolgt. Zwar wird der Raum dadurch erfahrbar gemacht, die Wege dieser Erfahrbarkeit sind jedoch strikt vorgegeben. Das abseits der Postroute Gelegene gilt als schwer erreichbar und selbst die Erforscher Sibiriens bewegten sich „auf den bereits bestehenden Poststraßen und beschrieben diese auch teilweise in ihren ausgegebenen Werken […]. Die Postsäulen jeder Straße waren nummeriert, wie die Grenzsäulen, und an den nummerierten Säulen orientierten sich Forscher und Postreiter.“
21
Diese „postalische Raumportionierung“22 im Sinne von festgelegten also „gebahnten Wegen“ und regulierten Tarifen ist – obwohl es die Brief- und Personenbeförderung natürlich schon länger gibt – eine relativ junge Erscheinung der Postgeschichte.23 Mit dem Ausbau dieses Netzes werden die Postkurse zu den „Kanälen der Kommunikation“ überhaupt: „Der Raum, einst unbekannt und unabwägbar, hatte seine Bedrohlichkeit verloren, er war durch Kanäle der Kommunikation erschlossen und wurde durch die Einführung des Linienverkehrs erschließbar.“24 Zu Kommunikationskanälen werden die Postkurse vor allem, da bis in das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts hinein die Beförderung sowohl von Personen als auch von Schriftstücken in der Hand nur einer Institution, nämlich der Post, lag. Eine Trennung beider Transportgüter in der offiziellen Postkutsche erfolgte im deutschsprachigen Raum sogar erst um 1820.25 Der Zusammenhang zwischen dem „Personenpostzwang“26 und dem gleichzeitigen Transport von Briefen lässt eine besondere Bestimmung der Postkutschen bzw. Postschlitten in den Erzählungen zu. Denn die persönliche Reise zum Adressaten erfolgt auf dem gleichen Weg wie das Versenden eines Textes zu ihm und benötigt die selbe Zeit: „Folglich konnten Zeichen als Ersatz für Körper herhalten, konnten Briefe als Stellvertreter eines abwesenden Körpers imaginiert werden.“27 In einer Umkehrung dieser Lesart werden die Insassen der Postkutsche nicht nur als lesende
21 Kupec, Postgeschichte Kaiserreich Russland, Bd. I, S. 55. 22 Behringer, Wolfgang: Im Zeichen des Merkur. Reichspost und Kommunikationsrevolution in der Frühen Neuzeit, Göttingen 2003, S. 438. 23 Erst im 17. Jahrhundert wurde in Europa der Linienverkehr eingeführt; vgl. ebd. 24 Ebd. 25 Vgl. ebd. 26 Siegert, Bernhard: Relais. Geschicke der Literatur als Epoche der Post. 1751-1913, Berlin 1993, S. 22. 27 Ebd., S. 21f.
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oder erzählende Bewegung durch den Textraum gekennzeichnet, sondern ebenso als Bewegung des Textes. Auch wenn die Protagonisten der Erzählungen nicht in der gewöhnlichen Postkutsche zwischen Paketen und Postsäcken reisen, greifen sie dennoch auf das von der Post etablierte Streckensystem, nämlich auf die Extra-Post, zurück. „Extra-Post ist dadurch von ordinären Posten verschieden, daß wie letztere immer an gewissen Tagen und in bestimmter Zeit […] abgehen und ankommen, erstere alsdann nur fährt, wenn es von Reisenden besonders verlangt wird […].“28 Dennoch werden die Reisenden „auf eine postmäßige Art, von Station zu Station, durch die für ordinäre Posten bestimmten Pferde und Postillons, unter der Direction der Postmeister […] für festgelegte Gebühren, fortgeschaft“.29 Diese „postmäßige Art“ des Reisens bedeutet eine möglichst schnelle und zielgerichtete Beförderung auf vorgegebenen Bahnen. Das Ausweichen auf Seitenwege ist dem Fuhrpersonal der Post sogar streng verboten, wie sich einer Verordnung des Königreiches Böhmen von 1806 mit Gültigkeit für sowohl deutsche als auch russische Gebiete entnehmen lässt. Darin werden die Postmeister angewiesen, „ihren Postknechten […] ernstgemessen und unter Androhung einer unausbleiblichen scharfen körperlichen Züchtigung zu verbieten, sich […] von der Poststraße auf entfernte Seitenwege zu entfernen […]“.30 Denn Kutschen, die aus dem Streckennetz fallen, geraten in Landstriche, die auf den Karten der Post weiße Flecken sind. Diese „postmäßige“ und zielgerichtete Beförderung wird im Winter, wenn nicht unmöglich, so doch zumindest erschwert. Reichards Post-Reisehandbuch empfiehlt die Fahrt mit dem Schlitten, denn man „kommt so sehr schnell fort, da alle Flüsse sehr stark zugefroren und die Wege eben und breit sind“.31 Die extremen Witterungsbedingungen des Winters verändern die Landschaft und ‚schreiben‘ sie regelrecht um: „Frost und Schnee […] machen leichte und nahe Wege und Brücken, Seen, Flüße und Moräste, über die man geradesten Weg fährt, oh-
28 Die Postgeheimnisse oder die hauptsächlichen Regeln welche man beim Reisen und bei Versendungen mit der Post beobachten muß um Verdruß und Verlust zu vermeiden, Leipzig 1984 (Repr. d. Ausg. v. 1803), S. 23. 29 Ebd., S. 24. 30 Gouv. Verordnung vom 29.9.1806, Gesetze und Verordnungen für das Königreich Böhmen von 1802 bis 1818 fassend, Prag 1826; zit. nach: Kupec, Postgeschichte Kaiserreich Russland, Bd. I, S. 62. 31 Reichard, [Passagier auf der Reise in Deutschland], Nr. 238, S. 699; zit. nach: Kupec, Postgeschichte Kaiserreich Russland, Bd. I, S. 61.
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ne beim Einbrechen unter sich tod und verderben zu ahnen […]“.32 Der Schnee hebt somit die bisherige Einteilung in Haupt- und Seitenwege auf und ermöglicht sowohl neue Wege als auch weitere Ab- und Irrwege. Der Fuhrmann in Pukins „Der Schneesturm“ verfährt sich zum Beispiel deshalb, weil ihm einfiel „auf dem Fluß entlang zu fahren, […] [a]ber die Ufer […] verweht“ waren.33 Die festen Bahnen, die die Schlittenkufen im Schnee ebnen, etablieren zwar wiederum neue Konventionen und Lesebedingungen, doch ist ihnen aufgrund ihrer Materialität die Vergänglichkeit und Veränderlichkeit bereits sichtbar eingeschrieben. In allen drei Texten konstituiert das ‚Schicksal‘ der Postkutsche den Verlauf des Textes. Entgegen den Maximen der Post werden die Kutschen bzw. Schlitten dabei vom Schneesturm aus der Bahn gedrängt. Die vorgegebenen und verlassenen Wege werden an dieser Stelle als literarische Konventionen und Traditionen, als gefestigte und gebahnte Sinnzuweisungen, gelesen, aus denen der Text auf der Suche nach neuen Bedeutungsmöglichkeiten ausbricht. Im Gegensatz zur zielgerichteten und geradlinigen Übermittlung von Informationen durch die Post, ‚transportieren‘ literarische Texte ihre Inhalte selbstreferentiell und weggerichtet. Diese Art des ‚Reisens‘ führt durch einen Raum, dessen unzureichende Sichtbedingungen die Reisenden auf noch unverzeichnete Abwege zwingen. Auf diesen Fahrten der „Wildenwahl“34 werden Umwege und Irrwege in Kauf genommen, denn gerade das ‚Abwegige‘ dieser Texte bestimmt ihren literarischen Charakter: in der Beschreibung einer Fahrt, die aus ihren festen Bahnen gerät und sich erst in dieser Abweichung erzählen lässt.
32 Ebd., Hervorhebung S.F. 33 Puschkin, „Der Schneesturm“, S. 82. „‚! , . " ; ! , , .‘“ (Pukin, „#etel’“, S. 28) 34 Tieck, „Die Klausenburg“, S. 94.
2.2 Eingeschneite Schmugglerpfade. Ludwig Tieck, „Die Klausenburg. Eine Gespenster-Geschichte“ (1837)
2.2.1 W ETTERVORHERSAGE Die Novelle „Die Klausenburg“ ist ein eher randständiger Text in Tiecks Gesamtwerk und erhielt in der Forschung bisher nur wenig Aufmerksamkeit. Dies liegt unter anderem an der Einschätzung, dass „andere Novellen des Dichters Wichtigeres zu sagen haben als diese unterhaltsame Gespenstergeschichte“.1 In der Rezeption als jene „Gespenster-Geschichte“, als die sich der Text in seinem Untertitel ausgibt, mag das zutreffen. Den auf der semantischen Ebene getroffenen Selbstaussagen stehen allerdings narrative Verfahren gegenüber, die die Existenz von Geistern widerlegen bzw. das vermeintlich Wunderbare in einen ambivalenten Zustand des Phantastischen überführen. Im Mittelpunkt der folgenden Lektüre steht der Bericht einer Kutschfahrt, den der Erzähler Blomberg seinem „Gespensterhistörchen“2 voranstellt, das die Binnenerzählung der Novelle bildet: Vor einigen Jahren geriet sein Wagen im Schneesturm vom Weg ab und gelangte nach stundenlanger Irrfahrt letztendlich wieder an den Ausgangspunkt, den der Erzähler als solchen jedoch nicht sogleich erkannte. Rückwirkend wird die zunächst seltsam aus dem Kontext der Novelle gelöste Schneesturmepisode zur Kursvorgabe des Textes: Indem die Binnenerzählung des Familienfluchs mit Geistererscheinung auf den sie konstituierenden Rahmen übergreift, zeichnet die
1
Stamm, Ralf: Ludwig Tiecks späte Novellen. Grundlage und Technik des Wunderbaren, Stuttgart u.a. 1973, S. 88.
2
Tieck, „Die Klausenburg“, S. 74. Im Folgenden werden die Seitenzahlen in Klammern im Text angegeben.
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Novelle die Bewegung der verirrten Kutsche nach. Mit ihrer buchstäblichen Umwendung schickt auch sie den Leser an den Anfang zurück, der inzwischen ein ganz anderer geworden ist und den Richtungswechsel nachträglich lesbar ankündigt. Der Ausgang der Novelle wird somit zu einem Ausgangspunkt, an dem das Erzählen erneut einsetzt. Die Dialektik des Exkurses, der von der Wende berichtet, und der Novelle, die diese vollzieht, macht den strukturellen Textraum beschreibbar anhand des eingeschneiten topographischen Raumes, den der Erzähler auf Abwegen passiert – das heißt anhand von Wetterkonditionen sowie deren Auswirkungen auf die Sichtverhältnisse der Reisenden und die Beschaffenheit der Wege. Blombergs Reise skizziert den weiteren Verlauf der Novelle und weist die vorliegende Geschichte dabei als einen Textraum aus, der sich einem routinierten Lesegang verwehrt. Er gleicht vielmehr einem Gebiet unter Whiteout-Konditionen, in dem die ausliegenden Zeichen in die Irre leiten, statt der Orientierung zu dienen. Vor allem konventionalisierte (An-)Zeichen der Schicksalstragödie oder des fatalistischen Schauerdramas beeinträchtigen die texträumliche Wahrnehmung des Lesers. Wie der Postillon im Schneesturm vertraut er auf Zeichen mit veränderter oder vervielfältigter Bedeutung, die sich nicht (mehr) eindeutig zuordnen lassen. Zum Whiteout-Gebiet werden die eingeschneite Landschaft und in der Übertragung der Textraum nicht wegen unter der Schneedecke verschwundener Wege und Kennzeichen: Der unter diesen Witterungs- und Sichtbedingungen erblindete Postillon bzw. Leser richtet sich nach den noch sichtbaren Überresten von Zeichen, obwohl er weder diesen noch der eigenen Wahrnehmung trauen kann. Der Schneesturm beeinträchtigt aber nicht nur Postillon und Leser, sondern visualisiert anhand der durch ihn ausgelösten Wahrnehmungsstörung und damit verbundenen Unmöglichkeit der eindeutigen Identifikation und Zuweisung von Zeichen ihr immer schon ‚Gestöberhaftes‘, das erst im Schneesturm offengelegt wird. Der Schneesturm verursacht nicht die Ambivalenz der Zeichen; er macht sie sichtbar. In Bezug auf das ‚Gestöber der Lettern‘ – wie es Benjamin beschreibt – exponiert der Schneesturm im Textraum, der den Leser fehlgehen lässt, in gleicher Weise die Ambivalenz der Schriftzeichen. Er verweist darauf, dass auch ein unversehrter Textraum, in dem der Leser nicht durch offensichtliche Störungen desorientiert wird, nur als flüchtige Konstellation, als Gestöber zu lesen ist. Die Episode von der im Schnee verirrten Postkutsche verbindet auf diese Weise den Aspekt der Sichtbarkeit und der Lesbarkeit konventionalisierter Zeichen mit der Thematik des Weges und des Abweges. In dieser Hinsicht ist „Die Klausenburg“ nicht nur eine „unterhaltsame Gespenstergeschichte“, sondern problematisiert durch den Text ‚geisternde‘ Genrekonventionen, die auf Abwege der Bedeutungszuweisung geraten.
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2.2.2 D AS
WUNDERBAR
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A LLTÄGLICHE
Im „Vorbericht“ zum elften Band seiner Schriften (1829) hebt Ludwig Tieck als besondere Funktion der Novelle hervor, „daß sie einen großen oder kleinen Vorfall ins hellste Licht stelle, der, so leicht er sich ereignen kann, doch wunderbar, vielleicht einzig ist. Diese Wendung der Geschichte, dieser Punkt, von welchem aus sie sich unerwartet völlig umkehrt, und doch natürlich, dem Charakter und den Umständen angemessen, die Folge entwickelt, wird sich der Phantasie des Lesers um so fester einprägen, als die Sache, selbst im Wunderbaren, unter anderen Um3
ständen wieder alltäglich sein könnte.“
Tiecks Bestimmung des Wunderbaren bezieht sich auf einen Begriff der Poetik des 18. Jahrhunderts: Wunderbar ist demnach ein Ereignis, das „‚auszerordentlich, ungewöhnlich, bemerkenswert, erstaunlich‘“4, aber doch wahrscheinlich ist.5 In seiner „Gespenster-Geschichte“ tritt das Neue und Merkwürdige, das der Erzählung wert ist, allerdings auf eine weitere Bestimmung des Wunderbaren, nämlich auf „die entfernung (des poetisch dargestellten von den begriffen des lesers) […] bisz eine vorstellung unsern gewöhnlichen begriffen, die wir von dem ordentlichen lauf der dinge haben, entgegen zu stehen scheint“.6 Das Wunderbare bildet nicht mehr nur die Opposition zum Alltäglichen; es kennzeichnet ein Geschehen, „das die naturgesetze durchbricht oder zu durchbrechen scheint“.7 Es ist das, was aus „dem ordentlichen lauf der dinge“, ihrem gebahnten Weg, ausbricht. Für beide Deutungen des Wunderbaren mutet die Form der Novelle zunächst seltsam an. Als das Unregulierte, das verschiedene formale und inhaltliche Kriterien miteinander vermengt, hält Tieck aber gerade sie dafür geeignet, „manches in konventioneller oder echter Sitte und Moral Hergebrachte überschreiten zu dürfen (wodurch sie auch vom Roman und dem Drama sich bestimmt unter-
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Tieck, Ludwig: „Vorwort“, in: ders.: Schriften, Bd. XI, Berlin 1966ff. (Repr. d. Ausg. Berlin 1828-1856), S. LXXXXVI.
4
Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 30, Sp. 1843.
5
Vgl. Bodmer, Johann Jakob: Critische Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie und dessen Verbindung mit dem Wahrscheinlichen, Zürich 1740.
6
Breitinger, Johann Jakob: Critische Dichtkunst, Zürich 1740, Bd. 1, S. 129; zit. nach: Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 30, Sp. 1851.
7
Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 30, Sp. 1843.
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scheidet)“.8 Der „sonderbare[], auffallende[] Wendepunkt“9, an dem das Alltägliche mit dem Wunderbaren kollidiert, lässt sich zudem nicht nur als die Stelle lesen, an dem das Alltägliche ins Wunderbare oder das Wunderbare ins Alltägliche umschlägt, sondern als Verunsicherung der jeweils ausgestellten Erzählwirklichkeit. In „Die Klausenburg“ erfolgt mit dem Übergriff der Gespenstergeschichte der Binnenerzählung auf ihren Rahmen zunächst eine Wendung ins Wunderbare. Dass plötzlich auch die Figuren der Rahmenhandlung Gespenstern begegnen, ist eine Grenzüberschreitung, die die Ordnung der repräsentierten Wirklichkeit und mit dieser die Sicherheiten der alltäglichen Rede gefährdet. Die Novelle stellt das Wunderbare aus, demaskiert es jedoch zugleich als alltägliche Erscheinung, beispielsweise als Person, die in der Dämmerung lediglich den Anschein erweckt, ein Gespenst zu sein. Damit werden auch die mutmaßlich wunderbaren Phänomene, wie der Familienfluch mit Geistererscheinung, in den Bereich des mehrdeutig Phantastischen überführt. „Die Klausenburg“ geht weniger der Frage nach der Existenz von Geistern nach, sondern den Umbrüchen und Wendungen des Textes, die diese Gespenster sowohl hervorrufen als auch wieder zurücknehmen. Der Moment der Verunsicherung besteht damit nicht im Übergriff des Wunderbaren auf das Alltägliche; für Irritation sorgt vielmehr die Mehrdeutigkeit der Erscheinungen, die zugleich wunderbar als auch alltäglich gelesen werden können.
2.2.3 Ü BERGRIFFE
DES
W UNDERBAREN
Die Gespenstergeschichte der Binnenhandlung greift keineswegs plötzlich auf ihren Rahmen über: Die Wendung erfolgt in mehreren Schritten und geht mit zahlreichen Ankündigungen wie der Schneesturmepisode oder verdächtigen Berührungen beider Erzählebenen einher. Zudem wird Blombergs Geschichte von der unweit gelegenen Klausenburg immer wieder von den Zuhörern im Schloss der Baronin unterbrochen und kommentiert. Mit einem derartigen Aussetzen der Binnenerzählung beginnt die Novelle und bietet dem übergeordneten Erzähler die Möglichkeit, dem Leser die kleine Gesellschaft der Rahmenhandlung vorzustellen: Neben der Gastgeberin und Blomberg sind dies vorerst die zwei Konkur-
8
Tieck, Ludwig: „Vorwort“, in: ders.: Schriften, 12 Bde., hg. v. Manfred Frank, Achim Hölter, Paul Gerhard Klussmann, Uwe Schweikert, Frankfurt/M. 1988, Bd. 11, S. 12.
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Ebd., S. LXXXXVII.
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renten Anselm und Theodor; später stoßen noch die von ihnen umworbene Sidonie sowie deren Vormund Graf Blinden hinzu. Die Baronin fordert Blomberg zwar mehrfach auf, „in der Geschichte, welche zufällig war unterbrochen worden, fortzufahren“ (S. 75f.), doch erst muss deren Beginn den neu hinzugekommenen Gästen – und mit ihnen dem Leser – zusammengefasst werden. Bereits an dieser Stelle gibt der Erzähler Blomberg seine Rede an Theodor ab und überlässt ihm die Wiederholung des ersten Teils seiner Gespenstergeschichte, in dem die Bewohner der Klausenburg in unbestimmter Vorzeit („vor länger als hundert Jahren“, S. 83) einen Fluch auf sich ziehen. Theodors Versuch, den Gästen „kürzlich das [zu] wiederholen, was […] Freund Blomberg vorgetragen hat“ (S. 82), geht über eine bloße Wiederholung jedoch weit hinaus: In seinen Bericht integriert er bereits eigene Eindrücke und Erinnerungen von der Klausenburg und verbindet auf diese Weise den Ort des Erzählten mit jenem, an dem das Erzählen darüber stattfindet. Denn obwohl sich die Klausenburg in unmittelbarer Nähe des Schlosses der Baronin befindet und somit einen verifizierbaren Ort für die Figuren der Rahmenhandlung darstellt, besteht für diese kein Zweifel daran, dass die Wirklichkeit der als Sage gekennzeichneten Binnenerzählung einer anderen Ordnung unterliegt als die Ruine der Erzählgegenwart. An deren Pforte befindet sich nach Theodors Bericht eine Eisenstange, die einst mit einem Glöckchen verbunden, den Pförtner holen sollte. Er selbst prüfte erst kürzlich, dass sich „kein Laut […] von innen auf diese Mahnung vernehmen“ (S. 82f.) lässt. Diese vorerst nebensächliche Hinzufügung zu Blombergs Geschichte ist zum einen relevant für den weiteren Verlauf der Novelle. Zum anderen schärft sie die Aufmerksamkeit des Lesers für das am Rande Erwähnte sowie für den Wechsel der Sprecher, hier die Übergabe der Rede an den bisherigen Zuhörer Theodor. Dieser gibt den ersten Teil der Geschichte vom Familienfluch mit Geistererscheinung wieder: Als Graf Moritz eine „Horde von Zigeunern“ (S. 84), „die sich grober Missethaten schuldig gemacht hatten“ (S. 85), aus seinen Ländereien vertreibt, findet er bei seiner Rückkehr zur Klausenburg „[z]wei schmutzige, in Lumpen gekleidete alte Zigeunerinnen“ (S. 86) am Krankenbett seiner Frau vor. In blinder Wut lässt Moritz sie auspeitschen und erfährt erst nach der übereilten Misshandlung, dass die Frauen ihn aufsuchten, um ihrer Bande abzuschwören. Als Vertrauensbeweis wollten sie ihm das Versteck des gesuchten Anführers verraten, stattdessen verflucht eine der zu Unrecht Misshandelten den Grafen und seine Familie „bis in das dritte und vierte Glied hinab“ (S. 88). Nach dem Tod seiner Frau noch am gleichen Tag scheint sich dieser Fluch zu erfüllen, denn „[v]on diesem Augenblicke war der Graf ein verwandelter Mann. Seine Kraft war gebrochen. Er lebte seitdem wie ein Träumender, der keinen Willen
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hat, oder einen Entschluß fassen kann“ (S. 88). Wegen seines eigenmächtigen Vorgehens gegen die Zigeuner klagt die Regierung Moritz zudem als „Rebell und Uebelthäter“ (S. 88) an und zieht zur Strafe sein größtes Gut ein. Die Erfüllung des Fluchs wird im ersten Teil von Blombergs Geschichte aber lediglich behauptet. Moritz’ Schicksal ließe sich ohne Rückgriff auf den Fluch ebenso mit dem frühen Tod seiner Frau, mit dem Erschrecken angesichts der eigenen Brutalität oder mit der durch Verrat und Anklage herbeigeführten Verarmung erklären. Vor allem das vom Erzähler vorab angebrachte Etikett des Familienfluchs suggeriert die wunderbare Wirkung der Ereignisse. Verstärkt wird diese durch Genrekonventionen wie die Zigeunerin, die den Fluch verhängt und im weiteren Verlauf der Geschichte aktualisiert. Unmittelbar vor entscheidenden Ereignissen tritt sie auf und bringt diese dadurch mit dem Fluch in Zusammenhang. Wegen derartiger Rückgriffe auf Motive und Verfahren des Schicksalsdramas bzw. des fatalistischen Schauerdramas wurde „Die Klausenburg“ oftmals als Weiterführung des Genres oder als dessen Parodie rezipiert. Allerdings lässt sich beispielsweise an der Konzeption des Schicksals nachzeichnen, inwiefern Tieck zwar seinerzeit populäre literarische Konventionen aufgreift und ausstellt, sich letztendlich aber doch von ihnen absetzt.10 Die Sage um den Grafen Moritz inszeniert nach den Regeln des Schicksalsdramas einen dies fatalis, an dem sich
10 Das Schicksalsdrama war vor allem zwischen 1810 und 1825 populär. Die Namensgebung geht wahrscheinlich auf Heinrich Blümner und dessen Abhandlung Ueber die Idee des Schicksals in den Tragödien des Aischylos (Leipzig 1814) zurück, zielt allerdings – wie der Titel bereits verdeutlicht – nicht auf das zeitgenössische, sondern auf das antike Drama ab. Von diesem unterscheidet sich das Schicksalsdrama des 19. Jahrhunderts vor allem in der Konzeption eines unabwendbaren Schicksals, das als „personificirte[] Macht“ auftritt, beispielsweise als „Fluch und Segen, die auf ganzen Geschlechtern lasten und sich erfüllen; Orakel, Gestirne, vorbedeutende Träume oder dunkle Sagen, die sich dadurch als wahr herausstellen, daß sie eintreffen“ (Minor, Jacob: „Zur Geschichte der deutschen Schicksalstragödie und zu Grillparzers ‚Ahnfrau‘“, in: Jahrbuch der Grillparzer-Gesellschaft 9 [1899], S. 1-85, hier: S. 63). Neben Franz Grillparzer sind vor allem Ernst Raupach, Michael Beer und Karl Gutzkow Autoren populärer Schicksalsdramen. Parodiert wurden sie insbesondere zur Hochzeit ihrer Entstehung, zum Beispiel von den Brüdern Fatalis (Ignaz Castelli) („Der Schicksalsstrumpf“, 1818), Ernst von Houwald („Seinem Schicksal kann niemand entgehen“, 1818, gedruckt erst 1822) oder August von Platen („Die verhängnisvolle Gabel“, 1826). Vgl. Balhar, Susanne: Das Schicksalsdrama im 19. Jahrhundert. Variationen eines romantischen Modells, München 2004.
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das Schicksal als „personificierte[] Macht“11 – an dieser Stelle als Fluch – gegen ihn und die Seinen richtet. Indem Tieck dem (zeitgenössischen) Leser vertraute Techniken anwendet, generiert er eine konkrete Erwartungshaltung an den Text, um diese später zu unterlaufen. Dass das Schicksal in „Die Klausenburg“ keine geheimnisvoll wirkende Macht ist, der das Subjekt hilflos ausgeliefert ist, verdeutlicht der weitere Verlauf der Novelle.12 Erneut bricht die Erzählung aus dem „geordneten lauf der dinge“ aus und stellt in dieser Bewegung sowohl die Regel als auch deren Abweichung als literarische Modelle aus. Das Schicksal von Moritz’ Nachfahren Franz, von dem nun wieder der Erzähler Blomberg berichtet, findet nicht mehr in einer ins Sagenhafte gerückten Vorzeit statt. Blomberg überführt es in die eigene Lebensgeschichte und damit in eine durch ihn verbürgte Vergangenheit: „Ich war ein munterer Knabe, als ich die Bekanntschaft mit dem letzten jungen Erben, Franz, dort auf der Klausenburg machte“ (S. 100). Allerdings erzählt Blomberg die Geschichte oftmals aus der Perspektive seines Freundes, sogar in dessen Worten, und gibt somit nicht nur das selbst Erlebte und durch die eigene Erfahrung Verbürgte, sondern vor allem das auch ihm nur Erzählte an seine Zuhörer weiter. Blomberg beschreibt im Rückgriff auf Franz’ Bericht zunächst die anfängliche Erfolgsgeschichte eines jungen Mannes, der in der Gunst des Fürsten stand, bis er wegen der unstandesgemäßen Verbindung zu dessen Tochter in Ungnade fiel. Blomberg ist ebenso Zeuge der Begegnung zwischen Franz und einer Frau, von der „[e]inige alte Jägersleute […] behaupten, sie sei noch ein Nachkomme jener berüchtigten Zigeunerbande, welche Graf Moritz vor Jahren verfolgt und zerstreut hatte“ (S. 103). Die Zigeunerin prophezeit Franz, dass ihn „[d]ie Flüche des Vaters verfolgen“ (S. 106) werden. Daraufhin berichtet er seinem Freund verzweifelt, dass nach der Gunst des Fürsten nun auch „sein ganzes Vermögen verloren gehe, wenn sich nicht ein Dokument vorfände, das er schon seit lange suche, aber nirgend […] entdecken könne“ (S. 113). Indem Blomberg seine Rede zunächst an Theodor abgibt und dann die Geschichte des Freundes aus dessen Sicht schildert, wird erkennbar, dass seine Funktion weniger darin besteht, die Ereignisse zu erzählen, als diese durch seine Anwesenheit zu authentifizieren. Im Grunde kann er aber nur die Begegnung zwischen Franz und der alten Frau bezeugen, von der man lediglich behauptet, sie stünde mit der Zigeunerin in Zusammenhang, die den Fluch über die Grafenfamilie verhängte.
11 Minor, „Zur Geschichte der deutschen Schicksalstragödie“, S. 63. 12 Zu verschiedenen Schicksalsmodellen bei Tieck vgl.: Schottelius, Saskia: Fatum, Fluch und Ironie: zur Idee des Schicksals in der Literatur von der Aufklärung bis zur Romantik, Frankfurt/M. u.a. 1995.
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Nach diesem Ereignis verweilt Blomberg mehrere Jahre im Ausland und erfährt, dass Franz sich verlobte und noch am gleichen Tag das vermisste Dokument wiederfand. Er ist überzeugt, dass es dem Freund „gut gehe, daß er verheirathet sei und sich in seiner neuen Lebensbahn glücklich fühle“ (S. 119). Unerwartet trifft er Franz allerdings bei seiner Rückkehr in einem Heilbad und erkennt ihn kaum wieder. Was ihm dort begegnet, ist „kein Mann, sondern ein wankendes, zitterndes Gerippe, mit eingefallenem leichenblassen Antlitz, das, wenn nicht die brennenden Augen gewesen, man für einen Totenschädel hätte halten können“ (S. 120f.). Nach langem Zögern erzählt Franz ihm und dem Arzt des Heilbades, wie er seine Frau Elisabeth und deren Schwester Ernestine kennenlernte. Die missgestaltete, wenn auch überaus begabte und kluge, Ernestine, die „eine sonderbare Folie für ihre Schwester“ (S. 128) abgibt, besteht nach der Heirat darauf, gemeinsam mit dem Paar in der Klausenburg zu leben. Dort verschwindet sie zunächst für einige Tage mit jener „widerwärtige[n] Alte[n]“ (S. 134), die Franz’ Schicksal prophezeite: Von Reisenden werden die seltsamen Erscheinungen – die eine verkrüppelt, die andere alt und dürr – „an einsamen Stellen, bei Mondschein und Dämmerung“ gesehen und als „zwei Gespenster […] wahrgenommen“ (S. 135). Nach der Rückkehr von ihrem Streifzug quält Ernestine das Paar mit ihrer „leidenschaftliche[n] Bosheit“ (S. 135) und entwendet Franz jenes erst kürzlich wiedergefundene „Dokument, welches eigentlich [s]ein Vermögen, [s]ein Dasein begründete“ (S. 136). An ihrem Totenbett droht die für wahnsinnig Befundene, das Paar nach ihrem Ableben weiterhin zu verfolgen. Seitdem werden Franz und Elisabeth von einem „gespenstige[n] Wesen“ (S. 138) heimgesucht, das an ihren physischen und vor allem psychischen Kräften zehrt. Auch wenn Blomberg die Ereignisse in Franz’ Worten wiedergibt, hält er die Ambiguität des Erzählten dennoch aufrecht: Während der gespenstischen Heimsuchungen haben potentielle Zeugen „nichts Unheimliches gesehn und bemerkt“ (S. 146) oder „der Erscheinung den Rücken zugekehrt“ (S. 146f.). Der Arzt des Heilbades geht sogar soweit, den Generationen übergreifenden Fluch als vererbbare „Gemüthskrankheit“ (S. 122) zu betrachten: „Es ist eine schon alte Bemerkung, daß [der Wahnsinn] oft im Blute steckt, und Verwandte, Brüder, Schwestern und Kinder davon ergriffen werden, wenn er sich in einem Glied der Familie manifestirt“ (S. 149). Er schlägt ein psychologisches Experiment vor, bei dem Ernestines Geist heraufbeschworen und der Kranke davon befreit werden soll. Bei diesem Versuch bekommen aber sowohl der Arzt als auch Blomberg ein „entsetzliche[s] Gespenst“ (S. 154) zu Gesicht, das vor ihren Augen den Patienten und mit ihm die bisherige Ambivalenz der Geschichte angreift. „[D]en Kranken sahen wir und hörten wir mit dem Gespenste ringen. Eine innere Phantasie
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hat ihm, dem Gestorbenen, gewiß Brust und Rippen nicht so erkrachen machen.“ (S. 155), kommentiert Blomberg und hebt das Phantastische vorerst zugunsten des Wunderbaren auf. Doch die vom Erzähler als wunderbar verbürgte Geschichte nimmt erst ihren Anfang und setzt sich außerhalb seines „Gespensterhistörchens“ in der bisherigen Rahmenhandlung fort. Erneut übernimmt Blomberg die Funktion des Zeugen und gibt einen Großteil seiner Erzählung an Franz ab. Innerhalb des Wechsels zwischen dessen und Blombergs Rede verändert sich auch die Zuschreibung Ernestines: Als sie nachts mit der Zigeunerin umherstreift, wird sie lediglich für ein Gespenst gehalten; nach ihrem Tod kann der Spuk von niemandem bezeugt werden und bleibt somit an Franz’ Worte gebunden. Am Ende erscheint Ernestines Geist aber selbst Blomberg, der das Erzählen inzwischen wieder übernommen hat und auf diese Weise auch Franz’ Erzählung, die nicht die eigene ist, bestätigt. Wurde die Grenze zwischen der Rahmen- und Binnenerzählung bereits durchlässig, als Blomberg als Figur des Rahmens dem bisher lediglich in Worten heraufbeschworenen Geist begegnet, zerfällt sie vollends, indem Theodor die Gespenstergeschichte der Binnenhandlung auf der Ebene des vorherigen Rahmens weiterführt. Noch bevor in Franz’ Bericht aus dem Munde Blombergs von Geistern die Rede ist, scheint Theodor von dem Erzählten derart aufgewühlt, „als wenn die Begebenheiten, die vorgetragen waren, auf ihn eine besondere Beziehung hätten“ (S. 115). Als Blomberg von dem Haus am Eibensteige berichtet, das Franz unterhalb der Burg errichten ließ, fragt Theodor mehrfach nach: „Jenes, rief plötzlich Theodor aus, vor dem sogenannten Eibensteige? Dasselbe, antwortete Blomberg. Dasselbe? wiederholte Theodor fast mechanisch, und wie in Gedanken verloren.“ (S. 102)
In dem Moment, in dem sich Theodor nach dem Haus erkundigt, wird er ohne die Kenntnis des Lesers bzw. der Figuren der Rahmenerzählung zum Protagonisten des Textes. Nachdem Blomberg seine Erzählung beendet, verlässt Theodor die Runde, um als „Probe [seines] Muthes“ (S. 157) die Klausenburg zur Mitternachtsstunde aufzusuchen. In der Zwischenzeit klärt Graf Blinden die verbliebenen Gäste über Theodors „besondere Beziehung“ zu dem Erzählten auf: Er ist „durch eine Seitenlinie ein Neffe des letzten Grafen Franz“ (S. 157) und somit Nachkomme des verfluchten Geschlechts. Als Theodor nach dem Haus am Eibensteige fragt, handelt es sich im Verständnis der Zuhörer und Leser und entgegen den Behauptungen des Erzählers offensichtlich nicht um „dasselbe“. Das Haus, von dem in der Binnenerzählung die Rede ist, unterscheidet sich von Theodors realem Bezugspunkt auf der Ebene
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der Rahmenhandlung ebenso, wie sich bisher die Klausenburg als Gegenstand „vieler Sagen und Märchen“ (S. 83) und als Ruine der Gegenwart voneinander absetzten. Beide Orte gehören einer anderen Wirklichkeit an: Die erzählten Orte werden den Gesetzmäßigkeiten des Wunderbaren unterstellt. Der Ort aber, an dem das Erzählen darüber stattfindet, bleibt davon abgetrennt. Dessen Wirklichkeit schließt das Nicht-Vorstellbare aus oder versucht es bestenfalls naturwissenschaftlich zu erfassen, beispielsweise im Zusammenhang mit dem „thierischen Magnetismus“ (S. 80) oder in der Betrachtung als „Gemüthskrankheit“. Während Theodors Vergewisserung, ob es sich um „dasselbe“ Haus handelt, wird dieses „dasselbe“: Die zunächst getrennten Räume der Binnen- und Rahmenerzählung, die Theodor bereits in seiner „Wiederholung“ des ersten Teils der Geschichte durch eigene Ergänzungen zueinander in Beziehung setzte, verschmelzen endgültig zu einem Ort, der den selben Bedingungen ausgesetzt ist und den gleichen Gesetzmäßigkeiten unterliegt. Es verwundert daher kaum, dass Theodor an der Pforte der Klausenburg dem bis dahin stummen Glöckchen einen Ton abringt und ihm „ein altes gebücktes Mütterchen“ (S. 169) Einlass gewährt. In der Burg erwarten ihn die Geister seiner Ahnen und händigen ihm verschiedene Dokumente aus, die seinem Leben eine entscheidende Wende geben.
2.2.4 D AS
VIERTE
R AD
DER
N OVELLE
Vor einer näheren Betrachtung der Wende in Theodors Leben und der Bewegung der Novelle erfolgt zunächst ein Exkurs zu jener Kutschfahrt des Erzählers, die diese Wende vorwegnimmt. Nachdem die Gesellschaft auf dem Schloss der Baronin vollständig versammelt ist und Theodor den verspäteten Gästen den ersten Teil der Gespenstergeschichte wiederholte, wartet die Runde gespannt auf Blombergs Fortsetzung. Dieser nimmt die Verspätung seiner Zuhörer jedoch zum Anlass, um über das Reisen zu sprechen. Statt die angekündigte Geschichte weiterzuführen, berichtet er von einer Kutschfahrt, die er vor einigen Jahren unternahm: Damals besaß er noch keinen eigenen Wagen und war somit auf die Extra-Post angewiesen. Als er bereits auf Reisen bei einem Postmeister einkehrte und die Fahrt am nächsten Morgen fortsetzen wollte, verwandelte sich „mit der zunehmenden Kälte […] der Regen in Schnee, welcher in ungeheuren Massen aus den Wolken niederfiel, und Wege, Gesträuche, Gräben und alle Kennzeichen, an denen man sich orientiren konnte, verdeckte“ (S. 91). Da der Postmeister ihm bei diesem schlechten Wetter wegen seiner eigenen bevorstehenden Hochzeit zudem nur einen offenen Wagen und einen unerfahrenen Kutscher zur Verfügung stellen konnte, riet er Blomberg von der Weiterfahrt ab. Dieser glaub-
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te allerdings, sein Wirt dramatisiere die Situation, um von seinem großzügigen Gast noch einige Tage zu profitieren. Trotz aller Warnungen brach er am nächsten Morgen auf und sein junger Postillon versicherte ihm, er „habe den Weg, seit [er] in Diensten stehe, schon über zwanzig Mal gemacht“ (S. 92). Der Postmeister dramatisierte die Wetterlage aber keineswegs: Der Sturm trieb „Schneemassen hin und her“ (S. 91) und „[v]on einer Straße oder einem Wege war nirgend etwas zu sehen“ (S. 93). Zudem „fiel von neuem Schnee“, der „mit dem stoßenden Winde […] hin und her gewirbelt, und nach allen Richtungen gestreut und getrieben“ (S. 93) wurde. Angesichts dieses „Schwindel erregende[n]“ Wetters und dessen „betäubende[r] Kraft“ (S. 93) verlor Blomberg „im widerwärtigen offenen Fuhrwerk bald alles Bewußtsein“ (S. 93). Als er wieder zu sich kam, dämmerte es, obwohl die Reisenden die nächste Poststation bereits zur Mittagszeit hätten erreichen sollen. Der anfangs zuversichtliche Postillon war inzwischen verzweifelt, denn sie befanden sich „schon seit Stunden auf keinem gebahnten Wege mehr“ (S. 94). Er konnte die ihm vertrauten Wegmarken im Schnee nicht erkennen und glaubte sich „behext“ (S. 94): „[I]ch weiß nicht, wo wir sind […]“, gestand er seinem Fahrgast, „[i]ch bin in die Wildewahl hinein gerathen […]“ (S. 94). Da eine Nacht im offenen Fuhrwerk den sicheren Tod bedeutete, trieb der Postillon die erschöpften Pferde „auf gut Glück oder schlimm Unglück“ (S. 94) weiter, bis sie in der Ferne plötzlich Stimmen hörten und ein Licht erkannten. Der ohnehin verängstigte Kutscher sah sich „verloren“: „Lauter Hexen und Gespenster! Das ist nicht die Station! Wir sind in einem fremden Welttheile!“ (S. 97) Auch Blomberg sah „einen großen feenartigen Palast“ und vernahm „wunderbare Töne“ (S. 97). Seine Zuhörer glauben, Blombergs „Erzählung hat sich endlich wirklich zu einer Gespenstergeschichte gestaltet“ (S. 97), doch er muss sie in ihrer Erwartung enttäuschen: Zwar sah er die „Säulen und glänzende[n] Balkone […] eines Zauberschlosses“ (S. 97), doch spielten ihm an dieser Stelle seine ermüdeten Augen einen Streich. „[D]as räthselhafte ferne Licht“ war keineswegs „die erleuchtete Kammer einer Elfe, oder das Begräbniß eines wunderbar Ermordeten, dessen Gespenst dort im Schein der Irrlichter umirrt“, wie „der Regel nach die Geschichte fortfahren“ (S. 96) müsste. Was Blomberg sah, war lediglich die inzwischen hochzeitlich geschmückte Poststation, von der er am frühen Morgen aufgebrochen war. Die Reisenden waren seitdem „vierzehn Stunden mühselig im Kreis gefahren, um zerschlagen, erfroren, ganz verhungert und übermüdet, da wieder anzugelangen“ (S. 98). Das Wunderbare, zuvor als das gekennzeichnet, das aus dem „ordentlichen lauf der dinge“ ausbricht, wurde inzwischen reglementiert. Doch erneut kommt die Geschichte von ihrem scheinbar gebahnten Weg ab, indem sich das erwartete
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Wunderbare nicht einstellt. Der Erzähler weist die Regel aus, befolgt sie aber nicht. Durch die Episode der verirrten Kutsche, die Blomberg seiner Gespenstergeschichte voranstellt, etabliert er zudem eine Verbindung zwischen dem Reisen und dem Erzählen. Auf diese Weise lassen sich seine Aussagen über das Reisen als metatextuelle Reflexion des eigenen Erzählens bestimmen: „Es ist eine ausgemachte Sache,“ beginnt Blomberg seinen Exkurs, „daß wir auf Reisen eigentlich niemals wissen können, wohin wir gerathen werden. Es sind nicht immer die Pferde allein, welche keine Vernunft annehmen, sondern Postillone, ja Postmeister sind zuweilen noch schlimmer, des Wetters, der verdorbenen Wege und zerbrochenen Räder gar nicht einmal zu gedenken.“ (S. 90)
Auf den Text bezogen stellt diese Formulierung unerwartete Hindernisse in Aussicht, die auf dem Weg zu der angekündigten Gespenstergeschichte auf Abwege oder an ein anderes als das erwartete Ziel führen. Die Fehlbarkeit der durch den Text Navigierenden, „welche keine Vernunft annehmen“, verweist hingegen auf die Unzulänglichkeiten des Erzählers oder andere Umstände, die den Gang durch den Text erschweren. Im Rückbezug auf Blomberg, der als Erzähler durch den Text leitet, wird hier bereits angedeutet, dass dieser nicht den Gesetzen der Vernunft unterstellt ist. Die Unterscheidung zwischen dem Wunderbaren und dem Alltäglichen bzw. zwischen einer Wirklichkeit, die den Naturgesetzen folgt, und einem Bereich des Übernatürlichen wird von den Figuren der Rahmenhandlung bezeichnenderweise in der Abgrenzung eines „Land[es] der Vernunft“ vom „Gebiet des Unsinns“ (S. 118) vorgenommen. Der ‚unvernünftige‘ Blomberg gehört demnach, wie noch gezeigt werden soll, dem „Gebiet des Unsinns“ an. Der Irrfahrt im Schneesturm geht aber noch ein weiterer Exkurs voran, durch den sich wiederum die Funktion der Schneesturmepisode innerhalb der Novelle bzw. auf der Reise durch den Text bestimmen lässt. Die Anekdote des Vetters berichtet von einem an seinem Ziel umgefallenen Wagen: „Aber kein Wunder, denn er hatte nur drei Räder.“ (S. 90) Der Diener wurde ausgeschickt, die zurückgelegte Wegstrecke nach dem verlorenen Rad abzusuchen, und fand dieses abseits der Straße an einen Baum gelehnt. „So hatte sich also der Wagen, ohne daß irgendwer den Mangel bemerkte, von selbst im Gleichgewichte gehalten, und die Freunde waren unbeschädigt angelangt.“ (S. 90) Blombergs Exkurse schieben die Narration der Gespenstergeschichte zunächst auf. Der Begriff des excursus geht dabei auf eine Metapher zurück, die das Reden dem Laufen gleichsetzt (cursus) und durch Ausläufe erweitert. Die Metapher legt somit einen Weg nahe, von dem der Erzähler abschweift, um auf diesen bei seinem Gang durch den Text letztendlich wieder zurückzugelangen. Wie die Exkurse aber mit
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dem Verlauf der Novelle in Zusammenhang stehen, bleibt bis zu deren Ende unklar. Erst nachdem der Leser – ohne einen Mangel bemerkt zu haben – das Ende des Textes erreichte, muss er wie der Diener des Vetters den Weg rückwärts abschreiten und nach jenem vierten Rad Ausschau halten, das abseits des Kurses liegt. Die Schneesturmepisode lässt sich als dieses vierte Rad lesen, ohne das sich die Karosserie der Novelle zwar im Gleichgewicht hält, das aber dennoch niemand „für so überflüssig halten [sollte], wie jenes berüchtigte fünfte“ (S. 90). Die Anekdote vom Vetter wiederum bildet den Exkurs zum Exkurs und verhält sich zum Bericht von der verirrten Postkutsche ebenso richtungsweisend wie diese zur Novelle. Als randständige Exkurse verweisen sowohl die Schneesturmepisode als auch die Anekdote vom Vetter auf die Ökonomie des Textes und auf das Verhältnis von Haupt- und Seitenwegen, insbesondere auf die Bedeutsamkeit des buchstäblich Abwegigen. Der Bericht von der Kutsche erzählt dabei nicht ausschließlich von der Irrfahrt, sondern kommt als Exkurs selbst vom Kurs der Narration ab. Eine derartige Analogisierung wirft die Frage auf, an welcher Stelle die Novelle ihr viertes Rad verliert und den Leser, der an seinem ‚Ziel‘ den Mangel bemerkt, erneut auf Reisen schickt.
2.2.5 E NTWENDUNGEN Die Wende in Theodors Leben und letztendlich auch jene der Novelle werden von drei Schriftstücken beschlossen, die wie die Postkutsche, die für gewöhnlich der Zustellung von Briefen dient, von ihrem vorgesehenen Weg abkommen und an ihren Ausgangspunkt zurückkehren. Es sind Papiere, die sich außerhalb des regulären Postverkehrs befinden und denen genau das widerfährt, weshalb es den Postillons untersagt ist, die festgelegten Wege der Post zu verlassen: Sie werden den Absendern oder Adressaten entwendet und kommen somit von ihrem intendierten Weg der Zustellung ab. Dabei handelt es sich um ein Liebesgedicht, einen konspirativen Brief sowie um jene Dokumente, die das Vermögen der Grafenfamilie begründen und von Ernestine gestohlen wurden. Indem die Schriftstücke auf Abwege geraten, lösen sie allerdings für den Verlauf der Novelle relevante Ereignisse aus. Zeitgleich als Theodor das Schloss der Baronin verlässt und sich zur Klausenburg begibt, um Sidonies eingeforderte Mutprobe zu erbringen, schwenkt der Erzähler in das bereits erwähnte Haus am Eibensteige. Das vom Grafen Franz erbaute Haus wird inzwischen vom alten Förster und dessen Tochter Hannchen bewohnt. Aus dem Gespräch zwischen ihr und dem um sie werbenden Jäger Ludwig Werner wird auch Theodors Bezug zu diesem Haus deutlich: Bis vor kur-
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zem war er dort ein häufiger Gast, dem Hannchen noch immer nachtrauert. Ihre Liebe zum Grafen ist an „Briefchen, Gedichtchen“ (S. 160) gebunden, die er ihr „in einer traulichen Stunde gegeben hatte“ (S. 168). Ludwig begreift angesichts dieser Briefe die Erfolglosigkeit seines Werbens und bedauert, „daß [er] [s]eine Reden nicht so zu setzen weiß, wie der Herr Theodor“ (S. 160). Dennoch misstraut der Jäger den Absichten der schönen Sidonie, derentwillen sich der Graf von Hannchen loslöste. „[D]ie Coquette“ hat ihm „den Verstand und die Augen benebelt, daß er nicht mehr aus und ein, und nicht mehr weiß von schwarz zu unterscheiden weiß“ (S. 161), meint Ludwig, der Sidonies betörende Wirkung kennt, da sie ihn oftmals „zum Botenlaufen braucht, oder mißbraucht“ (S. 161). Bei der Zustellung ihres letzten Briefes kürzte er wegen des schlechten Wetters den „fatale[n] weite[n] Weg“ (S. 163) über die Klausenburg ab. Auch an dieser Stelle erzwingt das Wetter einen anderen Kurs als den beabsichtigten und führt damit ein Ereignis herbei: Oberhalb der Ruine versuchte dem Jäger nämlich „ein abscheuliches häßliches Weib“ (S. 164) den Brief zu entreißen und schließlich fiel dieser im Gemenge in die Klausenburg hinab. Noch während des Erzählens von der misslungenen Zustellung kommt der Jäger seiner Funktion nach, Nachrichten zu befördern: Er übermittelt dem Leser explizit das Wissen um Theodors Briefe an Hannchen sowie um Sidonies „verdächtige Correspondenz“ (S. 162). Nachdem Ludwig sich verabschiedete, sucht auch Theodor auf seinem Weg zur Klausenburg im Haus am Eibensteige Schutz vor dem Regen. Beim Eintreten bemerkt er, dass Hannchen ein Papier vor ihm zu verstecken versucht, und entwendet der Försterstochter, was er für „ein[en] zärtliche[n] Brief ihres Verlobten“ (S. 167) hält. Um so erstaunter liest er „eins seiner Gedichte“ (S. 168) und sieht, „wie oft das Blatt war gelesen worden, einige Buchstaben waren halb verlöscht, vielleicht von Thränen, vielleicht auch weggeküßt, und er selbst ließ jetzt, von plötzlicher Rührung gewaltsam ergriffen, eine große Thräne auf das Blatt fallen“ (168). Theodors Brief an Hannchen ist das erste Schriftstück, das zurück zum Absender gelangt und diesem dadurch die treue und aufrichtige Liebe des Mädchens offenbart. Zwei weitere Schreiben werden Theodor in der Klausenburg von seinen Ahnen übergeben: Dies sind zum einen „jene lang vermissten Dokumente, die [ihm] das Erbe zusicherten“ (S. 137), die „Akten und Papiere, die schon nach dem Tod des Grafen Moritz waren in Anspruch genommen worden“ (S. 136). Zum anderen erhält Theodor den Brief von Sidonie, den der Jäger im Kampf mit der Zigeunerin über der Burg verloren hatte. Dieser „entdeckte [ihm] ein inniges Verhältnis mit Anselm und wie man künftig [s]eine Schwachheit und [s]einen Einfluß auf den jungen Fürsten hatte mißbrauchen wollen“ (S. 173). Statt selbst zum Schloss der Baronin zurückzukehren, wo ihn zur Belohnung für die „lächerlich[e] und läppisch[e]“ (S. 165) Mutprobe eine
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Locke der schönen Sidonie erwartet, sendet Theodor den abgefangenen Brief, der Anselms und Sidonies Machenschaften aufdeckt. Durch die wiedergefundenen Dokumente macht er „eine reiche Erbschaft“ (S. 170), unter anderem die Klausenburg, und krönt sein Glück mit der „Vermählung mit einem armen und bürgerlichen Mädchen“ (S. 171). Als der Graf später gemeinsam mit seiner Braut Hannchen der Baronin einen Besuch abstattet und von den Ereignissen der letzten Wochen berichtet, ist der ebenfalls anwesende Blomberg „über die Wendung entzückt, welche das Schicksal seines Freundes Theodor genommen hatte“ (S. 171). Diese Veränderung, die genau genommen aus keiner einzelnen Wendung, vielmehr aus einer Vielzahl miteinander verbundener Bewegungen besteht, ist eng verknüpft mit dem Entwenden der Briefe und dem Umwenden der Ordnung der Rahmen- und Binnenerzählung der Novelle. Indem sich Theodor als der letzte Nachkomme des verfluchten Grafengeschlechts erweist, ist er nicht mehr nur eine Randfigur der Rahmenhandlung, sondern wird zum Protagonisten des Textes. Theodor setzt die gespenstische Geschichte aber nicht einfach nur fort: Er vermag mit Hilfe der von ihrem Weg abgekommenen Schriftstücke den Familienfluch zu durchbrechen.
2.2.6 S CHWARZ
AUF WEISS
Wenn Ludwig Sidonies Wirkung auf Theodor als die Unfähigkeit, „weiß von schwarz zu unterscheiden“ benennt, geht es ihm dabei weniger um den „farbeindruck als [um] das logische verhältnis des unterschiedes und des gegensatzes“.13 „[W]eisz vor schwarz erkennen“ bzw. „weisz und schwarz verstehen“ heißt „‚unterscheidungsvermögen haben‘“.14 Dieses geht verloren, wenn die Wahrnehmung beeinträchtigt oder, wie im Falle Theodors, der Sinn getrübt ist. Der Kontrast zwischen schwarz und weiß löst sich zunehmend auf, so dass diese kaum mehr unterschieden werden können. Sidonie hat Theodor im übertragenen Sinn „den Verstand und die Augen benebelt“ (S. 161). Ihr blendender Widerschein gleicht dabei dem diffus zwischen Schnee- und Wolkendecke hin und her geworfenem Licht, das auch das Whiteout, den literalen Verlust der Kontraste, verursacht. Die Verbindung zwischen der Wahrnehmungsstörung im Schneesturm und der damit einhergehenden Beeinträchtigung des Lesers bei seinem Gang durch
13 Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 12, Sp. 1180. 14 Ebd., Sp. 1186.
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den Textraum etabliert in „Die Klausenburg“ bereits die Postkutschenepisode. Blomberg spricht darin von der „Schwindel erregende[n]“ (S. 93) Kraft des Schnees, von dem „eine Art von Schimmer“ ausgeht, der dazu führt, „Augen und Sinne zu verwirren, [statt] zu irgendeinem Sehen zu verhelfen“ (S. 95). Das Wetter beeinträchtigt die Orientierung des Postillons nicht ausschließlich, indem die Wegmarken verschneit werden oder unter der sie bedeckenden Schicht eine andere Gestalt annehmen. Zusätzlich werden die Reisenden von der blendenden Helligkeit sowie vom Flirren des Schnees „behext“ (S. 94) und ihre Wahrnehmung gestört. Das „Aufdämmern“ (S. 95) des Schnees lässt die Dinge wortwörtlich in einem anderen Licht erscheinen und kann auf diese Weise eine gewöhnliche Poststation in ein „Zauberschloss“ und in einen „fremden Welttheile“ (S. 97) verwandeln. Analog zu dieser Sichtstörung aufgrund des Wetters wird Theodor von Sidonies „schönem Angesicht und blonden Locken“ geblendet und seine Sinne sind von ihren schmeichelnden Worten getrübt. Doch in beiden Fällen führt das gestörte Unterscheidungsvermögen zur Fehlwahrnehmung. Der bewusstseinstrübenden Kraft des Schneewetters steht in „Die Klausenburg“ mehrfach die nicht minder beeinträchtigende Macht der Worte gegenüber: Worte betören, benebeln den Verstand oder versetzen in traumartige Zustände; umgekehrt führen Gespräche und Briefe auch zu Klarheit und nüchternem Erwachen. Reden beschwichtigt Streitende und trägt zur Heilung bei, so wie „ein unbehütetes Wort“ „zum Mörder werden“ (S. 123) kann. Die Schriftstücke reaktivieren Theodors Distinktionsvermögen, indem sie ihm etwas „schwarz auf weisz“ zu lesen geben, um eine andere Redensart zu bemühen. Diese meint, einen Sachverhalt „geschrieben, gedruckt“, „schriftlich“ vor sich zu haben15, oder wie es die englische Übersetzung des Idioms konkretisiert: „in cold print“. Das Verhältnis von schwarz und weiß, das in den Redensarten im uneigentlichen Sinn als Kontrastierung und schließlich als Fixierung schwarzer Zeichen auf weißem Grund zum Tragen kommt, ist an dieser Stelle auch wörtlich bzw. in einer Verflechtung eigentlicher und uneigentlicher Rede zu lesen. Weiß steht dabei nicht ausschließlich für einen Farbwert, sondern bedeutet ebenso „glänzend, schimmernd vom widerschein des lichtes“16, was insbesondere auf den Schnee und dessen hohes Reflexionsvermögen zutrifft („weisz wie schnee“, „schneeweisz“).17 Im Gegensatz zum Weiß als Äquivalent zum „helle[n] sonnenlicht“ steht schwarz für die „dunkelste[] farbe […] von körpern, die alles licht absor-
15 Ebd., Bd. 15, Sp. 2313. 16 Ebd., Bd. 12, Sp. 1180. 17 Ebd.
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bieren“.18 Denn „farbe ist ja nichts als reflectiertes licht, sodasz schwarz eigentlich das farblose bezeichnet“, „doch empfinden wir gerade in der gegenüberstellung von schwarz und weisz, wie sie gern in sprichwörtlichen wendungen erscheint, schwarz besonders deutlich als farbe“.19 In der Wendung „schwarz auf weisz“ tritt das reflektierende und vordergründige Weiß buchstäblich in den Hintergrund und wird zur kaum wahrgenommenen Fläche, von der sich das Schwarz der Lettern abhebt. Das Schwarz wird damit als Kraft aufgerufen, das blendende Weiß sowohl des Schnees als auch des Papiers zu absorbieren bzw. dem Vordergründigen einen Platz als Hinter- oder Untergrund zuzuweisen, damit die Schrift darauf lesbar werden kann. Das Vermögen, „weiß von schwarz zu unterscheiden“, ist die buchstäbliche Feststellung des Schwarzen auf dem Weißen. Das Flimmern der Zeichen, in dem diese lediglich eine graue, kontrastlose Masse sind und sich schwarz und weiß nicht voneinander unterscheiden lassen, hält kurzzeitig inne und wird als Konfiguration in der Fläche lesbar. Das ‚Gestöber der Lettern‘, um auf Benjamins „Lehre vom Ähnlichen“ zurückzukommen, in einer Konstellation lesbar zu machen, bedeutet aber auch, dass das „schwarz auf weisz“-Gestellte, das in seiner vermeintlichen Fixierung als „cold print“ vor Augen führen und beglaubigen soll, das blendende Weiß des Untergrundes nicht zu bändigen und still zu stellen versteht. Denn sowohl das Schwarz als auch das Weiß gehören dem Gestöber an und bedingen sich gegenseitig in ihrer Sicht- und Lesbarkeit. Die schwarzen Lettern lassen sich erst durch den leuchtenden Untergrund, von dem sie sich abheben, durch die Spatien, die sie trennen und zu Sinneinheiten verbinden, entziffern. Die Schwierigkeit, „weiß von schwarz zu unterscheiden“, liegt gerade darin, dass das „schwarz auf weisz“-Gestellte nicht fixiert oder fixierbar ist, sondern sich als immer wieder verrückbar erweist. Den Text als ‚Gestöber‘ zu lesen, heißt auch, diesem eine von seinem Autor unbeabsichtigte und gelöste Dynamik zuzusprechen, die insbesondere in Theodors Brief an Hannchen deutlich wird: In seinem Brief, auf den die Geliebte keine Antwort gab, haben sich neben den eigenen Liebesschwüren auch die wortlosen Bekenntnisse der Adressatin eingeschrieben. Auf diese Weise gibt Hannchen, die ihre Gefühle nicht in Worte zu fassen und ihre Rede nicht zu setzen weiß, diese in „weggeküßt[en]“ Buchstaben zu lesen. Die schwarzen Zeichen erlangen eine neue Bedeutung, indem sie sich auflösen bzw. nur noch bruchstückhaft auszumachen sind. Als Theodor seinen Brief bei Hannchen findet, löst sich Sidonies Zauber, der ihm „den Verstand und die Augen benebelt[e]“ (S. 161),
18 Ebd., Bd. 15, Sp. 2300. 19 Ebd.
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und er erinnert sich daran, „wie viel er vormals an diesem reinen Herzen, an diesem kindlichen Wesen besessen hatte“ (S. 171). Sidonies abgefangener Brief entlarvt hingegen diejenige, die ihn mit ihrer Schönheit blendete und ihre Rede durchaus zu setzen weiß, als bösartige Intrigantin und „junge Hexe“ (S. 161). „Schwarz auf weisz“ absorbiert der abgefangene Brief das intensive Licht, das seine Sicht beeinträchtigte, und verdeutlicht zugleich, dass die Wahrnehmung in gewisser Weise immer einer Täuschung und Blendung unterliegt, dieser Umstand aber erst in solchen Momenten offensichtlicher Störung erfahrbar wird. Indem beide Briefe von ihrem vorgesehenen Weg abkommen, geben sie Theodor etwas schwarz auf weiß zu lesen: So stehen seine von Tränen ausgeweißten Briefe an Hannchen für das Unausgesprochene derjenigen, die keine Antwort gab. Der abgefangene Brief von Sidonie deckt hingegen die wahren Absichten auf, die sich hinter ihren betörenden – und in diesem Sinne blendenden – Worten verbargen. Die Briefe revidieren Theodors bisherige Sicht, seine Deutung der Zeichen, sowohl in Bezug auf Hannchen als auch auf Sidonie. Analog zum Schneesturm, in dem sich der Postillon verfährt, weil er die ausliegenden Zeichen eindeutig und zwar eindeutig falsch liest, verweisen somit auch die Briefe auf die Ambivalenz der Zeichen. Die Verbindung zwischen dem Schneesturm und den abgefangenen Briefen besteht in ihrer Referenz auf das ‚Gestöber der Zeichen‘ – beim Durchqueren territorialer und textueller Räume gleichermaßen. Das Verhängnis des Postillons – und beinah auch das Theodors – resultiert aus dem Vertrauen in vermeintlich eindeutige Zeichen, an denen sie sich orientieren und im Fehlgehen ihrer Uneindeutigkeit gewahr werden. Dem Schnee, von dem in der Postkutschenepisode eine „betäubende Kraft“ ausgeht und der mit den weiteren Blendungen und Sinnestrübungen des Textes in Zusammenhang steht, werden zwei verschiedene Funktionen zugewiesen: Einerseits schreibt er die Landschaft um, verdeckt Zeichen der Orientierung oder gibt ihnen eine veränderte bzw. vervielfachte Bedeutung; andererseits wird dadurch auch die Ambiguität des vom Schnee Unberührten offengelegt. Die zweifache Wirkung des Schnees – einmal auf die Landschaft und ein andermal auf den Betrachter und dessen Wahrnehmung – macht es unmöglich, die ausliegenden Zeichen eindeutig zu bestimmen. Die Irrfahrt des Postillons resultiert aus seiner Orientierung an den noch sichtbaren Zeichen, obwohl er unter diesen Witterungsbedingungen längst erblindet ist und weder der eigenen Wahrnehmung noch den Überresten dieser Zeichen trauen kann. Dass diese nicht mehr ihre konventionalisierte Bedeutung besitzen, nennt er „Behexung“. Wegen der Diskrepanz zwischen dem, was sie der Konvention nach bedeuten, und ihrem neuen oder mehrfachen Sinn gerät er im Schneesturm in die „Wildewahl“. Im Grunde ist aber bereits die Orientierung an konventionalisierten Wegmarken bei idealen
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Sichtverhältnissen eine Reise „auf’s Gerathewohl“. Spätestens anhand dieser mehrfachen Zuschreibungen des Weißen und Schwarzen wird deutlich, dass das Schwarz der Lettern nicht nur über eine absorbierende, sondern ebenfalls über eine blendende und verunsichernde Kraft verfügt. Analog zu Blombergs Ohnmacht in der offenen Kutsche angesichts des schrecklichen Schneefalls bedeutet „schwarz vor Augen werden“ das Bewusstsein zu verlieren, was einem Blackout gleichkommt. Schwarz und weiß sind gleichermaßen Bestandteile des schwindelerregenden Gestöbers: Dieses konstituiert sich erst im Umherwirbeln von schwarz und weiß und der daraus resultierenden, permanenten Verschiebung von Zeichen und Hintergrund. Die Schriftstücke wenden Theodors Schicksal nicht etwa zum Guten, indem sie ihm „schwarz auf weisz“ fixiert und unverrückbar feststehend etwas zu lesen geben: Die Dokumente demonstrieren ihm das ‚Gestöber der Lettern‘. Lektüre bedeutet demnach, das unbeendbar oszillierende Flimmern in einer kurzzeitigen Verfestigung als Konstellation zu lesen. Die performative Kraft der Worte, die mitunter ein vom Sprecher losgelöstes Eigenleben führen, wird in der Novelle nicht nur beschrieben – zum Beispiel anhand des Zigeunerfluchs –, sondern auch vorgeführt, indem der Text die Geschichte des verfluchten Grafengeschlechts erzählt und in diesem Erzählen etwas Zusätzliches ausstellt: die Mehrdeutigkeit der Rede im Phantastischen.
2.2.7 D IE M ACHT
DER
R EDE
Die Worte, denen in der Novelle die größte performative Kraft verliehen wird, ist der Zigeunerfluch. Es lässt sich jedoch nicht eindeutig bestimmen, ob die damit einhergehende Verwünschung auf wunderbare Weise, etwa mit Hilfe dunkler Magie, oder als eine sich selbst erfüllende Prophezeiung eintritt. Die Zigeunerin gemahnt an die Wirkmächtigkeit der Worte, vor allem an ihre „zweideutige Wirkung“ (S. 117). Ihr Fluch trifft im Text diejenigen, die diese Mahnung außer Acht lassen und den Zeichen nur eine Bedeutung zu geben wissen oder deren Worte sich verselbständigen und losgelöst vom Willen des Sprechers Unheil anrichten. Rückblickend lässt sich der Familienfluch als das eindeutige und zwar das eindeutige Falschlesen ambivalenter Situationen bestimmen, das die Postkutschenepisode in Form einer gestörten Wahrnehmung und daraus resultierenden fehlerhaften Sinnzuweisungen vorwegnimmt. Moritz, der den Fluch auf sich und die Seinen zieht, wird zum Beispiel als Mann des „stillen Zorn[s]“ (S. 84) beschrieben: Er konnte „sein Herz nicht zwingen, seinen Gegnern durch Gespräch, Erzählung, Auseinandersetzung der Umstände in den Weg zu treten“ (S. 84f.).
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Aber „wenn der edle Mann immer schweigt, so gewinnt bei Einfältigen und Charakterlosen Verläumdung und Lüge um so mehr Glauben“ (S. 84). Moritz’ wohltätiger Charakter steht nicht für sich; er muss von der Umwelt gedeutet werden und wird mitunter missverstanden, bis aus dem „edlen Mann“, der seine Rede nicht zu setzen weiß, ein „Rebell und Uebelthäter“ wird. Aber weder Moritz’ Unfähigkeit zur Rede noch sein Unvermögen, die Zigeunerinnen am Krankenbett seiner Frau richtig zu bestimmen, ziehen den Fluch nach sich. Deutlich wird dies am Schicksal seines Nachfahren Franz, der vom „Talent, der Rede, der Anmuth“ (S. 107) verflucht scheint und damit das Gegenkonzept zu Moritz’ verbaler Unbeholfenheit bildet. Franz’ außergewöhnliche Redefertigkeit dient nämlich gerade nicht der Klarheit und Eindeutigkeit, sondern erzeugt auf andere Weise Ambivalenz. Zunächst wirkt sich der Fluch seiner Redegabe auf Juliane, die Tochter des Fürsten aus: Erst zu spät, als ihr Vater bereits hinter die heimliche Verbindung gekommen ist, wird Franz bewusst, dass nicht Liebe ihn an Juliane bindet, sondern die Eitelkeit, „daß gerade sie, die höchste es war, die [ihn] so auszeichnete“ (S. 107) und seinen Worten verfiel. Mit diesen Worten betört er somit weniger die Angebetete, als vielmehr sich selbst. Vergleicht er sein damaliges Leben mit „einem lebhaften, wundersamen Traume“ (S. 109), beschreibt er den Moment der Klarheit hingegen als Erwachen aus einem bewusstseinstrübenden Zustand: „Mir war […] plötzlich wie eine Decke von meinem Angesicht genommen“ (S. 109); „man erwacht zur Nüchternheit, aber man fühlte sich doch erwacht“ (S. 109). Die Decke, die Theodor zur Beschreibung seines Zustands heranzieht, lässt sich ebenso mit der Schneedecke in Verbindung setzen, die sich auf die Landschaft legt und ihre differenzierenden Eigenschaften tilgt bzw. die Wahrnehmung des Reisenden verunsichert. Der Fürst gewährt Franz die Möglichkeit sein Vertrauen zurückzugewinnen, indem er Juliane von ihrer Leidenschaft abbringt. Doch seine früheren Worte, sie zu gewinnen, lassen sich nicht mehr rückgängig machen, sondern verselbständigen sich und verwandeln das keusche, zurückhaltende Mädchen in eine „rasende[] Bacchantin“ (S. 111). Franz bereut, dass er sich einst „bethören [ließ], […] Wort mit Wort zu erwiedern“ (S. 107) und sie durch „Redekunst“ zu einer „wildsinnigen Trunkenen“ „erniedrigte“ (S. 111). Er kann Juliane nicht von ihrem Plan abbringen, gemeinsam mit ihm zu fliehen und stimmt der Flucht augenscheinlich zu, um sie zu beruhigen. Insgeheim beschließt er, den Hof allein zu verlassen und die Situation auf diese Weise zu retten. Der Fürst, der das Gespräch belauscht, hält ihn jedoch für wortbrüchig und entlässt ihn aus allen Ämtern. Trotz oder gerade wegen seiner „Redekunst“ verliert Franz die Gewalt über seine Worte, die sich seiner Kontrolle und der ihr zugewiesenen Bestimmung
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entziehen: Statt zu besänftigen, schüren sie ungewollte Leidenschaften und statt Vertrauen zu schaffen, sorgen sie für Lüge, Verrat und Wortbruch. Dieses Szenario wiederholt sich, als Franz zufällig eine Auseinandersetzung zwischen seiner späteren Verlobten Elisabeth und deren Schwester Ernestine belauscht und dabei entdeckt, „welchen Widerwillen die ältere Schwester gegen [ihn] gefaßt hatte“ (S. 129). Er beschließt, sie „durch Freundlichkeit und Wohlwollen“ (S. 129) auszusöhnen, nährt durch die freundschaftlichen Gespräche, die er fortan mit Ernestine führt, jedoch die „glühende Liebe“, die ihr „vorgegebener Haß“ (S. 131) verbergen sollte. Der Fluch, mit dem das Grafengeschlecht gestraft ist, resultiert nicht aus personellen Vergehen, wie Fehlinterpretationen ambivalenter Situationen oder die Unfähigkeit zur Rede, die weitere Mehrdeutigkeiten evoziert: Der Fluch, der auf ihnen lastet, kann auch von keiner dunklen Zigeunermagie gebannt werden – denn es ist der Fluch der „zweideutigen Wirkung“, der jeder Rede anhaftet. Im Unterschied zu seinen Ahnen erwacht Theodor dank der Briefe rechtzeitig aus seiner ‚Benebelung‘ bzw. aus seiner Wahrnehmungstrübung und kann katastrophale Ereignisse abwenden. Sein Zustand in der Klausenburg, als er den Geistern seiner Vorfahren begegnet, ist zwar „keine Betäubung, aber auch kein deutliches Bewußtsein. Fast wie ein Taumel, oder Rausch, oder eine Annäherung zum Schlummer“ (S. 171). Am nächsten Morgen hätte er „Alles für Traum erklärt, wenn [er] nicht jene lang vermißten Dokumente, die [ihm] das Erbe zusicherten, in den Händen gehalten hätte, so wie jenen Brief“ (S. 173) von Sidonie. Theodor überwindet den Fluch, indem er seine Rede und die der anderen „schwarz auf weisz“ zu setzen versteht, was nicht bedeutet, Ambivalenz zu vermeiden, sondern Einsicht zu haben in das ‚Gestöber‘ der Schrift: Was die Briefe „schwarz auf weisz“ beinhalten, ist als eine mögliche Konstellation zu verstehen, die auf ihre Mehrdeutigkeit verweist. Theodors Wahrnehmung ist in dieser Hinsicht noch immer getrübt, aber anders als der hoffnungslos verirrte Postillon ist er sich dieser Störung bewusst. Bei seinen weiteren Schritten berücksichtigt er daher, dass die ausliegenden Zeichen, die ihm den Weg weisen, keinesfalls eindeutig sind und auch in die Irre leiten können.
2.2.8 D ER
NICHT ZU VERORTENDE
S INN
DER
R EDE
Erwies sich das Zauberschloss der Schneesturmepisode als hochzeitlich geschmückte Poststation, stehen den unheimlichen Kräften des Zigeunerfluchs die ganz irdische Macht der Worte und deren „zweideutige Wirkung“ gegenüber. Wegen der Unentscheidbarkeit, inwieweit dem Fluch eine unheimliche Wirkung
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zugesprochen oder natürliche Ereignisse damit in Verbindung gebracht werden können, lässt sich das Paradigma der Zigeunerin erweitern. Sie verweist nicht nur auf Konventionen des Wunderbaren, sondern dient im Rückbezug auf eine ganz andere literarische Tradition ebenso der Reflexion des künstlerischen Schaffensprozesses. Um 1800 entspricht die stereotype Vorstellung des Zigeuners, insbesondere seine nomadische Lebensweise und die daraus resultierende Unmöglichkeit der genauen Verortung, der Zusammenhang mit Magie und Wahrsagerei und letztendlich das Gegenkonzept zur bürgerlichen Existenz, dem romantischen Begriff für das „Nicht-Alltägliche, Sonderbare, Fremde, Ferne, Anti-Bürgerliche, Ungezwungene, Nicht-Normierte, Vage und Uneindeutige, […] das der Wirklichkeit Entrückte und Unbegreifliche“.20 In Tiecks Novelle aus dem Jahre 1837 kommt aber alles andere als „Zigeunerromantik“21 auf: Der Verweis auf die romantische Praxis, den Zigeuner für den Selbstentwurf des Schriftstellers als den Fremden und Außenstehenden heranzuziehen, etabliert in erster Linie ein Gegenmodell zur Zigeunerin als Konvention des Unheimlichen und Wunderbaren. Tieck greift auf unterschiedliche literarische Traditionen zurück und verbindet diese in seiner Novelle zu etwas, das zwar auf gesicherte Bedeutungen anspielt, über diese jedoch hinausgeht. Aus der Verbindung der einzelnen konträren Zuschreibungen entsteht eine zusätzliche Bedeutung der Zigeunerin, durch die herkömmliche Bestimmungen ins Wanken geraten. Auch die Zigeunerin in „Die Klausenburg“, von der nicht mit Bestimmtheit gesagt werden kann, ob es sich um die immer gleiche Person oder Nachkommen jener Frau handelt, die den Fluch verhängte, ist nicht eindeutig zu verorten: „Man wußte nicht eigentlich, wo sie wohnte, auch mochte sie wohl keine Hütte oder eine zugehörige Einkehr besitzen, weil man sie stets auf Landstraßen antraf und sie allenthalben in der Provinz umherschwärmte.“ (S. 103) Die Zuschreibungen der Zigeunerin lassen sich auf das Motiv und die Metapher selbst beziehen: Sie erweisen sich als nicht lokalisierbar. Die Zigeunerin der Novelle antwortet auf die Frage nach ihrem Wohnsitz: „[M]ein Dach wechselt so oft, daß ich nicht sagen kann, wie es aussieht“ (S. 105). In „Die Klausenburg“ wird zunächst ein sehr stereotypes Bild von der Zigeunerin entworfen, das allerdings aufbricht, indem sich die Wahrnehmung und damit auch die Beschreibung der Alten im Verlauf der Novelle verändern: Das „abscheuliche Weib“, das den Fluch verhängt, wird am Ende zum „gebückten Mütterchen“, das Theodor Einlass zur Klausenburg gewährt. Durch den Mangel
20 Kugler, Stefani: Kunst-Zigeuner. Konstruktionen des ‚Zigeuners‘ in der deutschen Literatur in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Tier 2004, S. 113. 21 Ebd., S. 115.
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eines festen Wohnsitzes und wegen ihrer widersprüchlichen Darstellung – in diesem Sinne aufgrund der Unmöglichkeit einer festen Zuschreibung – stört die Zigeunerin, wie einst die Mitglieder ihrer „Bande“ in den Ländereien des Grafen Moritz durch bloße Anwesenheit Unruhe stifteten, immer wieder die Ordnung des Textes und verunsichert dessen Erzählwirklichkeit: Einerseits initiiert sie das Wunderbare, indem sie den Fluch verhängt und aktualisiert; andererseits wird auch sie mehrfach für ein Gespenst gehalten und stellt das Wunderbare damit sogleich in Abrede. Auch wenn die Zigeunerin in Tiecks Novelle nicht als „Personifikation der Poesie“22 bezeichnet werden kann, als die etwa Gerhard Schaub Mitidika in Brentanos „Die mehreren Wehmüller“ bestimmt, verweist sie auf die literarische Verfasstheit des Textes: Weniger als das Antibürgerliche und Fremde, vielmehr als das, was nicht fassbar gemacht und eindeutig bestimmt werden kann, steht die Zigeunerin mit der literarischen Rede in Zusammenhang. Die Unmöglichkeit ihrer genauen Verortung und Festschreibung, ihr Umherstreifen sowohl auf den verzeichneten Landstraßen als auch auf verborgenen Pfaden nahe der Klausenburg, die nur dem Jäger Ludwig Werner und Theodor bekannt sind, machen sie zu einer Figur, die die Mehrdeutigkeit der Rede repräsentiert und an deren „zweideutige Wirkung“ gemahnt.
2.2.9 G ESPENSTISCHE A MBIVALENZ Die Wende, die in der Schneesturmepisode beschrieben und von der Novelle nicht zuletzt durch eine „zweideutige Wirkung“ der Worte vollzogen wird, lässt sich mehrfach fassen: Als „wendung, drehung, umkehr“23 im Sinne des wiederholten Abschreitens eines bekannten Weges; indem man diese Umwendung als „ändernde fügung, umschlag, wechsel“24, als das Einschlagen einer neuen, noch unbekannten Richtung deutet, und zuletzt in der mundartlichen Bedeutung des
22 Vgl. Schaub, Gerhard: „Mitidika und ihre Schwestern. Zur Kontinuität eines Frauentyps in Brentanos Werken“, in: Hahn, Gerhard/Weber, Ernst (Hg.): Zwischen den Wissenschaften. Beiträge zur deutschen Literaturgeschichte, Regensburg 1994, S. 304317, hier: S. 310. 23 Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 28, Sp. 1742. 24 Ebd., Bd. 28, Sp. 1743.
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Aushebens und Durchpflügens25, bei dem das Innere nach außen und umgekehrt befördert wird. Die verschiedenen Formen des Umwendens kommen in „Die Klausenburg“ auf ihre Weise zum Tragen und verdeutlichen einmal mehr den Mangel eines singulären Wendepunktes im Text: Die Novelle ist regelrecht durchsetzt von Umschlägen – etwa den Entwendungen der Schriftstücke – und stellt weitere Möglichkeiten des Wechsels in Aussicht. Damit gerät der gesamte Text in einen Modus des permanenten Umbruchs und selbst das bereits Gewendete läuft Gefahr, erneut umzuschlagen. Mit dem Übergriff der Binnenerzählung auf ihren Rahmen verkehrt sich vor allem die Erzählordnung der Novelle, was sich wiederum auf die Wirklichkeitsauffassung der erzählten Räume auswirkt. Bis dahin ist der Wirklichkeitsbezug der Rahmenhandlung mit dem Wunderbaren narratologisch unvereinbar. Blomberg verweist zwar auf „die neueren und sicheren Entdeckungen des thierischen Magnetismus“ (S. 80) und verhandelt die Existenz von Gespenstern als „eine der interessantesten und auch wichtigsten Entdeckungen der neuern Tage“ (S. 81), verleiht seiner Geschichte aber dennoch eine „zweideutige Wirkung“, die nach Tzvetan Todorov das Phantastische kennzeichnet: „[S]obald man sich für die eine oder die andere Antwort entscheidet, verläßt man das Fantastische und tritt in ein benachbartes Genre ein, in das des Unheimlichen und Wunderbaren […]“.26 Die Ambiguität des Phantastischen wird in „Die Klausenburg“ zunächst in zwei Schritten zugunsten des vermeintlich Wunderbaren aufgelöst: Zuerst, als Blomberg noch innerhalb der Binnenerzählung Ernestines Geist zu sehen bekommt, und dann, als Theodor auf der Ebene der bisherigen Rahmung seinen Geisterahnen begegnet. Doch selbst als die Gespenster der Binnengeschichte durch die Rahmenerzählung geistern, schlägt die bisher phantastische Novelle nicht vollends ins Wunderbare um. Die Grenzüberschreitung besteht nämlich in der Eigendynamik des Erzählens, das zugleich Gespenster hervorruft und wieder zurücknimmt: Einerseits bereitet der Text den Umschlag ins Wunderbare langwierig vor und etabliert bereits zu Beginn der Novelle Blomberg als autorisierten Erzähler, der die Geschichte als Zeuge authentifizieren soll. Andererseits stellt dieser Erzähler das Wunderbare selbst immer wieder infrage. Am Ende der Schneesturmpassage, die von den Zuhörern zunächst für die Fortsetzung seiner Gespenstergeschichte gedeutet wird, berichtet er beispielsweise von einem Zauberschloss im Wald. Auf die Nachfragen der Zuhörer antwortet Blomberg: „Al-
25 Ebd., Bd. 28, Sp. 1746: „mundartlich findet sich wende ferner für ‚schichte zusammengerechelten heus‘ und ‚streifen ackererde‘“, „‚streifen ackererde, durch die pflugschar umgewendet‘“. 26 Todorov, Tzvetan: Einführung in die fantastische Literatur, Frankfurt/M. 1975, S. 26.
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les war wirklich. […] Wenn ich sage Alles, […] so meine ich damit, wie jener Hettmann der Kosacken, Einiges und also bei weitem nicht Alles […].“ (S. 97) Das wunderbare Zauberschloss entpuppt sich als Poststation, die in ihrem Hochzeitsschmuck nicht alltäglich, aber doch irdisch ist. Doch nicht nur die Selbstaussagen des Erzählers lassen Zweifel an seiner Geschichte aufkommen: Er inszeniert Gespenster, um sie zu demaskieren. Zudem verliert Blomberg seinen Status als autorisierter Erzähler der Binnenhandlung, als diese sich ihres Rahmens bemächtigt und verselbständigt. Durch diese Verschiebung wird auch Blomberg als eine weitere Figur des Textes entlarvt, als ein von der Novelle gesetzter Erzähler – und ist damit nicht weniger fingiert als das Gespenst selbst. Es macht keinen Unterschied, ob der Text eine wunderbare Figur wie einen Geist oder eine alltägliche Figur wie den Baron hervorbringt. Trotz Bezug auf eine Wirklichkeit außerhalb des Textes bleiben Blomberg, Theodor und der Rest der kleinen Gesellschaft Fingierungen der Novelle und ihrer Wirklichkeit verhaftet. In diesem Sinne sind sie genauso wunderbar wie die gespenstische Erscheinung, von der sie sprechen. Außerdem spricht nicht der übergeordnete Erzähler der Novelle, der als Erzähler der Rahmenhandlung fungiert, von Gespenstern: Lediglich in den Gesprächen der Figuren Blomberg und Theodor ist von ihnen die Rede. Da die Übergänge zwischen dem Rahmen und der Binnengeschichte, deren Erzähler Blomberg ist, im Text ebenso wenig gekennzeichnet werden wie die direkte Rede, ist mitunter schwer zu ermitteln, ob der Erzähler oder Blomberg als Figur des Erzählenden spricht. Sowohl Blombergs als auch Theodors Aussagen sind keine Aussagen des Textes, sondern als Rede der Figuren lediglich Zitate und daher nicht glaubwürdiger als die Behauptungen der Jäger, die die alte Frau im Wald mit der Zigeunerin in Zusammenhang bringen. Die entwendeten Schriftstücke, die die Wende des Textes beschließen, verweisen darauf, dass auch Theodors gewendetes Schicksal ein textuell verfasstes ist: Er und die anderen Figuren der Novelle – seien dies nun Gespenster oder nicht – sind literarische Figurationen. Wenn Franz stellvertretend für das gesamte Grafengeschlecht über das Dokument, das ihm das Erbe zusichert, sagt, dass es „[s]ein Dasein begründe[]“ (S. 136), ist dies nicht ausschließlich im ökonomischen Sinne zu verstehen: Keine dem Text äußere Wirklichkeit, auf die er sich bezieht oder die er mimetisch abzubilden imstande wäre, begründet die Existenz der Figuren – ihr Dasein entspringt der Schrift. Bezeichnend für die Geister in „Die Klausenburg“, die aus der Rede hervorgehen, steht das lateinische „spectrum“ für Gespenst etymologisch in Zusammenhang mit dem Sehen. Der deutsche Begriff leitet sich wiederum vom Synonym für das lateinische „suggestio“ als Eingebung oder auch Be-
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redung ab.27 Indem die Novelle von Figuren erzählt, deren Sinne in verschiedener Weise getrübt werden, beeinträchtigt sie zugleich die Wahrnehmung des Lesers und blendet ihn mit wunderbaren und geisterhaften Erscheinungen: Sie redet ihm Gespenster ein. An dieser Stelle geht es weniger um die Frage nach der Existenz von Geistern; diese kann im Text nämlich weder im Rückgriff auf Flüche und dunkle Mächte noch mit Hilfe des „thierischen Magnetismus“ oder „Gemüthszuständen“ beantwortet werden. Die bloße Möglichkeit von Geistern verunsichert aber die Referenz der Rahmenhandlung auf eine außertextuelle Wirklichkeit und verdeutlicht, dass literarische Texte keine ihnen äußere Realität geisterhaft abbilden, sondern ‚Wirklichkeit‘ nach ihren eigenen Gesetzen generieren, die nicht in Kategorien des Wunderbaren und Alltäglichen bzw. in denen des Unsinnigen und Vernünftigen erfasst werden kann. Noch das im Text ausgestellte Wunderbare erweist sich als „Akt poetologischer Subversion“28, indem die Mehrdeutigkeit des Phantastischen nicht aufgehoben, sondern lediglich verschoben wird. Roger Caillois beschreibt das Phantastische als „Bruch mit der geltenden Ordnung, Einbruch des Unzulässigen in die unveränderliche Gesetzmäßigkeit des Alltäglichen“.29 Es verdeutlicht in besonderer Art die ambivalente Sichtweise des Textes, vor allem die verbalen Aspekte, die spezifische Beschreibung eines Ereignisses, die erst die Unschlüssigkeit und Mehrdeutigkeit entstehen lässt.30 Das Gespenstische des Textes sind seine Techniken, Geister hervorzurufen und an anderer Stelle zugleich wieder aufzulösen. Was durch die Novelle geistert, ist ein Gespenst der Ambivalenz. Den Glauben an das Wunderbare nähren dabei vor allem Rückbezüge auf Konventionen der Gespenstergeschichte oder auch des Schicksalsdramas. Brechungen und Umdeutungen dieser aufgegriffenen topoi bringen die Geister hingegen wieder zum Verschwinden. Lässt sich der Fluch der Zigeunerin als Demonstration der Wirkmächtigkeit der Worte und als Warnung vor deren „zweideutiger Wirkung“ lesen, dienen die vom Text inszenierten Gespenster einer „paradigmatische[n] Veranschaulichung des Phantastischen“:31 Sie sind die Verkörperung dessen, was als das „Unentscheidbare […] jedem Entscheidungs-Ereignis innewohnt“
27 Vgl. Kanzog, Klaus: Art. „Gespenstergeschichte“, in: Weimar, Klaus/Fricke, Harald/Müller, Jan-Dirk (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Berlin 1997, Bd. I, S. 718ff. 28 Antonsen, Jan Erik: Poetik des Unmöglichen, Paderborn 2007, S. 69. 29 Caillois, Roger: Au cœur du fantastique, Paris 1965, S. 161; zit. u. übers. nach: Todorov, Einführung in die fantastische Literatur, S. 27. 30 Vgl. Todorov, Einführung in die fantastische Literatur, S. 33. 31 So der Titel eines Kapitels in Antonsens Poetik des Unmöglichen.
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und wofür Jacques Derrida die Metapher des Gespenstes einsetzt.32 Wenn sich „Die Klausenburg“ bereits in ihrem Untertitel als „Gespenster-Geschichte“ ausgibt, zielt das zum einen auf die gespenstischen Erscheinungen ab, von denen dort die Rede ist. Zum anderen ist es aber auch eine Bestimmung des Textes, der nicht nur von Gespenstern erzählt, sondern selbst gespenstisch agiert. Die Betitelung „Gespenster-Geschichte“ gibt in diesem mehrfachen Sinne sowohl über den Inhalt der Novelle als auch über ihre Funktionsweise Auskunft: Der Text macht sich selbst zu seinem gespenstischen Gegenstand. Zu dieser Lektüre lässt sich eine weitere Novelle Tiecks heranziehen: „Der Schutzgeist“33 erschien 1839, nur zwei Jahre nach „Die Klausenburg“, und handelt ebenfalls von einem „wunderbare[n], unerklärliche[n] Ereigniß“ (SG, S. 41), bei dem eine wegen des Wetters vom Weg abgebrachte Kutsche eine entscheidende Rolle spielt. Die Protagonisten der Novelle verwehren sich sowohl dem „Aberglauben“ und der „ekelhafte[n] Poesie der tausend Gespenstergeschichten“ (SG, S. 40) als auch den wissenschaftlichen Bestrebungen, das Wunderbare in ein System zu pressen. Denn die eindeutige Zuordnung entweder zum Wunderbaren oder Erklärungsversuche unter alltäglichen Gesetzmäßigkeiten dienen lediglich dazu, den „eignen Geist, die nächsten Gedanken zu verdämmern“ (SG, S. 9). Stattdessen vergleichen sie die übersinnlichen Erlebnisse mit einem „Text, der eine mündliche Auslegung in tausend mannigfaltigen Gestalten zuläßt“ (SG, S. 10). In einem Brief an Justinus Kerner, der explizit auf die Novelle „Der Schutzgeist“ Bezug nimmt, bringt Tieck das Phantastische mit dem Mehrdeutigen in Verbindung: Wenn sich bei derartigen „Erscheinungen“ nicht unterscheiden lässt, was „sozusagen wirklich“ und „was nur eine scheinbar nach außen geworfene Metapher […] unserer schaffenden Phantasie“ ist, dann deswegen, weil das Parapsychologische als metaphorische Sprache eines „unbewußt [G]ebliebenen“ zu lesen ist.34 Auch in „Die Klausenburg“ sprechen die Figuren der Rahmenhandlung, denen Blomberg sein „Gespensterhistörchen“ vorträgt, über die Existenz von Geistern und die „zweideutige Wirkung“ des Erzählten. So bekundet Anselm:
32 Antonsen, Poetik des Unmöglichen, S. 271; mit Bezug auf: Derrida, Jacques: Gesetzeskraft. Der „mystische Grund der Autorität“, Frankfurt/M. 1991, S. 50f. 33 Tieck, Ludwig: „Der Schutzgeist“, in: ders.: Ludwig Tiecks Schriften, Bd. 25: Ludwig Tiecks gesammelte Novellen, Bd. 9, Berlin 1966 (Repr. d. Ausg. v. 1853), S. 3-72; im Folgenden abgekürzt als SG. 34 Ludwig Tieck; zit. nach: Schweikert, Uwe (Hg.): Dichter über ihre Dichtungen, München 1971, Bd. 2, S. 68f.
84 | W HITEOUT „[W]as wir bis jetzt von dieser Zigeunerin, der Sibylle, dem väterlichen Fluch gehört haben, macht keinen großen Eindruck. Alles dieser Art ist nur von einer zweideutigen Wirkung, denn der Leser oder Zuhörer muß dem Erzähler schon mit gutem, ja sogar dem besten Willen entgegen kommen, damit nur eine Täuschung, geschweige ein tiefer erschütternder Eindruck möglich werde.“ (S. 117)
Anselm kritisiert an Blombergs Erzählung das zweideutig Phantastische und fordert das eindeutig Wunderbare, eine „unterhaltsame Gespenstergeschichte“: „Ich verlange von der Dichtung, daß sie mich in einen behaglichen Zustand versetze, der mich die Wirren und Aengste des wirklichen Lebens vergessen macht“ (S. 118). Sein Konkurrent Theodor erwidert darauf, „wem in jenem süßen Grauen sich nicht das Räthsel des Lebens in einem halbverständlichen Wunder darlegt“, erhält „keine Einlaßkarte“ „zu jener geistigen Region“ (S. 118). Während Anselm, im Rückbezug auf die Aussagen des Priesters in „Der Schutzgeist“, die Dichtung heranzieht, um „die nächsten Gedanken zu verdämmern“, wendet sich Theodor vom unterhaltsamen Wunderbaren ab und dem Alltäglichen, dem „Räthsel des Lebens“, zu, das sich in diesem „halbverständlich“ offenbart. Seinen Versuch, das Alltägliche mit Hilfe des Wunderbaren oder Phantastischen zu erschließen, pariert Anselm wiederum mit der Aussage, dabei „auf jene bahnlosen Schmuggler-Pfade“ zu geraten, „auf welche so viele ästhetische Contrebandiers verdächtige und verbotene Waare aus dem Gebiet des Unsinns in das Land der Vernunft hinüber paschen wollen“ (S. 118). Die Ordnung, die er mit der Einteilung in ein „Gebiet des Unsinns“ und „das Land der Vernunft“ vornimmt, wird im Verlauf der Novelle allerdings außer Kraft gesetzt. Selbst „das Land der Vernunft“, der Ort alltäglicher Gesetzmäßigkeiten, an dem das Erzählen über das Wunderbare und Un-Sinnige stattfindet, erweist sich in der Verkehrung der Erzählordnung als Teil des „Gebietes des Unsinns“. Das Gebiet des Un-Sinns kann an dieser Stelle auch mit dem Ort des Phantastischen in Zusammenhang gebracht werden: Unsinn heißt „mangel an sinn“35, die „‚abwesenheit alles begreiflichen und vernünftigen verstandes‘“.36 Unsinnig ist aber auch einer, der „von vorübergehenden störungen“ betroffen, „von sinnen, seiner sinne nicht mächtig, bewusztlos“, also nicht bei klarem, eindeutigen Verstande ist. Unsinn ist demnach nicht nur das, was keinen, sondern insbesondere das, was keinen einzelnen oder konkreten Sinn macht. Wer seiner Sinne beraubt, zu keinem Sinn fähig ist, dessen Wahrnehmungsfähigkeit ist getrübt. Analog dem Wunderbaren, dessen bloße Existenzmöglichkeit die alltägliche Wirklichkeit der Novelle verunsichert, ge-
35 Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 24, Sp. 1393. 36 Ebd., Bd. 24, Sp. 1395.
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fährdet das Un-Sinnige als das Un-Eindeutige das Klare und Ungetrübte. Ebenso wie das Wunderbare stellt es aber nicht die Abweichung vom Normalen und Alltäglichen dar: Vielmehr ist die Gefährdung und Bedrohung dieser vermeintlichen Klarheit, das Von-Sinnen-Sein und die Beeinträchtigung der Wahrnehmung, die Wegmarken und Zeichen fehldeuten und in die Irre laufen lässt, der Normalzustand. Der Übergriff der Gespenstergeschichte auf ihren Rahmen verunsichert aber nicht nur die Ordnung der Erzählwirklichkeiten: Das bisher Randständige wird zu dem Raum, in dem sich die Binnenerzählung fortsetzt und durch vermeintliche Randfiguren ihren Höhepunkt findet. Derartige Verkehrungen unterstreichen die Bedeutung des Abseitigen in der Ökonomie der Novelle, wie etwa Blombergs kurzer Bericht einer Irrfahrt im Schnee oder seine Anekdote vom verlorenen vierten Rad. Anselms abwertende Metapher des „Schmuggler-Pfades“ erhält in diesem Zusammenhang eine ganz neue Bedeutung. Der Schmugglerpfad lässt sich als Opposition zum gebahnten Hauptweg bestimmen, den auch Blomberg in seinen Exkursen immer wieder verlässt. Insbesondere seine Irrfahrt in der Postkutsche, die vom gebahnten Weg abkommt, veranschaulicht, wie literarische Texte, im Gegensatz zur zielgerichteten und geradlinigen Übermittlung von Informationen durch die Post, ihre Inhalte selbstreferentiell und weggerichtet vermitteln. Diese Art des ‚Reisens‘ führt durch einen Raum voller Hindernisse: Bei den Fahrten „auf’s Geratewohl“ und der „Wildenwahl“ werden Umwege und Abwege in Kauf genommen, denn erst die Abweichung bringt buchstäblich den Grund des literarischen Erzählens hervor. Die Ökonomie der Novelle verweist immer wieder auf das Verhältnis von Wegen und Abwegen, der „postmäßigen“ Beförderung und dem Reisen auf ungebahnten Schmugglerpfaden. „[V]on geschmuggelten waaren sagt man: schwarz herein (über die grenze) kommen.“37 Dies bezieht sich auf Vorgänge, die im Schutz der Dunkelheit stattfinden, aber auch auf den Umstand, dass sich die Schmuggler „das gesicht schwärzen, um sich unkenntlich zu machen“.38 Derjenige, der „verbotene Waare aus dem Gebiet des Unsinns in das Land der Vernunft hinüber paschen“ (S. 118) möchte und sein Gesicht unkenntlich macht, ist zum einen defiguriert (defacement).39 Zum anderen bewegt er sich in einem Gebiet mit für ihn durchlässigen Grenzen, indem er sich nicht oder nur schwer ver-
37 Ebd., Bd. 15, Sp. 2301f. 38 Ebd. 39 Vgl. de Man, Paul: „Autobiographie als Maskenspiel“, in: ders.: Die Ideologie des Ästhetischen, hg. v. Christoph Menke, übers. v. Jürgen Blasius, Frankfurt/M. 1993, S. 131-145.
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orten lässt. Seine Funktion, der Schmuggel und Schwarzmarkt, der Grenzen auf geheimen Pfaden umgeht, gefährdet die regulierte Ökonomie sowie die Ordnung jener Grenzziehung, die er missachtet. Er entzieht sich nicht nur der Sichtbarkeit, sondern auch der Kontrolle. Zugleich beschreibt die Episode der verirrten Postkutsche das Abkommen vom vorgesehenen Weg und ist dabei selbst Abweg vom Kurs der Narration der Novelle. Wird dieser Exkurs als viertes Rad des Textes bestimmt, der dessen Gleichgewicht aufrecht erhält, so kennzeichnet diese Zuschreibung die Notwendigkeit des Ausweichens auf unkontrollierte, ungesicherte und noch nicht festgeschriebene Wege. Die Bewegung der verirrten Kutsche ist in diesem Sinne nicht nur textkonstitutiv, sondern demonstriert das erforderliche Abkommen vom erwarteten und von Konventionen gebahnten Weg. Erst dadurch lässt sich ein neuer Weg einschlagen und eine „GespensterGeschichte“ in mehrfacher Weise erzählen. Die Novelle endet mit Theodors Plänen, „jene alte verwüstete Klausenburg wieder auf[zu]bauen, die Wege dort her[zu]stellen“ (S. 174). Bis dahin war die „weglose Klippe“ (S. 82) der Klausenburg ein eher abwegiges Ziel und wurde „nur noch zuweilen von Jägern oder verirrten Wanderern besucht“ (S. 82). Theodors Vorhaben, die Wege der Klausenburg wieder aufzubauen, macht zum einen einst vorhandene, aber wieder verschwundene sowie selten genutzte Wege begeh- oder befahrbar bzw. in einer Übertragung auf den Text, Abwegiges und Verschüttetes lesbar. Der Bahnung des noch Unwegsamen ist aber bereits die Reglementierung eingeschrieben. Was bisher Abweg oder Schmugglerpfad abseits der gebahnten Straße bzw. Abweichung der Konvention war, wird nun zum regulären Weg und gibt damit Raum und Bedarf für neue Seitenwege bzw. andere Möglichkeiten, vom „ordentlichen lauf der dinge“ auszubrechen.
2.3 Textuelle Verwehungen. Aleksander Pukin, „Der Schneesturm“ („Metel’“, 1831)
2.3.1 V ERLIEBT ,
VERWEHT , VERHEIRATET
In Ludwig Tiecks Novelle „Die Klausenburg“ dient die Irrfahrt des Erzählers im Schneesturm als Kursvorgabe des Textes: Die von ihrem Weg abgebrachte Kutsche gibt die Richtung der Novelle vor, auch wenn diese Dialektik erst am Ende des Textes lesbar wird. In Pukins Erzählung verirren sich während eines Schneesturmes gleich zwei Schlitten, wobei der Postschlitten kurzerhand den Platz des anderen einnimmt – und dies in jeglicher Hinsicht, denn wie sich ebenfalls nachträglich erkennen lässt, wechseln mit dem Schlitten auch Protagonist und Thematik der Erzählung. Zunächst hat der Leser jedoch einen Text vor sich, der scheinbar aus zwei separaten Teilen besteht, die vom Schneesturm gleichermaßen getrennt werden als auch durch ihn miteinander verbunden sind. Die Erzählung beginnt als romantische Entführungsgeschichte, in der Vladimir seine Braut Mar’ja zur heimlichen Flucht vor den Eltern überredet, die gegen die Heirat mit dem armen Fähnrich sind. Auf dem Weg zur Hochzeit gerät Vladimir allerdings in einen Schneesturm und verliert die Kontrolle über den Schlitten. Seine verspätete Ankunft in der Kirche ermöglicht, dass in der Zwischenzeit ein Anderer seinen Platz sowohl als Bräutigam als auch als Protagonist des Textes einnehmen konnte. Das Unvermögen, den Schlitten und den an ihn gebundenen Teil der Erzählung voranzubringen, bezahlt der Fähnrich schließlich mit dem Ausscheiden aus dem Text. Der zweite Teil von „Der Schneesturm“ folgt dem Motiv des sich verkennenden Ehepaares und ist an das Schicksal jenes Postschlittens gekoppelt, der während der eigenen Irrfahrt Vladimirs Platz beansprucht. Anstelle des vorgesehenen Bräutigams erreicht Burmin die Kirche, ehelicht die nahezu bewusstlose
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Braut und flüchtet nach diesem „unverzeihliche[n] Leichtsinn“ (S. 83)1. Jahre später begegnen sich Mar’ja und Burmin erneut und meinen sich unglücklich verliebt, bis ein Geständnis klärt, dass sie längst miteinander verheiratet sind. Bis zum Ende des Textes wird der Bericht von den Ereignissen während des Schneesturmes – und damit von der Auswechslung der Schlitten inklusive ihrer Insassen und der mit ihnen verhafteten Erzählmodelle – allerdings aufgeschoben. Stattdessen beschreibt der Erzähler lediglich den Sturm, der die Irrfahrt beider Kutschen auslöst. Der Austausch der Genres führte oftmals dazu, dass „Der Schneesturm“ in der Forschungsliteratur als Parodie zeitgenössischer westlicher Erzählmuster oder deren russischer Adaptionen, hier der sentimentalen Abenteuergeschichte und der Schicksalskomödie mit dem Motiv der unerkannt Liebenden, rezipiert wurde.2 In der folgenden Lektüre wird die Erzählung zwar ebenfalls intertextuell
1
Die Zitate im Text sind der deutschen Übersetzung von Michael Pfeiffer entnommen: Puschkin, Alexander S.: Die Erzählungen des verstorbenen Iwan Petrowitsch Belkin, in: ders.: Romane und Novellen, übers. v. Michael Pfeiffer, Leipzig 1969. Die Seitenangaben erfolgen in Klammern im Text. Bei Abweichungen oder zur Akzentuierung nutze ich ebenso die Übersetzung von Johannes von Guenther, die als JvG gekennzeichnet ist: Puschkin, Alexander: Die Erzählungen des verstorbenen Iwan Petrowitsch Belkin, in: ders.: Ausgewählte Werke, Bd. 3: Romane und Novellen, hg. u. übers. v. Johannes von Guenther, Berlin 1952. „‚% , ‘“ (Pukin, Aleksandr S.: Povesti pokojnogo Ivana Petrovia Belkina, Moskau 1999, S. 29). Der russische Text wird jeweils ausführlich in den Fußnoten zitiert, einzelne Wendungen werden zur Hervorhebung auch transkribiert in Klammern im Text wiedergegeben. Zur Vereinheitlichung der verschiedenen Schreibweisen werden die Namen der Figuren und Orte des Textes im Fließtext in der üblichen deutschen Transkription geschrieben und weichen mitunter von der Schreibweise der deutschen Übersetzungen ab.
2
Vgl. Lednicki, Waclaw: „Bits of Table Talk on Pushkin. III. The Snowstorm“, in: American Slavic and East European Review 6 3/4 (1947), S. 110-133; Gregg, Richard: „A Scapegoat for All Seasons: The Unity and the Shape of The Tales of Belkin“, in: Slavic Review 3/4 (1971), S. 748-761; Kodjak, Andrej: Pushkin’s I.P. Belkin, Columbus 1979; Bethea, David M./Davydov, Sergei: „Pushkin’s Saturnine Cupid: The Poetics of Parody in The Tales of Belkin“, in: PMLA 96/1 (1981), S. 8-21; Ebbinghaus, Andreas: „Über A.S. Pukins Erzählung ‚Metel’‘“, in: Jahrbuch der Deutschen Puschkin-Gesellschaft 1 (1989), S. 61-77; Epstein Matveyev, Rebecca: „Narrative Self-Determination and Marital Fate in Puskin’s Works: Ruslan I Ljudmila, Evgeni Onegin, and Povesti Belkina“, in: Russian Literature 63 (1998), S. 1-18.
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verortet, jedoch nicht, um den Gegenstand einer vermeintlichen Parodie ausfindig zu machen. Die intertextuelle Bezugnahme, insbesondere das Aufgreifen konventioneller narrativer Modelle, bahnt der Erzählung vielmehr einen Weg, von dem diese letztendlich ebenso abgerät wie die verirrten Schlitten. Als eine der Erzählungen des verstorbenen Iwan Petrowitsch Belkin (Povesti pokojnogo Ivana Petrovia Belkina) wird „Der Schneesturm“ zudem im Kontext der Belkin-Narration betrachtet. Bereits das „Vorwort des Herausgebers“ „A.P.“, das die fiktive Autorschaft Belkins etabliert, initiiert eine Textraummetaphorik, die das literarische Schreiben dem Urbarmachen des Bodens analog setzt. Die Metapher vom Text als Raum, der durchpflügt, aber auch durchschritten und im Schlitten durchfahren werden kann, kehrt in Belkins Erzählungen mehrfach wieder. Vor diesem Hintergrund lassen sich die Bedingungen des territorialen Ortes, an dem der Schneesturm stattfindet, auf den Textraum übertragen, der das Schlittenduell der semantischen Ebene performativ umsetzt. Der Schneesturm bringt die Reisenden von ihrer vorgesehenen Bahn ab und schickt sie in noch unbekannte Gegenden.
2.3.2 D ER G RUND
DER
S CHRIFT
Den fünf Erzählungen Belkins steht ein „Vorwort des Herausgebers“ voran, das als „Lebensbeschreibung des verstorbenen Autors“ (S. 51)3 dienen soll. Als „durchaus zureichendes biographisches Zeugnis“ (S. 51)4 gilt der Brief eines ehemaligen Gutsnachbarn, der Auskunft über den „Zeitpunkt der Geburt und des Todes, über die Dienstzeit, die häuslichen Verhältnisse und auch über die Interessen und den Charakter“ (S. 51)5 Belkins gibt. Der Nachbar vermerkt, dass der verstorbene Autor „die Lust am Lesen und die Liebe zur russischen Literatur“ (S. 52)6 dem Dorfküster verdankt. Von den literarischen Qualitäten Belkins hält er aber ebenso wenig wie von seiner Fähigkeit zur Gutsverwaltung. Nach den Aussagen des Nachbarn sind Belkins Erzählungen „zum größten Teil wahr“ und wurden ihm „von verschiedenen Personen erzählt“7, deren jeweiliger „Rang oder
3
„ “ (S. 4).
4
„ & “ (S. 4).
5
„ , , ' , “ (S. 4).
6
„*- , ,
.“ (S. 5)
7
„+ […] ' ' “ (S. 6).
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Stand und die Anfangsbuchstaben des Vor- und Familiennamens“ (S. 54)8 im Manuskript vermerkt sind. „Der Schneesturm“ und die letzte Erzählung „Das Adelsfräulein als Bäuerin“ („Barynaja-Krest’janka“) wurden Belkin demnach vom Fräulein K.I.T. zugetragen. „Allerdings sind fast alle Personennamen […]“, so der Nachbar weiter, „von ihm selbst erdacht und die Namen der Dörfer und Flecken unserer Gegend entnommen […]. Dies ist nicht auf irgendeine böse Absicht zurückzuführen, sondern allein auf den Mangel an Phantasie“ (S. 54).9 Die wörtliche Übersetzung der Namen veranschaulicht, dass es fiktive Orte sind und Nenaradowo etwa, einer der Schauplätze in „Der Schneesturm“, „Unfrohhausen“ bedeutet.10 Wenn es sich bei den Ortschaften aber, wie der Nachbar behauptet, um „Flecken [der] Gegend“ handelt, sind sie und ihre Bewohner in einer literarischen Landschaft anzusiedeln. Damit lässt sich Belkin, wie bereits Jan M. Meijer vorschlägt, nicht nur als Autor der fünf Erzählungen, sondern als weitere Figur des Textes betrachten.11 In dieser Lesart nimmt er eine doppelte Funktion ein: Als Autor sammelt und verbindet Belkin verschiedene Texte zu einem einheitlichen Ganzen und vermittelt zwischen den jeweiligen Erzählinstanzen, die sich dabei kreuzen. Er bezieht seine Stellung zwischen den Erzählern der Geschichten und den Figuren, die darin als sekundäre Narratoren von Binnenerzählungen auftreten, verweist aber zusätzlich auf andere Texte und deren Verfasser. Der Herausgeber „A.P.“ wiederum, der sowohl die Erzählungen als auch das vorangestellte Vorwort mit einem Motto versieht, gibt Belkin in der Edierung als literarische Figur und deren „biographisches Zeugnis“ als sechste Erzählung zu erkennen. Bezeichnenderweise geht dieser ein Zitat aus „Der Landjunker“ voran: „‚Schon von klein auf, Väterchen,/ hört er Geschichten gern.‘“ (S. 49)12 Der Autor als literarische Figur, die gern Geschichten hört und zusammenträgt, kann an dieser Stelle als Personifikation einer intertextuellen Verfahrensweise angesehen werden, die heterogenes Textmaterial miteinander verbindet und zwischen den unterschiedlichen darin zu Wort kommenden Sprechern vermittelt.
8
„ & “ (S. 6).
9
„+ ' , ' […]. * ' - , .“ (S. 6)
10 Vgl. Schmid, Wolf: Pukins Prosa in poetischer Lektüre. Die Erzählungen Belkins, München 1991, S. 235. 11 Vgl. Meijer, Jan M.: „The Sixth Tale of Belkin“, in: van der Eng, Jan (Hg.): The Tales of Belkin, Den Haag 1968, S. 110-134. 12 „‚ @ . ^ , , , , , ' .“ (S. 6) 17 „ ' “ (S. 6).
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53)18. Auf die Erzählungen übertragen macht es vorerst keinen Unterschied, ob Belkin aus Nachlässigkeit oder aus einem Erneuerungsbestreben heraus von der bestehenden Ordnung abweicht. Er greift auf traditionelle narrative Muster zurück, bricht aus deren Konventionen allerdings konsequent aus. In einer allegorischen Analogisierung des Urbarmachen des Bodens und dem literarischen Schreiben wird das Blatt Papier zum buchstäblichen Grund der Schrift: zum Untergrund und Nährboden, dem die Worte entwachsen. Die Metapher bestimmt die Schrift zur fruchtbaren Hervorbringung und initiiert eine Auseinandersetzung mit der ökonomischen Bearbeitung des zur Verfügung stehenden Raumes. Zunächst wird der literarische Text darin zum Textraum, der beackert, aber auch durchschritten werden kann. Weiterhin setzt die landwirtschaftliche Metapher diesen Textraum äußeren Bedingungen aus, etwa denen des Wetters oder einer den Gegebenheiten des Bodens angepassten Bewirtschaftung. Der Zusammenhang zwischen den verschiedenen Agrarsystemen und der Fruchtbarkeit des literarischen Bodens kehrt in der letzten Belkin-Erzählung „Das Adelsfräulein als Bäuerin“ wieder. Dort sind zwei Nachbarn wegen ihrer voneinander abweichenden Bewirtschaftungstechniken sogar miteinander verfeindet. Über den einen heißt es, „Haß gegen Neuerungen war eine hervorstechende Eigenschaft seines Charakters. Er konnte nicht gleichgültig von der Anglomanie seines Nachbars sprechen“ (S. 108).19 Dessen „Anglomanie“ besteht im Übrigen darin, die Felder „nach englischer Methode“ zu bestellen, „[d]och auf fremde Art gedeiht kein russisches Getreide“ (S. 107).20 „‚Wir werden uns nicht auf englisch ruinieren! Wenn wir nur nach russischer Art satt werden!‘“ (S. 108)21 Die im Vorwort vorbereitete Auseinandersetzung zwischen einer alten und einer neuen Ordnung wird hier weitergeführt und expliziert an der Gegenüberstellung russischer Traditionen und europäischer Einflüsse bis hin zur kulturellen Vereinnahmung. Vereint werden die verfeindeten Nachbarn in der Erzählung durch ihre Kinder oder wenn man so möchte – durch ihre ‚Leibesfrucht‘. Lisa, die im „barbarischen Rußland“ (S. 110)22 von einer englischen Gouvernante erzogen wird und am Tisch nur französisch spricht, kann den Sohn des Nachbarn durch einen
18 „ […] ' “ (S. 5). 19 „% . + ' “ (S. 47). 20 „@ : % “ (S. 46). 21 „‚` - ! " - .‘“ (S. 47) 22 „ “, S. 48.
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Trick für sich gewinnen, nämlich im Gewand eines russischen Bauernmädchens. Alexej verliebt sich in die ihm vertraute russische Natürlichkeit und ist zugleich beeindruckt von dem ihm fremden Gedankengut der vermeintlichen Bäuerin. Was in der Forschungsliteratur oftmals als Verhandlung der russischen Klassengesellschaft rezipiert wird, lässt sich ebenso in Hinblick auf die Opposition von Tradition und literarischem Einfluss Europas bestimmen, insbesondere vor dem Hintergrund, dass zu Beginn des 19. Jahrhunderts Klassenzugehörigkeit in Russland vor allem durch die Verwendung von Fremdsprachen zum Ausdruck gebracht wurde. So galt Französisch als Kultur-, Brief- und Salonsprache; selbst englische Romane wurden oftmals in der französischen Übersetzung gelesen, wovon einige Übersetzungsversuche Pukins Zeugnis ablegen.23 Dass eine solche Auseinandersetzung über die Metapher des Bodens läuft, ist nicht zufällig, verbindet diese doch die Vorstellung der schriftstellerischen Tätigkeit als Fruchtbarmachen des Erdbodens mit einer gewaltsamen Landnahme durch die Übergriffe des Fremden. Aber sowohl die russischen Traditionalisten, die ihren Grund und Boden mit Nationalstolz verteidigen, als auch die ‚Invasoren‘, beispielsweise in Form einer selbst ins Land geholten, steifen und weiß geschminkten englischen Gouvernante, werden in den Belkin-Erzählungen der Lächerlichkeit preisgegeben. Lediglich das „Adelsfräulein als Bäuerin“, die fremde Kultur im schlichtesten Gewand der eigenen, ist erfolgreich. Die Erzählung „Der Schneesturm“ greift zwar nicht die Agrarmetapher auf, verhandelt Bezüge auf russische und andere Vorgängertexte aber ebenso über eine räumliche Metaphorik. Bei dieser geht es weder um fruchtbare Hervorbringungen noch um Einkleidungen, sondern vielmehr um Entgleisungen aus vorgesehenen Bahnen sowie um unvermutete Zusammenstöße in einem Raum unter erschwerten Sichtbedingungen.
2.3.3 A US
DER
B AHN
GEWORFEN
Wenn Belkin als Autor der Erzählungen gleichermaßen eine Figur des Textes ist, gibt dieser Umstand Auskunft über den vermeintlichen Wahrheitsgehalt seiner Geschichten. Die dem Autor von verschiedenen Personen erzählten Begebenheiten folgen offensichtlich literarischen Schemen: „Der Schuß“ („Vystrel“) steht zum Beispiel in der Tradition der Duellgeschichte; „Der Schneesturm“ verbindet die sentimentale Abenteuergeschichte mit dem Motiv der unerkannt Liebenden und „Der Stationsaufseher“ („Stantsionnyi smotritel’“) Vyrin verkörpert das mo-
23 Vgl. Schmid, Pukins Prosa in poetischer Lektüre.
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ralistische Modell. Die intertextuellen Referenzen beschränken sich aber nicht auf die aufgegriffenen Erzählmuster: Jeder Erzählung, sogar dem Vorwort bzw. der Belkin-Erzählung, steht in Zitatform ein Motto voran, weshalb unklar bleibt, ob diese vom ‚Autor‘ Belkin oder vom ‚Herausgeber‘ „A.P.“ gewählt wurden. Zudem gibt Belkin immer wieder das Wort an andere ab. So kommentiert beispielsweise Petrarca, ohne genannt zu werden, Mar’jas Koketterie in „Der Schneesturm“. „[D]er Dichter hätte zu ihrem Benehmen gesagt: Se amor non è che dunque? …“ (S. 80).24 Mar’ja selbst erinnert sich während Burmins Liebesgeständnis „an den ersten Brief des Saint-Preux“ (S. 81)25 und damit an Rousseaus Briefroman Julie, ou La Nouvelle Héloïse (1761). Der Erzähler und die Figuren referieren aber auch auf Volksweisheiten, Sprichwörter oder idiomatische Redewendungen. Über diese eigentümliche Vermischung heterogener Textquellen hinaus werden die intertextuellen Bezüge reflektiert, wenn etwa in der Erzählung „Der Schuß“ der Schütze Sylvio seinen Schuss in das Gemälde einer Schweizer Landschaft setzt und damit unverkennbar auf seinen literarischen Vorgänger, Schillers Wilhelm Tell (1804), abzielt. Das Referierte erhält im neuen Kontext eine durchaus ambivalente Bedeutung, zum Beispiel indem Redeklischees wörtlich verstanden werden oder der Erzähler durch narrative Muster Spuren auslegt, denen der Text letztendlich nicht folgt. Die Figuren in „Der Schneesturm“ – ein sentimentales Adelsfräulein, ein armer Fähnrich und ein Husarenoberst – verkörpern zwar mit ihrem jeweiligen Erzählmodell verbundene Stereotype, brechen aus der vorgegebenen Rolle aber zuweilen aus. So entführt Vladimir die Braut nicht selbst, sondern beauftragt seinen Kutscher. Die Notwendigkeit zur Entführung scheint ohnehin nicht gegeben, da Mar’jas Eltern keineswegs so „grausam“ (S. 71) („{estokie“, S. 19) sind, wie sie dem Modell nach sein sollten. Mar’ja hingegen stellt ihre literarische Verfasstheit offen zur Schau, indem sie „wie eine echte Romanheldin“ (S. 81)26 aussieht, „ihre Erziehung französischen Romanen“ (S. 70)27 verdankt und über eine „romanhafte Einbil-
24 „% , ; } , , : Se amor non è, che dunque? …“ (S. 26). Die Zeile „Se amor non è, che dunque è quel ch’io sento?“ ist dem 132. der Sonette „In vita di Madonna Laura“ aus Petrarcas „Canzoniere“ entnommen und handelt von der schicksalhaften Liebe. Petrarca, Francesco: Canzoniere, eingeleit. v. Gianfranco Conti, Torino 1964, S. 184. 25 „# St.-Preux.“ (S. 27) 26 „" ' # , , , ! p.“ (S. 27) 27 „# &\ , , .“ (S. 19)
V ERWEHUNGEN UND G ESTÖBER
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dungskraft“ (S. 71)28 verfügt. In gleich mehrfacher Weise befindet sie sich in ihrem eigenen roman, der im Russland des 19. Jahrhunderts zugleich ‚Affäre‘ bzw. ‚Liebesbeziehung‘ und ‚Roman‘ bedeutet.29 Neben den sich selbst bewussten Figuren sprengen auch jene den Rahmen des vorgesehenen Modells, die ihre Rolle nicht zu spielen wissen, und dies betrifft insbesondere den Erzähler. „Der Schneesturm“ beginnt zwar als sentimentale Entführungsgeschichte und heimliche Flucht vor den Eltern, entwickelt aber keinerlei Empathie mit den unglücklich Verliebten. Der Erzähler beschreibt Mar’jas Verliebtheit vielmehr als Folge ihrer Romanlektüre und unterstellt dem Fähnrich, mehr in sein Entführungsvorhaben als in die Braut selbst verliebt zu sein. Belkins Zweifel an den Gefühlen der Figuren verletzen in drastischer Weise die Grundbedingungen des sentimentalen Erzählens.30 Für die romanhafte Liebe zwischen Mar’ja und Vladimir spricht allerdings, dass das Paar trotz täglicher Zusammenkünfte „in ständigem Briefwechsel“ (JvG, S. 33)31 steht und Vladimir in jedem seiner Briefe auf Flucht und heimliche Heirat drängt. „Mar’ja Gawrilowna schwankte lange, und viele Fluchtpläne wurden verworfen […].“ (S. 71)32 Erst Vladimirs Vorschlag, sich den Eltern bei gegebener Zeit zu Füßen zu werfen, stimmt die Braut letztendlich um. Gemäß des Fluchtplanes würde Mar’ja am vereinbarten Abend „hinter dem Garten einen reisefertigen Schlitten vorfinden, sich hineinsetzen und in das fünf Werst von Nenaradowo entfernte Shadrino fahren, direkt vor die Kirche, wo Vladimir sie schon erwarten sollte“ (S. 71).33 Dieser Plan entstammt ebenfalls einem literarischen Vorgänger, nämlich Karamazins „Natal’ja, die Bojarentochter“.34 Die Entführungsgeschichte spielt wie „Der Schneesturm“ „[g]egen Ende des Jahres 1811, in einer für uns denkwürdigen Zeit“ (S. 70)35, und die heimliche Trauung findet während eines
28 „ “ (S. 19). 29 Vgl. Ebbinghaus, „Über A.S. Puskins Erzählung ‚Metel’‘“, S. 71. 30 Vgl. ebd. 31 „% ; .“ (S. 19) 32 „# p .“ (S. 19) 33 „^' ; \, ,
% ~ , \, .“ (S. 19) 34 Karamazin, Nikolaj M.: Izbranmye proizvedenija, Moskau 1966. 35 „ \ 1811 , } “ (S. 19)
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Schneesturms in einer Holzkirche statt. Der einem Text entnommene und in Briefen verhandelte Plan zur Flucht produziert immer weitere Texte, denn am Vorabend schreibt Mar’ja „einen langen Brief an ein empfindsames Fräulein, ihre Freundin, und einen anderen an ihre Eltern“ (S. 71f.)36 Der Erzähler berichtet aber lediglich von den Briefen, die sich das Liebespaar schreibt oder in denen sich Mar’ja von ihrer Familie verabschiedet, ohne diese zu zitieren. Somit wird nur deren informativer Gehalt erzählt, was eine „stilistische[] Diskrepanz zwischen den sentimentalen gedanklichen Inhalten und den Stilwerten ihrer nüchternen Wiedergabe“37 erzeugt. Eine Differenz zu den referierten Texten verdeutlicht sich auch in Mar’jas „entsetzliche[n] Träume[n]“ (S. 72) („u{asnye metanija“, S. 26) am Abend vor der Flucht: „Einmal schien es ihr, daß der Vater sie im Augenblick, da sie den Schlitten bestieg, um zur Trauung zu fahren, anhielt, mit beängstigender Schnelligkeit über den Schnee schleifte und sie in ein dunkles, abgrundtiefes unterirdisches Verlies warf…und sie flog mit einem unbeschreiblichen Gefühl des Schreckens kopfüber in die Tiefe; ein anderes Mal sah sie Vladimir blaß und blutig auf dem Rasen liegen.“ (S. 72)
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Zum einen verweist das Motiv des sterbenden Bräutigams auf Vasilij ukovskijs Ballade „Svetlana“ (1812), die dem „Schneesturm“ im Auszug als Motto voransteht:39 Darin träumt Svetlana, die seit einem Jahr keine Nachricht von ihrem Liebsten hat, wie dieser sie im Schneesturm zur Hochzeit abholt. In der Kirche angelangt, verschwinden Schlitten und Hochzeitsgesellschaft und zurück bleibt ein Sarg, in dem der Bräutigam aufgebahrt liegt. Während sich in „Svetlana“ der „entsetzliche Traum“ zur glücklichen Realität wendet und der lang vermisste Bräutigam am nächsten Morgen heimkehrt, nimmt Mar’jas Traum die gescheiterte Entführung und den späteren Tod Vladimirs vorweg. Zum anderen ist der grausame Vater als fester Bestandteil der Entführungsgeschichte, da erst er die
36 „ […] ', , “ (S. 20). 37 Ebbinghaus, „Über A.S. Puskins Erzählung ‚Metel’‘“, S. 65. 38 „