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German Pages [422] Year 2016
V
© 2017 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525701867 — ISBN E-Book: 9783647701868
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Carolin Schaper (Hg.)
Werkzeugkoffer Pädagogisches Handeln Ein Handbuch für den Start in den Lehreralltag
Mit Beiträgen von Christoph Brill, Silke Kamradt, Wilfried Kretschmer, Peter Larisch, Meike Luster, Anke Meisert, Christiane Pihet, Pierre R. Pihet, Carolin Schaper, Nils Trzebin, Renate Will
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Mit 69 Abbildungen und 15 Tabellen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-647-70186-8 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Umschlagabbildung: © scusi – Fotolia © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Produced in Germany. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen
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Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7
Grundsätzliches 1 Neue Rollen finden und ausfüllen (Peter Larisch) . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 2 Schüler motivieren (Pierre R. Pihet) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 Überlebensnotwendiges 3 4 5 6 7 8 9
Organisieren lernen (Renate Will) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eine Langzeitplanung anlegen (Anke Meisert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eine Stunde planen (Christiane Pihet) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reduzieren lernen (Peter Larisch) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Methoden kennen und einsetzen (Renate Will) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Noten geben (Carolin Schaper) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aus Unterrichtsstörungen lernen (Renate Will) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
67 85 104 136 153 176 197
Auf der Beziehungsebene 10 Aus Klassen Gruppen machen (Renate Will) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 In Beziehungen erziehen (Pierre R. Pihet) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 Feedback-Kultur nutzen (Renate Will) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Elterngespräche führen (Pierre R. Pihet) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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219 240 253 277
6
Inhalt
(Noch) besser unterrichten 14 Lernprozesse durch Visualisierungen gestalten (Christoph Brill/ Meike Luster/Anke Meisert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Unterrichtsgespräche führen (Carolin Schaper) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 Diversität berücksichtigen (Carolin Schaper) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Mit neuen Medien arbeiten (Nils Trzebin) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 Im System Schule arbeiten (Wilfried Kretschmer) . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Transkulturalität gemeinsam lernen (Silke Kamradt) . . . . . . . . . . . . . .
297 319 337 360 380 397
Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 422
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Vorwort
Liebe Leserin, lieber Leser, – zukünftig: LeserIn, um Sie gleich schon mal auf unseren Kompromiss der gendergerechten Anrede einzustimmen – was bietet Ihnen ein Handbuch des Pädagogischen Handelns? Was könnte in einem pädagogischen Werkzeugkoffer für die Schule enthalten sein? Erste Antwort: Kommt drauf an, wer es geschrieben hat und für wen. Wir schreiben für Sie als jemanden, der die ersten Schritte in das komplexe System Schule setzt und sich in Praktikum, Vorbereitungsdienst und den ersten Berufsjahren zunehmend intensiver mit Schule und den Anforderungen an eine engagierte Lehrerolle auseinandersetzt. Wir, das ist ein Team von AutorInnen, die allesamt selbst langjährige Erfahrung sowohl in der schulischen Arbeit als auch der Begleitung von jungen LehrerInnen in Praktikum, Ausbildung und den ersten Berufsjahren haben. Jede und jeder, der hier etwas geschrieben hat, weiß wovon sie oder er spricht – und mehr noch: In allen Kapiteln schreibt jemand, dem gerade dieses Thema auf besondere Weise am Herzen liegt. Das merkt man ihnen an! Zweite Antwort: Alles, was wichtig ist. In diesem Handbuch finden Sie zu relevanten Fragestellungen und Herausforderungen des Lehrerberufs Orientierung, wesentliche Informationen und praktische Hinweise bzw. Anleitungen. Darüber hinaus ist es uns ein großes Anliegen, Sie schon bei der Lektüre der einzelnen Kapitel als aktive LeserInnen bei der Meinungsbildung, Reflexion und konkreten Erforschung des Berufsfelds Schule einzubeziehen. Deshalb finden Sie an vielen Stellen des Buches am
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Vorwort
Rand einer Seite dieses Zeichen, dass Sie zum Innehalten, Nachdenken, Ausprobieren etc. anregen soll:
Das Handbuch legt den Akzent konsequent auf eine schulpraktische Annäherung an die Themen, ermutigt zum Ausprobieren und warnt vor den kleinen Stolperfallen des schulischen Alltags, die Berufsanfängern begegnen können:
Sie finden weiter Literaturhinweise, um sich in die einzelnen Themen vertieft einzulesen und den wissenschaftstheoretischen Hintergrund zu erschließen; außerdem Vorschläge für weitere Buchanschaffungen:
Eine dritte Antwort zu den einleitend gestellten Fragen soll den Abschluss dieser Vorüberlegungen bilden: Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Dieses Ihnen vielleicht bekannte, verkürzte Zitat aus der Metaphysik des Aristoteles trifft auf dieses Handbuch in besonderer Weise zu. So individuell die Handschriften der AutorInnen sich lesen lassen, so sehr ergänzen sie sich in den einzelnen Aspekten, beleuchten die unterschiedlichen Facetten der Themen und spiegeln quer durch die Kapitel die lebendige Diskussion der aktuellen Schulpädagogik wider. Sie werden beim Lesen merken, dass die AutorInnen ein bestimmtes Bild von Schule und LehrerInsein teilen – ebenso wie eine große Liebe zu SchülerInnen, die sie gleichwohl realistisch wahrnehmen.
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Vorwort
Und obwohl Sie auch viele Tipps und Ratschläge erhalten, werden alle Themen weit entfernt von der sogenannten Ratgeberliteratur abgehandelt und unterscheiden sich in der Darstellung zum einen durch die in sich geschlossene Konzeption wie auch durch eine erkennbar eingebrachte Haltung der AutorInnen, die mit der Aufforderung an Sie einhergeht, auch Ihre Haltung als LehrerIn bewusst und im Diskurs mit anderen am System Schule beteiligten Menschen zu entwickeln! Zu diesen anderen Beteiligten gehören nach unserer Auffassung so unbedingt die SchülerInnen, dass wir diese gebeten haben, ebenfalls Ratschläge für junge LehrerInnen beizusteuern und ihre Sichtweise auf das, was wichtig in Schule und Unterricht sowie zwischen Lehrkraft und Lernenden ist, zum Ausdruck zu bringen. Deshalb finden Sie in jedem Kapitel und auch hier im Vorwort eine Schülerzeichnung mit einem exemplarischen Schülergedanken. Wir bedanken uns als Autorenteam dafür ausdrücklich bei den SchülerInnen der Michelsenschule Hildesheim aus den Klassen 5 und 8 sowie bei Christoph Brill, der als Fachmann für Visualisierungen unser Projekt (insbesondere in Kapitel 14) unterstützt hat. Ebenfalls bei Ulrike Gießmann-Bindewald, die uns bei der Begleitung des Projektes den nötigen Freiraum gelassen hat. Paris, im Mai 2016 Carolin Schaper
Ole, 11 Jahre, Klasse 5
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Grundsätzliches
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Neue Rollen finden und ausfüllen Individuelle Persönlichkeit – Personale Kompetenzen – Habitus Peter Larisch
Wer LehrerIn werden will, hat oftmals konkrete persönliche Vorstellungen von diesem Berufsbild. In der Schule und in der Lehramtsausbildung wird die Entwicklung eines professionellen Konzepts der Lehrerrolle gefordert und eine konstruktive Auseinandersetzung mit den professionellen Anforderungen. Gern wird der Begriff ›Personale Kompetenzen‹ dafür gebraucht. In der Ausbildung möchte man sich nicht verbiegen, sondern möglichst authentisch bei der Ausübung des Berufes sein. Hinter diesem Wunsch stecken oftmals recht konkrete persönliche Vorstellungen vom Berufsbild LehrerInnen, konkreter als es mitunter für den Einzelnen selbst erkennbar ist. Um den Adaptions- und Anpassungsprozess hin zu einem professionellen Konzept über den Lehrerberuf soll es im folgenden Kapitel gehen.
1. Rolle als Zugriff auf den Lehrerberuf »Dich kann ich mir gut als Lehrerin vorstellen.« – »Du bist der geborene Pädagoge.« Solche Sätze ermuntern angehende Lehrkräfte, ein Lehramtsstudium aufzunehmen, und begleiten zukünftige LehrerInnen auf beruhigende Weise. Ausgesprochen werden diese Urteile oftmals im Rahmen der privaten Arbeit mit Gruppen, wenn man Nachhilfe gegeben hat, wenn man einfühlsam und individuell auf Jugendliche eingeht oder den Mut zeigt, Dinge in die Hand zu nehmen und vor anderen zu vertreten. Wird in der Lehrerausbildung von diesen Fähigkeiten, Werten und Haltungen gesprochen, so wird gern der Begriff ›Personale Kompetenzen‹ dafür gebraucht. Von den Auszubildenden werden diese personalen Kompetenzen oftmals als Schnittstelle verstanden zwischen ihrer individuellen Persönlichkeit, ihren Charaktereigenschaften und dem geforderten Agieren in der Schule. Um sich der Frage zu nähern, wie man sich seiner eigenen Vorstellungen überhaupt bewusst wird und diese mit wissenschaftlichen Erkenntnissen vergleichen kann, lohnt es sich zunächst, sich über den Begriff der Rolle zu nähern.
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Grundsätzliches
Drei Alltagssituationen mögen als Ausgangspunkt für die folgenden Überlegungen dienen: ȤȤ Die Vorbereitung der letzten Stunde vor der Klassenarbeit: Ist es wichtiger, im Unterricht weiter stofflich voranzuschreiten, damit alle Themen der Arbeit noch einmal im Unterricht behandelt werden, obwohl ein größerer Teil der SchülerInnen offenbar den bisherigen Stoff nicht verstanden hat, oder muss ich noch eine Übungsphase einbauen und ggf. die Klassenarbeit neu konzipieren oder gar verschieben? ȤȤ Der Stundenbeginn: Muss das für drei Schülerinnen offenbar irritierende Erlebnis, in der Pause einen toten Vogel gefunden zu haben, zu Beginn des nachfolgenden Mathematikunterrichts in einer fünften Klasse kurz von mir angesprochen werden? ȤȤ Das spontane Elterngespräch: Soll das Drängen eines Vaters, der unangekündigt vor dem Klassenraum auf mich wartet und ein sofortiges Gespräch über seine Tochter wünscht, Priorität erhalten vor dem Unterricht, den ich für alle SchülerInnen der Klasse halten wollte? Dies sind typische Situationen, in denen Sie im Praktikum, als ReferendarIn oder als junge Lehrkraft reagieren müssen. Allen gemein sind vor allem zwei Aspekte: 1. Sie werden in einer spezifischen Rolle gefordert oder angesprochen und müssen rollenkonform agieren. 2. Für keine dieser drei Situationen gibt es eine immer gleiche und oder gar eindeutige Lösung. Sie befinden sich in einem Abwägungsprozess, in welcher Rolle Sie agieren müssen. Somit ist es für Sie langfristig wichtiger, sich Frageperspektiven für diesen Abwägungsprozess anzueignen, als auf feste Regeln zu hoffen. Welcher Art solche Abwägungsfragen sein könnten, zeigen die folgenden beispielhaften Hinweise zu den drei skizzierten Versionen: Klassenarbeit ȤȤ Wird eine individuell von Ihnen konzipierte Arbeit geschrieben, eine von der Fachkonferenz für alle Klassen eines Jahrgangs erstellte oder eine offizielle Vergleichsarbeit? ȤȤ Wie groß ist der Umfang der schon eingesetzten Übungsstunden? ȤȤ Wie beurteilen Sie die bisher gezeigte Anstrengungsbereitschaft derjenigen SchülerInnen, die nicht mitkommen? ȤȤ Wie viel differenzierendes Material haben Sie schon eingesetzt?
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Peter Larisch, Neue Rollen finden und ausfüllen
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Stundenbeginn ȤȤ Wie weitreichend ist die Irritation und Involviertheit bei den drei Schülerinnen? ȤȤ In welcher Weise ist die gesamte Klasse davon betroffen? Können normale Routinen (Material für die Stunde bereitstellen, Ruhe finden, Begrüßung) überhaupt stattfinden? Oder sind nur die drei Schülerinnen betroffen und die anderen haben kaum etwas bemerkt, sodass man ggf. mit dem Unterricht beginnen und sich parallel mit den Schülerinnen beschäftigen kann, nachdem man eine Aufgabe gestellt hat? ȤȤ Wie häufig kommen genau diese Schülerinnen mit aufregenden Erlebnissen aus der Pause und verwickeln Sie in Gespräche, um ggf. auch etwas Unterrichtszeit zu verkürzen? ȤȤ Ist zu erkennen, ob es um existentielle Fragen von Tod und Verlust geht, oder war es Forschergeist oder Ekel, der in den Äußerungen der Schülerinnen zum Ausdruck kommt? Elterngespräch ȤȤ Gibt es klare Absprachen mit den Eltern, wann und wie Sie für sie erreichbar sind? ȤȤ Kennt der Vater diese Regeln oder steht mit ihm ein Elternteil vor Ihnen, das sonst nie Kontakt mit Ihnen und der Schule hat? ȤȤ Vertritt der Vater eine Schülerin, bei der – aus welchem Grund auch immer – im Moment großer Handlungsdruck besteht? Oder geht es um einen Problembereich, bei dem die Bearbeitung zeitlich auch etwas verschoben werden kann? Wenn keine Extremsituationen vorliegen, so böten sich folgende Lösungen an: ȤȤ Klassenarbeit: In Ruhe üben, die Klassenarbeit vom Umfang her entlasten oder Termin verschieben. ȤȤ Stundenbeginn: Kurzes Eingehen auf die Pausensituation. Beruhigen der drei Schülerinnen, dann Beginn des Unterrichts mit Begrüßungsritual. ȤȤ Elterngespräch: Beim Vater kurz und interessiert nachfragen, worum es geht. Deutlich machen, dass nun pünktlich Unterricht beginnen müsse. Konkretes Angebot machen, wann das Gespräch in welcher Weise stattfinden kann; möglichst noch am selben Tag.
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Grundsätzliches
2. Rollenvielfalt im Lehrerberuf Woher aber nimmt man als BerufsanfängerIn die Sicherheit und damit auch das Wissen, bei der Vorbereitung der Klassenarbeit in diesem Fall den Aspekt des Lernens wichtiger zu nehmen als den des Prüfens? Beim Stundenbeginn einerseits als Vertrauensperson aufzutreten und andererseits die Klassendisziplin einzuhalten? Beim Elterngespräch deutlich die Priorität auf den Unterricht zu legen und das Interesse der Klasse in den Vordergrund zu stellen, dabei erkennbar auch als VertreterIn der Schule aufzutreten? Um solche Entscheidungen zunehmend sicher zu fällen, ist es hilfreich, sich zunächst die Rollenvielfalt, die der Lehrerberuf mit sich bringt, bewusst zu machen und die unterschiedlichen Rollenausprägungen zu benennen. Die folgende Auflistung (orientiert u. a. an Schmoll 2010; Terhart 1996; Kiel 2013) ist ein Angebot, den Rollen, die man als LehrerIn einnimmt, in übersichtlicher Weise einen Namen zu geben: Bezeichnung
Beschreibung
Vorbild
Im engeren Sinne ist ein Vorbild eine Person, mit der sich ein – meist junger – Mensch identifiziert und dessen Verhaltensmuster er/sie nachahmt. Lerntheoretisch funktioniert dies durch Modell-Lernen. Von der Person aus betrachtet, die als Modell fungiert, heißt dies, ein erwünschtes Verhalten auch vorzuleben. Da Verhalten aber unbewusst oder bewusst nachgeahmt wird, kann jemand nicht aktiv entscheiden, ob er als Vorbild fungiert.
SozialisationsvermittlerIn
SozialisationsvermittlerInnen bereiten andere auf das Leben in einer Gesellschaft vor. Dies geschieht durch Anpassung an gesellschaftliche Denk- und Gefühlsmuster. SozialisationsvermittlerInnen zeigen gesellschaftliche Zusammenhänge auf. Auch vermitteln sie u. a. Gesetze, Wertvorstellungen und soziale Normen mit dem Ziel, dass diese nach und nach verinnerlicht werden.
VertreterIn der Schule
Als VertreterIn der Schule repräsentiert diese Person ihre Schule und Schule allgemein. Zu offiziellen Anlässen (z. B. Tag der offenen Tür) und im privaten Umfeld wird ihr Verhalten von anderen als typisch für den Berufsstand angesehen. Nach innen wirkt die Person auch an Schulentwicklungsprozessen mit.
ErzieherIn
ErzieherInnen leiten – vornehmlich Kinder und Jugendliche – zu einem bestimmten Verhalten an, das sich auf soziale, intellektuelle, charakterliche und lebenspraktische Bereiche bezieht. Dies beinhaltet auch grundlegende Tugenden, die in der vorhandenen Gesellschaft bei allen Menschen vorausgesetzt werden. Ein Erzieher will – im Rahmen des Bildungsauftrags der Schule – sein Gegenüber in seiner Entwicklung fördern.
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Bezeichnung
Beschreibung
GesundheitsbewussteR
Eine Person, die bewusst mit ihrer Gesundheit umgeht, kennt die physischen und psychischen Belastungen ihres Berufs. Sie weiß um den notwendigen Umgang mit sich selbst und ist um einen Ausgleich zwischen ihrem Beruf und der freizeitlichen Entspannung bemüht. Sie weiß darum, dass Aspekte wie berufliche Weiterbildung, Reflexion und Supervision entlastend wirken können.
IndividualitätsfördererIn
IndividualitätsfördererInnen unterstützen eine Person bei ihrer Entwicklung von Fähigkeiten. Sie erkennen Fähigkeiten und Schwächen von Menschen. Ihr Tun umfasst oft eine längerfristige Beratung bei der Entwicklung und Umsetzung von persönlichen Zielen und Perspektiven. Selbstbewusstsein zu stärken und die eigene Persönlichkeit zu erkennen helfen, sind solche Ziele.
Fachmann/ -frau
Fachleute besitzen Fachkenntnisse in ihrer Domäne. Diese D omäne schließt in der Schule u. a. Wissen in den Bereichen Pädagogik, Psychologie, Didaktik und in den Teilwissenschaften der Sachfächer ein. Das Können zeigt sich u. a. in der Planung und Durchführung von Unterricht.
PrüferIn
Als PrüferIn (und damit auch als jemand, der Schullaufbahnentscheidungen trifft) füllt man eine der Aufgaben von Schule aus, die durch Leistungsmessung und Notengebung vorgenommen wird. PrüferInnen sind die für die Durchführung einer Prüfung verantwortliche Fachkraft. Sie müssen angemessen qualifiziert sein, Prüfungsunterlagen zu erstellen, zu korrigieren und zu bewerten.
Weisungs befugteR
Weisungsbefugte (auch Vorgesetzte) sind Personen, denen innerhalb einer Organisation die Befugnis erteilt wird, Anordnungen an nachgeordnete Personen zu erteilen. Dies kann in fachlicher wie in disziplinarischer Hinsicht geschehen.
KollegIn
KollegInnen sind Amts- oder BerufsgenossInnen. Sie bilden die Körperschaft des Kollegiums. In dieser Körperschaft sind alle Mitglieder vom Status her gleichberechtigt.
Vertrauens person
Eine Vertrauensperson fungiert als persönlicher Gesprächspartner. Diese Person wird nicht unbedingt nur ausgewählt, um Sorgen abzuladen. Die Eigenschaft als Vertrauensperson entwickelt sich oftmals aus positiv betrachteten Erfahrungen eines Menschen mit dieser Person. Diese Beziehung kann einseitig oder beidseitig sein.
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Grundsätzliches
Mein Rollenspektrum Vorbild SozialisationsvermittlerIn
Vertrauensperson 100 75 50
VertreterIn der Schule
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KollegIn
Welche Rollen sind für mich in welchem Umfang akzeptabel?
WeisungsbefugteR
ErzieherIn
GesundheitsbewussteR
PrüferIn
Fachfrau/ Fachmann
IndividualitätsfördererIn
Abb. 1: Mein Rollenspektrum
1. Anleitung zum Ausfüllen –– Sie finden elf Rollenbezeichnungen aufgeführt. –– Die Zahlen an den Kreisen stehen für die Bedeutsamkeit einer Rolle für Sie. Der Wert 100 steht für die größte Bedeutung. Jeder Wert kann stufenlos markiert werden. –– Da Sie in mehreren Rollen agieren, kann prinzipiell bei allen Rollen der Wert 100 angekreuzt werden. –– Entscheiden Sie für sich, in welchem Umfang die jeweilige Rolle für Sie als LehrerIn akzeptabel ist. Markieren Sie für jede Rolle auf dem Pfeil diesen Wert. –– Falls Sie unsicher mit der Füllung der Rollenbezeichnung sind, so orientieren Sie sich an der Übersicht der Rollenbeschreibungen. –– Sollte Ihnen eine Rolle fehlen, so schreiben Sie diese an den leeren Pfeil. –– Zeichnen Sie mit einem dicken Stift die Verbindung vom Mittelkreis zu diesem Wert nach. – Es entsteht so ein kleiner Mittelkreis mit maximal zwölf Strahlen.
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2. Vergleichen Sie Ihr Rollenspektrum (mit vertrauten PraktikantInnen oder MitreferendarInnen oder anonym in einer größeren Gruppe) und nähern Sie sich ihm mit Fragen wie: –– Warum finde ich einige Rollen anziehend, bei welchen habe ich Bedenken? –– Wo könnte sich bei meiner individuellen Rollenausprägung ein individueller Arbeits- oder gar Konfliktbereich ergeben? –– Welche Schul- oder Bildungserfahrungen habe ich gemacht, dass sich gerade dieses Rollenbild ergibt? –– Wenn Sie Rollenausprägungen als kaum oder nicht akzeptabel markiert haben: Erkundigen Sie sich bei anderen, die diese Rollenausprägung positiver bewerten, wie sie im schulischen Umfeld auf mögliche Anforderungen reagieren (wollen), sodass sie diese Rollenausprägung als weniger schwierig empfinden. –– Es lohnt sich auch, sich anschließend mit erfahrenen KollegInnen Ihrer Schule auszutauschen und zu sehen, welche Bedeutung sie den Rollenausprägungen nach langjähriger Erfahrung beimessen.
Während Sie als PraktikantIn oder als ReferendarIn mitunter noch unsicher sind bei der Rollenübernahme, begegnen Ihnen Ihre SchülerInnen als sehr geübte Rolleninhaber. Das bedeutet, dass sie sich sicher im Feld der Schule und des Klassenraums bewegen und ihre Verhaltensweisen vielfach eingeübt haben. Zudem begegnen die SchülerInnen Ihnen in Ihrem Unterricht schon in Ihrer Rolle als Lehrkraft, keineswegs als Privatperson. Professionelles und Privates zu unterscheiden, darin sind SchülerInnen sehr geschult. Auch die anderen Beteiligten, auf die Sie im Feld Schule treffen, begegnen Ihnen mit Ansprüchen, Vor-Erwartungen und Hoffnungen: Die Eltern sehen Sie unter anderem als denjenigen, der ihrem Kind durch Noten und Zeugnisse Zugangsberechtigungen für den weiteren Bildungsweg erteilt. Die Schulleitung erwartet von Ihnen, dass Sie sich den Gepflogenheiten und der Tradition der Schule verpflichtet fühlen und sich in das Gefüge des Kollegiums einfinden. Dort erhoffen sich einige KollegInnen frischen Wind und Unterstützung bei den anstehenden Innovationsprozessen. Sie übernehmen als Fach- oder KlassenlehrerIn Verantwortung und Ihre erfahrenen KollegInnen fragen sich, ob Sie deren Erziehungsideale teilen. Sie selbst wollen endlich praktisch arbeiten, sich in Ihren Fächern ausprobieren und auf Augenhöhe mit den Lerngruppen agieren. Dabei werden Sie – oftmals unbewusst – durch eigene Schulerfahrungen geleitet. Sie wollen genauso werden, wie Ihre Lieblingslehrerin oder gerade nicht Auslöser sein für negative Schulerfahrungen, so wie Sie sie einst selbst erlebt haben. Sie können sich für eine Reihe von theoretischen, pädagogischen Ansätzen, mit
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Grundsätzliches
denen Sie sich in der Universität beschäftigt haben, begeistern und wollen den Praxistest machen. Kurz: Wenn Sie als PraktikantIn oder als ReferendarIn in der Schule agieren, so wird Ihr Agieren oftmals gespeist aus einer Mischung aus Vorerfahrungen, Vorstellungen, was von Ihnen erwartet wird, und Hoffnungen. Sie treffen gleichsam auf eine Vielzahl von Erwartungen, wie Sie sich zu verhalten haben. Bei diesem Lern- und Reflexionsprozess, den Sie vor sich liegen haben, sind vor allem drei Einflussgrößen beteiligt (vgl. Krüger 2014; Thomann 2013): ȤȤ Ihr Selbstkonzept – u. a. Ihre Vorstellungen, welche Fähigkeiten Sie haben, welche Dinge Sie als LehrerIn verwirklichen wollen ȤȤ Formale Anforderungen – u. a. Verhaltensweisen, die »man« als LehrerIn zu zeigen hat; Vorstellungen der Schulleitung und der Schulen; schulrechtliche Vorgaben, Vorgaben der Lehramtsausbildung ȤȤ Geäußerte und vermutete Erwartungen – u. a. Erfahrungen aus der eigenen Schulzeit; Gelerntes aus Universität und theoretischer Literatur; Gehörtes über das Referendariat
Rolle – Begriffliche Annäherung Bezogen auf ein System wie eine konkrete Schule und Schule als Bildungs einrichtung ganz allgemein, transportiert der Begriff ›Rolle‹ folgende Vorstellung: Schule als Institution muss unabhängig von den Fähigkeiten der einzelnen Lehrkräfte funktionieren. Aus diesem Grund müssen die Einzelnen für ihre jeweiligen Positionen, zum Beispiel FachlehrerIn, KoordinatorIn oder SchulleiterIn, festgelegte Rechte und Pflichten haben. Diese Verhaltensweisen sind für diejenigen, die diese Position bekleiden, zumeist positiv besetzt und ansprechend, und diejenigen, die mit den RolleninhaberInnen kommunizieren, können sich grundlegend darauf verlassen, dass jene sich auch so verhalten. Diese Verhaltensvorschriften gelten unabhängig vom Einzelnen und werden nicht von ihm, sondern von allen, die im Bereich Schule arbeiten, und von der Gesellschaft bestimmt und verändert. Das Beherrschen dieser Verhaltensweisen wird von den RolleninhaberInnen erwartet. Sie können sich nicht ohne Weiteres diesen Ansprüchen entziehen (vgl. Bovet 1994; Schratz 2011).
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Peter Larisch, Neue Rollen finden und ausfüllen
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Im Unterrichtsalltag zeigen sich beispielsweise folgende Rollenerwartungen: ȤȤ Eine Chemielehrerin muss sicher sein im Umgang mit Experimenten und sie muss Unterricht in einem ganz speziellen Fachraum beherrschen. ȤȤ Ein Klassenlehrer in einer 5. Klasse muss sich auf die entwicklungsbedingte langsamere Arbeitsweise seiner SchülerInnen und auf deren spezifische Denk- und Sprachmuster einstellen und einen deutlich engeren Kontakt mit den Eltern seiner SchülerInnen pflegen. ȤȤ Alle Lehrkräfte müssen sich mit Fragen zur Rückmeldung über Leistungen beschäftigen.
3. Rolle und Authentizität Mitunter kollidieren Rollenerwartungen – gerade bei PraktikantInnen und ReferendarInnen – mit dem Wunsch nach Authentizität bei der Ausübung des Berufes. Das ist nachvollziehbar, wollen Sie doch glaubwürdig, offen und ehrlich agieren. Bei der ersten Begegnung mit der neuen Klasse schreibt ein Lehrer seinen Vor- und Nachnamen an die Tafel, daneben seine private Telefonnummer und sagt: »Ihr könnt mich jederzeit anrufen, wenn es Probleme gibt.« Dieses Verhalten ist sehr authentisch, signalisiert es doch Offenheit, Kommunikationsbereitschaft und Interesse am Gegenüber. Es ist aber nicht situationsangemessen, nicht rollenkonform und wird von den SchülerInnen eher mit Irritation aufgenommen werden. Authentizität – so verstanden – ist in der Schule kein guter Ratgeber. Um die Vorstellungen von Rollenausübung und Authentizität zusammenzuführen, bietet sich die Idee der »selektive[n] Authentizität« (Krüger 2014, 21) an. Bewahren Sie sich Ihr Interesse an den SchülerInnen und signalisieren Sie gleichermaßen professionelle Distanz: Stellen Sie sich mit Vor- und Nachnamen vor und schreiben diese an die Tafel. Verweisen Sie – soweit gegeben – auf schulinterne Absprachen zur Kontaktaufnahme. Sie könnten sich z. B. an einer dieser vier Möglichkeiten orientieren: »Damit ihr oder eure Eltern mich bei Fragen erreichen könnt, … ȤȤ … bin ich telefonisch zwischen 19.00 und 20.00 Uhr unter folgender Nummer zu erreichen …« ȤȤ … bin ich – wie die KollegInnen an der Schule auch – immer über folgende Schulnummer zu erreichen: …« Oder: »… habe ich dienstags ab 13.00 Uhr Sprechstunde hier in der Schule.« ȤȤ … mailt mich vorher unter folgender Mailadresse an, damit wir einen Gesprächstermin ausmachen können.«
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Grundsätzliches
ȤȤ (bei jüngeren SchülerInnen) … habe ich einen Zettel vorbereitet, auf dem steht, wie eure Eltern mich erreichen können. Bitte gebt den heute zu Hause ab.« Selektive Authentizität wird – wie hier gezeigt – als die bewusste Übernahme eines Rollenverhaltens verstanden. Dies trägt weiterhin den Kern der Rollenerwartungen in sich (hier: Bereitschaft zur Kommunikation und Interesse an den SchülerInnen). Über die Klärung des einzuhaltenden Weges oder durch die zeitlichen Vorgaben wird aber klar definiert, dass Sie in der Rolle einer Lehrkraft agieren. Damit gestalten Sie den Bereich »Kontaktaufnahme« aktiv und setzen klare Signale im Bereich »Nähe – Distanz«. Ihr Hinweis klingt nicht mehr wie das Angebot eines guten Freundes, den man rund um die Uhr anrufen dürfte. Ein solches definiertes Verhalten bietet – allgemein gesprochen – dadurch auch Schutz gegen Willkür und Verletzung. Sie verabschieden sich damit aber ggf. von einem Teil Ihres bisherigen positiven Selbstbildes, nämlich ›immer für andere da zu sein‹. »Was immer wir tun, hat zur Folge, dass irgendetwas anderes nicht geschieht. Authentisch diese Ambivalenzen auszuhalten, Zwiespälte und Möglichkeiten zu versprachlichen und uns dann deutlich zu positionieren, trägt zur Rollenklarheit bei.« (vgl. Krüger 2014, 21)
Wenn Sie beginnen, als LehrerIn zu arbeiten, so ist es sinnvoll, Rollenklarheit zu erlangen, denn diese gibt Ihnen professionelle Sicherheit. Ein Blick auf folgende vier Teilaspekte von Rolle ist dabei hilfreich (Krüger 2014): Rollenbewusstheit – Weiß ich? ȤȤ Weiß ich, welche rechtlichen Vorschriften für mein Fach und meine Klasse gelten? ȤȤ Weiß ich, was ich von meinen KollegInnen in der Schule bei der Ausbildung erwarten darf? ȤȤ Weiß ich, welche Aspekte in Elterngesprächen Gegenstand sein dürfen? Rollenkompetenz – Kann ich? ȤȤ Kann ich didaktisieren, habe ich genügend fachliche Kompetenzen? ȤȤ Kann ich Konfliktsituationen aushalten und diese moderieren? ȤȤ Kann ich SchülerInnen Orientierung geben? ȤȤ Kann ich meinen offenbar abweichenden Standpunkt zu einem Thema der Schulleitung, meinen KollegInnen oder den Eltern meiner SchülerInnen vermitteln?
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Rollenautorität – Darf ich? ȤȤ Darf ich SchülerInnen vor die Tür schicken? – Welche Befugnisse habe ich als PraktikantIn oder als ReferendarIn? ȤȤ Darf ich eine Konferenz einberufen? Für welche Probleme ist die Schulleitung und nicht ich zuständig? ȤȤ Darf ich einen weinenden Schüler in den Arm nehmen, um ihn zu trösten? Rollenverantwortung – Will ich? ȤȤ Wo will ich Grenzen ziehen? Was ist meine pädagogische Grundhaltung? ȤȤ Wie gehe ich mit der Erwartung um, Schülerleistungen mit Noten beurteilen zu müssen? ȤȤ Wie gehe ich mit der Frage nach Nähe und Distanz zu den SchülerInnen um? ȤȤ Will ich gesellschaftliche Probleme in der Klasse bearbeiten? Welche Werte leiten mein Handeln? ȤȤ Will ich SchülerInnen sagen, wie sie ihr Heft zu führen und wann sie mitzuschreiben haben? Die folgende Situation soll deutlich machen, was hier unter Rollenwechsel bzw. unter Rollenvielfalt verstanden wird (vgl. Jürgens o. J.): Lennart ist nicht gut in Englisch. In der Arbeit hat er 19 Fehler gemacht. Davor waren es immer weit über 30 Fehler. Die Note ist auch dieses Mal ein »Mangelhaft«. Bei der Rückgabe der Arbeit sagt die Lehrerin im Einzelgespräch zum Schüler: »Lennart, es ist auch dieses Mal eine Fünf. Trotzdem sehe ich, dass du dich richtig angestrengt hast. Du hast viel weniger Fehler gemacht als in den letzten Arbeiten. Und die neuen Vokabeln hast du fast alle richtig verwendet.«
Die Kollegin nimmt ihre Rolle als Prüferin ohne Einschränkungen wahr. Gleichermaßen steckt sie in dem Dilemma, auch in der Rolle als Individualitäts fördererin agieren zu wollen. Deswegen verweist sie zusätzlich auf die individuelle Bezugsnorm und zeigt dem Schüler seine Entwicklung auf, verbunden mit der – unausgesprochenen – Hoffnung auf längerfristige Verbesserungen. Bedeutsam ist, dass die Lehrerin hier eine für sie akzeptable Lösung findet für eine oftmals als widersprüchlich oder schwer lösbar wahrgenommene Situation von Lehrenden, nämlich Prüfen und Fördern pädagogisch zu verbinden. Damit ist nicht gesagt, dass die Lehrerin diese gegenläufigen Anforderungen nicht wahrnimmt, im Gegenteil: Solch widersprüchlich erscheinende Anforderungen sind nicht wegzudiskutieren, sondern Teil des Berufsfeldes.
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Grundsätzliches
1. Analysieren Sie folgende Situation: In welchen Rollen agiert der Kollege? (orientiert an Jürgens o. J.) Die SchülerInnen sitzen seit zehn Minuten im Sitzkreis. Einige fangen an zu zappeln und zu flüstern. Drei Jungen schubsen sich andauernd. Lehrer: »Schaut alle kurz nach vorn. – Es wird mir zu unruhig. Da kann ich nicht arbeiten. Max, Tim und Jan: Rückt mal etwas auseinander. Setzt euch gerade hin, und schaut bitte in den Kreis.« Als die drei Jungen nach drei Minuten wieder sehr unruhig werden, sagt er freundlich: »Nehmt ganz schnell eure Stühle und setzt euch an eure Plätze.« Er wartet ruhig, bis alle an ihren Tischen sitzen, und unterrichtet weiter. 2. Zu einzelnen Rollenausprägungen: Notieren Sie, während Sie hospitieren, –– wie die Lehrkraft Kinder als Lernende wahrnimmt (Fachmann/-frau für das Lernen), –– wie sie ihre Sachkompetenz deutlich macht (Fachmann/-frau für das Fach), –– wie sie während des Unterrichts auf die Einhaltung von Regeln achtet (ErzieherIn), –– wann und wie sie (Teil-)Ergebnisse im Unterricht sachlich würdigt (Fachmann/-frau; PrüferIn), –– wann und wie sie einzelnen SchülerInnen mitteilt, dass ihre jeweiligen Lösungen auch ihrem jeweiligen Lern- und Leistungsniveau entsprechen (IndividualitätsfördererIn), –– wie und wann sie schulorganisatorische Aufgaben erledigt (VertreterIn der Schule), –– wie sie Fehler in einer Klassenarbeit markiert und ein Gutachten schreibt (PrüferIn). 3. Beobachtungen in der Praxis Beobachten Sie MentorInnen oder erfahrene KollegInnen während des Unterrichts, in der Pause oder im Lehrerzimmer. Notieren Sie Momente, in denen ein Rollenwechsel vorgenommen wird, z. B. von Fachmann/-frau zu ErzieherIn. Wie wird das deutlich gemacht (Gestik, Mimik, Sprache)? Sprechen Sie die beobachtete Person danach an und fragen Sie nach, wie bewusst dieser Rollenwechsel vorgenommen wurde.
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4. Anpassung an Rollenausprägungen Es mag sich anhören, als ob es bei dem Erlernen des Berufes ›LehrerIn‹ vor allem darauf ankäme, möglichst schnell und sicher feste Rollenvorgaben zu erfüllen. Das ist – offen gesprochen – zu einem gewissen Grad auch nicht von der Hand zu weisen. Die Art, wie Sie auftreten, d. h., in welcher Weise Sie typische Verhaltensweisen zeigen, entscheidet auch darüber, ob Sie von den SchülerInnen, KollegInnen und Eltern als PraktikantIn, ReferendarIn oder KollegIn angesprochen werden (vgl. Pille 2013). In derselben Weise, in der von Ihnen eine Anpassung an die Rollenausprägungen erwartet wird, können Sie Ihr Ausfüllen der Rollen auch mitgestalten (vgl. Kiel 2013). »Wer die Ordnungen schnell überblickt und das Agieren in etablierten Formen souverän beherrscht, dem werden von den Akteuren des Feldes [Schule] Freiräume zugestanden. Diese eröffnen die Gelegenheit, spielerisch von eben diesen Ordnungen abzuweichen.« (Pille 2013, 233)
Ein Beispiel: In vielen Schulen gibt es feste Begrüßungsrituale, die zum Beispiel das Aufstehen und eine feste Grußformel umfassen. Wenn Sie einen anderen Beginn bevorzugen, so können Sie das als PraktikantIn vermutlich nur schlecht durchsetzen. Als ReferendarIn in der eigenen Klasse oder als JunglehrerIn haben Sie Gestaltungsraum, wenn Sie gewisse Grundbedingungen einhalten. So kann in einer Klasse, in der auf das »Guten Morgen, Klasse 6b.« ein »Guten Morgen, Herr …« erwidert wird, das Begrüßungsritual auf ein kurzes, wechselseitiges »Moin.« – »Moin.« verkürzt werden, wenn dabei das Aufstehen der SchülerInnen beibehalten wird. Rolle als Begriff umfasst also sowohl die Momente von Anpassung als auch von Gestaltung und sorgt daher insbesondere am Anfang Ihrer Tätigkeit durch gewisse Festschreibungen für positive Orientierung, ohne den Bereich der Mitgestaltung und Offenheit außer Acht zu lassen. Ihnen wurde bisher gezeigt, dass Sie u. a. in Situationen, in denen Sie auf widersprüchliche Anforderungen treffen, professionell agieren und eine Lösung finden müssen. Zudem wird von Ihnen mitunter – auch unausgesprochen – ein Verhalten erwartet, das nicht vollständig mit Ihren pädagogischen Vorstellungen übereinstimmen muss. Hierzu bedarf es der gegenseitigen Geduld. Eine solche Verhaltensanpassung ist nur sukzessiv zu bewältigen. Dieser Prozess lässt sich ungefähr folgendermaßen unterteilen (vgl. Thomann 2013): Es gilt, … ȤȤ … professionelle Handlungssituationen als solche zu erkennen und zu interpretieren.
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Grundsätzliches
ȤȤ … Verhaltensoptionen zu erwerben, um in konkreten Situationen die Rolle angemessen auszufüllen. ȤȤ … Möglichkeiten zu erhalten, sich darin zu üben. ȤȤ … Diskrepanzen zwischen widersprüchlichen Erwartungen wahrzunehmen, zu verbalisieren und auszuhalten. ȤȤ … sich in Gesprächen mit KollegInnen oder anhand von Literatur über Lösungsmöglichkeiten kundig zu machen. ȤȤ … die eigenen Handlungsmöglichkeiten zu erweitern, sich in jeweils konkreten Situationen bewusst für eine Lösung zu entscheiden und diese begründen zu können. Im Studium und während des Vorbereitungsdienstes können Sie Begründungswissen für das Berufsfeld Schule erwerben. Es »umfasst vor allem das Wissen über die Lernenden und ihre potenziellen Schwierigkeiten mit dem Inhaltsgebiet, aber auch mit der gesamten schulischen Lernsituation.« (Felten 2012, 97 f.)
5. Rollenannahme als dynamischer Prozess Diese Vorstellung von einem dynamischen Prozess zwischen Anpassung einerseits und Gestaltung der eigenen Rolle andererseits hilft bei der Einordnung von Irritationen und der ersten Auseinandersetzung mit Konflikten, die Sie unter Umständen beim Rollenwechsel als BerufsanfängerIn erfahren. ȤȤ Als Lehrkraft agiert man in deutlich mehr berufsspezifischen Rollen, als man es früher als SchülerIn wahrgenommen und sich vermutlich bei der Berufswahlentscheidung bewusst gemacht hat. ȤȤ Einige dieser Rollen findet man sehr reizvoll; diese veranlassten einen oftmals, den Beruf überhaupt zu wählen. ȤȤ Man bekleidet diese vielfältigen Rollen. In vielen professionellen Situationen wird sogar gefordert, unterschiedliche Rollen parallel auszufüllen. ȤȤ Die Rollen haben in ihrer Vielfalt Ausprägungen, die mitunter als widersprüchlich und gegenläufig wahrgenommen werden. ȤȤ Auch fühlt man sich immer wieder gezwungen, Rollen auszufüllen, die man gar nicht innehaben möchte. ȤȤ Da auch Rollenanforderungen von außen herangetragen werden (z. B. durch Schulleitung, Eltern) kann man diese ggf. auch unliebsamen Rollen nicht einfach ablehnen, sondern muss sich mit den Erwartungen, die diese Rollen stellen, ins Verhältnis setzen.
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Vielleicht ist es beruhigend, wenn Sie sich verdeutlichen, dass die Aneignung von Berufswissen ein Prozess ist, der in Phasen und nicht immer geradlinig verläuft (vgl. Messner 2000; vgl. Thomann 2012). Sowohl das Studium als auch das Referendariat sind notwendige Stufen der eigenen professionellen Entwicklung. Dabei sind es oftmals folgende Fragen, die den Berufsanfänger während des Praktikums und zu Beginn des Vorbereitungsdienstes bewegen (vgl. Kliebisch 2012): ȤȤ Fragen zum Statusübergang: Wie geht es mir mit dem Wechsel vom studentischen Leben zur Tätigkeit als LehrerIn? ȤȤ Fragen zu den eigenen Werthaltungen: Wie stehe ich zu den Anfragen, die momentan gesellschaftlich an Schule gerichtet werden? Welche pädagogischen und bildungspolitischen Haltungen habe ich überhaupt, und welche will ich vermitteln? ȤȤ Fragen zum Selbstverständnis: Wie viel Nähe und Distanz will ich zu den SchülerInnen aufbauen? Wie will ich mit Disziplinschwierigkeiten umgehen? ȤȤ Fragen zur Interaktion im beruflichen Kontext: Wie schaffe ich es, mit meinen eigenen Ideen und pädagogischen Vorstellungen Teil des Kollegiums zu werden? Und wie äußere ich dabei meine eigene Meinung?
6. Rollenvielfalt aushalten Sowohl im Praktikum als auch im Vorbereitungsdienst werden für die Reflexion ganz unterschiedliche Verfahren angewandt. Allen gemein ist, dass sie in der Regel den Blick darauf richten, ob Sie situationsangemessen agiert haben: Es gilt, die spezifische Lerngruppe mit ihrem Vorwissen und ihrem entwicklungspsychologischen Stand in den Blick zu nehmen und in der Unterrichtsdurchführung ein Gespür dafür zu entwickeln, dass die jeweils mit Ihnen agierenden SchülerInnen es verdient haben, dass jede spezifische Situation auch immer wieder von Ihnen neu betrachtet und gelöst werden muss. Erwarten oder entwickeln Sie bitte keine Rezeptologie (vgl. Baumert 2006). Es ist sinnvoll, die Lektüre von Fachliteratur dazu zu nutzen, die Erkenntnisse zur Unterrichtsdurchführung (vgl. Dubs 2009), zur Prävention von und Reaktion auf Unterrichtsstörungen (vgl. Nolting 2012, vgl. Rhode 2014), zur gelingenden Kommunikation (Dubs 2009) für die eigene Praxis zu nutzen. Besonders wichtig ist es, dass Sie einen professionellen Optimismus ausbilden. Professioneller Optimismus soll hier heißen, dass Sie mit wirklichem Interesse auf die überraschenden Fragen der SchülerInnen blicken und ihre gedanklichen Querverbindungen versuchen nachzuvollziehen. Sehen Sie in den abweichenden Lösungen, die die SchülerInnen auf Ihre gestellten Aufgaben finden,
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Grundsätzliches
keine Zeitfresser oder Störungen, die Sie daran hindern, das geplante Stundenziel zu erreichen, sondern den ernst gemeinten Versuch der Lernenden, sich dem Lerngegenstand zu nähern. In der Regel fällt es dem unbeteiligten Betrachter leichter, diese gedanklichen Leistungen der SchülerInnen positiv zu würdigen, als demjenigen, der sich auf den Unterricht vorbereitet hat und unterrichtet. Gerade als BerufsanfängerIn wäre es aber bedeutsam, wenn Sie diese Situationen nicht als Momente des eigenen Scheiterns, sondern als Momente des Verstehens abspeichern würden. Sie verstehen die authentischen Denk- und Lernbewegungen der SchülerInnen nun besser und können daraus Schlüsse ziehen für die folgenden Vorbereitungen Ihres Unterrichts.
7. Subjektive Theorien – Kognitive Umstrukturierung In Unterrichtsnachbesprechungen ist es für Unterrichtende oftmals gar nicht einfach, sich auf zentrale Aspekte zu konzentrieren, weil der Unterricht komplex ist und sie ununterbrochen Dinge wahrnehmen oder ausblenden und Entscheidungen treffen müssen. Es schälen sich bei Unterrichtsberatungen von PraktikantInnen oder ReferendarInnen – vereinfacht dargestellt – drei Wahrnehmungsmuster von zentralen Unterrichtsmomenten heraus: ȤȤ Unterrichtende nehmen eine Situation schon in der Stunde als problematisch wahr, sie spüren ein Unwohlsein. Sie reagieren in der Stunde aber nicht, weil sie sich unsicher oder hilflos fühlen. Sie nehmen eine Handlungsnotwendigkeit wahr, haben aber keine Handlungsoption zur Hand (vgl. Lehmann o. J.). ȤȤ Unterrichtende reagieren im Unterricht unmittelbar und sind erstaunt, dass diese Unterrichtssituation überhaupt Gegenstand der Beratung ist, weil die Lösung der Situation gar nicht als schwierig empfunden wurde (vgl. Pille 2013). ȤȤ Die Situation im Unterricht wurde wahrgenommen und gelöst. Im Nachhinein ist man aber irritiert über sein eigenes Agieren. Aus der zeitlichen Distanz betrachtet würde man so nicht reagieren wollen. Das Verhalten kam wie von selbst. Solche Handlungsmuster, die auf einmal realisiert werden, ohne dass man sich darüber bewusst ist, oder aber auch Blockaden, die einen handlungsunfähig machen, sind Verhaltensweisen, auf die man in schwierigen und als unklar empfundenen Situationen zurückgreift. Man hat sie quasi gespeichert und verfügt über sie, um im Alltag agieren zu können. Wissenschaftlich gesprochen sind dies Alltagsstrategien und Handlungen, die auf subjektiven Theorien fußen. Zu wissen, dass man über diese Handlungsmuster verfügt, ist beruhigend. Gleichzei-
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tig ist es aber notwendig, sich solcher Muster mit dem Eintritt in das berufliche Umfeld bewusst zu werden, sie langfristig mit wissenschaftlichen Erkenntnissen abzugleichen und ggf. zu revidieren. Um die komplexen Unterrichtssituationen bewältigen zu können, bedarf es eines gesicherten Begründungs- und Handlungswissens. Dieses durch Reflexion über den eigenen Unterricht zu erlangen, ist ein wichtiger Auftrag von Praktikum und Referendariat (vgl. Felten 2012). Nun werden Sie aber oft im Rahmen Ihrer Ausbildung in die Situation gebracht, recht schnell Unterricht verantwortlich erteilen zu müssen. Ihr Professionswissen ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht vollständig erworben und Sie haben auch noch nicht die Ruhe, in der jeweiligen konkreten Situation das notwendige Wissen abzurufen. Sie werden Bauchentscheidungen treffen müssen. Das ist »nicht problematisch, sondern funktional« (Meyer 2013, 24). Es bedarf nur ab dem Eintritt in das Berufsleben einer regelmäßigen Überprüfung der subjektiven Theorien, die Ihrem praktischen Handeln oftmals noch zugrunde liegen. Subjektive Theorien werden hier verstanden als Ihre »Überzeugungen zur Wirksamkeit des Lehrerhandelns und zur Verstehensstruktur der Schülerinnen und Schüler« (Burrichter 2012, 85). Als Orientierung, wie eine solche Entwicklung hin zu professionellen Entscheidungen abläuft, kann die folgende Schrittfolge dienen (vgl. Meyer 2013): ȤȤ Sie agieren so, wie Sie es aus der eigenen Schulzeit kennen bzw. wie Sie es bisher gemacht haben. ȤȤ Sie leiten Ihr Handeln aus Vorschriften und Regeln ab, wie sie in der Literatur, in pädagogischen Seminaren oder im Lehrerzimmer mitgeteilt werden. ȤȤ Sie wissen um mögliche Regeln und wenden sie kritisch in den einzelnen Situationen an. Wenn Sie unterrichten oder in anderen Situationen bemerken, dass Sie sich überfordert fühlen, Sie unzufrieden mit Ihrem Handeln sind oder sich handlungsunfähig fühlen, dann sollten Sie Vertrauen in Ihre Wahrnehmung haben. In der Regel bemerkt man sehr genau, wenn das eigene Verhalten nicht in die Situation passt und es zu Dissonanzen kommt. Verbalisieren Sie diese Situationen und nutzen Sie das Gespräch. Mitunter kann sich eine bestimmte eigene Erfahrung aus Ihrer Lernbiografie hemmend auswirken. Diese für Sie negativ abgespeicherte Schulsituation nehmen Sie dann nicht in Ihr Verhaltensrepertoire auf. Zur Erläuterung drei Beispiele: ȤȤ Sie haben es als SchülerIn gehasst, an die Tafel zu gehen. ȤȤ Bei der Mannschaftsbildung wurden Sie im Sportunterricht immer als eineR der Letzten gewählt.
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Grundsätzliches
ȤȤ Eine Ihrer Lehrkräfte hat Sie im Unterricht auch aufgerufen, wenn Sie sich nicht gemeldet haben. Sie waren dann immer verunsichert und konnten nicht antworten. Das kann dazu führen, dass Sie nun als PraktikantIn oder als ReferendarIn SchülerInnen nicht an die Tafel holen; dass Sie alle Gruppeneinteilungen immer selbst übernehmen oder dass Sie nur die SchülerInnen aufrufen, die sich auch melden. Damit nehmen Sie andererseits aber SchülerInnen Chancen, ihr Wissen auch an der Tafel darzustellen und Selbstbewusstsein zu erlangen; ihre Sozialkompetenz bei der Zusammenstellung von Mannschaften zu zeigen und Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten signalisiert zu bekommen. Hier lohnt es sich, die eigenen negativen Schulerfahrungen neu zu definieren. Dies nennt man kognitive Umstrukturierung. Sie können die folgenden Überlegungen allein anstellen. Spannender ist es, in einer Gruppe zu dritt oder zu viert zu arbeiten. Es wäre sinnvoll, wenn ein Vertrauensverhältnis unter Ihnen besteht. Wählen Sie je eine negative Situation aus Ihrer Schulzeit aus und stellen Sie sich diese gegenseitig vor. Der Fragenkatalog kann als Gesprächsanlass dienen, diese Situationen neu und von außen zu betrachten: –– Welche Verhaltensweisen der Lehrkraft haben mich gestört oder belastet? –– Was an dem Satz oder an der Tätigkeit war eigentlich kränkend? –– Was habe ich damals gedacht oder zu mir gesagt? –– Gilt das, was ich damals empfunden habe, noch heute für mich? –– Was waren wohl die positiven, handlungsleitenden Motive der Lehrkraft? –– Welches Verhalten der Lehrkraft oder was für ein Arrangement wäre damals für mich hilfreicher gewesen? –– Wie könnte man die – unterstellten – positiven handlungsleitenden Motive der Lehrkraft besser umsetzen? –– Ist die schulische Situation im heutigen Unterricht überhaupt noch so, wie ich sie damals vorgefunden habe? Es ist nicht nötig, alle Fragen zu beantworten. Vielmehr können sie Ausgangspunkt sein für Ihre Überlegungen. – Ziel ist es, die Frage zu beantworten, wie Sie heute diese für Sie bisher negativ abgespeicherte Situation für Ihre SchülerInnen besser gestalten könnten, damit Sie Ihre Handlungsoptionen erweitern.
In gleicher Weise können als besonders positiv empfundene Situationen aus Ihrer eigenen Schulzeit handlungsleitend werden und ebenfalls als subjektive
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Theorien wirken. Als Beispiel: Ihr Lehrer hat mit Ihnen in der Oberstufe quasi auf Augenhöhe diskutiert und hat Sie in spannende Dialoge verwickelt. Ihre gute mündliche Zensur in dem Fach war Anreiz, sich weiter in dieser Weise mündlich zu beteiligen. Mit dieser Erfahrung im Hinterkopf – so Ihre subjektive Theorie – pflegen Sie nun in Ihrem eigenen Unterricht früh und intensiv das Lehrer-Schüler-Gespräch mit einzelnen SchülerInnen. Damals fanden Ihre MitschülerInnen dieses Lehrerverhalten extrem langweilig, empfanden ihren eigenen Lernzuwachs in dem Unterricht als gering und sehen noch heute Ihre damaligen guten Zensuren als ungerecht an.
8. Referendariat als doppelter Bildungsprozess Mit dem Beginn des Referendariats oder mit dem Eintritt in das Lehrerzimmer und in den Unterrichtsraum als PraktikantIn erleben Sie eine doppelte Veränderung: Bildungsprozess: Biografisch betrachtet, erleben Sie Ihre Veränderung vom Studierenden zur Lehrkraft. Sie sind dabei Subjekt Ihres eigenen Bildungsprozesses, der nicht frei von Spannungen ist. So ist der Übergang ins Referendariat zwar der letzte Schritt in Ihrer Ausbildung, nicht aber der Schlusspunkt IhresBildungsprozesses, wie vielfach durch ReferendarInnen geäußert. Es ist gerade der Beginn einer Irritation, bei dem sich das Neue, also die gestellten Anforderungen an Sie, am Bekannten – wie Ihren Schulerfahrungen, Ihren eingeschliffenen persönlichen Verhaltensweisen und Ihren Vorstellungen, wie Schule und Referendariat zu sein hätten – reibt (vgl. Maschke 2013). Um den Beruf langfristig, gesund und im wahrsten Sinne des Wortes glücklich auszuüben, ist es mitunter notwendig, an sich zu arbeiten, um Veränderungsprozesse anzubahnen. Professionalisierungsprozess: Sie werden Mitglied in einem Berufsfeld, in dem verankerte Verhaltensweisen wirksam sind, die darauf ausgerichtet sind, SchülerInnen Bildung zu vermitteln. Lehrerzimmer und Klassenraum sind dabei repräsentative Orte, in denen von Ihnen spezifische Handlungen, Kenntnisse und Haltungen verlangt werden. Diese gilt es für Sie zunächst überhaupt zu erfassen, zu erlernen und zu üben, um sie dann als eigenes Verhaltensrepertoire sicher anwenden zu können. Das beginnt zum Beispiel mit der Bewältigung eines sauberen Tafelanschriebs (Handlung), betrifft Diagnoseverfahren für die Ermittlung von Vorwissen (Kenntnisse) und den Umgang mit Heterogenität (Haltung). Dieser nach hinten offene, nie abgeschlossene Lern- und Professionalisierungsprozess wird als einer der anstrengenden Aspekte von Praktikum, Referendariat und Lehrertätigkeit angesehen (vgl. Pille 2013).
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Grundsätzliches
9. Habitus als Zugriff auf den Lehrberuf Mittels Bourdieus Begriffspaar »Habitus und Feld« lassen sich Veränderungen, die Sie beim Eintritt in den neuen Berufskontext durchlaufen, gut beschreiben. Dabei wird die Schule als spezifisches Feld gesehen, in dem man sich bewegt und in dem die Lehrkräfte mit einem speziellen Habitus agieren. Bezogen auf das Feld Schule heißt das zum Beispiel: In der Schule erfolgt das Unterrichten hinter verschlossenen Türen und damit in der Regel in Unkenntnis der KollegInnen. Diese Nichteinmischung in den Unterricht der anderen kann als gesetzt angesehen werden; es ist eine implizite Norm in diesem Feld. Sie bietet für den Einzelnen Schutz. Alle Agierenden beherrschen gleichermaßen ein gewisses typisches Verhaltensrepertoire, also spezifische Kommunikationsmuster und körpersprachliche Signale, bedienen die typischen Medien, bewegen sich im Klassenzimmer als dem spezifischen Raum der LehrerInnen und vermitteln Haltungen und Werte. Diese Verhaltensweisen können als Habitus einer Lehrkraft bezeichnet werden. Viele Schulen versuchen über Jahrgangs- und Team-Strukturen, diesen alten Habitus der eigenverantwortlich und unbeobachtet agierenden Lehrkraft in Teilen zu verändern und dadurch das Feld Schule neu zu definieren. Diese Offenheit ist im Sinne der Theorie: Habitus ist ein »offenes Dispositionssystem, das ständig mit neuen Erfahrungen konfrontiert und damit unentwegt von ihnen beeinflusst wird.« (Bourdieu in: Maschke 2013, 107). Dieser persönliche Bildungsprozess und der vielfach von außen angeregte Professionalisierungsprozess laufen parallel und in gegenseitiger Beeinflussung ab. Wenn Sie LehrerIn werden wollen, so erhalten Sie einen gewissen Status und von Ihnen werden Verhaltensweisen gefordert, die nicht nur wie eine Rolle von Ihnen ausgeführt werden. Wenn also KollegInnen, MentorInnen und AusbilderInnen Sie auf Verhaltensweisen aufmerksam machen, die als ungewöhnlich, als irritierend, als nicht adäquat angesehen werden, so sind diese Rückmeldungen an Sie als Momente einzuordnen, Sie in diese Berufskultur bzw. in das Feld Schule einzuführen. Sie sind nicht nur als individuelle Vorlieben anzusehen. Dass es keine eindeutigen Rückmeldungen und Verfahrensweisen gibt, diese sich mitunter sogar zu widersprechen scheinen, zeigt nur, wie dynamisch das Feld der Schule ist und wie viel Spielraum Sie bei der Gestaltung des Habitus haben. Im Vorbereitungsdienst ist immer wieder festzustellen, dass die Auszubildenden von sich selbst schnelle Verbesserungen erwarten und einmal Gezeigtes als nun Beherrschtes abspeichern möchten. Aber: »Professionalität entsteht nicht aus dem Nichts, sondern muß in einem längeren Prozeß entwickelt werden« (Terhart 1996, 452). Die Entwicklung, die Sie im Praktikum beginnen und im
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Referendariat weiter durchlaufen, ist kein zeitlich festlegbarer Prozess, sondern eine höchst individuell ablaufende Entwicklung (vgl. Pille 2013). Man habe nun so viel Zeit in die Unterrichtsvorbereitung gesteckt und immer noch seien die Beobachtenden unzufrieden. Diese Kritik im Nachklang des Unterrichts wird oftmals in der Ausbildung als belastend empfunden. Es soll hiermit auf die Aufgabenvielfalt hingewiesen werden, die Sie als Novize bewältigen müssen. Fachkompetent den Unterricht vorzubereiten, wofür Sie in der Regel sehr viel Zeit benötigen, ist die eine notwendige Aufgabe. Durch Beobachtung von Unterricht und im eigenen Vollzug das gängige, dem Feld Schule ganz eigene Verhaltensrepertoire wahrzunehmen, zu entschlüsseln, sich dann darin auszuprobieren, ist die andere Aufgabe. Es geht um Verhaltens-, Sprech- und Verfahrensweisen, um Bewegungen, konkrete körperliche Haltungen und Gesten. Sie zu erfassen und zu erlernen, ist anstrengend und zeitaufwendig. Ob und wie schnell Sie sich diese aneignen können, hängt stark von der Anerkennung durch die SchülerInnen und KollegInnen ab, also davon, ob Ihr Agieren Verstärkung erhält (vgl. Pille 2013). Dabei verfügen SchülerInnen, Eltern, KollegInnen und AusbilderInnen, über direkte und indirekte Rückmeldestrategien, die zu erkennen geben, dass Sie sich bitte als Novize adäquat verhalten mögen: SchülerInnen teilen Ihnen mit, dass die Hausaufgaben immer auf die linke Tafelseite geschrieben werden, und geben so ein erwartetes Organisationsritual an Sie weiter. Eltern teilen der Klassenlehrerin vertraulich mit, dass es bei der Referendarin so wenig Hausaufgaben gäbe. Hier wird deutlich die Erwartung geäußert, dass eine etablierte Verhaltensweise (Hausaufgabenpraxis) Bestand haben möge. Ein Kollege sagt Ihnen, dass Sie in der fünften Klasse für das Unterstreichen des Merksatzes auch Stiftart und Farbe genau benennen müssen. Der Kollege versucht, die Unruhe beim Abschreiben durch sein Erfahrungswissen zu erklären. All diesen Informationen ist gemein, dass Sie auf etablierte Regeln innerhalb des Feldes Schule aufmerksam gemacht werden, oftmals mit der – unausgesprochenen – Bitte, diese Regeln auch zu übernehmen. Natürlich kann es dabei nicht um Ihre kritiklose Übernahme von Verhaltensweisen gehen. Es wird aber eine parallele Lektüre von Fachliteratur, um Ihr Begründungswissen zu erweitern, und ein permanenter Selbstreflexionsprozess von Ihnen erwartet. Das Praktikum, aber mehr noch das Referendariat ist also ein Zeitraum, in dem eine »sukzessive Annäherung der Novizen an die Spiele der Schule« (Pille 2013, 198) stattfindet. Dieser komplexe Prozess geht über die modellhafte Vorstellung der An- und Übernahme von Rollenausprägungen hinaus. Sie treffen als Person auch mit Ihrem im bisherigen Leben ausgeprägten Habitus auf das
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Grundsätzliches
Feld der Schule, das ein recht fest umrissenes Verhaltensrepertoire fordert – und es geht nun um eine Passung. Diese Passung wird von Berufsanfängern oftmals als anstrengend und mitunter auch als selbstwertgefährdend empfunden. Das ist nicht verwunderlich, weil eine Trennung Ihrer Person in einen privaten und professionellen Teil trotz aller Bemühungen Ihrer MentorInnen und AusbilderInnen nicht ohne Weiteres möglich ist. Gerade deshalb wird es notwendig sein, sich ein professionelles Verhalten anzueignen. Sie erhalten während des Praktikums und des Referendariats eine Vielzahl von Rückmeldungen. Mitunter ist es schwierig, diese in ihrer Wertigkeit einzuordnen. Folgende Fragen können Ihnen helfen, Rückmeldungen zu sortieren und daraus für sich Ziele zu setzen (orientiert an Kiel 2015): –– Dient die Rückmeldung der Selbstvergewisserung? (Die SchülerInnen bitten Sie, auf ein bestimmtes Verhalten laut im Unterricht zu reagieren oder es zu bestrafen. Wollen Sie dieser Erwartungshaltung gerecht werden?) –– Ist die Rückmeldung bewertungsrelevant? (Das Unterrichten von Inhalten, die nicht curricular abgesichert sind, sollten Sie z. B. unterlassen.) –– Dient sie der Entwicklung Ihrer eigenen Persönlichkeit bzw. Ihres Stils? (Ihre Sprache und Gestik wirken noch recht defensiv.) Klären Sie im Gespräch mit Ihren AusbilderInnen –– die Priorität der genannten Hinweise, und leiten Sie daraus klarer definierte Ziele ab. (Die Arbeit an einer störungsfreien Unterrichtsatmosphäre hat zumeist Vorrang vor der Erstellung von Differenzierungsaufgaben.) –– die Umsetzbarkeit des Hinweises (Umfang der Stunden, in denen Sie noch in genau dieser Lerngruppe unterrichten.) –– die Komplexität des Hinweises (»Ihnen gelingt die didaktische Reduktion noch nicht« ist deutlich vielschichtiger als »Sie sollten einen für die SchülerInnen erkennbaren Stundenabschluss markieren«) und damit die Frage, ob man auch (z. B. bei der Arbeit an der didaktischen Reduktion) Teilschritte anpeilen kann.
In den Rückmeldungen zu Ihrem Unterricht kann thematisiert werden, ob das Verhaltensrepertoire, das Sie bisher in Ihrem Leben ausgeprägt haben, nun im Feld der Schule »Ankoppelungsstellen« (Pille 2013, 199) findet. Verlangt wird dabei gar nicht, sich völlig zu verändern und typische Verhaltensweisen von LehrerInnen vollständig und unreflektiert zu kopieren, sondern es gilt auszuprobieren, in welcher Weise Ihr bisheriges Verhalten (Ihr Habitus) in Einklang gebracht werden kann mit den etablierten Verhaltens- und Verfahrensweisen der Schule (dem Feld).
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Ein Beispiel: In manchen Klassen ist es üblich, lautes Verhalten einzelner SchülerInnen über eine Strichliste an der Tafel zu markieren und bei einer gewissen Anzahl von Strichen Einzelne zu bestrafen. Als PraktikantIn mag dieses Sanktionsmuster gegen Ihre pädagogischen Überzeugungen gehen, aber Sie haben kaum die Möglichkeit, eine andere Form des Umgangs mit Störungen einzuführen. Als ReferendarIn wird es für Sie notwendig sein, mit Unterrichtsstörungen pädagogisch sinnvoll umzugehen. Hier ist eine Anbindung an die Gepflogenheiten der Klasse notwendig, ohne Ihre pädagogischen Grundsätze aufzugeben. Sie können zum Beispiel von der strafenden Praxis abweichen und präventiv agieren. Die Idee der Strichliste wird aufgenommen und umgedeutet: Die Klasse erhält zu Beginn der Stunde zehn Striche, die es für die SchülerInnen bis zum Stundenende zu bewahren gilt, damit es beim Erreichen von hundert Strichen eine Belohnung für alle gibt. Bei zu großer Unruhe wird wortlos ein Strich entfernt. Dieser kann durch anschließend leises Arbeiten der Gruppe wieder zurückerlangt werden. Beim Erreichen von hundert Strichen gibt es die abgesprochene Belohnung. Das Herstellen einer Arbeitsatmosphäre und das Sanktionieren von abweichendem Verhalten wird weiterhin als Teil des Lehrerseins definiert, dabei das früher Geltende nicht einfach kopiert. Die eigene pädagogische Leitlinie, nicht mittels Strafe arbeiten zu wollen, wird erkennbar. Der Konsens innerhalb der Schule wird nicht aufgekündigt. Die Störungen gar nicht wahrnehmen und auf Sanktionierung völlig verzichten zu wollen, weil man darin eine Machtdemonstration eines Erwachsenen sieht, die einem zuwider ist, hätte deutlich mehr Schwierigkeiten, innerhalb der Schule Akzeptanz zu finden. Eine Anbindung an das Feld Schule würde hier kaum stattfinden und die gemeinsame Arbeit mit den KollegInnen könnte sich als schwierig erweisen.
10. Fazit Wenn Sie Ihre Lehramts-Ausbildung als einen Aneignungs-, Klärungs- und Bildungsprozess verstehen, so verläuft dieser zumeist im Gespräch und in der Auseinandersetzung mit KommilitonInnen, DozentInnen, KollegInnen und AusbilderInnen. Sie werden in den Seminaren und Beratungsgesprächen immer wieder gezwungen, Ihr Tun ins Verhältnis zu setzen zu den dort geäußerten Vorstellungen. Im weiteren Verlauf Ihrer beruflichen Entwicklung werden Sie Ihren Unterricht verbessern und zufriedener mit Ihrer Arbeit sein, wenn Sie auch unaufgefordert Ihr Agieren hinterfragen. Dabei wäre es notwendig, dass Sie Ihre Erfahrungen und Deutungsmuster, Ihr Wissen und Ihre »Handlungen mit mindestens einer Deutungs- oder Handlungsalternative von außer-
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Grundsätzliches
halb des eigenen Interpretationsrahmens« (Lehmann 2005, 5) – konfrontieren. Diese Funktion wird, solange Sie sich in der Ausbildung befinden, oftmals von Ihren AusbilderInnen eingenommen. Langfristig wird es notwendig sein, dass Sie offen bleiben gegenüber den Erkenntnissen aus Fachliteratur und Fortbildungen und es als einen Teil Ihrer Profession verstehen, Ihr eigenes Tun immer wieder zu reflektieren. Dies ist einer der Aspekte, der den Lehrerberuf für einen persönlich so spannend macht.
Moritz, 11 Jahre, Klasse 5
Baumert, Jürgen/Kunter, Mareike: Stichwort: Professionelle Kompetenz von Lehrkräften. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft. 9. Jg. 4/2006. 469–520. Bovet, Gislinde/Huwendiek, Volker: Leitfaden Schulpraxis. Pädagogik und Psychologie für den Lehrberuf. Berlin 1994 Burrichter, Rita: In komplexen Unterrichtssituationen handeln – zur theologisch-religionspädagogischen Kompetenz. In: Burrichter, Rita/Grümme, Bernhard/Mendl, Hans/Pirner, Manfred L./Rothgangel, Martin/Schlag, Thomas (Hg.): Professionell Religion unterrichten. Ein Arbeitsbuch. Stuttgart 2012. 72–89 Combe, Arno/Helsper, Werner (Hg.): Pädagogische Professionalität. Untersuchungen zum Typus pädagogischen Handelns. Frankfurt/M. 1996 Dubs, Rolf: Lehrerverhalten. Ein Beitrag zur Interaktion von Lehrenden und Lernenden im Unterricht. Stuttgart 2009 Jürgens, Barbara u. a. Teilnehmerunterlagen zum Kompetenztraining für Anwärterinnen und Anwärter. Institut für Pädagogische Psychologie der Technischen Universität Braunschweig. o. J.
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Felten, Michael/Elsbeth Stern: Lernwirksam unterrichten. Im Schulalltag von der Lernforschung profitieren. Berlin 2012 Kiel, Ewald/Frey, Anne/Weiß, Sabine: Trainingsbuch Klassenführung. Bad Heilbrunn 2013 Kiel, Ewald/Weiß, Sabine: Gesund im Referendariat – Die zweite Ausbildungsphase des Lehramts aus salutogener Perspektive. in: Seminar 1/2015. 93–106 Kliebisch, Udo: Referendare ganz einfach coachen! Anregungen zur Professionalisierung junger Kollegen. In: Innovative Formen in der Lehrerausbildung. Hg. im Auftrag des BAK von Gabriele Kandzora und Thomas Krall BAK. Seminar – Lehrerbildung und Schule BAK-Vierteljahresschrift 18. Jahrgang. 2/2012. S. 93–103 Krüger, Vanessa: Portfolio der Erwachsenenbildung. Haltung und Methoden für Multiplikatoren. epubli Berlin 2014. Lehmann, Christine: Selbstreflexion als kritische Kategorie von Lehrer/-innenbildung. Vortrag gehalten an der Universität Hannover. Manuskript 2005 Maschke, Sabine: Habitus unter Spannung – Bildungsmomente im Übergang. Eine Interview- und Fotoanalyse mit Lehramtsstudierenden. Weinheim 2013 Messner, Helmut/Reusser, Kurt: Die berufliche Entwicklung von Lehrpersonen als lebenslanger Prozess. In: Beiträge zur Lehrerbildung, Zeitschrift zu Theorie und Praxis der Aus- und Weiterbildung von Lehrerinnen und Lehrern. Schweizerische Gesellschaft für Lehrerinnen und Lehrerbildung. 18 (2), 2000 Meyer, H. (2013) Auf die Lehrenden kommt es an. Vortrag an der Hochschule Hannover vom 11. 07. 2013.3. http://f5.hs-hannover.de/fileadmin/media/doc/f5/aktivitaeten/veranstaltungen/ 2013/Auf_die_Lehrenden_Hilbert_Meyer_HsH_11_7_2013.pdf; zitiert in: Siewert, J. (2015): Sich mit der eigenen Lehrerrolle wahrnehmbar identifizieren. In: Pädagogik 6/15, 46 Nolting, Hans-Peter: Störungen in der Schulklasse. Ein Leitfaden zur Vorbeugung und Konfliktlösung. Weinheim 2012 Pille, Thomas: Das Referendariat. Eine ethnographische Studie zu den Praktiken der Lehrerbildung. Bielefeld 2013 Rhode, Rudi/Meis, Mona-Sabine: Regelverstöße – stopp! Wege zum sicheren Umgang. Berlin 2014 Schmoll, Lars: Grundbausteine des Unterrichts. Baltmannsweiler 2010 Schratz, Michael/Schrittesser, Ilse: Was müssen Lehrerinnen und Lehrer in Zukunft wissen und können. In: Berner, Hans/Isler, Rudolf (Hg.): Lehrer-Identität. Lehrer-Rolle. Lehrer-Handeln. Professionswissen für Lehrerinnen und Lehrer. Bd. 8. Hg. von Grunder, Hans-Ulrich/KansteinerSchänzlin, Katja/Moser, Heinz. Hohengehren 2011. 177–198 Terhart, Ewald: Berufskultur und professionelles Handeln bei Lehrern. In. Combe, Arno/Helsper, Werner (Hg.): Pädagogische Professionalität. Untersuchungen zum Typus pädagogischen Handelns. Frankfurt/M. 1996. 448–471 Thomann, Geri: Ausbildung der Ausbildenden. Exemplarische Materialien aus sieben Kompetenzbereichen zur Vor- und Nachbereitung von komplexen Praxissituationen. Bern 42013
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Schüler motivieren Pierre R. Pihet
Würde ein Außerirdischer die Lebensformen auf unserem Planeten betrachten, würde ihm als Erstes sicherlich die schier unendliche Vielfalt auffallen. Welten trennen die Kreuzspinne vom Orang-Utan, die Riesenkrabben unterm Eis der Antarktis von der Hauskatze, den Adler vom Maulwurf … Und dennoch eint ein Grundprinzip, etwas Unsichtbares, sie alle: Die Zelle, deren Stoffwechsel nur mit den in der DNA codierten Informationen gesteuert und reguliert werden kann. All diese Lebewesen bestehen aus denselben Bausteinen. Dieser Beitrag ist der Versuch, bei der schier unendlichen Vielfalt an Möglichkeiten, Menschen zu motivieren, eben die Grundprinzipien herauszuarbeiten, wie dies gelingen kann, damit man sie – in welcher Situation auch immer – sofort erkennt und entsprechend handelt. Gibt es so etwas wie die DNA der Motivation? Es wird hier also nicht darum gehen, die Frage zu beantworten: »Was kann ich tun, um zu motivieren?« Es wird nicht darum gehen zu fragen, mit welchen Leuchtketten und Kugeln ein sonst als langweilig empfundener Weihnachtsbaum geschmückt werden sollte. Nichts gegen das Schmücken des Tannenbaums zu Weihnachten, es ist herrlich und etwas Besonderes. Aber wer möchte schon, dass seine Kinder nur an Weihnachten glücklich sind? Dieser Artikel ist der Versuch, die Schönheit des Tannenbaums an sich zu entdecken. Konkret ist folgende Frage ausschlaggebend: »Wie kann ich das, was ich zu unterrichten habe, so präsentieren, dass ich meine Chance erhöhe, so viele Schüler wie möglich mitzunehmen?«
In einem Interview in der Welt am Sonntag wurde der amerikanische Schauspieler Will Smith gefragt, warum seine Filme solche Publikumsmagnete seien. Seine Antwort: Er würde sich immer »Filme mit einer großen Idee dahinter« aussuchen. Etwa der letzte Mensch auf Erden in I am Legend oder die Rettung der Menschheit vor den Aliens in Independance Day. Aber, so Will Smith, auch in den weniger auf Action ausgerichteten Filmen müsste so etwas wie a big idea enthalten sein: Der Überlebenskampf eines Medi-
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zingerätevertreters etwa, der alle Misserfolge verarbeitet, um sein Ziel zu erreichen, dadurch weiterkommt und seinem Sohn und sich selbst ein anständiges Leben ermöglicht in The Pursuit of Happyness. Das sei eine große Idee, meinte Smith im Interview, »weil jeder Mensch entweder Elternteil oder Kind ist. Damit kann jeder etwas anfangen. Das macht das Thema riesig«. Ähnliches sei von Seven Pounds zu sagen: Die ethische Wiedergutmachung eines tödlichen Fehlers beschäftige jeden, wirklich jeden Menschen, da jeder immer wieder Fehler mache und sich die Frage nach der Art der Wiedergutmachung stelle. – Was wäre dann wohl ein »kleines Thema«? fragte der Journalist. Will Smith: »Etwa von einem Maler aus dem vierten Jahrhundert zu erzählen, der beschließt, sein Glück als Drogendealer zu versuchen« … Man merkt es: Smiths Filme erzählen vom Zuschauer, sie thematisieren seine Welt, ja ihn selbst in dieser Welt – und sind darum Publikumsmagnete. Die Thematik beschäftigt viele noch lange, nachdem sie den Kinosaal verlassen haben. Nachhaltigkeit in Reinkultur, weil viele sich selbst betroffen fühlen. Wie würde ich mit der psychischen Last des Protagonisten aus Seven Pounds umgehen? Könnte ich die gleiche Kraft wie jener Chris Gardner haben, der als erfolgloser Vertreter von seiner Frau verlassen wurde und sich dennoch kraft des eigenen Willens eine neue Existenz aufbaut? Nicht irgendwelche Personen oder Ereignisse werden in seinen Filmen präsentiert, sondern die big ideas dahinter. Diese wiederum sind die Antriebskräfte, die Menschen motivieren, sich diese Filme anzuschauen. Was für Smith gilt, gilt gleichermaßen für all das, was uns motiviert: Wir finden in dem, was wir tun, sehen, lesen, hören, eine innere Befriedigung, einen ganz konkreten Nutzen für uns. Und die ProduzentInnen solcher Gedanken und Gefühle werden reich, weil ihre Kunden genau das haben wollen. Da fängt unser Problem an. Es ist im Alltag schon so, dass viel zu viele Menschen automatisch davon ausgehen, dass ihre Leidenschaft für ein ›kleines Thema‹ jeden anstecken kann. Ein Vertreter des Brockhaus-Lexikons stellte mir mal voller Begeisterung sein Produkt vor: »Der Umfang wurde um mehr als 50 % von 608 auf 960 Seiten erweitert. Statt 300 nun 1300 Abbildungen. Der Thementeil wurde von 64 Seiten auf 72 Seiten erweitert. 160 Seiten ›globale Welt, die Welt in thematischen Karten‹, 142 Seiten Länderlexikon mit UNESCO-Welterbe …«
Er konnte nicht nachvollziehen, dass mich die Sache absolut kalt ließ. Motiviert hatte er mich nicht. Was hatte er vergessen? Ja, die ›große Idee‹ – für mich.
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Grundsätzliches
Wie ist es in der Schule? Nun, auch wenn sich viele etwas anderes wünschen: 90 % des Unterrichts hat eine ähnliche Wirkung wie die gerade genannte beschriebene Szene. Der einzige Grund, warum Schüler mitmachen, ist der institutionelle Rahmen namens Schule mit all den Zwängen, Normen, Kontrollmechanismen und Abschlussperspektiven, die er bietet. Sozusagen ein institutionalisiertes Kino, in das man gehen muss, um sich die Geschichte von Malern aus dem vierten Jahrhundert anzuhören – wobei man so zu tun hat, als würde es einen interessieren … Muss vor diesem Hintergrund die Perspektive einer gelungenen Schülermotivation eine Utopie bleiben? Können wirklich nur außerordentliche und -unterrichtliche Projekte auf die Gunst der SchülerInnen hoffen? Muss man in diesem Dilemma Unterricht/außerunterrichtliche Aktivität steckenbleiben? Muss der Unterricht zum Infotainment werden, sozusagen Hollywood im Klassenzimmer, was nicht wenige heute als Schlüssel zum Zugang zur Bildung für alle propagieren? Nein. Es ist möglich, Menschen für etwas zu gewinnen, wenn man es schafft herauszufinden, was sie bewegen kann. Wichtig dabei ist, sich an Grundprinzipien zu orientieren, die im Folgenden dargestellt werden. Einige Leser werden recht früh erkennen, welches Potenzial in diesen Grundprinzipien steckt, andere später – je nachdem, wie schnell die jeweiligen big ideas für den eigenen Bereich gefunden und umgesetzt werden. Wann auch immer die Erkenntnis stattfindet, das Ergebnis ist stets das gleiche: Man fühlt sich sicherer, man spart jede Menge Zeit und Mühe bei der Vorbereitung, jede Menge Nerven bei der Durchführung von Unterricht. Also los: Unterrichten ist gut, motivieren ist aber besser! Es folgt ein Antwortversuch auf die Frage, warum nicht unbedingt nur Sport das Lieblingsfach der SchülerInnen sein muss und warum nicht nur Will Smith, sondern auch Lessing zum Publikumsmagneten werden kann.
1. Vertrauensaufbau innerhalb weniger Sekunden Erste Begegnung mit einer neuen Gruppe, die man noch nie hatte. Man tritt in den Raum, er ist technisch auf der Höhe (was bedeutet, dass ein Overhead- Projektor vorhanden ist), man ist selbst top vorbereitet. Dennoch weiß man nicht genau, mit welchen SchülerInnen man es zu tun haben wird, quälende Fragen drängen sich auf: Werde ich wohlwollend empfangen oder sind möglicherweise Widerstände vorhanden, die eine oder andere Demotivation? … Werden sie mich als LehrerIn/ReferendarIn ernst nehmen? Je nach Anerken-
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nung des Fachs und je nach Klassenstufe muss man sich sicherlich auch auf schlechte Erfahrungen und Vorurteile gefasst machen: Deutsch, Mathe, Englisch und vielleicht auch eine zweite Fremdsprache leben von der Institution (s. oben), nicht aber die übrigen Fächer, von denen gebetsmühlenartig wiederholt wird, man bräuchte sie nicht … Wie schaffe ich es, sie für mein Fach X zu motivieren? Nicht nur AnfängerInnen grübeln übrigens auf diese Weise, auch ältere Hasen sind kurz vor Übernahme einer neuen Gruppe nicht unbedingt die Ruhe in Person … Tja, was würde es für Sie bedeuten, liebe Leserin, lieber Leser, wenn es eine Methode gäbe, die es einem ermöglicht, sehr schnell Vertrauen aufzubauen und gleichzeitig die Gedanken und Gefühle der Menschen zu ergründen … was wäre für Sie der Vorteil? Bevor Sie weiterlesen, denken Sie darüber nach. Was würde es für Sie bedeuten, wenn es eine Art gäbe, Menschen, die man nicht kennt, so anzusprechen, dass binnen Minuten, ja binnen Sekunden Vertrauen aufgebaut wird? Es würde mich nicht wundern, wenn Sie beim Nachdenken auf Aspekte gekommen sind wie: »Es wäre praktisch, weil ich ein sicheres Gefühl hätte, dass es mir gelingt, die Menschen für mich zu gewinnen, sodass sie als logische Konsequenz auch eher akzeptieren würden, was ich an Stoff zu vermitteln habe.« Möglicherweise haben Sie aber auch gedacht: »Ach wo, es ist unmöglich, Vertrauen sofort aufzubauen, es sei denn, die Chemie stimmt, was immer passieren kann. Da gibt es aber keine Rezepte.« Dritte Reaktion: »Ich bin gespannt, was das sein könnte, ich lasse mich überraschen.«
Dass diese Kommunikationsmethode existiert und dass sie wirkt, beweisen Sie sich möglicherweise im Moment selbst, falls Sie immer noch lesen und einen leichten Sog zum Weiterlesen verspüren, um zu erfahren, worum es geht. Worin diese Methode besteht, haben Sie auch schon selbst erfahren: Schauen Sie doch noch einmal, was im Abschnitt vor dem Mitmach-Button steht. Was sehen Sie?
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Grundsätzliches
Richtig: Ich habe nichts anderes gemacht als Ihre eigene, persönliche Situation so exakt wie möglich zu beschreiben. Ein Instrument, das darin besteht, »unbestreitbare Wirklichkeiten« (so nennt Umberto Saxer, ein Schweizer Autor, dieses Phänomen) zu benennen. Ich schlage die Kollokation ›antizipierendes Paraphrasieren‹ vor, nicht, damit es wissenschaftlicher klingt, sondern weil die genannte Handlung die Situation, die Denkweise, die Gefühlslage des Empfängers schildert, ohne dass Letzterer sie ausgesprochen hätte. Und trotzdem kann er eben nicht anders als mit Ja reagieren. Eine innere oder sogar sichtbare, hörbare Zustimmungshaltung wird erzeugt. Konsequenz: Es entsteht unmittelbar Vertrauen – weil Sie die Realität so geschildert haben, wie sie der Betroffene erlebt. Es handelt sich hierbei um ein wichtiges Werkzeug in der systemischen Kurztherapie, die in den Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts gegründet wurde (namhafte Vertreter: Paul Watzlawick, Maria Selvini Pallazoli, Steve de Shazer). Nicht selten fühlt sich ein Klient zum ersten Mal richtig verstanden, weil ihm gegenüber ein Mensch sitzt, der nicht sofort mit Deutungen, Ratschlägen, Beurteilungen oder auch mit Einwänden daherkommt, sondern einfach nur die Realität, wie sie der Patient erlebt, schildert. Marshall B. Rosenberg, der Begründer der Gewaltfreien Kommunikation (GfK), nennt dasselbe Phänomen »empathisch aufnehmen«. Etwas empathisch aufzunehmen entspricht der möglicherweise bekannten Methode des Spiegelns, also des Paraphrasierens dessen, was ein Mensch gesagt hat; nur, dass dieses Spiegeln im Vorhinein (antizipierend) stattfindet. Achtung: Wie so oft in der Kommunikation ist die eine oder andere Methodik auch sehr gut geeignet, um zu manipulieren. Hier gilt wie immer die eigene Ethik, die eigene Haltung. Mit dem Messer kann ich verletzen oder teilen, das Messer kann nichts dafür. Manipulativ benutzen zum Beispiel Politiker diese Methode: »Bildung für alle ist eine absolute Notwendigkeit, es darf kein Schüler verloren gehen, meine Damen und Herren.« – Ja, klar, unbestreitbar, Applaus … nur: Wie ist das zu bewerkstelligen? Tipp: Beobachten Sie doch unsere aktuellen ›Welterklärer‹, die in praktisch jeder Talkshow mit dabei sitzen, etwa diverse Bildungsexperten fürs Schulwesen: Alle beherrschen die Kunst, in knackigen Sätzen von zwanzig Sekunden antizipierend zu benennen, was viele denken und fühlen – das sind oft die Momente, in denen das Publikum applaudiert … In einem konstruktiven Sinne sollte aber das Instrument der Kommunikation nur zur Öffnung eines Menschen, einer Gruppe dienen – oder aber zum Aufheben einer Blockade bei Widerstand jeder Art (mehr dazu in den Beiträgen In Beziehungen erziehen und Elterngespräche führen). Probieren Sie es selbst: Es würde mich nicht wundern, wenn ein gewisser Verblüffungseffekt eintritt. Sie
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werden sehen, dass ein wohlwollendes Gefühl seitens der Zuhörer unmittelbar entsteht, sodass Sie sich selbst schneller wohl fühlen, weil sie spüren, dass die Menschen Ihnen dankbar sind, dass Sie sie verstehen und dass Sie sich in ihre persönliche Situation hineinversetzen. Formulieren Sie »unbestreitbare Wirklichkeiten« zu Ihrem Einstieg. Das setzt voraus, dass Sie die Realität und vor allem die Problemlage der Betroffenen genauestens schildern können. Was plagt die SchülerInnen? Was halten sie vom Fach, das Sie vertreten? Gilt es als schwierig, langweilig, trocken, nützlich? Achtung, von Ihren ersten Worten hängt zwar nicht alles ab, aber sie werden einen ausschlaggebenden Einfluss haben. Es kann übrigens auch leicht passieren, dass man bei einer »unbestreitbaren Wirklichkeit« daneben greift, wenn man sich nicht gründlich genug Gedanken zu den üblichen Überzeugungen der Teilnehmer gemacht hat. Man orientiert sich zwar an der Masse, aber auch eventuelle AbweichlerInnen sind mit zu berücksichtigen. Beispiel: »Hallo zusammen, nun werden wir eine Zeit lang einige Stunden pro Woche miteinander verbringen und ich kann mir gut vorstellen, dass der eine oder andere von euch denkt: ›Puh, von mir kann sie sowieso gar nichts erwarten. Mathe ist eh’ nicht mein Ding. Ob ich mich bemühe oder nicht, das kommt immer auf dasselbe heraus, ich tue mich einfach sehr schwer damit.‹ Andere wiederum denken vielleicht: ›Hoffentlich wird der Unterricht nicht langweilig und trocken. Mathe kann ich an sich ganz gut, aber was ich nicht ab kann, das ist ein langweiliger Unterricht …‹« OK, jetzt sind Sie am Ball, finden Sie Ihre fachbezogenen Einstiege über »unbestreitbare Wirklichkeiten«!
Erledigt? Prima. Sind Sie noch motiviert? Einige LeserInnen werden es sein, andere weniger. Was mich zu einer Zwischen-Betrachtung führt, die ich für extrem wichtig halte: Aufgrund eingeschliffener Sprachgewohnheiten und Glaubenssätze gehört es sich, immer wieder zu sagen: »Es gibt keine Rezepte.« Glauben Sie das nicht, gerade dann nicht, wenn Sie verzweifelt auf der Suche nach
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Grundsätzliches
Methoden sind, von denen Sie ahnen, dass sie Ihnen helfen könnten. Natürlich gibt es Rezepte. Was es nicht gibt, das sind Garantien. Garantien, dass die Rezepte gelingen. Versuche ich einen Kuchen ohne Rezept zu backen, wird er mir garantiert misslingen. Habe ich ein Rezept, erhöhe ich meine Chance, dass der Kuchen gelingt – mehr nicht. Übrigens: Sollten Sie sich erkannt haben in einem der drei Typen, die weiter oben auf die Frage reagiert haben: »Was würde es für Sie bedeuten, wenn es eine Methode gäbe, die …« – das wäre kein Wunder: Alle drei Wirkungen löst man (in welcher Gruppe auch immer) regelmäßig aus – so auch in jeder Schulklasse. Grundsätzlich sind Menschen entweder Sofort-Mitmachende oder Ja-aber-Typen oder Warum-nicht-Typen, bevor man es hoffentlich geschafft hat, dass alle zu Mitmachenden geworden sind. Ich wünsche Ihnen, dass Sie von so vielen Warum-nicht-Typen wie möglich umgeben sind – auch in Ihrem privaten Alltag!
2. Wie man Menschen dazu bringen kann, zu tun, was man von ihnen erwartet Nicht sehr einfach ist das Geschäft mit Menschen, die man unbedingt überzeugen will. Sei es SchülerInnen von der Wichtigkeit des eigenen Fachs, PrüferInnen von der Qualität der eigenen Leistung, die Konferenz von den Vorzügen eines neuen Lehrwerks, möglicherweise auch die Partnerin oder den Partner von der Vorzüglichkeit von Urlaub X statt Urlaub Y. Auch hier wieder geht es um Grundsätzliches: Es geht darum, Menschen für Projekte, Ideen, Erkenntnisse, sogar für Produkte zu gewinnen. Wie kann ich es schaffen, dass Menschen auf meinen Unterricht, meine Vorschläge, meine Ideen so reagieren, dass sie denken oder sagen: »Ja, klasse, das muss ich unbedingt tun, lernen, durchführen, weitersagen.« Und vor allem, wie schaffe ich es, dass die Menschen das wirklich tun und es nicht bei einer Absichtserklärung bleibt? Die leidige Frage der Hausaufgaben etwa belehrt einen immer wieder: Nicht gemacht, halb gemacht, gerade auf dem Flur abgeschrieben. Ja, es sei ja viel zu viel gewesen und außerdem hatte Tante Berta Geburtstag und der Reit- oder Zahnarzttermin hatte Vorrang. Wie schafft man es, dass SchülerInnen ihr Lern- und Hausaufgabenpensum möglichst unabhängig von der drohenden Strafe bei Auslassung absolvieren? Mit anderen Worten: Wie erzeugt man eine innere, weniger eine äußere Motivation? Was würden Sie einer Klasse sagen, bei der Sie feststellen, dass die Hausaufgaben nicht angemessen erledigt werden?
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Nicht weiterlesen. Was fällt Ihnen ein?
Möglicherweise gehen Ihre Vorschläge in die Richtung, dass man an die SchülerInnen appellieren sollte, wie wichtig das Erledigen von Hausaufgaben für den Unterrichtsprozess sei, dass es eine unerlässliche Vertiefung des Gelernten darstelle und dass sie es sich selbst eher schwer machen, wenn sie diese Nachbereitung auslassen. Sollten Ihre Einfälle so oder ähnlich klingen: Willkommen im Club derjenigen, die meinen, dass Appelle an die Vernunft erfolgreich sein können! Alle Aufklärungskampagnen (Tabak, Alkohol, Drogen, überhöhte Geschwindigkeit, Internetkonsum, …) seit jeher zeugen vom Gegenteil, aber die meisten glauben immer noch daran. Beibringen durch Appelle: Das funktioniert nur, wenn die Empfänger müssen. Wenn nicht, wird das Ziel verfehlt. Warum kann es nur mäßig funktionieren? Weil ein Appell per Definition jenem Grundprinzip widerspricht, das Benjamin Franklin auf den Punkt brachte: »Es gibt einen einzigen Weg, Menschen dazu zu bringen, dass sie etwas tun. Man muss sie so weit führen, dass sie es tun wollen. Einen anderen Weg gibt es nicht.« Ein Appell ist sozusagen ein ›von außen zugeführter‹ Wille. Auf einen Appell kann ich nur re-agieren, aber nicht agieren, d. h., ich reagiere auf den Willen eines anderen (einer Institution, der Vernunft, der Weisungsbefugten, der Eltern, der LehrerInnen, …). Deswegen kann es, wenn überhaupt, nur begrenzt funktionieren: Bei einer begrenzten Anzahl von Menschen, die sich doch entscheiden, mit dem Rauchen aufzuhören; bei einer begrenzten Anzahl von Menschen, die sich doch entscheiden, weniger am Computer zu zocken, … Begrenzte Anzahl und kurzfristige Wirkung: Denn auch jene gerade erwähnten Vernünftigen werden nicht selten rückfällig, was den Startschuss für die nächste Appell-Kampagne einläutet: »Wie oft habe ich euch gesagt, wie wichtig die Hausaufgaben sind!« Ach ja. Nur, geht es auch anders? Ja. Dafür gibt es ein Werkzeug, ein Rezept – was nicht mit Garantie gleichzusetzen ist. Der Schweizer Rhetoriktrainer Matthias Pöhm, ein notorischer Gegner aller langweiligen, einschläfernden Powerpoint-Präsentationen, der in
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Grundsätzliches
der Schweiz sogar eine Anti-Powerpoint-Partei gegründet hat, konfrontiert in einem seiner Bücher die LeserInnen mit folgendem Gedankengang: Stellen Sie sich kurz vor, Zuhörer wären im Jahre 1963 in Amerika bei einem Vortrag über Rassendiskriminierung und Rassismus dabei gewesen und hätten zur Verdeutlichung der Botschaft folgenden Powerpoint-Slide zu lesen bekommen: Traumvorstellung für die Zukunft Amerikas –– Erhebung der Nation mit dem Ziel der Gleichheit aller Menschen –– Gemeinsames Zusammensitzen früherer Sklaven und Sklavenhalter am Tisch der Brüderlichkeit in Georgia –– Händeschütteln von schwarzen und weißen Kindern im rassistischen Staat Alabama –– Umwandlung des früheren Sklavenstaates Mississippi in eine Oase der Freiheit und Gerechtigkeit –– Leben in einer Nation, wo die Beurteilung nicht nach der Hautfarbe, sondern nach dem Charakter stattfindet Nach: Matthias Pöhm: Präsentieren Sie noch oder faszinieren Sie schon? Bonstetten 2006
Es ist nicht sicher, ob diese Zuhörer heute noch wüssten, was sie damals erfuhren. Hätte Martin Luther King solche ›vernünftigen‹ Ziele genannt und daran appelliert, dass es wichtig sei, sie zu erreichen, so wäre stark davon auszugehen, dass sich niemand mehr an diese damals bahnbrechende Rede erinnern würde: »I have a dream that my four little children will one day live in a nation where they not be judged by the color of their skin but by the content of their character.«
Hören Sie auch die Stimme mit? Sie ist nicht vom Text wegzudenken! Der Schluss, den man daraus ziehen kann, liegt auf der Hand: Wir müssen, wo wir es nur können, mit Emotionen arbeiten, unter anderem mit Bildern, die diese Emotionen auslösen. Mit diesen Emotionen wird eines klar, nämlich der SINN dessen, was ich tun, denken, fühlen soll … Eine innere Motivation kann nur durch innere Bilder ausgelöst werden, die einem klar vor Augen führen, wofür es sich zu handeln lohnt, welchen Sinn die eigene Handlung hat. Oder wie SaintExupéry es schon formulierte:
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»Wenn du ein Schiff bauen willst, dann trommle nicht Männer zusammen, um Holz zu beschaffen, Aufgaben zu vergeben und die Arbeit einzuteilen, sondern lehre die Männer die Sehnsucht nach dem weiten, endlosen Meer.« Aus: Antoine de Saint-Exupéry: Die Stadt in der Wüste, Stuttgart 2009
Fast alles aber, was der Schulunterricht bietet, besteht in von außen an den Menschen herangetragenen Handlungsaufforderungen, in Appellen an seinen Verstand. Sprachen werden nach wie vor mit Erwerb von Wortschatz und Grammatik gleichgesetzt, zweite Fremdsprachen werden im Hinblick auf eine hypothetische Zukunft gepriesen, in der man sie bräuchte (z. B. beim Appell an eine vernünftige Berufsplanung, die Zwölfjährige definitiv nicht motivieren kann und sollte). Mathematik wird ob ihrer angeblichen Eigenschaft, das logische Denken zu schulen, aufgewertet, Deutsch scheint unerlässlich zu sein, weil die »Sprache ein Schlüssel zu allen weiteren Kompetenzen ist«, wie es so oder ähnlich immer wieder lautet. Netbooks und moderne Medien seien wichtig, weil ohne sie heute gar nichts mehr geht … LANGWEILIG! Alles Appelle an die Vernunft, die Emotionen gänzlich außen vor gelassen. So, als würde man sagen: »Leute, hier habt ihr genug Holz, ihr bekommt das Knowhow, baut jetzt ein schönes Schiff!« Na, warum denn, wenn das Meer Hunderte von Kilometern weit entfernt ist??? Fehlen dem Menschen Bilder, konkrete Vorstellungen dessen, was er mit seinem Tun erreichen kann, fehlt seiner Seele die Nahrung, die ihn zum Handeln antreibt. Eine weitere Grundvoraussetzung der Motivation ist also: Für seelische Nahrung sorgen! Nur dann kann sich der Mensch ein Ziel vorstellen, das zu verfolgen sich lohnt. Das geht nur über konkrete Bilder, Gefühle, Vorstellungen, die sich vor dem inneren Auge entwickeln … Achtung! Diese Ziele müssen auch ziemlich konkret, realistisch und kurzfristig zu erreichen sein. Unrealistische oder zu weit entfernte Ziele (»Mathe ist wichtig, weil das beruflich wichtig sein wird«) verfangen nicht. Entwickeln Sie ein Bild oder einen Vergleich, die helfen können, die Menschen besser zu erreichen, von einem Ihrer Belange zu überzeugen, für seelische Nahrung zu sorgen. Zunächst ein Vorschlag: Angenommen, Sie werden mit dem Einwand von SchülerInnen konfrontiert, für Aktivität X oder Y sei keine Zeit, dann haben Sie mit folgender Geschichte eine gute Chance, zu überzeugen: Ein Mann ging am Waldrand spazieren und kam an einem Holzfäller vorbei, der gerade versuchte, mit seiner Axt einen Baum zu fällen. Der Holzfäller schlug mit aller Kraft zu, die ihm zur Verfügung stand. Der Kopf des Holzfällers war wegen
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Grundsätzliches
der großen Anstrengung hochrot angelaufen und der Schweiß rann ihm in kleinen Bächen die Stirn hinab. Der Spaziergänger dachte sich, dass dieser arme Holzfäller sicherlich einmal an einem Herzinfarkt sterben würde, wenn er sich bei seiner Arbeit immer so verausgabte. Das ging einige Male so, bis sich der Spaziergänger eines Tages ein Herz fasste und den Holzfäller ansprach: »Ihre Axt ist stumpf! Sie sollten sie schärfen lassen, bevor Sie weiter versuchen, mit dieser hohen Anstrengung Ihre Bäume zu fällen!« Ohne von seiner schweißtreibenden Arbeit abzulassen, entgegnete der Holzfäller dem Spaziergänger mit keuchender Stimme: »Glauben Sie denn, ich wüsste nicht, dass meine Axt stumpf ist? Ich fälle nicht erst seit gestern Bäume!« Erstaunt fragte der Spaziergänger: »Aber guter Mann, wenn Ihnen bewusst ist, daß Ihre Axt stumpf ist, warum lassen Sie sie dann, in Gottes Namen, nicht schärfen?« Darauf entgegnete der Holzfäller, ohne von seiner Arbeit abzulassen: »Ich kann meine Axt nicht zum Schärfen bringen, weil mir dafür die nötige Zeit fehlt!« nach: christian-brandl.com Jetzt sind Sie dran. Entwickeln Sie einen Vergleich oder ein Bild, womit Sie zum Beispiel die Notwendigkeit eines Ihrer Fächer oder vielleicht den Sinn des Abschreibens von der Tafel verdeutlichten können.
Erledigt? Prima! Pflegen Sie Ihre Fähigkeit, mit solchen Geschichten zu arbeiten. Sie werden dadurch Ihre Chance erhöhen, Ihre Zuhörer zu gewinnen, weil sie sich genau vorstellen können, was Sie meinen. Und Ihre »EmpfängerInnen« fühlen sich verstanden, weil sie verstehen – und nehmen sich doch die Zeit, die Axt schleifen zu lassen.
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Zwischenbilanz Unterricht als Beziehungsgeflecht: Sie merken, dass wir bis jetzt fast ausschließlich daran gearbeitet haben, dass sich eine Gruppe verstanden fühlt, dass Sie den sogenannten Rapport (französisch: Beziehung, Zusammenhang; der Begriff stammt aus dem NLP, einer von John Grinder und Richard Bandler entwickelten Wissenschaft, die beleuchtet, wie man effektiver denken und mit anderen kommunizieren kann) zu Ihrer Gruppe herstellen sollten. Es ging bis jetzt nur darum, eine Beziehung zur Gruppe herzustellen, einmal in Form von unbestreitbaren Wirklichkeiten, einmal in Form von inneren Bildern, die das emotionale Kopfkino der Gruppe in Gang setzen. Übrigens empfehle ich Ihnen, in einer neuen Klasse jeweils einen Fragebogen ausfüllen zu lassen, damit Sie diese Brücke zur Person der SchülerInnen besser schlagen können; bewährt haben sich Fragen zu Stärken und Schwächen (ganz wichtig!) und sogenannte zirkuläre Fragen (Frage 4 und 6 – Fragen, die an andere, nicht anwesende Personen gestellt werden, die aber von der anwesenden Person beantwortet werden sollen) sowie Fragen zu Fremd- und Selbstbild. Hier der Fragebogen, den ich seit Jahren benutze und der sich recht gut bewährt hat: Inventur: Wer bin ich? Name: 1. Geschwister 2. Um zur Schule zu kommen, brauche ich … Minuten (ich wohne in 3. Wo sind meiner Meinung nach meine Stärken? Was kann ich gut? (Nicht nur in der Schule, sondern allgemein) 4. Was kann ich nach Meinung anderer gut? (Nicht nur in der Schule, sondern allgemein) 5. Wo sind meiner Meinung nach meine Schwächen? (Nicht nur in der Schule, sondern allgemein)
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).
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6. Wo sind nach Meinung anderer meine Schwächen? (Nicht nur in der Schule, sondern allgemein) 7. Welches Ziel habe ich mir in diesem Schuljahr gesetzt? (in diesem Fach, in anderen Fächern, generell? Beispiel: Am Ende des Schuljahres kann ich …, bin der Lage zu …) 8. Was mache ich, welche Strategien habe ich entwickelt, wenn etwas nicht klappt? 9. Ich kann nicht so gut lernen, wenn … 10. Ich kann gut lernen, wenn …
3. Warum der Mensch das tut, was er tut Weiter geht’s. Nun ist es so weit, Sie haben eine neue Gruppe, sagen wir mal, einen Oberstufenkurs in Deutsch, Sie haben einen starken Rapport hergestellt, Sie haben nicht etwa angekündigt, dass nun die Belange der Erörterung wiederholt werden, sondern die nächste Unterrichtseinheit möglicherweise folgendermaßen angekündigt: »Habt ihr euch schon mal gefragt, wie es kommt, dass die Zeit manchmal rast und dann wieder einfach nicht vergehen will? Dass man bei manchen Vorträgen staunt, dass anderthalb Stunden schon vorüber sind, obwohl man das Gefühl hat, sich gerade hingesetzt zu haben – bei anderen Vorträgen wiederum quält man sich nach wenigen Minuten schon und die Zeit bleibt stehen. Wenn die Frage ›Haben Sie noch Fragen?‹ zum Schluss ertönt, ist es so etwas wie ein Befreiungsschlag – kennt ihr das auch?«
Eine Kombination aus unbestreitbaren Wirklichkeiten und inneren Bildern. Und? Haben Sie eigene Erfahrungen wiedererkannt? Wunderbar, Sie sind motiviert, weiterzulesen.
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Trotz dieses motivierenden Einstiegs merken Sie irgendwie, dass sich keine richtige Lernstimmung einstellen will, Sie rudern und rudern, Sie wissen um die Wichtigkeit des Lernstoffs, aber, aber, wenn man ehrlich ist: Es verfängt einfach nicht. Die wollen nicht. Schon sucht man verkrampft nach rationalen Gründen: Ach ja, klar, 5./6. Stunde, kann ja gar nicht gehen, sie sind erschöpft. Die 7./8. Stunde ist noch schlimmer, eine Mischung aus Verdauung und Nachmittagstief, wobei der ärgste Feind wohl die 1./2. Stunde ist, da schlafen sie ja noch. In der 3./4. Stunde wiederum geht es kurz ganz gut, aber direkt nach der Pause kann man es ja vergessen, da sind sie noch zu aufgewühlt. Zugegeben, es ist eine Sache, die gerade im Lehrerberuf extrem an die Sub stanz gehen kann. Ständig ist man dabei, Menschen aus ihren Gedanken und Gefühlen herauszureißen, um sie in einen künstlichen Rahmen hineinzuzwängen, in welchem sie wie die Hühner auf der Stange sitzen, wobei mehrere Hühnerstangen hintereinander aufgestellt sind. Es widerspricht sämtlichen Gesetzmäßigkeiten der Akustik und den Geboten einer gelungenen Kommunikation, die grundsätzlich zirkulär ist, vom Austausch lebt. Oder haben Sie sich bei einem Familienessen schon mal so hingesetzt, dass jeder seinen Tisch vor sich hätte und alle hintereinander sitzen, die Gastgeber vorne an einem größeren Tisch? Bevor es weitergeht, eine Frage an Sie: Was ist Ihr Ziel, wenn Sie Hunger haben? Hier Ihre Antwort:
Weitere Frage: Was ist Ihr Ziel, wenn Sie arbeitslos sind?
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Sollten Sie geantwortet haben, dass Ihr Ziel im ersten Fall essen wäre und im zweiten Fall eine Stelle finden, gehören Sie zu den 95 % Menschen, die Ziele und Wege verwechseln. Tut mir leid. Sie müssen aber deshalb keinen Termin beim Therapeuten anberaumen. Nun, wenn Sie Hunger haben, ist Ihr Ziel Sättigung oder Gaumenfreuden erleben. Essen ist dafür nur der Weg. Wenn Sie arbeitslos sind, so ist Ihr Ziel, einen bestimmten Status oder eine finanzielle Grundlage zu erwerben. Die Arbeit ist nur der Weg. Ich hoffe, Sie empfinden die gleiche Freude eines Aha-Erlebnisses wie ich selbst vor nun 25 Jahren, kurz nachdem ich meine erste Stelle als Lehrer angetreten hatte (Denkmodell: Birkenbihl 1989). Was hat das mit Motivation und Unterricht zu tun? Es ist extrem wichtig, sich immer wieder Gedanken darüber zu machen, welche Ziele die SchülerInnen im Allgemeinen und im Besonderen in einer Einzelstunde haben. Wenn man sich mit den tatsächlichen Bedürfnissen eines Menschen auseinandersetzt, so kann man eines feststellen: Es sind nicht viele und einige davon sind dominant. Achtung: Das geht über die sicherlich bekannte Maslowsche Pyramide hinaus. Es geht um etwas, das nur zum Teil von der Pyramide inspiriert ist. Es sind nämlich verschiedene Modelle vorhanden, die mal mit vier, mal mit fünf, mal mit sechs oder acht Grundbedürfnissen arbeiten: Wichtiger, als sich auf ein Modell zu fokussieren, ist es, dessen unmittelbare Praxisbezogenheit, unmittelbare Brauchbarkeit für sich selbst zu erkennen. Das vorgeschlagene Denkmodell soll vor allem in der jeweiligen Situation sofort einsetzbar sein. Theorien über Kommunikation oder Bedürfnisse helfen wenig, wenn sie nicht als echtes Instrument in einer bestimmten Situation benutzt werden können. Solche Situationen können sein: ein Bewerbungsgespräch, die Nachbesprechung einer Hospitation, eine Unterrichtsstunde, ein Elterngespräch, ein privates Gespräch unter Freunden, mit den Kindern, dem Partner usw. Das Modell, das ich vorschlage, geht von einem Begriff aus, der in meinen Augen alles zusammenfasst, was verschiedene Theorien mit unterschiedlichen Begriffen geschildert haben. Teils wird von Machtbedürfnis gesprochen (Nietzsche, Der Wille zur Macht), vom Bedürfnis, Einfluss auszuüben, Leistungen zu erbringen. Dies alles möchte ich in einem Wort zusammenfassen: Wirkung. Wirkung auf sich selbst, auf andere Menschen, auf die Außenwelt. Der Mensch, ja im Grunde alles Lebendige, will nach diesem Verständnis nur eines: wirken. Jeder Mensch ist ständig bestrebt, auf sich selbst, andere Menschen und die Außenwelt so zu wirken, dass die Situation aus seiner Sicht besser wird. Das ist m. E. auch der Grund, warum alles, was sich um Magie dreht, Menschen dermaßen fasziniert. Ein Zauberstab, und man wirkt, wie man will, ohne Pro-
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zess, ohne Mühe, ein einfaches, sofortiges Ergebnis: Ist das nicht genial? Übrigens ist die Idee der Wirkung seit einiger Zeit im Begriff ›Selbstwirksamkeit‹ zu finden. Ich muss einfach als Mensch erleben, dass ich irgendwie wirke. Dass mir die Dinge gelingen, glücken. Dann bin ich glücklich. Glück kommt, so gesehen, von ›Gelingen‹. Auch wenn die Etymologie nicht ganz stimmig ist (eigentlich stammt das Wort aus dem mittelhochdeutschen gelücke, was so viel wie »Schicksalsmacht« bedeutete), leuchtet es ein: Was mir glückt, macht mich glücklich. Stelle ich fest, dass ich nicht wirke, werde ich unglücklich. Dieses Schicksal erleiden z. B. etliche ältere Menschen, die in ihrem Alltag das Gefühl haben, weder auf sich selbst irgendeine Wirkung zu haben (der Körper, die Gesundheit machen, was sie wollen), noch auf andere Menschen (ihre Anwesenheit ist den Jüngeren gleichgültig, sie fühlen sich überflüssig), noch auf die Welt (ob sie da sind, oder nicht, alles dreht sich ohne sie weiter). Schrecklich. Denken Sie kurz an sich selbst. Wann fühlen Sie sich hilflos? Richtig. Wenn Sie das Gefühl haben, nicht zu wirken. Weder auf die Welt, noch auf die anderen – und auch auf sich selbst scheinen Sie temporär keinen Einfluss zu haben. Auch in einem Konflikt ist genau das zu erleben: Eine Partei fühlt sich in ihrer Wirksamkeit beeinträchtigt, nicht ernst genommen. Was sie auch tut, es wirkt nicht, Sie hat das Gefühl, dass einzig und allein die Wirksamkeit der anderen Partei zählt. Nicht von ungefähr verspüren Menschen Gefühle der Ohnmacht, wenn sie in welchen Zusammenhängen auch immer den Eindruck haben, nicht zu wirken: Eltern in der Erziehung, Lehrkräfte mit schwierigen Klassen, Mitarbeiter im Berufsalltag … Eine Konfliktmediation übrigens ist dann gelungen, wenn sie es schafft, die Wirkenergien der jeweiligen Beteiligten so zu kanalisieren, dass sie auf gemeinsam vereinbarte Ziele und nicht mehr auf die Abwertung der jeweils von der anderen Seite vertretenen Ziele der Parteien gerichtet werden. Bei diesem Wirkenwollen gibt es, frei nach Goethe, zwei mächtige »Seelen in einer Brust«, die es sich lohnt, näher zu betrachten. Einige heutige Autoren von Motivationstheorien (Alexander Christiani z. B.) nennen diese zwei Seelen ›bipolares Antriebssystem‹. Klingt gut und modern, aber im Grunde hat schon der gute alte Epikur eben diese Eigenschaft thematisiert: dass wir alles vermeiden, was uns droht, was Schmerz bereiten könnte, und all das anstreben, was uns Freude bereitet, was selbst- und arterhaltend wirkt. Noch wichtig zu erwähnen: Epikur (Krautz 1980) hat im Brief an Menoikus nur das gemeint und nicht, was seine Exegeten im Laufe der Geschichte aus seiner Philosophie gemacht haben: »Eine unbeirrte Betrachtung dieser Dinge weiß jedes Wählen und Meiden zurückzuführen auf die Gesundheit des Körpers und die Ruhe der Seele, weil dies die Vollendung des seligen Lebens ist. Darum tun wir alles, dass wir weder Schmer-
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zen noch Aufregung haben. Sobald uns aber dies einmal zuteil wird, legt sich aller Sturm der Seele, da es für das Lebewesen nichts mehr zu erstreben gibt, das ihm noch mangelte, und nichts Anderes mehr zu suchen, durch das das Gut der Seele und des Körpers noch ergänzt würde […]. Wenn wir also sagen, dass die Lust das Lebensziel sei, so meinen wir nicht die Lüste der Wüstlinge und das bloße Genießen, wie einige aus Unkenntnis und weil sie mit uns nicht übereinstimmen oder weil sie uns missverstehen, meinen, sondern wir verstehen darunter, weder Schmerz im Körper noch Beunruhigung in der Seele zu empfinden.«
Volksnäher hat es mal Mark Twain formuliert: »Man könnte viele Beispiele für unsinnige Ausgaben nennen, aber keines ist treffender als die Errichtung einer Friedhofsmauer. Die, die drinnen sind, können sowieso nicht hinaus, die, die draußen sind, wollen nicht hinein.«
Was besagt dieses Bonmot? Nun, dass wir als Menschen sehr wenig daran interessiert sind, Leid zu erleben. Wir vermeiden es wie der Teufel das Weihwasser. In den Friedhof wollen wir nicht hinein. Was unsere Situation verschlimmern, unangenehmer machen könnte, was uns welche Schmerzen und Unbequemlichkeiten auch immer bescheren würde, vermeiden wir tunlichst. Andererseits sind wir stets bemüht, das, was unsere Freude, unsere guten Gefühle erzeugt, zu vermehren. Wir sind ständig dabei, mehr Freude gewinnen zu wollen. Wir erhöhen unseren Komfort, wir treffen uns mit Freunden, wir treiben Sport, wir lesen ein gutes Buch etc. Was wir auch denken und tun, alles wird durch dieses tatsächlich »bipolare Antriebssystem« gefiltert. Testen Sie selbst! Haben Sie gerade Ihre Sitzhaltung geändert? Dann darum, weil die vorige unbequem geworden war; Sie wollten das unbequem Gewordene vermeiden und eine neue Sitzfreude erleben. Wollen Sie im Schuldienst tätig sein? Dann darum, weil Sie sich Freude am Beruf versprechen und weil x andere Möglichkeiten und Ziele in Ihrer Vorstellung mehr Schmerz mit sich gebracht hätten. Oder, weil der Schuldienst in Ihrer Vorstellung am allerwenigsten Schmerz bereiten würde. Sind Sie immer noch dabei, diesen Beitrag zu lesen? Dann darum, weil Sie sich von ihm versprechen, in weniger Sackgassen der Kommunikation und des Unmuts im Umgang mit SchülerInnen und Eltern zu geraten und gleichzeitig, weil Sie sich von der Anwendung der hier vorgeschlagenen Wege Erfolgserlebnisse versprechen. Testen Sie selbst! Wie kann man sich sonst erklären, dass so viele Menschen auf so viele Chancen verzichten, weil sie Angst haben, dass sie scheitern könn-
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ten? Wie viele trauen sich nicht, was auch immer in Angriff zu nehmen, sei es einen (begehrten) Menschen anzusprechen, einen Jobwechsel vorzubereiten, eine Weltreise anzutreten, ein Musikinstrument zu lernen – weil sie die Unannehmlichkeiten, die mit diesen Vorhaben einhergehen könnten, vermeiden wollen, und: Es könnte ja sein, dass man scheitert … Ein weiteres Element kommt noch hinzu: Zusätzlich zu diesem bipolaren Antriebssystem sollte man im Bewusstsein haben, dass zwei Grundbedürfnisse allmächtig sind. Es sind zwei Bedürfnisse, die man sowohl beim Einzelnen als auch in der Gemeinschaft, ja auf der Weltbühne wirken sehen kann. Aufgrund dieser Bedürfnisse gibt es nicht wenige Konflikte. Das ist einerseits das Bedürfnis nach Sicherheit, andererseits das Bedürfnis nach Anerkennung (durch Wirkung auf die Welt, auf die Menschen, auf sich selbst). Testen Sie selbst! Sie machen diese Ausbildung, weil Sie mehr Sicherheit im Ausüben eines komplexen Berufs erwerben wollen, wobei die Anerkennung ihrer Bemühungen ein erfolgreicher Abschluss sein wird. Was tun Sie, wenn Sie in eine unbekannte Region kommen (es kann die Urlaubswohnung sein, aber von mir aus auch die australische Wüste): Sie erkunden sie. Sie suchen nach Ankern, nach Anhaltspunkten, die Ihnen Halt geben – Sicherheit. Was tun Sie, wenn Sie einen Unterrichtsentwurf vorbereiten? Sie sichern jeden Schritt, jede Phasierung ab. Sie halten Rücksprache mit Mitmenschen. Sollten diese Menschen Ihr Vertrauen genießen und Ihnen rückmelden, dass Sie es gut gemacht haben, so fühlen Sie sich sicherer – und anerkannt. Läuft es schief und die Nachbesprechung erfolgt nicht nach Ihrer Vorstellung, so fühlen Sie sich unsicher und abgelehnt. Wie ist es bei SchülerInnen? Nun, warum sollte es ihnen anders ergehen? Selbstverständlich haben wir es hier mit exakt den gleichen Antrieben, Motiven und Phänomenen zu tun. Das absolut dominierende Ziel eines Menschen –in welchem Zusammenhang auch immer – ist es, für Sicherheit und Anerkennung zu sorgen! Das bestandene Examen wird Ihnen diese Gefühle bringen. Der Schüler, der Blödsinn macht, will die Anerkennung seiner Klassenkameraden. Warum lesen Sie dieses Buch? Um eine größere Sicherheit zu erlangen, die in die Anerkennung mündet, dass Sie souverän mit Unterricht umgehen. Warum sitzen SchülerInnen in Ihrer Klasse? Nehmen wir den schon genannten Oberstufenkurs. Er will eine größere Sicherheit erlangen in allen möglichen Prüfungsformaten, weil alle wissen, dass davon ihr Erfolg abhängt. Dieser Erfolg wiederum beschert ihnen die Anerkennung der Lehrkräfte, der Institution, der Gesellschaft. Nun können wir auf den Punkt bringen, was einen motivierenden Unterricht ausmacht: Immer, wenn Menschen mit etwas konfrontiert werden, von dem sie das Gefühl haben, es könnte ihre Sicherheit und ihre Anerkennung erhöhen,
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sind sie dabei, machen mit, wollen mitmachen, in diese Richtung wirken – der Benjamin-Franklin-Weg. Die Ziele sind also klar. Der Mensch will so wirken, dass er sich sicherer und anerkannt fühlt. Welche Wege führen aber dahin? Wie schafft man es, dass die Schüler diese Grundbedürfnisse irgendwie befriedigt bekommen? Das ist Thema des vierten Abschnitts.
4. Durch Empathie aus der Stärke heraus handeln Als das Heer Alexanders des Großen bei der Eroberung Persiens in der gedrosischen Wüste unter erbärmlichem Durst litt, bot einer der Soldaten Alexander einen Helm voll frischen Wassers an. Was tat Alexander? Statt zu trinken, schüttete er das Wasser langsam vor den Augen seiner Soldaten aus und sagte dazu: »Für einen zu viel, für alle zu wenig!« So zeigte er, dass er mit all seinen Soldaten mitfühlte, wusste, was sie durchzumachen hatten und bereit war, dasselbe zu erdulden (nach Altmann 2005). Hier wird jedem klar: Die Hinwendung zum Menschen, seine Wertschätzung, führt zu kleinen Wundern. Sehr, sehr, sehr lange vor John Hattie hatten einige Persönlichkeiten bereits verstanden, was Wertschätzung bewegen kann. Admiral Nelson, der Sieger von Trafalgar, zeigte Ähnliches: Als er das Kommando über seine Schiffe übernahm, verbot er sofort den Gebrauch der neunschwänzigen Katze, einer Peitsche, die von anderen Kapitänen schon bei der kleinsten Verfehlung eingesetzt wurde (nach Altmann 2005) Was zeigte Nelson dadurch? Dass er seine Seeleute wertschätzte. Das machte sie sicher. Sie erkannten ihn umso mehr an – wegen seiner Persönlichkeit, nicht wegen angedrohter Strafen. Und er fühlte sich umgekehrt anerkannt und sicherer. Liegt die Parallele nicht auf der Hand? Es steht Ihnen natürlich nach wie vor frei, bei Fehlverhalten mit Strafe zu drohen, seien es Kreuze aller Art, Einträge ins Klassenbuch oder Anrufe bei den Eltern. Oder aber Sie fragen sich sofort, unmittelbar, nachdem irgendein Vorkommnis Sie aus der Bahn geworfen haben sollte (was Sie unsicher macht, weil Sie sich als Lehrkraft nicht anerkannt fühlen): Womit kann ich diesem Menschen/dieser Gruppe zeigen, dass ich sie wertschätze; wodurch können sie Anerkennung von mir bekommen? Ein persönliches Beispiel: Werte und Normen-Unterricht, eine Doppelstunde pro Woche in der Oberstufe, Anfang des Schuljahrs. Eines der Fächer, die nicht von der Anerkennung der Institution und der Gesellschaft profitieren, eines der Fächer, das wohl oder übel aus Punktezählgründen für die Abiturprüfung belegt wird: extrinsische Motivation pur. Von 18 SchülerInnen hatte die Hälfte
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die Hausaufgabe nicht. Ich hätte das übliche, bequeme Strafverfahren anwenden können: Ein Kreuz oder einen Strich geben. Bei drei Strichen gibt es einen blauen Brief; moralische Ansprache inklusive: die Aspirintablette gegen Kopfschmerzen. Unmittelbares Ergebnis: Zufriedenheit bei den Fleißigen, Bockigkeit und Bestätigung bei den anderen, dass sie das ›Sch…fach‹, sobald es nur geht, abwählen würden. Logisch: Nachdem ich meine Macht demonstriere, stellen die SchülerInnen die ihre zur Schau. So eskalieren übrigens viele Situationen im Schulalltag, und nicht nur dort: Oft wollen Beteiligte gewinnen, nicht so sehr das Problem lösen. Auch hier wieder frei nach Goethe: Bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt. Ich wünsche Ihnen, dass Sie auf Menschen treffen, die Probleme lösen und nicht gewinnen wollen. Seien auch Sie selbst ein Problemlöser, kein Machtmensch (der durch seine Wirkung die Wirkung der anderen abwertet oder gar zunichtemachen will). Was, meinen Sie, habe ich an jenem Tag (einmalig) tun müssen, um das Problem langfristig zu lösen? Was würde Ihnen einfallen, um angemessen mit der Situation umzugehen?
Das Werkzeug ›bipolares Antriebssystem‹ und das Bewusstsein über zwei Grundbedürfnisse, nämlich Sicherheit und Anerkennung, kamen zum Einsatz. Ich thematisierte mit den SchülerInnen auf der Metaebene, dass der Mensch nur dann etwas tut, wenn er sich einen Nutzen davon verspricht, wenn er also vorrangig mehr Anerkennung und mehr Sicherheit erhalten kann. Dass allerdings das Prinzip ›Schmerz vermeiden‹ immer die Oberhand gewinne. Es sei also nur logisch, dass einige den bequemeren Weg gehen und bestimmte Aufgaben nicht oder nur anteilig erledigen. Ergebnis bei den SchülerInnen, die die Hausaufgabe nicht hatten: große Überraschung, eine Stille, bei der die berühmte Stecknadel beim Fallen gehört worden wäre. Er tadelt nicht, sondern erklärt uns, dass unser Verhalten logisch ist. Es kam aber noch dicker: Warum, so fragte ich, haben einige die Hausaufgabe erledigt? Weil sie fleißig sind? So einfach ist das Leben selten. Allen wurde klar: Auch das Hausaufgabenerledigen ist ein Verhalten, dessen Motive man
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nicht unbedingt kennt. War das Motiv die Angst, ein Kreuzchen zu bekommen? War das Motiv wirklich, den Unterricht nach- und vorzubereiten? Schmerz zu vermeiden oder Freude in Form von Erkenntnissen zu gewinnen? Es war lustig zu erleben, dass die Fleißigen zur Hälfte gestanden, die Hausaufgabe aus dem Motiv heraus gemacht zu haben, einen möglichen Tadel zu vermeiden. Aha, also doch nicht so fleißig? Nur Angst vor Strafe gehabt? Das sei aber nicht gerade das Motiv, das ich mir von ihnen wünschen würde. Die Gruppe entspannte sich immer mehr. Die SchülerInnen ohne Hausaufgaben fingen an, heiß zu diskutieren, weil sie sich anerkannt fühlten. Diejenigen mit Hausaufgaben diskutierten genau so intensiv. Alle fühlten sich sicher und anerkannt. Dann kam aber meine Frage: »Also, wir hätten das geklärt; wir haben erfahren, warum wir etwas tun oder nicht. Aber das Problem ist nicht gelöst. Ich hatte diese Hausaufgabe so aufgegeben, dass sie für den Verlauf der heutigen Stunde wichtig war. Ohne euch mit der Problematik auseinandergesetzt zu haben, könnt ihr den Aspekt des Textes über Recht und Billigkeit, den ich für heute mitgebracht haben, nicht nachvollziehen. Was machen wir nun?« Das Ergebnis war mehr als erfreulich. Die SchülerInnen schlugen selbst vor, dass diejenigen, die die Hausaufgaben hatten, sich mit denen zusammensetzen sollten, die sie nicht hatten, und dass beide sich so auf den Stand der Stunde bringen sollten. Nach dieser Partnerarbeit lief die Stunde sehr gut, alle waren motiviert – was sich auch nachhaltig auswirkte. Ich brauchte im weiteren Verlauf des Schuljahrs generell bei der Hausaufgabenankündigung nur einmal zu zwinkern, und alle wussten Bescheid. Ich meine, wenn nicht im Werte-und-Normen-Unterricht, wo sonst sollte man diese Phänomene thematisieren? Die Wirkenergien waren auf gemeinsam vereinbarte Ziele gerichtet worden. Eine Garantie, adäquat zu reagieren, gibt es natürlich nicht. Immer wieder tauchen Situationen auf, in denen man schnell und klar reagieren muss – genau wie es immer mal wieder wichtig und richtig ist, ein Schmerzmittel oder ein Antibiotikum einzunehmen. Das heißt, das Instrumentarium ›Kreuzchen und Elterngespräche‹ sollte schon im Ärmel stecken – aber nur im extremen Fall angewandt werden. Lehrkräfte, die kein anderes Repertoire haben als Tadel, Drohungen oder Appelle an die Vernunft, haben es schwer. Weil sie ständig Druck ausüben müssen, stehen sie selbst ständig unter Druck. Noch einmal: Sicherlich sollte man sich ›klassische‹ Disziplinierungsmaßnahmen vorbehalten. Nachhaltigkeit in der Motivation einer Gruppe, Dinge zu erledigen, geht allerdings nur über die beschriebenen Wege. Alles andere ist Machtausübung. Motivation? Sie kann nur intrinsisch sein, von innen kommen (s. Benjamin Franklin).
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Das Ergebnis einer konsequenten, wertschätzenden Haltung, die sich der echten Ziele der SchülerInnen bewusst ist, ist eine entspannte Atmosphäre für alle (mehr Anerkennung, mehr Sicherheit für alle). Wenn man sich bewusst ist, dass jeder Mensch dauernd bemüht ist, seine Lage zu verbessern und deren Verschlechterung zu vermeiden; wenn man sich bewusst ist, dass jeder Mensch Grundbedürfnisse zu erfüllen versucht, von denen die wichtigsten eben Sicherheit und Anerkennung sind, dann wird man schneller durchschauen, warum ein Mensch auf einmal von einem bestimmten Ziel Abstand nimmt. Man muss nicht lange suchen, um einen Ansatz zu finden.
5. Zum Abschluss ein Werkzeug, wie man Menschen gewinnen kann Gibt es auch andere Wege als den Alexanders des Großen? Nicht jeder ist so souverän, dass er Leute für sich gewinnen kann! Wie soll ich Wertschätzung zeigen, ich hasse billiges Lob, und außerdem habe ich keinen Helm voll Wasser zur Verfügung. Ist es nicht doch eine Frage der Methode? Wie gewinnt man Menschen, wie macht man sie konkret auf sich aufmerksam, sodass sie sich auf einen Vortrag, eine Unterrichtsstunde einlassen? Wie soll ich, nachdem ich die SchülerInnen auf der Beziehungsebene überzeugt habe, sie auch für das Fach, für den jeweiligen Stoff gewinnen? Wie mache ich das vor allem, wenn ich nach dem Referendariat sehr wenig Zeit habe, den Unterricht gründlich vorzubereiten? Unterricht soll auch noch spannend sein, ja unterhaltsam, abwechslungsreich in der Methodik, ich soll die ganze Zeit souverän reagieren, jegliche Störung ebenso sofort aufgreifen und thematisieren, Gruppen, die immer heterogener sind, gerecht werden … Sonst noch was? Wir LehrerInnen haben es wirklich besonders schwer (bitte einmal gemeinsam jammern und auf die Schulter klopfen). Im Ernst: Wir haben im Gegensatz zu vielen anderen Menschen in ihrem Beruf … immer wieder dasselbe Publikum! Ihren Arzt sehen Sie, wenn überhaupt, einmal im Jahr, ihren Anwalt alle zehn Jahre, den Architekten einmal im Leben … Mit dem Lehrer sind alle Menschen von sechs bis 86 Jahren quasi täglich konfrontiert: als SchülerInnen, als Eltern, als Großeltern. Kaum ein Tag vergeht in der Familie, ohne dass über Schule und Lehrer geredet wird. Ich war im September 2014 bei einem Konzert von Reinhard Mey, dem Liedermacher, in Braunschweig: Es war sehr spannend, lustig, da der Sänger seine Auftritte mit Geschichten aus dem Alltag, über Gott und die Welt, über sich und seine Familie begleitete. Viele Witze dabei. Einige Tage später las ich
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in der Zeitung, dass er in Hannover aufgetreten sei. Im Bericht standen genau dieselben Witze, Anekdoten, Geschichten, die er in Braunschweig schon vorgetragen hatte. Logisch. Jeden Tag ein frisches, neues Publikum. Da ist Spannung, erwartungsvolle Aufmerksamkeit ein Leichtes. Versuchen Sie mal als LehrerIn, in der zweiten Stunde dasselbe zu erzählen wie in der ersten, dieselben Witzchen zu reißen. Gnade Ihnen Gott. Dieser Aspekt wird von nicht wenigen übersehen, die von der Lehrkraft Infotainment verlangen, dieses von vielen Trainern in der Wirtschaft, die ihr Publikum faszinieren, erfundene Phänomen. Bei FremdreferentInnen, die in die Schule kommen, sind SchülerInnen tatsächlich nicht selten begeistert, und man bekommt zu hören: »Also, so müsste Unterricht sein!« Klar. Ich war selbst lange Jahre in der Erwachsenenbildung als Trainer tätig und ich hörte immer wieder: »So hätte der Unterricht in der Schule sein müssen!« Wie leicht war es da. Jeden Monat neue Gruppen! Aber in der Schulwelt ist es nun mal anders. Zwei, drei, teilweise vier Jahre und länger führt man ein und dieselbe Gruppe mehrmals die Woche durch das Dickicht anspruchsvollen Lernstoffs. Kabarettisten schreiben alle zwei Jahre ungefähr ein neues Programm. Als Lehrer müsste man es zwei Mal pro Woche umschreiben. Also kein Infotainment möglich? Doch. Es gibt Rezepte, Joker, die universal einsetzbar sind, um sowohl auf der Beziehungsebene als auch auf der Sachebene Menschen immer wieder neu aufmerken zu lassen. Ich staune immer wieder, dass dieses eine Grundprinzip so selten angewandt wird. Dieses Prinzip heißt: Spannung erzeugen. Nehmen Sie Dan Brown (Illuminati, Sakrileg): Man kann nicht gerade sagen, dass seine Werke Meisterstücke der Literatur sind, aber eines beherrscht der Autor sehr gut: Spannung zu erzeugen. Ein Cliffhanger nach dem anderen. Darum ist er Publikumsmagnet. Im Übrigen sagt bereits Lessings Hamburgische Dramaturgie nichts anderes: Theater soll spannend sein. Für Lehrkräfte heißt das: Nicht Empfehlungsdruck (dies und jenes zu lernen ist wichtig, weil man es braucht; Hausaufgaben sind wichtig, weil sie nachzubereiten helfen …), sondern Sog muss man ausüben: So unwiderstehlich muss man seine Gedanken/Konzepte/Produkte darstellen, dass SchülerInnen wie magnetisiert mehr erfahren und Anteil nehmen wollen. Wie schon gesagt, im Schulalltag ist das nicht unbedingt einfach, aber immer wieder machbar. Eine brauchbare Lösung, einen Joker, der universal eingesetzt werden kann, schlage ich Ihnen jetzt vor. Sollten Sie bis hierher immer wieder einen Sog gespürt haben: »Nun muss ich aber weiter lesen, was kommt denn jetzt bloß? Ich will mehr erfahren …« haben Sie die Wirksamkeit dieser Methodik an sich
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selbst bereits erlebt. Es handelt sich um eine Ansprache des Empfängers, die in vier Schritten erfolgt, hier ein Viererschritt-Beispiel aus der Wirtschaft.
Abb 1: Akademie der Bertelsmann Direktvertriebe, Personalentwicklung; Schulungsunterlagen Juli 2008
Haben Sie die Struktur meiner jeweiligen Abschnitte erkannt? Man beginnt mit der Schilderung einer Situation, die zu einem Problem führt. Eine Lösung muss her, deren Anwendung zu einem positiven Ergebnis führt, das entsprechend geschildert wird. Es handelt sich um das Wecken einer lösungsorientierten Neugier, die grundsätzlich wesentlich wirksamer ist als eine gewinnorientierte Neugier: Lösungsorientierte Neugier »Es gibt etliche Begriffe, die man immer wieder hört, die man aber nicht genau definieren kann – Aufklärung ist ein solcher Begriff. Was bedeutet er genau? Hat er mit Aufklärungsflugzeugen zu tun, von denen man heute immer wieder hört? Mit sexueller Aufklärung? Oder geht es um etwas anderes? Hat Aufklärung mit euch zu tun? Diese Fragen werden wir im Laufe der Unterrichtseinheit beantworten.« Gewinnorientierte Neugier »Auf dem Programm steht die Epoche der Aufklärung, die ihr bis zu den Herbstferien kennenlernen werdet; es sind wichtige Erkenntnisse zu gewinnen, die viele heutige Phänomene erklären helfen.«
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Grundsätzliches
Viererschritt in der Schule 1. »Liebe SchülerInnen, viele kennen die Problematik im Schulalltag: Es sind gefühlte 15 Fächer, die man aber bitte schön alle auf dem gleichen Level zu pflegen hat, alle sind soooo wichtig, und als SchülerIn fühlt man sich wie ein Flummy, der von Raum zu Raum gespielt wird. 2. Dazu kommt eine Fülle an Literatur, die zu lesen ist, Hausaufgaben, die zu erledigen sind … 3. Wie wäre es, wenn wir es in dieser Unterrichtseinheit schaffen, die Zusammenhänge zwischen der Textsorte Erörterung und der Kunst einer ObamaRede so klar zu machen, dass Sie am Ende nicht nur Aufsätze leichter verfassen können, sondern auch Ihre Belange und Vorstellungen besser an den Mann bringen können?« 4. Das Ergebnis wird sein, dass Sie sich bei Aufsätzen generell wohler fühlen werden und dass Sie bei Gelegenheit Ihre Mitmenschen leichter überzeugen … Nicht jeder wird zum kleinen Obama, aber Sie sind seiner Formulierungskunst ein Stück näher gekommen. Wie klingt das in Ihren Ohren?“ Nicht wenige sind so motiviert dabei. Der Vorteil dieses Viererschritts ist es, dass Sie ihn immer wieder schnell einsetzen können, er erlaubt Ihnen, die Menschen dort abzuholen, wo sie sind, dieses hehre, immer wieder genannte Ziel, zu dem man aber nicht unbedingt einen Weg kennt. Ein möglicher Weg ist dieser Viererschritt. Stellen Sie einen eigenen, persönlichen Viererschritt auf:
Versuchen Sie übrigens auch in jeder Stunde irgendetwas Neues einzubauen, ein unerwartetes Bonbon, es muss nicht viel sein. Sie brauchen sich nur an einer big idea zu orientieren. Zugegeben, der überlaufende Schullalltag verhindert geradezu eine ausreichende Kreativität, obwohl dies eine wichtige Quelle der Motivation wäre (was kommt heute, womit werden wir heute überrascht?). Meine Lösung: Ich führe oft mit Betrachtungen über Gott und die Welt in meine
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Pierre R. Pihet, Schüler motivieren
Stunden ein, mit etwas, was ich erlebt, gehört, gesehen habe. Ein Minigespräch ergibt sich und der Stoff ist immer neu, es kostet aber keine Mühe, ihn mental vorzubereiten. Und nun? Unterrichten Sie noch, oder motivieren Sie schon? Sicher: Garantien gibt es nicht – das ist das Spannende an der menschlichen Kommunikation. Interessant ist dann aber, wie man eben mit Widerständen aller Art umgehen kann. Was tun, wenn es nicht funktioniert? Man merkt z. B., dass die Schüler unmotiviert sind, und stelle man sich auf den Kopf für sie. Keine Wirkung. Ein Teufelskreis, da die Eigenmotivation darunter leidet. Und wer selbst nicht motiviert ist, wird keine Menschen gewinnen können. Also – was tun bei Widerstand? Weitere Werkzeuge müssen her. Dies wird Gegenstand weiterer Beiträge sein. Denn Widerstand behandelt man immer auf die gleiche Art: Ob man es mit SchülerInnen, Eltern, PartnerInnen, K undInnen … wem auch immer zu tun hat.
Belana, 14 Jahre, Klasse 8
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Grundsätzliches
Altmann, Hans Christian: Motivieren und Gewinnen. München 2005. 18–20 Bettger, Frank: Lebe begeistert und gewinne. Beltershausen 1984 Birkenbihl, Vera F.: Psycho-logisch richtig verhandeln. Heidelberg 1989. 77–96 Brandl, Christian: http://christian-brandl.com/2016/02/28/haben-sie-auch-keine-zeit-fuerbewusstseinsarbeit/; letzter Aufruf am 26. 4. 2016 Christiani, Alexander: Weck den Sieger in dir – in sieben Schritten zu dauerhafter Selbstmotivation. Wiesbaden 2000 Epikur: Brief an Menoikeus, in: Briefe, Sprüche, Werkfragmente, übersetzt und herausgegeben von H. W. Krautz, Stuttgart 1980 King, Martin Luther: I have a dream. Rede vom 28. 8. 1963 Mohl, Alexa: Der große Zauberlehrling. Das NLP-Arbeitsbuch für Lernende und Anwender. Paderborn 2006 Pöhm, Matthias: Präsentieren Sie noch, oder faszinieren Sie schon? Heidelberg 2006 Rosenberg, Marshall B.: Gewaltfreie Kommunikation. Paderborn 2009 Saint-Exupéry, Antoine de: Die Stadt in der Wüste. Düsseldorf 2009 Saxer, Umberto: Bei Anruf Erfolg. Frankfurt/M./Wien 2001 Twain, Mark: http//www.aphorismen.de/Zitat/10981; letzter Aufruf 16. 4. 2016 Watzlawick, Paul/Beavin, Janet H./Jackson, Don D.: Menschliche Kommunikation. Bern 1985 Werner, Stefan: Ressourcenorientierung in der konfrontativen Pädagogik. Vortrag. Schwarzach/M. 2010
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Überlebensnotwendiges
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Organisieren lernen Renate Will
In diesem Kapitel sollen Sie sich Gedanken über Ihre Einstellung und Haltung zu den Themen Organisation, Selbstorganisation/Selbstmanagement, Selbstmotivation – und damit zu Ihrem Zeitmanagement machen.
In der Prüfungsverordnung für das Land Niedersachsen (APVO) im Kompetenzbereich Personale Kompetenzen steht: Lehrkräfte im Vorbereitungsdienst übernehmen Verantwortung für sich und ihre Arbeit (5.2). Sie organisieren ihre Arbeit selbstständig und ökonomisch zu ihrer eigenen Entlastung (5.2.3).
Das gilt selbstredend nicht nur für LiV, sondern für alle Lehrkräfte, egal, welche Berufserfahrung bereits vorliegt. Leichter gesagt als getan? – zumindest scheint es so, wenn man sich die Realität anschaut und feststellt, dass ReferendarInnen scheitern, weil sie sich ›nicht organisieren‹ können oder JunglehrerInnen und alte Hasen ihr Stundendeputat reduzieren, weil sie der Schulalltag mit seinen Anforderungen an ihre gesundheitlichen Grenzen bringt. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass oft auch noch Familie und Freunde mit unter einen Hut zu bringen sind. In diesem Kapitel sollen Sie daher Anregungen und Tipps erhalten, die Ihnen die Organisation Ihres Arbeitsalltags – u. U. in Kombination mit den Anforderungen des Studienseminars oder der Universität – erleichtern und die es für Sie ermöglichen sollen, eine gesunde Balance zwischen Beruf und Privatleben zu finden.
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Überlebensnotwendiges
1. Begriffserklärungen Organisieren heißt nichts anderes als »etwas sorgfältig vorbereiten« (www.duden. de). Wer möchte das nicht? Den Unterricht, die Korrekturzeiten für Klausuren und Klassenarbeiten, die Gespräche mit KollegInnen, SchülerInnen, Eltern …, die Konferenzen, die Ausflüge und Klassen-/Kursfahrten …? Nebenbei sollen noch der Haushalt, der Garten, die Kinder und in der älteren Generation die eigenen Eltern versorgt, Freundschaften gepflegt, Sport getrieben werden, dabei soll man gute Laune versprühen, mit Freude unterrichten und sich nicht total überfordert und am Ende seiner Kräfte fühlen. Zeit für sich selbst zur Verfügung zu haben, das gelingt vielen oft nicht mehr oder doch nur sehr begrenzt. Zeit haben – das Stichwort schlechthin! Effektiv (wirkungsvoll, nutzbringend, Erfolg versprechend …) arbeiten, sodass es gelingt, die vielfältigen beruflichen Anforderungen mit dem Privatleben zu kombinieren und in Einklang zu bringen. Eine große Herausforderung für Lehrkräfte? In gewisser Weise schon, insbesondere, da es oft schwer fällt, die nötige Distanz zum Beruf aufzubauen, erinnern der überfüllte Schreibtisch und die Stapel von Heften im häuslichen Arbeitszimmer doch ständig daran, was noch zu erledigen ist. ›Fertig‹ ist man als Lehrkraft nie, oder? Und trotzdem gibt es genug Lehrkräfte, die diese Vielfachbelastung meistern. Was machen diese Lehrkräfte anders, wo haben sie die Stärken, Arbeitstechniken, organisatorischen Methoden …, die anderen fehlen bzw. die sie noch nicht an sich entdeckt oder auch noch nicht gelernt haben? Die Bewältigung der Herausforderung setzt auf zwei Ebenen an: ȤȤ auf der persönlichen Ebene, bei der Haltung und der Disziplin der einzelnen Lehrkraft und ȤȤ auf der organisatorischen Ebene, bei den organisatorischen Schwachstellen der einzelnen Lehrkraft, die es auszuschalten gilt. Beide Ebenen werden angesprochen, wobei sie sich nicht immer voneinander trennen lassen, da sie sich zum Teil auch gegenseitig bedingen (z. B. Disziplin – Ordnung auf dem Schreibtisch). Es soll auch nicht verschwiegen werden, dass es Lebensphasen geben wird, die auch eine noch so gut organisierte Lehrkraft an die Grenzen ihrer Belastbarkeit bringen. Aber darum soll es nicht gehen, es geht um das Meistern eines ›normalen‹ Alltags mit seinen alltäglichen Herausforderungen.
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2. Auf die Haltung kommt es an! Miller (2010, 16) formuliert es treffend in folgender Aussage: »Ob wir mit der Zeit angemessen umgehen oder nicht, hat mit unserer Haltung und Einstellung zu tun, […]«. Stimmt! Ergänzt werden muss ›und mit unserer Disziplin‹! Das ist leichter gesagt als getan, kommt es doch mehr oder weniger oft darauf an, den inneren ›Schweinehund‹ zu überwinden – dann, wenn man geschafft ist von einem anstrengenden Schulvormittag und/oder -nachmittag, dann, wenn man komplizierte Elterngespräche geführt hat oder auch den Haushalt und die Kinder mit allem, was dazu gehört, versorgt hat – oft also am späten Nachmittag oder Abend, wenn sich auch noch die Berge an Korrekturen und Bügelwäsche häufen und man gar nicht weiß, was man zuerst in Angriff nehmen soll. Um sich einen ›Überblick‹ über Ihre Haltung und Selbstdisziplin zu verschaffen, sollten Sie die folgenden Aussagen (in Anlehnung an Barsch-Gollnau et al. (2014, 7) und Miller (2010, 17) genauer in den Blick nehmen. Kreuzen Sie an, wie Sie sich selbst einschätzen! Selbstmanagement ¨¨ Ich plane und nutze meine Zeit effektiv. ¨¨ Ich führe regelmäßig eine selbstkritische Analyse meines Zeitmanagements durch. ¨¨ Ich kenne meine ›Zeitfresser‹ und versuche, sie zu vermeiden. ¨¨ Ich plane meine Verpflichtungen/Aktivitäten und setze gezielt Prioritäten. ¨¨ Ich arbeite zielstrebig und mit Disziplin systematisch, konzentriert und effizient bis zum Abschluss einer Aufgabe, ohne mich ablenken zu lassen. ¨¨ Ich erledige meine Arbeiten zuverlässig und pünktlich. ¨¨ Ich treffe konsequent notwendige Entscheidungen, auch wenn sie mir nicht immer behagen. ¨¨ Ich kann Aufgaben delegieren. ¨¨ Ich nutze unterrichtsfreie Zeit konsequent zum Korrigieren, Vorbereiten von Unterricht, … ¨¨ Ich setze mir konkrete Ziele und plane deren Umsetzung. ¨¨ Ich habe ein gutes Ziel-Zeit-Management. ¨¨ Ich arbeite mit meinen KollegInnen im Team und entlaste mich dadurch. ¨¨ Ich plane Unterricht nicht nur stundenweise, sondern lege eine Langzeitplanung an. ¨¨ Ich besitze die Fähigkeit, mehrere Aufgaben gleichzeitig zu bewältigen (multitaskingfähig).
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Selbstmotivation ¨¨ Ich begeistere mich schnell für eine Sache und versuche, das Beste daraus zu machen, auch wenn es Zusatzarbeit bedeutet. ¨¨ Ich kenne meine Stärken und setze sie bewusst zur Bewältigung von Aufgaben ein. ¨¨ Ich mache mein Arbeitsverhalten nicht von äußerlichen Rahmenbedingungen abhängig, sondern motiviere mich intrinsisch, d. h. durch Begeisterung für die Aufgabe. ¨¨ Ich überlege mir im Vorfeld einer zu erledigenden Aufgabe eine angemessene Belohnung nach Beendigung der Arbeit.
Bestimmt fallen Ihnen noch mehr Items ein, die Sie beim Selbstmanagement und damit auch beim Zeitmanagement bzw. der Selbstmotivation mit in den Blick nehmen könnten. Bei wie vielen Items haben Sie ein Kreuz setzen können? Bei wie vielen sind Sie ins Grübeln gekommen? Die Kombination aus Forderung vs. Überforderung, aus eigenem Bedürfnis vs. dem Bedürfnis anderer, aus Müssen vs. Nicht-Wollen, aus Freude am Beruf vs. Verzweiflung ob der Vielfältigkeit der Anforderungen, aus Angenehmem vs. Unangenehmem, aus Entspannung vs. ›Laufen im Hamsterrad‹ kann eine Lehrkraft schlicht zum Verzweifeln bringen. Dazu kommt außerdem die Einstellung zu sich und dem Beruf: Was möchte ich wirklich? Was bin ich bereit zu geben und zu leisten? Wo setze ich definitiv Grenzen? Wenn Sie überall Ihre Kreuze haben setzen können, dann haben Sie ein gutes Selbstmanagement und ein gutes Zeitmanagement. Auch Ihre Einstellung zu der Arbeitsbelastung scheint positiv zu sein. Da viele Kolleginnen und Kollegen darüber klagen, keine Zeit zu haben, lohnt es sich, die ›Zeitfresser‹ und damit die effektive Arbeitshaltung/-einstellung in den Blick zu nehmen. Welches sind Ihre Zeitfresser? Sinnvoll wäre es, eine Woche lang jeden Tag die sinnlos verbrauchte Zeit zu addieren. Sie werden staunen, wie viel Zeit Ihnen eigentlich zur Verfügung stünde, würden Sie nicht in Zeitfallen tappen. Erfahrungen gerade mit ReferendarInnen und jungen Lehrkräften zeigen, dass Unentschlossenheit (stundenlanges Suchen nach Material, in der Hoffnung endlich das richtige für den Einstieg zu finden), nicht gesetzte Prioritäten, Kommunikationen jeglicher Art (Telefon, Plausch im Lehrerzimmer, Handy und Co., unangemeldeter Besuch, …), mangelhafte Koordination (Bereitschaft/Fähigkeit, gerade in einer Konkurrenzsituation mit anderen zusammenzuarbeiten), persönliche Desorganisation (bei Terminen, beim Abheften von Arbeitsmaterialien, beim Schaffen eines brauchbaren Ablagesystems oder auch bei eigenen Arbeitsabläufen), Vermeidungshaltung (fehlende
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Selbstdisziplin, ablenken lassen) die größten Zeitfresser sind. Welche Tipps gibt es, um gegen sie gezielt anzugehen? Entschlossenheit zeigen Setzen Sie sich ein Zeitlimit, während Sie Material/Versuchsanleitungen etc. für Ihre Unterrichtsvorbereitung suchen. Fangen Sie am besten nicht auf den letzten Drücker an, Ihren Unterricht vorzubereiten. Langzeitplanung ist das Stichwort (vgl. Kapitel 4) und (auch wenn es weh tut) das Nutzen von unterrichtsfreier Zeit! Manch einer behauptet, er bräuchte den Druck, damit er arbeiten könne. Diese Einstellung stresst nicht nur denjenigen, der unter Druck steht, sondern auch das gesamte Umfeld. Mattes (2014, 24) spricht in dem Zusammenhang von einer »unprofessionellen Arbeitsauffassung«. Haben Sie den Mut, die Suche zu beenden und mit dem gefundenen Material etc. in den Unterricht zu gehen – mit der Zeit nimmt die Erfahrung zu, der Austausch mit KollegInnen wird (hoffentlich!) zur Routine und Sie werden feststellen, dass auch mit nicht optimalem Material Unterricht funktionieren kann, wenn das kein Dauerzustand wird! Mattes (2014, 14) bringt es auf den Punkt, wenn er sagt: »Zu kurz geplant ist ein Manko, zu viel Zeit verschwendet aber auch.« Nutzen Sie das von Ihnen eingeplante Zeitfenster optimal und effektiv. Und treffen Sie Entscheidungen, um zu Ihren geplanten Zielen zu gelangen. Setzen von Prioritäten Verzetteln Sie sich nicht in mehreren Aufgaben. Rohnstock (2011) schlägt – das Eisenhower-Prinzip verwendend – das Einteilen von beruflichen und privaten Aufgaben in die Kategorien wichtig und unwichtig sowie dringlich und nicht dringlich vor. Als wichtige und dringliche Aufgabe versteht sie z. B. die Unterrichtsplanung für den nächsten Tag, aber auch das Üben mit einem Kind für die anstehende Arbeit. Für diese Aufgaben muss man genügend Zeit einplanen. Liebke/ Schoof-Wetzig (2010) schlagen vor, 50 % der zur Verfügung stehenden Zeit zu veranschlagen. Dringliche, aber unwichtige Aufgaben sind das Sortieren von Arbeitsblättern oder das Aufräumen im Haushalt, um nur einige Beispiele zu nennen. Hierfür verwenden Menschen 65 % ihrer zur Verfügung stehenden Zeit. »Das ist entschieden zu viel«, behaupten Liebke/Schoof-Wetzig (2010, 20); geht es nach ihnen, sollte man nicht mehr als 20 % der Zeit mit diesen Aufgaben verbringen.
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Wichtige, aber nicht dringliche Aufgaben sind für Rohnstock (2011) zum Beispiel Fortbildungen, Vorbereitung von Festen oder im häuslichen Bereich das Planen und der Besuch von Events, das Lesen eines spannenden Buches usw. Für diese Aufgaben geben Liebke/Schoof-Wetzig (2010) ein Zeitlimit von 20 % vor. Für unwichtige und nicht dringliche Aufgaben – nach Rohnstock alle überflüssigen Beschäftigungen wie ausgedehntes Reden, übertriebenes Saubermachen, Zeitung lesen – bliebe somit kein Zeitlimit mehr. Diese Überlegung ist durchaus sinnvoll, da derartige Aktivitäten häufig zum Aufschieben von Aufgaben führen und ungenützte Zeit darstellen. Listen Sie alle Tätigkeiten auf, die Sie zu bewältigen haben, und sortieren Sie sie den vier genannten Bereichen zu. Welcher Bereich überwiegt bei Ihnen? Halten sich alle Bereiche die Waage?
Bei vielen Lehrkräften kommt der Bereich wichtige, aber nicht dringliche Aufgaben zu kurz, da die ersten beiden Bereiche überwiegen und viel Zeit in Anspruch nehmen. Ergeht Ihnen das auch so? Selbsterkenntnis ist der erste Schritt zur Besserung – im wahrsten Sinne des Wortes. Versuchen Sie gezielt, den Bereich in den Blick zu nehmen. Seien Sie sich selbst wichtig, und achten Sie auf sich und die Personen, die Sie schätzen. Setzen Sie in Ihrem Terminkalender entsprechende Termine, auf die Sie nur verzichten, wenn ›Land unter‹ herrscht. Auf Dauer bringt das mehr Zufriedenheit, weniger Stress und mehr Lebensqualität. Kommunikationen jeglicher Art planen Setzen Sie sich auch bei den Gesprächen mit KollegInnen und FreundInnen ein Zeitlimit. Achten Sie darauf, nicht planlos im Internet zu surfen und zu chatten; WhatsApp-Kontakte kosten ebenso Zeit, das gilt auch für das ständige Senden und Abrufen von E-Mails, SMS und Co. Erledigen Sie, was zu erledigen ist, und fangen Sie dann erst an, Ihre Nachrichten abzurufen bzw. zu ver-
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schicken. Das ständige Klingeln von Handys ist lästig und störend, da es die Konzentration abreißen lässt. Legen Sie Ihr Handy in ein anderes Zimmer oder schalten Sie es aus. Das heißt jetzt nicht, dass Sie Gespräche, die notwendig sind und der Sache dienen, respektive Ihrer Gesundheit und Ihrem Wohlgefühl, nicht führen sollen. Auch Elterngespräche können nicht vermieden werden. Aber auch hier kann ein Zeitlimit fruchtbar und ertragreich sein. ›In der Kürze liegt die Würze‹ ermöglicht konstruktivere Ergebnisse als ein langes Um-den-Brei-Herumreden. Kooperation oder Team-Arbeit entlastet und schafft Freiräume Teamwork ist ein immer noch schwieriges Thema in Lehrerkollegien und auch in Studienseminaren – insbesondere zu Zeitpunkten, wenn die Konkurrenz groß und das Stellenangebot gering ist. Das muss nicht sein. Das Rad muss nicht immer wieder neu erfunden werden. Das Zur-Verfügung-Stellen von Unterrichtsentwürfen, Klausur- und Arbeitsvorlagen sowie ein gegenseitiges Unterstützen – auch hinsichtlich von Absprachen, die das parallele Arbeiten in Jahrgangsteams betreffen, sollte eigentlich in jedem Kollegium eine Selbstverständlichkeit sein. Es gibt durchaus Lehrerzimmer, in denen findet sich eine Fülle an Ordnern mit den unterschiedlichsten, nach Fächern geordneten Materialien, zu denen alle Zugang haben und die alle auch selbstverständlich mit eigenen Materialien ergänzen. Das Ganze in digitaler Form ermöglicht noch einfacher, Arbeitsmaterialien an die eigenen Lerngruppen anzupassen. Diese Vorgehensweise bietet sich auch für das Dokumentieren von Unterrichts- und Prüfungsentwürfen an – mit der notwendigen kritischen Haltung und Vorsicht! Es soll nicht ›abgeschrieben‹ werden, aber man kann und soll sich Tipps und Anregungen holen, Erfahrungen austauschen. Auch hier kommt es auf die Haltung an – ein Geben und Nehmen sollte selbstverständlich sein. Auch das gemeinsame Vorbereiten einer Einheit, eines Stationenlernens, einzelner Stunden, das Aufteilen von Arbeitsschritten untereinander (Ich kümmere mich um …, du kümmerst dich um …) bringt Entlastung. Aber auch hier gilt, dass nur gemeinsames Arbeiten Entlastung bringt. Es klappt nicht, wenn nur einer arbeitet und die anderen profitieren, was durchaus in schlecht funktionierenden Arbeitsgemeinschaften zu beobachten ist. Das bringt Unfrieden und Unzufriedenheit, was noch mehr Stress und Ärger hervorruft.
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Aufgeschoben ist nicht aufgehoben! Richtig! Und da das Aufschieben von Terminen, von zu erledigenden Aufgaben wie Korrigieren, Planen von Unterrichtseinheiten, Führen von unangenehmen Elterngesprächen … nichts bringt, da die ›verschobenen‹ Dinge auf jeden Fall erledigt werden müssen, ist es sinnvoll, sich gleich daran zu machen! Stichworte, die da eine große Rolle spielen, sind Selbstdisziplin, Pflichtbewusstsein, Professionalität und Haltung! Auch Dinge des alltäglichen Lebens können – wie jeder weiß – nicht aufgeschoben werden, Wäsche muss gewaschen werden, es muss gekocht und eingekauft werden, Kinder müssen zu Vorsorgeuntersuchungen, der Zahnarztbesuch steht an, Freunde haben sich angekündigt, Verabredungen müssen eingehalten werden und, und, und … Je eher man anfängt, umso eher sind die Dinge auch erledigt. Unter Umständen kann es helfen, wenn man konkret die Dinge benennt, die man in der nächsten Stunde erledigen will oder sich eine To-Do-Liste für den Nachmittag/Abend anlegt und Punkt für Punkt abhakt. Fangen Sie mit den Dingen an, die Ihnen leicht von der Hand gehen. Das gibt Selbstvertrauen und -motivation und erleichtert das Weiterarbeiten. Für viele bedeutet das Aufschieben auch immensen Stress, was dem Wohlbefinden und der Gesundheit abträglich ist. Ein Erziehen zur Selbstdisziplin … baut die eigene Schwäche ab! Das, was man von seinen SchülerInnen erwartet, z. B. das Lernen von Vokabeln, das Anfertigen von Hausaufgaben, das ordentliche Führen von Mappen, Lerntagebüchern in einem bestimmten Zeitraum, die besagte Selbstdisziplin, sollte man als Lehrkraft als Vorbild vorleben! Denken Sie daran, sich mit einer angemessenen Belohnung nach Erledigung der ›To-Do-Liste‹ zu motivieren.
3. Ordnung ist das halbe Leben! Eine weitere Stolperfalle, die im vorherigen Abschnitt genannt, aber auf die bisher noch nicht eingegangen wurde, ist die persönliche Organisation. Haben Sie eine funktionierende persönliche Organisation? Machen Sie sich Gedanken zu Ihrer Selbstorganisation, zu Ihrer Einstellung hinsichtlich ›Ordnung‹ (in Anlehnung an Barsch-Gollnau et al. (2014, 7) und Miller (2010, 17).
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Kreuzen Sie an, wie Sie sich selbst einschätzen! Selbstorganisation ¨¨ Ich bin ordnungsliebend. ¨¨ Ich liebe das Chaos. ¨¨ Ich lebe nach dem Motto ›Wer suchet, der findet!‹ ¨¨ Ich habe den Überblick über alle im Schulalltag und im außerschulischen Bereich anfallenden ›Arbeiten‹. ¨¨ Ich habe einen funktionierenden Terminkalender. ¨¨ Ich lasse Freiräume im Terminkalender als ›Puffer‹ für unvorhergesehene Aufgaben. ¨¨ Mein Schreibtisch ist aufgeräumt. Auf ihm befinden sich nur die Dinge, die ich zum Erledigen einer Sache benötige. ¨¨ Ich habe eine funktionierende Archivierung von Materialien und Unterrichtsdokumentationen. ¨¨ Ich nehme keinen Zettel zweimal in die Hand, sondern hefte alles Notwendige gleich und nach einem Ordnungsprinzip ab. ¨¨ Ich lebe nach dem Motto: ›Laufe nie ohne!‹ Z. B.: Wenn man den Müll in die Mülltonne vor dem Haus bringt, nimmt man auch gleich das Altglas mit, das in den Keller muss. Oder wenn man in die Küche geht, um eine Flasche Mineralwasser zu holen, nimmt man gleich die leere Schüssel mit. ¨¨ Ich kann ›vorausschauend‹ planen und organisieren.
Menschen mit Organisationskompetenz sind klar im Vorteil – nicht nur im beruflichen, sondern auch im häuslichen Bereich. Kann man lernen, sich zu organisieren? Unbedingt! Gute Organisation und Planung können eine Menge bewirken. Folgende Tipps können Ihnen weiterhelfen: 1. Kaufen Sie sich einen Terminplaner, der so klein ist, dass er ständig in Ihrer Reichweite ist – auf dem Schreibtisch, in Ihrer Handtasche, in Ihrer Schultasche. Hüten Sie ihn wie Ihren Augapfel. 2. Tragen Sie zu Beginn eines Schuljahres alle Termine in den Terminplaner ein, die von der Schulleitung bekanntgegeben werden, und ergänzen Sie ihn kontinuierlich bei jeder Dienstbesprechung, bei jeder Eintragung ins Mitteilungsbuch, nach jeder Absprache mit Ihren AusbilderInnen zu Unterrichtsbesuchen, mithilfe des Terminplaners, der im Lehrerzimmer aushängt oder online zur Verfügung gestellt wird, und mit den Terminen Ihres Partners/Ihrer Partnerin. 3. Ergänzen Sie Ihren Terminplaner durch die wichtigen, aber nicht dringlichen Termine.
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4. Tragen Sie alle wichtigen Zusatztermine wie Arztbesuche, Jubiläen, Geburtstage, … ein. 5. Kontrollieren Sie Ihre Eintragungen täglich – spätestens am Abend vorher für den nächsten Tag und am Sonntag für die kommende Woche, um einen Überblick über die anstehenden Termine zu erhalten und rechtzeitig reagieren zu können. 6. Markieren Sie wichtige Termine farblich. Dazu gehören Abgabetermine von schriftlichen Arbeiten, schriftlichen Aufgaben usw. 7. Lassen Sie bewusst Freiräume im Kalender für unvorhergesehene Ereignisse, wie einen nicht eingeplanten Arztbesuch, weil Sie erkranken oder eines Ihrer Kinder erkrankt oder eine Einladung zum Kindergeburtstag oder Kaffeeklatsch erfolgt. Ein voller Terminkalender ›erschlägt‹ einen. 8. Denken Sie daran, Sie müssen nicht alles machen, was an Sie herangetragen wird. Wenn es Ihnen zu viel wird, denken Sie an das kleine Wörtchen ›Nein‹! Verzichten Sie aber nicht auf die schönen Ereignisse: den Kaffeeklatsch bei den Kolleginnen, den Theaterbesuch mit der besten Freundin, das Doppelkopfspiel mit den Freunden oder den Fußballabend. Sie müssen den Abend/ den Nachmittag ja nicht ins Unendliche ausdehnen. Aber die kleinen Highlights geben Kraft und Zufriedenheit. 9. Führen Sie kontinuierlich ein Notenheft, sei es als Excel-Datei oder auch im Lehrerkalender, sodass Sie gegen Ende eines Schulhalbjahres bzw. eines Schuljahres alle Noten Ihrer Lerngruppen parat und abrufbereit haben. Das erspart Ihnen lästiges Suchen und stundenlanges Eintragen von Noten kurz vor den Zeugniskonferenzen. 10. Erledigen Sie Aufgaben, die von der Schulleitung verlangt werden, wie z. B. das Ausfüllen von Formularen bei Rückgabe von Klassenarbeiten, sofort. Denken Sie daran: Aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Wenn man erst nach einigen Monaten auf die Aufzeichnungen zurückgreift, bedeutet das in der Regel ein Suchen und ein erneutes Eindenken in die Ergebnisse, was Zeit kostet. Das gilt auch für das Ausfüllen von Kursheften und das Führen von Klassenbüchern. 11. Planen Sie Ihre Arbeits- und Klausurtermine rechtzeitig zu Beginn eines Schulhalbjahres. Schaffen Sie sich genug Freiräume zwischen den einzelnen Korrekturen und vermeiden Sie es, alle Arbeiten für Ihre Lerngruppen auf einmal schreiben zu lassen. Nutzen Sie die unterrichtsfreie Zeit in den Ferien zum Korrigieren, platzieren Sie, wenn möglich, die Termine vor die unterrichtsfreien Zeiten. Als GymnasiallehrerIn achten Sie auf Klausuren unter Abiturbedingungen und auf die Korrektur der Abiturarbeiten, die generell viel Zeit in Anspruch nehmen. Denken Sie daran, dass es erlassbedingte
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Korrekturzeiten gibt, die nicht überschritten werden sollten. Das kann nur gelingen, wenn man ein gutes Zeitmanagement hat. 12. Legen Sie sich am Abend einen ›Denkzettel‹ für den folgenden Tag an: Was müssen Sie wann beachten, was muss noch erledigt werden, was können Sie miteinander kombinieren (zum Beispiel auf dem Weg nach Hause den Anzug aus der Reinigung abholen)? Wen sehen Sie am nächsten Tag, den Sie z. B. in einer zu klärenden Angelegenheit ansprechen können? 13. Als ›AnfängerIn‹ ist es ratsam, sich für jede Klasse und jedes Fach am Anfang des Schuljahres einen Jahresplan anzulegen, der verschafft Überblick und erleichtert die Arbeit im darauffolgenden Jahr, wenn man konkrete Optimierungsmöglichkeiten eingebaut hat, da bereits eine Arbeitsgrundlage vorliegt. 14. Schaffen Sie sich ein Ordnungssystem – im Computer, in Ordnern, in Hängeregistern – das es Ihnen ermöglicht, Ihre Materialien, Unterrichtsentwürfe sofort zur Hand zu haben, sodass Sie nicht ewig suchen müssen. 15. Laufe nie ohne! Wie viele Wege machen Sie am Tag doppelt, weil Ihnen erst im Nachhinein auffällt, dass Sie eigentlich den Wäschekorb mit der Bügelwäsche ins Obergeschoss mitnehmen wollten oder dass die Folien für den Kopierer noch in Ihrer Schultasche stecken? Das ist zum einen natürlich eine Konzentrationssache, zum anderen aber auch eine Organisationssache. Achten Sie darauf, Dinge, an die Sie unbedingt denken müssen, so zu platzieren (z. B. auf der untersten Treppenstufe, auf der Kommode direkt neben der Tür), dass sie Ihnen direkt ins Auge fallen, wenn Sie daran vorbeigehen. Schaffen Sie Situationen, die Sie zum Handeln ›zwingen‹. 16. Überlegen Sie, ob Sie Tätigkeiten parallel erledigen können, z. B. das Abfragen der Vokabeln bei der Fahrt zum Fußballverein oder beim Bügeln?! 17. Gewöhnen Sie sich an, keinen Zettel zweimal in die Hand zu nehmen. Wenn er wichtig ist, heften Sie ihn gleich im entsprechenden Ordner ab. Ist er unwichtig, kann er im Papierkorb landen. Ihn auf dem Schreibtisch zu deponieren, ist die schlechteste Variante. Sie behalten nicht den Überblick. Das Mindeste, was Sie sich aneignen müssten, sind drei Ablagekörbe mit den Aufschriften ›Sofort zu erledigen‹, ›Innerhalb einer Woche zu erledigen‹, ›Langfristig zu erledigen‹. Es nutzt aber nichts, wenn diese sich kontinuierlich füllen, setzen Sie sich ein Zeitlimit zum Abarbeiten. Alles, was Sie innerhalb eines Schuljahres nicht mehr in die Hand genommen haben, können Sie getrost entsorgen.
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Überlebensnotwendiges
4. Arbeitstechniken und Organisations-Methoden nutzen Kreuzen Sie an, wie Sie sich selbst einschätzen! Arbeitsstrategien und Methoden ¨¨ Ich kenne verschiedene Methoden zur Optimierung meiner Arbeitsabläufe. ¨¨ Ich nutze Rituale, um mir meinen Schulalltag zu erleichtern. ¨¨ Ich kann die Distanz zur schulischen Arbeit wahren, indem ich meinen Arbeitsplatz von meinem privaten Bereich räumlich trenne. ¨¨ Ich gönne mir bewusst eine kleine Auszeit/Pause, wenn ich eine Arbeit erledigt habe. ¨¨ Ich kenne meine Schwächen und gehe dagegen an. In Anlehnung an Barsch-Gollnau et al. (2014, 7) und Miller (2010, 17)
Eine Reihe von Arbeitsstrategien wurden bereits angesprochen. Jetzt sollen Sie sich Gedanken zu Ritualen und Methoden wie der Salami-Taktik, dem ParetoPrinzip, dem Speed Reading und der Alpenmethode machen. Die Salami-Taktik geht davon aus, dass eine Aufgabe/ein Projekt in mehrere kleinere Teilschritte (Scheibchen) zerlegt wird, sodass eine Reihe von Teilerfolgen schließlich zum Ziel führt. Wichtig ist es dabei, sich Ziele zu setzen, die realistisch und in einem bestimmten Zeitrahmen auch durchführbar sind. Im Internet finden Sie eine Reihe von Vorschlägen zum Durchführen der Salamitaktik (z. B. www.ausdauerblog.de › Zeitmanagement). Demnach ist es wichtig, zunächst einmal das Ziel schriftlich zu formulieren und sich zu überlegen, was alles gemacht werden muss, um das Ziel zu erreichen. Anschließend wird die Aufgabe in Teilbereiche (Scheibchen) aufgeteilt. Auch das geschieht schriftlich. Anschließend werden auch die Teilbereiche in Teilziele zerstückelt. Für alle Teilaufgaben wird eine sinnvolle Reihenfolge des Abarbeitens (nach Priorität und eventuellen Terminen) aufgeschrieben und der Zeitbedarf festgelegt. Schließlich wird gehandelt, Teilaufgabe für Teilaufgabe erledigt. Nach jeder Teilaufgabe und damit einem Teilerfolg darf man sich belohnen. Wichtig ist es, das Gesamtziel vor Augen zu haben und nach vorne zu schauen. Liebke/Schoof-Wetzig (2010, 19) geben als Beispiel das Planen einer Klassenfahrt: Das Gesamtprojekt wird in einzelne Teilschritte (Aufgaben, die zwölf Monate vorher, fünf bis zehn Monate vorher, ein bis zwei Monate vorher, ein bis zwei Wochen vorher erledigt werden müssen) aufgegliedert. Diese werden entsprechend weiter heruntergebrochen, sodass eine Art Checkliste entsteht, die nur noch abgehakt werden muss. Genauso gut könnte auch eine Mindmap erstellt werden – wichtig ist das schriftliche Fixieren und Visualisieren.
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Renate Will, Organisieren lernen
Beim Pareto-Prinzip (80/20-Regel) geht es um die Überlegung, wie viel Zeit aufgewendet werden sollte, um eine Aufgabe optimal zu erledigen. Mittelstädt/ Mittelstädt (2013, 19) bringen es auf den Punkt, wenn sie sagen: »20 Prozent Aufwand führen demnach zu 80 Prozent Ergebnis – und die restlichen 20 Prozent Ergebnis benötigen weitere 80 Prozent Aufwand.« Das bedeutet, dass man sehr viel mehr Arbeitszeit bräuchte, um wirklich zu einem 100%igen Ergebnis zu kommen. Jede/r muss also für sich abschätzen und entscheiden, für welche Aufgabe sich dieser Einsatz wirklich lohnt. Rohnstock (2011, 99 f.) gibt eine gute Übersicht von Beispielen für den Schulalltag und regt an, alle beruflichen Tätigkeiten den verschiedenen Aufwandniveaus zuzuordnen. Sie plädiert für Mut zur Lücke als Voraussetzung dafür, gesund und motiviert den Beruf ein Leben lang meistern zu können. Geringer oder hoher Aufwand? 20 % Aufwand für:
80 % und mehr Aufwand für:
Bekannte Unterrichtsinhalte –– erprobte Unterrichtsmodule –– bewährte Kopiervorlagen und Medien
Übergeordnete und neue Planungen –– Strukturierung größerer Einheiten –– Projekte –– Planung von Klausuren
Eingeübte Schülerverantwortlichkeiten –– selbstständiges Erarbeiten von Inhalten –– Übernahme von organisatorischen Aufgaben (Moderation, Zeitwächter, Dokumentation von Ergebnissen, Nachhilfe)
Methodische und organisatorische Grundregeln –– Verhandeln und Einüben von zentralen Abläufen für das tägliche Miteinander und die konstruktive Zusammenarbeit
Tests und Korrekturen –– Multiple-choice-Verfahren –– Schablonen –– PC-Auswertung –– Stichproben bei Hausarbeiten
Wichtige soziale Kontakte; Kooperation –– Planungen und Absprachen mit Kollegen –– Konfliktklärungen –– Schüler- und Elterngespräche
Nebenarbeiten/Bürokratie –– Sammelaktionen –– Verwaltung –– Checklisten –– Wandertage –– Elternversammlungen
Wichtige Dokumentationen –– Abiturarbeiten –– Zeugnisse –– Klassenbücher –– wichtige Gesprächsprotokolle
Unwichtige Kontakte –– zeitliche Begrenzung –– Verweis auf Sprechzeiten –– Beschränkung privater Telefonate für schulische Inhalte
Bereiche besonderen Eigeninteresses –– bei besonderer Verantwortlichkeit, z. B. für eigene Arbeitsgemeinschaft
Rohnstock 2011, 99
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Überlebensnotwendiges
Wer sich zu Beginn seiner Schullaufbahn noch viel anlesen muss, sollte sich überlegen, ob er die Speed-Reading-Technik in speziellen Seminaren erlernen möchte. Sie hat den Vorteil, dass man in kürzester Zeit Texte lesen kann, was selbstredend zu einer Zeitersparnis führt. Selbst wenn man nicht direkt das Speed Reading erlernen möchte, sollte man dennoch innehalten und überlegen, wie man Texte liest. Sprechen Sie den Text beim Lesen mit? Das kostet Zeit. Lesen Sie den Text konzentriert oder schweifen Ihre Gedanken – durch das langsame Lesen – ab? Verwenden Sie beidseitige Lesehilfen (Stift oder Finger)? Damit fokussieren Sie die Augen auf den Text, was ebenfalls Zeit einspart. Sie können auch den zu lesenden Text mit einem Stift verfolgen, so werden Sie ›gezwungen‹, dem Stift zu folgen und nicht noch einmal in den Textpassagen zurückzugehen oder abzuschweifen. Untersuchungen haben gezeigt, dass man mehr vom Text behält, wenn man ihn in zehn Minuten zweimal liest, als wenn man ihn in dieser Zeit nur einmal liest. Probieren Sie es doch einfach einmal aus. Das Akronym A.L.P.E.N. in der Alpen-Methode steht für: ȤȤ Aufgaben, Termine und geplante Aktivitäten notieren ȤȤ Länge schätzen ȤȤ Pufferzeiten einplanen ȤȤ Entscheidungen treffen ȤȤ Nachkontrolle Diese Methode kommt aus dem Zeitmanagement, und da man morgens oft vor einem Berg von Aufgaben steht, die es zu überwinden gilt, hilft diese Technik beim Anfertigen von Tagesplänen und optimiert das Zeitmanagement. Die einzelnen Punkte sprechen für sich: Zunächst werden alle Aufgaben, Termine, Aktivitäten usw. notiert, die für den Tag anliegen. Anschließend weist man jeder Aufgabe, jedem Termin, jeder Aktivität usw. einen Zeitaufwand zu. Hierbei geht es nicht nur um das Abschätzen der ungefähren Dauer, sondern auch um das Zeitlimit, das man investieren möchte. In den Tagesablauf sollen Pufferzeiten eingeplant werden, die es ermöglichen, auf Unvorhergesehenes angemessen zu reagieren. Das kann ein zusätzlicher Elternbrief sein, den man schreiben muss, das kann ein krankes Kind sein, mit dem man zum Arzt muss, das kann ein Besuch bei einer erkrankten Freundin sein, das kann auch einfach die Tatsache sein, dass man im Anschluss an den Schultag so gestresst ist, dass man zunächst einmal eine Ruhepause zur Entspannung einlegen muss. Im Anschluss an die Zeitzuweisung trifft man Entscheidungen hinsichtlich des tatsächlich abzusteckenden Tagespensums. Was sprengt den Rahmen und
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Renate Will, Organisieren lernen
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muss auf jeden Fall auf den nächsten Tag/auf das Wochenende verschoben werden? Wo sind Prioritäten zu setzen? Welche Aufgaben kann man auch delegieren? Kann man eventuell doch noch Zeit einsparen? Am Tagesende findet eine Kontrolle statt, was wirklich erledigt wurde und ob die Tagesplanung tragfähig war. Aus Erfahrungen lernt man, und auch das Abschätzen von Zeiten zum Erledigen bestimmter Aufgaben ist erfahrungsabhängig. Alles, was nicht erledigt werden konnte, muss auf den nächsten Tag verschoben werden. Starten Sie einen Versuch mit der Alpen-Methode, indem Sie alle Aufgaben notieren, die Sie morgen erledigen müssen, ihnen eine Zeitdauer zuweisen und sie über den Tag verteilen. Achten Sie dabei auf die Pufferzeiten. Vergessen Sie am Abend nicht die Nachkontrolle! Und denken Sie an entspannende Momente!
Rituale erleichtern den Arbeitsprozess und geben gerade im schulischen Bereich Strukturen und Haltepunkte. Sie schaffen Ordnung und geben Geborgenheit und sorgen für Entlastung, für Automatismen. Rituale sind oft schon so selbstverständlich, dass man sich ihrer gar nicht mehr bewusst ist: das gemeinsame Abendessen, das Gute-Nacht-Lied, der Familienausflug zur Oma am Wochenende, der Cappuccino in der ersten großen Pause, das Schnitzelbrötchen aus der Mensa am Dienstag, der Stammtisch mit den MitreferendarInnen, der Besuch im Fitness-Studio oder das Tanztraining … (→ 9 Aus Unterrichtsstörungen lernen). Überlegen Sie, welche Rituale in Ihren Alltag einfließen, auf die Sie nicht mehr verzichten möchten. Denken Sie darüber nach, welche Rituale Sie mit Ihren SchülerInnen eingeführt haben. Was ist Ihnen an den Ritualen jeweils so wichtig, dass Sie sie konsequent weiter fortführen? Was würde Ihnen fehlen? Welche Rituale setzen Sie bewusst zur Entspannung, zur Belohnung ein?
Und als Letztes: Denken Sie daran, Arbeitsbereich und Lebensraum voneinander zu trennen. Setzen Sie sich Arbeitszeiten, in denen Sie ungestört ans ›Werk‹ gehen, und Zeiten, in denen Sie Freizeit haben und sich um die Familie und sich selbst kümmern können! Halten Sie die Absprachen konsequent ein! Schließen Sie die Tür, wenn Sie Ihre Arbeit für den Tag beendet haben, damit Sie den Schreibtisch mit der ›Arbeit‹ nicht mehr sehen. Schalten Sie Ihr Handy … aus, wenn Sie intensiv zu arbeiten haben und sich nicht ablenken lassen wollen.
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Überlebensnotwendiges
5. Gesundheitsmanagement So wichtig das Optimieren von Arbeitsabläufen auch ist, und so wichtig es ist, organisieren zu können bzw. zu lernen, so wichtig ist es, mit den Ressourcen, die man hat, hauszuhalten und sich bei den ganzen Forderungen, die auf einen einprasseln, auch entsprechende Grenzen zu setzen. Entspannungszeiten und Ruhephasen müssen in den hektischen Berufsalltag hineinorganisiert werden, sie sind im Tagesablauf zu terminieren. Kreuzen Sie an, wie Sie sich selbst einschätzen. ¨¨ Ich kenne meine Belastungsgrenze und setze mir gezielt Ruhepausen. ¨¨ Ich sorge dafür, dass es mir gut geht und ich mit meinen Arbeitsergebnissen zufrieden bin. ¨¨ Ich habe gelernt, auch einmal ›Nein‹ zu sagen. ¨¨ Ich werde meinen Ansprüchen gerecht. ¨¨ Ich achte darauf, dass aus Forderungen keine Überforderungen werden. ¨¨ Ich setze mir Ziele, die ich auch erreichen kann. ¨¨ Ich setze meine Kräfte effizient und energiesparend ein. ¨¨ Ich achte auf einen ausgewogenen Balancezustand zwischen eigenen Bedürfnissen und denen anderer. ¨¨ Ich kenne Entspannungsübungen, die mir gut tun. ¨¨ Ich sorge für ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Arbeit und Erholung/ Entspannung.
Wenn man möchte, kann man als Lehrkraft 24 Stunden rund um die Uhr arbeiten und wäre doch nicht ›fertig‹. Außenstehende können sich das oft nicht vorstellen – der Ruf der LehrerInnen ist allgemein bekannt. Wie schafft man es, die Freude am Beruf zu behalten, dem Burnout zu entgehen? Entscheidend ist die Einstellung zu sich selbst. Professionelles Handeln bedeutet auch, sich Entspannungsphasen zu schaffen, die den Stress abbauen und einen ausreichenden Gegenpol zum Schulalltag schaffen. Wozu sich jemand entscheidet, ist letztendlich von der Persönlichkeit abhängig: Der eine liebt die Bewegung und den Sport, der andere das Meditieren, der nächste das Lesen eines Romans (kein Schulbuch!) usw. Wer es nicht schafft, sich zu entspannen, wird auf Dauer gesehen krank. Daher der dringende Appell an Sie: Schaffen Sie sich jeden Tag eine Auszeit, suchen Sie sich gezielt Ruhephasen und Rückzugsmöglichkeiten – und wenn es nur fünf Minuten beim Trinken einer guten Tasse Tee sind – und schalten
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Renate Will, Organisieren lernen
Sie ab. Organisieren Sie Ihren Tagesablauf, Ihre Woche, Ihr Schuljahr mit den bisher genannten Anregungen und Tipps, um sich selbst zu entlasten und das Schuljahr zu entschleunigen. Und vergessen Sie nicht, sich angemessen zu belohnen – für all das, was Sie so tagtäglich wegschaffen.
6. Fazit In diesem Kapitel wurde versucht, Ihnen Anregungen und Tipps zum Erlernen besserer Organisation zu geben. Dabei kann es sich natürlich nur um eine kleine Auswahl handeln. Entscheidend sind in diesem Prozess immer die persönlichen Lebensumstände. Dennoch sind die Haltung und die Einstellung zum Beruf mit seinen Herausforderungen und zu sich selbst mit dem Recht auf ein gesundes Zeitmanagement wichtig für die Professionalität einer Lehrkraft. Wichtig ist es, eine Balance zu finden zwischen Beruf und Privatleben.
Adrian, 11 Jahre, Klasse 5
Barsch-Gollnau, Sigune/Herrmann, Volker/Rösch, Hubert/Weiss, Beate: Erfolgreich lernen – kompetent handeln, Bamberg 22014 Liebke, Georg/Schoof-Wetzig, Dieter: Leitfaden zum Berufsstart, Niedersächsisches Landesamt für Lehrerbildung und Schulentwicklung (NiLS). Hildesheim 2010 Mattes, Wolfgang: Routiniert planen – effizient unterrichten. Paderborn 2011 Miller, Reinhold: 99 Schritte zum professionellen Lehrer. Seelze 52010 Mittelstädt, Holger/Mittelstädt, Rainer: 99 Tipps Effektives Selbstmanagement. Berlin 52013 Pädagogik 1/2015: Den Lehreralltag gut organisieren. Hamburg
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Überlebensnotwendiges
Rohnstock, Dagmar: Zeit- und Selbstmanagement für Lehrende. Berlin 52011 www.absolventa.de/karriereguide/zeitmanagement/alpen-methode (letzter Zugriff am 25.03.16) www.ausdauerblog.de/salamitaktik/(letzter Zugriff am 25.03.16) www.duden.de (letzter Zugriff am 25.03.16)
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Eine Langzeitplanung anlegen Anke Meisert
In diesem Kapitel werden Sie die Bedeutung einer Langzeitplanung für Ihr eigenes Arbeiten sowie Ihre Zusammenarbeit mit KollegInnen durchdenken. Zudem werfen Sie einen Blick auf Ihre bisherigen Strategien für langfristige Unterrichtsplanung. Hiervon ausgehend können Sie dann neue Strategien dahingehend prüfen, ob sie umsetzbar und entlastend erscheinen.
1. Jenseits der Einzelstunde – das Ganze in den Blick nehmen Das Wort ›Unterrichtsplanung‹ verbindet sich für die meisten Lehrkräfte mit der Idee einer Einzel- oder Doppelstundenplanung. Das mag nicht verwundern, erhebt doch das Referendariat durch das Format der Unterrichtsbesuche die Einzelstunde zum zentralen Bezugspunkt der Ausbildung. So reiht sich oft Stundenplanung an Stundenplanung und die Langzeitplanung kommt zu kurz. Dies führt in der Regel dazu, dass Lehrkräfte über ein differenziertes Repertoire von Leitideen, Modellen, Strukturierungsansätzen und Prinzipien zur Planung von Unterrichtsstunden verfügen, aber auch nicht ansatzweise über ein entsprechendes Professionswissen zur lang- bis mittelfristigen Planung ihres Unterrichts. 1) Notieren Sie Leitideen, die Ihnen zum Thema Langzeitplanung einfallen.
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Überlebensnotwendiges
2) Wie erleben Sie die Prozesse Ihrer Langzeitplanung? Kreuzen Sie jeweils entlang der Skala an. Ich erlebe Langzeitplanung als … randständiges Element meiner Planungsarbeit
zentrales Element meiner Planungsarbeit
eher zufälligen Prozess
klar strukturierten Prozess
3) Welche Planungen nehmen in Ihrem Alltag wie viel Zeit in Anspruch?
überwiegend Stundenplanung
ausgeglichen
überwiegend Langzeitplanung
Die weitgehende Ausrichtung der Lehrerbildung auf die Planung (und Durchführung) von Einzelstunden steht in einem deutlichen Kontrast zu der Praxiserfahrung, dass der Lernerfolg von SchülerInnen ganz wesentlich von einer mittel- bis langfristig sinnvoll angelegten Lernprogression abhängt. Dies wird insbesondere durch aktuelle didaktische Ansätze wie kumulatives Lernen (Moschner et al. 2003) und Kompetenzorientierung betont, die nur durch langfristig abgestimmte Lernarrangements realisierbar werden. Passend hierzu beschäftigen sich viele angloamerikanischen Fachdidaktiken in Folge der Kompetenzorientierung schwerpunktmäßig mit sogenannten learning progressions, die das Ziel eines optimierten Lernerfolgs bezüglich mittelfristiger Lernschrittfolgen verfolgen. Obwohl die Idee lang- und mittelfristig angelegter Lehr-/Lernarrangements natürlich nicht neu ist (vgl. z. B. Bruners Spiralcurriculum), bringt die Kompetenzorientierung doch eine ganz neue Herausforderung für die Unterrichtsplanung: Da sich Kompetenzentwicklung über lange Zeiträume erstreckt und erst mithilfe einer abgestimmten Orchestrierung von Wissen, Kontexten und Fähigkeiten einstellt, bedarf es mehr denn je einer lang- und mittelfristigen Planung des Unterrichts! Soviel zur Bedeutung der Langzeitplanung für die Lernwirksamkeit des Unterrichts. Doch es gibt noch eine andere Perspektive: Alle Anfänger kennen diesen Moment in der Mitte einer Unterrichtseinheit, der ihnen sagt: Hättest du früher darüber nachgedacht, wäre es jetzt einfacher! Schnell landen wenig durchdachte Stundenfolgen in der Falle der fehlenden Abstimmung der Teilschritte aufeinander. So kann beispielsweise das Problematisierungs-
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Anke Meisert, Eine Langzeitplanung anlegen
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potenzial eines Lernschritts nicht genutzt werden, wenn zentrale Teilaspekte bereits im Vorfeld erarbeitet wurden. Auch kommt es mangels Langzeitplanung häufig vor, dass geeignete Gelegenheiten zur Einführung von Grundlagen versäumt wurden, sodass dies dann mühsam nachgeholt werden muss. Oder eine Lernerfolgskontrolle muss zu einem Zeitpunkt innerhalb der Unterrichteinheit geschrieben werden, der sich hierfür gar nicht eignet. Die Liste verschenkter Potenziale ließe sich fortsetzen und verdeutlicht, welches Qualitäts-, aber auch Entlastungspotenzial in einer durchdachten Langzeitplanung liegt. Diese Entlastung betrifft den förderlichen Lernprozess der SchülerInnen, aber auch die alltägliche Belastung der Lehrkräfte, die durch kleinschrittige Unterrichtsplanung immer wieder die Grundideen des Unterrichts neu entwickeln und u. U. nachkorrigieren müssen. Eine lang- bis mittelfristige Planung, die die Leitideen, Schwerpunkte und intendierten Progressionsverläufe im Vorfeld entwickelt, gibt auch für die vielen Schritte der Stundenplanung einen entlastenden Orientierungsrahmen, der hierdurch nicht für jede Einzelstundenplanung immer wieder neu entwickelt werden muss. So weit, so gut! Doch was ist eigentlich Langzeitplanung?
2. Was, wann, wozu? – Planungsebenen unterscheiden In diesem Abschnitt erfolgt eine Systematisierung von Planungsdimensionen, um diesen dann jeweils spezifische Planungsaspekte zuzuordnen. Sie werden hierdurch den Mehrwert einer Unterscheidung von Planungsdimensionen erkennen. Um die Dimensionen von Unterrichtsplanung kursieren Begriffe wie Langzeitplanung, Stoffverteilungsplan, Unterrichtseinheit, Unterrichtsreihe und Unterrichtssequenz sowie kurz-, mittel- und langfristige Unterrichtsplanung (hierzu systematisch auch Peterssen 2000). Die folgende Darstellung versucht, diese Begriffe in eine Ordnung zu bringen (Abb. 1). Nicht aufgeführt ist der Begriff Unterrichtssequenz, der in der Literatur uneinheitlich verwendet wird und meist eine Planungsdimension zwischen Einzelstunde und Unterrichtseinheit bezeichnet. Die Begriffe Unterrichtseinheit und -reihe werden in der Regel synonym verwendet.
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88 Planungsdimensionen:
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Planungsprodukte:
langfristig (6–24 Monate)
Stoffverteilungsplan
mittelfristig (wenige Wochen)
Unterrichtseinheiten
kurzfristig (45–90 Minuten)
Unterrichtsstunden
Planungsfreiräume:
Abb. 1: Planungsdimensionen und -produkte sowie entsprechende Planungsfreiräume
Diese Systematisierung von Planungsdimensionen wird aber erst interessant, wenn die Bedeutsamkeit der hier vorgenommenen Unterscheidungen klarer wird. Denn unabhängig von den offensichtlich unterschiedlichen Zeitpunkten des jeweiligen Planungsprozesses (Sommerferien → Kurzferien → Wochenende/ Vortag) bieten diese Planungsdimensionen z. B. sehr unterschiedliche Planungsfreiräume und entsprechende -verantwortlichkeiten. So sind die sogenannten Stoffverteilungspläne meist durch schulinterne Curricula weitgehend vorgegeben, indem Verknüpfungen von Themen bzw. Kontexten mit zu fördernden Kompetenzen sowie deren zeitliche Abfolge innerhalb von Doppeljahrgängen durch die Fachkonferenz festgelegt werden. Diese schulinternen Curricula bieten eine hilfreiche Planungsentlastung und zugleich die Basis für einen kollegialen Austausch durch eine annähernde Synchronisierung des Unterrichts (→ 3 Organisieren lernen). Auf der Ebene der Unterrichtseinheiten und Unterrichtsstunden bestehen hingegen weitreichende Entscheidungsfreiräume und damit auch Pflichten des verantwortungsvollen Planens. Während in der Ausbildung wie oben beschrieben meist die Planung von Einzelstunden im Vordergrund steht, erfordert die konkrete Unterrichtspraxis ein ebensolches selbstverantwortetes Planen auf der Ebene der Unterrichtseinheiten. Neben dem Grad von Planungsfreiräumen steckt die zentrale Bedeutung dieser Planungsdimensionen jedoch in ihrer jeweils unterschiedlichen Bedeutsamkeit für den Lernerfolg der SchülerInnen. Das Versprechen dieses Kapitels lautet also, dass eine Orientierung an solchen Planungsdimensionen sich durch höhere Planungsqualität auszahlt, die sonst in einem diffusen Einerlei des Planens von Stunde zu Stunde verloren gehen. Gibt es solche spezifische Planungsaspekte und Lernqualitäten, die den unterschiedlichen Planungsdimensionen zugeordnet werden können und somit den Mehrwert einer handlungsleitenden Unterscheidung von Planungsdimensionen versprechen?
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Notieren Sie didaktische Prinzipien bzw. übergeordnete Leitziele, an denen Sie sich in Ihren Planungsüberlegungen orientieren. Markieren Sie dann jene Prinzipien, die eine mittel- oder langfristige Planungsperspektive erfordern, da sie auf der Ebene der Einzelstundenplanung kaum realisierbar sind.
Vor allem das aktuell dominierende Prinzip der Kompetenzorientierung kann nicht auf der Planungsebene von Einzelstunden eingelöst werden. Auch viele hiermit assoziierte Prinzipien wie kumulatives Lernen und Motivation durch Kompetenzerleben erfordern eine zumindest mittelfristige Planungsperspektive. In den Planungsdimensionen dominieren also tendenziell unterschiedliche Planungsaspekte (Abb. 2). Planungsperspektive
Leitideen/Planungsaspekte
langfristig (6–24 Monate)
–– relevante Themenfelder identifizieren und in eine geeignete Reihenfolge bringen –– KC-Adäquatheit prüfen –– Altersgemäßheit bedenken –– (jahres-)zeitliche Passungen nutzen –– domänenübergreifende Lernlinien bezüglich prozess- und inhaltsbezogener Kompetenzen entwerfen –– Leistungsüberprüfungen terminieren –– Zeitplan bzw. Stundenumfang mit Terminplan der Schule abstimmen –– …
mittelfristig (wenige Wochen)
–– Schlüsselaspekte und Lernschwierigkeiten des Themenfeldes identifizieren –– spezifische Interessen und das potenzielle Vorwissen der Lernenden berücksichtigen –– Lernpfade im Hinblick auf zentrale Leitideen konstruieren –– relevante Inhalte lernförderlich mit zu fördernden Kompetenzen verknüpfen –– Phasierung der Kompetenzförderung (Einführung, Anwendung/Übung, Erweiterung) anlegen –– zwischen exemplarischem und systematisierendem Lernen wechseln –– UE durch Orientierungsschritte, sukzessive Erschließungen und abschließenden Rückblick mit eventueller Evaluation phasieren –– …
kurzfristig (45–90 Minuten)
–– stundenbezogenen Schwerpunkt setzen –– Lernweg durch Lernschrittfolge entwerfen –– geeignete Arbeitsformen und Materialien auswählen –– passendes Niveau festlegen –– geeignete Instruktionsform auswählen –– geeignetes Methodenarrangement entwickeln –– …
Abb. 2: Planungsdimensionen und entsprechende Leitideen bzw. Planungsaspekte
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3. Mittelfristig planen oder: Wie die Geschichte erzählt wird! Im Folgenden geht es darum, ein Bewusstsein für die zentralen Herausforderungen einer mittelfristigen Planung zu identifizieren. Hierdurch soll der Dschungel aus Inhalten, Kontexten und Kompetenzen gelichtet werden, um Planungszusammenhänge zu verdeutlichen. Die vorangegangenen Überlegungen haben gezeigt, dass die mittelfristige Planungsdimension für substanzielle Leitideen und Planungsaspekte zuständig ist und damit zentrale Qualitäten des Lernens zu optimieren vermag (vgl. auch Gonschorek/Schneider 2015). Hierzu können unterschiedliche Strategien des Planens beschrieben werden, die jeweils andere Planungsaspekte in den Vordergrund stellen, z. B. schülerorientiertes, inhaltsorientiertes und problemorientiertes Planen (Schnotz 2011). Heute sind jedoch zwei Planungsaspekte besonders zu berücksichtigen, die seit der Output-Orientierung immer wieder in einer falsch verstandenen Konkurrenzbeziehung zueinander diskutiert werden: Kompetenz- vs. Themenorientierung. Wird Kompetenzorientierung reduziert als das Ausbilden von Fähigkeiten und Fertigkeiten (skills) verstanden, so entstehen innerhalb der mittelfristigen Planungsdimension schnell ›mechanisch‹ aufeinander folgende Schritte der Kompetenzförderung, die die Lernenden Schritt für Schritt entlang einer virtuellen Treppe der Kompetenzstufen führen sollen: Experimentieren lernen in den Naturwissenschaften hieße dann, sukzessive den Umgang mit immer mehr Variablen zu meistern; Schreiben lernen im Fach Deutsch hieße dann, sukzessive immer komplexere Texte zu produzieren. In diesem Verständnis von Kompetenzorientierung verkommen Themen bzw. Inhalte zu Vehikeln der Kompetenzförderung. Dies ist ein Irrweg, denn es gilt: Kompetenzen sind gebunden an Wissen, und Wissen ist inhalts-, kontext- und themengebunden. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass unterschiedliche Themen und Kontexte ein jeweils unterschiedliches Potenzial zur Förderung der Kompetenzen haben, sodass eine gelingende Kompetenzförderung nur durch geeignete Verknüpfungen relevanter Inhalte bzw. Kontexte mit den zu fördernden Kompetenzen zu erreichen ist (Abb. 3). Die Bedeutung der Kontexte ergibt sich jedoch nicht nur durch diese simple Mittel-zum-Zweck-Relation zur Kompetenzförderung, sondern geht weit darüber hinaus. Denn es sind in der Regel die Themen und Kontexte mit ihrer spezifischen Interessantheit, die das Lernen durch ihre Bedeutungsdimension fördern: Lernende wollen nicht adressatenbezogen schreiben, sondern Briefe aus dem Urlaub an ihre Freunde verfassen; sie wollen nicht Experimentieren lernen, sondern verstehen, wie sich die Pflanzen ernähren. Doch auch dieser
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Anke Meisert, Eine Langzeitplanung anlegen
licht rmög
Wissensaufbau
fundie
Relevanzerleben
fördert
Bedeutungsdimensionen
prägt
e Kontext/ Inhalte
vermittelt
biete
t
rt Kompetenzentwicklung
Kompetenzentwicklung wird wesentlich durch Kontexte/Inhalte beeinflusst Abb. 3: Zusammenhang zwischen Inhalten bzw. Kontexten und der daran gekoppelten Kompetenzentwicklung
Fokus auf inhaltsbezogenes und bedeutungsvolles Lernen steht in einer gewissen Zweck-Mittel-Relation zur Kompetenzförderung – also doch alle Inhalte nur zum Zwecke der Kompetenzförderung? Ein klares Nein! Denn nochmals, Kompetenzen sind themen- und kontextgebunden. Der Kontext mit seinen spezifischen Inhalten und Bedeutungsträgern prägt somit das Wissen und die hieran gebundenen Kompetenzen ganz wesentlich. So sind die Kontexte nicht nur die Katalysatoren der Kompetenzentwicklung, sondern markieren die daran gekoppelten Bedeutungsdimensionen. Es macht einen großen Unterschied, ob das Konzept der Verteilungsgerechtigkeit im Kontext des Gesundheitswesens einer Wohlstandgesellschaft thematisiert wird oder zur Ernährungssituation in kolonialistisch geprägten Kulturen. Hieraus folgt: Wenn der thematische Kontext die Bedeutungsdimensionen einer Kompetenz und das ihr zugrundeliegende Konzeptverständnis bestimmt, dann sind die Kontexte bzw. Inhalte selbst bildungsprägend (siehe Abb. 4). Kompetenzorientierung stellt somit eine besondere Herausforderung an eine lang- und mittelfristige Planungsstrategie dar (Suwelack 2010), sodass in Ergänzung zu den Ansätzen von Schnotz (2011) eine kompetenzorientierte Strategie des Planens ergänzt werden sollte, die in Abschnitt 4 genauer ausgeführt wird. Und die Bedeutung der Inhalte, Themen und Kontexte geht sogar noch einen Schritt weiter: Nicht nur ihr generelles Potenzial zur Förderung von Kompetenzen ist zu berücksichtigen, auch die Abfolge, mit der Themen schrittweise erschlossen werden, hat weitreichende Folgen für das Verständnis, das die Lernenden hieran ausbilden. So dominieren im Verständnis z. B. häufig jene Aspekte eines Themenkomplexes, die sehr früh erschlossen werden. Ein Beispiel zur Verdeutlichung: Zum Thema Fotosynthese wird häufig zunächst der Aspekt der Sauerstofffreisetzung in den Vordergrund gestellt und dann auch wiederholt
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ns kto lan t s P üpf t de verkn ä t i l obi rung Imm Zonie ch dur ng mit e
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Kontext See
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vor Sch allem ads du toff rch ein sek träg und eg epr äre ägt
Nahrungsbeziehungen analysieren Zonierung modellieren Stoffkreisläufe anwenden anthropogene Einflüsse analysieren und bewerten
dur ch seh Alltag r zu sw gän isse glic n h
niedrigsc hwel vertikale lig durch rein Anordnun g
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Kontext Wald
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Abb. 4: Konkretes Beispiel für spezifische Potenziale und Limitierungen zweier Kontexte zur Förderung ausgewählter Kompetenzen im Themenfeld Ökologie
als Indikator für Fotosynthesemessungen genutzt. Hierdurch entsteht bei Lernenden oftmals das Verständnis, dass die Sauerstofffreisetzung das wichtigste Merkmal der Fotosynthese darstellt, obwohl diese aus physiologischer Sicht ein Abfallprodukt darstellt. Ebenso kann das Verständnis von historischen Epochen ganz wesentlich dadurch geprägt werden, welcher Aspekt bei der Erschließung zunächst in den Vordergrund gestellt wird. Einen ähnlich großen Einfluss hat die engere Verknüpfung von Themen; wird beispielsweise das Thema HIV in enger Verbindung zu Sexualerziehung vermittelt, erhöht sich in der Regel die Wahrnehmung dieser Krankheit als Problem für Sexualität und Partnerschaft. Wird es hingegen eng mit dem Themenkomplex Immunbiologie verbunden, dominiert der immunbiologische Zugang. Nicht nur die Auswahl, sondern auch wann und in welchen Verbindungen Themen erschlossen werden, hat großen Einfluss auf die Lernergebnisse. Ein Identifizieren zentraler Schlüsselaspekte und ihre Positionierung innerhalb einer Unterrichtseinheit sowie entsprechend durchdachte Verknüpfung sind somit essenziell für eine gelingende Planung. Deshalb erfordert auch schon das mittelfristige Planen ein tiefes Verständnis der fachlichen Zusammenhänge, die ein Themengebiet prägen. Der Planende ist schon hier als Experte der Sache und des Lernens gefordert, um eine gute Geschichte erzählen zu können.
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4. Von der Idee zum Plan – kompetenzorientiert planen Im Folgenden geht es darum, eine Vorgehensweise beim Anlegen einer mittelfristigen Planung zu konkretisieren, um den oben diskutierten Abstimmungen zwischen der Inhalts- und Kompetenzdimension des Lernens gerecht zu werden. Die bisherigen Überlegungen zur Langzeitplanung haben gezeigt, dass diese konstitutiv für eine gelingende Kompetenzorientierung ist und dass das Gelingen der Kompetenzorientierung wiederum abhängig ist von den entsprechenden Lernkontexten. Die zentrale Herausforderung der mittelfristigen Planung liegt dementsprechend in der oben bereits erwähnten Passung zwischen diesen Kontexten und Inhalten mit den zu fördernden Kompetenzen. Und wenn zwei Kategorien in einem Prozess aufeinander abzustimmen sind, stellt sich automatisch die Frage: Womit fange ich an? So harmlos diese Frage daherkommt, so tiefgreifend spaltet sie die Bildungswelt. Da sind die einen, die vehement an einer Themen- bzw. Inhaltsorientierung festhalten, und die anderen, die eine konsequente Ausrichtung allen Planens auf zu fördernde Kompetenzen fordern. Doch wie die bisherigen Überlegungen gezeigt haben, lassen sich diese Aspekte nicht voneinander trennen, sondern müssen in einer Hand-in-Hand-Planung realisiert werden. Das macht es zunächst etwas komplizierter, führt aber dann direkt zu tragfähigen Ergebnissen. Ein solches Hand-in-Hand-Planen hört sich nun aber wieder nur theoretisch gut an, denn im Prozess des Planens kann nicht alles gleichzeitig durchdacht werden; Hand in Hand muss also operationalisierbar bleiben. Dies kann man sich so vorstellen, dass im Planungsprozess wechselnde Planungsperspektiven eingenommen werden, die in bestimmten Schritten eine Abstimmung erfordern. Die in Abb. 5 vorgestellten Planungsschritte sind hierbei als Modell zur Orientierung zu verstehen, das mögliche Abfolgen und Zusammenhänge zwischen Teilschritten des Planens entwirft. Hierbei gilt: Der reale Prozess ist immer anders! D. h., dass es nicht darum geht, diese Schritte als Schema abzuarbeiten. Vielmehr sollen sie dazu dienen, im eigenen Planen neue Anregungen, Ansatzpunkte, Perspektiven oder Erinnerungshilfen zu bekommen. Im besten Falle entsteht durch die Auseinandersetzung mit dem Modell ein Metastrategiewissen, ein Wissen über verschiedene Planungsaspekte und ihre Bedeutung für das Planungsergebnis, die dann passend zur jeweiligen Planungsprogression berücksichtigt werden. Und die SchülerInnen? Die bisherigen Überlegungen könnten den Eindruck erwecken, als spiele der Blick auf die Lernenden im Rahmen der mittelfristigen Planungsdimension keine oder nur eine nachgeordnete Rolle. Der Blick auf die Lernenden ist jedoch nicht als weitere Perspektive zu verstehen, sondern spielt bei allen entworfenen Planungsschritten jeweils eine zentrale Rolle. So sind
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alle inhaltsbezogenen Planungsüberlegungen im Lichte von Anschlussfähigkeit, Zugänglichkeit und Interessantheit für die Lernenden zu reflektieren, während die kompetenzbezogenen Überlegungen auf der Grundlage von lernerbezogenen Kompetenzentwicklungsmodellen stattfinden und auf Möglichkeiten lernerseitigen Relevanzerlebens zielen. Eine aktive Einbindung der Lernenden in die Planung einer Unterrichtseinheit als weiterführende Dimension des Planens wird in Abschnitt 6 vorgestellt. schülerbezogene Planungsperspektive themenbezogene Planungsperspektive:
kompetenzbezogene Planungsperspektive:
Themenfeld/ zentrale Inhalte klären s
relevante Kompetenzen auswählen s
Leitideen der Unterrichtseinheit festlegen s
Abstimmung
mögliche Teilschritte der Kompetenzförderung identifizieren s
mögliche Kontextuierungen auswählen s
Abstimmung
Potenziale der Kontexte für Kompetenzförderung reflektieren s
este Abfolge der Themen(-aspekte) entwerten s
Abstimmung
Schritte der Kompetenzförderung den Themen zuordnen s
Phasierung der Themenfolge bzgl. Einführung, Fortführung und Abschluss
Abstimmung
Phasierung in einführende, erweiternde und anwendende Schritte
Abb. 5: Teilschritte bzw. Aspekte themen- und kompetenzbezogener Planungsüberlegungen sowie deren Abstimmung aufeinander
5. Alternativüberlegungen als Entscheidungshilfe nutzen Der folgenden Abschnitt widmet sich der Frage, welchen Charakter Planungsentscheidungen haben und wie angesichts dessen begründete Entscheidungen herbeigeführt werden können. Die bisherigen Überlegungen zielten vor allem darauf, den Prozess des Planens zu strukturieren: verschiedene Ebenen des Planens zu unterscheiden, Zusammenhänge zwischen Planungsaspekten zu verdeutlichen und hierbei stets die Funktion all dessen nicht aus den Augen zu verlieren. Doch genau genommen ist durch solche Überlegungen noch kein einziger Planungsschritt
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umsetzbar geworden, denn im Kern geht es beim Planen um Entscheidungen, Entscheidungen und nochmals Entscheidungen. Und diese Entscheidungen haben es in sich: Es geht fast nie um falsche oder richtige Lösungen, sondern stets um mehr oder weniger passende Wege (Besser-als-Urteile) im Hinblick auf bestimmte Rahmenbedingungen und Zielsetzungen angesichts einer Vielzahl von Kriterien. Dies macht Planungsentscheidungen so komplex, dass auch Sie sicher schon oft mit gerauften Haaren am Schreibtisch saßen und händeringend nach Lösungen suchten, während Arbeitsstunde um Arbeitsstunde an Ihnen vorbeizog. Wie können also Entscheidungen trotz der Komplexität des zu entscheidenden Gegenstands herbeigeführt werden? Hier hilft ein Blick in den Alltag. Stellen Sie sich einen Kaufvorgang vor: Sie stehen vor einem konkreten Angebot, das manche Ihrer Ansprüche erfüllt und andere nicht, der Preis scheint in Ordnung. Entscheiden Sie sich? In der Regel noch nicht. Sie schauen sich ein Alternativangebot an, wägen die Vor- und Nachteile im Vergleich zum anderen ab. So schauen Sie sich noch weitere Angebote an und am Ende kommen Sie in der Regel zu einer deutlich sichereren Entscheidung, selbst wenn Sie beim ersten Angebot bleiben. Sehr ähnlich verhält es sich mit Planungsprozessen, nur dass Sie Ihre Alternativangebote in der Regel selbst entwickeln müssen. Erst der Vergleich einer Planung mit einer oder besser mehreren anderen Alternativen ermöglicht das relative Besser-als-Urteil. Damit besteht eine wesentliche Herausforderung darin, zu der ersten Planungsidee Alternativen zu entwickeln. Hierbei können die von Schnotz (2011) vorgenommenen Unterscheidungen einer inhaltsorientierten, schülerorientierten oder problemorientierten Planungsperspektive helfen: Welche Reihenfolge der Teilthemen ergibt sich, wenn die Abfolge primär auf einen fachsystematischen Aufbau zielt? Welche Veränderung der Reihenfolge ergibt sich, wenn Lebensweltbezüge und Schülerinteressen im Vordergrund der Überlegungen stehen? Durch welche Reihenfolge könnten Problematisierungspotenziale besonders genutzt werden? Ein weiterer, sehr wichtiger Weg hin zu Alternativüberlegungen ist der Austausch mit KollegInnen; diese bieten nicht nur alternative Wege, sondern auch entsprechende Begründungen, sodass eine gemeinsame mittelfristige Unterrichtsplanung häufig sehr viel schneller zu aspektreichen und fundierten Planungsergebnissen führt als das individuelle Konzipieren. Der kollegiale Austausch bietet sich zudem besonders auf der mittelfristigen Planungsebene an, da direkt an die ohnehin gemeinsame Planungsebene des schulinternen Curriculums angeknüpft werden kann. Hierbei können durch vergleichbar strukturierte Unterrichtseinheiten auch zentrale Materialien und Klassenarbeitskonzepte der alltäglichen Vorbereitungsarbeit zeitoptimierend ausgetauscht werden. Und zudem berührt die mittelfristige Planungsebene auch noch nicht die konkreten
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Unterrichtsinszenierungen, die die Lehrenden auch auf ihre eigenen Präferenzen für Medien, Interaktionsformen u. ä. abstimmen. Nehmen Sie sich eine aktuelle Unterrichtseinheit vor und entwickeln Sie sukzessive mindestens drei Alternativen für die Themenabfolge. Wählen Sie eine Variante aus und notieren Sie erste Begründungen im Vergleich zu den Alternativen.
6. Visualisierungen nutzen Im Folgenden werden zwei einfache Visualisierungsansätze vorgestellt, die dabei helfen, den Planungsprozess sukzessive zu unterstützen und das Planungsergebnis darzustellen. Wenn viele Teilaspekte aufeinander abgestimmt werden müssen, dann helfen in der Regel flexible Visualisierungshilfen. Je nach individuellen Vorlieben sind das einfache Zettel auf dem Tisch, Post-its an der Wand oder Textbausteine am Bildschirm. Verschiedene Farben können dabei helfen, die Planungsperspektiven leicht erkennbar voneinander zu trennen. Und dann geht’s los! Starten Sie einfach dort, wo Sie sich schon über Teilschritte im Klaren sind. Meist haben Planende erste Kernideen zu einer Unterrichtseinheit: einen zentralen Text, eine bahnbrechendes Experiment oder ein bestimmtes Modell. Nutzen Sie diese ersten Ideen als Kristallisationspunkte Ihres weiteren Planens. Gehen Sie dann z. B. auf eine höhere Planungsebene und klären, welche zentralen Leitideen darüber hinaus noch wichtig sind. Oder gehen Sie zunächst auf der Ebene konkreter Arbeitsweisen weiter und ergänzen Sie zusätzliche Schritte einer entsprechenden Kompetenzförderung. Die Vorwärts-/Rückwärts- und Hinauf-/Hinunterwege einer kohärenten Planung sind vielfältig und werden gerade darin durch visualisierende Strukturierungshilfen entlastet. Wenn Sie dann bei ersten substanziellen Abfolgen der Themen und Verknüpfungen mit den (Teil-)Kompetenzen angekommen sind, geht’s in die Alternativen. Tauschen Sie Zettel noch einmal aus, schieben Sie das Ende noch einmal an den Anfang oder in die Mitte, lösen Sie Verknüpfungen noch einmal auf und
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kreieren sie neue. Wenn es zu unübersichtlich wird, das Ganze duplizieren und die Alternativen nebeneinander legen. Entscheiden Sie sich für ein Visualisierungsmedium und legen Sie eine Planung für eine Ihrer aktuellen Unterrichtseinheiten an, die zwischen einer themen- und kompetenzbezogenen Planungsperspektive unterscheidet. Reflektieren Sie die Vor- und Nachteile dieser Strukturierung und Visualisierung.
Die ›Zettelwirtschaft‹ ist eine gute Hilfestellung für die ersten explorativen Schritte des Planungsprozesses, aber keine Strategie, um Detailüberlegungen zu strukturieren oder das Planungsergebnis zu dokumentieren. Für den fortgeschrittenen, zunehmend systematischen Planungsprozess bieten sich daher differenziertere Darstellungsformen an. Diese können darüber hinaus auch als Kommunikationsinstrument genutzt werden, wenn z. B. ein Austausch zwischen KollegInnen einer Fachgruppe über die Struktur von Unterrichtseinheiten erfolgen soll oder eine entsprechende Dokumentation in Unterrichtsentwürfen. Die hier vorgestellte Struktur folgt der bisherigen Idee einer Verknüpfung zwischen der Themen- und der Kompetenzebene. Bezüglich der Kompetenzebene ist es darüber hinaus wichtig, im Sinne der nationalen Standards zwischen inhalts- und prozessbezogenen Kompetenzen zu unterscheiden. Da die Förderung beider Kompetenzarten eng mit den Themen bzw. Kontexten verknüpft ist, bietet sich eine Darstellungsweise an, die eine zentrale Themenfolge entwirft und beidseitig flankierend die jeweiligen Schritte der Kompetenzförderung konkretisiert (Abb. 6). Diese Grundstruktur kann weiter ausdifferenziert als Tabelle dargestellt werden (Abb. 7). Diese Tabelle konkretisiert hinsichtlich der Kompetenzen über die KC-Vorgaben hinaus den genauen Kompetenzaspekt, der gefördert werden soll, und unterscheidet zwischen einführenden, erweiternden und anwendenden Phasen der Kompetenzförderung. Abb. 8 zeigt ein konkretes Beispiel hierzu.
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inhaltsbezogene (Teil-) Kompetenz Y – Einführen
å
inhaltsbezogene (Teil-) Kompetenz Y – Anwenden
Themenaspekt 1
å
Themenaspekt 2
å
Themenaspekt 3
inhaltsbezogene (Teil-) Kompetenz Y – Einführen
prozessbezogene (Teil-) Kompetenz X – Einführen
å
prozessbezogene (Teil-) Kompetenz X – Anwenden/Üben
å
Themenaspekt 4
å
Themenaspekt 5
prozessbezogene (Teil-) Kompetenz X – Erweitern
å
å
Abb. 6: Darstellungsstruktur zur Verknüpfung einer Themenabfolge mit flankierenden Schritten der Förderung prozess- und inhaltsbezogener Kompetenzen
inhaltsbezogene Kompetenzen KCBezug (*/**/***)
spezifischer Kompetenzaspekt (*/**/***)
Hier werden die inhaltsbezogenen Kompetenzen genannt, die im KC aufgeführt sind. Hier wird genauer der zu fördernde Teilaspekt der inhaltsbezogenen Kompetenz spezifiziert.
Struktur der Unterrichtseinheit Abfolge der Unterrichtsthemen mit Hinweisen auf zentrale Kontexte, Arbeitsweisen, Medien o. Ä.
Hier wird die thematische Struktur der UE in Form einer Abfolge der Teilthemen dokumentiert und ggfs. durch Hinweise auf zentrale Kontexte, Arbeitsweisen u. a. konkretisiert.
prozessbezogene Kompetenzen spezifischer Kompetenzaspekt (*/**/***)
KCBezug (*/**/***)
Hier werden die prozessbezogenen Kompetenzen genannt, die im KC aufgeführt sind. Hier wird genauer der zu fördernde Teilaspekt der prozessbezogenen Kompetenz spezifiziert.
Abb. 7: Kompetenzorientierte Planung, die zwischen einführenden (*), erweiternden (**) und anwendenden (***) Phasen der Kompetenzförderung unterscheidet.
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3. Phasen der Herztätigkeit a. …
2. Aufbau des Herzens (90 Min.) A – Zweikammerigkeit i. Hypothesen zum Aufbau des Herzens ii. Überprüfung am realen Herz (Demo) B– Herzklappen iii. Schlauch-Modell zur Fließrichtung iv. S -Präparation Herz – Strukturen identifizieren, die als Ventil fungieren v. W iederholung am Struktur-Modell
Zweikammerigkeit als strukturelle Passung zum doppelten Kreislaufsystem*
Herzklappen als funktionale Struktur zur Sicherung der Fließrichtung des Blutes*
1. S truktur des doppelten Kreislaufsystems – Wie kommt der Sauerstoff aus den Lungenkapillaren in die Beinmuskeln? (90 Min.) a. Erhebung von Schülervorstellungen zur Struktur des Gefäßsystems per Zeichnungen b. Animation zum realen Verlauf auswerten c. schematische Darstellung zum doppelten Kreislaufsystem (ohne Struktur des Herzens)
Abfolge der Unterrichtsthemen (45 oder 90 Min.) mit Hinweise auf zentrale Kontexte, Materialien, Arbeitsweisen, Medien o. Ä.
Struktur der Unterrichtseinheit:
doppelten Kreislauf als funktionale Struktur zur Verbindung von Stoffaufnahme (Lungenkr.) und Verteilungssystem im Körper (Körperkr.)*
spezifische Kompetenzaspekte (*/**/***)
Jahrgangsstufe/ Länge der Einheit: 8/12 Std.
Abb. 8: Exemplarische Ausarbeitung der Sequenzplanung zum Thema ›Blutkreislauf‹
FW 1.1 »erläutern den Zusammenhang zwischen der Struktur von Geweben sowie Organen und ihrer Funktion«**
FW 2.1 »erläutern das Zusammenspiel verschiedener Organe im Gesamtsystem«*
KC-Kompetenz (*/**/***)
inhaltsbezogene Kompetenzen
Titel der Einheit: Der Blutkreislauf als zentrales Verteilungssystem des Körpers
OrganPräparation*
Modellexperiment
zeichnerische Hypothesenbildung, in enger Anlehnung an die bekannte Struktur des Kreislaufsystems**
auf Alltagsvorstellungen basierende zeichnerische Darstellung räumlicher Zusammenhänge*
spezifische Kompetenzaspekte (*/**/***)
EG 2.4 »präparieren ein Organ«*
EG 2.3 »Experimente durchführen«***
EG 2.1 »Fragen und Hypothesen entwickeln«**
KC-Kompetenz (*/**/***)
prozessbezogene Kompetenzen
Evaluation der Schülerleistungen: schriftliche Klassenarbeit
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7. Lernende als PlanerInnen ihres Lernprozesses – die Metaplanmethode Die Einbeziehung der Lernenden in die Gestaltung ihres Lernprozesses stellt heute eine nahezu selbstverständliche Forderung dar, wird aber überwiegend im Rahmen von Einzel- bzw. Doppelstunden (z. B. durch lernerseitige Entwicklung der Fragestellung und der Analyseschwerpunkte zu einem Material) oder in explizit projektorientierten Phasen (in der Regel durch kleingruppenbezogene Planung des Lernprozesses) umgesetzt. Doch auch die mittelfristige Planungsdimension bietet großes Potenzial, die Lernenden in die Planung einzubeziehen, indem sie eigene Ideen zu relevanten Aspekten eines Themengebietes und eine mögliche Abfolge ihrer Bearbeitung entwickeln. Diese Einbeziehung bei Was? und In welcher Reihenfolge? verspricht eine Vielzahl positiver Effekte auf das Lernklima und den Lernerfolg: ȤȤ Motivation durch erhöhte Selbststeuerung (→ 2 SchülerInnen motivieren) ȤȤ frühe Aktivierung und explizite Berücksichtigung des Vorwissens ȤȤ hohe Transparenz und Plausibilität der Themenabfolge durch die gemeinsame Entwicklung → Metaperspektive auf das zu Erlernende ȤȤ positives Lernklima durch Öffnung für Schülerfragen und -sichtweisen von Anfang an … Die Liste zeigt bereits, dass Schwergewichte von Lernqualität in Bewegung kommen, wenn Lernende in die mittelfristige Planung des Unterrichts einbezogen werden. Doch gleichzeitig stellen sich bei den Planenden auch (zumindest zunächst) berechtigte Zweifel ein: ȤȤ Wie können dennoch KC-Vorgaben eingehalten werden? ȤȤ Was ist zu tun, wenn Lernende abwegige Themen und Abfolgen vorschlagen? ȤȤ Wie ist dieser Prozess überhaupt konkret umsetzbar? Die berechtigten Bedenken lassen sich durch zwei wesentliche Grundorientierungen auffangen: 1. Die Planung der Lernenden ist als ein Aushandlungsprozess zu verstehen, an dem die Lehrkraft partizipiert und als Experte des Lernens fungiert. Ziel des gemeinsamen Planes ist es also nicht, die Ideen der Lernenden 1:1 umzusetzen; aber auch nicht, diese so zu überformen, dass von ihnen substanziell nicht mehr übrigbleibt. 2. Der gemeinsame Planungsprozess erfordert entlastende Umsetzungsmethoden, die eine gemeinsame Ideenfindung, Meinungsbildung und Zielabsprache in Gruppen ermöglicht. Hierzu bietet sich eine Moderation über die Meta-
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planmethode an, die auf gruppenbasierte Klärungsprozesse dieser Art zielt und sehr gut für entsprechende Unterrichtsprozesse adaptiert werden kann (Janisch 1987). Die Metaplanmethode bietet vielfältige Variationsmöglichkeiten bezüglich der Klärungsschritte und Visualisierungshilfen. Im Hinblick auf eine gemeinsame mittelfristige Unterrichtsplanung kann das folgende Vorgehen sinnvoll sein; die durch * markierten Schritte erfordern eine erhöhte Steuerung durch die Lehrkraft, um die Einbeziehung essenzieller Themen und eine progressionsförderliche Abfolge zu gewährleisten. Klärungsschritt
Visualisierung
Ermittlung themenbezogenen Vorwissens und entsprechender Klärungsinteressen p Aufbau des Themenpools s
Kartenabfrage s
Strukturierung des Wissensund Fragenpools s
Karten clustern s
interessengeleitete Gewichtung der Themencluster/-fragen s
Punkte kleben s
aushandlungsbasierte Selektion* relevanter Themen s
Nicht relevante Karten entfernen/separieren s
mögliche Schrittfolgen* diskutieren
Karten anbzw. umordnen
Abb. 9: Planung einer Unterrichtseinheit durch Lernende. Ein Beispiel aus dem Fach Deutsch
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Würde ich/Würden wir uns anders verhalten als die Güllener? Güllen als Ort der Handlung
Warum sagt niemand etwas im Prozess? Rolle des Lehrers (wie im Prozess)?
Ist Mord hier gerechtfertigt?
1
1
Die Güllener
Verführbarkeit der Menschen durch Geld (Verrat menschlicher Ideale)
Güllen = Gülle? Würdet ihr in Güllen leben wollen?
Warum wird Ill schuldig gesprochen? Ist Claire (noch) Klara? Warum »Klärchen«?
3
Wandel Ills
… im Verhältnis zu Ill
Menschenleben = »1 Milliarde«?
Umgang mit Schuld (Ills Schuld und Schuld der Güllener, z. B. Lehrer und Bürgermeister)?
Bedeutung des Panthers
Was sollen die Lieder (nach dem Tod des Panthers und das am Ende)?
… im Verhältnis zu Claire
Rache?! Warum flieht Ill nicht (Rolle des Mannes)?
2
Gerechtigkeit als Thema (Bürgermeister, Claire etc.)
Was ist gerecht?
Warum schreibt der so?
Geld/ Macht Detailfragen
Ist Claire eine Frau ohne Seele/Gefühle?
4
Moral/ Gewissen
übergeordnete Fragen
Ist das (noch) modern? Ist das realistisch?
Was für eine Art von Drama ist das? Ist das überhaupt eines? Teilweise ganz anders.
Abb. 10: Sequenzplanungsergebnis zur Lektüre Besuch der alten Dame, bei der SchülerInnen für sie interessante Themen und Fragen notiert, geclustert und mit Überbegriffen versehen haben, um dann eine Bearbeitungsreihenfolge festzulegen
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Anke Meisert, Eine Langzeitplanung anlegen
Was noch zu sagen bleibt: Die Planung einer Unterrichtseinheit durch Lernende ersetzt nicht die eigenen Vorüberlegungen hierzu. Vielmehr erfordert sie diese sogar in besonderer Weise, denn Sie können als Lehrkraft die Überlegungen der Lernenden nur dann sinnvoll begleiten, wenn Sie vorher essenzielle Schlüsselaspekte des Themengebietes sowie entsprechend progressionsrelevante Zusammenhänge reflektiert haben. Nur dann können Sie den Lernenden so viel Raum wie möglich geben und Ihre Steuerung auf ein Minimum reduzieren. Wenn diese Steuerung den Prozess nicht dominiert, dann zeigt die Erfahrung, dass die Lernenden das nicht als Übergriff erleben, sondern als oft willkommene Ergänzung und Absicherung ihrer Überlegungen. Und nicht zuletzt: Meist macht es allen Beteiligten auch Spaß!
Emmeli, 11 Jahre, Klasse 5
Gonschorek, Gernot/Schneider, Susanne: Einführung in die Schulpädagogik und die Unterrichts Heißler, Jeannette/Hiebl, Petra: Kompetenzorientierte Unterrichtsplanung. Kronach/Köln 2016 Peterssen, Wilhelm H.: Handbuch Unterrichtsplanung. Grundfragen – Modelle – Stufen – Dimensionen. München 2000 Schnotz, Wolfgang: Pädagogische Psychologie kompakt. Weinheim 2011 Suwelack, Winfried: Lehren und Lernen im kompetenzorientierten Unterricht. MNU 63/3 (2010), 173–182 Wahl, Diethelm: Lernumgebungen erfolgreich gestalten: Vom trägen Wissen zum kompetenten Handeln. Bad Heilbrunn 2013
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Eine Stunde planen Christiane Pihet
Gibt es so etwas wie ein Minimalrezept für eine Unterrichtsstunde? Eine Grundstruktur, die sich immer wieder anwenden lässt? Die gute Nachricht: Ja, das gibt es. Die noch bessere Nachricht: Dieses Grundrezept lässt sich erweitern, verändern, optimieren – kurz: flexibel gestalten. Deshalb bekommen Sie in diesem Kapitel Hilfen für die Grundkonzeption einer Stunde, damit Sie zu Beginn Ihrer Unterrichtstätigkeit sofort handlungsfähig sind. Im Anschluss daran werden weitere Wege und Varianten aufgezeigt, wie Sie Ihren Unterricht auf Dauer – auch für Sie selbst – abwechslungsreich, spannungsvoll und damit immer professioneller gestalten können. Was halten Sie von der Aussage: »Der erste Eindruck bleibt haften«, oder noch ausschließlicher: »Es gibt keine zweite Chance für einen ersten Eindruck«? Wo auf der Skala würden Sie Ihr Kreuzchen setzen? Trifft zu o o o o o o trifft gar nicht zu
Ich hoffe, Ihr Kreuzchen sitzt nicht ganz links, denn das würde bedeuten, dass Sie Ihrer ersten Stunde mit einer recht großen Anspannung entgegensehen dürften. Meines Erachtens gelten diese Aussagen eher für Vertreter, Verkäufer oder Redner, die nur kurz in Kontakt mit ihrem Publikum treten und die nur diesen einen Kontakt und damit sehr begrenzte Möglichkeiten haben, um ihr Ziel zu erreichen. Deshalb gleich zu Beginn eine erste entlastende Tatsache: Die erste Stunde muss nicht perfekt sein (was immer das auch heißen mag). Sie haben noch viele weitere Stunden zusammen mit den SchülerInnen, in denen sich der erste Eindruck in die ein oder andere Richtung entwickeln wird. Und die zweite Tatsache: SchülerInnen legen Sie nie auf den ersten Eindruck fest, dazu werden Sie zu lange miteinander arbeiten – oder können Sie sich noch an die erste Stunde in Ihrer fünften Klasse erinnern? Der erste, möglicherweise sehr gute Eindruck ist schnell verflogen, wenn der folgende Unterricht nicht trägt. Er kann sich aber festigen, wenn die folgenden Stunden den ersten Eindruck bestätigen.
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Christiane Pihet, Eine Stunde planen
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Ich behaupte, je uneingeschränkter Sie diesem Satz zustimmen, desto höher der Anspruch und damit der Druck, in dieser einen ersten Stunde alles geben zu müssen. Eine Stunde ist nur ein Teil einer Sequenz und damit einer längeren Beziehung zwischen Lehrkraft und Lernenden, welche sich immer wieder in neuen Stunden in die ein oder andere Richtung stabilisieren und verändern kann. Nichtsdestotrotz ist der erste Eindruck der SchülerInnen, ist Ihre erste Unterrichtsstunde etwas Besonderes. Sie möchten natürlich gerade in der ersten Stunde Interesse für Ihr Fach wecken, Motivation für die Inhalte schaffen und möglichst als ›gute‹ Lehrerin, ›guter‹ Lehrer wahrgenommen werden; Sie möchten freundlich, gerecht und schülerzugewandt agieren. Und Sie möchten, dass die SchülerInnen viel und gern bei Ihnen lernen. (Hier könnten Sie nochmals die Skala oben bemühen: Trifft diese Aussage auf Sie zu – gar nicht zu? Sie ist ein Indikator für den Anspruch, den Sie an sich haben …). Vor einer ersten Stunde stellen sich viele Fragen: Welche Inhalte soll ich vermitteln? Wie bereite ich das auf? Was müssen die SchülerInnen wissen? Wie lege ich eine Stunde an? Was mache ich, wenn ich länger brauche und meine Inhalte nicht schaffe? Was, wenn ich zu früh fertig bin? Wie reagiere ich, wenn mir niemand zuhört, wenn die Schüler stören? Welche Hausaufgaben gebe ich – muss ich eigentlich immer welche geben? Welche Methoden sind angesagt, welche sind effektiv? Und: Wie lege ich meine allererste Stunde eigentlich an? Gibt es da vielleicht Listen, woran eine junge Lehrkraft denken muss?
1. Erste Stunden Zunächst einmal gibt es mehrere Arten von ersten Stunden: Eine erste Stunde kann eine allererste Stunde überhaupt im Referendariat sein, im eigenverantwortlichen Unterricht, eine erste Stunde einer Unterrichtssequenz oder eine erste Stunde im Unterricht eines Mentors. Wenn Sie die Möglichkeit haben, eine Lehrkraft in ihrem Agieren mit der Klasse beobachten zu können, haben Sie einen sanfteren Einstieg in die erste Stunde: Sie können auf Rituale, Methoden, die Aufbereitung der Inhalte und die Art der Ansprache achten und dabei das Zusammenspiel zwischen der Lerngruppe und der Lehrkraft beobachten: Funktioniert es? Wo genau funktioniert es richtig gut, wo weniger? Wo gibt es Unsicherheiten, wo fröhliche Momente, worauf reagiert die Lerngruppe positiv? Notieren Sie alles, was gut klappt, und variieren Sie das so, dass es zu Ihnen und dem Inhalt passt. Meistens wissen Sie dann schon recht gut, was Sie übernehmen und wo Sie sich eher absetzen möchten. Während diese Situation etwas
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Überlebensnotwendiges
komfortabler – weil einschätzbarer – ist, gehen die ersten drei Situationen mit vielen Ungewissheiten und Fragen einher: Wie sind die SchülerInnen (Alter, Zusammensetzung, Klassengröße, Interessenlage), werden sie mich mögen, was genau muss ich ihnen beibringen, worauf muss ich achten (Klassenarbeiten, Mitarbeit, Klassenbuch, …)? Doch auch diese Situation hat ihren Reiz: Sie gehen völlig offen in diese Beziehung hinein … Damit Sie gewappnet sind, bekommen Sie hier erste Tipps sowie eine Checkliste – bitte nicht als Abhakliste, sondern als Erinnerungsstütze nutzen – für die Planung einer ersten Stunde in einer neuen Klasse. Sie können davon ausgehen, dass die SchülerInnen genauso neugierig auf Sie sind wie umgekehrt. Deshalb ist die Ausgangslage schon einmal eine positive: Sie sind die neue Lehrperson und werden deshalb erst einmal mit Interesse wahrgenommen: Ist er/sie nett, streng, fair? Hat er/sie Humor? Kann ich wohl meine Note halten, verbessern? Was muss ich hier tun? Welches Thema werden wir behandeln? Interessiert mich das? Komme ich mit der Lehrkraft zurecht? Meistens warten die SchülerInnen erst einmal ab, was so von der Lehrkraft kommt. Diese Neugier und anfängliche Offenheit gilt es zu nutzen. Deshalb sollten Sie gut vorbereitet sein, um Ihre Planungen und Erwartungen strukturiert mitteilen und auf Fragen antworten zu können. Ein organisatorisch gelungener Einstieg in den Unterricht zeigt den SchülerInnen, dass Sie planen können und dass Sie wissen, was Sie tun – damit ist klar, was auf die Lernenden zukommt, und das macht Sie einschätzbar. Im Folgenden geht es nun um die organisatorische Vorbereitung einer allerersten Stunde. Dabei müssen Sie natürlich nicht alles, was Sie in der Liste unten finden, in der Stunde erledigen, aber Sie sollten sich gut darauf vorbereiten, um zunächst einen Überblick für sich selbst zu bekommen und um auf mögliche Fragen reagieren zu können. So werden Sie bei Fragen nicht ›kalt erwischt‹ – Sie haben sich sozusagen wie ein Sportler für das Kommende aufgewärmt und können gut vorbereitet entspannt in den Unterricht gehen.
2. Checklisten: Eine allererste Stunde organisieren ȤȤ Vor der ersten Stunde: Unbedingt eine Liste mit den verfügbaren Stunden – z. B. bis zu den nächsten Ferien – anlegen und alle belegten (Schul-)Termine kennzeichnen. Für später: Mit zunehmender planerischer Erfahrung können Sie den SchülerInnen einen groben Sequenzplan austeilen, in dem Sie ihnen ausschließlich den Überblick über die zur Verfügung stehenden Stunden, die
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Christiane Pihet, Eine Stunde planen
ȤȤ ȤȤ
ȤȤ ȤȤ ȤȤ ȤȤ
ȤȤ
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zentralen Themen und die manchmal schon bei Schulbeginn festliegenden Klassenarbeits- oder Klausurtermine geben. Mehr Planung wäre risikoreich, denn als AnfängerIn kann man manches noch nicht sicher einschätzen. Noch später, wenn Sie einen größeren Überblick über das Schulgeschehen (Ausfälle durch Exkursionen, Klassenfahrten, Sportfeste etc.) und mehr Erfahrungen in der inhaltlichen Planung gesammelt haben, können Sie auch detailliertere Planungen für die SchülerInnen anlegen. Den schuleigenen Lehrplan, Kerncurriculum oder Rahmenrichtlinien konsultieren. Informationen zu Inhalten bei FachlehrerInnen, LehrerInnen in der Parallelklasse oder FachleiterIn erfragen, zu der Klasse im Allgemeinen bei KlassenlehrerIn Erkundigungen einholen. Klassenlisten im Sekretariat besorgen. Anzahl der Klassenarbeiten ausfindig machen. Verhältnis von mündlicher zu schriftlicher Leistung nach dem schuleigenen Lehrplan bei Fachobfrau/-mann erfragen. Raumcheck (Tafel, Beamer, OHP, Whiteboard, Kreide, Verdunklungsmöglichkeiten, genug Stühle, Sauberkeit, Präsentationsmöglichkeiten für Schülerarbeiten, Pinnwand, …). Evtl. Sitzplan anlegen.
ȤȤ Zur ersten Stunde: Vorstellung (Name an die Tafel schreiben!), einige knappe (!) humorvolle, nicht zu private Infos zur Person. ȤȤ Kennenlernen. ȤȤ Anwesenheitsliste überprüfen. ȤȤ Namenskärtchen erstellen lassen. ȤȤ Sitzplan herstellen lassen, wenn nicht bereits erfolgt. ȤȤ Organisatorisches: Farbe der Hefte, Bücher/Lektüre, Hausaufgabenheft, Ordnungssysteme für die Heftführung anleiten, einen Buddy (Hilfepartner) suchen lassen (wer versorgt wen mit Material und Infos im Krankheitsfall …). ȤȤ Verhalten in der Klasse (Tafeldienst, Fegedienst, Sauberkeit, …) klären. ȤȤ Klassenbuchführer/in feststellen. ȤȤ In Fachräumen: Sicherheitshinweise geben! ȤȤ Anzahl der Klassenarbeiten/Klausuren/Lernkontrollen pro Halbjahr bekannt geben. ȤȤ Verhältnis schriftliche/mündliche Leistung mitteilen. ȤȤ Weitere Möglichkeiten der Mitarbeit nennen, z. B.: Referat, Mappe, Heftführung, Hausaufgabe, Präsentation, Plakaterstellung, …
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ȤȤ Transparenz: Deutlich machen, worauf Sie als LehrerIn Wert legen, hier können Sie ruhig eigene Marotten nennen. ȤȤ Manchmal sinnvoll und beziehungsfördernd: Die Klasse danach fragen, wie sie am besten arbeiten kann. ȤȤ Inhalte/Themen vorstellen, schon erarbeitete Themen erfragen. Tipps Beginnen Sie möglichst noch in der ersten Stunde mit dem Fachunterricht: Eine ganze Stunde lang ausschließlich Organisatorisches zu besprechen oder sich vorzustellen, kann ermüdend sein, zumal die SchülerInnen sich ja meistens untereinander schon kennen. In manchen neu zusammengesetzten Klassen oder Kursen kann eine interessante und kreative Vorstellungsrunde allerdings durchaus angebracht sein! Sie können Vorstellung und Fachbezug verbinden, indem Sie Bilder, Fotos, Zitate, … mitbringen und die Lernenden auswählen, beschreiben und die Wahl kurz begründen lassen (z. B. in Erdkunde: Postkarten von Städten/Regionen/ Ländern, in Kunst: Gemälde, in Deutsch: Zitate, in Physik: bekannte Persönlichkeiten, Formeln, …). Nutzen Sie die erste Stunde, um Interesse zu wecken und die Gruppe zu motivieren, indem Sie antizipierend möglichst genau deren Interessenlage erfassen, die Struktur und Zielführung der Stunde transparent machen, Mitgestaltungsmöglichkeiten aufzeigen, die Anforderungen als leistbar darstellen, den Sinn der Inhalte einsichtig machen und auf eine angenehme und humorvolle Arbeitsatmosphäre achten. Und vor allem: Lassen Sie Ihre eigene Motivation und Ihr eigenes Interesse am Fach, an dessen Inhalten und an den SchülerInnen immer wieder durchblitzen! Wenn Sie eine Lerngruppe neu übernehmen, besorgen Sie sich die Klassenliste. Manche KlassenlehrerInnen haben Fotos ihrer Klasse gemacht, so lassen sich die vielen Namen schneller lernen. Im Übrigen ist das Ansprechen mit dem Namen nicht nur ein Gebot der Höflichkeit (»Danke, Lisa« klingt freundlicher als nur »Danke«). Die Kenntnis der Namen ermöglicht Ihnen auch ein schnelles und eindeutiges Reagieren auf die kleinen, aber so häufigen Störungen während des Unterrichts (»Bitte mach wieder mit!« »Wer? Ich?« »Nein, dein Nachbar!« »Ich?« … hier nehmen kleine Störungen viel zu viel Raum ein!). Für die Klausuren gibt es einen allgemein gültigen Klausurenplan, der im Lehrerzimmer aushängt, die Klassenarbeiten können Sie bis auf die Arbeiten in verleisteten Fächern, die von der Schulleitung festgelegt werden, selbst eintragen. Berücksichtigen Sie dabei auch Ihre eigenen Belastungsperioden (z. B. schrift
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liches/mündliches Abitur, Zeugniskonferenzen, Schüleraustausch, …) und – hier ist Ihre Planungskompetenz im Hinblick auf Langzeitplanung (→ 4 Eine Langzeitplanung anlegen) gefragt – verteilen Sie die Korrekturen so im Halbjahr, dass Sie sie möglichst schnell, doch höchstens innerhalb von zwei (Sekundarstufe I) oder drei Wochen (Sekundarstufe II), korrigieren können. Es ist frustrierend, drei Stapel Klausuren auf dem Schreibtisch liegen zu haben und zu wissen, dass Sie da auch noch liegen werden, wenn Sie von der Klassenfahrt zurückkommen.
3. Ein Stundenthema vorbereiten Wie halte ich denn nun eine Stunde? Wie ist der Aufbau? Gibt es so etwas wie ein Necessaire, etwas, was schnell bei der Hand das Notwendigste beinhaltet – wohl wissend, dass an anderer Stelle weitere wichtige Dinge liegen, die ich ebenfalls irgendwann dringend benötigen werde? In einem Necessaire (lateinisch necessarius = notwendig) werden nur die Utensilien aufbewahrt, die immer wieder gebraucht werden und die schnell zugänglich sein müssen. Deshalb bekommen Sie nun ein Necessaire mit Hinweisen auf die grundsätzlich notwendigen und schnell verfügbaren Bestandteile einer Unterrichtsstunde, die anschließend durch weitere Möglichkeiten und Alternativen ergänzt werden. Auf diese können Sie dann bei Bedarf mit zunehmender Sicherheit und Experimentierfreude zurückgreifen. Wie fängt man an? Das Durcharbeiten der unten aufgeführten Planungsschritte für eine Stundenplanung hilft Ihnen, Ihre ersten Stunden zielführend und möglichst schnell und zügig planen zu können. Dabei verlaufen die Planungsschritte nicht immer schön der Reihe nach, sondern verändern, befruchten, durchdringen sich und ergeben sich im Laufe des Planungsprozesses: So wird der Inhalt festgelegt, die Methode angepasst, die Sozialform gewählt – aber wieder verworfen, weil sie nicht zum Inhalt passt. Dann wird festgestellt, dass mit der gewählten Methode die Stunde zu kurz ist, deshalb wird der Inhalt stärker eingegrenzt und reduziert, die erste Sozialform wieder aufgenommen, die Sicherung geplant, ein Einstieg gesucht und gefunden. Es wird an die SchülerInnen gedacht und der Einstieg wieder verworfen, das Stundenziel erinnert; festgestellt, dass der Schwerpunkt der Stunde sich verschoben hat, alles nochmal durchdacht im Hinblick auf das Stundenziel … und: Dieses Mäandern ist völlig normal! Gerade deshalb kann diese Arbeitsphase sehr spannend und motivierend sein, besonders, wenn man seine Lerngruppe vor Augen hat und sich deren Reaktionen gut ausmalen kann. Die Planung können Sie sich erleichtern, wenn Sie die Stunde aus der Unterrichtssequenz ableiten, denn Unterricht besteht ja nicht aus einer Kette von Ein-
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zelstunden. Eine Sequenz hat übrigens genau wie eine Stunde ein(e) Ziel(orientierung), eine Progression, aufeinander aufbauende Erkenntnisschritte oder Stufen des Kompetenzerwerbs, Methodenwechsel, Erarbeitungsphasen, Vertiefungs- und Auswertungsphasen – kurz: Sie plant die Vermittlung inhalts- und prozessbezogener Kompetenzen (→ 4 Eine Langzeitplanung anlegen). Wenn Sie sich schnell in ein Thema einarbeiten müssen – und das ist der Fall zu Beginn des Referendariats, wenn Sie sofort mit dem eigenverantwortlichen Unterricht beginnen müssen –, ist die gründliche Bearbeitung folgender Fragen notwendig: 1. Vorgaben: Was ist im Rahmenlehrplan, Kerncurriculum, schulinternen Arbeitsplan vorgesehen? Welche Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten, d. h. welche inhaltsund prozessbezogenen Kompetenzen sollen Ihre SchülerInnen erreichen? Was sollen sie am Ende der Stunde kennen, wissen, wertschätzen? Welches Fachvokabular soll verfügbar sein? 2. Lernvoraussetzungen: Welches fachliche Vorwissen oder Alltagswissen über das Stundenthema kann bei meinen SchülerInnen ganz sicher vorausgesetzt werden? Welche Aspekte des Inhaltes interessieren die SchülerInnen in der jeweiligen Altersstufe möglicherweise besonders? Welche könnten Sie als sinnvoll erleben? Welche Problemstellungen könnten sie aktuell beschäftigen? Worin liegt die Bedeutung des Themas für die Zukunft der Lernenden? Welche Rituale wurden in der Klasse bereits eingeübt? Welche (Fach-) Methoden beherrschen sie, welche werden geübt? Sie können FachlehrerInnen nach dem fachlichen und fachmethodischen Vorwissen, KlassenlehrerInnen nach allgemeinen Informationen zur Klasse, zum Verhalten, zu Ritualen fragen. 3. Thema: Wie wird das Thema in zwei aktuellen Schulbüchern (darunter das an der Schule eingeführte) dargestellt und eingeführt? Klären Sie für sich die Inhalte und Schwerpunkte des Themas und vergewissern Sie sich Ihres Sachwissens. Unsicherheiten durch Recherche klären, AnsprechpartnerInnen sind hier MitreferendarInnen, FachlehrerInnen, FachleiterInnen. Legen Sie eine Materialsammlung an und analysieren Sie die zentralen Strukturmerkmale des Themas. Welche davon müssen den SchülerInnen unbedingt vermittelt werden? 4. Ziel: Welchen einen wesentlichen Sachzusammenhang sollen die Schüler Innen am Ende der Stunde selbstständig erklären können? 5. Elementarisierung der Lehrziele: Überlegen Sie dann, was die SchülerInnen können oder wissen müssen, um dieses Stundenziel erreichen zu können.
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Damit legen sie schon Lernschritte (Teilziele) fest, welche die Lernenden vollziehen sollten. In welchem Verhältnis stehen die Teilziele zueinander? Bauen sie sachlogisch aufeinander auf (dann sachlogische Reihenfolge einhalten) oder stehen sie additiv nebeneinander (dann eventuell Reihenfolge an Schülerbedürfnisse anpassen)? Nun können Sie Methoden und Materialien auswählen: 6. Methoden: Überlegen Sie, wie die SchülerInnen sich das Wissen aneignen können. ȤȤ Welche Sozialform (Einzelarbeit, Partnerarbeit, Gruppenarbeit, Unterrichtsgespräch, Lehrervortrag, Schülervortrag)? ȤȤ Welche Methoden (Partnerpuzzle, Lerntheke, Placemat, …)? ȤȤ Welche Medien (OHP, Beamer, Kopie, Tafel, Plakat, …)? Damit steht der Kern Ihrer Stunde: die Erarbeitungsphase. Nun fehlt nur noch der Rahmen: Der Einstieg und der Ausstieg (Sicherung, Vertiefung) der Stunde. 7. Unterrichtseinstieg: Wie soll der Unterricht beginnen? Welcher Einstieg führt zum Thema? 8. Sicherung: Wie können die Ergebnisse gesichert werden? Wie kann ich überprüfen, ob die Lernenden sich das Wissen tatsächlich angeeignet haben? Wie können die SchülerInnen ihr neues Wissen, ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten anwenden, üben, festigen usw.? 9. Zeitplanung: Wie viel Zeit muss ich für die einzelnen Phasen einplanen? Und nicht vergessen: Die Planung verläuft im Zickzackkurs! Weitere Raster, Formulare und Erläuterungen zur Planung eines Themas einer Einzelstunde finden Sie bei Jank/Meyer (2002, 94 und 344 ff.), bei Meyer (2010, 57 ff.) und bei Bovet/Huwendiek (2008, 38). Tipps Zwar beginnt der Unterricht mit dem Unterrichtseinstieg, aber, wie Sie vielleicht festgestellt haben, nicht die Planung! Beginnen Sie Ihre Planung nie mit dem Einstieg, denn erst nach der Festlegung des Schwerpunktes ist ein funktionaler Einstieg planbar. Das hat übrigens zwei Vorteile: Nach der Klärung des Schwerpunkts der Stunde und der Kompetenzen, die im Mittelpunkt stehen sollen, lässt sich der Einstieg zielgerichteter auswählen und man erliegt nicht der Versuchung, den weiteren Verlauf der Stunde dem Einstieg anzupassen. Ein
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weiterer nicht zu vernachlässigender Vorteil: Anfangs benötigt man viel Zeit für die inhaltliche Vorbereitung, Zeit, die man nicht mit der Suche nach möglichst peppigen Einstiegen verbringen sollte. Wenn die Zeit knapp wird, kann man immer noch einen informierenden Unterrichtseinstieg hinlegen (s. 5. Der informierende Unterrichtsseinstieg). Setzen Sie sich realistische Ziele. Niemandem ist geholfen, wenn Sie Ihre stundenlang geplante anspruchsvolle und möglicherweise überplante Stunde aus Zeitmangel nicht zu Ende bringen können. Planen Sie einen Zeitpuffer ein – Klärungen, Tafelabschriebe, Erarbeitungen dauern in der Regel länger, als man am heimischen Schreibtisch hofft. Überprüfen Sie die Medien, indem Sie beispielsweise die Arbeitsblätter/ Arbeitsaufträge selbst bearbeiten oder von jemandem anders bearbeiten lassen – dabei werden ungenaue oder zu schwere Arbeitsaufträge gleich offensichtlich. Die Deutlichkeit der Schrift (mindestens 14 °) und der Bilder über den OHP/ Beamer im Klassenraum vorher prüfen. Ihre Unterrichtsmaterialien sollten Sie vor dem Unterricht gut sortiert und übersichtlich auf dem Lehrerpult organisieren. Visualisieren Sie die Arbeitsaufträge. Wenn Sie Arbeitsmaterial verteilen, sollte der Arbeitsauftrag immer mit angegeben werden, bei Texten natürlich auch die Quelle. Planen Sie die Aufgabenstellung für die Hausaufgaben – es muss nicht immer welche geben, aber wenn, müssen Sie zu Beginn der Stunde didaktisch geplant sein und zum Ende der Stunde eindeutig formuliert werden: am besten an die Tafel und bei jüngeren SchülerInnen ins Hausaufgabenbuch schreiben lassen. Und zum Schluss: Wenn Sie wirklich Zeit sparen wollen, planen Sie in Sequenzen und leiten Sie daraus die Einzelstundenvorbereitung ab. Es ist viel zu aufwendig, jede Stunde einzeln zu planen. Möglicherweise fehlt Ihnen noch die Erfahrung für diese Art der Planung – erkundigen Sie sich deshalb bei LehrerInnen, die Parallelklassen unterrichten, profitieren Sie von der gemeinsamen Planung und bieten Sie Materialaustausch an. Eigentlich sollten Sie nun wieder das Kapitel 4 zur Langzeitplanung lesen …
4. Eine Unterrichtsstunde planen – ein Grundgerüst Dieses Grundgerüst ist logisch, intuitiv zugänglich und Ihnen aus der eigenen Schulerfahrung sicher bekannt. Es ist mindestens dreigliedrig: Der Einstieg steht am Anfang, darauf folgt die Erarbeitung und dann die Sicherung. Ein möglicher vierter Schritt ist die Übertragung.
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Zwischen diese drei Phasen können mit zunehmender Sicherheit weitere Einzelschritte eingefügt werden. Anfangs sollten Sie sich jedoch auf diese klare Struktur konzentrieren und erst mit etwas mehr Erfahrung weitere schüleraktivierende Methoden ausprobieren. Später können Sie, vielleicht mit FachkollegInnen, Ihren Unterricht auch offen als Projektarbeit oder Stationenlernen planen (→ 7 Methoden kennen und einsetzen und → 16 Diversität berücksichtigen). Das Grundgerüst einer Unterrichtsstunde wird Ihnen nun in seinen drei Phasen vorgestellt, wobei Sie zunächst jeweils die Grundausrüstung kennenlernen, die Sie sofort verwenden können, und direkt im Anschluss daran Möglichkeiten, wie Sie später mit zunehmender Erfahrung Ihre Stundenplanung abwechslungsreicher gestalten können. Wenn Sie einen schnellen Zugriff auf Ihre Planung suchen, lesen Sie nur den ersten Teil.
5. Der informierende Unterrichtseinstieg Bei einem Einstieg unterscheidet man die Stundeneröffnungsrituale, den Einstieg in eine Stunde und den Einstieg in ein neues Unterrichtsthema. Die eher lehreraktive Phase des Einstiegs hat eine Doppelfunktion: Sie soll die SchülerInnen sowohl motivieren als auch zum Thema hinführen. Daraus folgt, dass die Impulse die ganze Klasse ansprechen müssen und der Einstieg somit für alle zugänglich sein muss. Der Einstieg bietet den SchülerInnen einen Orientierungsrahmen, führt in zentrale Aspekte des Themas ein und sollte an das Vorverständnis der Lerngruppe anknüpfen, damit jeder Einzelne auch wirklich die Chance hat, in den Unterricht schon in der ersten Phase einzusteigen. Hilbert Meyer spricht von der »Formierung der Sinne und der Stillstellung der Schüler-Körper« (Meyer 1989, 128). Diese Disziplinierungsfunktion im Sinne der Fokussierung der Aufmerksamkeit nach vorn an die Tafel oder auf die Folie ist tatsächlich nicht zu unterschätzen. Als einfache, aber effiziente und transparente, universell einsetzbare Methode des Einstiegs wird hier zunächst der eher lehrerzentrierte informierende Unterrichtseinstieg vorgestellt, da er in der Vorbereitung wenig zeitintensiv ist und für eine Zieltransparenz sorgt, welche gerade für junge Lehrkräfte hilfreich ist. Im Anschluss daran wird auf weitere Einstiege verwiesen. Jochen und Monika Grell (Grell/Grell 1996) vertreten den informierenden Unterrichtseinstieg, da er einer wichtigen Motivation für Lernen entgegenkommt: Er gibt Orientierung und Struktur, indem er den ZuhörerInnen den Ablauf der Stunde vorstellt, Erwartungen klarstellt, an Bekanntes anknüpft und für positive Emotionen sorgt. Die SchülerInnen erfahren, was auf sie zukommt
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und was sie am Ende der Stunde können werden. So entsteht nach Grell/Grell Sicherheit und Motivation. Der informierende Unterrichtseinstieg nutzt die Tatsache, dass ein Mensch eher motiviert ist, sich auf etwas Neues einzulassen, wenn er weiß, um was es geht, wie es geht, was er davon hat und wie lange es dauern wird. Für Sie hat der informierende Unterrichtseinstieg den nicht zu unterschätzenden Vorteil, dass Sie weniger Zeit mit der Suche nach anderen motivierenden Einstiegen und passgenauen Materialien verbringen müssen (die ›Googlelei‹ frisst kostbare Zeit und es besteht gerade für AnfängerInnen die Gefahr, dass man das Thema aus den Augen verliert bzw. immer wieder variiert, weil man ja ein so ansprechendes Material gefunden hat – und schon geht die Stimmigkeit Ihrer Stunde flöten …). Ein weiterer, sehr wesentlicher Vorteil liegt darin, dass Sie gezwungen sind, die oben genannten Voraussetzungen zu ergründen, Lehrziele klar zu formulieren und Ihre Planung offenzulegen. Das ist gleichzeitig auch die Schwierigkeit, denn Sie müssen genau wissen, was Sie wollen. Der große Vorteil des informierenden Unterrichtseinstiegs liegt deshalb auch darin, dass er für Ihre eigene Professionalisierung sorgt: Er erzieht dazu, den Lerngegenstand klar zu strukturieren und ihn aus der Perspektive der Lernenden zu sehen – eben weil man ihn den SchülerInnen verständlich machen muss. Wie macht man das? Eine Grundvoraussetzung für Grell/Grell ist die Haltung der Lehrkraft den SchülerInnen gegenüber: Sie besteht darin, sie nicht wie unmündige Kinder zu betrachten, sondern wie PartnerInnen, Freunde oder Bekannte, denen man ganz offen so einfach und so klar wie möglich erklärt, was in der Stunde passieren soll und warum – mit dem Ziel, den roten Faden transparent zu machen. Das ist ja auch auf jedem Seminar, bei jeder Tagung ein absolutes Muss. Der informierende Unterrichtseinstieg dauert etwa zwei bis fünf Minuten und kann durch eine Folie, ein Arbeitspapier oder einen Tafelanschrieb für die Gruppe visualisiert oder zur Verfügung gestellt werden. Wichtig nach Grell/Grell ist die Rückversicherung, ob die SchülerInnen mit dem vorgeschlagenen Plan einverstanden sind oder ihn zumindest nachvollziehen können. Wenn Sie sich sicherer fühlen, können Sie auch Auswahlmöglichkeiten vorstellen, um die Lernenden stärker an der Planung zu beteiligen. Das bietet sich besonders bei einer Einstiegsstunde zur Sequenzplanung an. Die wichtigste Frage zur Konzeption: Ist den SchülerInnen nach diesem Einstieg klar, mit welchem Thema sie sich beschäftigen werden, was sie lernen sollen, was sie tun sollen (Vorstellung eines einfachen Verlaufsplans) und was sie davon haben bzw. welche Relevanz es hat, wenn sie die Aufgabe lösen (vgl. Grell/Grell 1996, 169 ff.).
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Notieren Sie das Thema, die Lehrziele (maximal drei) und den geplanten Stundenverlauf (auf Folie oder an der Tafel). Klären Sie mögliche Schülerinteressen und die Relevanz, die das Thema für die Lerngruppe jetzt hat und später haben kann, und stellen Sie diese möglichst plastisch und überzeugend vor. Reichern Sie Ihre Ausführungen mit positiven Erfahrungen und persönlichen Begründungen zu den Einzelschritten an (»Ich dachte mir, dass ihr die Schädel der Tiere am liebsten gleich anschauen würdet, deshalb könnt ihr zu Beginn der Stunde …«). Formulieren Sie Ihre Aussagen für den informierenden Unterrichtseinstieg komplett schriftlich vor. Stellen Sie Ihren Einstieg möglichst begeistert und klar strukturiert dar, achten Sie darauf, dass Sie die Gruppe neugierig machen auf das, was sie erwartet. Wenn es angebracht ist, ordnen Sie die Stunde in den Zusammenhang zu früheren und folgenden Stunden ein und zeigen auf, an welcher Stelle Sie sich in der Sequenz befinden. Sie können auch eine klare Erwartung an die Klasse formulieren: »Am Ende könnt ihr selbstständig feststellen, ob …«, »Am Ende hat jeder ein Statement zu … entwickelt.« Es erzeugt Spannung und Motivation, wenn Sie – beispielsweise im Sprachunterricht – sagen: »Ich bin gespannt, ob ihr am Ende der Stunde diese Strukturen frei verwenden könnt!« Bereiten Sie sich auf Nachfragen vor und signalisieren Sie Gesprächsbereitschaft. Je besser Sie die SchülerInnen erreicht haben, desto weniger Fragen und mehr Interesse auf den Stundenbeginn werden sich ergeben.
Sie werden feststellen, dass der informierende Unterrichtseinstieg – obwohl er für die Teilnehmenden so nüchtern wirkt – durchaus motivierend sein kann. Besonders wirksam ist er, wenn es Ihnen gelingt, die Interessen der SchülerInnen mit den Inhalten zu verknüpfen und das Vorhaben auch authentisch und begeistert vorzutragen. Was kann man tun, wenn die Lerngruppe dem Thema gegenüber ein grundsätzliches Desinteresse zeigt? Hier kann sich die Vorstellung des informierenden Unterrichtseinstiegs durchaus spannungsmindernd auswirken, denn die SchülerInnen sehen ja sofort, womit sie die Stunde verbringen werden: Das Thema wird durch Transparenz auch nicht spannender … Nun gibt es zwei Möglichkeiten: 1. Schalten Sie dem informierenden Unterrichtseinstieg einen möglichst motivierenden Einstieg vor, z. B. eine Provokation, einen Bluff, ein Rätsel, … und entwickeln Sie daraus eine Fragestellung.
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2. Überlegen Sie sich ganz genau, welche Relevanz das Thema für die SchülerInnen haben könnte und stellen Sie diese besonders überzeugend dar. Das können Sie direkt an die erste Möglichkeit anschließen. Gesetzt den Fall, dass es sich tatsächlich um ein für die Lerngruppe zunächst unattraktives Thema handelt, können Sie das Thema anmoderieren, indem Sie langes Schönreden vermeiden und die Notwendigkeit des Themas (z. B. als Grundlage für spätere Inhalte etc.) offen benennen. SchülerInnen leben ja nicht hinter dem Mond – es ist ihnen durchaus bewusst, dass nicht jedes Thema hochinteressant sein kann. Aber sie schätzen in der Regel ein offenes Wort. Sie können anschließend einen Ausblick auf interessante spätere Inhalte geben und den SchülerInnen damit signalisieren, dass Sie durchaus sensibel sind für ihre Wahrnehmung. Der informierende Unterrichtseinstieg eignet sich natürlich nicht, wenn die Lernenden schon wissen, was zu tun ist, wie z. B. bei manchen Sportstunden oder anderen ritualisierten Stunden. Auch bietet er sich weniger an, wenn man eine Überraschung in der Stunde vorsieht – obwohl Grell/Grell meinen, dass es auch eine Information sei, wenn der Gruppe das Vorgehen erklärt und dabei begründet wird, warum manches noch nicht gesagt werden kann: »Heute werde ich etwas mit euch machen, was ich euch aus einem ganz bestimmten Grund nicht vorher verraten kann. Es kommt nämlich darauf an, dass ihr zunächst ganz unbefangen reagiert – und zwar ohne zu wissen, worum es eigentlich geht.« (Grell/Grell 1996, 163). Grundsätzlich liegt ein informierender Unterrichtseinstieg immer dann vor, wenn die Lehrkraft ihre Klasse über ihre Absichten informiert – und das ist ja wohl das Mindeste, worauf Menschen Anspruch haben. Hausaufgaben planen An dieser Stelle noch ein Wort zu den Hausaufgaben: Der Einstieg über eine Hausaufgabe ist gängig, birgt aber viele Unwägbarkeiten. Es kann sein, dass Sie mit der Kontrolle der Hausaufgaben fast die gesamte Schulstunde verbringen, weil viele Fehler zutage treten, die besprochen werden müssen, und deshalb für das eigentlich vorgesehene Thema keine Zeit mehr bleibt. Schon bei der Planung einer Stunde sollten Sie sich genau überlegen, welche Funktion die gestellte Hausaufgabe hat: Wenn sie keinen unmittelbaren Bezug zum Stundenthema aufweist, sollten Sie einige Hefte einsammeln, stichprobenartig kontrollieren, ob das Thema verstanden wurde, und eine auf die ermittelten Schwierigkeiten fokussierte Übungs- bzw. Vertiefungsstunde anbieten. Wenn
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Sie eine Hausaufgabe stellen, die als Einstieg zum Stundenthema führt (Recherchen zu einem Thema, Lesen eines Textes, Stichpunkte zu einer Aufgabe, …), können Sie diese sinnvoll in den Unterrichtsverlauf einbinden und als didaktischen Baustein integrieren, sodass die Lernenden die aus der Hausaufgabe resultierenden Kenntnisse in die Erarbeitungsphase einbringen können. Das setzt allerdings voraus, dass Sie genau wissen, wie die Folgestunde aussieht. Ich könnte Sie an dieser Stelle ein weiteres Mal an das Kapitel 4 zur Langzeitplanung erinnern … Grundsätzlich gilt, dass Hausaufgaben mit Köpfchen gegeben werden müssen: Ihre Klasse muss wissen, warum sie diese Aufgabe bekommt und als LehrerIn sollten Sie jederzeit in der Lage sein, die Sinnhaftigkeit einer Aufgabe verdeutlichen zu können. Es geht schließlich nicht um eine Nachmittagsbeschäftigung für die Kinder. Wenn Kinder sich nachmittags hinsetzen, um die Aufgaben anzufertigen, muss diese Arbeit auch gewürdigt werden und einen Mehrwert für sie haben. Übrigens: In der Literatur findet man immer wieder im Hinblick auf Hausaufgaben den Begriff des ›Hausfriedens bruchs‹ … Wenn Ihnen keine sinnvolle Hausaufgabe einfällt, dann verzichten Sie darauf. Gute Erfahrungen haben Lehrkräfte auch mit frei gewählten Hausaufgaben gemacht: Fordern Sie die SchülerInnen auf, sich kurz zu überlegen, welche Hausaufgabe sie sinnvoll finden würden. Dann lassen Sie einige Vorschläge nennen und überlassen den SchülerInnen die Entscheidung. Natürlich machen das nicht alle – aber einige schon und manchmal gerade die, von denen man es nun gar nicht erwartet hätte … Oder Sie bitten sie, sich zwei Minuten lang zu überlegen, was sie noch individuell üben müssten und welche Hausaufgabe sich dazu anbieten würde. Dann lassen Sie kurz einige Ideen nennen und geben diese individuelle Aufgabe auf. Sie können aber auch als Auflage geben, dass – ganz gleich, welche – eine individuell gewählte Hausaufgabe angefertigt werden muss. Die gemeinsame Diskussion mit SchülerInnen über eine sich sinnvoll anschließende Hausaufgabe können Sie auch immer dann führen, wenn Sie am Ende der Stunde Zeit übrig haben und der Beginn einer weiteren Phase sich nicht mehr lohnt. Schließlich: Wer sagt eigentlich, dass alle SchülerInnen die gleiche Hausaufgabe machen müssen? Sie könnten Hausaufgaben zu ihrem Übungsbedarf, zu ihren Interessen anfertigen – von der Lehrkraft oder sich selbst gestellt, freiwillig oder verpflichtend. Hausaufgaben sind ein weites Feld für individuelle Zugänge, damit ein sehr interessantes Feld für Differenzierungen und in der Folge für abwechslungsreichen Unterricht durch Schülerorientierung. Weitere Hinweise finden Sie in → Diversität berücksichtigen.
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Stundeneröffnungsrituale Die Stundeneröffnungsrituale (Greving/Paradies 2009, 26) gehören ebenfalls zur Grundausrüstung: Viele LehrerInnen wenden diese zwar intuitiv an, weil sie spüren, dass man nicht in die Klasse kommen und die SchülerInnen von der Pause in den Physik- oder Lateinunterricht katapultieren kann, sind sich aber der Wichtigkeit dieser Phase nicht bewusst. Deshalb möchte ich auf diese oftmals sehr kurze, aber wichtige und ungemein beziehungsfördernde Phase eingehen. Jede Lehrkraft erlebt, dass der Unterricht noch lange nicht beginnt, wenn es klingelt. Die SchülerInnen stürmen oder begeben sich (je nach Alter) in die Klassen, suchen ihren Platz auf, stellen ihre Taschen irgendwo hin oder holen Materialien heraus, trinken etwas, fragen laut in die Klasse hinein, was heute Thema sein wird, wollen wissen, wie der Test ausgefallen ist, tauschen sich mit Nachbarn aus, balgen sich noch ein wenig – kurz, sind ganz mit sich und ihrer unmittelbaren Umgebung beschäftigt. In der Oberstufe kommt man dagegen möglichst ruhig in die Klasse, breitet seine Sachen aus und beginnt intensive Gespräche mit dem Nachbarn. Nun kommt die Lehrkraft und möchte Unterricht machen, um nach einer knappen Begrüßung einen stummen Impuls (dazu mehr auf Seite 120) zu geben und die Aufmerksamkeit der SchülerInnen auf das Thema zu fokussieren. In der Regel funktioniert das eher nicht oder nicht gut, was daran liegt, dass der erste Kontakt mit der Lehrkraft ausschließlich inhaltlicher Art ist. Auch wenn sich die SchülerInnen nach einer Weile darauf einlassen, ist der Übergang abrupt und scheint erzwungen. Viel organischer und selbstverständlicher wirkt es, wenn die Lehrkraft diese Vorphase des Unterrichts bewusst nutzt und die vielfältigen Möglichkeiten, die die SchülerInnen ihr beim Hereinkommen bieten, aufgreift: »Meine Güte, was habt ihr denn draußen gespielt, dass du so durstig bist?«, »Du fragst nach dem Test, hast du ein gutes Gefühl?« Man kann auch Gespräche mit SchülerInnen beginnen, die vor einem sitzen – Smalltalk mit Einzelnen. Im Idealfall schalten sich immer mehr ein – in der Oberstufe funktioniert das eigentlich immer – und die Lehrkraft kann aufgreifen, überleiten und mit dem Unterricht beginnen. Da bis auf einige Privilegierte (Kunst-, Physik-, ChemielehrerInnen, …) die meisten Lehrkräfte von einem Raum zum anderen wandern, braucht man diese Vorphase auch, um Kopien, Skripte, Arbeitsblätter etc. auf dem Pult für einen schnellen Zugriff auszubreiten. Wenn die Lehrkraft dann aufsteht, ist das das Signal für die SchülerInnen, dass der Unterricht beginnt. Jede Lehrkraft entwickelt eigene Stundeneröffnungsrituale, die »aus immer wiederkehrenden und daher sofort verständlichen, verkürzten und ritualisierten Handlungen, die vielfach in symbolischen
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Andeutungen mit Aufforderungscharakter verdichtet sind« (Greving/Paradies 2007, 27), bestehen. SchülerInnen lassen sich in der Regel schnell auf die von der Lehrkraft angelegten Rituale ein. Gemeinsam ist diesen Ritualen, dass man in einer Vorphase des Unterrichts nicht sofort zur Sache kommt, sondern Zeit – in der Regel nur einige wenige Minuten – für das organisatorische und emotionale Ankommen einplant. Damit vermeiden Sie den unterrichtlichen Kaltstart in das Thema. Greving/Paradies nennen als Beispiel das Windspiel, das die Lehrkraft beim Betreten der Klasse anstößt und dessen Klang den SchülerInnen signalisiert, dass sie nun noch ein bis zwei Minuten Zeit haben, bevor der letzte Ton verklungen ist, um ihre Materialien etc. herauszuholen und sich auf den Unterricht einzustellen (Greving/Paradies 2007, 28). Solche Rituale gehören zum Classroom-Management und erleichtern auf einfache Weise, ohne Worte – und vor allen Dingen ohne Ermahnungen – das Einhalten von Regeln. Bekannte Beispiele für Eröffnungsrituale sind das oben erwähnte lockere Gespräch, Smalltalk mit Einzelnen, Aufstehen – Stillstehen, Begrüßung, Stilleübungen, Konzentrationsübungen, Ruhe-Zeichen, Ratespiele (ohne direkten inhaltlichen Unterrichtsbezug), Sitzkreis, Lieder, rhythmisches Üben (z. B. bei Grammatikübungen), … Grundsätzlich gilt: Rituale müssen überzeugend und glaubwürdig sein und von der Lerngruppe akzeptiert werden. Das bedeutet, dass sie von Lehrkraft und Lerngruppe gemeinsam immer wieder auf ihren Sinn hin überprüft werden müssen: Passen sie noch zu uns? Brauchen wir sie noch? Helfen sie uns? Machen sie das Leben miteinander angenehmer? Es gibt sehr vielfältige Rituale zwischen LehrerInnen und SchülerInnen – sie sind so individuell, wie es eine Beziehung nur sein kann und gerade deshalb oftmals gar nicht aufwendig … Erinnern Sie sich noch an den Unterrichtsbeginn einiger LehrerInnen in Ihrer eigenen Schulzeit? Welche Wirkungen hatten diese auf Sie und auf den folgenden Unterricht? Beobachten und reflektieren Sie die Unterrichtsrituale bei Unterrichtsbesuchen in Bezug auf das Lehrer-Schülerverhältnis. Sammeln Sie Unterrichtsrituale.
Nach dieser kurzen, mehr oder weniger ritualisierten Vorphase beginnt der Unterricht mit dem eigentlichen Unterrichtseinstieg.
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Weitere Grundformen des Unterrichtseinstiegs Bei Greving/Paradies (2007), Thömmes (2005) und Schneider (1999) finden Sie ganze Sammlungen von Einstiegen mit Beispielen. Meyer (1989, 134–150) stellt die Einstiege anschaulich zusammen und ordnet sie nach dem Grad der Lehrerzentrierung. Unter marvin.sn.schule.de finden sich unter »Unterrichtseinstiege«, sortiert nach assoziativen, lehrerzentrierten, problemorientierten, sinnlich-anschaulichen, spielerischen Einstiegen und Kennenlernspielen, viele knapp erklärte Varianten. Für einen guten Unterrichtseinstieg hat H. Meyer (1989, 129) didaktische Kriterien aufgestellt. Er sollte ȤȤ einen Orientierungsrahmen vermitteln, ȤȤ in zentrale Aspekte des neuen Themas einführen, ȤȤ an das Vorverständnis anknüpfen, ȤȤ für eine erfolgreiche Arbeit disziplinieren, ȤȤ einen handelnden Umgang mit dem Thema ermöglichen. Natürlich kann nicht jeder Einstieg alle Kriterien erfüllen, aber sie können als Orientierung dienen, ob der geplante Einstieg wirklich funktional ist. An dieser Stelle noch ein Hinweis zum Einstieg mit dem sprechenden Namen stummer Impuls: Dieser Name verunsichert ganze Jahrgänge von ReferendarInnen (»Ich habe heute einen stummen Impuls gemacht und dabei etwas gesagt! Ich habe meinen Einstieg vermasselt …«). Diesen Referendar kann man beruhigen: Man unterscheidet zwischen direktiven Impulsen, die die Lehrkraft durch eine Aufforderung oder eine Arbeitsanweisung gibt, und nondirektiven Impulsen, bei denen die Lehrkraft den Impuls durch einen Gegenstand, einen Text, ein Bild, Diagramm oder Problem setzt. Diese nondirektiven Impulse werden auch stumme Impulse genannt – und das nicht, weil die Lehrkraft für diese Phase ein Schweigegelübde abgelegt hat, sondern weil die Lernenden durch das Nichtvorhandensein eines direktiven Impulses gezwungen sind, selbst Fragen zu generieren, Verbindungen zu finden oder Vermutungen anzustellen. Das Material dient als Impuls und die Lehrkraft bleibt stumm in Bezug auf die Formulierung von Denkrichtungen, die die SchülerInnen einnehmen könnten. Zwischen nondirektiver Impulssetzung und hervorgerufener Denkleistung der LernerInnen wurde ein signifikanter Zusammenhang nachgewiesen. Diese Denkleistung in viele Richtungen kann erwünscht sein, allerdings unter der Voraussetzung, dass mit ihnen auch weitergearbeitet wird. Das ist die Stärke, aber auch die Crux dieses Einstiegs: Einerseits ergeben sich häufig sehr vielfältige und ergiebige Aussagen zu dem Material, andererseits muss die Lehrkraft sehr genau antizipieren, was die SchülerInnen äußern könnten, um die
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folgenden Unterrichtsschritte darauf aufbauen zu können. Bei einem solchen offenen Impuls kann es geschehen, dass die Schüleräußerungen in Richtungen gehen, die die Lehrkraft nicht antizipiert hatte, und gar nicht zu dem passen, was in der Stunde vorgesehen war – häufig werden dann diese vielfältigen Aspekte nicht in der Erarbeitungsphase aufgegriffen, im Gegenteil, die Vielfalt muss durch die Lehrkraft mühsam durch eine stark strukturierende und lenkende Gesprächsführung so eingeschränkt werden, dass nur noch der für die Erarbeitungsphase eingeplante Aspekt übrig bleibt. Hier stellt sich die Frage nach der Funktionalität des stummen Impulses: Er ist funktional, wenn die vielen Aspekte, die er generiert, auch in der folgenden Erarbeitungsphase weiterverfolgt werden. Er ist disfunktional und falsch gewählt, wenn die Lehrkraft nur einen von den vielen genannten Aspekten gelten lässt und zum Stundenthema ernennt. Hier fragen sich die SchülerInnen zu Recht, warum sie sich so viele Gedanken gemacht haben und was dieser Einstieg sollte, wenn die Lehrkraft sowieso auf etwas ganz Bestimmtes hinaus wollte. Es wird deutlich, dass der Unterrichtseinstieg sehr gut geplant sein muss, wenn er nicht als sinnfreie Motivationsphase missbraucht werden soll: Ein Einstieg hat einen Sinn, weil er Fragen aufwirft, die im Laufe des Unterrichts beantwortet werden. Dieser Rückbezug sollte gewährleistet sein. Eine besondere Phase ist die zwischen Einstieg und Erarbeitung: Wie bekomme ich es in dieser Übergangsphase hin, dass sich die Beiträge der Schüler zu einer Fragestellung bündeln lassen? Die einfachste Möglichkeit besteht darin, dass die Lehrkraft die Schülerbeiträge zusammenfasst, die Fragestellung sich daraufhin ergibt und von der Lehrkraft selbst formuliert wird. Eleganter und schülerorientierter wäre die Problematisierung durch die SchülerInnen. Hier ist allerdings besonderes Geschick in der Gesprächsführung gefragt. Das Vorgehen hängt davon ab, wie der Einstieg verläuft und wie versiert Sie schon sind. Bevor Sie jedoch Ihre Klasse raten lassen und Ihre Impulse offensichtlich nur noch dazu dienen, die von Ihnen erhofften Antworten zu bekommen, sollten Sie im Sinne der Transparenz, Zielorientierung und Ökonomie die zur Fragestellung hinführenden Schülerantworten strukturierend zusammenfassen (möglichst mit Namensnennung), die Problemstellung formulieren und die sich anschließende Aufgabenstellung nennen. Notieren Sie bei Besuchen im Unterricht Ihrer MentorInnen, wie der Unterricht eröffnet wird. Reflektieren Sie die Funktionalität des Unterrichtseinstiegs im Hinblick auf den weiteren Unterrichtsverlauf sowie die angestrebten Lehrziele der Stunde.
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6. Die Erarbeitung Aufgabe der Erarbeitungsphase ist es, den SchülerInnen zu ermöglichen, das Thema zu erfassen, eigenständig zu bearbeiten, zu verstehen und eventuell zu präsentieren. Dabei sollen Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten erworben werden, die es ihnen ermöglichen, ähnliche Aufgaben später selbstständig erledigen zu können. Diese Phase hat nach Meyer (1989, 151) die Funktion, Sachund Fachkompetenz, Methodenkompetenz sowie soziale und kommunikative Kompetenzen zu fördern. Oft geschieht die Erarbeitung als Frontalunterricht in einem fragend-entwickelnden Unterrichtsgespräch. Dieses sehr gelenkte Lehrer-/Schülergespräch ist nicht grundsätzlich zu vermeiden, bei manchen Themen und in manchen Fächern sogar notwendig und sinnvoll, doch sollte diese lehrerzentrierte Form gut reflektiert und nicht zu häufig eingesetzt werden, denn Methoden und soziale und kommunikative Kompetenzen lassen sich anschaulicher und nachhaltiger beim Tun erlernen. Die Erarbeitungsphase bietet sich für einen Methodenwechsel nach dem eher lehrerzentrierten Einstieg regelrecht an – und erfüllt dabei die von Hilbert Meyer aufgestellten Funktionen: So können die SchülerInnen beispielsweise ein Thema zuerst allein bearbeiten, dann in Partnerarbeit Fragen klären und im Plenum weiterführende Fragen beantworten. Oder sie lesen etwas zuerst still für sich, bearbeiten den vom Lehrer auf Arbeitsblatt/Folie formulierten Arbeitsauftrag gemeinsam und stellen die Ergebnisse dann in der Klasse vor. Bei Durchführung eines Experiments im Unterricht ist es hilfreich, die verschiedenen Aufgabenbereiche gleich festzulegen, damit die Beteiligten wissen, wofür sie in der Gruppe verantwortlich sind: Wer dokumentiert, wer führt durch, wer präsentiert, wer holt und räumt die benötigten Materialien weg? Das gilt auch für die Arbeit in Gruppen mit Texten oder Bildern. Wenn beispielsweise je nach Anforderung der Aufgabe Moderator, Protokollant, Präsentator, Zeichner, Zeitwächter, Materialmanager (in jüngeren Klassen können auch Ruhewächter erforderlich sein) festgelegt werden, lernen die SchülerInnen immer besser, für ihre Arbeitsergebnisse selbst zu sorgen und sie sowohl einzeln wie auch als Gruppe zu verantworten. Methodische Tipps: Achten Sie darauf, die Arbeitsaufträge nicht während, sondern vor dem Verteilen der Arbeitsblätter zu erklären. Erklären Sie nicht nur mündlich, sondern formulieren Sie sie auch knapp und gut verständlich auf dem Arbeitsblatt. Wenn Sie sich didaktisch begründet für eine Methode, z. B. für das Gruppenpuzzle, entschieden haben, sollten Sie die Durchführung gut organisieren, indem Sie vor der Erarbeitungsphase die Vorgehensweise und die Gruppenzusammenstellung ganz genau erklären und diese – sehr hilfreich
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für die SchülerInnen und für die Lehrkraft, weil Störungen durch Nachfragen vermieden werden – auf einer Folie visualisieren. Weitere Formen der Erarbeitung Viele dankbare Methoden für die Erarbeitungsphase wie Placemat, Gruppenpuzzle, Kugellager, Think – Pare – Share etc. finden Sie in → 7 Methoden kennen und einsetzen. In der Erarbeitungsphase kann der Unterricht für die SchülerInnen stärker geöffnet werden. Das methodische Grundprinzip des Offenen Unterrichts ist das entdeckende, problemlösende, handlungsorientierte und selbstverantwortliche Lernen, welches in seiner radikalen Form in der Praxis den Frontalunterricht vollständig ablösen soll. Offener Unterricht strebt an, die SchülerInnen ihren eigenen Lernprozess gestalten zu lassen. (In → 16 Diversität berücksichtigen finden sie eine Tabelle zu den verschiedenen Öffnungsgraden.) Machbar und gut durchzuführen sind die folgenden Beispiele, die aus dem Sprachunterricht stammen, deren Struktur aber auch auf andere Fächer anwendbar ist: ȤȤ Öffnung auf der Ebene des Inhalts: Banlieues im Französischunterricht einer 10. Klasse Die Lehrkraft gibt zu Beginn Informationen über das Thema, die zu lesenden Lektüren und die festgelegten, zu erreichenden Kompetenzen. Gemeinsam mit der Klasse werden an der Tafel weitere Themen genannt, die die SchülerInnen mit diesem Thema in Verbindung bringen. Anschließend werden sie thematisch gegliedert, und es wird gemeinsam überlegt, welche Themen sich für die Klausur (Format ist festgelegt durch die Fachkonferenz) eignen. ȤȤ Öffnung auf der Ebene der Organisation: Francophonie im Französischunterricht eines 12. Jahrgangs: Die SchülerInnen haben sich entschieden, jeweils ein Bildplakat zu einem Land aus der Francophonie zu erstellen (das Land wurde ausgelost) und der Klasse vorzustellen. Die Vorstellung erfolgte später in einem äußerst schmackhaften Rahmen: So wurden Informationen zu einem Land gehört, während die Spezialitäten dieses Landes – vom Referenten ergoogelt, zubereitet und mit landeskundlichen Informationen versehen – verspeist wurden. Die Präsentationsphase wurde in die für Lehrkraft und SchülerInnen belastende Phase der Klausuren gelegt. So einfach das im Nachhinein wirkt – auf diese Planung wäre ich allein nicht gekommen und die SchülerInnen haben sich sowohl kulinarisch als auch sprachlich bei der Präsentation (die als prozessbezogene Kompetenz trainiert wurde) herausfordern lassen.
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ȤȤ Öffnung auf der Ebene der Methode: Die Inhalte der Sprechprüfung (Englisch/Französisch) liegen fest, können aber thematisch mit den SchülerInnen eingeschränkt werden. Gemeinsam mit der Klasse kann auch festgelegt werden, wie die Sprechprüfung geübt werden soll: Wie können wir das Sprechen am besten üben? Welche Hilfen benötigen wir? In welchem Rahmen/ mit welcher Methode üben wir? In welcher Sozialform ist zu welchem Zeitpunkt die Übung sinnvoll? In einem Kurs brachten die SchülerInnen selbst Vorschläge ein und Sprechmaterial mit. Dieses Vorgehen ist sehr zielorientiert und transparent. Wenn es durch regelmäßiges Feedback (Was hat mir etwas gebracht? Was sollten wir verstärken? Was bringt weniger?) überprüft und immer besser an die sich ändernden Anforderungen angepasst wird, kann ein für die Lehrkraft und für die Lernenden einschätzbares, effektives und abwechslungsreiches Lernen gelingen. In → 12 Feedback-Kultur nutzen finden Sie dazu weitere Informationen. Überlegen Sie für Ihr Fach mögliche (kleine) Öffnungen, die Ihren SchülerInnen eigene Entscheidungen ermöglichen.
7. Die Sicherung Wie können nun die Ergebnisse gesichert werden? Grundsätzlich ist es sinnvoll, die Ergebnisse vorzustellen und dann zu sichern. Die einfachste und naheliegendste Möglichkeit der Sicherung nach der Durchnahme eines thematisch begrenzten Lernstoffes ist der Hefteintrag. Diesen sollte man gut planen, das heißt visuell anschaulich aufbauen, sprachlich klar formulieren und einprägsam gestalten. Legen Sie fest, was die Lernenden unbedingt in ihr Heft eintragen müssen, und achten Sie darauf, dass das auch geschieht. Gute Schülerbeiträge sollten natürlich berücksichtigt und integriert werden, das darf aber nicht zulasten eines in sich geschlossenen und verständlichen Tafelbildes gehen. AnfängerInnen kann es passieren, dass das sorgfältig vorbereitete Tafelbild ad hoc umgestaltet wird, um gute Schülerbeiträge aufzunehmen. Es erfordert schon Überblick, ein Tafelbild aus dem Stegreif umzustellen oder zu entwickeln – das gelingt mit zunehmender Erfahrung immer besser. Weitere konventionelle Formen der Ergebnissicherung sind z. B. die Zusammenfassung durch LehrerIn oder SchülerIn, das gelenkte Gespräch oder der Tafelanschrieb. Häufig wird aus Zeitgründen die Ergebnissicherung in die Hausaufgaben verlagert – ein durchaus problematisches Vorgehen, da der Lehrer fachliche Unsicherheiten nicht mehr wahrnehmen kann und somit auch keine Rückmeldung über einen gelunge-
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nen oder weniger gelungenen Unterrichtsprozess eingeholt werden kann. Grell/ Grell (1996, 110–113) favorisieren für den Anfangsunterricht eine lehrerzentrierte Vorgehensweise, bei der die Rückmeldung über die Richtigkeit oder Angemessenheit der Schülerergebnisse über die Lehrkraft erfolgt. Auftretende Lernschwierigkeiten werden gemeinsam in der Klasse diskutiert und die Klärung von Fragen steht im Vordergrund. Problematisch wird diese Art Sicherung allerdings, wenn es viele Lernprodukte wie Texte, Plakate, Folien gibt und diese nicht alle nacheinander vorgestellt werden können. Hier können Sie eine Auswahl vornehmen und dabei darauf achten, dass die vorgestellten Lernprodukte exemplarisch auch die Irrtümer enthalten, an denen die Lernenden oft scheitern: So können Sie ganz einfach weitere Erklärungen und damit zusätzliche Übungen für die schwächeren SchülerInnen schaffen. Gleichzeitig haben stärkere SchülerInnen die Möglichkeit, ihre Kenntnisse zu zeigen. Grell/Grell nennen diese Phase treffend »Rendez-vous mit Lernschwierigkeiten«. (1996, 110). Wie jedes Rendezvous sollten Sie auch das mit den Lernschwierigkeiten gut auskosten, denn hier findet echte Begegnung statt: Die übende Begegnung der Lernenden mit dem Stoff und die erhellende und manchmal frustrierende Begegnung der Lehrkraft mit den Schwierigkeiten der SchülerInnen … Eine Sicherung mit einer etwas höheren Progression besteht in der Einführung neuer, weiterführender Fragestellungen, sodass die Lernenden die erarbeiteten Ergebnisse anwenden müssen. In der folgenden Diskussion, in der auf die Arbeitsergebnisse zurückgegriffen werden muss, wird dann deutlich, ob echte Lernerfahrungen gemacht wurden. So kann z. B. die Lehrkraft eine These aufstellen, welche von den SchülerInnen im Rückgriff auf ihre erarbeiteten Ergebnisse bestätigt oder widerlegt werden soll. Damit entsteht eine Progression: Die Lernenden erzählen nicht einfach noch einmal, was sie herausgefunden haben, sondern zeigen, dass sie Lernerfahrungen gemacht haben. (Grell/Grell 1996, 111) Planen Sie eine Ergebnissicherung nach einer Erarbeitungsphase, indem Sie sich ein oder zwei mögliche Impulse (Zitat, Bild, Text, Fragestellung, These, …) überlegen, welche sich durch die zuvor erarbeiteten Ergebnisse überprüfen lassen.
Wenn Sie den Einstieg didaktisch geplant haben und dieser Fragestellungen aufwirft, die in der Erarbeitung beantwortet werden, sollten Sie wieder auf den Einstieg zurückgreifen und die Fragestellung ausführlich erläutern lassen. Diese thematische Kreisstruktur des Unterrichts wirkt sehr rund und für die SchülerInnen insgesamt strukturiert und nachvollziehbar. So hat der Einstieg auch im Rückblick für die Lernenden einen Sinn und dient nicht nur der »Stilllegung der Schülerkörper« (Meyer 1989, 128) oder – wie Grell/Grell einen rein als Auf-
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hänger gewählten Einstieg bezeichnen – als »Motivationstrick« (1996, 143). Ein solcher Einstieg erfordert jedoch eine gelungene Passung und damit eine aufwendige didaktische und zeitliche Planung. Leichter ist es mit dem informierenden Unterrichtseinstieg, da dieser wesentliche Gütekriterien guten Unterrichts wie Transparenz, Zielorientierung, Strukturierung beinhaltet und gleichzeitig eine wichtige Ressource schont: Ihre Zeit. In der Regel nicht geeignet ist das Austeilen einer vorgefertigten Ergebnissicherung durch die Lehrkraft: Nicht alle SchülerInnen strengen sich an und arbeiten kooperativ miteinander, wenn sie wissen, dass das richtige Ergebnis vier Meter weiter und 20 Minuten entfernt vor ihnen liegt. Allerdings kommt es hier auf die Arbeitshaltung der Gruppe und die Phase innerhalb einer Sequenz an, denn wenn es primär um Übung geht, eignen sich vorgegebene Lösungen sehr gut! Dann sollten die Lernenden aber auch wissen, dass es nun um das individuelle Üben geht. Es kann sehr befriedigend sein, die eigene Bearbeitung mit einem ausliegenden Lösungsblatt zu vergleichen, richtige eigene Lösungen zu kennzeichnen und Fehler zu verbessern. Tipp: Wenn Ihnen nach einer zu lang geratenen Erarbeitungsphase keine Zeit mehr bleibt, um eine Sicherung durchzuführen, planen Sie ein Minimallehrziel nach der Erarbeitungsphase ein und geben Sie den Lernenden anschließend die Möglichkeit, in einer Murmelphase kurz über die Ergebnisse zu sprechen und Vorschläge zu erarbeiten, wie diese gesichert werden sollten. Die Überlegungen dazu können dann zu einer Hausaufgabe führen, die zu Beginn der nächsten Stunde unbedingt thematisiert werden muss. Oder Sie fragen die SchülerInnen ganz direkt, wie mit den Ergebnissen weitergearbeitet werden könnte. Wenn Sie nach der Sicherung noch Zeit haben, können Sie die Lernenden fragen, wie sie ihren Lernprozess wahrgenommen haben. Grell/Grell nennen diese Phase »Verschiedenes oder Gesamtevaluation« (1996, 114) und entwickeln folgende Fragen die sich auf den Lernprozess insgesamt beziehen und der Lehrkraft oft interessante Hinweise zum Unterricht, zum Lernstand und zur möglichen Weiterarbeit liefern. Es sollten mehrere SchülerInnen antworten. ȤȤ Wie hat dir die Stunde gefallen? ȤȤ Was fandest du schlecht und was gut? ȤȤ Was sollen wir nächstes Mal anders machen? ȤȤ Was sollen wir noch einmal machen? ȤȤ Was hast du in dieser Stunde gelernt? ȤȤ Woran musst du noch weiter arbeiten? ȤȤ Welchen Nutzen hast du davon, dass du dies gelernt hast? ȤȤ Wo kannst du das einmal einsetzen/gebrauchen? ȤȤ Wie kannst du das Gelernte anwenden oder üben?
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ȤȤ Was sollten wir noch lernen? ȤȤ Welche Hausaufgaben könntest du machen? Wählen Sie passende Fragen aus, die Sie zu Ihrem Stundenausstiegsrepertoire machen könnten. Ergänzen Sie den Fragenkatalog mit weiteren Fragen, die zu Ihrem Unterricht, zu Ihrem Thema, zu Ihnen, zu Ihrer Lerngruppe passen.
Bitte vergessen Sie nie: Keine Angst vor Feedback (vgl. → 12 Feedback-Kultur nutzen)! Wenn Sie Ihren SchülerInnen echte Fragen stellen, werden diese Ihnen in der Regel auch echte Antworten geben. Ob diese nun eher positive oder negative Anteile haben, ist zweitrangig: Das Wesentliche ist, dass Sie mit diesem Feedback weiterarbeiten können. Dazu müssen Sie manchmal nachfragen, um zu erfahren, was genau gemeint ist. Das wiederum zeigt den SchülerInnen, dass Sie an ihnen und ihrem Lernprozess interessiert sind. Ein weiterer wesentlicher Aspekt ist die Möglichkeit, dass die Lernenden mehr und mehr Verantwortung für Ihren eigenen Lernprozess zunächst wahrnehmen und dann auch übernehmen. Weitere Formen der Sicherung Meyer (1989, 163) nennt Funktionen der Ergebnissicherung wie Protokollierung und Dokumentation, Auswertung und Kritik, Ergänzung und Vervollständigung, Korrektur und Ersatz, Übung, Veröffentlichung oder Leistungsbeurteilung. Als Ziel der Ergebnissicherung nennt er die »konstruktive Aufarbeitung der Differenz zwischen den Lehrzielen des Lehrers und den Handlungszielen der Schüler« (Meyer 1989, 165). Mit den genannten Möglichkeiten der Ergebnissicherung (gelenktes Unterrichtsgespräch/Hausaufgabe/Tafelanschrieb/Zusammenfassung der Ergebnisse durch die Lehrkraft) ist die »konstruktive Aufarbeitung« kaum zu erreichen, und Meyer fordert deshalb die Entwicklung von Formen, in denen Lehrende und Lernende gemeinsam die Ergebnisse festigen, vertiefen, üben und kontrollieren. Die Kriterien für eine gelungene Ergebnissicherung nach Meyer (1989, 165) sind: 1. Protokollierung und Dokumentation, welche die Verbindlichkeit der Unterrichtsarbeit für alle Lernenden sichert und bei Fehlzeiten, bei fachlichen Unsicherheiten oder als Grundlage für Klassenarbeiten von den Lernenden eingesehen werden. 2. Übung und Vertiefung der Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten, welche die Sach-, Sozial- und Sprachkompetenz festigt.
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3. Kritische Bewertung und vernünftige Verständigung über die Unterrichtsarbeit, welche eine demokratische Kontrolle einübt und in der Reflexion über den Erfolg oder Misserfolg des Lernprozesses eine nüchterne Verständigung über das Erreichte ermöglicht. Als Ergebnissicherung können folgende Möglichkeiten dienen, die aufsteigend von den schon erwähnten lehrerzentrierten zu methodisch anspruchsvollen und schüleraktivierenden Formen (welche in einer Stunde leistbar sind) aufgelistet und bei Meyer (1989, 172–180) ausführlich erklärt werden: ȤȤ Mündliche Zusammenfassung durch die Lehrkraft am Ende der Stunde, wenn die Lernenden dazu noch nicht in der Lage sind, ȤȤ Gelenktes Unterrichtsgespräch, ȤȤ Schriftliche Zusammenfassung an der Tafel oder durch ein Lehrerdiktat, ȤȤ Protokollieren durch SchülerInnen, ȤȤ Simultan-Protokoll, ȤȤ Produktives Schreiben, ȤȤ Schülerlexikon/Wandzeitung, ȤȤ Fries, ȤȤ Zeitleiste, ȤȤ Streitgespräch/Diskussion, ȤȤ Ausstellung/Dokumentation, ȤȤ Selbstständige Alleinarbeit.
8. Vertiefung durch Übertragung/Transfer/Anwendung In dieser Phase ist es wünschenswert, dass die SchülerInnen das an einem bestimmten Material Gelernte (z. B. eine Regel der Grammatik oder Rechtschreibung) noch in derselben Stunde auf weitere Materialien (z. B. Texte) anwenden und das Gelernte dabei üben. Wenn das Gelernte bei der Anwendung verändert werden muss, leisten die SchülerInnen statt einer Anwendung einen Transfer. In der Vertiefung wird ein direkter Lebensweltbezug hergestellt, so kann man z. B. die SchülerInnen fragen, ob Sie die erarbeiteten Prinzipien in ihrer Umwelt wiedererkennen oder ob vergleichbare Situationen in ihrer Umgebung auftreten könnten. Wenn Sie in einer Fremdsprache mit Ihren SchülerInnen das Bestellen in einem Restaurant geübt haben, können Sie sie fragen, ob sie sich weitere Situationen vorstellen könnten, in denen sie das Erlernte nutzen könnten. Bei den Überlegungen nach Einsatzmöglichkeiten (bei einem Austausch, im Urlaub mit den Eltern, bei Übersetzungshilfe als Sprachmittler für einen Fremdsprachler im
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Inland) festigt und überträgt sich das Gelernte und wird mit dem Alltag der SchülerInnen vernetzt. Ein lateraler Transfer findet statt, wenn das Gelernte auf einen Lernstoff gleicher Komplexität übertragen wird, ein vertikaler Transfer bei Übertragung auf einen Lernstoff mit höherer Komplexität. Das wäre in unserem Beispiel der Fall bei einer Sprachmittlung, denn hier wird sowohl Übersetzungsarbeit als auch die Erläuterung landeskundlicher Unterschiede geleistet. Bei einem problemorientierten Gespräch kann das Gelernte auf andere Gebiete angewendet werden. Überlegen Sie, inwieweit der Unterrichtsgegenstand für die Lernenden relevant ist und formulieren Sie einen Impuls, der die Denkbewegungen in diese Richtung lenkt. Notieren Sie sich für eine Stunde mögliche Impulse, welche im Anschluss an die Sicherungsphase eine Vertiefung anstreben.
9. Einen Kurzentwurf anlegen Zur Stundenplanung gehört auch immer eine schriftliche Fixierung, damit die Überlegungen und Impulse in der Stunde zur Verfügung stehen. Stundenentwürfe gelten allerdings als extrem zeitaufwendig und werden (eigentlich nur) von ReferendarInnen sowie BewerberInnen auf ein höheres Amt angefertigt. Freiwillig schreibt man so etwas nicht! Ungeliebt, doch akribisch angefertigt, sollen sie die Planungsfähigkeiten der Unterrichtenden unter Beweis stellen. Kurzentwürfe bilden die abgespeckte Version und sind deutlich reduzierter. Unterrichtsskizzen sind die Variante, die sich noch am ehesten im schulischen Alltag findet. Es gibt LehrerInnen, die jede Stunde ausführlich mit Impulsen, Schülerantworten und Funktionen planen und zu Hause auswerten, andere planen in einem Hefter oder mit einigen Notizen auf einem kleinen Zettel, manche begeben sich gar ohne Zettel in den Unterricht. Jede Lehrkraft entwickelt im Laufe der Zeit ein eigenes System von Planungsaktivitäten. Nicht immer entspricht der Erfolg der Stunde dem Aufwand der Planung. Warum sollte man ihn dann betreiben? Erkundigen Sie sich bei zwei oder drei Lehrkräften, wie sie ihren Unterricht vorbereiten. Lassen Sie sich ein Planungsraster aufzeichnen oder auch zeigen. Fragen Sie genau nach, wie die Planungsschritte bei den Lehrkräften verlaufen. Fragen Sie, wie oder ob die Planungen verschriftlicht werden. Notieren und sammeln Sie Tipps für eine effiziente und tragfähige Stundenplanung!
Es gibt durchaus gute Gründe für das Erstellen eines Kurzentwurfs: Er hilft der Lehrkraft bei der Strukturierung der Stunde, des Stundenziels und der Planung
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der einzelnen Phasen, er gibt Sicherheit bei der Durchführung der Stunde, denn Impulse, Medien, Schüleräußerungen wurden durchdacht und sind überschaubar dargestellt. Das antizipierte Tafelbild, der vorformulierte Text, die vorbereiteten Medien u. ä. ermöglichen es der Lehrkraft, sich ganz auf den Unterricht und ihre SchülerInnen konzentrieren zu können. Dabei sollte die Planung nicht als unbedingt abzuspulendes Raster gesehen werden, sondern als Vorbereitung auf das, was sich dann im Unterricht ergibt. Abweichungen sind in bestimmten Fällen möglich, manchmal nötig, manchmal aber auch nicht. Die Fähigkeit zu entscheiden, wann was angebracht ist und wie eine bessere Passung in der Planung und Durchführung erreicht werden kann, entwickelt sich mit zunehmender Erfahrung und Professionalisierung – und diese ergibt sich, wenn im Anschluss an den Unterricht die Planung als Grundlage für eine Reflexion dient: Wo sind meine Planungsentscheidungen aufgegangen? Wo sind sie zu optimieren? Woran lag es, dass der Übergang, die Auswertung der Erarbeitungsphase, der Umgang mit dem Text, … nicht wie geplant geklappt hat? Ein guter Tipp ist es hier, sofort im Anschluss an die Stunde zu notieren, was gut/weniger gut funktioniert hat und welche Alternativen sich anbieten würden. Das benötigt nur wenige Minuten Zeit, hilft Ihnen jedoch enorm, wenn Sie dasselbe Thema nochmals unterrichten. Am Schreibtisch zu Hause erleichtern Ihnen diese knappen Notizen die Unterrichtsvorbereitung für die nächste Stunde sehr, denn viele wichtige Kleinigkeiten werden Sie nach mehreren Stunden Unterricht und vielen kurzen Gesprächen im Laufe eines Schulvormittags, der manchmal auch bis in den Nachmittag reicht, vergessen haben. Außerdem schärft die Reflexion Ihr Wahrnehmungsvermögen für die vielen unterrichtlichen Prozesse, sodass Sie im Laufe der Zeit immer sicherer in Ihren Entscheidungen werden. Unterrichtsplanungen (Kurzentwürfe, Unterrichtsskizzen) sollten Sie grundsätzlich systematisch aufbewahren, sie dienen als Fundgrube für spätere Stunden und Sequenzen und – zum Beispiel bei Nachfragen von Eltern – als Rekonstruktion des Unterrichtsgegenstands. Nicht zuletzt fungieren sie als Grundlage für Beratungsgespräche mit FachleiterInnen oder MentorInnen. Und: Ja, Stundenentwürfe sind aufwendig. Aber wie immer Sie Ihre Stundenvorbereitung gestalten: Sie können sich nur professionalisieren, wenn Sie über die Passung Ihrer Planung und Durchführung reflektieren. Und wenn dies gehaltvoll sein soll, müssen Sie das auf der Grundlage einer Planung tun. Es gibt im Internet interessante digitale Möglichkeiten der Unterrichts dokumentation, in die Sie nach dem Unterricht veränderte Planungsentscheidungen, Bemerkungen, Hinweise etc. direkt für kommende Stunden oder auch Lerngruppen einfügen können. Hier lohnt sich das Stöbern – aber aufpassen (→ Ressource Zeit)!
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Beispiel für eine Unterrichtsskizze Klasse: Datum: Stunde:
Fehlende Schüler: Hausaufgaben zur Stunde: Thema der Stunde: Vorrangig geförderte (prozessbezogene) Kompetenz der Stunde: Hauptlehrziel der Stunde: Teillehrziele:
Zeit/Phase/ca.
Inhalte/Impulse/ Lehrerverhalten
Funktion des Unterrichtsschrittes (Erwartungshorizont, Kompetenz)
Methode (Sozialformen/ Medien)
Einstieg
Impulse klar und präzise ausformulieren
z. B.: Ritual Aktivierung Bündelung der Aufmerksamkeit Reaktivierung von Vorwissen Öffnung Transparenz Einordnung in die Unterrichtssequenz Würdigung Wertschätzung der Ergebnisse Perspektiverweiterung zu … Überleitung Herstellung von Transparenz Fokussierung …
Methode: Think – Pair – Share Entdeckendes Lesen Redekette Pyramide …
Übergang/ Gelenkstelle Erarbeitung Sicherung Vertiefung durch Transfer/Anwendung/ Übertragung Reserve HA
Hilfsimpulse nennen Inhalte: mögliche und antizipierte Schüleräußerungen aufführen …
Sozialform: LV, EA, PA, GA, UG, SV, … Medien: Tafel, Karten Auszug aus Songtext, AB, Folie, OHP, Beamer, …
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–– In dieser Stunde unbedingt zu tun: Hier tragen Sie ein, was als Basic unbedingt in dieser Stunde geschehen muss, z. B.: Wen nehme ich heute auf jeden Fall dran? Auf welche SchülerInnen achte ich heute besonders? Welche Hefte nehme ich mit? Welche Mitteilungen muss ich machen? Welche Informationen soll ich weitergeben? Evtl.: Was muss unbedingt in den Heften der SchülerInnen stehen? –– Auswertung der Stunde: Hier notieren Sie knapp, was Ihnen an der Stunde gefallen/ nicht gefallen hat, was gelungen, weniger gelungen ist, welche Alternativen Ihnen während der Stunde eingefallen sind, … –– Was ist für die folgende Stunde zu planen, bedenken, überlegen? Abb. 1: Unterrichtsskizze
Das Grundgerüst einer Stunde Phase
Funktion/Umsetzung in der Unterrichtsstunde
Vorphase/Ritual
Kontaktaufnahme, Organisatorisches, emotionales Ankommen
Einstieg: Informierender Unterrichtseinstieg
Offenlegung des Stundenprogramms (Thema, Begründung des Themas, Themen und ggf. Methoden der einzelnen Unterrichtsphasen) Evtl.: Stoffliches Aufwärmen –– durch lehrerzentrierte Methoden (Abfragen, Wiederholen, Protokoll vorlesen, Hausaufgabenkontrolle, Lehrervortrag) –– Aktivierung von Vorwissen durch schülerzentrierte Methoden (kurze Einzel-, Partnerarbeit mit Präsentationen, …) Evtl.: Inhaltliche Hinführung zum Thema –– durch schülerzentrierte Methoden (Comics, Karikaturen, Zeitungsausschnitte, Zitate, Provokationen, ...) mit Erarbeitung des Stundenthemas/der Stundenfrage im Unterrichtsgespräch
Erarbeitung
Arbeitsauftrag: –– Auf Anhieb verständlich, nachvollziehbar und durch visuelle Hilfsmittel (Folie, auf dem Arbeitsblatt) unterstützt –– Klare Anweisung über Sozialform (Einzel-, Partner-, Gruppenarbeit), Organisation (Ablauf), Zeit und Umgang mit Ergebnissen (Selbst kontrolle, ExpertInnen, Präsentation usw.) Möglichkeit für einen Methodenwechsel durch selbstständiges Arbeiten der SchülerInnen an einer Problemlösung, Üben, Anwenden, Auswerten, Vorbereiten einer Präsentation etc.
Sicherung
Präsentation der Ergebnisse –– Ergänzung/Korrektur der Ergebnisse im Plenum im Unterrichtsgespräch, Sicherung auf Folie, Tafel, Plakat, als Hefteintrag –– Bei Präsentationen (z. B. Plakate, Kurzreferate) beachten: Schülerinnen und Schüler müssen vorher in die Lage versetzt werden, eine Präsentation angemessen durchzuführen.
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Phase
Funktion/Umsetzung in der Unterrichtsstunde
Vertiefung
Vertiefung des Lerngegenstandes durch kritische Bewertung
Reserve
Pufferphase (zusätzliche Anwendung/Vertiefung), falls Zeit vorhanden ist.
Hausaufgabe
Übung/Vertiefung zur Stunde oder Vorbereitung/Entlastung/Recherche für die Folgestunde Genau vorformulieren, an die Tafel/auf Folie schreiben, anschließend Hefteintrag
Abb. 2: Grundgerüst einer Stunde
10. Unterrichten ist mehr als planen Wenn Sie eine Stunde planen, haben Sie Ihr Ziel klar im Kopf und kennen sich fachlich richtig gut aus. Sie haben alle Lernschritte schon gemacht und befinden sich auf der »Erkenntnisleiter« ganz oben. Jetzt kommt das, was eine Lehrkraft ausmacht und woran Sie möglichst Freude empfinden sollten: Sie müssen sich in ihre SchülerInnen hineinversetzen und mit deren Augen sehen. Diese haben nämlich überhaupt noch keine Ahnung, was auf sie zukommt. Das verlangt Empathie – ein Fünftklässler hat andere Interessen, Fähigkeiten und Wahrnehmungen als ein Oberstufenkurs. Sie sollten dann den Weg nochmals gehen – dieses Mal mit dem Blick des Lernenden. Was könnte ihn interessieren? Wo wird er Schwierigkeiten haben? Was wird ihn reizen? Je genauer Sie Lernausgangslagen, die Sache und die möglichen Lernschritte analysieren, desto gelungener wird die Passung und damit der Unterrichtsverlauf sein. Das betrifft den gesamten Bereich der Motivation: Sie sind nicht nur Lehrkraft, also Fachmann/-frau für die Gestaltung des Unterrichts, sondern auch ManagerIn,
Vermittlungsperspektive Die Lehrkraft sieht den Unterricht mit den Augen des Kindes und konzipiert ihn entsprechend. Aneignungsperspektive Die Lehrkraft geht den Weg mit den Lernenden gemeinsam – im Optimalfall ermöglicht sie ihnen, die Stufen durch Bereitstellung des entsprechenden Materials allein zu gehen. Abb. 3: Perspektiven auf das Unterrichtsgeschehen
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Überlebensnotwendiges
Sie kontrollieren und steuern das Verhalten einer Klasse; und nicht zuletzt sind Sie eine Person, die als SozialpädagogIn kommuniziert und Beziehungen der SchülerInnen untereinander fördert (Lohmann 2003, 30). Wenn Sie nur als Fachmann/-frau – und nicht auch als Person – oben auf der Erkenntnisleiter stehen bleiben und Ihr Wissen weitergeben, ohne den Lernenden die Lernschritte selbst zu ermöglichen, können Sie nur warten und hoffen, dass sie sich auf Ihr Niveau begeben haben. Wenn Sie sich auf die SchülerInnen einlassen, deren Möglichkeiten analysieren und didaktisch tragfähiges Material zur Verfügung stellen, können diese die Treppen selbst gehen. Sie als Lehrkraft begleiten die Lernenden auf dem Weg. Manchmal muss man ein wenig von unten schieben, das ist aber besser, als von oben das Ziel zu propagieren … Zum Abschluss noch ein Wort zu der Stofffülle, die in manchen kurzen Schuljahren untergebracht werden soll und für die ich das Bild oben nochmals bemühen möchte: Gehen Sie den Weg mit Ihren SchülerInnen zügig, damit es nicht langweilig wird, aber jagen Sie niemanden die Treppen hoch! Möglicherweise sind dann zwar alle irgendwie oben angekommen, jedoch außer Atem und erschöpft. An den Weg selbst – Lern- und Könnenserfahrungen – wird sich später kaum noch jemand erinnern – und wenn doch, dann bleibt der Eindruck einer eher unangenehmen Atmosphäre bei den Lernenden hängen. Das ist kein nachhaltig angelegter Aufbau lebenslangen Lernens! Sie können aber, eventuell sogar in Absprache mit den Lernenden, das Tempo im Hinblick auf Belastungszeiten variieren und intensivere mit weniger intensiven Phasen auch zu Ihrer eigenen Entlastung abwechseln. Schule ist und bleibt ein Lernort, an dem junge Menschen einen großen Teil ihrer Jugend verbringen und nachhaltige Lernerfahrungen machen sollen. Deshalb: Gegen Hetze, für Konzentration, für Qualität und gegen den Nürnberger Trichter im Sinne der buddhistischen Weisheit »Wir haben wenig Zeit. Wir müssen sehr langsam vorgehen.« Ich weiß nicht, wo Sie sich auf der Skala am Anfang des Kapitels verortet haben und wie hoch Ihr Anspruch an Unterricht ist. Natürlich sollten Sie möglichst ehrgeizig sein, was Ihren Unterricht betrifft, doch nicht in dem Sinne, dass jede Stunde optimal verlaufen muss: Sie sollte optimal reflektiert werden, erst dann wird Unterricht besser. Dieser Prozess benötigt Zeit – wie beim Führerschein. Bis dahin suchen Sie sich ein Motto als Mantra, das Sie zum Schmunzeln bringt und das Sie zwar nicht von Ihrer Verantwortung für Ihren eigenen Optimierungsprozess, aber doch in Bezug auf überzogene Ansprüche entlasten kann, ein Motto wie zum Beispiel: »Not perfect, but good enough«, »Every master was once a desaster«, »Besser jetzt als später«, »Man kann Tausende von Fehlern machen – ich bin da noch ganz am Anfang«, »Ich hab es gern hinter mir – meine ersten hundert Fehler mache ich sofort«, …
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Christiane Pihet, Eine Stunde planen
Paul, 11 Jahre, Klasse 5
Bovet, Gislinde/Huwendiek, Volker: Leitfaden Schulpraxis. 62008 Brüning, Ludger/Saum, Tobias: Erfolgreich unterrichten durch kooperatives Lernen. Essen 2008 Grell, Jochen/Grell, Monika: Unterrichtsrezepte. Weinheim 111996 Greving, Johannes/Paradies, Liane: Unterrichtseinstiege. Berlin 2007 Hellmer, Julia: Unterrichtsplanung zwischen Anspruch und Konzentration auf das Wesentliche. In: Pädagogik 10/2007, 22–25 Heymann, Hans Werner: Unterricht planen und vorbereiten. In: Pädagogik 10/2007, 6–9 http://ods3.schule.de/aseminar/einfuehrung/jedentag.htm http://ods3.schule.de/aseminar/einfuehrung/7_schritte.htm http://ods3.schule.de/aseminar/einfuehrung/7_kurz.htm http://marvin.sn.schule.de/~sud/methodenkompendium/module/1/1.htm http://www.referendar.de/unterricht/erste_schritte/bastelanleitung.html Jank, Werner/Meyer, Hilbert: Didaktische Modelle. Berlin 2002 Lohmann, Gert: Mit Schülern klarkommen. Professioneller Umgang mit Unterrichtsstörungen und Disziplinkonflikten. Berlin 2003 Mattes, Wolfgang: Routiniert planen – effizient unterrichten. Braunschweig 2007 Meyer, Hilbert: Was ist guter Unterricht? Berlin 52008 Meyer, Hilbert: UnterrichtsMethoden II: Praxisband. Berlin 1989 Meyer, Hilbert: Leitfaden Unterrichtsvorbereitung. Berlin 52010 Peschel, Falko: Offener Unterricht – Idee, Realität, Perspektive und ein praxiserprobtes Konzept zur Diskussion. Teil I: Allgemeindidaktische Überlegungen. Teil II: Fachdidaktische Überlegungen. Baltmannsweiler 2002 Plöger, Wilfried: Unterrichtsplanung. Köln 2008 Schneider, Gerhard: Gelungene Einstiege. Voraussetzung für erfolgreiche Geschichtsstunden. Schwalbach/Taunus 1999 Thömmes, Arthur: Produktive Unterrichtseinstiege. 100 motivierende Methoden für die Sekundarstufen. Mülheim 2005 Wiater, Werner: Unterrichtsplanung. Augsburg 22013
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Reduzieren lernen Peter Larisch
Sich mit dem Thema der didaktischen Reduktion zu beschäftigen, führt Sie in den Bereich der Unterrichtsplanung. In zentraler Weise setzen Sie damit Ihre konkrete Lerngruppe, den zu vermittelnden Stoff und Ihr eigenes Fach- und Unterrichtswissen in ein stimmiges Verhältnis. Sie erweitern Ihre theoretische Basis für Ihre Planungsüberlegungen und können sicherer Ihre Auswahlentscheidungen für Themen und konkrete Materialien treffen und begründen.
1. Die Notwendigkeit von Reduktion im Unterrichtsalltag erfahren »Und am Ende fehlte mir noch etwas Zeit.« Dies ist eine sehr häufig formulierte Begründung dafür, dass der Unterricht nicht so verlief, wie man ihn geplant hat. Dabei begründen Lehrkräfte mit sehr unterschiedlichen Vorstellungen von Unterricht mit diesem Satz, dass sie den geplanten Stoff nicht in der vorgegebenen Unterrichtszeit geschafft haben. Hier drei Beispiele: ȤȤ Sie haben sich intensiv mit dem Unterrichtsthema auseinandergesetzt, haben sich – auch im Studium – ein breites und tiefes themenbezogenes Fachwissen dazu angeeignet, können Ihre Begeisterung über dieses Thema authentisch der Lerngruppe gegenüber zeigen und in vielfältiger Weise dazu Auskunft geben. – Der eigene fachliche Anspruch: Und schon ist die Zeit vorbei. ȤȤ Sie mussten sich das Stoffgebiet und das Unterrichtsthema erst aneignen. Ihr Studium hilft Ihnen, dies in relativ kurzer Zeit zu tun. Sie haben einige Fachbücher und didaktische Literatur zum Thema gelesen. Grundlegende Begriffe waren Ihnen bekannt, Zusammenhänge haben Sie sich neu erschlossen. Ihren eigenen Aneignungsprozess bei der Erschließung des Themas haben Sie vor Augen. Dennoch fühlen Sie sich, als ob Sie gerade ein, zwei Stunden weiter sind als Ihre SchülerInnen. – Die eigene thematische Aneignung: Und doch muss ich die Sachen im Unterricht selber klären. ȤȤ Sie haben sich den erweiterten Lernbegriff zu eigen gemacht, gehen bei Ihrer Unterrichtsplanung von den zu erwerbenden Kompetenzen aus oder finden
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Peter Larisch, Reduzieren lernen
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konstruktivistische Zugriffe auf den Unterricht spannend und versuchen sich in offenen Unterrichtsarrangements. Der Spielraum bei der Auswahl der jeweils konkreten Sachgegenstände und Themen schreckt Sie nicht, sondern Sie empfinden ihn als Freiheit. – Der sichere methodische Zugriff: Und doch kommt der Inhalt zu kurz. Die Gründe für die als fehlend wahrgenommene Zeit dafür können – je nach LehrerIn und Unterricht – vielfältig sein, der Blick auf den Faktor Zeit beschreibt aber das Symptom und weniger die Ursache. Zudem ist es wenig hilfreich, den zeitlichen Rahmen als externe Ursache heranzuziehen, da der Stundenplan in den meisten Schulen fest vorgegeben ist durch Unterrichtseinheiten von 45 oder 90 Minuten. Lohnender ist es an dieser Stelle, sich mit den Ursachen zu beschäftigen, die Sie selbst beeinflussen können und die im Vorfeld Teil der Planungsüberlegungen sein sollten: eine bewusste Auswahl der Unterrichtsinhalte, eine Konzentration auf das Wesentliche und eine weniger komplexe Darbietung des Stoffes. Reduzieren ist ein Lehrerhandeln, das zu den Grundfertigkeiten gehört, ganz gleich, welcher didaktischen Schule Sie sich zugehörig fühlen. In diesem Kapitel geht es darum, dass der Unterrichtsalltag mit seinen strukturellen und curricularen Vorgaben und vor allem das Lernen Ihrer SchülerInnen von Ihnen verlangen zu lernen, einen Sachgegenstand zu reduzieren. Didaktische Reduktion – Begriffsklärung Didaktisch reduzieren – das tut eine Lehrkraft dann, wenn sie bewusst umfangreiche und komplexe Sachverhalte so aufbereitet, dass diese für eine spezifische Lerngruppe überschaubar, begreifbar und damit lernbar werden. Der Sachverhalt bleibt dabei weiterhin wissenschaftlich einwandfrei. Für die Praxis bietet sich an, insbesondere von zwei didaktischen Reduktionshandlungen auszugehen: Zum einen die Stoffreduktion, also die Auswahl und Reduktion von Inhalten als Teil der sachfachlichen Vorbereitung, und zum anderen die Komplexitätsreduktion, die Aufbereitung dieser ausgewählten Inhalte, die danach vereinfacht und auf das Wesentliche konzentriert sind. Hier geht es um die Darbietung der Inhalte für die jeweilige Lerngruppe. Fachliche Richtigkeit, lernstandsgemäße Angemessenheit und die Möglichkeit, später mit dem Gelernten weiter arbeiten zu können, sind drei Kriterien, die man bei seiner Auswahl beachten sollte (vgl. Lehner 2012; Wüest 2015). Mit Elementarisierung oder didaktischer Rekonstruktion werden in einigen Didaktiken vergleichbare Prozesse der Stoffreduktion beschrieben.
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Überlebensnotwendiges
Unter Umständen haben Sie eine der oben beschriebenen Situationen schon einmal selbst erlebt. Es sind exemplarische Darstellungen von Zugriffen auf Unterricht, bei denen die Lehrkraft am Ende der Unterrichtsstunde das Gefühl hatte, dass Zeit fehlte. Jeweils vermutlich aus unterschiedlichen Gründen wurde auf eine eingehende didaktische Reduktion verzichtet. Der eigene fachliche Anspruch Zu Beginn der beruflichen Karriere macht man oftmals die Erfahrung, dass das eigene Fachwissen allein noch nicht ausreicht, um Unterricht lernwirksam zu gestalten und Lernbewegungen bei Ihren SchülerInnen zu initiieren. Bei der Planung Ihres Unterrichts wird von Ihnen gefordert, didaktischen Überlegungen und damit der Vermittlung der Fachinhalte mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Als Aufgabe stellt sich Ihnen, zu verinnerlichen, dass die didaktische Expertise zunehmend an Bedeutung für die Planung und Durchführung Ihres Unterricht gewinnt – neben Ihrer fachlichen Expertise. Ganz im wertschätzenden Sinne möchte man als ExpertIn seines Faches gelten und den SchülerInnen die Komplexität des unterrichtlichen Gegenstands, seine Vielfalt, Breite und tiefe Bedeutung nahebringen. Nur wenige ausgewählte Aspekte eines Themas zu unterrichten, fühlt sich an, als ob man Wichtiges unterschlagen würde. Unterricht, der so gestaltet ist, hat aber ein Stoffmengenproblem und Sie als LehrerIn tappen in die sogenannte Vollständigkeitsfalle (vgl. Lehner 2012, 22). Man spricht davon, wenn Lehrende der didaktischen Leitlinie folgen, ein Thema systematisch, lückenlos und vollständig zu vermitteln und dabei ihre konkret vor ihnen sitzenden SchülerInnen aus dem Blick verlieren. Bei Ihnen als ExpertInnen sind, wenn Sie mit diesem Stoffmengenproblem kämpfen, zwei Dinge zu einem verschmolzen: Sie haben gelernt, dass Komplexität Teil der Sache selbst ist. Gleichermaßen haben Sie die Komplexität des Faches und die inhaltliche Kompliziertheit eines Themas durch das eigene Lernen verringert, bis das Komplexe für Sie einfach geworden ist und Sie es durchschaut haben (vgl. Lehner 2012, 22). Didaktisch reduzieren heißt, einen Lernprozess auch Ihren SchülerInnen zuzugestehen und dabei mitzubedenken, dass sich diese unter Umständen für Ihr Fach nicht in gleicher Weise interessieren wie Sie und in einem viel jüngeren Alter mit dem Stoff auseinandersetzen müssen, als Sie selbst es in der gebotenen Komplexität getan haben.
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Die eigene thematische Aneignung Im Rahmen Ihres Studiums haben Sie vor allem Exemplarisches gelernt. Ihnen fehlt es mitunter noch an Überblickswissen und fachlichen Strukturen, die speziell für das Unterrichten an einer Schule hilfreich wären. Im Schulalltag sind Sie nun gefordert, kurzfristig Themen zu unterrichten, die teilweise völlig neu für Sie sind. Sie greifen zur Aneignung des neuen Wissens auf Ihre methodischen Kenntnisse zur Erschließung von Fachwissen zurück. Den letztlich zufälligen Weg der eigenen Aneignung des Sachgegenstandes wählen Sie nun – oftmals aus Zeitgründen – zum didaktischen Weg der Weitergabe Ihres Wissens. Da der Stoff aber nicht mit Blick auf den Wissens- und Entwicklungsstand der Lernenden aufbereitet wurde, können Ihnen Ihre SchülerInnen in der konkreten Durchführung des Unterrichts mitunter nicht mehr folgen. Sie selbst müssen ihnen den nächsten Lernschritt erläutern. Sie geben notwendige Hintergrundinformationen und erklären gerade von Ihnen selbst erschlossene Zusammenhänge, obwohl die Lerngruppe den Stoff doch selbst erschließen sollte. Ihr Gesprächsanteil ist viel höher, als Sie es geplant haben. Es wird für Sie deutlich und spürbar, dass Ihre planerische Aufgabe nicht mit der Kenntnis des Themas beendet ist, sondern sie zusätzlich darin besteht, für die Lernenden daraus ein sinnvolles, subjektiv bedeutsames Thema zu machen (vgl. Berner/Zumsteg 2011, 48). Didaktische Reduktion heißt, den Stoff schon im Vorfeld stellvertretend durch die Augen Ihrer SchülerInnen zu betrachten und zu begrenzen. Es gibt aber auch den didaktischen Glücksfall, dass die alters- und lerngruppengemäße Aneignung des Themas gemeinsam mit den SchülerInnen gelingt. Dies ist möglich bei einer offenen Kommunikation zwischen der Lerngruppe und Ihnen und erfordert genaues Zuhören auf beiden Seiten. Der eigene methodische Zugriff Den erweiterten Lernbegriff deutlicher in den Blick zu nehmen, das ist eine Aufgabe, der Sie sich stellen wollen. Dabei gilt es, vielfältige planerische Aspekte zu berücksichtigen: das Prozesshafte des Lernens, das soziale Miteinander der Lerngruppe, die Methodenschulung, die Kompetenz- und Output-Orientierung. Es bedeutet, sich der Heterogenität der Lerngruppen zu stellen, sich also dem Lernen der Einzelnen zu widmen und damit auch Inklusion, Differenzierung und Metakognition als Elemente Ihres Unterrichts anzusehen. In Ihrer Unterrichtsvorbereitung nehmen die Entscheidungen zum Lernarrangement und die organisatorische Bewältigung des unterrichtlichen Arrangements viel Zeit in Anspruch, um zumindest einigen der Anforderungen an modernen Unterricht zu genügen.
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Für die Auswahl des Sach- und Lerngegenstands, der im Zuge des Arrangements behandelt werden soll, bleibt dann mitunter nicht mehr viel Zeit bzw. ist er gefunden, so bleibt für seine tiefer gehende Analyse kaum noch Raum. Somit besteht die Gefahr, dass Ihr Unterricht von der Methode oder dem Arrangement her geplant wird. Junge Lerner sind aber – das gilt es nicht zu vergessen – in der Regel an den Themen interessiert. Didaktische Reduktion heißt, dass der Sachgegenstand zuerst in seiner Dimension erfasst und dann für die entsprechende Alters- und Lerngruppe aufbereitet wird. Dabei sind in der Regel Reduktionen in Umfang und Komplexität vorzunehmen. Unabhängig davon gilt es zu erkennen, dass das Einüben von methodischen Fähigkeiten mitunter viel Zeit in Anspruch nimmt. Teilweise wird die Methodenschulung dann zum zentralen Unterrichtsthema. Die Aussage »Und am Ende fehlte mir noch etwas Zeit« kann also vor allem aus drei Richtungen betrachtet werden: ȤȤ Von der Stofffülle her, d. h. es wird für die Lerngruppe zu viel Stoff dargeboten, oder es ist zu anspruchsvoller Stoff. Die SchülerInnen können das Stoffgebiet nicht erfassen oder haben keine Anknüpfungsmöglichkeiten. ȤȤ Vom Lernen her, d. h. der Inhalt wird nicht zielführend aufbereitet, es werden zu wenige oder zu wenig lernwirksame Aufgaben gestellt, oder es steht zu wenig Lernzeit zur Verfügung. ȤȤ Von der Methode oder dem Arrangement her, d. h. die rein organisatorische Bewältigung des methodischen Zugriffs wird in ihrer zeitlichen Dimension unterschätzt und füllt allein einen Großteil der zur Verfügung stehenden Unterrichtszeit. Dadurch findet mitunter eine inhaltliche Auseinandersetzung gar nicht mehr statt. Manchmal passt das gewählte Arrangement auch nicht zum Thema. Reduktion wird im Folgenden als Begriff positiv besetzt. Didaktische Reduktion ermöglicht Ihren SchülerInnen erst die Arbeit mit eigentlich komplexen und lohnenswerten Lerngegenständen und eröffnet ihnen die Möglichkeit, sich diese sukzessiv zu erschließen und dann auch weiter mit ihnen zu arbeiten. Dass genau die Aspekte von Ihnen weggelassen oder vereinfacht werden, die das Lernen Ihrer SchülerInnen im Moment noch erschweren, ist keine Verfälschung der Sache, sondern die Grundvoraussetzung für gelingenden Unterricht, solange Sie den Kern des Themas im Blick behalten. Sie dürfen zufrieden mit Ihrem Unterricht sein, wenn viele Ihrer SchülerInnen etwas gelernt, d. h. den Stoff verstanden haben (vgl. Esslinger-Hinz, 2007). Dass Sie den geplanten Stoff geschafft haben, ist kein Kriterium erfolgreichen Unterrichts.
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2. Die Stoffreduktion Oder: Die Menge unterrichtlicher Inhalte ist unbeschränkt – die Unterrichtszeit nicht Diese von Berner und Zumsteg formulierte Kurzformel wirft einen sehr pragmatischen Blick auf das Lernen des Reduzierens: Ein Schulhalbjahr hat ca. 20 Unterrichtswochen; multipliziert mit der Anzahl der Stunden Ihres Faches, die Sie in der Woche unterrichten, kommen Sie auf die maximale Stundenzahl, die Sie für Ihren Unterricht zur Verfügung haben. Bei der inhaltlichen Ausrichtung Ihres Unterrichtes orientieren Sie sich an landesweiten Vorgaben und schuleigenen Lehrplänen. Oft sind Sie gefordert, allein oder in der Fachgruppe eine Gewichtung dieser Vorgaben nach Bedeutung vorzunehmen und den zeitlichen Umfang für jede thematische Einheit festzulegen. Diese Entscheidungen erfordern von Ihnen eine weitreichende erste didaktische Reduktion. Es handelt sich hierbei um eine quantitative Reduktion des Lernstoffs. Durch Kompetenzorientierung, Rahmenpläne und Module gehört es oftmals noch zusätzlich zu Ihren weiteren Planungsentscheidungen, die konkreten Inhalte für den Unterricht in Ihrer Klasse auszuwählen. Hier sind weitere didaktische Auswahl- und damit Reduktionsentscheidungen nötig. Diese betreffen in der Regel den Schwierigkeitsgrad des Lerngegenstandes. Man spricht von qualitativer Reduktion des Lernstoffes. Wählen Sie sich ein Unterrichtsthema, in dem Sie sich auskennen. Sie erhalten hier drei unterschiedliche Zeitvorgaben zur Bearbeitung dieses Themas und müssen deshalb gedanklich eine Reduktion vornehmen (Idee angelehnt an Lehner 2012). Beantworten Sie für sich jeweils die folgenden Fragen: a) Sie haben 15 Minuten Zeit für einen Vortrag zu diesem Thema: –– Welche Inhalte sind absolut notwendig zum Verständnis des Sachgegenstandes? –– Gibt es einen Gegenstand, ein Bild, einen Versuch, einen Text o. Ä., an dem Sie das Thema besonders anschaulich machen können? –– Wenn die SchülerInnen eine zentrale Aussage behalten sollten: Welche wäre das? Begründen Sie Ihre Auswahl. b) Sie haben eine Doppelstunde Zeit für Ihren Unterricht zu diesem Thema: –– Welche Inhalte sind absolut notwendig zum Verständnis des Sachgegenstandes? –– Welche Denkbewegung wollen Sie dabei vermitteln (Erfassen eines Phänomens, einer Chronologie, eines Verhältnisses, eines Widerspruchs, einer Regel, …)?
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Überlebensnotwendiges
–– Mit welcher Aufgabe soll sich die Lerngruppe im Zentrum der Stunde beschäftigen, um zu einer Erkenntnis, einer Einsicht, einem Ergebnis zu kommen? –– Wenn die SchülerInnen drei wichtige Aussagen am Ende der Doppelstunde aufschreiben oder mit drei Begriffen etwas anfangen können sollten: Welche wären das? c) Sie haben sechs Doppelstunden/zwölf Schulstunden Zeit, um das Thema zu unterrichten: –– Welche Teilthemen Ihres Unterrichtsthemas können Sie benennen? –– In welchem Zusammenhang stehen diese Teilthemen? In welcher Weise wollen Sie diese unterrichten? Können Sie eine Systematik erkennen, wie z. B. vom Konkreten zum Allgemeinen? Welche Teilthemen müssen unberücksichtigt bleiben? –– Welche sechs bis acht Aussagen oder Begriffe sollen die SchülerInnen am Ende der Unterrichtseinheit behalten haben? –– Welches Ihrer ausgewählten Teilthemen würden Sie weglassen, wenn Sie beim Unterrichten merken, dass Sie mehr Zeit zur Bearbeitung der ersten Teilthemen brauchen? Für alle drei Zugriffe sind zudem folgende Fragen bedeutsam: Wo in der Lebenswirklichkeit Ihrer SchülerInnen kommt das Thema vor? Was von dem Thema kann Ihre Lerngruppe oder die Altersgruppe überhaupt verstehen? Was ist zu schwierig für sie?
3. Die Komplexitätsreduktion, Teil eins – Oder: Was ist eigentlich ›schwierig‹? Wenn Sie – wie vorgeschlagen – einen Sachverhalt reduzieren und für Ihre Lerngruppe aufbereiten wollen, so müssen Sie erfassen, was eigentlich für jemanden in einer bestimmten Altersstufe an einem Thema kompliziert sein könnte. Die folgende Übersicht hilft Ihnen, den Begriff ›Komplexität‹ besser zu erfassen. Er wird dazu in zentrale Teilaspekte zerlegt. Diese werden den beiden Ebenen der Sache und des Lernenden zugeordnet (vgl. Lehner 2012):
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Peter Larisch, Reduzieren lernen
Was ist schwierig? Von der Sache her betrachtet
Vom Lernenden her betrachtet
–– Der Sachverhalt ist komplex; es gibt viele –– Das Vorwissen, die Vorkenntnisse oder Elemente, die in vielfältiger Beziehung zueidie Erfahrungen zu dem Thema sind gering. nander stehen. –– Das Problembewusstsein, sich mit dem Thema zu beschäftigen, ist noch gering –– Es gibt eine Vielzahl von Fachbegriffen. oder gar nicht ausgeprägt. –– Der Abstraktionsgrad ist hoch. –– Die Antworten sind vielschichtig; es gibt –– Die geäußerten Überlegungen der SchüInterpretationsspielraum bzw. nicht immer lerInnen werden von der Lehrkraft nicht eindeutige Lösungen. weiter für den Unterricht genutzt.
Wenn Sie bei der Analyse des Unterrichtsmaterials erfassen, dass das von Ihnen ausgewählte Material Ihre SchülerInnen sprachlich oder inhaltlich überfordern wird, so ist es sinnvoll, nicht erst im Unterricht auf Rückfragen zum Material zu warten, sondern schon im Vorfeld den Komplexitätsgrad zu verringern (vgl. Mietzel 2003; Lehner 2012). Die folgenden Beispiele geben Anregungen, wie Sie Ihr Material in dieser Weise aufbereiten können: –– Fußnoten: Ein schwieriger (z. B. historischer oder fachwissenschaftlicher) Text wird im Original vorgestellt und durch Fußnoten annotiert. Die SchülerInnen können dann selbst entscheiden, ob sie die Erklärung über die Fußnote zur Hilfe heranziehen. –– Abbildungen: Einer komplizierten naturwissenschaftlichen oder technischen Beschreibung wird eine Abbildung beigefügt. Text und Bild illustrieren sich gegenseitig. –– Beispiele: Mathematische Formeln, grammatische Strukturen etc. werden über mehrere Beispiele vorgestellt. –– Analogien: Komplexe naturwissenschaftliche Vorgänge werden über Analogien oder bildhafte Vergleiche eingeführt. Beispiel: Der elektrische Stromkreislauf wird in Physik mit dem Wasserkreislauf verglichen. –– Tabellen: Komplexe Inhalte und Strukturen können – auch zusätzlich – als Tabelle dargeboten werden. Durch die Vorgabe von Kriterien wird das Material für den Lernenden schon geordnet. Bestehende Beziehungen können dadurch leichter sichtbar gemacht werden. –– Schaubilder: Abläufe, logische Strukturen oder hierarchische Zusammenhänge können von vornherein oder parallel zum Text auch als Schaubild visualisiert werden. Die Art der Anordnung ersetzt längere und komplexe Beschreibungstexte. Der Lerninhalt kann schneller und klarer aufgenommen werden. –– Alltagssprache: Bei der Einführung von Fachbegriffen im Laufe des Lernprozesses gilt es zu beachten, dass Fachbegriffe in der Regel durch andere Fachbegriffe
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erklärt werden. Auch wenn sprachliche Präzision einen Wert hat, so ist jeweils zu entscheiden, ob die SchülerInnen die Fachbegriffe, die sie zur Erklärung des neuen Fachbegriffs benötigen, überhaupt schon kennen. Eine solche Vorgehensweise ist für Lernende oftmals keine Hilfe. Es bietet sich an, zunächst zur Definition eines Fachbegriffs Alltagssprache zu verwenden. Alternativ können die Bestandteile des Fachbegriffs ins Deutsche übersetzt werden – wie zum Beispiel bei Demokratie: demos (Land, Volk), kratos (Herrschaft) –, um sich darüber den Begriffsinhalt zu erschließen. Probieren Sie bei der Aufbereitung Ihrer Materialien hier vorgestellte Möglichkeiten aus bzw. konsultieren Sie Ihre jeweiligen Fachdidaktiken. Beobachten Sie darüber hinaus typische Rückfragen und Verständnisprobleme der SchülerInnen, wenn Sie Ihr Unterrichtsmaterial präsentieren, um herauszubekommen, worin die Schwierigkeit beim Verstehen der Materialien besteht.
Wenn Sie bei der Aufbereitung des Materials zu den hier vorgestellten Möglichkeiten greifen, so haben Sie drei Planungsschritte gemacht, die im Bereich der didaktischen Reduktion angesiedelt sind: ȤȤ Sie haben durch Ihre Analyse des Themas die Art der Komplexität erfasst. ȤȤ Sie entscheiden sich dafür, das Thema oder das Material inhaltlich nicht einzuschränken. ȤȤ Sie vereinfachen aber die Darstellung des Themas. Der Sachgegenstand bleibt dabei unverändert.
4. Die Komplexitätsreduktion, Teil zwei – Oder: Was ist eigentlich ›wichtig‹? Es gibt Materialien zu einem Thema, die Sie gern einsetzen möchten, deren Abstraktionsgrad jedoch für die Altersstufe oder die konkrete Lerngruppe zu hoch ist. Auch könnten die Lösungs- und Antwortmöglichkeiten – wie in der tabellarischen Übersicht dargestellt – für Ihre SchülerInnen zu vielfältig sein. Da reichen Hilfen bei der Darstellung nicht mehr aus. Sie müssen das Thema oder das Material inhaltlich einschränken und damit den Umfang reduzieren. Die Kriterien, die Sie bei Ihrer Fokussierung auf zentrale Aspekte des Themas angelegt haben, werden sich in der Regel mit den Begriffen des Exemplarischen und des Elementaren fassen lassen.
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Exemplarische Lerngegenstände ȤȤ Der grundsätzliche Aufbau einer Blume in Zwiebel, Stängel, Blätter, Blüte und Blütenknospe kann exemplarisch über die Gartentulpe erfolgen. ȤȤ Die Papyrusrolle des ägyptischen Totengerichts ist eine exemplarische Darstellung von Jenseitsvorstellungen. In den Fachwissenschaften werden durch Begriffe, Gesetze, Formeln, Gattungsund Epochenbezeichnungen, durch Techniken, Strukturen, Regeln und Methoden für ihre jeweiligen Sachgebiete wichtige Prinzipien erfasst. Diese lassen sich in einigen konkreten Lerngegenständen wie literarischen Texten, Gegenständen der bildenden Kunst, in wissenschaftlichen Versuchen, ethischen Problemstellungen, historischen Situationen, in Musikstücken, Karikaturen und Bewegungsmustern etc. deutlich besser wiederfinden als in anderen. Wenn Sie sich im Rahmen ihrer Planungsüberlegungen also über die jeweiligen Prinzipien Ihres Sachgegenstandes Gewissheit verschafft haben, gilt es nun, solche Unterrichtsgegenstände auszuwählen, in denen diese Prinzipien in besonderer Weise Ausdruck finden. Im Zuge der unterrichtlichen Auseinandersetzung können die SchülerInnen dann diese allgemeineren Zusammenhänge anhand der ausgewählten Materialien erschließen. Aus diesem Grund ist es wichtig, das ausgewählte Unterrichtsmaterial auf den Aspekt des Exemplarischen hin zu überprüfen (vgl. Klafki 2007). Elementare Lerngegenstände ȤȤ Im Märchen Hänsel und Gretel wird die grundlegende Frage gestellt, wozu Menschen in Not in der Lage sind (vgl. von der Groeben 2013, 26 f.). ȤȤ Der Energieerhaltungssatz verdeutlicht die grundlegende Erkenntnis, dass Energie nicht erzeugt oder verbraucht wird, sondern trotz möglicher Umwandlungen erhalten bleibt. In einigen Fachdidaktiken wird heute eher von Elementarisierung als von didaktischer Reduktion gesprochen. Als elementar wird dabei der Kern eines Sachgegenstandes betrachtet, die Grundstruktur einer Sache, eine Grunderfahrung, eine grundlegende Erkenntnis. Wichtig auch hierbei ist, dass bei der Elemen tarisierung die Beziehung zwischen den SchülerInnen und der konkreten Sache mitgedacht werden sollte, also der Erfahrungshorizont und der Entwicklungsstand Ihrer SchülerInnen in gleicher Weise betrachtet werden muss wie die Gültigkeit und fachliche Richtigkeit der Sache (vgl. Kircher 2007; Schweiker 2012).
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Bei dieser Übung geht es zunächst nur um den Nachvollzug der in den didaktisierten Werken vorgestellten Auswahl von Materialien und Unterrichtsgegenständen. Bitte bedenken Sie: »Ich unterrichte das, weil es im Lehrplan steht« ist als didaktische Begründung allein nicht ausreichend. 1. Um ein Gespür dafür zu bekommen, wann ein Material exemplarisch ist, oder um sich zu verdeutlichen, ob ein Lerngegenstand elementar ist, lohnt es sich, mehrere Schulbücher und ggf. deren Handreichungen zu einem Unterrichtsthema zu vergleichen. Hier einige mögliche Fragen, die Ihnen helfen können, diesen Vergleich durchzuführen: –– An welchen Texten, an welchen Gedichten, an welchen Bildern oder Musikstücken werden Themen im Unterrichtswerk erschlossen, sollen Kompetenzen erworben bzw. Epochen- oder Gattungsaspekte erarbeitet werden? Wie ist diese Auswahl zu begründen? –– In welchen Kontexten und an welchen Beispielen werden grammatische Strukturen eingeführt? Wie werden die Strukturen erläutert? Vergleichen Sie diese Erläuterungen mit der Grammatik, wie sie im Studium verwendet wird. Welche Bereiche, Ausnahmen oder Besonderheiten werden im Schulkontext weggelassen? –– An welchen Elementen und Stoffen(z. B. Chemie), Geräten und Versuchen (z. B. Physik), Aufgaben und Problemstellungen (z. B. Mathematik) werden neue Unterrichtsinhalte eingeführt? Welche weiteren Stoffe, Versuche und Aufgaben werden danach bearbeitet? Worin ähneln diese den zuerst behandelten? –– Welche historischen Quellen, Karikaturen und Bilder werden als Unterrichtsmaterial ausgewählt und werden somit als alters- und sachangemessen angesehen? An welchen politischen Situationen und von welchen Erfahrungen der Schülerinnen aus werden soziale und gesellschaftliche Fragen angesteuert? Hinterfragen Sie in einem zweiten Schritt die dort getroffenen Entscheidungen und legen Sie Ihre eigenen Vorstellungen und Kriterien parallel an. 2. Vermutlich werden Sie eine Reihe von Übereinstimmungen bei der Auswahl der Materialien in den Schulbüchern finden. –– Dort, wo Sie unterschiedliche Versuche, Quellen, Bilder oder Aufgaben gefunden haben, wählen Sie zwei aus und analysieren Sie diese vergleichend. Schauen Sie auf die Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen. Über diesen Weg werden Sie sich den zentralen Begriffen, Gesetzen, Formeln, Regeln und Methoden Ihres Faches nähern. Beruhigend dürfte sein, dass sich das Exemplarische und das Elementare an mehr als einem Sachgegenstand erklären lässt.
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–– Auf ein Problem soll hingewiesen werden: Ungeprüft sollten die Texte und Vorschläge in Lehrwerken oder Abiturvorbereitungswerken nicht für den eigenen Unterricht übernommen werden. 3. In einer Reihe von curricularen Vorgaben gibt es auch Hinweise und Listen mit Vorschlägen zur inhaltlichen Ausgestaltung der vorgeschriebenen Themen. –– Schauen Sie sich diese Hinweise an und verdeutlichen Sie sich, in welchen Merkmalen diese Vorschläge übereinstimmen. Diese dürften exemplarisch oder elementar für das Sachgebiet stehen. So werden für die Klasse 8 des Gymnasiums unter anderem folgende Dramen zur Lektüre vorgeschlagen: Max Frisch: Biedermann und die Brandstifter, Friedrich Schiller: Wilhelm Tell, Carl Zuckmayer: Hauptmann von Köpenick.
In der Theorie mitunter leichter zu trennen als in der Praxis, aber dennoch hilfreich ist die oben angesprochene Unterscheidung in quantitative und qualitative Reduktion. Das Bild des Spiralcurriculums verdeutlicht, dass ein Lerngegenstand auch qualitativ, also von der inhaltlichen Schwierigkeit und nicht nur vom Umfang her, sukzessiv reduziert werden kann, sodass er in vielen, auch den unteren Klassen dargeboten und unterrichtet werden kann. In Chemie werden in der Sekundarstufe II Redoxgleichgewichte (Elektronenübertragungsreaktionen) behandelt, in der Mittelstufe Oxidation und Reduktion und in der Grundschule Feuer und Verbrennen. Im Kern handelt es sich jeweils um denselben chemischen Umwandlungsprozess. Den Lerngegenstand können Jüngere dann bearbeiten, wenn Sie als LehrerIn großzügiger bei der Auswahl der zentralen zu vermittelnden Merkmale werden, wenn Sie bei der Bearbeitung des Themas weniger Aspekte herausstellen, als es der Sachgegenstand eigentlich erforderlich machen würde. Einige Beispiele: ȤȤ Eine Unterscheidung in Früh-, Hoch- und Spätmittelalter ist in einigen Zusammenhängen weniger bedeutsam als den Zeitraum des Mittelalters als Ganzes zu betrachten. ȤȤ Bisweilen ist es sinnvoll, dass Sie sich bei der Darstellung von politischen Entscheidungsfindungen auf wenige Aspekte konzentrieren, die die SchülerInnen auf ihrem Entwicklungsstand verstehen können, und andere Aspekte deshalb noch nicht zum Unterrichtsgegenstand machen. ȤȤ Bei der Auswahl von Grafiken und Modellen wählen Sie in der Regel für Jüngere weniger detaillierte Darstellungen (vgl. Killermann 2005). ȤȤ Automatisch reduzieren Sie ebenfalls in der hier vorgestellten Weise, wenn Sie Zeitungsartikel, Darstellungstexte, historische Quellen oder Ausschnitte
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aus literarischen Texten für Ihre Zwecke kürzen und diese Kürzungen durch Auslassungszeichen markieren. Sie entscheiden sich bewusst dafür, gewisse Aspekte in dem von Ihnen gewählten Zusammenhang nicht zu thematisieren. Verallgemeinernd kann man sagen, dass Sie sich bei der Reduktion des Lernstoffes und somit bei Ihrer Planung insgesamt, sowohl Ihren SchülerInnen, Ihrem Fach als auch Ihren Zielen verbunden fühlen sollten. Dabei beziehen Sie diese drei Faktoren von Unterricht aufeinander und orientieren sich ȤȤ an entwicklungs- und lernpsychologischen Erkenntnissen (bezogen auf Ihre SchülerInnen) ȤȤ an der Fachsystematik und der fachlichen Korrektheit (bezogen auf Ihr Fach) ȤȤ an Ihren Unterrichtszielen und den zu erwerbenden Kompetenzen (bezogen auf Ihre Ziele).
5. Organisatorische Reduktion: Methoden und Arrangements Viele vermeintlich einfache organisatorische Aufgaben brauchen viel Unterrichtszeit, selbst wenn sie von Lerngruppen bewältigt werden, die routiniert und ritualisiert agieren: das Ausfüllen eines Arbeitsblattes, die Organisation der Gruppenarbeit, das Austeilen der Experimentierkästen, der Musikinstrumente oder der Stifte und Farben, der Aufbau eines Versuchs im Fachraum oder der Geräte in der Sporthalle. In nur einer Schulstunde sind zudem aufwendigere Arrangements wie Metamethoden (Diskussionen), kooperativ-konstruktivistische Arrangements (Gruppenpuzzle) oder handlungs- und produktionsorientierte Verfahren (Rollenspiel) nur selten durchzuführen; insbesondere nicht, wenn der Verstehensprozess auch noch artikuliert werden, Ergebnisse präsentiert und für alle gesichert werden sollen. Selbst wenn Sie in Ihren Planungsüberlegungen didaktische Reduktionsentscheidungen sicher getroffen haben, ist es wichtig, einen realistischen Blick dafür zu entwickeln, wie viel Zeit die reine Unterrichtsorganisation braucht. Reduzieren lernen fordert von Ihnen somit auch, dass Sie Ihren SchülerInnen bei der Bewältigung schulischer Alltagsroutinen Zeit einräumen. Geben Sie Ihnen angemessene Zeit, einen Text zu lesen, Wichtiges zu unterstreichen, etwas abzuschreiben, Materialien auf- und abzubauen, sich Bedenkzeit bei der Beantwortung einer Frage zu nehmen oder sich mit anderen für eine Gruppenarbeit zusammenzufinden. Schauen Sie mit einem positiven Blick auf Ihre Klassen, gehen Sie von deren Arbeitsbereitschaft aus und setzen Sie sie nicht
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unnötig unter Druck, nur weil Sie dringend weiter mit dem geplanten Pensum vorankommen oder die Stunde wie in der Planung ausgewiesen bis zu einem bestimmten Punkt bringen wollen. Geben Sie Ihren SchülerInnen eine realistische Zeit für die Bearbeitung der Aufgaben. Manch kritischer Kommentar von KollegInnen wie »Das Gruppenpuzzle ist nur was für Referendare« oder »Wenn Sie erst einmal Vollzeit unterrichten, werden Sie auf so etwas Aufwendiges verzichten« richtet den Blick auch auf das Thema Reduktion. Durch solche Aussagen rücken die erfahrenen KollegInnen schulische und unterrichtliche Notwendigkeiten in den Vordergrund, wie den Umgang mit der beschränkten Unterrichtszeit, den Wunsch, Gelerntes noch in der Stunde ins Heft zu notieren, damit sich die SchülerInnen auf Klassenarbeiten vorbereiten und curricular kontinuierlich weiterarbeiten können. Konstruktivistische, handlungs- und produktionsorientierte Arrangements konzentrieren sich noch bewusster auf den Einzelnen, auf seinen individuellen Lernprozess, sie nehmen Heterogenität in den Blick und legen Wert auf den kommunikativen Austausch in der Gruppe. Diese pädagogischen Überlegungen erfordern aber wegen der zusätzlichen Zeit, die für ihre Umsetzung oftmals notwendig ist, einen noch viel genaueren Blick auf die inhaltliche Auswahl ihres Sachgegenstandes. Erst eine inhaltlich sehr klare didaktische Reduktion, die ausweist, dass Sie mit Ihren Lerngruppen an exemplarischen und elementaren Lerngegenständen arbeiten, ermöglicht es Ihnen, auf die Hinweise der KollegInnen auf beschränkte Unterrichtszeit, Notengebung und curriculare Arbeit gelassener zu reagieren und sich bewusst auch für solch aufwendigere Arrangements zu entscheiden. So wird ein methodisch komplexer Unterricht nicht zum Selbstzweck.
6. Ausblick: Der didaktische Kern – Voraussetzung für Differenzierung Es gilt für Sie, den Kern Ihrer zu unterrichtenden Sache sicher zu erfassen und das Material so zu reduzieren, dass es zu dem Inhalt wird, der mittels des von Ihnen gewählten Arrangements bearbeitet werden kann. Mit der Klarheit über den didaktischen Kern einer Sache (vgl. von der Groeben 2013), können Sie sich auf den Lernstand der Klasse einstellen und in der Folge wieder auf Heterogenität reagieren und differenzierende Maßnahmen planen. Einen Sachgegenstand differenziert und damit pädagogisch differenzierend aufzubereiten, gelingt Ihnen erst, wenn Sie sich vorher des inhaltlichen Kerns bewusst sind. Von hier aus lassen sich zum Beispiel Zusatzaufgaben oder Hilfsangebote erst denken.
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Gerade auch bezogen auf die Aufgaben, die inklusiver Unterricht Lehrkräften stellt, ist eine bewusste didaktische Reduktion unabdingbar. Ein Beispiel: In der Unterrichtseinheit zum Märchen wird Hänsel und Gretel nicht unter formalen Gesichtspunkten unterrichtet, sondern es wird die existenzielle Frage ins Zentrum gerückt, wozu Menschen in Not in der Lage sind. Differenzierende Zugriffe könnten sein (vgl. von der Groeben 2013, 26.f.): ȤȤ Zeichnet den Wald mit den Stationen der Geschichte und beschreibt den Weg. ȤȤ Wie überzeugt die Stiefmutter den Vater, dass die Kinder fort müssen? ȤȤ Der Vater hat keine Ruhe mehr, nachdem die Kinder fort sind und vertraut sich einem Freund an. ȤȤ Könnte die Geschichte auch heute so ähnlich passieren? ȤȤ Ist Gretel eine Heldin oder ein Mörderin, weil sie die Hexe getötet hat? Eine Gerichtsverhandlung klärt das. ȤȤ Vielleicht war die Hexe gar nicht böse, sondern die Kinder hatten nur kein Vertrauen mehr in die Erwachsenen und haben sich eingebildet, die Frau sei böse. Schreibt die Geschichte und ggf. das Ende so um, wie eine freundliche alte Frau sie erzählen würde. Reduktionsentscheidungen begründen »Warum sollen wir das lernen?« Diese oftmals von SchülerInnen gestellte Frage ist völlig zulässig, und Sie sollten es sich zur Aufgabe machen, diese Frage auch beantworten zu können. Auch Eltern und KollegInnen können Sie unter Umständen bitten, ihnen zu erläutern, warum Sie einen Gegenstand in Ihrem Unterricht zum Thema machen. Dabei ist der Hinweis, dass etwas im Lehrplan ausgewiesen ist, zulässig, aber in der Regel allein als Antwort für den Fragenden nicht zufriedenstellend. Die Kategorien des Exemplarischen oder des Elementaren sind im Fachgespräch mit KollegInnen womöglich eine einleuchtende Begründung. Für Gespräche mit Eltern und insbesondere mit den Lernenden sollten Sie etwas detaillierter Auskunft geben können. Oftmals ist es sinnvoll, die Auswahl fachlich zu begründen unter Verweis auf die oben aufgeführten zentralen Einsichten, Erkenntnisse, Begriffe, Strukturen und Regeln, die es in Ihrem Fach zu unterrichten und für die SchülerInnen zu verstehen gilt. Die folgende Übersicht (orientiert an Becker, in: Lehner 2012, 89) listet einige Argumente auf, die Ihren Auswahl- und Reduktionsentscheidungen zugrunde liegen dürften. Die Liste erhebt keineswegs den Anspruch auf Vollständigkeit.
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Peter Larisch, Reduzieren lernen
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Ihr Unterrichtsinhalt schult die kognitiven Fähigkeiten Ihrer SchülerInnen. Sie vermitteln Orientierungs-, Detail- oder Vertiefungswissen. Der Lerngegenstand ermöglicht zentrale (exemplarische) Erkenntnisse. Sie fördern soziales Lernen. Sie bearbeiten zentrale, aktuelle oder grundlegende ethische oder gesellschaftliche Fragestellungen. Die SchülerInnen erwerben Weltwissen. Ihr Unterricht ermöglicht grundlegende psychomotorische Lernerfahrungen. Ihre SchülerInnen können ästhetische Erfahrungen machen. Sie schulen methodische Grundfertigkeiten oder vermitteln Lerntechniken und -strategien. Sie fördern die Persönlichkeitsentwicklung Ihrer SchülerInnen.
Wichtig ist, dass Sie sich im Rahmen Ihrer Planungsüberlegungen deutlich machen, welchen dieser Bereiche Sie vornehmlich schulen wollen. Gerade am Anfang der beruflichen Arbeit unterliegt man mitunter der Versuchung, zu viele divergierende Ziele parallel anstreben zu wollen. Auch hier ist Reduktion angesagt.
7. Fazit »Und am Ende fehlte mir noch etwas Zeit.« Den diagnostischen Anteil dieser Aussage sollten Sie sich zukünftig zu eigen machen für Ihre weiteren Planungsüberlegungen: ȤȤ Sie erfassen damit, dass Lernen langsam stattfindet und Sie Ihren SchülerInnen diese Zeit einräumen müssen. ȤȤ Sie machen sich deutlich, dass im System Schule an wenigen Lerngegenständen intensiv gelernt werden sollte und somit die Auswahl und Aufbereitung dieser Lerngegenstände von großer Bedeutung ist. ȤȤ Sie setzen bewusst Erkenntnisse der Lernpsychologie und der allgemeinen Didaktik gegen eine zunehmend in der Schule zu beobachtenden Hektik: In kurzer Zeit soll möglichst viel Stoff, der oftmals auch noch in zu kleinen Ausschnitten dargeboten wird, vermittelt werden. Ein solcher Zugriff läuft konträr zu den Vorstellungen einer sinnvollen Kompetenzorientierung. ȤȤ Sie machen sich auf den Weg, die Komplexität der Welt, die über Ihr Fach in die Schule gelangt, immer wieder neu so zu reduzieren, dass sie für Ihre SchülerInnen erfassbar und zum Lerngegenstand wird.
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Leander, 11 Jahre, Klasse 5 Berner, Hans/Zumsteg, Barbara (Hg.): Didaktisch handeln und denken. Bd. 2. Fokus eigenständiges Lernen. Zürich 2011 Esslinger-Hinz, Ilona/Unseld, Georg/Reinhard-Hauck, Petra/Röbe, Edeltraud: Guter Unterricht als Planungsaufgabe. Ein Studien- und Arbeitsbuch zur Grundlegung unterrichtlicher Basiskompetenzen. Bad Heilbrunn 2007 Killermann, Wilhelm/Hiering, Peter/Starosta, Bernhard: Biologieunterricht heute. Eine moderne Fachdidaktik. Donauwörth, 112005 Kircher, Ernst/Girwidz, Raimund/Häußler, Peter (Hg.): Physikdidaktik. Theorie und Praxis. Heidelberg, 22007 Klafki, Wolfgang: Zur Unterrichtsplanung im Sinne kritisch-konstruktiver Didaktik. In: Klafki, Wolfgang: Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Zeitgemäße Allgemeinbildung und kritisch-konstruktive Didaktik. Weinheim/Basel 62007, 251–284 Lehner, Martin: Didaktische Reduktion. Bern 2012 Lohman, Gert: Mit Schülern klarkommen. Berlin 2012 Mietzel, Gerd: Pädagogische Psychologie des Lernens und des Lehrens. Göttingen, 72003 Schweiker, Wolfhard: Arbeitshilfe Religion inklusiv. Grundstufe und Sekundarstufe I. Basisband: Einführung, Grundlagen und Methoden. Stuttgart 2012 Städeli, Christoph/Grassi, Andreas: Didaktik für den Unterrichtsalltag. Bern 2012 Stary, Joachim: Das didaktische Kernproblem – Verfahren und Kriterien der didaktischen Reduktion. http://userpage.fu-berlin.de/~stary/NHHSL%20DR.pdf (Zugriff: 29.2.2016) von der Groeben, Anneliese/Kaiser, Ingrid: Werkstatt Individualisierung. Hamburg, 22013 Wüest, Yvo: Reduziert gewinnt! Didaktische Reduktion für Trainer, Ausbildende und Lehrpersonen. Bern 2015
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Methoden kennen und einsetzen Renate Will
Im folgenden Kapitel erhalten Sie einen Überblick über gängige Unterrichtsmethoden. Sie erhalten Tipps und Anregungen und erlangen Kenntnisse, um Methoden sinnvoll und effektiv in Ihrem Unterricht einzusetzen und Ihre Methodenkompetenz zu professionalisieren.
Methode – wer kennt ihn nicht, diesen Begriff, der einen bereits von Kindesbeinen an begleitet: in der eigenen Schulzeit, im Studium oder Praktikum. Haben Sie schon einmal versucht, eine Definition – sozusagen eine Arbeitsdefinition – für ›Methode‹ zu finden? Können Sie eine Antwort darauf geben, welche Methoden den Unterricht sinnvoll und effektiv voranbringen und die Lernwege der SchülerInnen unterstützen? Das folgende Kapitel gibt Hilfestellung.
1. Definition ›Methode‹ – ein Versuch Schaut man im Duden nach, wird der Begriff ›Methode‹ mit »Weg oder Gang einer Untersuchung, eigentlich = Weg zu etwas hin« (http://www.duden.de/ rechtschreibung/Methode) erklärt. Damit stellt sich die Frage, wohin der Weg gehen soll bzw. was ›Weg‹ bedeutet. Auch da hilft der Duden weiter. Man erhält für den Begriff ›Weg‹ u. a. die folgende Erklärung: »[4.] Art und Weise, in der jemand vorgeht, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen«. Was hat nun diese Definition mit Unterricht zu tun? Und welches Ziel soll im Unterricht erreicht werden? Nach Wiater (2011, 171) sind Methoden »LehrLern-Wege, die der Lehrer/die Lehrerin für die Klasse/Lerngruppe vorüberlegt und die die Schülerinnen/Schüler ›nachgehen‹, ›mitgehen‹, ›miteinander gehen‹ oder ›allein gehen‹.« Es bleibt immer noch die Frage nach dem Ziel, das erreicht werden soll, oder sind es gar Ziele?! Wenn Sie in der gängigen Literatur nachschauen, werden Sie fündig: Methoden dienen ȤȤ zum Erreichen von Lehrzielen; damit rückt der Stoffinhalt, der vermittelt werden soll, in den Fokus,
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ȤȤ zum anderen aber auch zum Erwerb von (Methoden)kompetenz(en), die SchülerInnen während der Schulzeit erlangen sollen, Fähigkeit(en), »das eigene Lernen bewusst, zielorientiert, ökonomisch und kreativ zu gestalten und dabei auf ein Repertoire geeigneter Methoden und Lernstrategien zurückzugreifen.« (Meyer 2009, 154) Und wie sieht es hinsichtlich der Methodenkompetenz von Lehrkräften aus? Ein Blick in die Prüfungsverordnung für das Land Niedersachsen (APVO) zeigt, dass von Lehrkräften im Vorbereitungsdienst (LiV) gefordert wird, dass »[s] ie […] eine hinreichende Übereinstimmung zwischen den fachwissenschaftlichen Grundlagen sowie den fachdidaktischen und methodischen Entscheidungen her[stellen]« (1.1.5) und »[…] den Unterrichtsablauf sowie den Einsatz von Methoden und Medien im Hinblick auf die Optimierung der Lernprozesse [organisieren]« (1.2.3). Nimmt man diese Forderungen als Grundlage, so reift sofort die Erkenntnis, dass es nicht möglich ist, Methoden nur als Selbstzweck im Unterricht einzusetzen, sondern dass die Planung des Erkenntnisweges (Didaktik) ein intensives Nachdenken über den Einsatz von Methoden nach sich zieht (Methodik). Dazu gehört auch die Wahl der geeigneten Sozialform, der geeigneten Kommunikationsform, der geeigneten Aktionsform und der geeigneten Artikulationsform (Strukturierung des Unterrichts, Phasen). Eine x-beliebige Methode auszuwählen und anzuwenden, reicht also nicht. Heuermann/Krützkamp stellen klar: »Eine fundierte Methodenkompetenz stellt das Handwerkzeug für eine erfolgreiche Schullaufbahn bereit.« (2012, 12) Stimmt man dem zu, so ergibt sich umso mehr die Notwendigkeit, die eigene Methodenkompetenz in den Blick zu nehmen und dafür zu sorgen, SchülerInnen eine fundierte Methodenkompetenz zu vermitteln. Es ist ein Unterschied, ob man z. B. in einem naturwissenschaftlichen Fach unterrichtet und dabei das Experiment als Grundlage seines Unterrichts sieht oder ob man in den Fremdsprachen Methoden einsetzen möchte, die der Kommunikationsförderung dienen (z. B. Tandembogen). SchülerInnen im Sekundarbereich II sollen dazu befähigt werden, einen Methodentransfer in Abhängigkeit des Faches zu leisten und »Methoden im Blick auf die jeweiligen Fächer und Aufgabenarten zu reflektieren.« (Heuermann/Krützkamp 2012, 13). Diese Forderung zeigt, wie wichtig es ist, Methodenkompetenz über Fächergrenzen hinweg zu schulen, was wiederum eine Kooperation zwischen den Lehrkräften einer Schule voraussetzt. Nicht umsonst kommt der Entwicklung eines Methodenkonzepts im Rahmen des Schulentwicklungsprozesses einer lernenden Schule eine wichtige Bedeutung zu. Besonders kritisch muss man sich fragen, wie Lernwege methodisch gestaltet werden können, damit alle SchülerInnen am Ziel ankommen – in einer Zeit,
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in der schulisches Lernen nicht immer im Mittelpunkt des Interesses der Lernenden steht. Wie kann man Methodenkompetenz erwerben und wie schult man diese bei SchülerInnen? In diesem Kapitel finden Sie theoretische und praktische Anregungen, Ihre eigene Methoden-Kompetenz und die Ihrer SchülerInnen weiterzuentwickeln.
2. Entwicklung der Methodenkompetenz – mit Haltung zur Professionalität So, wie Sie Schritt für Schritt lernen, Unterricht zu planen, so sollten Sie sich auch Schritt für Schritt mit der Vielfalt und Variation von Methoden und deren Funktionalität im Lernprozess auseinandersetzen. Die von Ihnen eingesetzten Methoden müssen die von Ihnen gesetzten Unterrichtsziele optimal und vollständig ermöglichen und auch dazu führen, dass Ihre SchülerInnen eine Kompetenzerweiterung erfahren. Auch für Lehrkräfte gilt, dass eine Methode trainiert werden muss. Neben fachlichen Kenntnissen werden auch von Ihnen Fähigkeiten und Fertigkeiten erwartet. Somit sollte selbstverständlich sein, dass Sie die Bereitschaft mitbringen, sich mit Methoden intensiv auseinanderzusetzen und sie entsprechend effektiv in Ihrem Unterricht einzusetzen, damit Sie kompetent werden im Methodeneinsatz als einem wichtigen Aspekt der pädagogischen Professionalität. In einer Zeit, in der pädagogische Anforderungen auch bestimmt werden durch Heterogenität, Binnendifferenzierung, Inklusion … und diese als selbstverständlich bei der Unterrichtsgestaltung beachtet werden sollen, erscheint es sachlogisch, dass Methodenvielfalt dazu dient, Lernende auf verschiedenen Wegen zu Lehrzielen gelangen zu lassen, da die Wahrscheinlichkeit erhöht wird, dass Unterrichtsinhalte individuell vermittelt und verstanden werden. Nicht zu vergessen ist, dass durch das Methoden-Training auch dem erweiterten Lernbegriff (inhaltlich-fachliches Lernen, methodisch-strategisches Lernen, sozialkommunikatives Lernen, affektives Lernen) Rechnung getragen wird. Bleibt noch zu betonen, dass Methoden kleinschrittig und konsequent im Unterricht einzuüben sind, Methoden müssen sich ›einschleifen‹, sodass sie durch Lernende sicher zum Einsatz gelangen können – eigenverantwortlich, selbstständig, konsequent. Dadurch wird die Verantwortung für den Lernprozess teilweise an die SchülerInnen übertragen, was im eigentlichen Unterrichtsgeschehen die Lehrenden entlastet. In der Vorbereitung jedoch nimmt es zunächst in der Regel viel mehr Zeit in Anspruch, bis sich Metho-
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den automatisiert haben und auch in der Selbstorganisation der SchülerInnen liegen. Der Vielfalt ist keine Grenze gesetzt, sodass Lehrkräfte lerngruppenangemessen entscheiden können, welche Methode in den Fokus rückt und trainiert wird. Viele Schulen bieten ihren SchülerInnen ›Methodentage‹ an, gestaffelt nach den – angeblichen – Bedürfnissen der Lerner. Damit rückt das Methodentraining in den Mittelpunkt, nicht jedoch die Vermittlung des Stoffes. So starten fünfte Klassen zum Beispiel mit dem Anlegen von Mappen, dem Einrichten eines Arbeitsplatzes, dem Führen eines Hausaufgabenheftes, in Klasse 6 werden Buchvorstellungen eingeübt, kleine Referate gehalten, … Hier stellt sich die Frage an die Sinnhaftigkeit. Methodentraining losgelöst von jeglichem inhaltlichen Lernen? Ein glatter Widerspruch! Bevor Sie weiterlesen, sollten Sie sich somit zunächst Gedanken zu der Frage machen, wie Sie den Einsatz von Methoden im Unterricht bisher durchgeführt haben und welches Ziel Sie sich hinsichtlich Ihrer eigenen Methodenkompetenz setzen. ¨¨ Folgende Methoden kenne ich:
¨¨ Ich habe sie folgendermaßen eingesetzt: ¨¨ Ich habe die Methoden bisher nur ausprobiert. ¨¨ Der Einsatz von Methoden erfolgte sinnvoll und sachlogisch. ¨¨ Mir ist bewusst, dass inhaltliches und methodisches Lernen miteinander verknüpft werden müssen! ¨¨ Ich habe mir schon einmal Gedanken darüber gemacht, welche Rolle ich – als Lehrkraft – in einem derartig konstruierten Unterrichtsprozess habe.
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Ich informiere mich über Methoden ¨¨ in Fachbüchern, ¨¨ im Internet, ¨¨ bei MitreferendarInnen/PraktikantInnen, ¨¨ bei KollegInnen, ¨¨ bei
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.
¨¨ Ich übe/trainiere die geplanten Methoden vor dem Einsatz im Unterricht. ¨¨ Ich probiere die Methoden aus, bevor ich sie im Unterricht bei meinen SchülerInnen einsetze. Vor dem Einführen einer neuen Methode mache ich mir ¨¨ immer ¨¨ meistens ¨¨ nie Gedanken darüber, wie dieses am besten geschehen soll. ¨¨ Ich bin über die Methodenkenntnisse meiner Lerngruppen informiert. ¨¨ Für meine Lerngruppen plane ich ein Methodentraining ein. Nehmen Sie gezielt Ihre letzte Unterrichtsstunde, Ihre letzte Seminarstunde in den Blick. Welche Methoden wurden eingesetzt? Wie sind die SchülerInnen/Sie selbst damit umgegangen?
Haben Sie/Ihre AusbilderInnen mit der Auswahl der Methoden das erreicht, was Sie/sie erreichen wollten? Begründen Sie bitte Ihre Antwort.
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3. Methodenvielfalt – die Qual der Wahl Peterßen (2009, 27) formuliert treffend: »Wenn von Unterrichtsmethoden die Rede ist, dann ist durchaus nicht immer derselbe Sachverhalt gemeint.« In der Literatur finden Sie eine Vielfalt an Möglichkeiten, Methoden zu klassifizieren. H. Klippert (2010) spricht von Methoden der Informationsbeschaffung und -erfassung, der Informationsverarbeitung und -aufbereitung, der Arbeits-, Zeitund Lernplanung. Sie könnten sich fragen, ob es sich hierbei nicht eher um Strategien handelt. Janssen (2005) unterscheidet zwischen kommunikativen Methoden, produktiven Methoden und spielerischen Methoden. Hugenschmidt/Technau (2011) listen Beispiele für handlungsorientierte Methoden alphabetisch auf. Mattes (2011) hingegen nimmt den Kompetenzbegriff wieder auf und weist den Kompetenzen (Sachkompetenz, Urteilskompetenz und Sozial- bzw. Handlungskompetenz) Methoden zu. Spörhase (2010, 20–25) charakterisiert Methoden nach verschiedenen »unterrichtlichen Perspektiven«. Demnach sind Methoden Mittler zwischen Sache und Lerner, Instrumente zur Zielerreichung, Lernhilfen für SchülerInnen und Lehrhilfen für LehrerInnen. Sie sind abhängig von Rahmenbedingungen und Unterrichtsprinzipien, stehen in enger Beziehung zu Medien und Lernorten, dienen der Qualitätssicherung und gestalten Beziehungen in Vermittlungsprozessen. Green/Green (2011) und Weidner (2011) stellen ein Methodenrepertoire des Kooperativen Lernens vor. Um all die Kompetenzen bei SchülerInnen zu schulen, die diese sowohl in der Schule als auch in ihrem späteren Berufsleben brauchen, scheint sich für alle Lehrkräfte ein pädagogisches Muss zu ergeben, sich mit kooperativen Lernmethoden zu beschäftigen. Ebenso gilt die Empfehlung, sich intensiv mit dem Kooperativen Lernen auseinanderzusetzen und eine eigene Haltung dazu zu entwickeln. Nicht jede Gruppenarbeit bedeutet gleich Kooperatives Lernen. Weit gefehlt! Aber jedes Kooperative Lernen strebt gelingende Gruppenarbeit an. (Weidner 2011, 30) Allein dieses Wortspiel zeigt, wie wichtig es gerade für junge Lehrkräfte ist, sich mit Methoden intensiv auseinanderzusetzen und sich über deren Bedeutung im geplanten Lernprozess klar zu sein. Dabei gilt es auch, an die ›Stolperfallen‹ (Zeitmanagement, Organisation, Motivation der Lernenden …) zu denken und sich der eigenen Rolle als Lehrkraft (BeraterIn, ModeratorIn, ›LenkerIn‹ …) im Lernprozess bewusst zu werden. Ein weiterer entscheidender Aspekt ist die Reflexion der angewandten Methode durch die Lerngruppe. Was war gut, was ist optimierbar? Gab es den erwünschten Lernerfolg? Wo war besagte Stolperfalle? …
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Welche Methoden sollte sich jede Lehrkraft aus der Vielzahl von Möglichkeiten auswählen und schließlich auch beherrschen? Entscheidend ist, sich zunächst ein Grundrepertoire anzueignen, und dieses im Laufe der Jahre immer weiter zu ergänzen und zu vervollständigen. Ebenso wichtig ist, sich bewusst zu machen, dass einem selbst nicht jede Methode liegt. Gibt es Methoden, die Sie bereits durchgeführt haben und von denen Sie sagen: Nie wieder? Haben Sie sich Gedanken darüber gemacht, woran es liegt, dass Sie bestimmte Methoden nicht mehr durchführen mögen? Könnten Sie diese Methoden optimieren und noch einmal in abgeänderter Form durchführen – eventuell zu einem anderen Thema, in einer anderen Lerngruppe?
Alle Methoden, die im Folgenden vorgestellt werden, haben den Sinn, Ihre SchülerInnen aktiv am Lernprozess zu beteiligen, sie zu motivieren, ihnen Redeund Schreibanlässe zu bieten, sie eigenverantwortlich in den Lernprozess zu schicken. Dabei geben die vorgestellten Methoden ›nur‹ einen Einblick. Alle können abgewandelt und angepasst werden an Ihre Lerngruppen, Ihre geplanten Lehrziele, Ihre … Murmelphase (Partnerberatung, Kurzaustausch, Vorbereitungsphase) Die SchülerInnen bekommen – z. B. beim Einstieg oder wenn der Unterricht ins Stocken gerät – die Möglichkeit, sich kurz (2–4 Min.) in Partnerarbeit oder im Rahmen einer Kleingruppe à drei Personen zu einer Frage, einem Thema zu besprechen, zu beraten, sich auszutauschen. Der Vorteil dieser Methode liegt klar auf der Hand – alle sind gezwungen, sich mit der Fragestellung/dem Thema auseinanderzusetzen. Antworten können vorformuliert werden, es kann geübt und probiert werden, Fehler sind zugelassen, Selbstsicherheit und Selbstvertrauen können gestärkt werden, dieses kommt insbesondere leistungsschwächeren
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SchülerInnen zugute, die sich dann – so zeigt es zumindest die Erfahrung – eher trauen, sich mündlich zu beteiligen. Jede Murmelphase sollte eingeplant werden – auch hier gilt die Devise, es wird nicht gemurmelt um des Murmelns Willen. Aufpassen heißt es, wenn eine Murmelphase die nächste jagt. Spätestens dann sollte die Lehrkraft Einhalt gebieten und überlegen, was gerade schief läuft – die Impulssetzung, die Klarheit in den Aufgabenstellungen, die nötige Transparenz, um nur einige Aspekte zu benennen. Hier bietet es sich dann eher an, in den Austausch mit der Lerngruppe zu treten, als ständig neu zu murmeln. Redekette Beiträge der Lernenden werden aneinandergereiht wie die Glieder einer Kette (vgl. auch → 15 Unterrichtsgespräche führen). Die SchülerInnen rufen sich gegenseitig auf. Die Lehrkraft nimmt sich aus dem Geschehen heraus, ist nur ZuhörerIn und ProtokollantIn, indem sie die Beiträge an der Tafel/auf Folie fixiert. Der Vorteil der Methode ist, dass sich die SchülerInnen selbst als Lerngruppe in den Blick nehmen müssen, dass Beiträge geliefert werden, die zunächst unkommentiert gelassen werden und erst in einem zweiten Schritt durch die Lehrkraft gebündelt/akzentuiert oder in einzelnen Aspekten genauer ausgeführt werden (können). Bei kommunikativ kompetenten Lerngruppe kann diese Aufgabe auch von deren Mitgliedern übernommen werden. Die Methode eignet sich u. a. zum Einstieg in ein neues Thema und zur Ergebnissicherung; sie läuft nur über ein begrenztes Zeitfenster – je nach Thema und Funktionalität – ab. Abhängig vom Alter der Lerngruppe sollten Regeln für das Aufrufen eingeführt werden: Alle sollten an die Reihe kommen, sowohl Jungen als auch Mädchen werden aufgerufen, wenn jemand von der linken Raumseite an der Reihe war, wird jemand von der rechten Raumseite aufgerufen; jeder muss genau zuhören, sodass sich die Beiträge nicht wiederholen. Auch eine Redekette muss – so banal die Methode auch anmutet – eingeübt werden. Die Lerngruppe muss in der Lage sein, sich gegenseitig aufzurufen – und das ist schwerer, als von vielen jungen Lehrkräften erwartet wird. Der Nachhall des eigenen Beitrags beschäftigt viele SchülerInnen immens, sodass vergessen wird, den nächsten Mitschüler aufzurufen und die Redekette ins Stocken gerät. Sollte es langfristig notwendig sein, diese durch das Intervenieren der Lehrkraft oder der MitschülerInnen ins Laufen zu bringen, so kann man die Methode getrost abbrechen. Das ständige Anschieben kostet mehr effektive Lernzeit, als wünschenswert sein kann. Eine Sitzordnung, die den Kontakt der Lerngruppe untereinander fördert, ist von Vorteil.
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Think – Pair – Share Im Zusammenhang mit dieser kooperativen Methode sollte sich die Lehrkraft Gedanken sowohl über die individuellen Kompetenzen und Eigenschaften ihrer SchülerInnen als auch über die Sozialformen Einzelarbeit und Partnerarbeit sowie über die Aufgabenstellung machen. Einzelarbeit bedeutet immer, dass sich LernerInnen mit einer Fragestellung/ einem Problem usw. zunächst allein auseinandersetzen. Diese Sozialform muss von der Lehrkraft konsequent eingefordert werden. SchülerInnen neigen dazu, sich sofort mit den MitschülerInnen in der näheren Umgebung auszutauschen. Das ist aber nicht Sinn der Methode. SchülerInnen sollen lernen, selbstständig zu arbeiten und bei Schwierigkeiten nicht gleich aufzugeben (Mattes 2011). Einzelarbeit macht zunächst einmal individuelle Vorgehensweisen, Lösungsstrategien und ein intensives Auseinandersetzen mit dem Thema möglich, sodass die Lehrkraft den individuellen Fertigkeiten ihrer Lerngruppe gerecht wird. Zielführend kann es sein, für leistungsstärkere Lernende ein zusätzliches Angebot parat zu halten. Das hängt von der Stellung und der Funktion der Einzelarbeit im Stundenverlauf ab. Ein weiterer Vorteil liegt auch bei dieser Sozialform darin, dass stillere und u. U. leistungsschwächere Schüler nicht spontan auf ein Problem eine Antwort geben müssen. Die gewonnene Sicherheit und das Bestärken durch die Lehrkraft, die bei ihren Beobachtungsgängen gerade auch diese SchülerInnen gezielt in den Fokus nehmen sollte, ermöglichen ein Melden und einen Gewinn an Selbstvertrauen. Für das kooperative Arbeiten bedeutet die Einzelarbeit, dass sich keiner aus dem Lernprozess herausnehmen kann, da er in der nächsten Phase der Partnerarbeit seine Gedanken mitteilen muss. In der Partnerarbeit des Think – Pair – Share tauschen sich die SchülerInnen über ihre Lösungen aus. Sinnvoll ist es, sich Gedanken über das Zusammenfinden der PartnerInnen zu machen – Zufallsprinzip? Nach Leistungen? Nach Sympathie? Nach Geschlechtern? (Brenner/Brenner 2009). Da es sich um ein lösungs- und prozessbezogenes Arbeiten handeln soll, ist es in der Regel richtig, die Tandems heterogen zusammenzusetzen. Neben inhaltlichen Aspekten – Finden einer Lösung – kommt auch der Schulung der Sozialkompetenz und damit dem Aufbau eines angenehmen Klassenklimas eine wichtige Funktion zu. SchülerInnen, die nach dem Helferprinzip anderen etwas erklären, haben einen Vorteil für den eigenen Lernprozess. Kooperatives Lernen macht nur dann Sinn, wenn die nötigen Voraussetzungen dafür geschaffen sind (Dubs 2009, 196 f.), d. h. dann, wenn Lerngruppen die notwendigen Sozialkompetenzen und die Grundfertigkeiten und fachlichen Kompetenzen des Faches beherrschen.
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Der letzte Schritt beim Think – Pair – Share ist das Share, das Mitteilen/Präsentieren der Ergebnisse der einzelnen Tandems im Plenum. Alternativ wird empfohlen (https://www.bpb.de/lernen/grafstat/148908/think-pair-share), die Ergebnisse in Gruppen vorzustellen und je ein gemeinsames Ergebnis zu erarbeiten, das dann im Plenum zur Diskussion gestellt wird. Da nicht alle Paare einer Lerngruppe ihr Ergebnis vorstellen können, bietet es sich an, durch Losverfahren die Paare zu bestimmen, die präsentieren sollen. Das erhöht auch die Bereitschaft der PartnerInnen, sich intensiv mit der Aufgabenstellung auseinanderzusetzen, da im Vorfeld nicht bekannt ist, wer gewählt wird. Diese einfach umzusetzende kooperative Methode führt zu einer breiten Beteiligung und ist im Rahmen einer 45-Minuten-Stunde (erste und zweite Phase je fünf bis zehn Minuten, dritte Phase 15 bis 20 Minuten) umsetzbar. Sie hat den Vorteil, dass sich die Lehrkraft im Lernprozess als BeobachterIn, BeraterIn und AnsprechpartnerIn im Hintergrund halten kann. Präsentieren von Ergebnissen So selbstverständlich, wie sich ReferendarInnen und JunglehrerInnen das häufig vorstellen, ist das Präsentieren durch Gruppen nicht. Es muss gut geübt werden. Präsentationen kommen zum Beispiel nach Erarbeitungsphasen zum Einsatz. Die Lehrkraft teilt während dieser Phase z. B. Folienschnipsel oder -streifen an verschiedene Tandems/Gruppen aus. Die SchülerInnen stellen ihre Ergebnisse vor und moderieren im Idealfall – z. B. in den Fremdsprachen, aber auch in jedem anderen Fach – das Korrekturgespräch. Ganz klar, dass dies nicht auf Anhieb gelingt und gut eingeübt werden muss. Das fängt schon mit dem Beschriften der Folien an: Die Schriftgröße kann gut durch das Einzeichnen von Punkten vorgegeben werden, ebenso der Zeilenabstand. Eine Reihe, die frei bleibt, erleichtert das Korrigieren. Genauso müssen SchülerInnen dazu angeleitet werden, nicht gegen die Wand zu sprechen, sondern die Folie auf dem OHP oder die eigenen Aufzeichnungen zu nutzen. Wichtig ist auch, dass die PartnerInnen gemeinsam vor der Lerngruppe stehen und alle eine Aufgabe haben – gemeinsames Erarbeiten bedeutet auch gemeinsames Präsentieren. So kann sich niemand aus dem Erarbeitungsprozess herausnehmen – jede/r ist gefragt. Haben sich alle SchülerInnen einer Lerngruppe auf das Präsentieren vorbereitet, entscheidet zum Beispiel das Los über die Präsentation. Gab es während der Gruppenarbeit verschiedene Rollen (z. B. ZeitwächterIn, ProtokollantIn, GruppenleiterIn, ProzessbeobachterIn, ›PräsentiererIn‹), obliegt die Präsentation der Schülerin, dem Schüler, die/der die Rolle vorbereitete.
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Während der Präsentationen erhalten die anderen SchülerInnen in Hinblick auf ein konzentriertes Zuhören einen Hörauftrag (»Notiert alles, was …, fasst zusammen, was …«) Außerdem sollte eine Rückmeldung zur Präsentation geleistet werden können. SchülerInnen gehen mit sich selbst oft härter ins Gericht, als Lehrkräfte dies tun würden. Lehrkräfte sollten daher sensibel mit Schüleräußerungen umgehen und unter Umständen vermittelnd eingreifen. Bei sehr heterogenen Lerngruppen bietet es sich an, zunächst leistungsschwächere Schüler präsentieren zu lassen, dann erst die leistungsstärkeren. Kein leistungsschwacher Schüler möchte nach einem starken Vortrag an die Reihe kommen – das frustriert und deprimiert! Markt der Möglichkeiten Je nach Arbeitsauftrag der Lerngruppe werden Plakate, Collagen, Interviews, Standbilder, PowerPoint-Präsentationen usw. präsentiert. Pro Gruppe wird ein Sprecher/eine Sprecherin ausgewählt, der am »Stand« zum Gruppenergebnis Auskunft gibt, sollten sich Nachfragen vonseiten der Betrachter ergeben. Damit Lernende zum genauen Lesen und zu gezielten Fragen hingeführt werden, gibt der Gruppensprecher nur punktuelle Erläuterungen und keine ausführlichen Beschreibungen. Ziel ist es, den zeitlichen Rahmen einzuhalten und Unterrichtsstörungen zu vermeiden. Um allen Mitgliedern einer Gruppe einen Gang über den Markt zu ermöglichen, sollte ein Wechsel zeitgleich, z. B. durch ein akustisches Signal, erfolgen. Da die VertreterInnen der Gruppen Rede und Antwort stehen müssen, sind die SchülerInnen verpflichtet, sich intensiv in den Gruppenprozess einzubringen, um nicht sprachlos zu sein. Somit findet ein ›Erziehen‹ durch die Gruppe statt. Fishbowl Außer zum Präsentieren/Diskutieren von unterschiedlichen Ergebnissen eignet sich diese Methode auch zur Vertiefung eines Themas, am Ende einer Arbeitseinheit oder zur Einigung auf eine gemeinsame Vorgehensweise (Hugenschmidt/ Technau 2011). »In der Fishbowl-Methode diskutiert eine Gruppe vor oder in der Mitte des Raumes miteinander, während der Rest der Klasse die Diskutierenden beobachtet und ihnen nach Beendigung Rückmeldungen über ihr Diskussionsverhalten gibt.« (Mattes 2011, 114)
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Diese Methode setzt voraus, dass zunächst in Gruppen (fünf bis sieben SchülerInnen) zu einem kontroversen Thema gearbeitet wird (z. B. Pro- und ContraArgumente finden). In der folgenden Diskussion bilden die SchülerInnen einen Innen- und einen Außenkreis. Der Innenkreis besteht aus maximal sechs Stühlen, auf denen jeweils zwei SchülerInnen als Vertreter eines Standpunktes Platz nehmen, während zwei Stühle frei bleiben. Die Diskussion erfolgt zunächst nur mit den Mitgliedern des Innenkreises; die SchülerInnen im Außenkreis nehmen zunächst nicht an der Diskussion teil, sondern verfolgen nur passiv das Geschehen, u. U. gestützt durch einen Beobachtungsbogen. Gerät die Diskussion ins Stocken oder hat ein Mitglied des Außenkreises das Bedürfnis, sich in die Diskussion einzubringen, kann es auf dem freien Stuhl Platz nehmen und seinen Beitrag leisten. Anschließend geht es wieder in den Außenkreis zurück. Sollte der Klassenraum sehr klein sein, kann der Innenkreis auch nur auf vier Stühle beschränkt bleiben. Das hinzutretende Mitglied des Außenkreises kann sich dann hinter einen Vertreter seiner Gruppe stellen und seinen Beitrag leisten. Nach der Diskussion kann es sinnvoll sein, ein eigenständiges Urteil, eine eigene Meinung zu dem kontrovers diskutierten Thema zu bilden. Als weitere Möglichkeit könnte eine Art Gerichtsverfahren initiiert werden, in dem am Ende der ›Oberste Richter‹ ein Urteil/Fazit formuliert. Dieses gelingt insbesondere leistungsstärkeren SchülerInnen, die damit eine besondere Forderung erhalten. Selbstverständlich kann auch die Lehrkraft im Sinne eines Vorbildes ein Urteil sprechen. Die Zusammensetzung eines Innenkreises sollte zumindest am Anfang auf freiwilliger Basis stattfinden. Ist die Methode im Verlauf des Unterrichts öfter zum Einsatz gekommen, sollte auch nicht so redegewandten SchülerInnen Mut zur Beteiligung gemacht werden. Im Anschluss an die Diskussion wird auch diese Methode reflektiert. Neben der inhaltlichen Diskussion bietet diese Methode die Chance, auch das Sozialverhalten einer Lerngruppe zu schulen. Das Diskutieren muss gelernt werden und kann nicht von vornherein vorausgesetzt werden. Unter Umständen ist es sinnvoll, Regeln zu formulieren, die eine produktive Diskussion ermöglichen und eine hitzige Auseinandersetzung verhindern. Für Diskussionen in Fremdsprachen und für jüngere Lerngruppen ist es hilfreich, Redewendungen zur Verfügung zu stellen. Diese erleichtern den Einstieg in die Diskussion und geben Sicherheit im Verlauf der Diskussion. Placemat (Platzdeckchen) Geeignet ist diese Methode zum Einstieg in ein Thema, indem Vorwissen dargelegt wird, als Plateauphase, um sich des Lernzuwachses der Lerngruppe zu vergewissern, und zur Sicherung des Gelernten. Je nach Aufgabenformat und
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didaktischer Funktion sollte für diese Methode bis zu einer Schulstunde Zeit zur Verfügung stehen. Ausgehend von einem quadratischen Papier (möglichst groß), das je nach Gruppengröße (drei oder vier SchülerInnen) in vier oder fünf Felder aufgeteilt wird, wobei ein Feld in der Mitte liegt, schreibt jede/r zunächst in Einzelarbeit in das vor ihm liegende Feld seine Gedanken, Ideen, bereits vorhandene Kenntnisse … In einem nächsten Schritt wird das Placemat im Uhrzeigersinn gedreht und jedes Mitglied der Gruppe liest das nun vor ihm liegende Feld durch. Gedreht wird solange, bis alle SchülerInnen alle Felder gelesen haben. Im Anschluss diskutiert die Gruppe über das Gelesene. Sie einigt sich auf ein gemeinsames Ergebnis und schreibt dieses in das mittlere Feld des Placemats. Organisatorisch sinnvoll ist es, dieses gleich auf einen Folienstreifen schreiben zu lassen, damit das Ergebnis während der folgenden Plenumsphase visuell zur Verfügung steht. Jede Gruppe stellt ihr Ergebnis vor, gemeinsam einigt sich die Lerngruppe auf ein für alle akzeptables Ergebnis, z. B. wenn es um das Aushandeln von Klassenregeln geht. Das Verfahren respektiert die Meinung der Einzelnen und zeigt ihnen, dass die Lehrkraft sie ernst nimmt; es fordert zu einer Kooperation innerhalb der einzelnen Gruppen und schlussendlich auch innerhalb der gesamten Lerngruppe auf. Somit wird auch mit dieser Lernmethode die Sozialkompetenz gefördert. Die Placemats können im Klassenraum zur weiteren Bearbeitung, zur Gedankenunterstützung, zur Wertschätzung der Produkte usw. aufgehängt werden. Auch bei dieser Methode besteht die Gefahr, dass SchülerInnen sie nicht ernst genug nehmen und die Felder eher mit ›kreativen‹ Zeichnungen versehen denn mit sinnvollen Gedanken. Da die Produkte für die Plenumsphase als Grundlage dienen, gibt sich ein derartiges Verhalten in der Regel von selbst, wollen sich die Gruppenmitglieder nicht vor der ganzen Klasse blamieren. Die Methoden, die bisher vorgestellt wurden, nehmen gezielt die Gruppenarbeit in den Blick. Hinsichtlich der kooperativen Lernmethoden ist das stringent. Jedes einzelne Gruppenmitglied ist gefordert und muss seinen Beitrag leisten, damit eine erfolgreiche Arbeit gelingt. Gruppenpuzzle Auch beim Gruppenpuzzle ist das eine Gelingensbedingung. Wie in einem Puzzle müssen sich die TeilnehmerInnen einer Gruppe ergänzen, damit ein sinnvolles Ganzes entsteht. Kein Teilnehmer kann sich aus dem Prozess herausnehmen, da sonst ein Puzzleteilchen fehlt und das Bild unvollständig bleibt. Das Gruppenpuzzle gelingt oft selbstverständlich in Seminaren, nicht jedoch in der Schule. Dieses liegt unter anderem an der hohen Komplexität der Methode.
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Das Gruppenpuzzle durchläuft drei Phasen: Stammgruppe – Expertengruppe – Stammgruppe. Dieser Dreischritt suggeriert schon, dass das Gruppenpuzzle nicht in 45 Minuten durchführbar ist. Die Lehrkraft unterteilt das Thema in Teilthemen (z. B. Aufteilen der verschiedenen Charaktere einer Geschichte, Fotosyntheseablauf, …). Die Lerngruppe wird in eine entsprechende Anzahl von Gruppen à maximal fünf SchülerInnen aufgeteilt. In der ersten Stammgruppenphase sichtet jede Gruppe das Material, das die Lehrkraft zum Thema zur Verfügung stellt. Jedes der Gruppenmitglieder sucht sich den Schwerpunkt aus, der es am meisten interessiert. Jeder Schwerpunkt darf nur (und muss) einmal belegt werden. In einer Stillarbeitsphase beschäftigt es sich im Folgenden intensiv mit dem gewählten Thema. In der Expertengruppe treffen sich die Gruppenmitglieder, die den gleichen Schwerpunkt wählten. Sinn dieser Gruppenphase ist ein intensiver Austausch zum Teilthema. Niemand kann sich aus diesem Prozess herausnehmen, da er im Anschluss in der ursprünglichen Stammgruppe sein Thema vertreten muss. Schwächere SchülerInnen erhalten Unterstützung durch leistungsstärkere. Im Idealfall erarbeiten die ExpertInnen für ihr Thema eine gemeinsame Präsentation für die Stammgruppe. In einer dritten Arbeitsphase gehen die Experten in ihre Stammgruppen zurück und informieren sich gegenseitig über ihr Teilgebiet, sodass das Thema vollständig durchdrungen wird. Voraussetzung für diese Methode ist ein komplexes Thema, das sich in sinnvolle Teilthemen aufteilen lässt. Weiterhin muss die Lerngruppe in der Sozialform Gruppenarbeit geschult sein. Mattes (2011) empfiehlt, diese Methode erst ab Klasse 8 einzusetzen. Aber auch dann bedarf es der intensiven Übung, bis alle SchülerInnen fähig sind, sich auf diese Methode mit Gewinn einzulassen. Nicht zu vergessen ist, dass die Lehrkraft absichern muss, dass auch alle Gruppen das Thema effektiv aufarbeiten. Die Sicherung kann in einer Plenumsphase erfolgen, in der eine Stammgruppe präsentiert, die anderen Gruppen ergänzen. Ebenso könnte ein kleiner Kurztest das Wissen abprüfen. Sollte nur ein begrenzter zeitlicher Rahmen für das Gruppenpuzzle zur Verfügung stehen, so kann die Lehrkraft die Methode vorentlasten, indem sie gleich mit den Expertengruppen starten lässt. Als vorbereitende Hausaufgabe lassen sich Texte von den ExpertInnen lesen, sodass die Stillarbeitsphase wegfallen kann – vorausgesetzt, alle SchülerInnen haben ihre Hausaufgaben gemacht. Beim Gruppenpuzzle handelt es sich um eine komplexe Methode, die einer guten Vorbereitung und einer guten Nachbereitung bedarf.
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Stationenlernen Hinter dieser Methode verbirgt sich – nimmt man nicht ein vorgefertigtes Konzept– ein großer Organisationsaufwand, aber auch ein hohes didaktisches Potenzial. An den verschiedenen festen Stationen stehen unterschiedliche Aufgabenformate zu einem Thema bereit. Die vorgegebenen Aufgaben lenken die SchülerInnen in ihrem Lernprozess, der dennoch entdeckend verlaufen sollte – was nicht ausschließt, dass ein Stationenlernen auch zu reinen Übungszwecken eingesetzt werden kann. Innerhalb einer Station kann das Material unterschiedliche Schwierigkeitsgrade aufweisen, sodass eine Binnendifferenzierung mit berücksichtigt wird. Alle SchülerInnen bekommen die Möglichkeit, diese Stationen in Einzel- oder Partner-, seltener Gruppenarbeit zu durchlaufen. Hierbei können unterschiedliche Strategien, Herangehensweisen und Motivationen zwischen den MitschülerInnen wahrgenommen werden. Da sich die Schülerinnen von Station zu Station weiterbewegen, kommt Bewegung in die Lerngruppe. Wichtig ist es, darauf zu achten, dass nicht immer nur die gleichen SchülerInnen miteinander arbeiten. Vielfalt und Heterogenität können bewusst genutzt und auch zum Thema gemacht werden: SchülerInnen nehmen sich untereinander anders wahr als im Plenum. Das Stationenlernen wird den unterschiedlichen Lerntempi einer Lerngruppe gerecht, wenn die Lehrkraft Pflicht- und Wahlstationen anbietet, die zu durchlaufen sind. Während der Unterrichtsstunden, in denen das Stationenlernen durchgeführt wird, behält die Lehrkraft als Beobachterin die Lerngruppe im Blick und steht als Ansprechpartnerin zur Verfügung. Auf einem Laufzettel, den alle SchülerInnen erhalten, wird die jeweils erledigte Station nachgewiesen. Unter Umständen brauchen einige SchülerInnen eine engere Führung, damit der Lernprozess gelingt. Durch Lösungszettel, die im Klassenraum an unterschiedlichen Stellen deponiert sind, bekommen die Lernenden die Chance, ihre Lösungswege zu kontrollieren und ihre Ergebnisse zu überprüfen. Dieses Abgleichen sollte die Lehrkraft gerade bei flüchtig und oberflächlich arbeitenden SchülerInnen im Auge behalten! Auch hier bedarf es der Erziehung zu präziser Kontrolle und zu einem positiven Umgang mit Fehlern – aus Fehlern soll man lernen, die SchülerInnen sollen sie nicht vertuschen. Ein an der Tafel aufgehängter DIN A 3-Bogen, der vertikal eine Namensliste und horizontal die Stationen aufweist, ermöglicht der Lehrkraft einen Überblick über die von der Lerngruppe bereits bearbeiteten Stationen, wenn die SchülerInnen gewissenhaft ihre bereits durchgeführten Stationen ankreuzen. Auf diese Weise können Einzelne schnell und individuell angesprochen werden, wenn sie in ihrer Arbeit wenig zügig vorankommen. Stellt sich nach einiger Zeit heraus,
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dass einige Stationen bereits von allen erledigt sind, kann ein Zwischenplateau eingefügt werden, das gewährleistet, dass der gewünschte Lernerfolg eintritt. Während der Plenumsphasen sollten die SchülerInnen ihre Ergebnisse selbstständig präsentieren und moderieren, die Lehrkraft hält sich im Hintergrund. Zum Einüben der Methode gehört auch die Reflexion des Lernprozesses im Anschluss an das Stationenlernen, bei dem die SchülerInnen neben der Methode auch sich selbst in den Blick nehmen. Da den SchülerInnen ein großer Freiraum gewährleitet wird, besteht die Gefahr von Unterrichtsstörungen (reden mit den Nachbarn, träumen, unkonzentriert arbeiten, andere ablenken, höherer Lärmpegel, …). Selbstverständlich sollten im Vorfeld des Stationenlernens auch Regeln eingeführt und besprochen werden. Diese Methode verlangt einen hohen Arbeitsaufwand in der Vorbereitung. Daher empfiehlt es sich, als Lehrer-Team zu verschiedenen Themen jeweils ein Stationenlernen zu entwickeln und auszutauschen. Das entlastet enorm. Im Lehrerarbeitszimmer in der Schule deponiert, ermöglichen die Materialien ein wiederholtes Verwenden durch die entsprechende Fachgruppe, aber auch ein Ergänzen und Erweitern sowie ein Optimieren, was wiederum allen zugute kommt. Lerntheke Werden Stationen in Hinblick auf den Lerninhalt hintereinander angeordnet, spricht man von einer Lerntheke. Da die Stationen inhaltlich aufeinander aufbauen, müssen sie auch nacheinander durchgeführt werden. Dabei ergibt sich die Schwierigkeit, dass alle SchülerInnen gemeinsam auf die erste Station zusteuern. Ratsam ist, von den verschiedenen Stationen mehrere Ausführungen zur Verfügung zu stellen und innerhalb des Materials differenzierendes Arbeiten anzudenken. Somit erhöht sich die Komplexität einer Station und die Lehrkraft wird ihrer meist doch heterogenen Lerngruppe gerecht. Aufgrund der oft unterschiedlichen Lerntempi entzerrt sich der Run auf die einzelnen Stationen im Verlaufe der Erarbeitungsphase. Bei extrem großen Lerngruppen können auch zusätzliche Wahlstationen angeboten werden, die nicht nach einer bestimmten Reihenfolge bearbeitet werden müssen. Kugellager Hierbei handelt es sich um eine Methode, die eine hohe Aktivierung der Lerngruppe mit sich bringt. Sie eignet sich zum Wiederholen von Lerninhalten vor einer Klausur, zum Einstieg in ein neues Thema, wenn Vor-/bzw. Allgemeinwissen ausgetauscht werden soll, zum Sprechen in der Fremdsprache über ein
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zuvor erarbeitetes Thema, zum Abschluss einer Einheit (Was haben wir Wichtiges gelernt, was hat mich am meisten an dem behandelten Thema interessiert?), zum Diskutieren über Wertvorstellungen und zum Darlegen eigener Meinungen. Damit ist diese Methode an keine Unterrichtsphase gebunden. Die Klasse wird in einen Außen- und einen Innenkreis aufgeteilt. Die SchülerInnen wenden sich einander zu und reden über ein zuvor festgelegtes Thema, indem sie sich zu einem bestimmten Sachverhalt äußern, ihre eigene Meinung kundtun, miteinander diskutieren, sich in ihrem Wissen ergänzen usw. Diese Methode eignet sich auch hervorragend für Fremdsprachen, da die SchülerInnen intensiv miteinander kommunizieren können. Neben dem Sprechen wird auch das Zuhören trainiert, da die SchülerInnen den Redebeitrag der anderen nicht unterbrechen sollten. Nach einer kurzen Zeitspanne (zwei bis drei Minuten) wechseln die Partner, indem sich der Innenkreis zum Beispiel um zwei Personen nach rechts, der Außenkreis um drei Personen nach links verschiebt. Auf diese Art und Weise erhalten die SchülerInnen einen immer anderen Partner. Das verhindert, dass immer dieselben miteinander arbeiten und schafft auch Raum für das Schulen von Sozialkompetenz. Niemand kann sich aus der Methode herausnehmen, alle sind gefordert. Durch die Bewegung kommt Schwung in die Lerngruppe. Genau aus diesem Grund wird diese Methode von den SchülerInnen normalerweise gern durchgeführt. Es ist darauf zu achten, dass es auch wirklich zum Austausch über die erteilten Arbeitsaufträge kommt. Lernende neigen durchaus dazu, Zeit, die sie nicht als Lernzeit empfinden, für anderweitige Dinge und Gespräche zu nutzen. Entscheidend für die Effektivität der Methode ist, dass es nicht zu Redundanzen kommt, was bei der Formulierung des Arbeitsauftrages bedacht werden muss. Gedanken machen sollte sich die Lehrkraft auch über die Auswertung des Kugellagers. Je nach Thema kann diese im Plenum mündlich oder auch in Einzelarbeit schriftlich erfolgen. Zumindest muss es eine Reflexion der Methode, evtl. sogar ein Feedback aus Schüler- und/oder Lehrkraftperspektive, geben. Für das Kugellager ist ein größerer Raum notwendig. Sollten die räumlichen Begebenheiten dieses nicht ermöglichen, spricht nichts dagegen, in die Pausenhalle, die Aula, auf den Schulhof usw. auszuweichen. ABC-Methode Die Methode ist zum Einstieg in ein Thema, zur Erarbeitung neuer Lerninhalte oder auch zur Festigung und Sicherung des Gelernten geeignet. Bei der ABC-Methode erhalten die SchülerInnen die Aufgabe, möglichst viele Begriffe zum Thema für die Buchstaben des ABC zu suchen. Die Vergabe
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von Buchstaben an den einzelnen Schüler/die einzelne Schülerin kann nach der Klassenliste oder per Los erfolgen. Das minimiert den zeitlichen Aufwand. Ebenso kann die Lehrkraft die Lerngruppe in Gruppen aufteilen und jeder Gruppe eine gleich große Anzahl an Buchstaben zuweisen. Will die Lehrkraft den Wettbewerbscharakter verstärken, sollte sie exotische Buchstaben aussortieren und jeder Gruppe möglichst gleich schwierige Buchstaben zuteilen, sonst ist der Unmut vorprogrammiert. Die Lehrkraft stoppt nach einer bestimmten Zeitspanne (ca. zehn Minuten). Die Gruppe, die am schnellsten fertig ist und sinnvolle Begriffe gefunden hat, ist Sieger. Auf diese Weise erhält die Lehrkraft z. B. einen Überblick über das (Vor-)wissen der Lerngruppe. Geht es um das Festigen und Sichern von Stoffinhalten, suchen sich die Lernenden nach kurzem (!) Vorstellen der Begriffe fünf bis zehn Begriffe heraus, die ihrer Meinung nach prägnant für das zu bearbeitende Thema sind, und schreiben je nach Fach eine Kurzgeschichte, einen kurzen wissenschaftlichen Bericht, einen Artikel für die Schülerzeitung o. ä. Sollte das Vorwissen gering sein, erarbeiten die Lernenden Fragestellungen, die sie an dem neuen Thema interessieren – eigenständig oder (gerade auch in jüngeren Lerngruppen) angeleitet durch die Lehrkraft. Auf diese Art und Weise werden die SchülerInnen in den Lernprozess mit eingebunden und sie übernehmen für diesen Verantwortung. Als Zeitfenster sollte die Lehrkraft eine Schulstunde veranschlagen. Vorsicht ist bei dem Vorstellen der Begriffe geboten – hier muss die Lehrkraft darauf achten, dass sich das Ganze nicht endlos in die Länge zieht, was sonst zu Langeweile und Störungen führt. Mindmap Mindmap wird mit »Gedankenlandkarte« (http://lexikon.stangl.eu/5087/mindmap/) übersetzt, d. h., die Gedanken werden visualisiert. Mindmapping ist eine Technik, die es Lernenden erlaubt, ein Thema, komplexe Informationen oder auch komplexe Texte zu strukturieren, zu ordnen und grafisch (bildlich) darzustellen (z. B. die Vorgänge bei der Glykolyse). Mit dieser Technik gelingt es, sich auf Klausuren vorzubereiten, Referate vorzutragen, … Der Grund dafür liegt in der Arbeitsweise des Gedächtnisses, dem die Visualisierung von Begriffen entgegenkommt. Ausgehend von einem zentralen Begriff, der in die Mitte eines Blatts (DIN A4 quer) geschrieben wird, werden weitere Begriffe angeordnet, indem Hauptäste gezogen werden, an deren Enden jeweils Hauptaspekte/Oberbegriffe des Themas notiert werden. Auf diese Weise erhält die Lerngruppe eine Grobgliederung des Themas, des Textes. Ausgehend von diesen Hauptästen werden wieder
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Linien/Äste/Zweige gezogen, an deren Enden weitere Unterbegriffe zum Thema notiert werden. Durch die Stichworte konstruieren sich die Lernenden ihren eigenen Gedankengang und rufen zum Beispiel während der Klausur die verschiedenen Verknüpfungen zum Thema ab. Die Behaltensleistung durch derartige Mindmaps ist deutlich gesteigert. Ein Blick darauf und der Stoff kann auch nach längerer Zeit gezielt abgerufen werden. Mindmaps können während des Lernprozesses erweitert und verändert werden. Das Erstellen von Mindmaps muss intensiv geübt werden. Für Lernende ist es nicht einfach, Oberbegriffe/Überschriften zu finden, die in Unterbegriffe aufgesplittet werden. Eine Anleitung kann über eine Wortnetz-Arbeit, eine gemeinsame Planung oder ein gezieltes Einordnen/Vernetzen von Vorwissen erfolgen. Experiment Das Experiment als Lehrer- oder Schülerdemonstration ist aus den naturwissenschaftlichen Fächern nicht wegzudenken. Es motiviert und es hat bei Lernenden einen hohen Stellenwert. Entscheidend für einen erfolgreichen Experimentierunterricht ist das Vorbereiten der Versuche. Im Sinne eines funktionierenden Classroom-Managements gilt grundsätzlich, dass die Lehrkraft jedes Experiment vor der Unterrichtsstunde ausprobiert haben muss. Nur so kann sie sicher sein, dass die Chemikalien funktionieren, die Mikroskope einsatzfähig sind. SchülerInnen, die auf ein Experiment warten müssen, langweilen sich in der Regel, was zu Unmut und Störungen führt. Rituale beim Experimentieren (Festlegen von Zuständigkeiten für das Austeilen von Schutzbrillen, das Wegbringen der Geräte, das Abwaschen usw., am besten in einem festen Rhythmus – z. B. gekoppelt an den Klassendienst) erleichtern und beschleunigen den Experimentiervorgang. Auch beim Experimentieren kann die Lehrkraft differenzierende Maßnahmen einplanen und SchülerInnen gezielt Aufgaben zuweisen. Erfahrungen der letzten Jahre zeigen, dass Kinder und Jugendliche immer mehr motorische Schwierigkeiten haben und Geräte zu Bruch gehen. Neben dem Mitteilen von Verhaltensvorschriften bedarf es einer genauen Einweisung in die praktischen Arbeiten, aber auch des Übens, Übens, Übens. Für Experimente bzw. die Arbeit in den Fachräumen bestehen Sicherheitshinweise, die den SchülerInnen bekannt sein müssen. Protokoll schreiben Experimente durchführen: ja, Protokoll schreiben: nein. SchülerInnen für ein Protokoll zu motivieren, ist nicht so einfach. Protokolle informieren jedoch
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über den Erkenntnisprozess und sind für die Naturwissenschaften unabdingbar. Nach Zürcher/Spörhase (2010, 164) entwickelt das Protokollieren »Sach-, Lern-, Denk- und Sprachkompetenzen sowie instrumentelle Kompetenzen«. Außerdem vermittelt es das naturwissenschaftliche Arbeiten, d. h., es spiegelt die Arbeitsschritte im Erkenntnisprozess wider und macht damit die Experimente reproduzierbar. Auch für das Protokollschreiben bedarf es einer Einführung und Schulung, sodass im Laufe der Auseinandersetzung mit Versuchen eine Routine bei den Lernenden einsetzen sollte. Je genauer SchülerInnen im Beobachten und im Auswerten/Deuten von Experimenten geschult werden, umso leichter gelingt auch das Protokollschreiben. Sinnvoll kann es sein, mit den SchülerInnen eine Blanko-Vorlage zu entwickeln, die eine Vorstrukturierung des Erkenntnisprozesses ermöglicht und die ritualisiert abgerufen werden kann. Für die naturwissenschaftlichen Fächer bietet sich ein gemeinsames fächerübergreifendes Vorgehen an – z. B. im Rahmen eines Methoden- oder Medienkonzeptes. Die vorgestellten Methoden sind natürlich nur eine kleine Auswahl, die für verschiedene didaktische Entscheidungen und Fächer zum Einsatz kommen können. Die Literatur gibt eine Vielzahl an Methoden an – gewusst wo, lautet auch hier die Devise. Durch die gewünschten Hospitationen im Lehrerkollegium ergibt sich gerade auch für JunglehrerInnen und ReferendarInnen die Möglichkeit, mit Methoden der unterschiedlichsten Art in Kontakt zu kommen. Da das Rad nicht neu erfunden werden muss, sollte sich keine Lehrkraft scheuen, in einen intensiven Austausch über Methoden mit KollegInnen ins Gespräch zu kommen. Sinnvoll ist es, im Rahmen eines Klassenkollegiums Methoden auszutauschen, die sich für eine Lerngruppe als effektiv und zielführend erwiesen haben – an einem Strang ziehen und damit Methoden einüben und weiter verinnerlichen, das ist etwas, wovon im Endeffekt die einzelne Lehrkraft in ihrem eigenen Unterricht nur profitieren kann. Die Methode nicht um der Methode willen einzusetzen, diesen Tipp haben Sie bereits erhalten; sie aber einzusetzen, um den Unterricht spannender und interessanter zu gestalten und Lernenden auf ihrem Lernweg die optimalen Voraussetzungen zu bieten, dazu gehört, dass Sie sich nicht scheuen, Erfahrungen zu sammeln.
4. Die Rolle der Lehrkraft – noch mehr Arbeit? Nein, eigentlich wurde schon im Verlauf des Kapitels deutlich, dass nicht noch mehr Arbeit oder Anforderungen auf Lehrkräfte zukommen als es sowieso notwendig ist. Deutlich wurde vielmehr, dass das Auseinandersetzen mit dem
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bewussten Einsatz von Methoden im Erkenntnisprozess unabdingbar ist, aber dass das Ausprobieren von unterschiedlichen Methoden durchaus spannend ist, dass es unendlich viel Literatur zu dem Thema gibt, dass sich – vorausgesetzt, Sie haben das Interesse an einer eigenen Weiterentwicklung und Professionalisierung – mit der Zeit eine gewisse Routine einstellt. Ein lebendig gestalteter Unterricht, der sich so entfaltet, dass die Verantwortung des Lernprozesses immer mehr in die Hände der SchülerInnen gelegt wird, entlastet – auf die Dauer gesehen – die Lehrkraft. Die Tätigkeit der Lehrkraft als ModeratorIn, AnsprechpartnerIn, BeobachterIn, Coach, DiagnostikerIn erfordert im Unterricht eine hohe Präsenz, ermöglicht aber auch weniger Dominanz im Unterrichtsgeschehen, ein konstruktives Loslassen der SchülerInnen im Lernprozess, eine individuelle Förderung oder Forderung einzelner Lerngruppenmitglieder sowie im Sinne der erweiterten Leistungsbeurteilung eine gerechtere Notenvergabe. Angefertigte Materialien – wie zum Beispiel beim Stationenlernen – bergen auf Zukunft gesehen ein Repertoire, auf das man als Lehrkraft arbeitsentlastend zurückgreifen kann. Natürlich muss auch eine Methode reflektiert werden – mit den SchülerInnen, aber auch in der Nachbereitung des Unterrichts. Natürlich kann es notwendig sein, Optimierungen vorzunehmen. Natürlich muss eine Methode auch lerngruppenkonform und funktional sein. Noch einmal sei betont, dass es zur Rolle einer Lehrkraft auch gehören sollte, sich mit anderen FachkollegInnen auszutauschen: hinsichtlich der Materialien, hinsichtlich der Erfahrungen mit den gleichen Lerngruppen, … Weiterhin sollten Sie sich Fortbildungsmaßnahmen aussuchen, die Sie in Ihrer Professionalisierung voranbringen. Im Rahmen des Schulentwicklungsprozesses kann es notwendig sein, ReferentInnen einzuladen und das gesamte Kollegium – soweit es dazu bereit ist – zum Beispiel in Kooperativen Lernarrangements oder in Methoden zur Differenzierung zu schulen. Fortbildungen bieten weiterhin die Gelegenheit, sich näher kennenzulernen und in den Austausch zu gelangen. Ein Beispiel hierfür ist die Schulung in Lions Quest (www.lions-quest.de/). Hierbei geht es vor allem um das Kennenlernen eines Programms, das die sozialen Kompetenzen von SchülerInnen schult und die Gewaltprävention fokussiert.
5. Unterrichtsstörungen – auch bei Vielfalt im Methodeneinsatz nicht vermeidbar! Entscheidend ist der Umgang mit Unterrichtsstörungen durch die Lehrkraft! Bezogen auf den Einsatz von Methoden, die einen regen Austausch der Lernenden untereinander voraussetzen, die Bewegung einfordern, die heiße Diskus-
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sionen hervorrufen, die einen intensiven Austausch in einer Gruppe erfordern, kann die Lehrkraft davon ausgehen, dass zumindest der Lärmpegel zunimmt. Jeder weiß, dass Lärmpegel nicht gleich Lärmpegel ist und dass jede Lehrkraft eine unterschiedliche Toleranzschwelle hat. Selbstverständlich müssen Regeln für den Umgang miteinander und für das Verhalten im Lernprozess aufgestellt werden. Der Hinweis auf die ›30 cm-Stimme‹ (»Bitte sprecht nur so laut, dass euch zwar euer Nachbar, aber niemand sonst verstehen kann! Die Reichweite eurer Stimme sollte nicht mehr als 30 cm sein.«) trägt zumindest eine Zeitlang Früchte. Wichtig ist auch, mit den SchülerInnen in den Austausch über die eingesetzten Methoden und die Funktionalität von Methoden zu kommen. Transparenz ist eine absolute Notwendigkeit. Nur wenn die SchülerInnen wissen, welche Rolle sie im Lernprozess für das eigene Lernen, aber auch für das Lernen der Lerngruppe haben, können sie sich auf das Unterrichtsgeschehen einlassen. Insofern ist eine Reflexion (Was ist gut gelungen? Was kann ich bzw. was können wir verbessern?) ein absolutes Muss im Erkenntnisprozess. SchülerInnen sind auch in jüngeren Lerngruppen sehr selbstkritisch mit sich und anderen. Das Wissen über die Methoden führt auch zu einem anderen Verständnis für die Methoden und zu einem produktiven Umgang mit ihnen. Freiräume, die zugestanden werden, werden nicht ausgenutzt, sondern als Lernchance verstanden und akzeptiert. Lerngruppen erziehen sich in dieser Hinsicht oft selbst. Gerade das intensive Miteinander und das Voneinander-Lernen einer Lerngruppe, das interessante und fordernde Unterrichtskonstrukt birgt die Möglichkeit, Störungen zu vermeiden, da ein individueller Lernprozess angeboten wird, der eine Unter- bzw. auch Überforderung von SchülerInnen zu vermeiden hilft. Als Lehrkraft müssen Sie sich klarmachen, was in Ihrem Toleranzrahmen möglich ist und was nicht. Da liegt die Entscheidung für die Wahl einer Methode ausschließlich bei Ihnen selbst. Die Bewusstmachung dessen, dass ein intensiver Lernprozess auch Störungen hervorrufen darf, hilft oft in der Entscheidungsfindung weiter.
6. Fazit Das Kapitel gab Ihnen einen Überblick über Methoden, die zum Grundrepertoire einer Lehrkraft gehören. Einiges werden Sie an der Universität oder auch im Referendariat schon kennengelernt haben, einiges war neu. Besonderer Wert wurde darauf gelegt, Ihnen ans Herz zu legen, dass Methoden nicht um der Methode willen im Erkenntnisprozess eingesetzt werden, sondern dass sie einen didaktischen Wert besitzen. Das Kapitel sollte Sie weiterhin dazu ermuti-
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Renate Will, Methoden kennen und einsetzen
gen, sich auf die Suche nach Methoden zu machen, die Ihren Unterricht bereichern und Ihre Lerngruppen in ihrem Lernprozess voranbringen und Ihre Methodenkompetenz und die Ihrer SchülerInnen erweitern. Das Methoden auch einmal nicht so funktionieren, wie es sich die Lehrperson am Schreibtisch vorgestellt hat, ist selbstverständlich. Dann gilt es zu reflektieren, zu optimieren und weiterzumachen.
Corvin, 14 Jahre, Klasse 8
Dubs, Rolf: Lehrerverhalten. Stuttgart 2009 Green, Norm/Green, Kathy: Kooperatives Lernen im Klassenraum und Kollegium. Seelze 52010 Heuermann, Alfons/Krützkamp, Marita: Selbst-, Methoden- und Sozialkompetenz. Berlin 2012 http://didaktik.zum.de/lin-klitzing/kapitel/print_207.htm, letzter Zugriff am 29.02.2016 http://lexikon.stangl.eu/5087/mind-map/, letzter Zugriff am 29.02.2016 Hugenschmidt, Bettina/Technau, Anne: Methoden schnell zur Hand. Seelze 22011 Janssen, Bernd: Kreative Unterrichtsmethoden, Braunschweig 2005 Klippert, Heinz: Methodentraining. Weinheim/Basel, 192010 Klippert, Heinz: Unterrichtsvorbereitung leicht gemacht. Weinheim/Basel 2012 Mattes, Wolfgang: Methoden für den Unterricht. Braunschweig/Paderborn/Darmstadt 2011 Meyer, Hilbert: Leitfaden Unterrichtsvorbereitung. Berlin 2009 Scholz, Ingvelde: Das heterogene Klassenzimmer. Differenziert unterrichten. Göttingen 2012 Spörhase, Ulrike/Ruppert, Wolfgang: Biologie-Methodik. Berlin 2010 Weidner, M. (2011): Kooperatives Lernen im Unterricht. Seelze-Velber, 6. Auflage Wiater, W. (2011): Unterrichtsplanung. Donauwörth www.bpb.de/lernen/grafstat/148908/think-pair-share, letzter Zugriff am 29.02.2016 www.duden.de/rechtschreibung/Methode, letzter Zugriff am 29.02.2016 www.duden.de/rechtschreibung/Mindmap, letzter Zugriff am 29.02.2016 www.schulentwicklung.nrw.de/methodensammlung/karte.php?karte=058, letzter Zugriff am 29.02.2016 www.lions-quest.de/, letzter Zugriff am 29.02.2016 Zürcher, Simone/Spörhase, Ulrike: Protokoll. In Spörhase, Ulrike/Ruppert, Wolfgang: BiologieMethodik. Berlin 32010
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Noten geben Carolin Schaper
Dieses Kapitel soll Sie mit den wichtigsten Grundlagen der Notengebung vertraut machen, Ihnen die einzelnen schulischen Bewertungsinstrumente vorstellen sowie Hinweise zu deren Umsetzung geben. Es soll Ihnen weiter Anregungen geben, wie Sie in Gesprächen mit SchülerInnen und Eltern Ihre Bewertung transparent machen können. Darüber hinaus soll es Sie davon überzeugen, dass Noten geben eine Sache für Lehrkräfte und SchülerInnen gleichermaßen sein kann. Erinnern Sie sich, welche Note im Lauf Ihrer Schulzeit Ihre beste und welche Ihre schlechteste war. In welchen Fächern fühlten Sie sich über- oder unterbewertet, in welchen gerecht beurteilt? Könnten Sie rückblickend Gründe benennen, die dazu geführt haben?
1. Welchen Sinn hat Notengebung? Keine Frage, Noten oder Zensuren sind ein wesentlicher Bestandteil unseres Schulalltages, sie sind manchmal Gegenstand von Auseinandersetzungen, meistens zwischen SchülerInnen, Eltern und LehrerInnen, aber auch zwischen SchülerInnen untereinander, und sie geben auch – in den Fällen, wo ein gemeinsames Handlungsfeld existiert, z. B. beim Abitur – Anlass zu Diskussionen zwischen den Lehrkräften. Um Missverständnissen vorzubeugen: Es soll im Folgenden weder um ein generelles Infragestellen des Benotens noch um eine allgemeine Kritik der Praxis des Benotens an Schule gehen. Noten sind wichtig – sie informieren SchülerInnen über die erreichten Arbeitsergebnisse, sie geben Eltern eine wichtige Rückmeldung über den Leistungsstand ihrer Kinder. Sie sind Bestätigung, Ermutigung, Hilfe zur Selbsteinschätzung und Korrektur bei Lernschwierigkeiten und sie sind auch für die Lehrkraft selbst eine wichtige Selbstvergewisserung in Bezug auf den Erfolg des erteilten Unterrichts.
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Noten zu geben gehört zu den grundlegenden Aufgaben des Lehrerberufs und wird von Außenstehenden oft als die ›hoheitliche‹ Funktion einer Lehrkraft wahrgenommen, mit der über Sein oder Nichtsein von Schülerleben entschieden wird. SchülerInnen nehmen häufig an, dass LehrerInnen dabei willkürlich vorgehen und man sich deshalb mit ihnen als Person gutstellen muss. Im Gegensatz dazu werden in Gesprächen unter LehrerInnen eher die Schwierigkeiten von gerechten und angemessenen Bewertungsmaßstäben thematisiert. Der Akt des Bewertens selbst wird, insbesondere von älter werdenden Lehrkräften, als äußerst kraftraubend empfunden und in seiner Sinnhaftigkeit in Frage gestellt. Schulen verfügen durchaus über unterschiedliche Konzepte in Bezug auf die Vergabe von Noten – in vielen Grundschulen und in Gesamtschulen werden Noten aus pädagogischen Gründen nur in bestimmten Klassenstufen gegeben; es gab und gibt auch immer wieder einzelne Schulversuche oder alternative Schulen, die die Benotung durch Ziffernoten zu vermeiden oder zu ersetzen versuchen. Trotzdem stellen in der Regel weder Eltern noch SchülerInnen oder Lehrkräfte die grundsätzliche Notwendigkeit und Funktion von Noten in Frage. Die Funktion von Noten Neben den bereits oben benannten pädagogischen Funktionen der Notengebung wie ȤȤ Rückmeldung an SchülerInnen, Eltern, Lehrkräfte ȤȤ Diagnose von Lernschwierigkeiten ȤȤ Motivation und Aufbau eines realistischen Leistungsbewusstseins bei Kindern und Jugendlichen gehören auf der Ebene einer gesellschaftlichen Betrachtung Funktionen wie ȤȤ Disziplinierung, ȤȤ Sozialisationsfunktion (erwartete Leistungsnormen kennenlernen, Anpassung an gesellschaftliche Normen), ȤȤ Berechtigungs-, Zugangs- und Selektionsfunktion (Zugang zu bestimmten Bildungswegen, Auswahl der Besten) dazu. Die letztgenannten Funktionen wurden und werden in der pädagogisch-politischen Diskussion immer schon kritisch gesehen und kontrovers diskutiert. Es lohnt sich durchaus, sich mit dieser Diskussion vertraut zu machen, um das übergeordnete Verständnis der eigenen Rolle als Lehrer zu erweitern.
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Insbesondere die Zugangs- und Berechtigungsfunktion war ursprünglich fortschrittlich, weil sie mit der Betonung des Leistungsstandards im 19. Jh. Zugänge zu bestimmten gesellschaftlichen Positionen ohne Ansehen von Geburt, Religion, Geschlecht oder Rasse ermöglichte. Sie wurde seit den 1970er-Jahren heftig kritisiert: Im Mittelpunkt der Kritik stand dabei vor allem die in der Schule übliche Praxis der Notenvergabe, die als zu wenig objektiv wahrgenommen wurde und die den Gütekriterien empirischer Wissenschaftlichkeit nicht standhalten konnte. Vorausgesetzt wird an dieser Stelle, dass Ihnen die gängigen Gütekriterien wissenschaftlichen Arbeitens und die daraus erwachsende Kritik an der Praxis der Leistungsmessung in der Schule bekannt sind. Sollte dies nicht der Fall sein, könnten sie bei Grunder/Bohl/ Broszat weiterlesen. Hinzu kam der zunehmende hohe Anspruch, jede einzelne Schülerin und jeden einzelnen Schüler individuell zu fördern. »In diesem Spannungsfeld zwischen individueller Förderung und gesellschaftlich funktionaler Chancenzuteilung bewegt sich die Leistungsbewertung in der Institution Schule schon seit langem.« (Tillmann/Vollstädt 1999, 13 ff.)
Wie auch immer Sie darüber denken, Sie werden eine Einstellung in dieser Frage entwickeln müssen, die im Einklang mit den Vorgaben Ihres Bundeslandes steht, und diese Einstellung sollten Sie auch gegenüber SchülerInnen, Eltern, KollegInnen und gegebenenfalls Ihren Vorgesetzten vertreten können. Recherchieren Sie die Vorgaben Ihres Bundeslandes zur Leistungsbewertung. Achten Sie dabei auf Hinweise auf den gekennzeichneten Spagat zwischen individueller Förderung und Chancengleichheit. Vergleichen Sie die Anforderungen Ihres Bundeslandes mit denen eines anderen. Mögliche Schlagworte: Grundsätze, Leistungsbewertung, -feststellung, Zeugnisnoten, Klassenarbeiten, Notendefinitionen, … Formulieren Sie für sich in eigenen Worten Ihre wesentlichen Gütekriterien für die Bewertung von Schülerleistungen.
Zur Frage der Gerechtigkeit von Noten Wenn man mit SchülerInnen über die Gerechtigkeit von Noten diskutiert, wird man häufig direkt oder indirekt mit dem Begriff der fehlenden Objektivität aufseiten der Lehrkraft konfrontiert: »Mündliche Noten sind doch voll subjektiv!« Selbstverständlich sind Noten nicht im wissenschaftlichen Sinne objek-
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tiv (s. o.) – was wiederum nicht heißt, sie seien Zufallsprodukte oder Sympathie- bzw. Antipathiekundgebungen der jeweiligen Lehrkraft: Noten sind verantwortete Leistungsbeurteilungen, denen Kriterien zugrunde liegen, die offengelegt und verständlich gemacht werden können. Damit haben Sie bereits zwei Schlüssel zu einer gerechten (und als gerecht empfundenen) Leistungsbewertung: Die Transparenz der Kriterien und die angemessene Kommunikation der Beurteilung. Sind diese beiden Voraussetzungen gegeben, können SchülerInnen (und vielleicht auch Menschen im Allgemeinen) ganz unterschiedliche Bewertungsmuster nachvollziehen und kritische Beurteilungen der eigenen Leistung oder Person wesentlich besser akzeptieren. In der Schule funktioniert dies vor allem dann, wenn die SchülerInnen mit den Anforderungen und Kriterien der Lehrkraft vertraut sind und sie sozusagen deren innere Definition einer Note kennen. Dabei spielen Unterschiede zwischen den Bewertungsmaßstäben verschiedener Lehrkräfte keine so große Rolle: Jede/r SchülerIn weiß, dass eine Vier bei X möglicherweise einer Drei bei Y gleichkäme und kann damit leben. Irritationen treten vielmehr da auf, wo innere Definitionen des bzw. der Bewertenden unklar bleiben. Im Bereich der schriftlichen Arbeit scheint eine Bewertung ihrer Leistung für SchülerInnen häufig besser nachvollziehbar zu sein als eine entsprechende Einschätzung ihrer mündlichen Beteiligung. Warum eigentlich? Mündliche Beteiligung innerhalb des Unterrichts findet stärker als schriftliches Arbeiten innerhalb eines Kommunikationsrahmens statt, in den die Lehrkraft und mehrere SchülerInnen als ganze Personen in ihrer individuellen Persönlichkeit eingebunden sind. Eine Bewertung der mündlichen Beteiligung trifft die oder den Einzelnen deshalb möglicherweise stärker auf der persönlichen Ebene als die Bewertung einer schriftlichen Arbeit, die eher als abgespaltene Einzelleistung aufgefasst werden kann (»Da war ich nicht in Form«, »Mit dieser Aufgabenstellung habe ich Probleme gehabt«). Hinzu kommt, dass sich LehrerInnen in Phasen des Unterrichtsgesprächs deutlich erkennbar innerhalb des gemeinsamen Kommunikationsrahmens bewegen, was eine ihnen unterstellte Objektivität im Grundsatz in Frage stellt (»Sie sehen mich ja auch nie!«). Die Bewertung schriftlicher Leistungen dagegen fordert die Lehrkraft zur Offenlegung ihrer Kriterien heraus – hier gibt es eher eine klare Grundlage, an der z. B. die jeweilige Punktzahl überprüft werden kann.
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2. Notentransparenz Die innere Definition von Noten – ein Beispiel für Transparenz und Kommunikation »Über die Grundsätze und Maßstäbe der Bewertung und ihren Zusammenhang mit den Kerncurricula der Fächer sind größtmögliche Transparenz und Klarheit anzustreben. Erörterungen mit den Schülerinnen und Schülern aller Altersgruppen über ihr Arbeits- und Sozialverhalten, ihre Lernfortschritte und ihren Leistungsstand sowie deren Bewertung, insbesondere vor der Zeugniserteilung, geben Schülerinnen und Schülern sowie Lehrkräften wichtige und für die Selbstkontrolle notwendige Hinweise.« (Niedersächsisches Schulverwaltungsblatt 2014)
Eine Vorgabe wie diese findet sich in den schulrechtlichen Vorgaben fast aller Bundesländer. Viele LehrerInnen verstehen unter dieser Transparenz das Benennen des Bewertungsverhältnisses von schriftlichen Klassenarbeiten und Mitarbeitsnote sowie die Mitteilung des mündlichen Leistungsstandes in der Regel zweimal im Jahr vor den Zeugnissen. Dies stellt in der Tat eine Art Grundverpflichtung dar, die zunächst im formalen Bereich angesiedelt ist. Die Kommunikation von Grundsätzen und Maßstäben einer Bewertung geht jedoch über eine solche formale Auskunft hinaus und versucht qualitative und für SchülerInnen nachvollziehbare Aussagen über erwartete Leistungen zu machen. Eine gute Möglichkeit zur Verdeutlichung der inneren Definition einer Note, z. B. in Bezug auf die oft undefinierte mündliche Beteiligung, besteht in der offengelegten Interpretation der Notendefinitionen der Kultusministerkonferenz, die für die Notenerteilung unseres Schulsystems als bindend gelten. Falls Sie die Notendefinitionen noch nicht kennen: Bitte unbedingt nachlesen! z. B. unter: http://www.schure.de/22410/33,83203.htm
Diese Definitionen, die von Ihnen als LehrerInnen im Laufe der Zeit im Wortlaut verinnerlicht und zunehmend mit Erfahrungssinn gefüllt werden, tragen in Gesprächen mit SchülerInnen – formalisiert benutzt – häufig wenig aus, könnten jedoch, wenn es gelingt, ihren jeweiligen Hintergrund zu verdeutlichen, zu einer Verständigungsbasis zwischen SchülerInnen und LehrerInnen werden. Dabei werden vermutlich Unterschiede in der Beschreibung konkreter Anforderungen einer Notenstufe auftauchen, die in Zusammenhang mit der Verschiedenheit von Fächern, Unterrichtsformen und einem unterschiedlichen Anspruchsniveau von Lehrkräften zu sehen sind – eine Verbindlichkeit kon-
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kreter Beschreibungen kann also zunächst nur in Bezug auf eine bestimmte Lehrkraft und eine bestimmte Lerngruppe gelten: Eine Diskussion auftretender Unterschiede erweist sich jedoch auch unter KollegInnen oft als überaus lohnenswert. Im Folgenden finden Sie exemplarisch zwei Beispiele für innere Definitionen von Notenstufen mit Bezug auf mündliche Beteiligung, wie Sie sie als Lehrkraft aus der Schülerperspektive formulieren und von Ihren SchülerInnen »gegenchecken« lassen können: sehr gut (1) Ich setze im Unterricht die weiterführenden Impulse. Meine Beiträge sind fachlich relevant und sprachlich differenziert formuliert. Ich kann komplexe Erkenntnisse situationsangemessen reduzieren; zwischen den Einzelbeiträgen anderer kann ich sinnstiftende Verbindungen herstellen und Strukturen des Unterrichtsgespräches verdeutlichen; die Fehler meiner Mitschüler z. T. helfend korrigieren und ihre Fragen beantworten. Fachlich kann ich ›über den Tellerrand des Unterrichtsstoffes gucken‹ und z. B. Bezüge zu anderen Fächern herstellen; methodisch arbeite ich in allen Anforderungsbereichen des Unterrichts gleichermaßen souverän. befriedigend (3) Ich kann mich zu allen Inhalten des Unterrichts äußern, differenziere meine Beiträge jedoch nicht immer: Ungenauigkeiten oder kleinere Missverständnisse kommen vor. Ich kann sinnvolle Vergleich ziehen und einzelne Bezüge zwischen Inhalten herstellen. Obwohl mir manche Inhalte gedanklich klar sind, fällt mir eine präzise Formulierung schwer. Bei der Bearbeitung umfassender Aufgabenstellungen komme ich zu richtigen Ergebnissen, auch wenn ich einzelne Aspekte auslasse oder übersehe. Schwierig finde ich die angemessene Gewichtung der Aspekte – teilweise führe ich Einzelaussagen zu knapp oder zu breit aus. Ich stelle im Unterricht Fragen, die dazu führen, dass inhaltliche Kernpunkte geklärt werden.
Möglicherweise sind Ihnen schon beim Lesen Aspekte aufgefallen, bei denen Sie anderer Meinung sind. Vielleicht fehlt Ihnen etwas. Vielleicht würden Sie gern mit den Begriffen ›Quantität‹ und ›Qualität‹ arbeiten oder den Bezug zu bestimmten Kompetenzen stärker herausstellen. Ganz sicher müssten die hier allgemeinpädagogisch formulierten Definitionen in die Spezifik des jeweiligen Fachs übersetzt werden. Oder Sie denken an Ihre siebte Klasse, für die die sprachliche Formulierung ganz anders aussehen müsste. All dies können und
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sollten Sie tun – aber aus der Perspektive Ihrer SchülerInnen und so konkret wie möglich. Sie werden merken, wie sich bei diesem Perspektivwechsel auch für Sie selbst bestimmte methodische Anforderungen Ihres Faches noch einmal neu konkretisieren. Verfassen Sie auf der Basis der Notendefinitionen der KMK-Konferenz eigene Definitionen für die mündliche Beteiligung in einem Ihrer Fächer in einer bestimmten Klassenstufe. Sie können auch mit einer Notenstufe anfangen – z. B. mit der Notenstufe Gut oder Ausreichend. Nehmen Sie Ihre Definition als Grundlage für ein Gespräch mit SchülerInnen: Holen Sie deren Meinungen und Erfahrungen ein. Lassen Sie die von Ihnen verfasste Definition von Ihren SchülerInnen ›überarbeiten‹. Bitten Sie eine/n Ihrer FachkollegInnen, einen Blick auf Ihre Definitionen(en) zu werfen: Was würde sie oder er anders sehen? Was fehlt ihr oder ihm möglicherweise?
Das Beispiel der inneren Definition von Noten ist in gewisser Weise paradigmatisch für alle Prozesse der Notengebung: Gerechtigkeit in der Leistungsbewertung beginnt mit der Klarheit über die eigenen Maßstäbe. Sie müssen in Abhängigkeit der Sie umgebenden Rahmenbedingungen klären und festlegen, was als herausragend gute Leistung und was als eine noch ausreichende Leistung gelten soll. Das Schwierige dabei ist, dass Sie dabei sich selbst und Ihren Unterricht mit einbeziehen müssen. So kann es sein, dass Sie der festen Überzeugung sind, die indirekte Rede, die für die Inhaltsangabe in Ihrer 8. Klasse nötig war, ausreichend eingeführt und geübt zu haben – wenn in der Klassenarbeit nur vier SchülerInnen diese korrekt anwenden können, sollte das Bewertungskriterium »Korrekte Anwendung der indirekten Rede« modifiziert werden. Transparenz wird also durch das möglichst konkrete, aber nicht starre Festlegen von Kriterien aufgebaut. Im Beispiel der inneren Definitionen wird den SchülerInnen weiter entgegengekommen, indem die erwarteten Teilleistungen aus ihrer Perspektive, also in der Ich-Form, formuliert werden. Dies ist für die von SchülerInnen häufig als Grauzone empfundene Bewertung mündlicher Beteiligung sinnvoll, aber durchaus nicht in allen Bewertungskontexten zwingend nötig – SchülerInnen müssen auch lernen, im Sinne Weinerts (1999) ein angemessenes Verhältnis zu klassischen Außenbeurteilungen zu finden: »Leistungen und Leistungsbeurteilungen sind für Schüler notwendige Erfahrungen zum Aufbau eines möglichst positiv getönten realistischen Selbstbewusstseins eigener
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Tüchtigkeit und für die langfristige Entwicklung subjektiver Leistungsbereitschaften und individueller Leistungsfähigkeiten.«
Ein Beispiel für den Bereich der schriftlichen Leitungsbeurteilung, hier eine Teilaufgabe aus einer Deutschklausur zur Lektüre Woyzeck von Georg Büchner für die Sekundarstufe II, könnte z. B. so aussehen: Aufgabe
Erwartete Aspekte
Aufgabe 1 Fassen Sie den Inhalt der Szene 2 kurz mit eigenen Worten zusammen.
Einleitung (Autor, Titel, Gattung, Erscheinungsdatum, Thema der Szene, Präsens, indirekte Rede)
Kommentar
Thema z. B. Einblick in Maries Alltag, erste Begegnung Maries mit dem Tambourmajor Marie steht mit ihrem Kind auf dem Arm am Fenster und beobachtet, wie der Tambourmajor den Zapfenstreich anführt. Sie ist voller Bewunderung für sein Auftreten und wird deswegen von ihrer Nachbarin aufgezogen. Marie reagiert heftig und es gibt einen Wortwechsel zwischen den beiden Frauen. Woyzeck, der in Eile kurz hereinschaut, hat keinen Blick für seinen Sohn und wirkt so verwirrt, dass er Marie unheimlich ist.
Sprachliche Umsetzung Bewertung
Aufgabe 1 Aufgabe 2. a Aufgabe 2. b Aufgabe 3
(25 %) (30 %) (25 %) (20 %)
Note insgesamt
Abb. 1: Bewertung einer Deutschklausur
Ähnlich wie bei den perspektivisch verfassten Notendefinitionen wird möglichst genau formuliert, was erwartet wird. In der Kommentarspalte können dann die von den einzelnen SchülerInnen geleisteten Aspekte ›abgehakt‹ und durch individuelle Anmerkungen ergänzt werden. In der unteren Zeile der mittleren Spalte sehen Sie die für umfangreichere Leistungen wichtige Gewichtung der Teilleistungen. Selbstverständlich sollten die Kriterien, wie z. B. das Benennen des Themas des Textauszuges in der Einleitung, vorher bekannt und die Formulierung im Unterricht geübt worden sein. Neben der Forderung nach Transparenz (Maßstäbe, Kriterien, Gewichtung) wurde als zweiter wesentlicher Schlüssel für eine gerechte Notenge-
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bung einleitend die angemessene Kommunikation benannt. Was ist darunter zu verstehen? Auch hier finden Sie in dem Beispiel der perspektivisch verfassten Notendefinitionen wichtige Hinweise: Machen Sie sich klar, dass Notengeben immer auch ein Kommunikationsakt zwischen Ihnen und den SchülerInnen ist, der einen Sachaspekt (Kriterien) und einen Beziehungsaspekt hat. Um diesem Beziehungsaspekt gerecht zu werden, muss ich als Lehrkraft neben der eigenen Authentizität auch in der Lage sein, die Perspektive meines Gegenübers einzunehmen und zu zeigen, dass ich seine oder ihre Gefühle und Gedanken verstehe oder verstehen will. Im Beispiel der Notendefinitionen wechsele ich als Lehrkraft ganz demonstrativ in die Perspektive der SchülerInnen und verdeutliche damit, dass mir diese wichtig ist. Mit dem Gegencheck durch die SchülerInnen hole ich deren Blick auf die Kriterien ausdrücklich ein. Nicht immer muss und kann dies so explizit erfolgen – immer aber werden SchülerInnen genau diese Seite des Aktes Notengeben besonders genau wahrnehmen. Sammeln Sie Ideen, wie Sie als LehrerIn in den folgenden Situationen SchülerInnen Ihre Empathie zeigen können: –– Besprechung mündlicher Noten, –– Rückgabe der KSA (zwei Sechsen, eine Zwei, bei der ein Schüler über sich selbst hinausgewachsen ist), –– erwartete Fünf bei einem Schüler mit allgemein schlechtem Leistungsstand, der zum Schuljahresende absehbar nicht versetzt wird.
3. Der rechtliche Rahmen Formale Rahmenbedingungen des Notengebens Diese Fragestellung wird von BerufsanfängerInnen in der Regel als das Allerwichtigste wahrgenommen. Das ist sehr gut nachvollziehbar, weil man sich in neuen Situationen von rechtlichen Vorgaben Orientierung und Sicherheit erhofft: Was darf ich? Was darf ich nicht? sind die Standardfragen in dieser Situation. Und natürlich gehört es zu einer soliden Vorbereitung, sich mit den Rahmenbedingungen der jeweils bevorstehenden schulischen (Leistungsbewertungs-) Situation vertraut zu machen und sich nach Möglichkeit auch einen Gesamtüberblick über die formalen Vorgaben in diesem Bereich zu verschaffen. Aber: Die Kenntnis dieser Rahmenbedingungen ist eine notwendige, jedoch keineswegs hinreichende Vorbereitung auf die Aufgabe, Schülerleistungen in
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angemessener Weise bewerten zu wollen und zu sollen. Sie muss kombiniert werden mit der vorangestellten Schlüsselqualifikation transparenten Kommunizierens. Ein Fehler, den Sie z. B. bei der Korrektur von Klassenarbeiten machen, wird Ihnen ohne Weiteres verziehen, wenn Sie den SchülerInnen erklären, wie es dazu gekommen ist, und sich entschuldigen. Dagegen kann es sein, dass eine formal korrekte Bewertung, die die Lehrkraft auf brüskierende Weise kommuniziert hat, detailliert hinterfragt und nicht akzeptiert wird. Was Sie dürfen und was Sie nicht dürfen, ist in den schulrechtlichen Bestimmungen Ihres jeweiligen Bundeslandes geregelt: https://www.kmk.org/dokumentation-und-statistik/informationen-zum-deutschen-bildungssystem.html. Schulrecht ist in Deutschland Länderangelegenheit (Stichwort: Kultur hoheit). Allerdings gibt es gerade in Bezug auf die Leistungsbewertung eine große Schnittmenge im Kern übereinstimmender Regelungen, die jeweils anders heißen. Dazu trägt die zwischen den Ländern eingesetzte Kultusministerkonferenz bei und der Trend geht stark in Richtung einer europaweiten Vereinheitlichung. Häufig finden Sie die Vorgaben Ihres Bundeslandes zum Punkt Leistungsbewertung auch außerhalb des umfänglichen Schulgesetzes noch einmal gesondert zusammengestellt oder in einer Datenbank abfragbar. So findet man für Niedersachen z. B. unter der Adresse www.schure.de unter den Stichworten ›Klassenarbeiten‹ oder ›Zeugnisnoten‹ die entsprechenden Regelungen. Auch in den curricularen fachbezogenen Vorschriften finden sich häufig Hinweise zur Leistungsbewertung, in Bezug auf Art und Anzahl von Klassenarbeiten oder die in die Mitarbeitsnote fachspezifisch einzubeziehenden Leistungen. Die politischen Verbände, wie die GEW und der Philologenverband, geben Broschüren heraus, die – insbesondere für ReferendarInnen – Hilfestellung in diesem Bereich leisten. Die ganz entscheidende Instanz für das, was Sie dürfen und nicht dürfen, ist jedoch Ihre eigene Schule. Da die gesetzlichen Vorlagen oft generalisiert sind und die individuellen schulischen Situationen vor Ort nicht mit berücksichtigen können, ist es die Aufgabe der Fachkonferenz oder Fachschaft einer Schule, die allgemeine Regelung für die schulische Praxis vor Ort zu konkretisieren: D. h., dass die Frage, wie viele Arbeiten Sie denn nun genau im Fach Englisch in Klasse 6 bei vierstündigem Unterricht in einem sehr kurzen Schuljahr zu schreiben haben, von der Fachkonferenz Ihrer Schule entschieden wird. Über diese verbindlichen Absprachen gibt es Protokolle, die Sie unbedingt einsehen sollten. Im Folgenden werden die im Arbeitsfeld Schule anfallenden klassischen Bewertungssituationen im Einzelnen betrachtet, um dann Ihren Blick auf die
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inzwischen gar nicht mehr so neuen, aber immer noch nicht so häufig angewendeten alternativen Verfahren der Leistungsmessung zu lenken. Das Verhältnis von schriftlicher und mündlicher Bewertung ist für die einzelnen Fächer unterschiedlich geregelt. In Hauptfächern mit einer höheren Anzahl an schriftlichen Arbeiten findet man überwiegend ein Verhältnis von 50 % zu 50 %. Anders sieht das in den sogenannten Nebenfächern aus, bei denen das Spektrum bis zu 70 % Mitarbeit gegenüber 30 % Klassenarbeit reichen kann. Dieser Unterschied wirkt sich aus und ist vor allem jüngeren SchülerInnen gar nicht immer bewusst. SchülerInnen z. B., die im Fach Geschichte einfach nichts sagen mögen und darauf setzen, dass die Klassenarbeit am Ende des Schuljahres schon gelingen wird, gehen ein hohes Risiko ein. Dies muss zu Beginn des Schuljahres und auch immer wieder mal zwischendurch beratend thematisiert werden. Ebenso ist SchülerInnen (und manchmal auch Lehrkräften) nicht immer bewusst, ob es sich bei dem Unterricht im Fach Chemie in einem entsprechenden Schulhalbjahr um Epochalunterricht handelt oder nicht. Eine schlechte Note zum Ende des ersten Halbjahrs kann dann eben nicht ausgeglichen werden und bleibt als versetzungsrelevant bestehen. Klassenarbeiten Klassenarbeiten sind je nach Fach ganz spezifischen Formaten unterworfen, auf die hier nicht gesondert eingegangen werden kann. Hinweise zu übergeordneten Grundsätzen für Vorbereitung, Durchführung und Korrektur einer Klassenarbeit können Sie jedoch in dem sehr praxisnahen Kapitel Klassenarbeiten vorbereiten, durchführen und auswerten in Herbert Gudjons Methodik zum Anfassen nachlesen. Im Folgenden finden Sie die leicht modifizierten Hinweise Gudjons zur Vorbereitung und Durchführung einer Klassenarbeit, mit dem Ziel, die SchülerInnen nicht nur fachlich, sondern auch auf das Format Klassenarbeit einzustellen: Checkliste Vorbereitung –– Termin rechtzeitig bekanntgeben (Chance zur gezielten Vorbereitung) –– SchülerInnen dürfen nur eine bestimmte Anzahl von Arbeiten die Woche (meistens drei) schreiben (Tests nicht einberechnet), Klausurplan der Schule einsehen –– Klären: Anlage eines Klassenarbeitshefts oder Kopien? Unterschrift der Eltern? Korrektur? Abgabe der Arbeiten … –– Wie viele Arbeiten werden geschrieben, wie ist die Gewichtung mündlich/schriftlich? p Fachkonferenzbeschlüsse
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–– Nachteilsausgleich beachten! Für welche SchülerInnen muss ein solcher beantragt werden und wie kann dieser aussehen? –– Aufgabenformen bekannt machen: Wie sieht eine Arbeit aus? Training der Operatoren (neuartige Aufgabenformate vermeiden!) –– Wiederholen und Üben einige Stunden vor der Klassenarbeit, Aufgabentypen durchnehmen, Raum für Nachfragen und weitere Erklärungen geben (LehrerInnen dürfen auch gefragt werden!), Bildung von Lern- und Vorbereitungsgruppen, evtl. Wiederholungsblatt verteilen (»Das muss ich können« mit Hinweisen auf Fundstellen im Buch/ Grammatik und erarbeitete Unterrichtsmaterialien zur häuslichen Wiederholung) –– Leistungsanforderungen transparent machen – zeigen, was verlangt bzw. erwartet wird (nur Überprüfung von Inhalten – oder auch Übertragen von Inhalten? Zeigen, wie man das macht/Erziehung zum Transfer) –– Vereinbarungen und Absprachen treffen (erforderliche Hilfsmittel, Zeit, Fragestellungen bei der Arbeit/wann erlaubt – nicht erlaubt, Sitzordnung, Raum, …) –– LehrerInnenverhalten: Erfolgszuversicht zeigen! Klassenarbeiten nie als Strafe oder zur Disziplinierung missbrauchen! Checkliste Durchführung –– Sehr pünktlich beginnen, Bearbeitungszeit festlegen, klären, was diejenigen tun können, die schon früher fertig sind (lesen, sich still beschäftigen …) –– Arbeitsaufträge evtl. gemeinsam mit den SchülerInnen durchlesen, evtl. Hinweise dazu geben, unbedingt auf Ruhe und Konzentration achten, Rückfragen zur Aufgabenstellung kurz und präzise klären, beruhigen –– Während der Arbeit für Ruhe sorgen, auf Handzeichen reagieren, möglichst wenig sagen und eingreifen –– Zusatzinformationen für alle sichtbar an die Tafel schreiben –– Schummeln, Spicken usw. ist ein Täuschungsversuch! Vorher informieren, welche Konsequenzen das nach sich zieht, angemessen reagieren (nonverbale Signale senden, unerlaubte Hilfsmittel einziehen, SchülerInnen umsetzen, Teile der Arbeit mit Sechs bewerten, nachschreiben lassen, die gesamte Arbeit mit Sechs bewerten, Verweis …) – Sie müssen die Konsequenzen nicht in der Situation selbst entscheiden, sondern können dies in Ruhe überlegen, sich evtl. mit KollegInnen beraten und den SchülerInnen dies auch mitteilen –– Bei längerer Krankheit von SchülerInnnen: Absprachen treffen, evtl. individuelle Lernhilfen geben oder nachschreiben lassen, in den Schulen gibt es Nachschreibetermine; ggf. einen individuellen Termin finden –– Ergebnisauswertung zwischen Tür und Angel vermeiden –– Ruhe und Ermutigung ausstrahlen, aber konsequentes Verhalten zeigen (Regeln und Absprachen einhalten!)
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In Bezug auf die Korrektur und Rückgabe der Klassenarbeit sollten Sie sich mit den schulrechtlichen Anforderungen für die Rückgabefrist vertraut machen. Dies ist in den Bundesländern unterschiedlich geregelt: Als Richtwert kann in der Primarstufe (Grundschule) eine Woche gelten, während in der Sekundarstufe I (Haupt-, Realschule und Gymnasium) zwei Wochen und in der Sekundarstufe II (u. a. gymnasiale Oberstufe, Berufsfachschule, Fachoberschule) drei Wochen nicht ohne abgeklärte Begründung überschritten werden sollten. Wenn Sie bei der Vorbereitung der Rückgabe der Klassenarbeit die beiden Schlüssel ›Transparenz‹ und ›Kommunikation‹ beachten, werden Sie bestimmte fragwürdige Rituale vermeiden, wie z. B. die Stärken und Schwächen der Klasse nennen, einzelne SchülerInnen bloßstellen, Arbeiten nach Noten sortieren, schlechte oder gute Arbeiten zuerst zurückgeben … Der folgende Auszug aus der Mail eines jungen Lehrers bietet darüber hinausgehend eine Anregung in Sachen Korrekturstil: Von: Felix Lehrer Gesendet: Sonntag, 7. Juni 2015 13:25 An: [email protected] Betreff: Konstruktive und wertschätzende Korrekturen schriftlicher Leistungen! Liebe Frau Schaper, ich hoffe, es geht Ihnen gut und die Ausbildung der Referendare macht Ihnen noch viel Freude! Der Grund meiner E-Mail ist eine Anregung für die Ausbildung der Lehramtsanwärter, die ich Ihnen gerne geben möchte: Ich halte es für sehr wichtig, dass Referendare darin geschult werden, schriftliche Schülerleistungen konstruktiv und wertschätzend zu korrigieren. Immer wieder erfahre ich, dass Kollegen ausschließlich Fehler markieren und auch in abschließenden Bemerkungen Vorhaltungen machen, was alles schlecht und verkehrt war. Vokabeln wie nicht und kein kommen überwiegend zum Einsatz. Ich bin überzeugt, dass diese Praxis bei vielen SuS zu Verletzungen und Frust und im Endeffekt zu schlechter Lernmotivation führt. Immer wieder erlebe ich es, dass SuS mich verwundert fragen: »Herr Lehrer, was soll das grün Unterstrichene bedeuten? Was ist da falsch?« – »Nichts Falsches, sondern etwas Gelungenes.« Es ist doch wie im Coaching beim Wettkampfsport: Sage deinem Athleten, was er tun soll, um zum Erfolg zu kommen, und sage ihm nicht, was er nicht (mehr) tun soll. Mit freundlichen Grüßen aus dem schönen Leer Felix Lehrer
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Die Mitarbeitsnote In den meisten Bundesländern wird zwischen einer schriftlichen Bewertung (Notendurchschnitt der Klassenarbeiten) und einer Mitarbeitsnote oder anderen Leistungsnachweisen unterschieden. Beide zusammengenommen bilden in einem bestimmten festen Verhältnis die Grundlage für die Zeugnisnote. Die Mitarbeitsnote ist dabei nicht gleichzusetzen mit der mündlichen Beteiligung – eine häufige, aber unzulässige Vereinfachung. Gerade für SchülerInnen, die z. B. schüchtern sind, ist es wichtig zu wissen, wie sie sich in Ihrem Unterricht einbringen können, was also alles zu einer guten Mitarbeit gehört. Man kann das für die SchülerInnen bereits zu Beginn des Schuljahrs sehr transparent machen – hier ein Beispiel aus dem evangelischen Religionsunterricht in Klasse 7: Liebe Schülerinnen und Schüler, ich freue mich auf die gemeinsame Arbeit in diesem Schuljahr! Das Fach Religion unterscheidet sich in einigen Punkten von anderen Fächern. Es ist wichtig, diese Unterschiede kennen. Das Fach Religion wird bewusst gewählt und kann aus innerer Überzeugung begründet abgewählt werden: Man hat dann Unterricht im Fach Werte und Normen. Das heißt aber nicht, dass man, um am Unterricht teilzunehmen, gläubig oder besonders fromm sein muss – wie in jedem anderen Unterrichtsfach geht es in Schule darum, etwas zu lernen, auszuprobieren, seine Vorstellungen zu erweitern, mit anderen etwas zu gestalten. Anders als in vielen anderen Fächern ist das Verhältnis von Mitarbeitsnote und schriftlicher Arbeit (oder fachpraktischer Arbeit) 2:1. Es wird eine Arbeit pro Halbjahr geschrieben. Deswegen ist besonders die mündliche Mitarbeit im Unterricht wichtig! Folgende Möglichkeiten gibt es, eure Mitarbeit im Unterricht einzubringen: –– vollständige Arbeitsmaterialien, Mappenführung – die Mappe wird einmal im Schuljahr eingesammelt! –– regelmäßige mündliche Beiträge in allen Phasen des Unterrichts – Fachbegriffe lernen und anwenden –– Herstellen von Bezügen zu bereits bekannten Inhalten oder Inhalten anderer Fächer –– Fragen stellen, die den Unterricht voranbringen –– weiterführende Ideen einbringen –– Gesprächsregeln einhalten – aktives Beitragen zu einer guten Arbeitsatmosphäre –– genaues Zuhören, wenn andere etwas sagen – Eingehen auf Beiträge anderer –– selbstständiges Arbeiten in Einzel-, Partner-, und Gruppenarbeit –– Präsentieren von Ergebnissen; Kurzreferate und Berichte –– regelmäßiges und sorgfältiges Erledigen von Hausaufgaben, unaufgefordertes Nachfragen bei Erkrankung
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–– Bereitschaft, kreative und produktive Aufgaben zu übernehmen und im Interesse des Unterrichts einzubringen (z. B. Collagen, Plakate, Bilder, Diagramme, Audio-, Video- und PC-Arbeiten, Standbilder, Rollenspiel) –– Planen und Durchführen von Befragungen, Interviews oder Wettbewerbsbeiträgen –– Informationsbeschaffung –– Einbringen von Wünschen, konstruktiver Kritik, Mitarbeit an der Gestaltung des Unterrichts Zweimal pro Halbjahr werdet ihr eine Rückmeldung zu eurer mündlichen Mitarbeit erhalten. Auf Wunsch können wir für einen begrenzten Zeitraum ein Modell der Schüler-, Lehrer,- Selbstbeobachtung erproben. Als große inhaltliche Themen des 7. Schuljahres sind geplant: Diskutieren mit Martin Luther Propheten früher und heute Handeln in der einen Welt Begegnung mit dem Islam Auf gute Zusammenarbeit! Notieren Sie für Ihre Fächer die Möglichkeiten der SchülerInnen, etwas zu ihrer Mitarbeitsnote beizutragen! Tauschen Sie sich mit FachkollegInnen über Ihre Auflistung aus! Erkunden Sie, welchen Stellenwert und welche Formate Referate an Ihrer Schule in Ihren Fächern haben und wie sie von den KollegInnen in die Bewertung einbezogen werden!
Dokumentation der mündlichen Beteiligung Selbstverständlich brauchen Sie für ihre Notengebung Aufzeichnungen über die Mitarbeit der einzelnen SchülerInnen. Das ist bei Referaten, Mappen und eingesammelten Hausaufgaben unkompliziert, weil Sie genügend Zeit haben, sich die Bearbeitungen anzuschauen und eine Bewertung vorzunehmen. Schwieriger ist dies für die mündliche Beteiligung im laufenden Unterricht. Die schulrechtlichen Vorgaben in allen Bundesländern lassen dabei einen gewissen Spielraum: »Beobachtungen und Leistungsfeststellungen, die für die Beratung von Schülerinnen und Schülern sowie ihrer Erziehungsberechtigten und für die Zeugniserteilung von Bedeutung sind, sollen regelmäßig aufgezeichnet werden. Dabei bleibt es der einzelnen Lehrkraft
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überlassen, ob sie die Aufzeichnungen in freier oder strukturierter Form vornehmen will. Es muss sichergestellt sein, dass die Bewertungen in den Zeugnissen in nachvollziehbarer Weise auf solche Aufzeichnungen gestützt werden können.« (Niedersächsisches Schulverwaltungsblatt 2014)
Was heißt das? Für Sie als LehrerIn bedeutet dies zunächst, dass Sie sich überlegen sollten, in welchem Turnus Sie Ihre Aufzeichnungen zur mündlichen Beteiligung Ihrer SchülerInnen machen wollen: ȤȤ Direkt nach jeder Stunde oder Doppelstunde – Dafür spricht, dass der Eindruck dann am frischesten ist; dagegen, dass Sie am Ende der Stunde meistens noch andere organisatorische Dinge zu erledigen haben oder vielleicht schnell den Raum wechseln müssen. ȤȤ Am Abend in Nachbereitung der erteilten oder Vorbereitung der nächsten Stunde in dieser Klasse – Dafür spricht, dass Sie dann Ruhe haben; dagegen, dass Sie vermutlich schon wieder andere Klassen dazwischen unterrichtet haben und sich vielleicht nicht mehr so genau erinnern können. ȤȤ Jede Woche einmal/alle zwei Wochen – Hier spricht dafür, dass der Eindruck anders als direkt nach der Einzelstunde weniger punktuell ist, das Verfahren setzt aber ein gutes Gedächtnis voraus. Alle genannten Möglichkeiten fallen unter die Vorgabe der Regelmäßigkeit. In Abhängigkeit von Ihrem pädagogischen Gedächtnis und den jeweiligen Rahmenbedingungen sollten Sie sich für eine der Möglichkeiten entscheiden und an eine entsprechende Routine gewöhnen. Notieren Sie Ihre Einschätzungen ruhig von Anfang an – lassen Sie Lücken, wo Sie den Namen nicht kennen. Sie haben dann auf jeden Fall schon erste Daten und können in Folge bei den SchülerInnen mit den Lücken genauer hinschauen. Es ist sinnvoll, auch Notizen über fehlendes Material, Hausaufgaben, besonders engagiertes oder schwieriges Verhalten bei Arbeiten in bestimmten Sozialformen zu machen. Wichtig für eine schnelle Aufzeichnung nach der Stunde ist ein System, dass sich unkompliziert und ohne längere Reflexionszeit umsetzen lässt. Viele LehrerInnen nutzen dafür eine einfache Kennzeichnung wie +/0/− oder ++/+/−/−− und tragen diese Zeichen auf dem Sitzplan oder in einer Namensliste nach und auch während (!) der Stunde ein. Mit etwas Routine und wachsendem Gefühl für die Notenbereiche können auch ganze Ziffernoten eingetragen werden – dies erleichtert die zusammenfassende Notenfindung. Ebenso möglich sind qualitative Wortaufzeichnungen, die evtl. für die diagnostische Betrachtung einen höheren Wert haben sowie alle Kombinationen aus diesen Verfahren – voraus-
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gesetzt, dass sie systematisch angewandt werden. Es gibt eine Reihe von Apps oder Notenverwaltungsprogrammen, von denen an dieser Stelle nur auf eines verwiesen werden soll: http://www.lehrerfreund.de/schule/1s/muendliche-noten-schnell-ice/3752. Die in dieser App vorgestellte sogenannte ICE-Methode geht davon aus, dass durch die ›massenhafte‹, regelmäßige Vergabe von Ziffernoten die Objektivität der mündlichen Noten leicht erhöht und der Stress für die einzelne Lehrkraft abgebaut werden kann. Wichtige Grundvoraussetzung dieses wie aller Verfahren der Notenvergabe ist dabei Ihr Wille zur Gerechtigkeit und Ihre kritische Selbstreflexion (die sich übrigens hervorragend durch Rückmeldungen von SchülerInnen) sensibilisieren und weiterentwickeln lässt (vgl. → 12 FeedbackKultur nutzen).
4. Der Pädagogische Spielraum In Gegensatz zu der oben gegebenen Anleitung, Noten auch als Ziffernoten in großer Anzahl zu vergeben, die insbesondere bei tabellenkalkulierten Verfahren zur weiteren Berechnung einer Durchschnittsnote einladen, steht die klare Anweisung aller schulrechtlichen Vorgaben, Noten nicht nur rechnerisch zu erteilen. Wo aber beginnt und wo endet der pädagogische Spielraum einer Lehrkraft? Es sind vor allem zwei wesentliche Aspekte, die den Spielraum einer pädagogischen Notenvergabe kennzeichnen: ȤȤ Berücksichtigt werden soll die aktuelle Entwicklung einer Schülerin bzw. eines Schülers, d. h., dass z. B. SchülerInnen, die im ersten Halbjahr auf 5 standen und im zweiten Halbjahr mit 4 benotet wurden, trotz arithmetischem Schnitt von 4,5 aufgrund der positiven aktuellen Entwicklungstendenz eine 4 gegeben werden kann. Dieselbe Argumentation kann auch zur Vergabe einer schlechteren Note führen. Es gibt keine Rezepte für die Nutzung dieses Spielraums, als Orientierungswerte können Urteile der Verwaltungsgerichte in umstrittenen Fällen dienen, z. B. http://www.lehrerfreund. de/schule/1s/zeugnisnote-rechnerisches-mittel/3762. ȤȤ In dubio pro reo ist eine zweite Maxime, die dazu führen sollte, dass bei einer rechnerisch uneindeutigen Notenlage SchülerInnen die bessere der beiden Noten gegeben wird. Es ist wichtig, diese Abweichungsmöglichkeiten von der rechnerischen Note zu kennen, um sie gegebenenfalls nutzen zu können und vor allem, um einen
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kritischen Blick auf die Aussagekraft der Nachkommastellen zu bewahren. Zu einem verantwortlichen und professionellen Umgang mit der Leistungsbewertung von SchülerInnen gehört aber darüber hinaus, solche Situationen der Zuspitzung möglichst zu vermeiden, indem Sie sich als Lehrkraft regelmäßig und rechtzeitig ein klares Bild des Leistungsstandes von SchülerInnen verschaffen, deren Leistungsbild unklar erscheint, dieses den Betreffenden kommunizieren und gegebenenfalls nach Möglichkeiten suchen, einen zusätzlichen u. U. auch alternativen Leistungsnachweis zu erbringen. Alternative Formen der Leistungsbewertung Seit etwa Mitte der 1990er-Jahre spricht man im schulischen Kontext von einem sogenannten erweiterten Lernbegriff. In Deutschland ist er durch Heinz Klippert (1994) eingeführt worden: Inhaltlichfachliches Lernen
Methodischstrategisches Lernen
Sozialkommunikatives Lernen
Affektives Lernen
–– Wissen (Fakten, Begriffe, Definitionen) –– Verstehen (Phänomene, Argumente, Erklärungen …) –– Erkennen (Zusammenhänge …) –– Urteilen (Thesen, Themen, Maßnahmen …) –– etc.
–– Exzerpieren –– Nachschlagen –– Strukturieren –– Organisieren –– Planen –– Entscheiden –– Gestalten –– Ordnung halten –– Visualisieren –– etc.
–– Zuhören –– Begründen –– Argumentieren –– Fragen –– Diskutieren –– Kooperieren –– Integrieren –– Gespräche leiten –– Präsentieren –– etc.
–– Selbstvertrauen entwickeln –– Spaß an einem Thema haben –– Spaß an einer Methode haben –– Identifikation und Engagement entwickeln –– Werthaltungen aufbauen –– etc.
Abb. 2: Der erweiterte Lernbegriff. Quelle: http://www.olev.de/m/methodenkompetenz.htm
Mit dem erweiterten Lernbegriff hat sich auch der Leistungsbegriff gegenüber einem rein wissensorientierten Verständnis verändert: Fachliche Inhalte sollen nicht als formal-isoliertes Wissen erworben werden, sondern in Form von Kompetenzen mit dem Ziel der Handlungsfähigkeit. So werden in den meisten curricularen Vorgaben inzwischen fachliche Anforderungen als inhaltliche Kompetenzen formuliert und um prozessbezogene Kompetenzen ergänzt. Kompetenzorientierter Unterricht, der die prozessbezogenen Kompetenzen explizit schult und die beiden Kompetenzebenen verknüpft, führt häufig zu komplexeren und offeneren Unterrichtsformen, bei denen die Ergebnisse
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von Arbeitsphasen auf andere Weise, z. B. in Form von (Gruppen-)Präsentationen, abgerufen werden. Weitere methodische Formen von Lernergebnissen können Portfoliomappen, Dokumentationen, Ausstellungen, Vorträge, Kolloquien, Streitgespräche, Podiumsdiskussionen, Lerntagebücher u. v. a. m. sein. Viele dieser Formen sind keine Einzelleistungen, sondern werden von einer Gruppe erarbeitet. Für diese Formen des Unterrichts sind oftmals auch andere Bewertungsformen gefragt. Im Folgenden werden lediglich die Prinzipien dieser Bewertungsinstrumente vorgestellt und Hinweise auf weitere Fundstellen gegeben – in Anpassung an die konkreten Bedingungen des jeweiligen Unterrichts ist es die Aufgabe der Lehrkraft, ein stimmiges Bewertungsinstrument zu entwickeln. Überlegen Sie, bevor Sie weiterlesen, was Ihnen an Möglichkeiten für die Bewertung einer Gruppenpräsentation in einem Ihrer Fächer einfallen würde? Notieren Sie möglichst konkrete Kriterien.
Grundlage aller offenen Formen der Leistungsbewertung sind Kriterien, die den SchülerInnen vor Beginn der Erarbeitung oder des Projektes bekannt sind. Diese sollten in einem Kriterienraster festgelegt sein und trotzdem noch die Möglichkeit bieten, besondere Umstände oder außergewöhnliche Teilleistungen mit in die Bewertung einbeziehen zu können, z. B. in einer Zeile »Besonderheiten« im Beobachtungsbogen. Es bietet sich oft an, die SchülerInnen in die Erstellung der Kriterien miteinzubeziehen. Öffentliche Formen der Leistungsbewertung, wie bei einer Präsentation, können die Möglichkeit der Mehrperspektivität nutzen und z. B. die Sicht der Lehrkraft und die Sicht der anderen SchülerInnen auf eine Präsentation korrelieren. Zugleich werden argumentative Muster der Rückmeldung und Bewertung von Leistung eingeübt. Dass dies nur auf der Basis eines vertrauensvollen Verhältnisses zwischen Lehrkraft und SchülerInnen umsetzbar ist, versteht sich von selbst. Verfahren, die in dieser Weise auf argumentative Explikation, Transparenz und Reflexivität ausgelegt sind, fallen unter den Fachbegriff der kommunikativen Validierung. Besondere Beachtung verdienen alle Leistungsmessungen, bei denen sich der Arbeitsprozess über einen längeren Zeitraum erstreckt und am Ende dieses Prozesses in einem Produkt, z. B. einem Plakat oder einer Ausstellung, seinen Abschluss findet. Hier lohnt es sich oft, neben der kriterienbezogenen Produktbewertung auch den Arbeitsprozess selbst mit in die Bewertung einzubeziehen: Diese Prozessbewertung kann sowohl durch einen Beobachtungsbogen der Lehrkraft während des Arbeitsprozesses als auch durch Schülermitbeurteilung oder eine Kombination von beidem erfolgen.
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Gruppenergebnisse dürfen im Rahmen der Mitarbeitsnote grundsätzlich auch als solche bewertet werden: Je nach pädagogischem Ansatz kann eine Kombination aus einer individuellen Note, z. B. für den Vortragsteil einer einzelnen Schülerin/ eines einzelnen Schülers plus der Note für die Gesamtleistung der Gruppe gewählt werden oder aber eine Gesamtnote für alle Gruppenmitglieder vergeben werden. Eher für erzieherische Zwecke als für den Alltagsgebrauch gibt es die Option, den SchülerInnen einer Gruppe einen der Gesamtleistung entsprechenden Notenpool vorzugeben, den diese dann unter sich gerecht zu verteilen haben. Beispiel: Die Gruppe besteht aus fünf TeilnehmerInnen und erzielt das Ergebnis Befriedigend. Als Punktepool würden in diesem Fall 15 Punkte angesetzt, die die SchülerInnen gemäß ihrer Arbeitsleistung auf sich zu verteilen hätten.
Die benannten Möglichkeiten lassen sich auch schulrechtlich ohne Weiteres durchführen, solange die Kriterien vorher klar (sicher: schriftlich!) festgelegt sind und die Noten in die Mitarbeitsnote einfließen. Soll eine solche Leistung den Status einer schriftlichen Arbeit bekommen, benötigt sie eine vorherige Anerkennung durch die Fachkonferenz und die Schulleitung, z. B. als Klausurersatzleistung. Diese Art von Benotung befindet sich immer in einer Art rechtlicher Grauzone, die von der Rückendeckung durch die Schulleitung lebt – welche erfahrungsgemäß oft Interesse an den innovativen und bereichernden Projekten hat. Also: Nicht abschrecken lassen, wenn Sie ein spannendes Projekt vorhaben, das Sie auch gern bewerten würden, sondern zunächst einmal ein Bewertungsformat erstellen und Rücksprache mit Fachgruppenleitung und Schulleitung halten. Jenseits aller Leistungsmessung In diesem Kapitel lag der Fokus auf Aspekten wie Beobachtung, Dokumentation und rechtlichen Vorgaben, die für ein unkompliziertes Unterrichten auf jeden Fall geklärt sein müssen. Der Schwerpunkt des Unterrichtens selbst sollte jedoch nicht auf den Bewertungsprozessen liegen und tut dies glücklicherweise auch nicht, weil die aktuellen Themen und konkreten Menschen, die an ihm beteiligt sind, in der Mehrzahl aller Stunden im Vordergrund stehen. Das heißt, dass in ganz vielen Stunden der Aspekt der Leistungsbewertung gar kein Thema ist, sondern ›nur‹ dafür sorgt, dass alle Beteiligten Sicherheit über die zugrundeliegenden ›Gesetze‹ haben. Hier schließt sich der Kreis: Transparenz und Kommunikation wurden als die notwendigen Schlüssel für eine als gerecht empfundene Leistungsbeurtei-
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lung empfohlen und eine Weiterentwicklung im Bereich der Partizipation der SchülerInnen in diesem Bereich als wünschenswert gekennzeichnet – alles immer unter den jeweils aktuellen Rahmenbedingungen Ihres Unterrichtens …
Femke, 11 Jahre, Klasse 5 Bingel, Claudia: Visualisieren. Freiburg i.B. 2012 Bourdieu, Pierre/Passeron, Jean-Claude: Die Illusion der Chancengleichheit. Untersuchungen zur Soziologie des Bildungswesens am Beispiel Frankreichs. Aus dem Französischen von Barbara und Robert Picht, bearbeitet von Irmgard Hartig. In: Texte und Dokumente zur Bildungsforschung. Hg. vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung. Stuttgart 1971 Brüning, Ludger/Saum, Tobias: Erfolgreich unterrichten durch Visualisieren. Grafisches Strukturieren mit Strategien des Kooperativen Lernens. Essen 2009 Grunder, Hans-Ulrich/Bohl, Thorsten/Broszat, Karin (Hg.): Kurzversion des Forschungsberichts Neue Formen der Leistungsbeurteilung an Sekundarstufen I und II, Kapitel 1. Stuttgart 2001 Gudjons, Herbert: Methodik zum Anfassend. Bad Heilbrunn 22006 http://www.lehrerfreund.de/schule/1s/muendliche-noten-schnell-ice/3752. 26.02.2006: Noten ausrechnen mit Excel/Tabellenkalkulation – Unter Punkt 2 Anleitung zur prozentualen Gewichtung von mündlichen und schriftlichen Noten Klippert, Heinz: Stichwort: Erweiterter Lernbegriff. 1994. Quelle: http://www.olev.de/m/methodenkompetenz.htm Seibold, Brigitte: Visualisieren leicht gemacht: Talentfrei Zeichnen lernen und professionelle Flipcharts erstellen. Offenbach 2012 Vollstädt, Witlof/Tillmann, Klaus Jürgen/Rauin, Udo/Höhmann, Katrin/Tebrügge, Andrea: Lehrpläne im Schulalltag: Opladen 1999 Weinert, Franz E.: Fördert das System der Leistungsbewertung die Leistungsbereitschaft der Schülerinnen und Schüler? Unveröff. Manuskript für die Anhörung am 8. Juli 1999 im Landtag von Baden-Württemberg. Aus: Seminar BAK-Vierteljahresschrift 2/1999. 2. www.schulheft.at/fileadmin/1PDF/schulheft-142.pdf www.tabularasamagazin.de/artikel/artikel_3209/www.juergenkalb.de/bohl.pdfbleme-bei-derleistungsbeurteilung Zeugnisse in den allgemeinbildenden Schulen: RdErl. d. MK v. 5.12.2011–33–83203 (SVBl. 1/2012 S. 6), geändert durch RdErl. d. MK v. 5.3.2012 (SVBl. 5/2012 S. 267; ber. S. 463), 9.4.2013 (SVBl. 6/2013 S. 223) und vom 11.8.2014 (SVBl. 9/2014 453) – VORIS 22410
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Aus Unterrichtsstörungen lernen Renate Will
In diesem Kapitel sollen Sie die Erfahrung machen, dass man aus Unterrichtsstörungen lernen kann. In welcher Hinsicht? Zum einen, indem Sie sich klar machen, welche Gründe Unterrichtsstörungen haben können, und zum anderen, indem Sie darüber nachdenken, wie man sie am besten schon im Vorfeld vermeidet und was man macht, wenn sie dennoch auftreten.
Unterrichtsstörungen – ein Thema, das aus Unterricht und Schule nicht wegzudenken ist, das schon Generationen von Lehrkräften und auch die Wissenschaft beschäftigt hat. Unterrichtsstörungen sind, wie es Lohmann (2009, 15) treffend formuliert: »[…] unausweichliche und bis zu einem gewissen Grad normale Begleiterscheinungen von Unterricht.« Es gibt viele Autoren, die mit Hinweisen und Tipps versuchen, Lehrkräfte zu unterstützen, wenn es darum geht, diesen Unterrichtsstörungen vorzubeugen, sie also möglichst zu vermeiden oder sie zu verringern, wenn sie aufgetreten sind. Unterrichtsstörungen – das Schreckgespenst vieler ReferendarInnen, JunglehrerInnen, aber auch erfahrener LehrerInnen. Ohnmacht – bei Klassen, die ›über Tische und Bänke‹ gehen, die absolut keinen Sinn im Lernen und Vorankommen sehen. Was nützen da die Tipps aus Büchern? Eine berechtigte Frage! Dennoch wird man als Lehrkraft auf die Dauer krank, wenn man nicht versucht, Klassen in den Griff zu bekommen, und jeder Gang in eine störende Klasse schwer fällt. Gibt es nicht doch Möglichkeiten, Klassen zu führen, sodass Unterrichtsstörungen zumindest minimiert werden, am besten jedoch gar nicht erst auftreten? Wie gelingt es einer Lehrkraft, aus einer störenden Klasse eine produktive Lerngemeinschaft zu machen? Im folgenden Kapitel gibt es Denkanstöße zum Lernen an/durch Unterrichtsstörungen – ein weiterer Schritt zur Professionalisierung einer Lehrkraft.
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1. Begriffserklärung Lohmann (2009, 14 f.) bezeichnet als Unterrichtsstörungen »Ereignisse, die den Lehr-Lern-Prozess beeinträchtigen, unterbrechen oder unmöglich machen, indem sie die Voraussetzungen, unter denen Lehren und Lernen stattfinden kann, teilweise oder ganz außer Kraft setzen«. Er benennt Erscheinungsformen von Unterrichtsstörungen, die eine Lehrkraft höchstwahrscheinlich im Laufe Ihres Unterrichtens kennengelernt hat oder kennenlernen wird: ȤȤ verbales Störverhalten (schwatzen, vorlautes Verhalten, Zwischenrufe, Beleidigungen) ȤȤ mangelnder Lerneifer (geistige Abwesenheit, Desinteresse, Unaufmerksamkeit) ȤȤ motorische Unruhe (zappeln, kippeln, herumlaufen) ȤȤ aggressives Verhalten (Wutausbrüche, Angriffe auf Personen, Sachbeschädigungen) Nolting (2012, 12 f.) unterscheidet in diesem Sinne aktive (Privatgespräche, hineinrufen …) und passive Unterrichtsstörungen (schlechte Beteiligung, Hausaufgaben werden nicht gemacht, …). Er benennt normative und funktionale Kriterien für die Definition von Unterrichtsstörungen: ȤȤ Normative Definition: Unterrichtsstörungen sind Handlungen von SchülerInnen, die gegen Regeln verstoßen. […] ȤȤ Funktionale Definition: Unterrichtsstörungen sind Handlungen, welche die von einer Lehrkraft beabsichtigte Unterrichtsführung behindern, und zwar, a) indem sie andere Personen, nämlich die Lehrkraft oder die MitschülerInnen, in ihren aufgabenbezogenen Aktivitäten beeinträchtigen, und/oder b) indem sie die eigene aufgabenbezogene Aufmerksamkeit und Mitarbeit beeinträchtigen. Ein Verhalten kann sowohl als Regelverstoß als auch als Behinderung des Unterrichts und des Lernens eingeordnet werden. Betont wird in der Literatur immer wieder, dass Lehrkräfte Unterrichtsstörungen unterschiedlich wahrnehmen. Das beste Beispiel hierfür ist der Lärmpegel. Hier haben Menschen ganz unterschiedliche Toleranzschwellen bzw. Maßstäbe. Da Lärm Stress bedeutet und demnach auch gesundheitliche Folgen haben kann, sollten KollegInnen gemeinsam dafür Sorge tragen, dass der Lärmpegel erträglich bleibt. So kann das Thema ›Lärm und seine Auswirkungen‹ in Lerngruppen unter dem Aspekt der Gesundheits- und Umwelterziehung in den verschiedensten Fächern zur Sprache gebracht werden (vgl. auch: http://www.bzga. de/botmed_20350000.html).
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Die Ursachen für Unterrichtsstörungen sind vielfältig: Sie können bei den SchülerInnen liegen (Langeweile, Desinteresse, Über- und Unterforderung, Stress, …), bei den Lehrkräften (wenig Präsenz, schlecht vorbereiteter Unterricht, Ungerechtigkeit, kein Classroom-Management, …), bei den Rahmenbedingungen (zu große Klassen, zu kleiner Schulraum, schlechte Ausstattung der Schule mit Medien, ungeeigneter Stundenplan, …), bei den Eltern (Unverständnis, mangelnde Kooperationsbereitschaft, Probleme mit dem eigenen Kind, …) und bei der Gesellschaft (keine Berufsperspektive, keine Ausbildungs- und/oder Studienplätze, …). Entscheidend ist, dass alle Ursachen zum Verlust effektiver Lernzeit führen. Überlegen Sie, was Sie am meisten beim Unterrichten stört und wie Sie darauf reagieren. Gibt es bestimmte Situationen, die in Ihrem Unterricht Störungen hervorrufen? Können Sie angeben, was die Ursache für diese Unterrichtsstörungen ist? Wie reagieren Ihre SchülerInnen auf Unterrichtsstörungen? In welcher Rolle sehen Sie sich als Lehrkraft – im Unterricht, bei Unterrichtsstörungen, …? Welche Einstellung haben Sie hinsichtlich Ihrer SchülerInnen?
Wenn Sie diese Fragen für sich beantworten können, dann haben Sie bereits ein gutes Gespür für das, was Sie stört, und dafür, welche Konsequenzen die Störungen für Ihren Unterricht und Ihre Rolle als Lehrkraft haben. Häufig schleichen sich in der Routine des Alltags Gewohnheiten/kleine Unzulänglichkeiten ein, die – nicht erkannt – Ursachen für Unterrichtsstörungen sein können. Daher soll es darum gehen, diese Routine aufzubrechen und dafür zu sensibilisieren, Unterricht mit und für SchülerInnen so zu gestalten, dass Unterrichtsstörungen kein Thema mehr für Ihren Unterricht sind.
2. Unterrichtsstörung – ein Wortspiel Im Folgenden finden Sie das Wort ›Unterrichtsstörung‹ versehen mit verschiedenen Denkanstößen, die sich hinter den einzelnen Buchstaben des Wortes verbergen können. Fallen Ihnen eventuell auch noch andere ein? Diese Denkanstöße weisen Wege auf, wie Unterrichtsstörungen zumindest minimiert, wenn nicht sogar verhindert werden können. Es sind Gelingens bedingungen dafür, dass Lernende Schule und Lernen nicht nur als lästiges Übel, sondern als etwas Erstrebenswertes ansehen. Die Umsetzung der Denk-
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anstöße ist – zugegeben – nicht immer ganz leicht und bedarf der Geduld und der Ausdauer, der entsprechenden Haltung und Einstellung zum Beruf – aber insbesondere zu den SchülerInnen. U nterricht planen und durchführen – Handlungs-, Lerner- und Prozessorientierung N icht auf jede kleine Störung reagieren T eambildung mit KollegInnen E skalationen vermeiden R egeln, Rituale und Routinen schaffen R ückmeldungen (Feedback) einfordern und geben I ch-Botschaften senden C lassroom-Management – Unterrichtsstörungen vermeiden H altung und Einstellung überprüfen T aktisch handeln S tärken der SchülerInnen fördern und sie zum Erfolg führen S oziale Kompetenzen fordern und fördern T raining von Methoden und Kompetenzen Ö ffnen von Unterricht R eagieren, aber bitte professionell U nterschiede und Vielfalt nutzen N achdenken, dann erst handeln G enau beobachten und Eigenschaften positiv (um)deuten Versuchen Sie, die Denkanstöße, evtl. im Team, zu clustern. Können Sie Kategorien bilden, in die Sie die Begriffe einordnen? Können Sie sie mit Inhalt füllen und könnten Sie sie auch umsetzen – in Ihrem Unterricht, bei Unterrichtsstörungen? Die ›Lösung‹ zu den möglichen Kategorien finden Sie am Ende des Kapitels.
Die gebildeten Kategorien machen zum einen das Berufsfeld der Lehrkraft mit aus, sie haben aber auch zum anderen mit den personalen Kompetenzen und dem erzieherischen Handeln einer Lehrkraft zu tun. Ein nicht zu unterschätzender Aspekt ist auch die Haltung und die Einstellung, die Lehrkräfte ihrem Beruf und ihren SchülerInnen entgegenbringen.
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3. Die ›Alle-müssen-mich-mögen‹-Falle Als Ausbilderin mache ich bei einigen Unterrichtsbesuchen die Beobachtung, dass ReferendarInnen freundlich und wertschätzend, wenig ermahnend – und wenn ermahnend, dann mit einem freundlichen Lächeln –, auf Unterrichtsstörungen reagieren, die Lernenden ansonsten aber tun und lassen, was sie wollen. Spreche ich diese jungen KollegInnen bei dem folgenden Beratungsgespräch darauf an, höre ich als Antwort: »Aber ich möchte doch, dass sie mich mögen. Da kann ich doch nicht so streng sein und sie bestrafen.« Diese jungen Lehrkräfte legen viel Wert auf das Urteil ihrer SchülerInnen und definieren sich im Endeffekt über diese. Dieser Wunsch ist aus menschlicher Sicht in gewisser Weise verständlich, aber aus pädagogischer Sicht zu überdenken. SchülerInnen müssen Lehrkräfte nicht ›mögen‹, aber sie sollten sie respektieren, akzeptieren, achten, sie als Vorbild annehmen, ihnen vertrauen, sie durchaus als streng, aber gerecht und konsequent wahrnehmen … Überlegen Sie, ob Ihnen noch weitere Kriterien einfallen. Wichtig für Sie als junge Lehrkräfte ist es, dass Sie sich Ihre Stärken bewusst machen, sich nicht selbst in Frage stellen und sich mit Selbstvertrauen selbstbewusst und souverän vor die Lerngruppe stellen. Sie sollten sich auch klarmachen, dass Lernende bei neuen Lehrkräften erfahrungsgemäß austesten, wie weit sie gehen können. Der Titel des Buches von Jan-Uwe Rogge Kinder brauchen Grenzen (1993) formuliert treffend, was Kinder – und damit auch Lernende – brauchen: Grenzen im Sinne von Orientierung, Strukturen und Ritualen, wobei ein respektvolles und wertschätzendes Miteinander und positive Autorität kein Widerspruch sind. Der Buchstabe H in der obigen Auflistung bringt das zum Ausdruck: Haltung und Einstellung überprüfen! Das hat etwas mit Authentizität (= Echtheit, Glaubwürdigkeit, Verlässlichkeit), der Persönlichkeit und nonverbaler Kommunikation zu tun. An der nonverbalen Kommunikation können Sie bewusst arbeiten. Ihre Haltung und Einstellung hinsichtlich des Umgangs mit ›störenden‹ SchülerInnen müssen Sie selbst in den Blick nehmen und überdenken und gegebenenfalls hinterfragen. Erforschen Sie bitte, wie Ihre Schule/Ihr Kollegium mit Unterrichtsstörungen umgeht. Gibt es einen Konsens? Versuchen Sie herauszufinden, welche ›Formulare‹ vonseiten der Schule zur Verfügung gestellt werden, wenn es zum Beispiel um die Mitteilung nicht gemachter Hausaufgaben usw. geht.
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4. Regeln, Rituale und Routinen schaffen – ohne diese geht es nicht?! Regeln, Rituale und Routine schaffen – dieses Kriterium nimmt auch beim Versuch, eine angenehme Lernatmosphäre und ein gutes Klassenklima zu schaffen, einen großen Stellenwert ein und ist unumgänglich in Hinblick auf ein funktionierendes Classroom-Management, um Unterrichtsstörungen zu vermeiden oder doch zumindest zu reduzieren. Ingrid Baumgartner-Schmitt (2012, 4) bringt es auf den Punkt, wenn sie sagt, dass Schulregeln und -rituale die notwendige Basis für ein erfolgreiches Zusammenleben und Zusammenarbeiten sind, da sie Orientierung und Sicherheit geben, die Selbstständigkeit fördern und das Miteinander und den Unterricht strukturieren und ordnen. Somit wird allen SchülerInnen die Möglichkeit zum Lernen gegeben (Ball-Engelkes/ Esmaeili 2012). Wie gehen Sie nun vor, um einen sinnvollen Regelkatalog zu etablieren, den Ihre SchülerInnen auch akzeptieren und an den sie sich halten? Auch hier gilt es, bei der Auswahl Willkür zu vermeiden. Das Regelaufstellen muss in Zusammenarbeit/im Aushandeln mit der Lerngruppe erfolgen – darüber besteht in der Literatur Einigkeit. Nur, wenn Lernende die aufgestellten Regeln zu ihrer Sache machen, werden sie sich auch daran halten. Das Formulieren von Regeln stellt gerade JunglehrerInnen oft vor eine Herausforderung – sie müssen klar, eindeutig, positiv und schülerangemessen formuliert sein (z. B. »Wenn ich etwas sagen möchte, melde ich mich und warte ruhig, bis ich an die Reihe komme. Ich höre den anderen aufmerksam zu …« und nicht: »Wir rufen nicht in den Raum!«). Außerdem sollten die Absprachen auf einige wenige, prägnante Regeln begrenzt sein, wenn sie wirkungsvoll bleiben sollen. Lohmann (2009, 133) schlägt z. B. eine Kommunikationsregel, eine Umgangsregel, eine Eigentumsregel vor. Regeln werden für alle sichtbar im Klassen- oder Fachraum in Form eines Plakats aufgehängt. Selbstverständlich können Regeln für einzelne Fächer – Verhalten in Fachräumen, Sicherheitsvorgaben – ergänzt werden. Sinnvoll ist es, wenn die SchülerInnen die aufgestellten Regeln mit ihrer Unterschrift – quasi wie einen Vertrag – unterschreiben. Die Klassenleitung sollte sich anschließen, unterstreicht sie damit doch die Wichtigkeit, die sie dem Aushandlungsprozess und der Konsensfindung beimisst. Optimal ist in Hinblick auf die Nachhaltigkeit ein Absprechen innerhalb eines Klassenkollegiums. Das bietet SchülerInnen Struktur und Orientierung. Rituale sind ungeschriebene und als selbstverständlich erachtete Regeln, die »dem Verhalten Leitplanken« geben (Ball-Engelkes/Esmaeili 2012, 15),
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wie z. B. die Begrüßung zwischen Lehrkraft und SchülerInnen zu Beginn jeder Stunde. Sie sollten mit auf die Lerngruppen abgestimmt sein. Nicht jedes Ritual passt zu jeder Lerngruppe – hier gilt es insbesondere, die Jahrgangsstufe zu beachten – und zu jeder Lehrkraft. So präferieren einige KollegInnen den Einsatz von Klangschalen im Unterricht, während andere darin keinen Gewinn sehen. Nach einer Auflistung von Baumgartner-Schmitt (2012, 7) kommen im Unterricht viele unterschiedliche Rituale vor (Rituale zum Gestalten des Zusammenlebens, zum Lösen von Konflikten, zur Struktur der Arbeit, zur Aufrechterhaltung der Aufmerksamkeit und der Konzentration, zur Herstellung von Ruhe und zur Entspannung, zur Gestaltung besonderer Anlässe, Begrüßungsund Abschiedsrituale), die aus dem Unterricht gar nicht mehr wegzudenken sind und die oft unbewusst einfließen, die sich automatisiert haben. Das entlastet Schüler und Lehrkräfte. Diese Routinen im Miteinander geben Orientierung, Sicherheit und Halt. Damit dieses so ist, bedarf es der konsequenten Durchführung und des konsequenten Einforderns und Übens von abgesprochenen Ritualen (z. B. das Abschiedsritual: Die Lehrkraft beendet den Unterricht und verabschiedet sich von der Lerngruppe – und nicht: Die Schüler packen kurz vor dem Klingeln ihre Sachen ein). Sowohl Regeln als auch Rituale müssen immer wieder hinterfragt und gegebenenfalls verändert werden, sollen sie im Schulalltag Wirkung zeigen. Einige wichtige Regeln, Rituale müssen in den ersten Tagen des Schuljahres mit jeder neuen Lerngruppe erarbeitet und durchgesetzt werden, da sie das zukünftige Verhalten der Lerngruppe und das Klassenklima maßgeblich mitgestalten. Diese können nach Bedarf immer noch ergänzt werden, wenn es sich aus der Situation heraus ergibt. Bedenken Sie, es ist immer einfacher, die Zügel im Laufe der Zeit etwas zu lockern, als sie später anziehen zu wollen. Insofern ist die Antwort auf die Frage, ob es ohne Regeln und Rituale im Schulalltag nicht geht, ein klares ›Stimmt‹. Überlegen Sie, welche Regeln und Rituale Sie für Ihren Unterricht für notwendig halten. Probieren Sie in Ihren Lerngruppen das Aufstellen von Regeln mit Hilfe verschiedener Methoden aus (z. B. Placemat-Verfahren, Think – Pair –Share).
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5. Konsequenzen: ohne Wenn und Aber – aber pädagogisch sinnvoll Hat sich eine Lerngruppe mit ihrer Lehrkraft auf Regeln geeinigt, werden zu diesen auch Konsequenzen formuliert, die Regelverstöße nach sich ziehen. Im Sinne der Transparenz ist dies ein ganz wichtiger Schritt und »[t]atsächlich […] erwarten die Schüler, dass Regelverstöße auch konsequent, angemessen und gerecht bestraft werden.« (vgl. http://www.guterunterricht.de/guterunterricht.de/ Disziplin.html) Mit willkürlichem Strafen oder einem Strafkatalog kommt man als Lehrkraft jedoch nicht weit, insofern haben die ReferendarInnen aus meinen Beratungsgesprächen vom Anfang des Kapitels durchaus Recht. Natürlich sollen sich SchülerInnen im Unterricht wohlfühlen und sich nicht ängstlich vor einer Lehrkraft wegducken. Gelegentlich wird von einer Lehrkraft aus Unsicherheit, Verzweiflung oder auch Wut (unüberlegt) gehandelt/bestraft – mit allen daraus resultierenden unangenehmen Folgen: Macht(losigkeit), Lächerlichkeit, Unglaubwürdigkeit, Rachegedanken vonseiten der SchülerInnen … So soll es natürlich nicht sein. Eine Lehrkraft muss mit Augenmaß und wohl überlegt handeln! Kindler (2007, 10) setzt Strafen mit Sanktionen gleich und betont, dass sich dahinter der Begriff einer ›direkten Konsequenz‹ auf ein nichtakzeptables Verhalten verbirgt. Wie man sich dreht und wendet, SchülerInnen werden stets den Eindruck einer Bestrafung durch die Lehrkraft haben. Diese ist nur dann effektiv, wenn sie für die Betroffenen auch als direkte, unangenehme Konsequenz wahrgenommen wird. Sie merken, bestrafen hat somit auch etwas mit einem entschlossenen/zielstrebigen Verhalten der Lehrkraft zu tun. Es ist nicht einfach, ›richtig‹ zu sanktionieren, »[d]enn richtiges Sanktionieren hängt immer auch mit Ihrer Schule, Ihrer Klasse, Ihrer Unterrichtspraxis und auch mit Ihrer Persönlichkeit zusammen« Kindler (2007, 9). Dementsprechend müssen Sie selbst entscheiden, wie Sie in entsprechenden Situationen handeln möchten. Sinnvollerweise sprechen Sie die Maßnahmen/die Sanktionen/die Konsequenzen, mit denen Regelverstöße geahndet werden, mit Ihren Lerngruppen ab. Nur wenn ein allgemeiner Konsens hinsichtlich der Konsequenzen innerhalb einer Lerngruppe besteht, werden diese auch akzeptiert. Einsicht ist besser als Trotz. SchülerInnen sind hier oft härter gegen sich selbst, als Lehrkräfte es wären. Hier ist das Maß im Auge zu behalten. Auch beim Verhängen von Konsequenzen sollte zumindest das Klassenkollegium an einem Strang ziehen. Konsequenzen gelten ohne Wenn und Aber – nur dann ist das Aufstellen von Regeln auch sinnvoll. Es verhindert ein Ausspie-
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len der KollegInnen durch die SchülerInnen und setzt Grenzen. Nur wenn auf Regelverstöße auch Maßnahmen erfolgen, bleibt die Lehrkraft in deren Augen glaubwürdig und verlässlich. Dessen muss sich jede Lehrkraft bewusst sein. Das Einhalten von Schulregeln (z. B. im Umgang mit Handys, beim Schummeln in Klassenarbeiten, beim Auftreten von Mobbing) sollte von allen KollegInnen eines Kollegiums konsequent gefordert und bei Verstoß einheitlich sanktioniert werden. Das erspart zeitaufwendige und kräftezehrende Diskussionen mit SchülerInnen. Damit ist das Kollegium als Team gefragt und nicht jeder als Einzelkämpfer. Das bedeutet für Sie, dass Sie sich zunächst einmal mit Ihren KollegInnen, die mit Ihnen in Ihren Klassen unterrichten, austauschen sollten, um Absprachen zu treffen. Nimmt man es genau, dann steht mit den Entscheidungen und Überlegungen hinsichtlich des Umgangs mit Unterrichtsstörungen auch der Schulentwicklungsprozess einer Schule hinsichtlich des Leitbildes/Schulprogramms im Fokus. Kommt es zwischen den SchülerInnen im zwischenmenschlichen Bereich zu Auseinandersetzungen, bietet es sich an, sie die Probleme/Konflikte selbstständig regeln zu lassen. Daher führen KollegInnen an manchen Schulen den Klassenrat ein. Zugegeben, er kostet Zeit – die aber dadurch zurückgewonnen wird, dass es zu weniger Verhaltensauffälligkeiten kommt. Das Etablieren eines Klassenrates legt den Grundstock zum Lösen von Konflikten durch die Lerngruppe selbst und fördert zudem ein demokratisches Miteinander und die Verantwortung der SchülerInnen für das gemeinsame Lernen; er ist aber auch das Gremium zum Besprechen und Planen von besonderen Aktionen und gibt den Rahmen, um zu loben und zu bestärken. Lernende werden ernst genommen und können miteinander in einen Aushandlungsprozess gelangen, der auch Kompromissbereitschaft, Bewertungen, Abwägungen usw. schult und fördert. Die SchülerInnen sind aktiv am Schaffen einer angenehmen und konstruktiven Lernatmosphäre beteiligt. Viele Schulen bilden aus der Schülerschaft StreitschlichterInnen aus, die ebenfalls bei Konflikten beratend wirken können. Auch hier bestehen in den Schulen unterschiedliche Konzepte, die es zu erkunden gilt. Entscheidend ist, dass StreitschlichterInnen in der Kommunikation mit ihren MitschülerInnen oft erfolgreicher sind, als es die Lehrkraft wäre, in deren Unterricht es zu Problemen gekommen ist. In der Literatur gibt es genug Hinweise und Tipps, wie eine Lehrkraft reagieren sollte, wenn trotz aller präventiven Maßnahmen Störungen im Unterricht auftauchen. Eine wichtige Erkenntnis ist, dass nicht auf jede kleine Störung sofort übermäßig reagiert werden sollte. Das unterbricht das Arbeiten und die Konzentration in einer Lerngruppe. Sollte ein Eingreifen notwendig werden,
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gibt es verschiedene Optionen, darauf zu reagieren. Oft wirkt schon der nonverbale Kontakt (das Hochziehen einer Augenbraue, das Stirnrunzeln, ein verständnisvolles Lächeln, der Gang in die Nähe der Schülerin/des Schülers …). Hält die Störung an, kann die Lehrkraft als nächstes den Namen nennen, anschließend die Regel, gegen die gerade verstoßen wird, benennen oder diese ins Bewusstsein rufen. Sollte der Schüler/die Schülerin weiterhin stören, kann die Lehrkraft auf die Konsequenz hinweisen, auf die sich die Klasse geeinigt hat – und sie dann gegebenenfalls auch umsetzen. Die schnellste Intervention ist das Umsetzen – in der Hoffnung, dass der/die Angesprochene auch der Aufforderung nachkommt. Sollte sich eine Situation zuspitzen, ist es sinnvoll, das Besprechen des Konfliktes mit dem betroffenen Schüler/der Schülerin an das Stundenende zu verlegen. Prinzipiell ist es wichtig, Ich-Botschaften zu senden (nicht: Du störst, merkst du das nicht? sondern: Ich fühle mich durch dich beim Unterrichten gestört (Gefühl), das möchte ich nicht (Wunsch oder Bedürfnis). Wir reden nach der Stunde darüber.) Empfehlenswert ist es auch, taktisch klug zu handeln und nicht überzureagieren, um Eskalationen und Machtkämpfe zu vermeiden. Wirken Sie deeskalierend und halten Sie die Stufen der Eskalationsleiter ein. (vgl. Kowalczyk/Deister 2009). Achten Sie darauf, einer Schülerin/einem Schüler zu signalisieren, dass Sie nichts gegen sie/ihn haben, sondern, dass Sie das Verhalten stört, dass gerade gezeigt wird. Das hat ganz viel mit Haltung, Einstellung und Wertschätzung zu tun und entschärft die heikle Situation immens. Denken Sie darüber nach, was am geschicktesten als nächstes zu tun ist, wenn es zu Störungen kommt, und handeln Sie dann professionell und angemessen: Die Konsequenz muss immer in einem ausgewogenen Verhältnis zum Regelverstoß stehen. Ungewöhnlich und interessant ist z. B. das Schreiben eines Briefes an die eigenen Eltern, in dem der Schüler seinen Regelverstoß beschreibt und erklärt, weswegen er dieses nicht hätte tun sollen. Die Eltern geben eine Empfangsquittung. Hierbei ist pädagogisches Fingerspitzengefühl gefragt, denn diese Konsequenz ist nicht empfehlenswert, wenn Sie als Lehrkraft wissen, dass das Verhältnis von Eltern und SchülerIn bereits dauerhaft angespannt ist. Stichwort: Eltern – Kooperationen mit den Eltern sind zu bevorzugen. Denken Sie an den Schutzreflex von Eltern, die ihr Kind ungerecht behandelt wähnen, und achten Sie darauf, Eltern nie hinsichtlich ihrer Erziehungskompetenz zu kritisieren und nie bei ihnen den Eindruck entstehen zu lassen, dass sie persönlich angegriffen würden. Die Devise sollte sein, Eltern mit ins Boot zu holen. Auch hier gilt die Wertschätzung der Personen und das Anliegen, Eltern zu vermitteln, »dass Sanktionen keinen Selbstzweck erfüllen, sondern der Verteidigung und Durchsetzung von Werten dienen« (Kindler 2007, 99).
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Weiter geben rechtlichen Vorgaben Hinweise auf Erziehungsmittel und Ordnungsmaßnahmen (Bsp. § 61 Niedersächsisches Schulgesetz (NSchG)), die zu beachten sind. Klären Sie für sich, welche Verhaltensweisen Sie in Ihrem Unterricht auf keinen Fall durchgehen lassen wollen. Installieren Sie in Ihren Lerngruppen einen Klassenrat und setzen Sie ihn funktional ein. Leichter gesagt als getan? Dann bitten Sie KollegInnen, Ihnen die Möglichkeit der Hospitation in einer ihrer/seiner nächsten Klassenrat-Stunde zu geben. Versuchen Sie, Ihren SchülerInnen aktiv zuzuhören, um Schwierigkeiten und Probleme wahrzunehmen, die sich negativ auf den Unterricht auswirken können. Stellen Sie fest, welche rechtlichen Vorgaben in Ihrem Bundesland hinsichtlich Erziehungsmitteln und Ordnungsmaßnahmen gelten.
6. Nonverbale Kommunikation beherrschen und souverän auftreten Den jungen KollegInnen, die, wie im Unterkapitel 3 beschrieben, ihre Ermahnung mit einem (verbindlichen?) Lächeln untermauerten, war nicht bewusst, was sie mittels ihrer Körpersprache ausdrückten. Zur Körpersprache gehören die Körperhaltung (Stellung und Bewegung des Körpers), der Gesichtsausdruck (Mimik), die Gestik (Finger-, Hand-, Arm-, Fuß- und Kopfbewegung), der Augenkontakt (Spiel der Augen, Augenbrauen) und die Nutzung des Raums (Bewegung, Positionen im Raum) sowie physische Eigenschaften (Aussehen, Bekleidung, Auftreten). Mit Hilfe der Körpersprache wird viermal stärker als mit Worten vermittelt, wie sich die Person vor einer Klasse fühlt – mächtig oder ohnmächtig (Hergovich/Mitschka 2008). Auch für nonverbale Kommunikation gilt, dass es Absprachen mit SchülerInnen geben muss. Ein als ›Leisezeichen‹ eingeführtes Ritual zum Beispiel fällt nicht einfach vom Himmel. Körpersprache einzusetzen, kann durch Training geschult und ausgeweitet werden (vgl. www.studienseminar-koblenz.de, nonverbale Kommunikation). Dazu muss man sich über die Wirkung seiner Körpersprache im Klaren sein. Ist Ihnen bewusst, dass man eigentlich nicht nicht nonverbal kommunizieren kann? Mit SchülerInnen können Sie während des Unterrichts leicht nonverbal kommunizieren: z. B. durch ein aufmunterndes Nicken, einen fragenden Blick, eine hochgezogene Augenbraue, ein unauffälliges Kopfschütteln, einen hochgestreckten Daumen, …
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Damit zeigen Sie der einzelnen Schülerin, dem einzelnen Schüler, dass Sie sie/ihn wahrgenommen haben, ohne den Unterrichtsfluss selbst zu unterbrechen. Somit können Sie ›dezent‹ loben und unterstützen, aber auch – wie bereits erwähnt – auf kleine Unterrichtsstörungen reagieren, ohne selbst durch verbale Äußerungen zu stören. Positionen im Raum (z. B. in der Nähe der Tür, hinten im Klassenraum, rechts neben der Tafel) können ebenfalls mit nonverbalen Anweisungen verbunden werden (z. B. Mir ist es zu laut: in der Nähe der Tür). (vgl. Studienseminar Koblenz und Hergovich/Mitschka 2008). Eine Lehrkraft, die lächelnd ermahnt, widerspricht sich selbst! Achten Sie also darauf, dass Ihr verbales und nonverbales Verhalten übereinstimmen, kongruent sind, sonst kommt es zu Irritationen und Verunsicherung bei SchülerInnen, die keine eindeutige Botschaft erhalten. Möchten Sie ›nur‹ als nette, freundliche Lehrkraft wahrgenommen werden oder möchten Sie klare Botschaften aussenden und Grenzen setzen? Nutzen Sie Möglichkeiten der Hospitation bei Ihren KollegInnen und lassen Sie sich ein ehrliches Feedback geben, wenn Sie unsicher sind, wie Sie (non)verbal agieren. Das Wahrnehmen Ihrer Führungskompetenz bedeutet, dass Sie vor Ihren Klassen souverän auftreten. Damit können Sie schwierige Situationen gut meistern und es fällt Ihnen leichter, Ihre Interessen und Ihr Unterrichtsvorhaben umzusetzen. Sie merken, das hat etwas mit Durchsetzungsvermögen zu tun, also der »Fähigkeit, die eigene Meinung, Vorstellung oder Idee gegen Widerstand zu verteidigen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen.« (http://www.akademie.de/wissen/besseresdurchsetzungsvermoegen) Das heißt nicht, dass Sie Ihre Ziele auf Biegen und Brechen durchsetzen sollen, sondern dass Sie lernen zu entscheiden, wann es sinnvoll ist sich durchzusetzen bzw. wann es angebracht ist nachzugeben. Eine sinnvolle Balance zu finden, hat wieder etwas mit Ihrer Einstellung und Haltung zu tun. Achten Sie auch auf nonverbale Zeichen, die Ihnen aus Ihrer Lerngruppe heraus signalisiert werden und reagieren Sie angemessen darauf. Was möchten Ihnen Ihre Schülerinnen und Schüler mitteilen? Stellen Sie sich vor einen Spiegel und probieren Sie die unterschiedliche Wirkung Ihrer Körpersprache aus, indem Sie verschiedene ›nonverbale‹ Signale ausführen. Vergessen Sie nicht, die Möglichkeit der kollegialen Hospitation zu nutzen, was bestimmt die effektivere Methode ist. Nutzen Sie bei der nächsten Gelegenheit den Weg von Ihrem Auto zum Schulgebäude, um eine souveräne Körperhaltung einzunehmen, und betreten Sie dann das Schulgebäude. Behalten Sie diese Körperhaltung bei, auch wenn Ihnen eine ganze Reihe von SchülerInnen entgegenkommt und Sie am liebsten ausweichen würden. Beobachten Sie die Reaktion dieser Schülergruppe.
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Versuchen Sie, mit Ihren SchülerInnen bei sich bietenden Gelegenheiten nonverbal zu kommunizieren; eine gute Gelegenheit bietet sich z.B während Ihrer Pausenaufsicht oder wenn Sie schon etwas früher im Klassenraum sind und mit den ersten ankommenden SchülerInnen ins Gespräch kommen.
7. Classroom-Management – Gelingensbedingung für störungsarmen Unterricht Classroom-Management – was ist damit gemeint? Hierbei geht es um die Maßnahmen, die eine Lehrkraft präventiv ergreift, um Unterrichtsstörungen vorzubeugen. Einige Maßnahmen haben Sie in den letzten Kapiteln bereits kennengelernt: das Aufstellen von Regeln und das Einführen von Ritualen, die Intervention bei Unterrichtsstörungen sowie das konsequente Handeln nach Störungen. Ebenso wissen Sie um die Notwendigkeit eines souveränen, Präsenz zeigenden Auftretens der Lehrkraft und der Schaffung eines unterstützenden und schülerorientierten Sozialklimas/Lernklimas sowie einer guten LehrerSchüler-Beziehung (vgl. auch Eichhorn 2015, 37). Wenn es einer Lehrkraft dann auch noch gelingt, dass Anerkennung, Loben und Wertschätzung einen hohen Stellenwert im Unterrichtsgeschehen einnehmen, eine Feedback-Kultur nutzbringend eingesetzt wird (vgl. → 12 FeedbackKultur nutzen) und ihr Handeln authentisch ist, werden Störungen gar nicht oder nur in geringem Maße entstehen (in Anlehnung an Eichhorn (2015, 39). Schule sollte von SchülerInnen und Lehrkräften sowohl als Lernraum wie auch als ein Raum, in dem für das Wohlbefinden gesorgt wird, wahrgenommen werden. Zum einen tragen Lehrkräfte dazu bei, zum anderen selbstverständlich auch SchülerInnen und Eltern. Für Lehrkräfte bedeutet dies, dass sie Eltern als Erziehungspartner mit ins Boot nehmen sollten (Kindler 2007, 118 und Unterkapitel 5), dass sie signalisieren sollten, auf ihre Mitarbeit Wert zu legen, und dass sie sie über das Klassengeschehen offen und ehrlich informieren. Auf einer konstruktiven Basis lässt sich mit den meisten Eltern hervorragend zusammenarbeiten – probieren Sie es aus! Wann fühlen sich SchülerInnen wohl? Natürlich dann, ȤȤ wenn ihnen Wertschätzung entgegengebracht wird und sie gelobt werden, ȤȤ wenn sie so angenommen werden, wie sie sind, ȤȤ wenn man sich um sie bemüht, ȤȤ wenn ihre Stärken wahrgenommen und sie darin gefordert werden, ȤȤ wenn ihre Schwächen diagnostiziert und dann mit pädagogischem Feingefühl Förderung und Erfolg ermöglicht wird,
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ȤȤ wenn sie als Individuum wahrgenommen werden und nicht in der Masse untergehen, ȤȤ wenn sie ein positives Feedback bekommen, ȤȤ wenn sie sich sicher fühlen, ȤȤ wenn man ihnen eine Struktur und Orientierung gibt, ȤȤ wenn sie respektiert, toleriert und akzeptiert werden, ȤȤ wenn die Räumlichkeiten schülerangemessen sind. Diese Aufzählung zeigt, was geleistet werden muss, um eine angenehme Lernatmosphäre und ein Klassenklima zu entwickeln, sodass sich alle wirklich wohlfühlen. Die Literatur bietet in dieser Hinsicht viele verschiedene Vorgehensweisen an (vgl. z. B. Hatto 2007 oder Kowalczyk/Ottich 2013 oder in diesem Buch das folgende Kapitel → 10 Aus Klassen Gruppen machen). Ein ständiges Ermahnen und Sanktionieren ist dagegen kontraproduktiv. Ein effektives ClassroomManagement ist insofern sehr wichtig, beugt man doch den Situationen vor, in denen man als Lehrkraft ermahnen müsste. Lernende, die in ihrer Schullaufbahn wenig Lob und Wertschätzung bekommen haben, benötigen besondere Aufmerksamkeit, möchte man sie wieder für Unterricht begeistern. Das bedeutet, dass Lehrkräfte ihre SchülerInnen gut kennenlernen müssen. Zum einen geschieht das im Unterricht durch entsprechende Beobachtungen und Diagnostik, zum anderen durch einen intensiven Austausch mit den KollegInnen, die in der Klasse unterrichten. Genauso wichtig ist es, sich vor der Übernahme einer Lerngruppe mit dem vorherigen Klassenlehrerteam auszutauschen, sodass lernschwächeren SchülerInnen vom Schuljahresbeginn an Erfolgserlebnisse vermittelt werden können. Das bedeutet, dass die Lehrkraft die Stärken ihrer SchülerInnen wahrnimmt – auch die der lernschwächeren –, diese positiv verstärkt und individuell zurückmeldet. Eichhorn (2015) schreibt, dass die ersten Schultage in einem Schuljahr entscheidend für die Beziehung zwischen Lehrkraft und Lerngruppe sind. Das mag beängstigend klingen, und es gibt genug PädagogInnen, die da ganz anderer Meinung sind. Wie dem auch sei: Je besser eine Lehrkraft ihre LernerInnen kennt, desto besser kann sie sich vorbereiten und den Bedürfnissen ihrer Lerngruppe von Anfang an gerecht werden. Das bedeutet nicht, dass sie Vorurteile entwickeln oder sich keinen eigenen Eindruck verschaffen soll, aber auch hier gilt: Das Rad muss nicht immer wieder neu erfunden werden! Dies gilt auch für verhaltensauffällige SchülerInnen, bei denen Sie von Anfang an die Möglichkeit haben, Strategien zu entwickeln und den Ball flach zu halten, sodass sich Probleme erst gar nicht ausweiten können. Das entlastet
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Sie als Lehrkraft im Unterrichtsalltag. Denken Sie jedoch immer daran, sich in Extremfällen externe Hilfe zu holen. Versuchen Sie, sich bei der nächsten Störung durch eine Schülerin bewusst – auch wenn es in diesem Moment schwierig ist – deren positive, lobenswerte Eigenschaften vor Augen zu führen und ihr dies zu kommunizieren. Versuchen Sie weiterhin, Beobachtungen, die Sie im Zusammenhang mit einem störenden Schüler machen, ›umzudeuten‹ (Reframing). Was möchte er Ihnen mitteilen und schafft es nicht anders als auf die Art und Weise, wie er sich gerade verhält? Ein schönes Beispiel für ›Reframing‹ ist, wenn man ein Glas nicht mehr als halb leer, sondern eben als halb voll betrachten kann: Ein positives ›Umdenken‹ hat eingesetzt.
Lernende müssen durch ihre Arbeitsdisziplin und ihre sozialen Kompetenzen zum guten Klassenklima und der angenehmen Lernatmosphäre beitragen. BallEngelkes/Esmaeilli (2012) bieten verschiedene Anregungen, wie das soziale Lernen gefördert werden kann. So schlagen sie neben dem Einführen von Ritualen z. B. vor, ein wöchentlich wechselndes Sozialziel mit den Lerngruppen festzulegen, auf das jeweils besonderer Wert gelegt wird. Dieses wird gut sichtbar im Klassenraum aufgehängt. Ebenso kann man mit Lernenden mithilfe eines Team-Pinboards arbeiten, um Regeln und Abläufe zu visualisieren und einzuüben; auch hier werden Ziele festgelegt. Ergänzung erfährt die Vorgehensweise dadurch, dass SchülerInnen beschreiben sollen, »was man sehen, hören oder tun kann, wenn das Verhalten gezeigt wird« (www.teampinboard.de/4481.html, Tiemann 2016, 23). Positive Wirkung zeigt auch das Einführen eines Lobbuches, in das alle Lehrkräfte einer Klasse entweder ein Klassenlob oder auch ein Lob für einzelne SchülerInnen eintragen können. Nur wenn Lernende miteinander interagieren, können sie die anderen beobachten und wahrnehmen. Auch die Mitglieder einer Lerngruppe müssen lernen, mit Unterschieden und Vielfalt umzugehen, sie müssen sich respektieren, akzeptieren und tolerieren. Erst dann ist die Basis für eine Interaktion gelegt. In leistungsdifferenzierten Lerngruppen bietet es sich z. B. an, Helfersysteme zu etablieren. Die Verantwortung für das Lernen wird dadurch mit auf die Lerngruppe übertragen. Zum einen können Gruppen mit jeweils einem lernstärkeren und einem lernschwächeren Partner gebildet werden. Zum anderen bietet es sich in kooperativen Lernphasen (z. B. beim Think – Pair – Share) an, die SchülerInnen dahingehend anzuleiten, dass sie sich zunächst einmal selbst helfen sollen, bevor die Lehrkraft gefragt wird. Damit keine Unruhe entsteht, wendet man zunächst an den direkten Partner, kann dieser nicht weiterhel-
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fen, werden die anderen Gruppenmitglieder mit einbezogen. Bastian (2016, 9) spricht von einer »Lern-Gemeinschaft«. Das Wort Gemeinschaft bedeutet ein Miteinander und kein Gegeneinander, den positiven Umgang mit Unterschieden und Vielfalt, das Sich-gegenseitig-Unterstützen. Soziale Kompetenzen werden auch durch die Lions-Quest-Programme Erwachsen werden und Erwachsen handeln geschult. Das Einbauen einzelner Bausteine in die Klassenleiterstunde (Verfügungsstunde) und das Verankern in verschiedenen Fächern (z. B. Deutsch, Religion, Geschichte, Sport) in den verschiedenen Jahrgängen ermöglicht das konsequente Arbeiten mit diesen Programmen. Fruchtbar für das soziale Klima sind in der Regel auch Klassenfahrten, Kennenlerntage, erlebnispädagogische Tage oder Ausflüge. Lehrkräfte geben an SchülerInnen ohne zu zögern ein Feedback. Selten jedoch fordern sie für sich ein Feedback ein (→ 12 Feedback-Kultur nutzen). Eine Feedback-Kultur kann jedoch einer Lehrkraft helfen, sich selbst in den Blick zu nehmen und an sich zu arbeiten. Verhaltensweisen, die eine Lehrkraft von ihrer Lerngruppen erwartet (z. B. Pünktlichkeit) sollte sie als Vorbild vorleben.
8. Unterricht planen und durchführen – aber bitte mit den SchülerInnen Bleibt als Letztes noch, den Unterricht und seine Planung und Durchführung in den Blick zu nehmen, um Unterrichtsstörungen zu minimieren. Ein effizienter Unterricht berücksichtigt bei der Planung und Durchführung die Interessen und Bedürfnisse der Lernenden. Dazu gehört, dass sowohl Vorkenntnisse und Vorerfahrungen als auch entwicklungspsychologische Voraussetzungen mit in den Blick genommen werden. Dadurch wird eine Unter- oder Überforderung vermieden, die unter Umständen zu Unterrichtsstörungen führt (Langeweile, Unmut, Frust). Auch hinsichtlich des Lernprozesses entscheidet die Lehrkraft abhängig von ihrer Lerngruppe, wie sie vorgehen möchte, um kompetenzorientiert zu unterrichten und dabei einen schülerrelevanten Schwerpunkt zu setzen. Dabei sollte das selbstständige Lernen gefördert werden. In der Durchführung spielen die Struktur und die Transparenz im Lernprozess eine wichtige Rolle. SchülerInnen, die den roten Faden verloren haben und sich nicht mehr beteiligen können/wollen, entwickeln sich leicht zum Unruheherd. Lernende, die die ausgewählten Methoden nicht beherrschen, fordern – in der Regel lautstark – Erklärungen ein.
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Im Sinne von Kounin (2006) sollte die Lehrkraft dafür sorgen, dass der Unterrichtsverlauf keine Leerstellen aufweist und speziell in Übergangsphasen eine fortgesetzte Auseinandersetzung mit den Lerninhalten gewährleistet wird. Außerdem sollte der Unterricht abwechslungsreich und herausfordernd gestaltet werden. Das setzt voraus, dass die Lehrenden eine entsprechende Gesprächsführung beherrschen. Das Vorformulieren von Impulsen für die Gelenkstellen bietet Entlastung im Unterrichtsgeschehen. Die Aufgabenstellungen müssen klar und eindeutig formuliert sein – eine Visualisierung (z. B. auf einer Folie) lenkt die Aufmerksamkeit der Lerngruppe auf den Arbeitsauftrag. Das Arbeitsmaterial muss lerngruppenangemessen gestaltet sein, sodass alle SchülerInnen hinreichend in den Lernprozess integriert werden. An differenzierende Maßnahmen ist auf Grund der heterogenen Lerngruppen in ausreichendem Maße zu denken – unter- und überforderte SchülerInnen stören häufig den Unterricht. Hier gilt es, Unterschiede und Vielfalt als Chance zu nutzen und verschiedene Aufgabenformate zu entwickeln. Die Organisation des Unterrichtsverlaufs (Auspacken der Arbeitsutensilien, Austeilen von Arbeitsblättern/Materialien/Sportgeräten/Musikinstrumenten, Übernahme von Verantwortung im Gruppenprozess (Zeitwächter, …), Zuteilung der Schüler zu den Arbeitsgruppen …) muss reibungslos funktionieren und dementsprechend vorbereitet/ritualisiert sein. Hier bietet es sich an, konkrete Zeitvorgaben zu machen (in zwei Minuten sind alle Tische als Gruppentische zusammengerückt o. ä.). Neben dem Planen und Organisieren des Lernprozesses sollte die veränderte Lehrerrolle im Fokus bleiben. Die Lehrkraft begleitet ihre Lerngruppe durch den Lernprozess als BeraterIn, Coach, BeobachterIn … Gelingende Voraussetzungen für einen effektiven Lernprozess sind neben einem gut vorbereiteten Unterricht eine angemessene Arbeitsdisziplin und eine konstruktive Arbeitshaltung der SchülerInnen. Das wird durch einen störungsarmen Unterricht positiv beeinflusst. Nach Bastian (2012, 3) bedarf es bei SchülerInnen dazu der Befriedigung von drei Grundbedürfnissen: die Erfahrung von Eigenständigkeit, das Erleben eigener Fähigkeiten und die Erfahrung sozialer Eingebundenheit. Bastian (2012,8) schränkt ein, dass zur konstruktiven Arbeitshaltung auch Selbstdisziplin und Selbstregulationsfähigkeit gehören, die bei SchülerInnen wenig entwickelt sein können. Dennoch sollte sich jede Lehrkraft die Frage stellen, ob sie mit ihrem Unterricht den drei Grundbedürfnissen gerecht wird. Daraus ergibt sich, dass es mit der reinen Wissensvermittlung durch die Lehrkraft nicht getan ist, was aber nicht heißen soll, dass die Lehrkraft nicht als überzeugende Wissensvermittlerin für ihre Fächer auftreten kann und soll. Dies stärkt die Rollenanteile der fachlichen Autorität.
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Über die Möglichkeit, soziales Lernen zu etablieren und somit die soziale Eingebundenheit zu gewährleisten, wurde bereits im Rahmen eines funktionierenden Classroom-Managements nachgedacht. Ebenso wurde bereits versucht, dafür zu sensibilisieren, wie bedeutend das Wahrnehmen der Stärken und Schwächen von SchülerInnen ist, um diese zurückzuspiegeln und den Lernprozess zu bestärken bzw. weiterzuhelfen. Realistisch sieht Bastian (2012, 9) auch die Grenzen, die Lehrkräften gesetzt werden, wenn SchülerInnen trotz eines Coachings und einer individuellen Betreuung das Angebot der Unterstützung nicht annehmen wollen. Welche Möglichkeiten gibt es, Lernende Eigenständigkeit erfahren zu lassen? Das selbstständige Lernen wird durch verschieden Methoden (→ 7 Methoden kennen und einsetzen) gefördert. Das Lerntempoduett z. B. wird der heterogenen Lerngruppe gerecht, SchülerInnen arbeiten in unterschiedlichen Konstellationen und lernen voneinander. Kein schneller Schüler wird ›ausgebremst‹. Langsamere SchülerInnen haben etwas mehr Nachdenkzeit. Bei Wochenplanarbeit oder auch Langzeitaufgaben teilen sich die SchülerInnen ihren Arbeitsplan selbstständig auf. Das bedarf der genauen Anweisung und Kontrolle, sollen alle am Ende der Arbeitsphase Ergebnisse aufweisen können. Auch das Präsentieren von Ergebnissen sollte in die Hand der SchülerInnen gelegt werden – sind sie doch mit verantwortlich für das Gelingen der Sicherungsphase. Außerdem wird dadurch das Selbstvertrauen und das Selbstwertgefühl gestärkt. Bei Kooperativen Lernmethoden wird durch die Phase der Einzelarbeit, in der die SchülerInnen selbstständig arbeiten, die individuelle Verantwortung des einzelnen Lerngruppenmitglieds deutlich. Arbeitet jemand nicht konsequent, leidet eine ganze Gruppe unter der mangelnden Arbeitsdisziplin eines Mitglieds, da das Gruppenergebnis nicht erarbeitet werden kann. Dies funktioniert selbstverständlich noch besser, wenn das gesamte Klassenkollegium als Team arbeitet und konsequent die eingeführten Methoden umsetzt. So ist es durchaus sinnvoll, die eingeführten Methoden mithilfe von Lernplakaten zu visualisieren und im Klassenraum auszuhängen (vgl. Bruns 2016). Das zeigt den KollegInnen, welche Methoden die Lerngruppe beherrscht, sodass sie darauf zurückgreifen können. Durch die Visualisierungen bleiben die Methoden auch für die SchülerInnen präsent. Sie können sie nach Bedarf nutzen, ohne dass sie jeweils wieder neu erklärt werden müssen. Das gilt insbesondere für komplexere Methoden, die dem kooperativen Lernen zuzuschreiben sind, aber auch z. B. für die Fünf-Gang-Lesetechnik. Einen guten Überblick muss die Lehrkraft auch im Sinne der Transparenz von Bewertungsmaßstäbe für Arbeiten/Klausuren oder Mappen geben. Hier bietet es sich an, Bewertungs-/Korrekturbögen zu entwerfen und mit der Lern-
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gruppe zu besprechen. Lernenden ist es wichtig, dass ihre Lehrkräfte gerecht sind. Fühlen sie sich ungerecht benotet, kommt Unmut auf, der sich auf das Klassenklima negativ auswirken kann. Überlegen Sie, ob Sie mit Ihrem Unterricht den drei Grundbedürfnissen (Erfahrung von Eigenständigkeit, Erleben eigener Fähigkeiten und Erfahrung sozialer Eingebundenheit) von SchülerInnen gerecht werden. Nehmen Sie Ihre Rolle als Lehrkraft in den Blick: Begleiten Sie Ihre SchülerInnen durch den Lernprozess als BeraterIn, Coach, BeobachterIn … oder als WissensvermittlerIn? Überprüfen Sie an einer Ihrer geplanten Stunden, ob Sie den Kriterien Transparenz und Klarheit gerecht wurden.
9. Fazit Dieses Kapitel zeigt Ursachen für Unterichtsstörungen auf, und es zeigt, welche präventiven Maßnahmen getroffen werden sollten, um Unterrichtsstörungen soweit wie möglich zu vermeiden. Eine nicht zu unterschätzende Rolle hat die Lehrkraft, der es gelingen sollte, durch ein effektives Classroom-Management und einen schülerwirksamen Unterricht Störungen zu minimieren. Hierbei kommt es auch auf die Einstellung und Haltung den Lernenden gegenüber an. Wichtige Aspekte im Unterrichtsalltag sind weiterhin die Arbeitsdisziplin und -haltung sowie die sozialen Kompetenzen der Lernenden. Diese zu fördern und zu schulen, bedeutet auch, die Lerngruppe an der Gestaltung von Unterricht partizipieren zu lassen.
Lösungen zur Unterkapitel 2 Nach dem Clustern müssten Sie Kategorien wie Unterricht mit SchülerInnen planen, Umgang mit Unterrichtsstörungen, Prävention und Intervention, Classroom-Management, Professionalität von Lehrkräften, Aufbau von Beziehungen, Gestaltung des Klassenklimas, Lerneffizienz gebildet haben.
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Überlebensnotwendiges
Hannes, 11 Jahre, Klasse 5
Ball-Engelkes, Peer/Esmaeili, Sigrid: Störungsarmer Unterricht. In: Pädagogik 1/2012 Bastian, Johannes: Arbeitsdisziplin. In: Pädagogik 1/2012 Bastian, Johannes: Klassenführung. In: Pädagogik 1/2016 Baumgartner-Schmitt, Ingrid: Schnee von gestern … oder doch eine Chance. In: Praxis Schule 5–10, Februar 1/2012 Bruns, Maren: Klassenführung selbst und gemeinsam gestalten. In: Pädagogik 1/2016 Christian, Hatto: Das Klassenklima fördern, Berlin, 52007 Eichhorn, Christoph Vorausschauend handeln. In: Friedrich Jahresheft 2015 Hergovich, Doris/Mitschka, Ruth: Macht und Ohnmacht in der Klasse, Berlin 2008 Kindler, Wolfgang: Wenn Sanktionen nötig werden: Schulstrafen, Mülheim an der Ruhr 2007 Kounin, Jakob S.: Techniken der Klassenführung: Standardwerke aus Psychologie und Pädagogik. Reprints. Münster 2006 Kowalczyk, Walter/Deister, Winfried: 99 Tipps Störungsfreier Unterricht, Berlin, 22009 Kowalczyk, Walter/Ottich, Klaus: Mit Schülern zusammenarbeiten, Berlin, 52013 Lohmann, Gert: Mit Schülern klarkommen, Berlin, 62009 Nolting, Hans-Peter (2012): Störungen in der Schulklasse, Weinheim/Basel, 102012 Rogge, Jan-Uwe: Kinder brauchen Grenzen, Reinbek/Berlin 1993 Tiemann, Carmen: Klassenführung und eigenverantwortliches Handeln. In: Pädagogik 1/2016 www.akademie.de/wissen/besseres-durchsetzungsvermoegen (letzter Zugriff am 28. 03. 16) www.bzga.de/botmed_20350000.html (letzter Zugriff am 26. 03. 16) www.duden.de › Wörterbuch (letzter Zugriff am 26. 03. 16) www.guterunterricht.de/guterunterricht.de/Disziplin.html (letzter Zugriff am 26. 03. 16) www.studienseminar-koblenz.de (letzter Zugriff am 26. 03. 16) www.teampinboard.de/4481.html (letzter Zugriff am 26. 03. 16) www.zeit.de/zeit-wissen/2015/04/charisma-ausstrahlung-begabung-uebung (letzter Zugriff am 26. 03. 16)
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Auf der Beziehungsebene
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Aus Klassen Gruppen machen
Renate Will
In einer Zeit, in der Teamfähigkeit, Kooperationsfähigkeit, Kritikfähigkeit, Kommunikationsfähigkeit, Toleranz usw. als wichtige personale Kompetenzen in der Berufswelt vorausgesetzt werden, ist es die Aufgabe von Schulen, Lernende darin zu schulen. In der Klasse bestehen dazu gute Möglichkeiten, wenn es der Lehrkraft gelingt, aus einer Klasse eine funktionierende Gruppe zu machen und den Weg dorthin für die Gruppenmitglieder transparent zu gestalten. Für die Schule und den Unterricht selbst ist eine Gruppe, eine gut funktionierende Lerngemeinschaft, Grundbedingung für ungestörte Lernprozesse und eine angstfreie Lernatmosphäre. Wie kann es gelingen, aus ca. 30 Schülerinnen und Schüler eine produktive Lerngemeinschaft zu machen? Dazu erhalten Sie im folgenden Kapitel Anregungen.
Jedes Mal, wenn ich nach den Sommerferien eine neue fünfte Klasse als Klassenlehrerin übernehme, kommt auf mich die spannende Frage zu: Wird es mir gelingen, aus ca. 30 SchülerInnen eine Gruppe/eine Lerngemeinschaft zu machen, die in den nächsten Schuljahren produktiv miteinander arbeiten und lernen kann? Oder wird die Klasse – trotz aller Anstrengung meinerseits – nur aus einzelnen Individuen, im Höchstfall aus kleinen Grüppchen bestehen? Hier stellt sich die Frage: Ist es nicht vielleicht auch normal, dass bei 30 SchülerInnen – also einer relativ großen Gruppe – Untergruppen entstehen? Der Prozess einer Gruppenentwicklung ist ein langwieriger und nicht von heute auf morgen zu bewerkstelligen – das zu wissen tut gut. In der Literatur findet man Angaben von bis zu zwei Jahren – also eine Zeitdauer, an deren Ende man die Klassenleitung – zumindest am Gymnasium – wieder abgibt. An anderen Schulformen (Grundschule/Gesamtschule) haben Lehrkräfte zum Teil ein größeres Zeitfenster. Im Folgenden sollen Sie Gelingensbedingungen kennenlernen, die Voraussetzung schaffen, Klassen als Gruppen zu gestalten. Sie sollen aber auch die Grenzen wahrnehmen, denen eine Lehrkraft in diesem Prozess ausgesetzt ist. Ganz besonders wichtig ist es, dass Sie Ihre Rolle in einem Gruppenentwick-
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Auf der Beziehungsebene
lungs-Prozess erfahren, sodass Sie professionell handeln, »zielgerichtet steuern und beeinflussen« (Steins et al. 2014, 131) können. Bevor Sie weiterlesen, machen Sie sich bitte Gedanken zu folgenden Fragen: In wie vielen Gruppen sind Sie Mitglied? In welcher fühlen Sie sich am wohlsten? Können Sie auch begründen, warum Sie sich in dieser Gruppe so wohl fühlen, während das in anderen Gruppen nicht so der Fall ist? Wie war das in Ihrer Kindheit/Jugend mit der Klassengemeinschaft und dem Gefühl, dazuzugehören? Wie positionieren Sie sich zu der Frage, ob eine Klasse überhaupt eine Gruppe im sozialpsychologischen Sinn sein kann? Finden Sie Gründe, die dafür bzw. dagegen sprechen.
1. Alle sprechen von ›Gruppe‹ – was ist das überhaupt? Eine »Gruppe ist eine Grundform des sozialen Lebens« (König/Schattenhofer 2015, 9). Was heißt das konkret – insbesondere auch für eine Schulklasse? Lässt sich nicht prinzipiell die Frage stellen, ob eine Klasse überhaupt eine Gruppe im sozialpsychologischen Sinn sein kann oder ob es sich nicht eher um eine zufällig zusammengewürfelte Anzahl von Personen handelt, die sich für einige Jahre miteinander arrangieren muss? Gruppen existieren zwischen wenigen Stunden und vielen Jahren, bei Klassen sind es in der Regel in der Grundschule vier Jahre, in der Sekundarstufe I sechs Jahre und in der Oberstufe zwei oder drei Jahre. Damit ergibt sich eine bestimmte Dauer, aber auch eine gewisse Verbindlichkeit, die in einer Schulklasse Grundlage der gemeinsamen Arbeit ist. Es stellt sich die Frage, weswegen sich Menschen in Gruppen zusammenfinden. Die Antwort liegt in unserer Evolution begründet. Menschen, die in Gruppen zusammenlebten, hatten einen Selektionsvorteil (Jonas/Stroebe/Hewstone 2014), wenn es um das Überleben ging. Das Zusammenfinden in Gruppen gibt Menschen Sicherheit, reduziert Ängste und befriedigt das »Grundbedürfnis nach Anerkennung und Zugehörigkeit« (Klein 2011). Es steigert das Selbstwertgefühl und ermöglicht einen Informationsaustausch und Erwerb von Wissen (Bierhoff 2006, 489), was dazu führt, dass sich Gruppenmitglieder gegenseitig unterstützen können. Dazu kommt, dass der Mensch ein soziales und geselliges Wesen ist, was den Gruppenbildungsprozess fördert und Einsamkeit und Isolation vorbeugt.
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Selbst wenn man der Ansicht wäre, dass es sich bei einer Klasse um keine Gruppe im sozialpsychologischen Sinn handelt, wäre es umso wichtiger, alles daran zu setzen, einen gelingenden Gruppenprozess zu initiieren, um eine produktive Lerngemeinschaft zu erreichen. Welche Kriterien definieren eine Gruppe? Eine Gruppe besteht aus mindestens zwei Personen, die in »einer sozial bedeutsamen Weise miteinander verbunden sind« (Steins/Bitan/Haep 2014, 131). Eine Klasse ist eine Großgruppe mit oft 30 oder mehr SchülerInnen. Kurse sind in der Regel mit weniger Lernenden belegt. Bis zu zwanzig Mitgliedern spricht man von einer Kleingruppe (vgl. Bierhoff 2006). Innerhalb einer Klasse kann es zur Bildung sogenannter Cluster kommen. Das sind Subgruppen (= Cliquen), die sich bilden. Diese Subgruppen haben ihre eigenen Regeln/Normen und Vorschriften, die so weit führen können, dass sich Subgruppen nicht an die Absprachen einer Klassengemeinschaft halten. Sie können Druck auf die gesamte Klasse ausüben, was insbesondere dann problematisch wird, wenn es um Leistung geht, die von einer Subgruppe nicht erbracht wird, was dann diejenigen, die Leistung erbringen möchten, unter Druck setzt. Heikel wird es ebenso, wenn es um das Kommunizieren mit anderen geht – wer nicht über z. B. WhatsApp verfügt, ist ›unten durch‹. Dieses gilt oft auch für das Besitzen und Tragen von Markenkleidung. Nicht selten fühlen sich MitschülerInnen ausgegrenzt und gemobbt. Sie passen sich daher oft an, um nicht aus der Gruppe ausgeschlossen zu werden. Das Bilden von Subgruppen gilt als unumgänglich, da eine Großgruppe kaum immer gemeinsam agieren kann. Insofern ist auch die am Anfang gestellte Frage, ob es nicht ›normal‹ sei, dass in einer Großgruppe auch Untergruppen entstehen, beantwortet. Subgruppen, die in einem Klassengefüge gut koexistieren, wirken sich nicht nachteilig aus. Als Lehrkraft nimmt man dies in einem regen Miteinander der einzelnen Cliquen wahr: Jungen und Mädchen arbeiten selbstverständlich zusammen, die Pausen werden gemeinsam gestaltet, es existiert eine Klassen-WhatsApp, in die alle integriert sind, SchülerInnen helfen sich untereinander – auch im Lernprozess, es wird niemand ausgelacht und ausgegrenzt, Andersartigkeit wird toleriert … Für eine Klasse gilt, dass sie sich oft als eine Gemeinschaft empfindet, die einen Teil der Schulgemeinschaft ausmacht, sich aber auch von ihr abgrenzt. In einer Klasse entsteht mit der Zeit in der Regel ein Wir-Gefühl. Innerhalb einer Klasse – als weiteres Kriterium – herrscht nicht zwischen allen Individuen dieselbe intensive Beziehung und Übereinstimmung. Das heißt, dass es eine Lehrkraft geben muss, die die Klasse führt und (an)leitet, soll das Miteinander gelingen. In der Regel haben Gruppen ein gemeinsames Ziel, auf das hin ›gearbeitet‹ wird. Bei Schulklassen gestaltet sich dies schwierig, da alle SchülerInnen
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für die eigenen Noten selbst zuständig sind. Den Lehrkräften kommt also vielmehr das Ziel zu, mit den SchülerInnen eine angenehme und produktive Lernatmosphäre zu schaffen. Das gelingt nur, wenn sich alle an die verabredeten Regeln halten. Eine Herausforderung ist es ebenfalls, in Klassen ein Verantwortungsgefühl für den eigenen Lernprozess, aber auch für den der MitschülerInnen zu wecken (vgl. Steins/Bitan/Haep 2014). Nur ein verantwortungsvolles Miteinander wird dazu führen, dass in heterogenen Lerngruppen alle das Klassenziel erreichen. Alle diese Überlegungen zeigen, dass SchülerInnen, die nicht in eine Lern-/ Klassengemeinschaft aufgenommen werden, einen großen Leidensdruck haben. Für eine Lehrkraft heißt das, dass nicht nur die Stoffvermittlung im Zentrum ihrer Arbeit stehen sollte, sondern auch die Sensibilität für das Wahrnehmen von positiven und negativen Nuancen in der Interaktion der Mitglieder ihrer Lerngruppe. Überlegen Sie, ob es in Ihren Lerngruppen SchülerInnen gibt, die nicht in die Klassengemeinschaft integriert sind, die gemobbt werden. Nehmen Sie in Ihren Klassen Gruppendruck wahr, z. B. in einer kollektiven Leistungsverweigerung? Fertigen Sie für sich ein ›Soziogramm‹ einer Ihrer Lerngruppen an – clustern Sie, wer mit wem in welcher Beziehung steht.
2. Gruppennormen und Co. Gruppen entwickeln normalerweise gemeinsame Werte und Normen, die der Kommunikation und der Interaktion dienen (vgl. Bierhoff 2006). Für eine Lehrkraft kann es hilfreich sein, sich z. B. über die Symbole und Rituale einer Klasse klar zu werden, erschließt sie sich doch auf diese Weise einen Zugang zu den SchülerInnen. Dies korreliert unter Umständen mit dem Verständnis, das sie ihnen entgegenbringt. Beobachten Sie in der nächsten Stunde SchülerInnen einer Ihrer Lerngruppen in Bezug auf ihre Begrüßungsrituale, Symbole, Kleidung (evtl. Aufdruck) und ihre Ausdrucksweise. Nehmen Sie eine weitere Lerngruppe und beobachten Sie diese ebenfalls hinsichtlich der genannten Aspekte. Vergleichen Sie im Anschluss Ihre Beobachtungen. Gibt es Unterschiede? Gemeinsamkeiten?
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Jonas/Stroebe/Haep (2014, 446) definieren Normen (Regeln) als »Überzeugungssysteme […], wie man sich verhalten soll (bzw. wie man sich nicht verhalten soll). Sie steuern unser Verhalten und sind Ausdruck der gemeinsamen Erwartungen von Gruppenmitgliedern zu typischen oder erwünschten Aktivitäten.«
Es herrscht normalerweise Konformität gegenüber den Normen. Nehmen Gruppenmitglieder die Normen nicht an, kann ihnen der Ausschluss aus der Gruppe drohen bzw. kommt es – teilweise auch unbewusst – zur Sanktionierung der entsprechenden Individuen, die sich nicht an die Norm gehalten haben (s. Unterkapitel 1). Normen sind veränderbar, sie beeinflussen einen Gruppenprozess, sind »aber auch ein Ergebnis des Gruppenprozesses.« (Jonas/Stroebe/Haep 2014, 458) und gewährleisten einen Zusammenhalt der Gruppe. Somit sind die geltenden Regeln notwendig im Zusammenleben von Gruppenmitgliedern, um z. B. Absprachen zur Kommunikation und Organisation zu ermöglichen. Normen sind nur dann sinnvoll, wenn sie dazu beitragen, Gruppenmitglieder zu fördern. Sie entstehen oft unbewusst. Mit dem Anerkennen der Normen beginnt die Identifikation mit der Gruppe (Zimbardo 1995). Normen, die ein Individuum negativ belegen, führen zur Einengung bzw. zum Verlust von dessen Eigenständigkeit. Im Zeitalter von WhatsApp und Co. ist es dann in einer Klasse nur schwer möglich, aus der Gruppe auszutreten, wenn man sich dort nicht wohlfühlt. Oft sind es die Eltern, die an Lehrkräfte herantreten, um eine vorhandene Problematik zu artikulieren. Da bedarf es der Rücksprache mit der Schulleitung und im Endeffekt einer Neuorientierung, was wiederum zu Unsicherheit führt. Um dieses zu verhindern, sollte von Beginn an versucht werden, für die Andersartigkeit und Vielfalt von Menschen zu sensibilisieren und die Andersartigkeit als Chance wahrzunehmen, um Lernprozesse zu ermöglichen, zu optimieren und zu realisieren.
3. Ziele von Gruppen – Lerngemeinschaften entstehen Das Ziel von Lehrkräften ist es, eine funktionierende Lerngemeinschaft ins Leben zu rufen. Föh (2012, 15) versteht darunter eine Gemeinschaft, »in der die Fähigkeit, mit- und voneinander lernen zu können, als wesentliche Lernvoraussetzung angesehen wird.« Dies hat mit Haltung zu tun, die entwickelt werden muss, wobei Lehrkräften eine große Vorbildfunktion zukommt (Föh 2012). Selbstverständlich sollte sein, dass SchülerInnen angenommen werden, wie sie sind: mit ihren Stärken, Schwächen, Fähigkeiten, Talenten und Schwie-
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rigkeiten. Gelernt werden muss, dass jede/r einen Beitrag zu einem gemeinsamen Ziel leisten kann und diese Chance auch erhalten muss. Dazu gehören Respekt, Toleranz und Rücksichtnahme allen gegenüber. Wichtige Aspekte sind das Teilhabenlassen an Entscheidungen (z. B. in einem Klassenrat, an der Planung und Durchführung von Unterricht) und das Einführen einer FehlerKultur und einer Feedback-Kultur durch die Lehrkräfte, die in einer Klasse unterrichten. Dabei kommt dem Klassenleitungsteam eine besondere Rolle zu, indem es die KollegInnen über alles Wesentliche aus der Klasse regelmäßig informiert (vgl. auch → 7 Aus Unterrichtsstörungen lernen und → 12 Feedback-Kultur nutzen). Stanford (2000) gibt Merkmale vor, an denen erfolgreiche Lerngruppen erkannt werden können. Dazu gehören das Verständnis und die Akzeptanz füreinander, offene Kommunikation und Kooperation, Selbstverantwortlichkeit für das eigene Lernen und Verhalten, das Festlegen von Normen und Konfliktfähigkeit. Wie kann dieses gelingen? Eine Grundvoraussetzung ist es, trotz aller Skepsis übergeordnete Ziele zu finden (das gilt übrigens für alle Gruppen, nicht nur für Schulklassen), die zu erreichen von großer Bedeutung für die Gruppe ist, die sie aber ohne Kooperation nicht erreichen kann. Ein gutes Beispiel sind Kooperationsaufgaben im Sport- oder auch Freizeitbereich wie z. B. auf einer Klassenfahrt das Floßbauen oder das gemeinsame Gestalten eines Niedrigseilparcours. Die in Kleingruppen aufgeteilte Klasse entwickelt pro Gruppe einen Teilabschnitt des Parcours, sodass als Endergebnis ein gemeinsames Konstrukt entsteht, über das jede/r balancieren kann. Fähigkeiten und Ideen einer jeden Person werden gebraucht, um das Ziel zu erreichen. Für Lehrkräfte ist es interessant, zu beobachten, wie sich SchülerInnen in derartigen Situationen oft anders verhalten, als man es vom Unterricht her gewohnt sind. Dies gilt auch in Bezug auf die MitschülerInnen. Also: Eine absolute Chance für Andersartigkeit, Vielfalt, das Nutzen von Heterogenität und das Entwickeln einer Haltung und von neuen Einstellungen. Das Umsetzen dieser Überlegungen im Fachunterricht ist anzustreben. Es gilt zu überlegen, welche Aufgabenstellung dazu beitragen kann, das Interesse der Lerngruppe so zu wecken, dass es ihr gemeinsames Ziel ist, eine Lösung zu finden. Hier besteht auch die Möglichkeit, mithilfe von differenzierenden Aufgaben und Materialien unterschiedliche Arbeitsstrategien, Zugangsweisen und Lösungswege zu initiieren und SchülerInnen je nach Stärken und Schwächen zu fördern und zu fordern. Somit kommt der diagnostischen Kompetenz der Lehrkraft eine große Bedeutung zu. (vgl. → 16 Diversität berücksichtigen)
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Überlegen Sie, ob Ihnen Aufgaben aus Ihren Fächern einfallen, die ausgebaut werden können, sodass sie nur durch Kooperation gelöst werden können. Wenn nicht, durchforsten Sie Ihre Kerncurricula nach Fachinhalten, die die Möglichkeit zur Kooperation bieten, und formulieren Sie entsprechende Aufgaben. Für das Fach Biologie findet man zum Beispiel das Thema Fotosynthese in Form eines Gruppenpuzzles. Nur wenn alle SchülerInnen gemeinsam arbeiten, ergibt sich ein sinnvolles Ganzes. Für die Zukunft ist es sinnvoll, einen Ordner anzulegen, in dem Materialien für die Fachgruppe gesammelt werden. Machen Sie den Anfang.
Ein weiteres Ziel im Gruppenentwicklungsprozess muss sein, dass sich SchülerInnen emotional wohlfühlen, eine Beziehung aufbauen, FreundInnen finden. Ich möchte es fast so krass sagen: SchülerInnen kommen weniger in die Schule, um zu lernen, sondern vielmehr, um ihre FreundInnen zu treffen. Wenn mir Eltern am ersten Elternsprechtag signalisieren, dass ihr Kind gern in die Schule geht, weil es da seine FreundInnen treffen kann, dann bin ich sehr zufrieden. Es zeigt nämlich, dass Bezugspersonen gefunden worden sind und dass sich das Kind emotional gut aufgehoben fühlt. Dies gilt selbstverständlich auch für die Beziehung zwischen Lehrkraft und Lerngruppe. Bastian (2012, 6) formuliert es treffend, wenn er schreibt: »Geht man davon aus, dass jede Beziehungsarbeit in der Schule vor allem auf eine Ermöglichung des Lernens zielt, dann ist die Arbeit an der Beziehung die Basis zur Entwicklung der Lerngemeinschaft.«
Und dann geht es natürlich darum, die im Gruppenentwicklungsprozess erworbenen Fähigkeiten weiterzuentwickeln, sie zu üben, den Prozess zu reflektieren und auch zu würdigen. Das sind die Ziele der Lehrkräfte. Und wie sieht es mit den Zielen der Lerngruppe aus? SchülerInnen müssen eine entsprechende Haltung dazu entwickeln, dass sie eine Lerngemeinschaft sind, dass sie die Andersartigkeit/Vielfalt/Stärken und Schwächen ihrer MitschülerInnen akzeptieren, tolerieren und respektieren und dass sie produktiv miteinander arbeiten. Dazu gehört auch, dass die Mitglieder einer Lerngruppe lernen, ein konstruktives Feedback (vgl. → 12 Feedback-Kultur nutzen) zu geben und eine Fehlerkultur zu praktizieren. Ein wichtiger Aspekt ist dabei die Interaktion zwischen SchülerInnen – und das nicht nur in der Pause, sondern auch im Unterricht. MitschülerInnen nehmen sich untereinander wahr, sie lernen voneinander, sie ahmen einander nach …, sie agieren miteinander. Diese sozialen Interaktionen müssen unterstützt, gefördert und zum Teil auch angeleitet werden. Das erfordert von der
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Lehrkraft ein genaues Beobachten und Wahrnehmen, ein Zwischen-den-ZeilenHören und ein offenes Ohr für alles das, was SchülerInnen mitteilen möchten. Für Lehrkräfte ist die Interaktion bis zu dem Zeitpunkt eine Selbstverständlichkeit, wie sie unauffällig verläuft. Erst, wenn es zu Störungen der Interaktion kommt, werden Lehrende in der Regel hellhörig. Sinnvoll ist es auf jeden Fall, präventiv zu handeln (vgl. auch → 9 Aus Unterrichtsstörungen lernen), um Konflikte so wenig wie möglich hochkochen zu lassen. Am Start einer neuen Klasse geht es SchülerInnen zunächst einmal um Anerkennung, Sympathien und Macht. Die Lernenden darin zu unterstützen, ihren Platz in der Klasse zu finden, ist eine wichtige Aufgabe einer jeden Lehrkraft. Berücksichtigt eine Lehrkraft diese Aspekte, kann es ihr gelingen, dass SchülerInnen für ihre MitschülerInnen Verantwortung im Lernprozess übernehmen, dass sie sich an die Absprachen für Gruppenarbeitsphasen halten, dass sie in einem Helfersystem agieren, bei dem leistungsstärkere SchülerInnen leistungsschwächere im Verständnisprozess unterstützen (vgl. → 16 Diversität berücksichtigen), und dass sie dabei ihren eigenen, individuellen Lernprozess nicht aus den Augen verlieren. Von Bedeutung sind hierbei die Transparenz, die Lehrkräfte schaffen müssen, und die Partizipation der Lerngruppe an Unterrichtszielen und Entscheidungen hinsichtlich der Auswahl des Unterrichtsstoffs im Rahmen der Möglichkeiten. Ermitteln Sie den Stand der Interaktionskompetenz Ihrer Lerngruppen. Beobachten Sie Ihre SchülerInnen nicht nur im Unterricht, sondern auch in den Pausen – bei der Hofaufsicht, in der Mensa. Wie gehen sie miteinander um? Sorgen Sie für einen angemessenen Ton in Ihrem Unterricht und achten Sie auf eine angemessene Schüler-Lehrer-Interaktion.
4. Die Phasen der Gruppenentwicklung Stöbert man in der Literatur, so beschreiben die Autoren den Prozess der Gruppenentwicklung in vier bis fünf verschiedenen Phasen, die nicht immer linear verlaufen müssen. Die Bezeichnung der Phasen ist je nach Autor unterschiedlich, inhaltlich jedoch identisch. Kowalczyk/Ottich (2013) zitieren Gene Stanford, der ein ganzes Buch über Gruppenentwicklung im Klassenraum und anderswo geschrieben hat. Im Handbuch Lernförderliche Gruppenentwicklung wird Tuckman (1965) zitiert usw. Stanford (2000) stellt die Aufeinanderfolge der Stadien in einem Diagramm dar. Dort gibt er nur eine relative Zeitdauer für die einzelnen Stadien an. Diese ist von der Lerngruppe abhängig, die sich zu einer ›Gruppe‹ entwickeln soll.
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Abb. 1: Stadien der Gruppenentwicklung, Quelle: Stanford 2000, 18
Die einzelnen Phasen sind durch unterschiedliche ›Merkmale‹/Verhaltensweisen der SchülerInnen zu erkennen. Für jede dieser Phasen gibt es ein hilfreiches LehrerInnenverhalten, das den SchülerInnen im Gruppenentwicklungsprozess Unterstützung bietet. Die folgende Tabelle bietet eine Übersicht: Phase
Erkennungsmerkmale/ Verhaltensweisen bei SchülerInnen
hilfreiches LehrerInnenverhalten
1. Orientierung Forming Gründungsphase Anfangsphase
Neugier, Erwartungshaltung, Angst, Unsicherheit, Abwarten kaum Spontaneität, Zurückhaltung, Freude auf etwas Neues und (hoffentlich) Interessantes, aber auch Wunsch nach Bekanntem Hoffnungen bei den SchülerInnen, akzeptiert, gemocht … zu werden, evtl. das ›Sagen‹ zu haben (Macht) wenig gefühlsbetont, Freiplätze zwischen den SchülerInnen in der Sitzordnung, Angst, Fragen zu stellen, auch wenn sie notwendig wären
Vorstellen der eigenen Person Vorgabe von Strukturen und sachlichen Informationen Anleiten zum Lernen von Namen und das Kennenlernen der MitschülerInnen (geeignete, lerngruppenangemessene Kennenlernspiele durchführen Klären von Erwartungen und Anforderungen in der Klasse Vorstellen der LK, die in der Klasse unterrichten werden Erarbeiten von ersten Regeln im Umgang miteinander und im Rahmen der Kommunikation (sofortiges Reagieren auf abschätzige Kommentare, unangemessenen Tonfall)
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Erkennungsmerkmale/ Verhaltensweisen bei SchülerInnen
hilfreiches LehrerInnenverhalten
Vermittlung von Sicherheit und Orientierung, eigenes Zurücknehmen, eigenes reflektiertes Verhalten hinsichtlich Sympathie und Antipathie gegenüber den Schülerlnnen Vorbildfunktion Empathische und geduldige Reaktion auf wiederholt gestellte Fragen, auf gezeigte Gefühle 2. Sammlung Storming Streit- und Konsolidierungsphase Positions- und Rollenklärung Machtkampfphase
Die SchülerInnen fangen an, zusammenzuarbeiten (Kooperation), Entscheidungen zu treffen und sich Problemen zu stellen Erstellen von Verhaltensregeln selbstverantwortliches Agieren Eingehen auf andere und Wahrnehmen der anderen sind erkennbar
Finden der Normen unterstützen, Regelplakate anfertigen lassen, Kooperationen fördern, die Möglichkeit einer Konsensbildung erklären und beim Lösen von Problemen Hilfestellung leisten gruppen- und aufgabenorientierten Lernprozess initiieren Klare Anweisungen geben, welche Arbeitsergebnisse erwartet werden Unabhängigkeit zugestehen Verantwortung für den Lernprozess auf Lerngruppe übertragen Mitspracherecht hinsichtlich der Lernziele einräumen Teilgruppen beratend zur Seite stehen Interaktion der Lerngruppe durch Zurückhalten im Unterrichtsgespräch fördern (Fragen zurückgeben, Lehrerecho vermeiden, Bündeln von Schülerbeiträgen) gutes Zuhören demonstrieren
3. Stabilisierung Norming Vertragsphase Vertrautheit(sphase), Umgang mit Konflikten
Konflikte treten auf Meinungsverschiedenheiten unterschiedliche Sichtweisen und Wertevorstellungen sowie Zielvorstellungen
beratend der Lerngruppe zur Seite stehen und mithelfen, dass den SchülerInnen eine konstruktive Konfliktlösung gelingt Als Vorbild den konstruktiven Umgang mit Konflikten vorleben Umgang mit Gewalt und Aggression ansprechen Methoden wie Rollenspiele und das Aussenden von Ich-Botschaften als Unterstützung anbieten Klassenfahrten/Exkursionen anbieten und durchführen autoritäres Verhalten vermeiden Gefühle von SchülerInnen wahrnehmen und zur Sprache bringen
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Phase
Erkennungsmerkmale/ Verhaltensweisen bei SchülerInnen
hilfreiches LehrerInnenverhalten
4. Integration Performing Kooperationsphase Differenzierung(sphase) Stadium der Produktivität
effektiv arbeitende Lerngruppe Es entsteht ein Wir-Gefühl Lerngruppe hat sich zu einer Gruppe entwickelt auftretenden Schwierigkeiten wird produktiv begegnet
erworbene Fertigkeiten üben und festigen lassen geeignete, d. h. echte Aufgaben suchen den Unterricht genießen mit Rückschritten rechnen Geduld zeigen, wenn sich SchülerInnen eher auf das Vertiefen ihrer Beziehungen denn auf das Arbeiten konzentrieren adäquate Aufgaben stellen
5. Trennung Abschluss(phase)
anstehende Auflösung wird bewusst Das kann zu Wutgefühlen, Trauer, Trennungsschmerz usw. führen konstruktive Fähigkeiten gehen verloren
Anleiten der Reflexion des Gruppenprozesses Verständnis zeigen für freie Äußerungen der Gefühle Möglichkeiten mit SchülerInnen finden, die Gruppenerfahrungen lebendig zu halten
Abb. 2: Gruppenentwicklungsprozess, in Anlehnung an Stanford 2000
Das Einteilen in Phasen hat Vorteile, aber auch Nachteile. Jede einzelne Phase kann gut voneinander abgegrenzt betrachtet werden. Ein Nachteil ist, dass der Eindruck entstehen kann, dass die Phasen nacheinander ablaufen. Das ist nicht der Fall. Es gibt immer wieder Rückschritte, aber auch Überlappungen. Nehmen Sie eine Ihrer Lerngruppen in den Blick und versuchen Sie, festzustellen, in welcher Gruppenphase sich diese gerade befindet. Überlegen Sie, an welchen Kriterien Sie das erkennen können. Können Sie bei einer der von Ihnen im Ausbildungsunterricht/bei Ihren Hospitationen besuchten Gruppen eine bestimmte Phase ausmachen? Wie reagiert die Lehrkraft, die die Klasse unterrichtet? Recherchieren Sie, ob an Ihrer Schule ein besonderes Augenmerk auf das Gestalten von Gruppen (Schulprogramm, Leitbild) gelegt wird.
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5. Die Rolle der Lehrkraft – oder: Keine Angst vor großen Gruppen! Ihre Rolle beim Unterstützen der Lernenden im Gruppenentwicklungsprozess ist – wie Sie gesehen haben – nicht zu unterschätzen. Der Begriff Prozess deutet schon an, dass es nicht von heute auf morgen gelingt, eine Gruppe zu einer produktiven Arbeitsgemeinschaft zu entwickeln. Die Lehrkraft muss Zeit und Geduld mitbringen, um der Klasse die Chance zu geben, diesen Prozess mit seinen Höhen und Tiefen, die nicht ausbleiben, zu durchlaufen. Und – auch das ist kein Geheimnis – es gelingt trotz aller Anstrengung nicht immer, eine Gruppe zu einer produktiven Lerngemeinschaft zu entwickeln. Aber von dieser Möglichkeit sollten Sie zunächst gar nicht ausgehen. Es sollte Sie aber auch nicht an sich selbst zweifeln lassen, wenn Sie Ihr Vorhaben nicht zu 100 % umsetzen können. Sie sollten sich gut darüber informieren, was Sie auf jeden Fall dazu beitragen können, um die Chance zu erhöhen, dass der Entwicklungsprozess positiv verläuft. Entscheidend ist, dass Sie Möglichkeiten kennen, wie Sie auf Schwierigkeiten/Konflikte/Probleme/Stolperfallen in den einzelnen Phasen des Gruppenentwicklungsprozess reagieren können. König/Schattenhofer (2015, 89) sehen die Rolle der TrainerInnen und damit auch der Lehrkräfte im »Begleiten, Führen, Steuern«. Für die Lehrkraft gilt, dass sie ihre Kompetenzen, die sie hinsichtlich des Classroom-Managements beherrscht, einsetzen muss, möchte sie einen gelingenden Gruppenentwicklungsprozess initiieren. Dazu gehört ein Grundgerüst an Struktur, das Orientierung bietet, das Festlegen von Regeln, zum Beispiel für das Arbeiten in Kleingruppen, und der regelmäßige Kontakt zu den in der Klasse unterrichtenden Lehrkräften. Das gemeinsame Ziehen aller Lehrkräfte an einem Strang erleichtert auch den SchülerInnen den Arbeitsprozess und festigt zum Beispiel Methoden und Arbeitsstrategien. Im Einzelnen kann die Lehrkraft die Phasen durch ihr Vorgehen begleiten, führen und steuern (s. Abb. 2). Nicht zu vergessen ist auch hier wieder der Hinweis, dass die Partizipation der SchülerInnen nicht aus dem Fokus geraten sollte. Bevor Sie weiterlesen, sollten Sie sich Gedanken darüber machen, welche Beobachtungen Sie während Ihres Ausbildungsunterrichts/Ihrer Hospitationen hinsichtlich der Aktionen der Lehrkräfte gemacht haben, die auf einen gelingenden Prozess hinweisen. Ebenso sollten Sie überlegen, wie Lehrkräfte auf Schwierigkeiten/Probleme/ Konflikte/Stolperfallen reagiert haben.
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6. Die ersten Wochen in einer neuen Lerngruppe – Eine einmalige Chance!? Im Folgenden soll die erste Phase, die der Orientierung, genauer in den Blick genommen werden. Vielen Lehrkräften ist durchaus bewusst, wie wichtig die erste Begegnung mit der neuen Klasse, die erste Stunde, der erste Schultag, die ersten Wochen sind, um das Fundament, die Basis für eine gelungene Klassengemeinschaft/Gruppe zu legen. Der größte Fehler, den ein Klassenlehrer/eine Klassenlehrerin in der Zusammenarbeit mit den neuen SchülerInnen begehen kann, ist, nicht genug Zeit in die ersten Begegnungen, die erste Zeit der gemeinsamen Arbeit zu investieren. Da gilt es, Regeln für das Miteinander, Rituale wie das ›Leisezeichen‹, Organisationsabläufe (zu Beginn der Unterrichtsstunde liegen die Materialien vollständig auf dem Tisch, …) und damit auch Routinen (das Überprüfen und Verteilen von Hausaufgaben, …) in einer Klasse zu etablieren. (vgl. → 9 Aus Unterrichtsstörungen lernen). Rogers (2013, 44) rät Lehrkräften, mit ihren Klassen über »Verhaltensmuster im Unterricht und die Auswirkungen auf den Lernerfolg« zu diskutieren, um das »Bewusstsein [dafür zu] wecken«, dass jede/r bestimmte Rechte, aber auch Pflichten hat, dass abgesprochene Regeln einzuhalten sind, dass das Nichteinhalten Konsequenzen nach sich zieht und dass es wichtig ist, sich gegenseitig zu unterstützen. Ebenso wichtig ist die Gestaltung der Beziehung zwischen den SchülerInnen, aber natürlich auch zwischen Lehrkraft und Klasse. Nur wenn diese positiv verläuft, entsteht eine Lerngemeinschaft, die produktiv und angstfrei miteinander lernen kann. Ein besonderes Augenmerk legt Bastian (2012, 7) auf die Übergänge zwischen Schulstufen und Schulformen, die »sensible Phasen« im Leben von Lernenden darstellen. Die Entwicklung einer Lerngemeinschaft beginnt von dem Augenblick an, an dem sich die SchülerInnen das erste Mal treffen (Föh (2012, 15). Jetzt kommt es auf die Haltung der Lehrkraft an, die von diesem Moment an dafür zu sorgen hat, dass sie sich selbst zurücknimmt und die Lernenden dazu anleitet, sich gegenseitig zu unterstützen und einander zu helfen. Schulen haben in der Regel für die ersten Wochen ein besonderes Konzept entwickelt. Nach einer feierlichen Einschulungsveranstaltung erhalten die Klassenleitungen von fünften Klassen die Möglichkeit, die Klassengemeinschaft zu stärken, indem Kennenlernspiele, eine Übernachtung in der Jugendherberge, Kooperationsspiele und vieles mehr durchgeführt wird. Unterstützung durch PatenschülerInnen im Unterricht und auf dem Pausenhof, das Vertrautwerden mit dem Schulgebäude durch eine Rallye, das Begleiten zu den Bushaltestellen … vermitteln Sicherheit und geben Orientierung. In höheren Jahrgängen
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Auf der Beziehungsebene
finden in der ersten Woche z. B. Methodentage o. Ä. statt. Oft schließt sich eine Klassen- oder Kursfahrt an. In Anlehnung an den Gruppenentwicklungsprozess ist es besonders wichtig, SchülerInnen die Angst vor allem Neuen, Unsicheren zu nehmen. Das Empfinden von Sicherheit und das Entwickeln eines Zugehörigkeitsgefühls sind Pfeiler auf dem Weg zur Lerngemeinschaft. Daher sollte in dieser ersten Zeit Wert auf ein entspanntes Miteinander – unter Beachtung der entsprechenden Regeln – gelegt werden. SchülerInnen erwarten von Lehrkräften eine Führung – im positiven Sinne. In der Anfangsphase muss es gelingen, den Lernenden klar zu machen, dass im Klassenraum ein Miteinander und kein Gegeneinander vorherrscht, Leistung erwünscht ist und aus Fehlern gelernt werden kann, sodass Spott und Auslachen fehl am Platz sind. Das hat etwas damit zu tun, die Haltung bei SchülerInnen zu schulen. Es gibt eine Fülle von Vorschlägen für Kennenlernaktionen. Die Auswahl, die Sie treffen, sollte berücksichtigen, dass es Aktionen sind, die ȤȤ einfach in der Durchführung sind, ȤȤ innerhalb kurzer Zeit ein positives Erleben bieten, bei dem niemand bloßgestellt wird, ȤȤ spielerische Elemente aufweisen, ȤȤ die Stimmung auflockern, ȤȤ verbindende Elemente aufweisen, aber auch auf Unterschiede hinweisen, ȤȤ Bewegung ermöglichen. Ein Spiel, das am Anfang das Namenlernen beschleunigt, ist das Krokodilspiel. Die Lehrkraft bekommt nebenbei durch dieses Spiel einen Eindruck von der Konzentrationsfähigkeit ihrer neuen SchülerInnen. Das Spiel startet, indem die Lehrkraft einen Gegenstand (z. B. Schreibetui) nimmt und sagt: »Ich bin Frau/ Herr … und behaupte, das ist ein Krokodil.« Anschließend wird das Etui an die nächste Person weitergegeben. Diese nimmt das Etui und sagt: »Das ist Frau/ Herr … und ich bin … und wir behaupten, das ist ein Krokodil«. Die nächste Person folgt und mit der Zeit hat man alle Namen der Reihe nach wiederholt und das eben mehrfach, sodass sie sich einprägen. Die SchülerInnen werden aufgefordert, sich gegenseitig zu helfen, wenn jemand nicht weiterkommt. Am Ende der Runde ist wieder die Lehrkraft an der Reihe, die dann alle Namen aller SchülerInnen der Lerngruppe aufsagen muss! Mehr Bewegung bekommt man ins Spiel, wenn den SchülerInnen ein Ball zugeworfen wird. Wer fängt, muss den eigenen Namen nennen. Wenn alle an der Reihe waren, wird einer Schülerin/einem Schüler der Ball zugeworfen und der Name genannt. So geht es immer weiter, wobei darauf zu achten ist, dass
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Renate Will, Aus Klassen Gruppen machen
alle an die Reihe kommen. Nach einiger Zeit werden die Plätze getauscht und das Spiel beginnt von vorn (nach Christian 2007). Mithilfe des Bingo-Spiels erhalten die SchülerInnen mehr Informationen über die Interessen, Hobbys, Familien, Herkunft ihrer neuen MitschülerInnen. Das hat den Vorteil, dass sich daraus für die Pausen bereits interessanter Gesprächsstoff ergeben kann. Die Lehrkraft kann zu allen Kästchen eine Abfrage gestalten, sodass über alle SchülerInnen Informationen ausgetauscht werden. Wer vier Kästchen waagerecht, senkrecht oder diagonal ausgefüllt hat, ruft laut ›Bingo‹. Das Ergebnis wird überprüft. Finde jemanden, der/die … … eine Sprache spricht, die du nicht kennst
… ein Haustier hat, das du auch gern hättest
… die gleiche Augenfarbe hat wie du
… dieselbe Lieblingsmusik hat wie du
… eine andere Staatsangehörigkeit hat als du
… im gleichen Monat Geburtstag hat wie du
… denselben Sport betreibt wie du
… in einem Land war, in dem du noch nie warst
… dieselbe Lieblingssendung hat wie du
… dasselbe Essen mag wie du
… dasselbe Schulfach mag wie du
… dieselbe Eissorte mag wie du
… gleich viele Geschwister hat wie du
… etwas gemacht hat, was du schon immer gern tun würdest
… dasselbe Computerspiel hat wie du
… das gleiche Kuscheltier hat wie du
Abb. 3: Bingo für dich und mich, verändert nach: Trainingshandbuch Lernförderliche Gruppenentwicklung 2011, download-pdf-trainingshandbuch-lernförderliche-gruppenentwicklung.pdf
Welche Bausteine erleichtern der Lehrkraft, das Fundament für eine konstruktive Lerngemeinschaft zu legen? »Grundstrukturen einer Lerngemeinschaft« sind die Tischgruppen, Klassenrat und Schülerparlament sowie echte Aufgaben (Föh 2012, 17), das heißt, die Übernahme von verschiedenen Ämtern. Hinter diesen Begriffen verbergen sich Themen wie Heterogenität, demokratisches Verständnis, Verantwortung für sich selbst und die Gemeinschaft, Konfliktlösung, individuelle Beratung und Lernbegleitung, Gestaltung des Sitzplans, Offenheit für Neues und Reflexion …, die es zu nutzen gilt. Bevor Sie weiterlesen, sollten Sie sich zunächst für zwei oder drei Ihrer Lerngruppen die Sitzpläne vornehmen. Wo sehen Sie Unterschiede/Gemeinsamkeiten? Wie häufig werden Sitzpläne innerhalb dieser Lerngruppen verändert? Wurden Ihnen – falls dieses geschehen ist – die Gründe bewusst bzw. wurden sie Ihnen mitgeteilt?
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Auf der Beziehungsebene
Wie sieht die Sitzordnung bei Ihnen zum Beispiel im Fachraum aus? Gibt es Unterschiede im Vergleich zur Sitzordnung im Klassenraum? Woran könnte das liegen? Diskutieren Sie mit Ihren SchülerInnen über die Sitzordnung oder geben Sie sie vor? Wenn ja, nach welchen Kriterien? Welche Reaktionen ruft die Vorgabe bei Ihren SchülerInnen hervor? Wie gehen Sie damit um?
SchülerInnen, die neu in eine Klasse kommen, freuen sich über bekannte Gesichter – das gibt eine gewisse Sicherheit. In vielen Schulen können Eltern angeben, mit welchem Kind ihr Kind in die Klasse kommen soll. Das hat bestimmt organisatorische und pragmatische Vorteile. Dennoch – für das Entdecken von neuen Gesichtern kann das sogar kontraproduktiv sein. Daher sollte eine Lehrkraft sich intensiv Gedanken über die Gestaltung des Sitzplans machen. In der Literatur gibt es dazu verschiedene Vorschläge: ȤȤ Bevor die Lerngruppe das erste Mal den Klassenraum betritt, stellt die Lehrkraft Namensschilder – nach dem Alphabet – auf die Tische. Damit wird als Nebeneffekt gewährleistet, dass Jungen und Mädchen nebeneinander sitzen. ȤȤ Nach einem festgelegten Zeitraum wechseln die Tischgruppen (z. B. immer nach den Ferien (Föh 2012, 17). ȤȤ Die Lehrkraft erarbeitet mithilfe eines Soziogramms einen Sitzplan – das hat den Vorteil, dass sie auch die Außenseiter einer Lerngruppe wahrnehmen kann. Dieses Verfahren bietet sich für Lerngruppen an, die schon länger miteinander arbeiten. So sinnvoll diese Vorschläge auch sind, die Praxis sieht manchmal etwas anders aus: Es gibt SchülerInnen, die müssen vorn sitzen und nach vorn schauen können, und das nicht wegen ihres Verhaltens, sondern wegen einer Seh- oder Hörschwäche. Dann gilt es, Kompromisse zu finden, sodass diesen Lernenden Unterstützung gewährt wird, aber auch die Lerngemeinschaft nicht zu kurz kommt. Entscheidend ist, dass die Mitglieder einer Lerngruppe lernen, dass jede/r mit jeder/jedem arbeiten können muss, da nur so die Möglichkeit besteht, sich selbst weiterzuentwickeln, andere Arbeits- und Lernstrategien kennenzulernen und die Fähigkeiten von anderen wahrnehmen und akzeptieren zu können. Ein weiterer Vorteil besteht darin, dass ein Wechsel in den Arbeitsgruppen zwischen den SchülerInnen ein Verfestigen von Strukturen verhindert (vgl. auch Becker 2012, 21) oder doch zumindest minimiert. SchülerInnen akzeptieren in der Regel die von einer Lehrkraft vorgenommene begründete Zuteilung und lassen sich auf einen Versuch ein. Nicht immer sollte gleich nach diagnostischen Gesichtspunkten eine Sitzordnung vorgenommen werden, da dieses auch zu Frust beitragen kann. Die positiven Beziehun-
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gen, die zwischen MitschülerInnen aufgebaut werden sollen, dürfen nicht durch organisatorische oder diagnostische Aspekte verhindert werden. Neben der Gestaltung der Arbeit in den Tischgruppen ist das Wertschätzen von freiwilligen Ämtern, die von den SchülerInnen übernommen werden können, von großer Bedeutung. Klassenämter beginnen beim Blumendienst, Tafeldienst, Bücherdienst, Austeildienst, Klassenbuchdienst und steigern sich bis zur Übernahme des Klassensprecher-Amtes. Ebenso werden die ModeratorInnen, ProtokollführerInnen für den Klassenrat (vgl. → 9 Aus Unterrichtsstörungen lernen) gewählt. Das Übernehmen von Ämtern übergibt Verantwortung in die Hände der SchülerInnen und leistet damit auch einen Beitrag zur Schulung sozialer Kompetenzen. Ein entsprechender Eintrag in das Zeugnis am Ende des Schuljahres liefert eine Belohnung für das Engagement. Sie unterrichten und hospitieren in einer fünften Klasse? Dann versuchen Sie herauszufinden, welche Elemente zur Bildung einer Lerngemeinschaft in Ihrer Lerngruppe durch die Klassenleitung bereits umgesetzt wurden. Stellen Sie fest, welche Ämter in der Klasse verteilt sind. Gibt es eine Möglichkeit, auch in Ihrem Fach ein Amt zu vergeben? Zum Beispiel im Umgang mit technischen Geräten? Oder können Sie die vergebenen Ämter auch für Ihren Unterricht nutzen? (Austeildienst, Tafeldienst, …)
8. Methoden des gemeinsamen Lernens: Kooperative Lernmethoden Zwei Konzepte, die die Zusammenarbeit von SchülerInnen fördern, sind das Kooperative Lernen (vgl. → 7 Methoden kennen und einsetzen) und die Chefwerkstatt (vgl. Föh 2012). Das Grundprinzip des Kooperativen Lernens ist das Think – Pair – Share. Die Vorteile wurden bereits ausführlich dargelegt. Bei der Chefwerkstatt – eine Form der Freiarbeit – wird ein komplexes Thema/eine Lektüre o. Ä. in so viele Aufgaben unterteilt, wie es SchülerInnen in der Klasse gibt. Diese Aufgaben sind von allen Lernenden nach deren Interessen, also durchaus in unterschiedlicher Reihenfolge, zu bearbeiten. In der Regel nimmt das mehrere Schulstunden, u. U. auch eine Unterrichtseinheit in Anspruch. Das Besondere ist, dass sich jede/r Lernende aus diesen Aufgaben eine aussucht, die für sie/ihn besonders interessant ist oder ihren/seinen Neigungen und Fähigkeiten oder auch ihrem/seinem individuellen Lernvorhaben entspricht. Dafür werden diese SchülerInnen dann die ExpertInnen oder Chefs und zeichnen dafür verantwortlich. MitschülerInnen, die Fragen zu den einzelnen Aufgaben haben, wen-
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Auf der Beziehungsebene
den sich zunächst einmal an die jeweiligen ExpertInnen. Damit übernehmen diese »sichtbar eine unterstützende Funktion beim gemeinsamen Lernprozess« (Buschmann 2010, 59). Für die Lehrkraft bedeutet diese Art des Arbeitens Freiraum zum Beobachten, Unterstützen, Beraten – und außerdem die Möglichkeit der individuellen Förderung und Forderung. Damit leistet die Chefwerkstatt einen Beitrag zur inneren Differenzierung (vgl. → 16 Diversität berücksichtigen). Für eine echte Gruppenarbeit muss jedes Gruppenmitglied einen Beitrag zur Lösung der Aufgabe beitragen, sonst ist sie nicht zu bewältigen. Nur so schult die Lehrkraft durch eine positive Abhängigkeit das Arbeiten in einer Gruppe. SchülerInnen, die ihren Beitrag nicht leisten, werden in der Regel von ihren MitschülerInnen dahingehend erzogen, dass sie beim nächsten Mal konstruktiv mitarbeiten. Den Lehrenden kommt in diesem Zusammenhang ihre diagnostische Kompetenz zugute, indem sie sinnvolle – oft heterogene – Teillerngruppen festlegen, in denen sich die Mitglieder auch gegenseitig helfen (vgl. auch → 7 Methoden kennen und einsetzen und → 9 Aus Unterrichtsstörungen lernen) Damit auch wirklich immer alle SchülerInnen einer Klasse auf dem Laufenden sind, ist es notwendig, dafür zu sorgen, dass alle das Material zur Verfügung haben – auch die Kranken. In meinen Klassen hat es sich bewährt, Tandems zu bilden, die sich gegenseitig die Arbeitsblätter etc. mitnehmen. Dabei besteht keine Bringschuld, sondern eine Abholschuld. Die SchülerInnen klären selbstständig, wer für wen verantwortlich ist – oft geschieht dieses aus freundschaftlichen, teilweise aber auch aus praktischen Gründen (Wohnort). Diese Regelung ist auch dann wichtig, wenn in einer Gruppe weiter gemeinsam an einem Thema gearbeitet werden soll, ein Gruppenmitglied aber erkrankt ist oder an Turnieren o. ä. teilnimmt. Auch dann muss dafür Sorge getragen werden, dass die Gruppe sinnvoll weiterarbeiten kann und keine effektive Lernzeit verloren geht. Das gemeinsame Arbeiten wirkt sich auf die sozialen Beziehungen positiv aus (Kunter/Trautwein 2013), wenn die Gruppenmitglieder gelernt haben, mit ihren Stärken und Schwächen positiv umzugehen und Fehler bei sich und anderen zu akzeptieren und zu tolerieren.
9. Probleme mit der Gruppenbildung – oder Theorie contra Praxis? In der Literatur und auch in dem, was Sie gerade gelesen haben, werden immer die positiven Aspekte einer Gruppenbildung und im Endeffekt auch einer Gruppenarbeit beschrieben.
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Renate Will, Aus Klassen Gruppen machen
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Überlegen Sie bitte, welche Erfahrungen Sie selbst in Ihrer Schulzeit/während Ihres Studiums mit der Arbeit in Gruppen bzw. bei der Gruppenarbeit gemacht haben. An welche Probleme können Sie sich erinnern?
Kunter/Trautwein (2013) benennen verschiedene Schwierigkeiten, die bei der Arbeit in Gruppen auftreten können. Neben den Koordinierungsschwierigkeiten benennen sie vor allem den Motivationsverlust, der sich einstellen kann, wenn Menschen in der Gruppe zusammenarbeiten sollen. Allein würden einige SchülerInnen besser arbeiten als in der Gruppe. Hieraus ergeben sich der sogenannte Trittbrettfahrer-Effekt, das soziale Faulenzen, der Gimpel-Effekt und der Status-Effekt. Daraus können Konflikte in der Gruppe entstehen, die dem Gruppenprozess entgegenstehen. Gruppenmitglieder nehmen innerhalb einer Gruppe eine bestimmte Rolle ein. Solange sie sich mit dieser Rolle identifizieren, ist die Gruppenzugehörigkeit lohnend und die Beziehung ist positiv. Sind Mitglieder mit ihrer Rolle unzufrieden oder erfüllt die Gruppe nicht die Erwartungen der Mitglieder, dann kommt es zu Konflikten, was sich negativ auf die Gruppenkonstellation auswirkt (vgl. Jonas/Stroebe/Hewstone 2014). Konflikte sind natürliche Vorkommisse in Gruppen, entscheidend ist der Umgang mit ihnen. Im Klassenrat sollten Probleme in der Klasse zur Sprache gebracht werden. Normalerweise müssen alle an einem Konflikt Beteiligten zu seiner Lösung beitragen. Dazu gehört, dass »[…] Zugeständnisse von allen verlangt [werden], mit Verzichten verbunden und ohne Einsatz und Willen nicht zu schaffen [sind].« (Klein 2011, 43) Gelingt es nicht, SchülerInnen von der Notwendigkeit zu überzeugen, die gesteckten Ziele zu erreichen, entstehen unter Umständen Normen, die zur Leistungsverweigerung führen. Leistungsstärkere SchülerInnen passen sich gegebenenfalls der Gruppe an, wenn sie Sanktionen zu befürchten haben. Kritisch wird es ebenfalls, wenn Gruppen eine schnelle Lösung suchen und den erstbesten Vorschlag annehmen oder wenn sich Gruppenmitglieder für das Finden von Lösungen nicht verantwortlich fühlen. So positiv das Wir-Gefühl einer Gruppe ist, so negativ kann es sich in Bezug auf andere Gruppen auswirken, deren Mitglieder demonstrativ auf Distanz gehalten werden. (http://www.stangl-taller.at/ARBEITSBLAETTER/KOMMUNIKATION/Anfangsprobleme.shtml)
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Auf der Beziehungsebene
10. Fazit In diesem Kapitel wurde versucht, Ihnen Anregungen zur Gestaltung von Gruppenentwicklungsprozessen zu geben. Dabei wurde besonderer Wert auf den Übergang von der Grundschule auf weiterführende Schulen gelegt. Ziel des Gruppenbildungsprozesses muss es sein, produktive Lerngemeinschaften zu bilden. Dabei kommt insbesondere der Klassenleitung eine entscheidende Rolle zu. Dessen muss sich jede Lehrkraft bewusst sein. Gekoppelt ist das Anleiten zur Gruppenbildung mit Kenntnissen über das Classroom-Management, aber auch mit denen über Methoden, die den Prozess unterstützen und voranbringen. Entsprechende Kapitel finden sich in diesem Buch. Betont werden soll auch noch einmal, dass sich eine Gruppe nicht von jetzt auf gleich bildet, sondern dass sich dieser Prozess über mehrere Wochen, Monate bis zu zwei Jahren hinziehen und von Höhen und Tiefen geprägt sein kann. Daher der Appell an Sie: Halten Sie durch!
Ronya, 14 Jahre, Klasse 8
Bastian, Johannes: Klassenleitung. In: Pädagogik 03/2012 Bierhoff, Hans-Werner (2006): Sozialpsychologie. Stuttgart 62006 Buschmann, Renate (Hg.): Lernkompetenz fördern – damit Lernen gelingt. Leitfaden und Beispiele aus der Praxis. Darmstadt, Neuwied 2010 Christian, Hatto: Das Klassenklima fördern. Berlin, 72007 download-pdf-trainingshandbuch-lernfoerderliche-gruppenentwicklung.pdf (letzter Zugriff am 01.04.16) Föh, Marie-Joan: Ideen zur Entwicklung einer Klassengemeinschaft. In: Pädagogik 03/2012 Jonas, Klaus/Stroebe, Wolfgang/Hewstone, Miles (Hg.): Sozialpsychologie. Berlin/Heidelberg, 62003 Klein, Irene: Gruppen leiten ohne Angst. Bobingen 122011 König, Oliver/Schattenhofer, Karl: Einführung in die Gruppendynamik. Heidelberg, 72015 Kowalczyk, Walter/Ottich, Klaus (2013): Mit Schülern zusammenarbeiten. Berlin, 52013
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Renate Will, Aus Klassen Gruppen machen
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Kunter, Mareike/Trautwein, Ulrich: Psychologie des Unterrichts. Paderborn 2013 Rogers, Bill: Classroom Management. Weinheim/Basel 2013 Stanford, Gene: Gruppenentwicklung im Klassenraum und anderswo. Aachen-Hahn 62000 Steins, Gisela/Bitan, Kristin/Haep, Anna: Sozialpsychologie des Schulalltags Im Klassenzimmer. Band 2. Lengerich 2014 Tuckman, Bruce W.: Developmental Sequence in Small Groups. In: Psychological Bulletion 63,6 (1965) www.stangl-taller.at/ARBEITSBLAETTER/KOMMUNIKATION/Anfangsprobleme.shtml (letzter Zugriff am 10.04.16) Zimbardo, Philip G.: Psychologie. Berlin/Heidelberg/New York 61995
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In Beziehungen erziehen Pierre R. Pihet
In diesem Beitrag wird die Wichtigkeit von kommunikativen Strategien aufgezeigt, die darauf abzielen, das Kostbarste überhaupt aufrechtzuerhalten: eine funktionierende Beziehung, die die Basis einer jeden Lerngemeinschaft darstellt. Mit anderen Worten: Unterrichten heißt Beziehung heißt Erziehung.
Es ist meistens so: Stellen wir fest, dass der Gesprächspartner eine andere Meinung vertritt, so probieren wir reflexartig mit Druck, ihn zu überreden. Aus einem ganz normalen Alltagsgespräch: »Ach, ich weiß nicht, ich habe da meine Bedenken …« – »Ja, aber es handelt sich um ein bewährtes Konzept, das viele überzeugt hat!« Schüler: »Warum machen wir das, das braucht doch keiner!« – Lehrkraft: »Dass wir uns mit diesem Thema/Stoff auseinandersetzen, ist aber außerordentlich wichtig, in eurem Alter konnte ich mir auch nicht vorstellen, dass ich sehr viel brauchen würde von dem, was ich damals in der Schlule gelernt habe …«
Und da wundert man sich, dass keine Einsicht erfolgt … Man könnte die argumentative Auseinandersetzung zweier Menschen/Gruppen – falls sie nicht dieselbe Meinung vertreten – leider wirklich sehr oft folgendermaßen übersetzen: »Weil ich recht habe, musst du akzeptieren, was ich sage/ vorschlage/verkaufe. Tust du es nicht, dann hast du ein Problem.« Das Ablehnen dessen, was andere vertreten, durchläuft einen fast immer gleich ablaufenden dreistufigen Prozess: Erste Stufe: Die Empfänger seien nicht reif genug, noch nicht so weit, dass sie verstehen, was man von ihnen will, eine in hierarchischen Strukturen oft anzutreffende Haltung. Weil der andere nicht einverstanden ist, kann er nicht verstanden haben (→ 13 Elterngespräche). Zweite Stufe: Die Empfänger seien unwillig. Was ich vertrete, wollen die anderen einfach nicht verstehen, denn nach wie vor: Es liegt doch auf der Hand,
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Pierre R. Pihet, In Beziehungen erziehen
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oder? 2003 gründete ein amerikanischer Präsident die sogenannte Koalition der Willigen, die dann Krieg gegen den Irak führte. Alle anderen wollten nicht einsehen, dass er recht hatte. Sonst wären sie doch willig gewesen … Dritte Stufe: Die Empfänger werden verdächtigt, einen nicht ganz intakten Intellekt zu besitzen, um es milde zu formulieren. Diese Überzeugung kulminiert in der bekannten Reaktion: »Mein Gott, sind die denn alle verrückt geworden?« – Als ob ein Fall von plötzlich auftretendem kollektivem Wahn die nächstliegende Erklärung wäre … Testen Sie selbst! Diese Haltung ist sowohl im Dialog zwischen zwei Partnern als auch auf nationaler oder internationaler Ebene leider Alltag … Äußert jemand eine Meinung, die von der eigenen abweicht, so wird diese Meinung meist umgehend verworfen, anstatt dass beobachtend festgestellt wird: »Aha, interessant, ich denke zwar ganz anders in dieser Frage, aber was meinst du genau, was ist für dich dabei wichtig?« … Achtung, dies gilt auch, wenn ein ganz harmloses, sogar nett gemeintes »Das sehe ich aber anders« daherkommt, denn auch hier hat jemand nicht richtig ergründet, was Meinung XY für den anderen bedeutet. An sich harmlos und leicht zu verdrängen, wenn es darum geht, dass etwa ein Bekannter nicht den gleichen Geschmack hat wie wir, ganz anders aber zu verarbeiten, wenn wir in einer Firma, einem Team andere Konzepte oder Ideen vorschlagen, die sehr oft zu schnell mit einem kopfschüttelnden: »Das haben wir noch nie so gemacht« oder »Bei uns läuft es aber so, und das hat sich sehr bewährt« oder »Ich kann mir nicht vorstellen, dass so etwas funktioniert« ausgeschlagen werden. Auch in einer Demokratie – der einzigen Regierungsform, die nicht auf die Universalität und Unfehlbarkeit der in einer Legislaturperiode geltenden Maßnahmen pocht und unter diesem Aspekt an sich die Grundvoraussetzung eines freien, offenen Meinungsaustausches sein sollte – ist immer wieder zu erleben, dass die einfache Präsenz einer Gegenmeinung als Bedrohung empfunden wird, als zu bekämpfende Vorstellung eines unpassenden Denkens (Beispiele kann sich jeder selbst aussuchen, es reicht aber, sich eine ganz normale Talkshow anzuschauen). Wenn es darum geht, bestimmte Ideen, Konzepte, Einstellungen zu vermitteln, gibt es wiederum zwei Varianten von Verhaltensweisen, die an den Tag gelegt werden: Verfügt der eine Partner über mehr Befugnisse und Macht als der andere, wird er sich immer durchsetzen können. Frei nach dem altbekannten Witz: Artikel 1 – Der Chef hat immer recht. Artikel 2 – Falls sich der Chef mal vertut, gilt Artikel 1 besonders. In dem Fall wird der Unterlegene wohl oder übel akzeptieren müssen, was der Überlegene angewiesen hat. Fehlt aber diese Machtposition, so wird sich der Unterlegene unweigerlich entziehen. Ob PartnerIn, MitarbeiterIn, SchülerIn … Wehe z. B. der Lehrkraft, die sich einbildet, ihr
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Stoff (ihre Idee, ihre Einstellung, ihr Konzept, …) sei wichtiger als alles andere und müsse, wie auch immer vermittelt, nahegelegt werden … In beiden Fällen haben wir es mit einer nicht entstehenden oder aber mit einer verhinderten Beziehung zu tun. Im ersten Fall kann sich der Überlegene zufrieden zurücklehnen und das Gefühl haben, dass die von ihm vertretene Position akzeptiert wird, im zweiten Fall ist aber Frustration vorprogrammiert – auch die Retourkutsche der Macht: Sowohl SchülerInnen als auch Eltern können sehr findig darin sein, der Lehrkraft ihre eigene Macht zu demonstrieren. Im Prinzip verfügen Sie als Lehrkraft über ›Machtbefugnisse‹, sie dürfen und sollen sogar in bestimmten Situationen eingesetzt werden, aber: Sie führen immer nur zu einer provisorischen Ruhe und sollten immer nur als Übergang zum Wiederherstellen der Beziehung betrachtet werden. Also: Wie sollte man mit eben jenem Widerstand umgehen, mit dem man gerade als Lehrkraft besonders konfrontiert wird? Wie sollte man mit jenem Widerstand so umgehen, dass wir angenehme Erinnerungen bei den Betroffenen hinterlassen und eben nicht jene Schulerinnerungen, über die eine Mehrheit der Erwachsenen verfügt und die sie nachträglich und nachtragend so leichtfertig über den Berufsstand der Lehrer herziehen lässt? Darum soll es konkret gehen. Was ich hier vorschlage, sind Strategien, die Sie als Joker, ja als Rezepte einsetzen können, wenn Sie merken, dass die Beziehung gefährdet ist. Achtung: Rezepte sind keine Garantien … Meine Empfehlung generell: Bilden Sie sich fort, lesen Sie alles, was mit Kommunikation zu tun hat. Das Allerwichtigste in einem sozialen Beruf ist es, kommunizieren zu können. Und das bedeutet nichts anderes als mit Widerstand umgehen zu können! Besuchen Sie Seminare, in denen im Rollenspiel so etwas richtig trainiert wird, und üben Sie dauernd! Es dauert einige Tage in meinen Erwachsenenbildungs-Seminaren, bis sich die Übenden die ersten Routinen angeeignet haben, bis sie das Gefühl der Künstlichkeit überwunden hatten. Erst der Kontakt mit der Realität überzeugte sie restlos, dass es funktioniert. Lässt übrigens das Training nach, fällt man sehr schnell in alte Fahrwasser zurück – das kennt jeder von den Vorsätzen zum neuen Jahr, die ab 10. Januar mit den ewig gleichen Ausreden und Vorwänden über Bord geworfen werden: »Bei mir klappt es nicht«, »ich habe keine Zeit dafür«, »Im Moment habe ich andere Prioritäten …« Ein brauchbares Instrument stammt aus der systemischen Kurztherapie bzw. aus der Konfliktmediation. Es sind Haltungen und Sprachmuster, die man als Lehrkraft unbedingt beherrschen sollte. Stellen Sie sich vor, Einzelne in der Gruppe sagen zur Ankündigung einer Unterrichtseinheit oder sonstiger Aktivitäten: »Ach nee, nicht schon wieder, das
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ist langweilig!« Die meisten Lehrkräfte werden natürlich – hoffentlich – souverän reagieren und die Kritik wohlwollend mit einem Lächeln aufgreifen und mit so etwas wie »Hoffentlich hält sich die Langeweile in Grenzen!« wegwischen. Wenn aber eine Gruppendynamik daraus entsteht, bei der ein Wort das andere ergibt, eine Assoziation die andere, dann muss man energischer intervenieren. Im Übrigen erkennen Sie in der Reaktion der SchülerInnen sofort die Tendenz, zu wirken: Sie wollen so wirken, dass das Thema geändert wird, sie wollen den Schmerz einer wenig versprechenden Unterrichtsreihe vermeiden, die Freude eines Ersatzthemas erleben. Und das gilt es erst einmal zuzulassen. Üben Sie Folgendes: 1. Unbedingt eine bejahende, wohlwollende körpersprachliche Haltung einnehmen. Achtung, dies ist der Bereich, den wir am allerwenigsten kontrollieren können. Schneller als man denken kann, fallen die Gesichtszüge nach unten, der Blick verfinstert sich, der Kopf wird geschüttelt, die Augen verdreht … Bitte nicht! Stattdessen geradezu übertrieben interessiert wirken, Körpersprache auf Offenheit schalten (Mimik hilft da am besten). 2. Paraverbal: Nicht zu unterschätzen, sogar unerlässlich, ist ein bejahendes »Hmmmh!!« Es sollte deutlich vernehmbar sein. 3. Spiegeln, auch unter Paraphrasieren bekannt: Wörtlich oder sinngemäß nachsprechen, was gerade gesagt wurde. »Ihr habt also das Gefühl, dass die Übung langweilig wird?« Hier folgt unweigerlich ein »Ja«, die Menschen fühlen sich verstanden. Dieses Spiegeln ist auch darum wichtig, weil Sie dadurch sichergehen, wirklich verstanden zu haben, was gemeint ist. Auch gewinnen Sie einige Sekunden, sich Ihre Antwort zurechtzulegen. Weiterer Vorteil: Möglicherweise wird eine Gegenbewegung in Gang gesetzt: »Das stimmt gar nicht, uns gefällt es!«, was Sie aus der Isolation herausholt. In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu betonen: Versuchen Sie nie, eine offensichtliche Gruppenmeinung kraft ihres Amtes zu widerlegen, hier können Sie nur Vertrauen verspielen und verlieren; eine Gruppe ist immer stärker als ein Einzelner, auch wenn er über Macht verfügt. Setzt sich ein Mensch nur dank seiner hierarchischen Position durch, so verliert er die Gruppe. Unweigerlich. Das gilt auch für Elternabende, bei denen der eine oder andere Elternteil Kritikpunkte anzuführen hat, die von drei, vier weiteren aufgegriffen werden. Wenn Sie da den Fehler machen zu glauben, dass das die Meinung aller 30 Anwesenden ist, haben Sie verloren und Sie fangen an zu kämpfen, zu rechtfertigen, was nie zu einem guten Ende kommen kann – also: Lieber spiegeln und damit sichergehen, ob Sie richtig verstanden haben, was gemeint ist. 4. Hinterfragen Sie die Herkunft des Gedankens: »Woher wisst ihr das?« Hier kommen Begründungen, die in der Regel kurios klingen, jedenfalls meist
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Auf der Beziehungsebene
harmlos, sie sind leicht zu bearbeiten. Wichtig in diesem Zusammenhang ist auch ein Zoomen auf den Begriff: »Was meint ihr genau mit langweilig?« Hier entdeckt man nicht selten, dass der verwendete Begriff alles andere als eindeutig ist. 5. Den genannten Grund aufgreifen: »Das heißt, wenn wir bei dieser Übung/ Reihe dies und jenes vermeiden (den genannten Grund benennen), ist es dann in Ordnung?« Hier kann nur ein »Ja« kommen. Konkretes Beispiel aus einem meiner Abikurse (Leistungsfach Französisch), als es darum ging, das Semesterthema Les médias anzugehen. Schülerin: »Das gibt’s gar nicht, schon wieder dieses 0/8/15-Thema, das machen wir in jedem Fach seit Jahren. Immer diese Medien, Medien, Medien … Das haben wir in Deutsch gemacht, in Englisch, und jetzt auch noch in Französisch. Langsam reicht’s!« Wie Sie feststellen können, keine überragend hohe Motivation, nicht wenige stimmten in dieses Klagelied ein. Was hätten Sie gesagt? Probieren Sie mal. Hier der authentische Dialog, wie er sich zugetragen hat: S: »Ja, das stimmt. Das steht auch in Deutsch auf dem Programm. Gefühlt hatten wir in Deutsch das Thema jedes Jahr!« L: Hmmh … Ihr habt also die Nase voll vom ewig Gleichen, nicht wahr? S: Das kann man wohl sagen. Geht auch immer in die gleiche Richtung, wie extrem gefährlich die neuen Medien seien, dass man ständig auf der Hut sein muss … L: So das Gefühl, etwas Neues zu lernen, habt ihr also nicht mehr … S: Genau! Jetzt werden wir auf Französisch nochmal durchkauen, was Medien sind, wie sie manipulieren können, dass Internet das Tor zur Hölle sein kann … L: Das heißt, euch ist es wichtig, dass, wenn das Thema schon als Pflicht durchgenommen werden muss, zumindest neue Aspekte thematisiert werden, die ihr noch nicht kennt? S: Ja, das wäre was … L: Ich verspreche euch, dass wir solche Aspekte durchnehmen werden.
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Auch wenn noch eine gewisse Skepsis herrschte, war das Gleichgewicht wieder hergestellt. Irgendetwas anderes würde kommen. Die wichtigste Wirkung war allerdings, dass ich die Gruppe in ihrem Anliegen ernst genommen, die Beziehung zu ihr nicht gefährdet hatte. Eine klassischere Reaktion wäre gewesen, sofort die schönen Seiten des Themas zu loben, von »Man findet immer etwas Neues, auch wenn man glaubt, die Dinge zu kennen« über »Meckern nützt nichts, es ist nun mal Pflicht« bis hin zu »Das Thema ist total interessant, wir werden Aspekte durchnehmen, die euch sicherlich ansprechen werden«. In allen Fällen lautet der Subtext: »Hört auf zu mosern, wird schon.« Der kleine Dialog weiter oben hat aber das Gegenteil bewirkt. Subtext: »Ich nehme eure Bedenken ernst.« Beziehung hat grundsätzlich immer Vorrang vor der Sache. Das und nichts anderes ist gemeint mit »Unterrichten heißt Beziehung heißt Erziehung«. Alles steht und fällt mit dem Rapport (ein Begriff aus der NLP-Sprache), den man zum anderen herstellt. Diese Brücke ist alles. Die Grundbotschaft muss immer lauten: »Ich akzeptiere erst einmal, was du willst, einwendest, kritisierst.« Dadurch zeigen wir dem Empfänger gleichzeitig, wie wir selbst mit Widerstand, mit Problemen umgehen. Wir machen es uns nicht zu leicht, indem wir die Bedenken abschmettern oder einfach nur verharmlosen. Dadurch wird umgekehrt auch eher akzeptiert, was wir wollen, es ist das natürliche Gesetz der Reziprozität (schenkst du mir was, schenke ich dir was). Achtung, es klingt so einfach, ist es aber nicht. Testen Sie selbst: Gegen dieses Prinzip wird dauernd verstoßen. Überprüfen Sie im Alltag, wie oft gegen Ihren eigenen Willen gekämpft wird. Ich betone: gekämpft, das heißt, wie oft ihr eigener Wille Anlass zur Ablehnung ist. Gemeint ist hier natürlich nicht, dass nur Ihr Wille zählt. Möglicherweise ist Ihr Wille haltlos. Aber wie haltlos er auch ist: Er muss zunächst einmal angenommen werden. Sonst stimmt die Beziehung nicht mehr. Schätzen Sie sich jedesmal glücklich, wenn Sie das Gefühl haben, Ihr Wille wird ernst genommen, auch wenn man nicht unbedingt mit Ihnen einverstanden ist. Es passiert so selten … Wir sind aber nicht zum Grübeln hier. Was bis jetzt im Kern dargestellt wurde: Stellen Sie Rapport her, Unterrichten heißt Begegnung, Beziehung. Setzen Sie sich aber nicht unter Druck! In den Anfangsstunden sind diese Komponenten unerlässlich, im weiteren Verlauf einer Unterrichtsreihe brauchen sie nur noch ab und zu reaktiviert zu werden. Hier einige Sprachmuster, die helfen, aus manch einer heiklen Situation herauszukommen (bejahende Haltung, Mimik, annehmende Körpersprache vorausgesetzt): ȤȤ »Hmmmm … für euch ist es also wichtig, dass …« ȤȤ »Wenn ihr … sagt, was meint ihr genau?«
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Auf der Beziehungsebene
ȤȤ »Ihr seid also der Meinung, dass X, Y, und Z. Ist es so richtig? Habe ich da etwas vergessen?« ȤȤ »Ich merke, das nimmt euch mit/ihr fühlt euch nicht sehr wohl dabei …« ȤȤ »Angenommen, es passiert dies und jenes … seid ihr immer noch der Meinung, es sei … so und so?« ȤȤ »Woran würdet ihr erkennen, dass ihr Fortschritte gemacht habt?« Diese Sprachmuster sind Fragen oder paraphrasierende Aussagen aus der systemischen Therapie/Konfliktmediation, die eine extreme Sogwirkung haben – probieren Sie selbst! Etwas Wichtiges zum Aufbauen und Pflegen einer gelungenen Beziehung mit einer Gruppe soll nun noch dargelegt werden. Das, wovon die Rede sein soll, kennt an sich jeder – genauer gesagt, fühlt es jeder, wenn er es gerade erlebt. In einem solchen Fall fühlt sich nämlich jeder an- und aufgeregt, Energien werden mobilisiert, man hat Lust, einer Sache nachzugehen, sie zu verfolgen. Man steht gern früher auf, weil man es kaum erwarten kann, sich mit dieser Sache weiter zu beschäftigen. Man will ein Ende sehen, das Ziel ist einem wichtig. Bevor ich aber verrate, worum es hier geht, will ich erst das genaue Gegenteil davon erwähnen. Eine Situation, in der sich jeder abgeneigt fühlt, in der Energien blockiert werden, in der man keine Lust hat, einer Sache nachzugehen, sie zu verfolgen. In der man lieber später aufstehen würde, weil man es kaum erwarten kann, diese Sache auf später zu verschieben. Leider erleben Lernende in der Schule oft genau das: Es handelt sich einerseits um Überforderung, andererseits um Unterforderung. Unterforderung: »Schon wieder Medien, gähn …«. Überforderung: »Vergleichende Betrachtung der Medienentwicklung unter besonderer Berücksichtigung einiger europäischer Strömungen« – »gähn« auch. Achtung: Beides, das ist sehr bekannt, kann krank machen. Oder zu Disziplinproblemen führen. Unter- und Überforderung lassen jede Beziehung zugrunde gehen. Auch die zu den SchülerInnen. Biografisch gesehen führen übrigens die Komponenten Überforderung und Unterforderung zu Burnout und Boreout, etwas, worunter gerade heutzutage sehr viele Menschen in den mittleren Jahren leiden. Der Weg aus der Sackgasse hat auch mit ›Forderung‹ zu tun. Es ist aber der einzige Bereich, in dem wir uns wohl fühlen. Und, haben Sie es? Klar, gemeint ist die Herausforderung. Alles, was aus der Routine herausfordert, regt an. Gibt Kraft. Man kann es an kleinen Kindern beobachten. Ein Haus aus Duplosteinen, ein Bauernhof aus Steiff-Tieren … weh aber, wenn die Duplosteine widerspenstig sind, wenn
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die Tiere zu oft kippen. Dann fliegen die jeweiligen Objekte durch die Gegend, hochrote Wangen und spritzende Tränen begleiten in der Regel den Gefühlsausbruch. Die Heraus- ist zur Überforderung geworden. Beispiel einer Herausforderung, die ich in jeder neuen Französisch-Gruppe vorschlage: »Wetten, dass ihr jetzt 80 Wörter in fünf Sekunden lernt. Und zwar so, dass ihr die nie wieder vergesst.« Haha, unmöglich. Nein, ich brauche mindestens eine halbe Stunde für 15 Englisch-Vokabeln, und nun 50 Französischvokabeln in fünf Sekunden?! Nein, ich glaube nicht daran. So denkt ungefähr die Hälfte der Klasse. Die andere Hälfte glaubt aber daran und wettet mit: Ja, sie schaffen es. Und dann kommt die Auflösung: »Achtung, alle Wörter, die in Deutsch auf -tion enden, alle Wörter, auf -ment enden, auf -age enden, auf -ade enden, bedeuten mit wenigen Ausnahmen eins zu eins dasselbe in Französisch. Dazu kommen fast sämtliche Verben, die auf -ieren enden – außer krepieren und spazieren – denn sie entsprechen französischen Verben, die auf -er enden«. Dann werden die Schüler gebeten, Wörter zu sammeln: Station – la station; Information – l’information; Garage – le garage; Reportage – le reportage; Limonade – la limonade; Ballade – la balade; diktieren – dicter; informieren – informer usw., ein Handout mit 80 Produkten wird anschließend verteilt. Alle staunen, sind schon jetzt darauf stolz, nach Hause zu kommen und ihren Eltern zu berichten, dass sie 80 Vokabeln in fünf Sekunden gelernt haben (Anerkennung, Sicherheit: Französisch ist ja leicht!). Wie erzielt man nun aber Herausforderung? Auch hier müssen Grundprinzipien menschlichen Verhaltens berücksichtigt werden, wenn man will, dass eine Beziehung entsteht und aufrechterhalten wird: 1. Die Herausforderung steht immer im Zusammenhang mit einem konkreten Ziel (z. B.: 80 Vokabeln in fünf Sekunden). 2. Dieses Ziel muss eine gewisse Notwendigkeit haben: »Ich muss nun einmal viele Vokabeln lernen.« 3. Die Zuversicht, dass das Ziel auch zu erreichen ist, muss klar zum Ausdruck gebracht werden. 4. Durch ein scheinbar unmöglich zu erreichendes Ziel, das innerhalb kurzer Zeit doch erreicht wird, beweisen, dass unmöglich Erscheinendes doch möglich ist, was unweigerlich zu der Annahme führt, dass weitere unmöglich erscheinende Ziele doch erreicht werden können. 5. SchülerInnen brauchen das Gefühl, dass sich Einsatz lohnt (und das haben sie, wenn das vorige Ziel am eigenen Leib erlebt wurde). 6. Die Herausforderung darf nicht nur den Intellekt, den Verstand, sondern sie muss vor allem auch das Herz erreichen, was nichts anderes bedeutet als Emotion, Anerkennung, Sicherheit. Freude gewinnen, Schmerz vermeiden.
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7. SchülerInnen müssen das Gefühl haben, mit der Aufgabe in ihrer persönlichen Entwicklung voranzukommen. 8. SchülerInnen müssen ihre bisherigen Grenzen überwinden, weil sie sich mit der Herausforderung völlig identifizieren (z. B. dadurch, dass sie ihren Horizont erweitern). Überlegen Sie, wo in Ihren Fächern die Herausforderungen zu finden sind:
Unterrichten heißt Beziehung heißt Erziehung: Als Ergänzung hier noch ein Tipp, es handelt sich eher um eine Haltung, eine Einstellung, die Sie für sich überprüfen und ausprobieren können. Für mich hat grundsätzlich immer die Beziehung, nie der Stoff oder der zu erreichende Standard Priorität. Oft ist es umgekehrt: Beim Wort unterrichten fällt den meisten ein, dass irgendein Lernpensum beigebracht werden muss. Da ist ein Stoff (seit einiger Zeit ›Standard‹ genannt), der vermittelt werden muss. Ganze Kollegien setzen sich im Moment wieder zusammen, um an den sogenannten internen Curricula erneut zu arbeiten, ist in Niedersachsen G8 doch wieder zu G9 geworden. Es werden Tabellen ausgefüllt mit Themen, Kompetenzen, mit allem, was die SchülerInnen erwerben müssen. Das ist das Einzige, was in den Augen vieler Menschen zählt. »Was hast du heute gelernt?« werden Eltern eher fragen als: »Wie hast du heute gelernt?« oder etwa »Welche Herausforderungen hattest du heute zu überwinden?« oder gar »Woran hattest du heute Freude, was war eher langweilig?« Und das ist das Problem. Eine Beziehung zu Lernenden über die grandios klingenden Lehrziele der Curricula, die, sollten sie nur annähernd in die Praxis umgesetzt werden, wie sie formuliert wurden, lauter Wunderwerke an kognitiver und sozialer Kompetenz produzieren würden, wird kaum gelingen. Liest man etwa die Deutschcurricula einer 8. Gymnasialklasse, so fällt einem auf, dass hier Kompetenzen und Kenntnisse nahegebracht werden sollen, die jeder gute Journalist oder Deutschprofi ungefähr mit Mitte 40 erreicht haben kann. Das Programm der 11. oder 12. Klasse in Deutsch macht einem Germanistikbachelor alle Ehre.
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Dabei darf der Standard, also die von SchülerInnen im Endeffekt zu erwerbende Kompetenz, nicht unbedingt Priorität haben. Wenn man versucht, die vier Elemente Standard, Herausforderung, Beziehung und Begegnung in eine bildhafte Relation zueinander zu bringen, so könnte man folgendes Schema erstellen: 10 % 20 % Stoff Herausforderung
70 %
Begegnung/Beziehung
Abb. 1: Standards im Unterricht
Weil diese Verhältnisse oft ignoriert werden, finden Debatten über die Frage, was Schule beizubringen hätte, immer wieder statt. Ständig ist davon die Rede, zu reformieren, abzuspecken, umzulagern, die Stundenpläne zu entlasten … Nach den ersten Pisa-Vergleichstests wurde der Eindruck erweckt, als wüssten die deutschen SchülerInnen weniger als die chinesischen oder die koreanischen SchülerInnen. Was heißt bitte ›mehr‹ oder ›weniger‹? Alles geht immer nur vom Inhalt, von den Kompetenzen, vom WAS aus. Welches Fach ist Kernfach? Welche Kompetenzen sind wichtig? Was müssen Schüler in einer Fremdsprache kennen? Welche Kanons der Literatur? Welche Naturwissenschaft? Ständig wird die Frage: »WAS ist wichtig?« gestellt. Was ›braucht‹ man für den Beruf? Man braucht Persönlichkeiten, für welchen Beruf auch immer. Woran erinnern Sie sich, was Ihre Schulzeit betrifft? An Chemieformeln? Grammatikregeln und Vokabellisten? Oder an Stimmungen, Persönlichkeiten? An Menschen, die Ihnen ihre eigene Begeisterung für ihr Fach zu vermitteln wussten und auch in der Lage waren, mit welchen Situationen auch immer souverän umzugehen? Eben. Nach den Anschlägen von Paris im November 2015 beachteten die Schüler der Banlieues, der Vororte von Paris, die national eingelegte Schweigeminute nicht. Sofort wurde in Frankreich der Appell laut, dass es wohl an der Zeit wäre, Werte und Normen der Republik wieder beizubringen. Vor dem Hintergrund dieser tragischen Umstände werde ich jede Ironie auslassen, sie würde sofort
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zynisch wirken. Dennoch sei die Frage in den Raum gestellt, ob die Wiedereinführung des Moralunterrichts ab September 2016 in Frankreich eine passende Antwort sein wird – jeder kann sich hier eigene Gedanken machen. Wir dürfen gespannt sein, ob die Banlieues-Kinder demnächst, mit den neuen Standards cours de morale ausgerüstet, etwaige Schweigeminuten beachten werden. Das WAS ist nie so wichtig wie das WIE, und Letzteres wiederum nie so wichtig wie das WER. Die Geschichte lehrt uns, dass Ideen sich dann durchsetzen, wenn sie von einem WER entsprechend geschickt (WIE) dargestellt werden. Ja, ich weiß, das kann sogar zu Katastrophen führen. Es ignorieren zu wollen, ist aber zwecklos, steril und sogar gefährlich. Das Messer abschaffen zu wollen, weil man mit ihm töten kann, wäre genau so absurd. Denn mit dem Messer kann man teilen. Mit demselben Messer. Und das Wasser bedeutet Leben, obwohl dasselbe auch den Tod bedeuten kann, wenn man darin ertrinkt. Das WAS dagegen ist banal. Horaz schon sagte, dass es nichts gebe, was nicht in irgendeiner Art schon gedacht und getan worden wäre. Das WIE ist schon origineller: Jeder gelungene Aufsatz, jedes gute Buch, jeder gute Film zeigt es. Der gleiche Stoff, zwei Aufsätze, zwei Bücher, zwei Filme: Der eine spannend, erfolgreich, der andere langweilig, nicht der Rede wert. Das WER – John Hattie, zu Hilfe! – bestimmt alles. Und über das WER stellt man die Beziehung zu SchülerInnen her. Meine Empfehlung: Variieren Sie von Stunde zu Stunde im Alltag die Relation – also die Priorität zwischen den genannten Begriffen. Funktioniert die Beziehung, so dürfen Sie den Standard-Kreis erweitern. Sind die SchülerInnen bei Ihnen, so dürfen ruhig langweilige Routinen eingeübt werden. Beziehung 20 % Stoff 80 %
Abb. 2: Standards bei gut funktionierender Beziehung, motivierendem Stoff
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Pierre R. Pihet, In Beziehungen erziehen
Beziehung 20 % Herausforderung 70 %
Stoff 10 %
Abb. 3: Standards bei gut funktionierender Beziehung, trockenem Stoff
So, liebe LeserInnen, meine Herausforderung war es, die dargestellten Elemente auf wenige Seiten zu reduzieren. Wir sind am Ende angekommen, obwohl ich nur ein Zehntel von dem berichten durfte, was ich Ihnen so gern noch mit auf den Weg hätte geben wollen. Ich hoffe trotzdem, dass Sie das entnehmen können, was Sie brauchen und vor allem, was Sie sofort in die Praxis umsetzen können. Mir war es wichtig aufzuzeigen, dass es weniger um die Frage geht: »Was kann ich tun, um meinen Unterricht interessant für alle zu gestalten?« Vielmehr lautet die Frage: »Wie kann ich die Menschen so ansprechen, dass sie gern bei mir sitzen und mit mir gemeinsam die Herausforderungen des Lernens annehmen?« Es war, glaube ich, der Kabarettist Volker Pispers, der mal meinte: »Wenn Richard von Weizsäcker das Telefonbuch vorlesen würde, würde es sich wie eine spannende Rede anhören. Wenn Helmut Kohl eine spannende Rede hält, hört es sich an, als würde er das Telefonbuch vorlesen.« Eben: Die Person macht’s. Nicht der Stoff. Die Beziehung. Nicht die Standards. Wie trocken und »nicht anerkannt« Ihr Fach auch sein mag: Es ist möglich. Durch Sie. Diese Zeilen schreibend, bin ich 52 Jahre alt. Sie sind vielleicht 25. Achtung, die 30er-Grenze kommt schneller, als man denkt. Und wenn man 30 ist, geht alles auf einmal sehr schnell, kaum hat man sich versehen, klingeln die 40 Jahre an der Tür. Warum erzähle ich Ihnen das? Darum: Verlieren Sie keine Zeit. Verbringen Sie weniger Zeit beim Suchen nach den interessantesten Inhalten und den fulminantesten Kompetenzen. Arbeiten Sie an sich selbst. Pflegen Sie Ihre Beziehungen. Denn daran werden sich die SchülerInnen erinnern und darum in ihrem späteren Leben für eine hoffentlich verständnisvollere Welt sorgen.
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Auf der Beziehungsebene
Emmeli, 11 Jahre, Klasse 5
Rosenberg, Marshall B.: Gewaltfreie Kommunikation. Paderborn 2009 Altmann, Hans Christian: Motivieren und Gewinnen. München 2005 Weinberger, Sabine: Klientenzentrierte Gesprächsführung – Lern- und Praxisanleitung für psychosoziale Berufe. Weinheim/München
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Feedback-Kultur nutzen
Renate Will
In diesem Kapitel erhalten Sie Anregungen zur Verwendung eines Feedbacks, wobei es sowohl um Feedback zum Lernprozess der individuellen Schülerleistungen gehen soll, als auch um ein Instrument, um Ihren Unterricht weiterzuentwickeln. Weiterhin lernen Sie verschiedene Feedback-Methoden und -Strategien kennen.
Feedback, ein Begriff, der in der heutigen Zeit – wenn es um Unterricht- und Schulentwicklung geht – nicht mehr aus dem System Schule wegzudenken ist. Demnach lautet auch die These, dass sich jede Lehrkraft mit diesem Thema auseinander setzen muss. Feedback-Kultur nutzen? Eine Kapitel-Überschrift, die auf den ersten Blick voller Fragen steckt: 1. Was ist überhaupt ein Feedback? 2. Was hat Feedback mit Kultur zu tun? und 3. Wozu soll ich ein Feedback nutzen? oder 4. Weswegen soll ich ein Feedback nutzen? 5. Wer gibt mir ein Feedback oder wem soll ich ein Feedback geben? 6. Was heißt eigentlich nutzen? Während Ihres Studiums oder auch während Ihres Referendariats wurden Sie bestimmt mit dem Thema Feedback konfrontiert. Überlegen Sie bitte, auf welche der genannten Aussagen Sie eine konkrete Antwort geben können. Bitte ankreuzen bzw. ergänzen. Sie können die Begriffe Feedback bzw. Feedback geben erklären: Feedback ist: Feedback geben heißt: Sie können Feedback in Beziehung setzen zu dem Begriff Kultur.
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Auf der Beziehungsebene
Sie kennen Feedback-Methoden. Bitte benennen! … und setzen sie in Ihrem Unterricht gezielt und gewinnbringend ein. Bitte erläutern! Sie nutzen keine Feedback-Methoden und können das auch begründen. Sie geben in Ihrem Unterricht Ihren SchülerInnen ein Feedback. Ihre SchülerInnen geben sich untereinander ein Feedback. Ihre SchülerInnen geben Ihnen ein Feedback. Sie sehen im Schüler-Feedback ein Instrument zur Weiterentwicklung Ihres Unterrichts und Ihres »professionellen Selbst« (Buhren 2015b, 22). Sie sehen darin ein Beurteilungsinstrument für Ihre eigene Person (Berger/ Granzer/Looss/Waack 2013). Sie sehen im Schüler-Feedback einen Beitrag zur Schulentwicklung. Sie kennen das Feedback-Modell von Hattie. Sie wissen, dass Feedback-Kultur auch etwas mit Fehler-Kultur zu tun hat und können den Zusammenhang erläutern:
Wunderbar, wenn Sie über viele der genannten Aussagen konkrete Kenntnisse haben und Feedback zu Ihrem Unterricht dazugehört. Im Folgenden erhalten Sie weitere Informationen und Anregungen, wobei es sowohl um ein Feedback zum Lernprozess der individuellen Schülerleistungen gehen soll, als auch um ein Instrument, um Ihren Unterricht weiterzuentwickeln. Sie erkennen, dass das eine mit dem anderen verknüpft ist. Nach Hattie besteht das Potenzial von Feedback darin, »den Prozess des Lernens sichtbar zu machen und zu verstehen« (Bastian 2015, 76, vgl. auch → 15 Unterrichtsgespräche führen). Damit werden sowohl den Lernenden als auch der Lehrkraft Verantwortung im Lernprozess übertragen: den Lernenden in Hinblick auf die Optimierung des eigenen Lernens, der Lehrkraft in Hinblick auf die Optimierung der Lernarrangements! Außerdem lernen Sie verschiedene Feedback-Methoden und -Strategien kennen und verstehen, weswegen Johannes Bastian treffend formuliert, dass das Führen von Feedbackgesprächen zu den Basiskompetenzen gehört, die alle Lehrkräfte beherrschen sollten (Bastian 2015, 74).
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Renate Will, Feedback-Kultur nutzen
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1. Feedback – was ist das? Das Wort Feedback – ursprünglich im Bereich der Kybernetik genutzt (Buhren 2015b, 11) – kommt aus dem Englischen (to feed back) und bedeutet so viel wie ›zurück-, weiterleiten‹. Das Wort feed wird eigentlich mit ›Versorgung, Einspeisung‹ übersetzt, back bedeutet so viel wie ›entgegen, zurück, rückwärts‹. Im übertragenen Sinne erhält eine Person etwas zurück, wird mit etwas versorgt, bekommt etwas zurückgemeldet und zwar im Allgemeinen im Rahmen einer Kommunikation; sie entscheidet, was sie aus dem Feedback machen bzw. wozu sie es nutzen möchte. Gelegentlich kann diese Rückmeldung auch schriftlich oder nonverbal erfolgen, wenn sie zum Beispiel in den Kommentaren am Rand einer Klassenarbeit oder während einer Plenumsphase erfolgt. Da es schwierig ist, den Begriff hinreichend zu übersetzen, belässt man es im deutschen Sprachgebrauch bei der Bezeichnung Feedback. Feedback kann vielfältig gestaltet sein, es reicht von einer »spontanen Rückmeldung auf eine Frage oder Äußerung in Form eines Blitzlichtes bis hin zur umfangreichen Datenerhebung und Datenrückspiegelung mit anschließender Zielvereinbarung zu geplanten Veränderungsmaßnahmen.« (Buhren 2015b, 12) Feedback hat jede/r schon einmal bekommen – im Elternhaus, während der eigenen Schulzeit, an der Universität, im Referendariat, als Lehrkraft bei kollegialen Beratungen … An ein Feedback schließt sich in der Regel ein Reflexionsprozess an. Da Erfahrungen mit einem Feedback ganz unterschiedlicher Natur sein können, ist auch das Verständnis für die Notwendigkeit der Implementierung im Unterricht verschieden ausgeprägt. Damit ein Feedback den gewünschten Nutzen bringt, braucht es eine »grundsätzlichen Bereitschaft, ein Interesse, eine Motivation bei der jeweiligen Lehrperson« (Buhren 2015b, 22) bzw. Person, denn das Feedbackgeben wird nicht nur im Bereich der Schule verwendet, sondern überall dort, wo Entwicklungsprozesse initiiert werden sollen. Es kommt also auf die Haltung an. Wir nehmen natürlich das Feedback im Schulbereich näher in den Blick. Immer wieder kam bisher der Begriff nutzen vor. Wozu kann man das Feedback nutzen? In der Literatur werden viele positive Wirkungen beschrieben. Buhren verweist auf London (2003), wenn er über die Wirkung von Feedback schreibt: ȤȤ »Feedback beeinflusst Verhalten, z. B. indem es zielgerichtetes Verhalten steuert. ȤȤ Feedback hilft dabei, Ziele in der Zukunft zu erreichen. ȤȤ Positives Feedback ist selbstbestärkend. ȤȤ Feedback hilft dabei, eigene Fehler zu erkennen.
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Auf der Beziehungsebene
ȤȤ Feedback fördert und unterstützt individuelle Lernprozesse. ȤȤ Feedback verstärkt die Motivation, z. B. dadurch, dass man erkennt, welches Verhalten erfolgreiche Ergebnisse zur Folge haben kann. ȤȤ Feedback verstärkt das Gefühl, mit einer Aufgabe verbunden zu sein. ȤȤ Feedback ist ein Selbstläufer, das heißt, Personen, die positives Feedback erhalten und erfahren haben, fragen aktiv nach erneutem Feedback.« Feedback ist demnach viel mehr als das übliche Loben, das oft in der Schule stattfindet und das allgemein ausgesprochen, ohne einen konkreten Bezug zum Lernprozess, wenig hilfreich für Lernende ist. Das Feedback als eine gezielte Rückmeldung kommt auf verschiedenen Ebenen zum Einsatz: Hierzu zählt zum einen die inhaltliche Ebene, zum anderen aber – wenn auch in geringerem Maße – die persönliche Ebene. Mag das eventuell ein Grund dafür sein, dass das Feedback noch nicht bei allen Lehrkräften angekommen ist? Spätestens jetzt kommt der Begriff der Kultur mit ins Spiel: Feedback-Kultur – Was heißt das? Bestimmt nicht, dass das Feedback dazu genutzt wird, jemanden fertigzumachen, sich an ihm/ihr zu rächen, ihn/sie in eine Verteidigungshaltung zu bringen! Feedback-Kultur setzt ein vertrauensvolles, tolerantes und faires Miteinander voraus, ein gutes Klassenklima, eine angenehme Arbeitsatmosphäre, … Die Feedback-Kultur verlangt nach einem charakteristischen Verhalten und einer angemessenen Haltung im Feedback-Prozess. Demnach sind die Mitglieder einer Schulgemeinschaft in der Lage, sowohl ein konstruktives Feedback zu geben als auch eines anzunehmen. Sie kennen die Feedback-Regeln und wissen sie auch anzuwenden. Ein Feedback wird freundlich, respektvoll und wertschätzend gegeben – der Ton macht die Musik! Es kann ein positives, aber auch ein kritisches Feedback gegeben werden, ohne dass es bei letzterem zu Konflikten kommt. Ein kritisches Feedback führt zu Nachdenken und zu einer Reflexion bei der angesprochenen Person, sodass ein Nutzen daraus gezogen werden kann. Nimmt eine Schule die Feedback-Kultur mit in den Schulentwicklungsprozess auf, dann ergibt sich die Notwendigkeit der Entwicklung eines entsprechenden Konzepts, von dem alle an Schule Beteiligten profitieren. Eng verzahnt mit dem Feedback-Konzept muss ein Fehler-Konzept sein. SchülerInnen müssen wissen, dass sie im Lernprozess Fehler machen dürfen. Aus Fehlern wird man klug, es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen – diese Sprichwörter zeigen auf, wie ermutigend es sein kann, Fehler machen zu dürfen, um aus ihnen zu lernen. Phasen des Monitorings müssen sich mit Phasen der Bewertung abwechseln. Lernenden muss dies bewusst sein, damit
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Renate Will, Feedback-Kultur nutzen
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ein angstfreies Lernen möglich ist, damit ein offenes und ehrliches Feedback gegeben werden kann. Ein Feedback wird in Hinblick auf die Lehrkraft in der Regel anonym gegeben – trotz aller Offenheit und trotz allem Respekt. Auch das Feedbackgeben muss gelernt werden (vgl. Abb. 1), soll es qualitativ hochwertig und effektiv sein und beim Empfänger das erreichen, was es erreichen soll. Auch für das Feedbackgeben gilt, dass es geschult werden muss, dass genügend Zeit dafür im Unterricht zur Verfügung gestellt werden muss, dass es ritualisiert werden muss, soll es auf die Dauer für den Unterricht und den Lernprozess Nutzen bringen.
2. Feedback-Arbeit – eigenständiges Lernen fördern! Nach Hattie gehört das Feedback mit zu den entscheidenden Kriterien, die den Lernprozess bei SchülerInnen nachhaltig fördern (vgl. Berger/Granzer/ Looss/Waack 2013, 24). Er schlägt drei Feedback-Fragen vor, die mit den drei englischen Begriffen Feed up (Füttern: »Wohin gehst du?«), Feed back (Rückkoppeln: »Wie kommst du voran?«) und Feed forward (Vorwärtsschub: »Wohin geht es als nächstes?«) übereinstimmen (Buhren 2015b, 44 f.) und die seinem Feedback-Modell als Grundlage dienen. Alle drei Fragen haben zum Ziel, den Lernprozess der Schüler so zu gestalten und zu initiieren, dass der sogenannte Soll-Zustand erreicht wird (vgl. Abb. 1). Wie sich aus dem Modell entnehmen lässt, setzt das Feedback, das Lehrkräfte ihren Lerngruppen geben können, auf vier verschiedenen Ebenen an (Aufgabe, Lernprozess, Selbstregulation, Selbst). Dieser Tatsache müssen sich Lehrkräfte bewusst sein. Je konkreter ein Feedback ausgesprochen wird, desto wirksamer ist es. So reicht es auf der Ebene der Aufgabe nicht aus, den SchülerInnen nur zurückzumelden, dass die Aufgabe falsch gelöst ist, das wäre zu oberflächlich. Auch die Ebene des Lernprozesses (Wie bist du vorgegangen? Welche Lernstrategien hast du angewandt? Gibt es alternative Vorgehensweisen? Findest du den Fehler selbst, der dir unterlaufen ist?) und die der Selbstregulation werden mit in den Fokus genommen, sodass sich das Lernen viel effektiver gestaltet. Im Bereich des Aufgaben-Feedbacks muss zumindest inhaltliches Know-how mit an die Hand gegeben werden, soll die Aufgabe nach dem Feedback gelöst werden können. Nach Berger/ Granzer/Looss/Waack (2013, 26) ist aufgabenbezogenes Feedback wirkungsvoll »beim Oberflächenlernen, etwa beim Erwerb von Grundfertigkeiten, und beim Reproduzieren, z. B. in der Mathematik beim Erlernen der Grundrechenarten«.
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Auf der Beziehungsebene
Abb. 1: Feedback-Modell nach Hattie/Timperley
Beim Feedback in Bezug auf die Selbstregulation sollten die Lerner aufgrund ihrer »Kompetenzen und metakognitiven Strategien die Diskrepanz zwischen Ist- und Soll-Zustand eigenständig erkennen und mindern« (Berger/Granzer/ Looss/Waack 2013, 46) können. In diesem Zusammenhang werden (28) die Begriffe Einsatzbereitschaft, Selbstkontrolle, Selbstvertrauen, Selbstdisziplin und Selbststeuerung und Selbstbeurteilung verwendet. Das sind alles Begriffe, die eine hohe Selbsterkenntnis beim Lernenden und auch eine hohe Diagnosekompetenz bei Lehrkräften voraussetzen. Das zu gebende Feedback impliziert, dass die Lehrkraft die Mitglieder ihrer Lerngruppe so gut kennt, dass sie individuell abgestimmtes Feedback geben kann, sodass
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»Lernende Informationen in ihrem Gedächtnis bestätigen, hinzufügen, überschreiben, anpassen oder rekonstruieren können, gleichgültig ob es sich bei diesen Informationen um Fachwissen, meta-kognitives Wissen, Überzeugungen über sich selbst beziehungsweise Aufgaben oder um kognitive Taktiken und Strategien handelt«. (Bastian 2014, 6/7; zitiert Hattie)
Bei einer in der Regel heterogenen Lerngruppenzusammensetzung sind die Anforderungen an die Lehrkraft noch größer, möchte sie ihren SchülerInnen gerecht werden. Feedbackinstrumente, die Lernenden in ihrem individuellen Lernprozess Unterstützung bieten, sind z. B. das Lerntagebuch, die Kartenabfrage, der Selbsteinschätzungsbogen oder das Kompetenzraster. Anhand der Schülereintragungen kann ein individueller Lernprozess initiiert werden. Die Ausführungen zeigen, wie vielfältig Feedback zur Förderung von Lernenden eingesetzt werden kann, sie zeigen jedoch auch auf, wie komplex sich der Begriff ›Feedback geben‹ gestaltet. Außerdem ist erkennbar, wie weit der Begriff gefasst werden kann. Lesen Sie sich gut in die Thematik ein, um das Feedback effektiv für sich und Ihre Lerngruppen verwenden zu können. Nehmen Sie gezielt eine Schülerin/einen Schüler in den Blick und versuchen Sie, das Feedback-Modell beim nächsten Arbeitsauftrag umzusetzen. Wählen Sie ein Feedback-Instrument aus (z. B. das Lerntagebuch) und etablieren Sie es konsequent in einer Ihrer Lerngruppen.
3. Feedback – Unterricht optimieren oder bestätigen Das individuelle Fördern ist nicht loszulösen vom ›guten Unterricht‹, in dem z. B. differenziert wird und in dem alle zehn Merkmale guten Unterrichts (Meyer 2009) umgesetzt werden. Dennoch bleiben trotz des guten Vorsatzes auch Baustellen beim Unterrichten, derer sich die Lehrkraft annehmen sollte bzw. muss. Vieles geschieht im alltäglichen Unterrichtsgeschehen unbewusst, sodass es sinnvoll ist, sich mit Lerngruppen hinsichtlich der Optimierung des Unterrichts (z. B. Methodik, Lehrerverhalten, Classroom-Management) und damit des Lernprozesses auszutauschen. Hierbei gibt es verschiedene Methoden, die von einer spontanen Äußerung bis hin zu ausgefüllten Feedback-Bögen zu einzelnen Unterrichtsphasen, aber
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auch zu ganzen Unterrichtseinheiten reichen können (s. u.). Optimal ist es, wenn das Feedback ergibt, dass es nur Kleinigkeiten sind, die verbessert werden sollten, oder dass es eigentlich gar nichts zu verbessern gibt: Alle sind zufrieden mit dem, was erreicht wurde. SchülerInnen zeigen ihren Unmut, ihre Unzufriedenheit mit dem Lernprozess/dem Unterricht nicht immer deutlich und kon struktiv – Unterrichtsstörungen sind ein leidiges Thema. Umso wichtiger ist es, Lerngruppen mit in die Verantwortung für ihr eigenes Lernen zu nehmen und Verhalten widerzuspiegeln. Das Annehmen von unterschiedlicher Wahrnehmung in der Fremd- und Selbsteinschätzung ist nicht immer leicht – gerade für Jugendliche in der Pubertät. Schule leistet somit einen nicht unerheblichen Beitrag zur Persönlichkeitsentwicklung und zur Entwicklung von Sozialkompetenz (Schmid/Knab 2013). Nicht ›wie die Axt im Walde‹, sondern empathisch, wohl überlegt, zuhörend und Nuancen wahrnehmend … soll kommuniziert werden. Neben der Rückmeldung an die Lehrkraft geht es ebenso um die Rückmeldungen der SchülerInnen untereinander, z. B. hinsichtlich der effektiven Arbeit während einer Gruppenarbeitsphase, nach der Präsentation von Gruppenergebnissen, Referaten usw. Besonders wichtig ist es, den Lernenden zu vermitteln, dass sie an der Gestaltung des Unterrichts und damit ihres eigenen Lernprozesses aktiv beteiligt werden. Damit ergibt sich automatisch die Notwendigkeit, mit Lernenden über die Sinnhaftigkeit eines Feedbacks und damit einhergehend einer Feedback-Kultur zu sprechen. Lernende müssen in den Auswertungsprozess des Feedbacks integriert werden, ihnen müssen die Konsequenzen, die sich aus einem Feedback ergeben – für den eigenen Lernprozess, für die Gestaltung des Unterrichts – transparent gemacht werden. Das setzt auch voraus, dass Feedbacks zeitnah ausgewertet werden und die Ergebnisse zügig an die Lerngruppe zurückgemeldet werden (Griesel/Gnaudschun 2014), sodass der gewünschte Prozess des Nachdenkens über das gemeinsame Lernen und Lehren angeschoben wird. Die Teilnahme an einem Feedback erfolgt immer auf freiwilliger Basis.
4. Feedback – auf die Haltung kommt es an Ein Feedback zu geben, fällt vielen Lehrkräften leichter, als ein Feedback anzunehmen. Das hat bestimmt damit zu tun, dass es quasi per Amt dazu gehört, SchülerInnen eine Rückmeldung hinsichtlich ihrer Leistungen oder auch ihres Verhaltens zu geben. Beim Feedbackeinholen treten gelegentlich Ängste in den Vordergrund, die sich aus der Möglichkeit ergeben, dass sich Lernende unter dem Deckmantel der Anonymität an der Lehrkraft ›rächen‹ wollen. Derartige
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Ängste können jedoch – wenn überhaupt – eigentlich nur dann begründet sein, wenn es der Lehrperson nicht gelungen ist, eine positive Beziehung zu den Lernenden zu entwickeln, und wenn das Klassenklima getrübt ist. Entscheidend ist, sich und den SchülerInnen klar zu machen, dass es nicht um eine Beurteilung der Lehrkraft als Person, sondern um die Weiterentwicklung des gemeinsamen Unterrichts und den Austausch über den Lernprozess geht. Insofern sind ein offener Austausch über den Sinn des eingeforderten Feedbacks und ein echtes Interesse an den Antworten und Mitteilungen der Lerngruppe von grundlegender und entscheidender Bedeutung für das Gelingen. In diesem Kontext spielt die Feedback-Kultur eine große Rolle. Geht es bei den Rückmeldungen durch die Lerngruppe um eine Beratung der Lehrkraft hinsichtlich der Gestaltung des Unterrichts, verschwindet auch der Gedanke an eine Beurteilung der Lehrkraft (Bastian/Combe/Langer 2007). Papier ist geduldig, Theorie und Praxis – oft zwei völlig verschiedene Dinge! Zur Implementierung einer Feedback-Kultur innerhalb einer Lerngruppe bedarf es der Geduld und der Ausdauer. Rückschläge müssen angenommen und verdaut werden. Ständig bedarf es der Reflexion und des Austausches zwischen Lehrkraft und Lerngruppe, aber auch innerhalb des Klassenkollegiums. Sinnvoll wäre es, die Feedback-Kultur zum Anliegen eines ganzen Lehrerkollegiums zu machen – im Sinne einer Lernenden Schule und eines Schulentwicklungsprozesses. Das setzt ein Lehrerkollegium voraus, für das Teamwork eine Selbstverständlichkeit ist, in dem der Austausch rege ist, das vonseiten der Schulleitung die notwendige Unterstützung erfährt, indem zum Beispiel zeitliche Ressourcen zur Verfügung gestellt werden, und das im Sinne einer produktiven Schulentwicklung gemeinsam Visionen im Blick hat und verfolgt. Mit den trotz allem Optimismus zu erwartenden Widerständen sollte professionell umgegangen werden. Wie bei allen Schulentwicklungsprozessen ist die Transparenz ein ganz wichtiger Faktor. Der Ton macht die Musik – wer kennt dieses Sprichwort nicht? Gerade beim Feedback-Geben ist es unumgänglich, sensibel mit dem Gegenüber umzugehen. Miller (2010, 76) spricht davon, dass das Feedback sowohl eine Sachebene (= Inhalt) als auch eine Beziehungsebene (= Art und Weise der Vermittlung) hat. Jede/r weiß, wie unterschiedlich Botschaften beim Gegenüber ankommen können. Deswegen verlangt das Feedback-Geben Sensibilität, Achtsamkeit und Wertschätzung für die Nächste/den Nächsten, erst recht, wenn es eine Selbstverständlichkeit sein sollte, dass Lehrkräfte für ihre Lerngruppen Vorbilder darstellen. Interessant ist auch der Umgang mit Hospitationszirkeln im Lehrerkollegium – von Schulleitungen eingefordert, von Kollegien unterschiedlich begeistert umgesetzt. Wirkt nicht auch da die oft negative Erfahrung mit, die im
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eigenen Referendariat gemacht wurde? Professionalität ist das Stichwort, das Springen über den eigenen Schatten. Aber auch diese Hospitationszirkel sind in ihrer Funktionalität davon abhängig, dass eine entsprechende Feedback-Kultur in der Schule zum Einsatz kommt. Es geht um ein konstruktives Feedback und nicht um die Kritik an der Person. Das ist es, was ReferendarInnen zu Beginn ihrer Ausbildung deutlich verständlich zu machen versucht wird. Versuchen Sie, an Ihrer Schule einen Hospitationsring jeweils in einer Dreiergruppe zu planen, durchzuführen und auszuwerten. Legen Sie dazu Beobachtungsaspekte fest, die Ihnen relevant erscheinen (z. B. zur Lehrerrolle, zu methodischen Entscheidungen etc.). Achten Sie darauf, dass bei einer Gruppenstärke von drei Mitgliedern mindestens drei Besuche absolviert und reflektiert werden, damit jedes Gruppenmitglied die Möglichkeit einer Beratung durch die anderen Teilnehmenden erhält.
5. Feedback – Methoden/Instrumente für den Unterricht Auch bei Feedback-Methoden ist es wie mit allen Methoden: Das Rad wird nicht neu erfunden. Die Literatur stellt eine Menge verschiedener Instrumente, einschließlich vorformulierter Feedback-Bögen, Selbsteinschätzungs-Bögen, vorformulierter Kompetenzraster, beschrifteter Zielscheiben usw. zur Verfügung. Diese können natürlich eine Hilfe sein, aber auch hier gilt die Devise, dass die eigene Lerngruppe im Blick behalten werden muss, dass die Instrumente handhabbar sein müssen, dass man sich als Lehrkraft eine Arbeit mit dem Instrument vorstellen kann und natürlich, dass nichts dagegen spricht, die Instrumente für den eigenen Gebrauch anzupassen. Auch diese Methoden müssen mit Lernenden besprochen, eingeübt und reflektiert werden. (vgl. → 7 Methoden kennen und einsetzen). Gerade bei den vorgefertigten Bögen besteht die Gefahr, dass Lernende – insbesondere in jüngeren Lerngruppen – mit den Items wenig oder nichts anfangen können. Entweder muss die Lehrkraft eine Menge an Zusatzerklärungen liefern oder aber die Aussagen können verzerrt werden. Gedanken sollte sich die Lehrkraft auch über die Länge derartiger Bögen machen. Auch hier gilt insbesondere für jüngere SchülerInnen, dass weniger mehr ist. Zum einen kann ein- und dasselbe Instrument den Unterricht, die Stundenorganisation, den eigenen Lernprozess, persönliche Eigenschaften der Lehrkraft in den Blick nehmen und so verschiedene Aspekte erfahrbar machen, zum anderen kann durch ein Instrument auch nur ein einzelner charakteristischer Aspekt untersucht werden.
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Welche Methoden sollte eine Lehrkraft nun kennen und beherrschen? Diejenigen, bei deren Einsatz sie sich wohlfühlt, deren Auswertung leicht handhabbar ist, bei denen Aufwand und Nutzen im richtigen Verhältnis stehen, denn sonst bleibt die Feedbackarbeit im Unterrichtsalltag auf der Strecke! Als einfache und kurze Feedback-Methoden, um sowohl der Lehrkraft Anhaltspunkte für die Planung der folgenden Unterrichtsstunde, der folgenden Unterrichtseinheit zu geben als auch die Lernenden zu ermuntern, über ihren Lernprozess nachzudenken, eignen sich z. B.: ȤȤ die Daumenprobe, ȤȤ die Ampelmethode, ȤȤ das Blitzlicht, ȤȤ die Satzergänzung, ȤȤ die Zielscheibe. Daumenprobe Die Lernenden halten auf die Anregungen/Fragen der Lehrkraft (wie z. B. »Ich habe heute alles verstanden und bin gut mitgekommen.« – »Ich habe heute nur einen Teil verstanden und habe noch Fragen.« – »Ich habe heute fast nichts verstanden und brauche noch Hilfe. Mich interessiert von den Themen …«) den Daumen nach oben, zur Seite oder nach unten. Auf diese Art und Weise bekommt die Lehrkraft in kurzer Zeit spontan und im Anschluss an die Unterrichtsstunde oder auch die Unterrichtseinheit eine Rückmeldung aus der Lerngruppe, auf die sie – in Rücksprache mit den betroffenen SchülerInnen – sofort/ in der nächsten Unterrichtsstunde reagieren kann, indem sie z. B. individuelle Lernangebote gestaltet. Ampelmethode Die Lernenden nutzen die Farben Rot, Gelb und Grün, um ihre Meinungen auszudrücken. Dafür basteln sie Ampeln, indem sie z. B. Kreise aus den entsprechenden farbigen Kartonpapieren ausschneiden oder indem sie ein Prisma in Form einer Toblerone-Schachtel basteln, dessen drei Seiten entsprechend mit farbigem Papier beklebt werden (vgl. www.bw.ganztaegig-lernen.de/sites/…/ 2013-07-11_11-06-28-800.pdf und Buhren 2015a, 226). Je nach Talent gelingt gerade Letzteres unterschiedlich gut und ansprechend. Zu den bereits genannten Fragen usw. geben die Lernenden mithilfe der Farben ihr Feedback. Rot steht für Stopp/Halt! Ich komme nicht mit! Grün für Alles o. k., es kann weiter gehen! und Orange für Naja, es schadet nicht, wenn ich noch Hilfe bekomme!
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Im Gegensatz zur Daumenprobe, bei der das Zeigeobjekt immer mit dabei ist, besteht bei den Ampelkarten/Prismen die Gefahr, dass nur ein Teil der Lerngruppe diese zur Verfügung hat, weil sie zuhause vergessen werden oder weil sie auf die Dauer zerknautschen. Daher sind organisatorische Aspekte (welche Möglichkeiten gibt es, diese Prismen in der Schule sicher aufzubewahren?) mit zu berücksichtigen, was bei der Daumenprobe naturgemäß entfällt. Blitzlicht Die Lernenden äußern sich in einem kurzen Statement (maximal 30 Sekunden pro SchülerIn) zu den Fragen der Lehrkraft. Diese Methode setzt ein gutes Zuhören und eine hohe Konzentrationsfähigkeit bei der Lerngruppe – gerade auch am Ende einer Stunde bzw. sogar Doppelstunde – voraus. Auch für die Lehrkraft bedeutet eine Blitzlichtrunde eine hohe Konzentration, soll sie fruchtbar sein. Dopplungen sind bis zu einem gewissen Maß erlaubt. Auf diese Art und Weise erhält die Lehrkraft in kurzer Zeit eine Rückmeldung über das, was die SchülerInnen beschäftigt, was sie empfinden, was an Optimierungen vonseiten der Lerngruppe vorgeschlagen wird. Satzergänzung Die Lehrkraft gibt Satzanfänge vor (auf Papierstreifen, Karteikarten oder Overhead-Folien), die die Lernenden für sich beantworten sollen. Auch diese Methode kann am Ende einer Stunde, einer Einheit, eines Schulhalbjahres oder Schuljahres stehen (vgl. www.bw.ganztaegig-lernen.de/sites/…/2013-07-11_1106-28-800.pdf). Beispiele können sein: »Mir hat es gut/nicht gut gefallen, dass wir gemeinsam in der Gruppe gearbeitet haben, weil …« »Die Partnerarbeit fand ich gelungen/nicht gelungen, weil …« »An dem Thema fand ich gut/nicht gut, dass …« »Das nächste Mal sollten wir darauf achten, dass …« »Besser wäre es, wenn wir das nächste Mal beim Präsentieren dafür sorgen, dass …« »Ich habe dieses Mal bei den Aufgaben gelernt, dass …« »Gelungen fand ich, dass …« »Wir machen es in der nächsten Stunde wieder so, dass …«
Die Äußerungen der SchülerInnen werden von der Lehrkraft eingesammelt und dienen der gemeinsamen Auswertung. Neben der Möglichkeit, sich als Lehrkraft
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zunächst allein einen Überblick zu verschaffen, besteht auch die Alternative, dass die Antworten zusammen mit der Lerngruppe nach Kategorien geclustert werden, sodass eine gemeinsame Diskussion über die Ergebnisse sofort stattfinden kann, aus der Konsequenzen für den weiteren Unterrichtsverlauf/die eingesetzten Sozialformen/die Unterrichtsthemen/den Lernprozess … abgeleitet werden. Während die ersten drei Methoden nicht anonym ablaufen können, ist dies bei der Satzergänzung möglich. Es gilt auch für die Methode Zielscheibe (Lernrad), die in unterschiedlichsten Variationen zum Einsatz kommen kann. Als Beispiel soll eine Zielscheibe von Griesel/Gnaudschun (2014, 11) dienen, »die Rückmeldungen zu Erfahrungen mit dem Lernen gibt bzw. Rückmeldungen zur Verankerung von Lehrmethoden«.
Abb. 2: Zielscheibe, nach Griesel/Gnaudschun
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Sinnvoll ist es erfahrungsgemäß, die Scheibe in maximal acht Sektoren und vier Kreise einzuteilen – abhängig vom Alter der Lerngruppe und vom Thema. Im äußersten Kreis werden Fragen oder Schlagwörter (z. B. Arbeitsklima, persönlicher Lernerfolg) notiert. Über die vier Kreise wird von außen nach innen eine Einschätzung von den SchülerInnen vorgenommen, indem z. B. Klebepunkte angebracht oder Kreuze gesetzt werden. Der positivste Wert liegt innen. Bewusst wird eine gerade Stufung vorgenommen. Dadurch wird verhindert, dass SchülerInnen eine mittlere Einschätzung vornehmen und eine Entscheidung vermeiden. Auch bei dieser Methode erhält die Lehrkraft zügig einen Überblick über die Einschätzungen der Lerngruppe. Die Auswertung und die sich anschließende Diskussion müssen entsprechende Konsequenzen haben, damit den Lernenden ihre Verantwortung hinsichtlich ihres Beitrages zur Unterrichtsentwicklung bewusst wird. Aufwendigere Feedback-Methoden sind z. B.: ȤȤ Feedback-Bögen zur Optimierung des Unterrichtsgeschehens zur Rückmeldung an die Lehrkraft, ȤȤ Korrekturbögen als Anhang an eine Klassenarbeit/Klausur, ȤȤ Kompetenzraster zur Förderung des individuellen Lernprozesses einer Schülerin/eines Schülers, ȤȤ Lerntagebuch zur Auseinandersetzung der Lernenden mit ihrem individuellen Lernprozess. Feedback-Bögen können in unterschiedlichster Art und Weise gestaltet sein. Ein entscheidendes Kriterium ist die Länge. Je länger der Bogen und je komplizierter der Inhalt, desto mehr Zeit muss zur Bearbeitung zur Verfügung gestellt werden. Insbesondere bei jungen Lerngruppen muss bedacht werden, dass sowohl das Lesevermögen als auch das sinnentnehmende Lesen gut beherrscht werden müssen. Über die Feedback-Bögen kann die Lehrkraft all das abfragen (zum Unterrichtsverlauf, zum Verhalten der Lehrkraft, zu Präsentationen, …), was ihr für Unterricht und Lernprozess bedeutsam ist. Weiterhin eignen sich Feedback-Bögen zur Selbstdiagnose von Lernenden. Sie erlauben damit die »aktive Mitwirkung der Schüler in diagnostischen Fragen« (vgl, www.isb.bayern.de/ download/7409/paedagogisch_diagnostizieren.pdf). Neben der Möglichkeit, Bögen zu entwickeln, bei denen Items nur angekreuzt werden müssen, können auch Bögen gewählt werden, bei denen SchülerInnen ihre Einschätzungen selbst formulieren und beschreiben müssen. Das kann besonders bei ungeübten, jüngeren Jahrgängen problematisch sein. Bei Bögen zum Ankreuzen sollte eine gerade Anzahl an Spalten zur Verfügung gestellt werden. Neben Text (trifft zu, trifft teilweise zu, trifft eher nicht zu, trifft gar nicht zu) können auch Smileys (lachend bis weinend) eingesetzt werden.
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Korrekturbögen Korrekturbögen, die die Lehrkraft an korrigierte Klassenarbeiten oder Klausuren heftet und die eine Aussage hinsichtlich der gelungenen und zu optimierenden Elemente der Schülerleistungen geben, ermöglichen für Lernende eine übersichtliche und differenzierte Rückmeldung. Wichtig ist es, dass die angegebenen Kriterien denen entsprechen, die vorher im Unterricht als Gütekriterien in den Blick genommen wurden (Andersson/Merziger, 2014). Beispiele für FeedbackBögen findet man in der Literatur in großer Anzahl (vgl. z. B. Seitz 2013, 38). Kompetenzraster Sogenannte Kompetenzraster bieten Lernenden »transparente Strukturierungshilfen, die sie bei der Planung, Dokumentation und Re flexion des Gelernten unterstützen. Dazu müssen die Schülerinnen und Schüler wissen, was sie bereits können, was es in einem Fach zu lernen gilt und anhand welcher Lernmaterialien sie ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten weiter ausbauen können.« (http:// www.schule-bw.de/unterricht/individualisiertes_lernen/)
Orientierungskompetenz
Wie der Name bereits erahnen lässt, werden in einem Kompetenzraster (Matrix) alle Kompetenzen aufgelistet, die SchülerInnen in dem jeweiligen Fach nach einer bestimmten Jahrgangsstufe beherrschen sollte. Als Beispiel soll ein Ausschnitt aus dem Kompetenzraster für Lernkompetenz des Instituts Beatenberg dienen: A
B1
B2
C
Wenn sich mir eine Ausgabe stellt, kann ich mir ›unterwegs‹ einen Plan zu Recht legen. Wenn ich ein paar Hinweise erhalte, kann ich die Ähnlichkeit zu Aufgaben erkennen, mit denen ich mich bereits einmal beschäftigt habe (aha, das ist doch wie …)
Ich kann mir bei neuen Aufgaben und Themen erklären, um was es genau geht. Ich kann die Dinge gedanklich ordnen, zum Beispiel in Form von Skizzen. Und ich kann sagen, mit welchen Dingen, die mir schon bekannt sind, eine Aufgabe zu tun hat. Ich kann zum Beispiel die Dinge den wichtigsten Kompetenzrastern zuordnen.
Ich kann neue Aufgaben und Themen in Beziehung setzen zu Kompetenzrastern oder anderen Referenzwerten. Ich kann mir Dinge gedanklich zurechtlegen und ihnen eine Struktur geben (z. B. in Form von Skizzen oder Mindmaps), sodass ich weiß, wo und wie ich den Faden aufnehmen kann. Und ich kann auch sehen, wo die Bedeutung eines Themas für mich liegt.
Ich kann mir …
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Problemlösekompetenz
Erschließungskompetenz
Richtungskompetenz
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Auf der Beziehungsebene
A
B1
B2
Ich kann ein Ziel grob umreißen und auf diese Weise eine ungefähre Vorstellung entwickeln von dem, was von mir erwartet wird.
Ich kann mir, wenn ich nachfrage oder mich konzentriere, vorstellen, wie ein Ergebnis aussehen und was ich unternehmen könnte, um es zu erreichen. Das hilft mir, ein entsprechendes Ziel beschreiben zu können.
Ich kann mir meistens ein Bild machen von dem, was zu tun ist. Diesen nächsten Schritt kann ich als Ziel so formulieren, dass ich weiß, wie ich vorgehen will und was dabei herauskommen soll. Häufig gelingt es mir auch, mögliche Stolpersteine in meiner Planung zu berücksichtigen.
Wenn mir jemand sagt, wie ich vorgehen soll, kann ich Dinge so lernen, dass ich mich auch über längere Zeit daran erinnere.
Ich kenne verschiedene Methoden, wie ich lernen kann, sodass ich die Sachen besser verstehe. Und wenn ich daran denke, kann ich die Methoden (z. B. Karten aus 11 x 22) auch anwenden, sodass ich die Dinge besser behalte.
Ich kann mir fehlende Informationen beschaffen (z. B. aus Nachschlagewerken) und sie mit vorhandenen Informationen verbinden. Mittels verschiedener Methoden kann ich in Situationen und bei Themen, die mir vertraut sind, verschiedene Lerntechniken so anwenden, dass ich das Gefühl habe, die Dinge zu begreifen. Ich nutze zu diesem Zweck die Lernkarten (z. B. 11 x 22) systematisch.
Wenn ich bei einem Problem nicht mehr weiter weiß, reicht meistens ein kleiner Hinweis und ich kann einen Weg finden (zum Beispiel Skizzen machen oder andere fragen), um zu einer Lösung zu kommen.
Wenn sich mir ein Problem stellt (z. B. Schwierigkeiten, einen Anfang zu finden, oder ich nicht mehr weiter weiß), kann ich meistens selbstständig eine Lösung entwickeln, wie es gehen könnte. Komme ich trotzdem nicht weiter, frage ich andere, wie sie es machen würden.
Wenn sich mir Hindernisse in den Weg stellen oder wenn ich noch nicht zufrieden bin, kann ich Überlegungen anstellen und Ideen entwickeln, ob und wie ich anders an die Dinge herangehen könnte. Dabei kann ich mich vor allem auf Vorgehensweisen stützen, die mir in anderen Situationen auch schon geholfen haben. Ich überlege und erkläre mir verschiedene Möglichkeiten und entscheide mich bewusst für die Erfolg versprechende Variante.
Abb. 5: Lernkompetenzen, Quelle: Institut Beatenberg
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C
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Die Kompetenzen zu den verschiedenen Teilbereichen werden in verschiedenen Schwierigkeits-Niveaus unter Verwendung von Ich-Aussagen formuliert. Die von den einzelnen SchülerInnen erbrachte Leistung wird im Kompetenzraster durch Nummerierung und einen Klebepunkt kenntlich gemacht. Durch diese genaue Dokumentation lässt sich mit einem Blick erfassen, wo sich die Schülerin/ der Schüler im Lernprozess befindet, sodass diese/dieser eine individuelle Rückmeldung zu den erbrachten Leistungen erhält. Durch die Wahl entsprechender Aufgaben kann der/die Einzelne ein bestimmtes Niveau erreichen. Schriftlich erbrachte Leistungen gelten hierbei als Nachweis. Mit Hilfe eines Kompetenzrasters wird die individuelle Lernarbeit in den Blick genommen und gefördert. Es entwickelt sich ein differenziertes individuelles Kompetenzprofil, das nicht nur den jeweils aktuellen Leistungsstand zeigt, sondern auch die Entwicklung in den verschiedenen Bereichen darstellt. Kompetenzraster geben Antwort auf die Fragen »Wo stehe ich?«, »Was habe ich bis jetzt geschafft?« und »Was sind die nächsten Schritte?« (ganztag-blk.de/ganztags…2…/04M4Was_sind_Kompetenzraster.pdf, 1). Ausführliche Informationen über die Arbeit mit Kompetenzrastern finden sich beim Institut Beatenberg (http://www.institut-beatenberg.ch/wie-wir-lernen/instrumente/kompetenzraster.html). Für die Arbeit mit Kompetenzrastern empfiehlt es sich, zumindest die KollegInnen der gleichen Jahrgangsstufe mit ins Boot zu holen, um untereinander die Arbeit aufzuteilen. Im Rahmen einer Differenzierung, die der Heterogenität der Lerngruppe gerecht werden soll, und im Hinblick auf eine erweiterte Leistungsbewertung ist das Kompetenzraster auch ein Diagnoseinstrument, das die Diagnosekompetenz von Lehrkräften unterstützen kann. Ein Kollegium kann zunächst mit einem Fach starten, bevor Kompetenzraster für alle Fächer angelegt werden. Sollten Kompetenzraster für alle Fächer präferiert werden, bedarf es des Rückhalts im gesamten Lehrerkollegium (z. B. im Rahmen eines Schulentwicklungsprozesses), da es eines großen Zeitaufwandes und eines großen Engagements bedarf, bevor die Arbeit mit Kompetenzrastern gestartet werden kann. Lerntagebuch Das Lerntagebuch soll als letztes Feedback-Instrument erwähnt werden. Es kann über einen längeren Zeitraum, z. B. ein Schulhalbjahr, geführt werden. Am Ende jeder Stunde/Doppelstunde erhalten die SchülerInnen die Gelegenheit (ca. drei Minuten), ihren eigenen Lernprozess zu dokumentieren. Das setzt voraus, dass Lernende erkennen, was sie in der Stunde gelernt haben und wo noch Defizite vorherrschen. Ebenso müssen sie in der Lage sein, festzustellen,
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wo ihre Stärken und wo ihre Schwächen im Lernprozess gelegen haben und welche Lernstrategien sie genutzt haben. Das bedeutet, dass sich Lernende auf einem hohen abstrakten Niveau selbst reflektieren müssen. Ein weiterer wichtiger Faktor ist, dass die Kinder und Jugendlichen in der Lage sein müssen, sich sprachlich adäquat auszudrücken, sodass es zu sinnigen Einträgen kommt. Führen die SchülerInnen ein Lerntagebuch über einen längeren Zeitraum, schult dies die Selbsteinschätzung und Selbstbewertung in hohem Maße. Es ist damit zu rechnen, dass das nicht allen gelingt. Ein vorgefertigter Bogen gibt Unterstützung und Anregung. Unter dem folgenden Link finden Sie ein Beispiel für einen Feedback-Bogen, durch den die Lernenden jeweils ihren eigenen Lernprozess in den Blick nehmen können (http://www.goodschool.de/cms/front_ content.php?idcatart=119&start=&view=upload%2Fmethoden%2Fvorlagen% 2Fbilder%2Fschuelerfeedback_lerntagebuch.jpg). Ein Lerntagebuch bedeutet für eine Lerngruppe einen hohen Gewinn in der Auseinandersetzung mit dem eigenen Lernverhalten, aber auch einen zusätzlichen Arbeitsaufwand. In einer Zeit, in der Lernende weniger gern schreiben, ein nicht zu unterschätzender Faktor. Nur wenn es Lehrkräften gelingt, die Sinnhaftigkeit und Chance eines derartigen Instrumentes SchülerInnen zu vermitteln, kann es erfolgreich eingesetzt werden. Außerdem bedarf es einer intensiven Schulung, einer Auswertung und Reflexion, um Lernenden die Vorteile sichtbar zu machen. Individuelle Lerntagebücher bieten die Chance einer individuellen Förderung, sie fordern aber auch und leiten zu einem Feedback-Gespräch über, das in Lern- und Förderpläne münden kann. Der Variation des Einsatzes von Lerntagebüchern ist keine Grenze gesetzt. Teilweise werden Beiträge in Lerntagebücher auch erst am Ende eines Schul-/ Projekttages geschrieben. Sie müssen sich überlegen, was Sie durch das Führen von Lerntagebüchern für sich und Ihre Lerngruppe erreichen möchte. Es geht zum einen um das individuelle Nacharbeiten und das Reflektieren des behandelten Stoffes, zum anderen um die individuelle Auseinandersetzung der Lernenden mit ihrem jeweils eigenen Lernprozess. Das mündet in eine gezielte Lern- und Arbeitsstrategie. Es geht nicht um Konformität einer Lerngruppe. Sollen die Lerntagebücher gewinnbringend eingesetzt werden, ist es notwendig, dass Sie diese einsammeln und lesen – zumindest nach dem Zufallsprinzip. Auch das bedeutet einen zusätzlichen Arbeitsaufwand. Lerntagebücher können unterschiedlich verwendet werden. Dienen sie als Kommunikationsmittel zwischen SchülerIn und Lehrkraft bedarf es keiner Bewertung der Einträge in Form von Noten, wohl aber der Absprache über Kriterien, die bei der Anfertigung des Lerntagebuchs vorausgesetzt werden.
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Gerade auch im Bereich der Oberstufe sollte ein Nachdenken über den eigenen Lernprozess initiiert werden – Lerntagebücher geben dahingehend eine gute Orientierung und Struktur vor. Lerntagebücher sind individuelle Dokumentationen von Lernwegen. Die vorgestellten Instrumente stellen nur einen kleinen Ausschnitt aus einer Vielzahl von Möglichkeiten dar. Wie in einem Tagebuch gewährleisten sie sehr persönliche und detaillierte Einblicke in die Wahrnehmung, Beobachtungen und Reflexionen der Lerner. Das fordert von der Lehrkraft einen sensiblen Umgang mit dem Gelesenen. Nach Steiger/Lippmann (2013, 287) [sind] »Feedback-Geben und -Empfangen […] soziale Techniken, um die Anpassung des Individuums an ein System zu fördern.« Hierin liegen Chancen, aber auch Risiken. Es lohnt sich, in der Literatur zu stöbern und nach weiteren Anregungen zu Feedback-Instrumenten zu suchen, um das eigene Repertoire zu erweitern. Nicht jedes Instrument liegt jeder/m, sodass eine Suche nach Alternativen empfehlenswert ist.
6. Feedback – Schwierigkeiten gemeinsam meistern! So positiv die Arbeit mit Feedback auch ist, so klar ist auch, dass Schwierigkeiten auftauchen können, die gemeinsam – durch Lerngruppe und Lehrkraft – aus dem Weg geräumt werden sollten. Wichtig ist das Einführen von Regeln, die von beiden Seiten eingehalten werden und an deren Einführung die Lerngruppe – soweit sie dazu altersgemäß in der Lage ist – auch beteiligt werden sollte. Klassenregeln sind den Lerngruppen bekannt – einige davon können auch für den Feedback-Prozess, die FeedbackKultur genutzt werden: Wir lachen niemanden aus. Wir gehen freundlich und wertschätzend miteinander um. Wir akzeptieren die Meinungen anderer. Wir achten darauf, dass wir zunächst eine positive Rückmeldung geben und dann erst eine kritische. Wir achten auf unsere Worte, die nicht verletzen sollen. Wir hören dem anderen zu und nehmen die Hinweise, die wir bekommen, ernst. Wir fragen nach, wenn wir etwas nicht verstehen. Wir rechtfertigen uns nicht, sondern denken über das Feedback nach … Selbstverständlich sollte es auch sein, dass die Lerngruppe die Ernsthaftigkeit eines Feedback-Prozesses nicht in Frage stellt. Je eher SchülerInnen mit der Feedback-Arbeit konfrontiert werden, umso eher wird sie zu einem Ritual, einer Routine, einer Chance. Optimal wäre es, wenn Lernende die Feedback-Arbeit bei jeder Lehrkraft einfordern würden. Liegt im Rahmen eines Schulentwick-
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lungsprozesses ein grundlegendes Einverständnis der Schulgemeinschaft vor, wird die Durchführung von Feedback-Arbeit immens erleichtert. Die Vorteile der vorgestellten Feedbacks liegen auf der Hand. Abwägen sollte man als Lehrkraft den Aufwand verschiedener Feedback-Methoden im Vergleich zum Nutzen. Wie der ständige Einsatz von Murmelphasen nicht den gewünschten Erfolg bringen kann, so kann auch der wiederholte, ständige Einsatz von Feedback-Methoden – und da gerade des Kurzfeedbacks – eher von Nachteil sein, weil SchülerInnen den Sinn anzweifeln bzw. die Ernsthaftigkeit verloren geht. Überlegenswert ist auch der Einsatz von Sozialformen, in denen ein Feedback gegeben werden soll. In der Regel möchte die Lehrkraft eine individuelle Rückmeldung und keine Gruppenrückmeldung. Wenn eine Einzelrückmeldung erwünscht ist, dann sollte die Lehrkraft dies auch durchsetzen, um nicht die Auswertung zu verfälschen. Die Gefahr besteht darin, dass sich SchülerInnen der Meinung anderer unbesehen anschließen. Das bedeutet auch, ein Feedback zeitnah einzufordern, nicht erst nach ›Monaten‹. Können sich Kinder und Jugendliche nicht mehr zurückerinnern, schauen sie auch auf die Meldungen/Äußerungen anderer und machen sie sich – evtl. auch unbewusst – zueigen. Das verfälscht das Ergebnis. Auch hier macht sich u. U. die Erkenntnis bemerkbar, dass sich der Mensch »als eine biologische Einheit, […] fortlaufend durch Informationsaustausch an [seine] Umwelt anpasst« (vgl. Steiger/Lippmann 2013, 287). Unter Umständen greift auch einfach die soziale Anpassung (vgl. Aronson/ Wilson/Akert 2008). Mut zum Ausprobieren lautet die Devise, sich nicht scheuen, auch Zeit zu investieren. Die Zeit, die man als Lehrkraft in die Feedback-Arbeit investiert, zahlt sich in der Regel aus, da Lernende vom Nachdenken über den Lernprozess profitieren, Unterricht optimiert wird – auch zeitökonomisch – und somit wertvolle Unterrichtszeit eingespart wird, die man als Lehrkraft ansonsten im laufenden Unterricht verwenden müsste, um z. B. den Bedürfnissen der Lerngruppe gerecht zu werden. Routine kann im Laufe der Zeit im Sand verlaufen. Achtsamkeit in Bezug auf sich selbst und die Lerngruppe ist wichtig, damit das Interesse an FeedbackArbeit nicht nachlässt. Werden verschiedene Instrumente in einer Lerngruppe eingesetzt, muss darauf geachtet werden, dass sie auch kompatibel sind.
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7. Feedbackgespräch – ein unbedingtes Muss?! Adolf Bartz (2013, 27–34) gibt einen konkreten Leitfaden zum Führen von Feedback-Gesprächen. Er unterteilt ihn in vier verschiedene Phasen: Orientierungsphase, Klärungsphase, Veränderungsphase und Abschlussphase. Entscheidend ist immer die Tatsache, dass ein Feedback-Nehmer selbst entscheiden kann, ob er und wie er das gegebene Feedback nutzt. Der Feedback-Geber kann Anregungen geben, wie die angemerkten kritischen Bereiche angemessen verbessert werden können, muss es aber nicht, wenn der Feedback-Nehmer dieses nicht wünscht. Ein Feedback-Gespräch setzt eine funktionierende Feedback-Kultur voraus. Es geht nicht um Anschuldigungen und Rechtfertigungen. Beide Seiten müssen vertrauensvoll und respektvoll sowie wertschätzend miteinander umgehen. Vor allem Lernenden fällt diese Rolle schwer. Auch hierbei ist ein behutsames Trainieren wichtig. Feedback-Gespräche mit der jeweiligen Lerngruppe schließen sich auch an die Auswertung der angewandten Feedback-Instrumente an. Wichtig ist es, sich für diese ausreichend Zeit zu nehmen, um sinnvolle und produktive Vereinbarungen treffen zu können. Entscheidend sind die Schwerpunktsetzung – zunächst nur wenige Kategorien in den Blick nehmen – und ein ausreichendes In-die-Tiefe-Gehen. Es nutzt nicht viel, alle acht Segmente einer Zielscheibe auf einmal betrachten zu wollen. Ebenso wenig kann man in kurzer Zeit einen Feedback-Bogen mit 30 Aussagen auswerten und besprechen. Selbstverständlich müssen Vereinbarungen und Absprachen zwischen Lehrkraft und Lerngruppe erfolgen, sonst macht sich die Lehrkraft unglaubwürdig in ihrem Bemühen, SchülerInnen in die Unterrichtsoptimierung und damit die Optimierung der Lernprozesse mit einzubeziehen. Mit Hilfe von gezielten Fragen, die sie an ihre Lerngruppe stellt, kann die Feedback-Arbeit unterstützt werden. Bastian (2007, 28 f.) schlägt z. B. folgende Fragen vor: »Was können wir tun, um die gute Situation zu bewahren bzw. die Defizite zu überwinden? […] Was ist für eine gute Stimmung wichtig, was erzeugt schlechte Stimmung? Was können wir uns vornehmen, um mit schlechter Stimmung besser umzugehen, was kann jeder Einzelne von uns dazu beitragen, eine gute Stimmung zu erzeugen und zu erhalten?«
Ebenso kann natürlich auch gezielt nach den Lernprozessen der SchülerInnen gefragt werden, können Lernstrategien erforscht werden usw. Wichtig ist es, eine Art Protokoll zu verfassen, in dem die Vereinbarungen dokumentiert werden. Zu überlegen ist, wie man diese der Lerngruppe zur Verfügung stellt – als Plakat im Klassenraum? als Merkzettel im Heft? in
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Auf der Beziehungsebene
einem eigens geschaffenen Regelheftchen? Der Fantasie sind da keine Grenzen gesetzt! Im Rahmen einer Verfügungsstunde/Klassenleiterstunde/Klassenratsstunde besteht die Möglichkeit eines intensiven Austausches auf hohem Niveau. SchülerInnen muss verdeutlicht werden, dass es Zeit braucht, um bestimmte Absprachen/Vereinbarungen umzusetzen. Nichts gelingt in der Regel sofort – ein Überprüfen und ein Abwägen fördern den Umsetzungsprozess. Insofern kann die Frage Feedback-Gespräch – ein unbedingtes Muss?! mit einem klaren Ja beantwortet werden, meinen Sie nicht?
8. Feedback – ohne Schüler geht es nicht!? Ein Fazit Nein, ohne Schüler geht es nicht! SchülerInnen als die Hauptbeteiligten am Unterricht, im System Schule müssen als ExpertInnen genutzt werden, möchte man als Lehrkraft, als Lehrerkollegium Unterricht, Schulentwicklung positiv vorantreiben. Wer sonst außer ihnen weiß besser, was sie für Lernprozesse benötigen, wo sich Klippen auftun, die umschifft werden wollen? Der Titel des Buches von Berger/Granzer/Looss/Waack Warum fragt ihr nicht einfach uns? ist genial und bezeichnend! Natürlich können sich Lehrkräfte untereinander zu ihrem Unterricht ein Feedback geben; das ist fruchtbar und stärkt auch das kollegiale Miteinander; natürlich finden immer wieder Unterrichtsbesuche durch SchulleiterInnen, FachberaterInnen usw. statt. Dennoch sind die Ideen, die Überlegungen, die Vorschläge, die Erkenntnisse von SchülerInnen nicht zu unterschätzen – sie sind die ExpertInnen. Insofern sollten Sie den Mut haben, Feedback-Arbeit in Ihren Lerngruppen einzuführen. Schritt für Schritt, mit viel Transparenz und dem Signal, dass das, was SchülerInnen beitragen können, Ihnen wichtig und bedeutsam ist. Von der Zusammenarbeit mit Lerngruppen – auch in Hinblick auf die Optimierung des Unterrichts – profitieren beide Seiten. SchülerInnen, die ernst genommen werden, die erkennen, dass das, was sie anregen, auch umgesetzt wird, haben ein ganz anderes Verhältnis zum Unterricht und zu ihrem eigenen Lernprozess als Lerngruppen, denen alles nur vorgekaut wird, die alles nur schlucken müssen, die eigentlich unbeteiligt beteiligt sind. Unterrichtsstörungen können dadurch ganz anders gehandhabt und reflektiert werden. Fangen Sie mit kleinen Feedback-Instrumenten an, die Sie an die Bedürfnisse Ihrer Lerngruppen anpassen, scheuen Sie sich nicht, auch die KollegInnen Ihrer Klassen mit ins Boot zu holen. Nehmen Sie Rückschläge gelassen hin und versuchen Sie es mit einem anderen Instrument erneut. Oder optimieren
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Renate Will, Feedback-Kultur nutzen
Sie das zuvor eingesetzte. Denken Sie daran, dass Feedback geschult und eingeübt werden muss. Je früher Lerngruppen an Feedback-Arbeit gewöhnt werden, desto selbstverständlicher wird das Verfahren. SchülerInnen profitieren von der Auseinandersetzung mit ihren eigenen Lernprozessen – Selbstbewusstsein, soziale Kompetenzen, Selbstbewertung … werden geschult. Machen Sie sich die Mühe, Aussagen von SchülerInnen wie »Nicht schon wieder Gruppenarbeit!« o. Ä. ernst zu nehmen! Was gefällt Lernenden an dieser Sozialform nicht? Sensibel werden für die Bedürfnisse und Probleme der zu unterrichtenden Lerngruppen bedeutet einen wichtigen Schritt auf dem Weg zur Professionalisierung als Lehrkraft!
Emmeli, 11 Jahre, Klasse 5
Andersson, Katja/Merziger, Petra: Feedback als Verfahren zur Reflexion des fachlichen Lernprozesses. In: Pädagogik 04/2014, 22 Aronson,Elliot/Wilson, Timothy D./Akert, Robin M.: Sozialpsychologie. München, 62008 Bartz, Adolf: Kritikgespräch und kritisches Feedback. In: Praxis Schule 5–10. 04/2013, 27–34 Bastian, Johannes: Feedback im Unterricht. In: Pädagogik 04/2014 Bastian, Johannes: Hinweise zur Gestaltung von Feedbackarbeit. In: Pädagogik 04/2014 Bastian, Johannes: Lernprozessorientiertes Feedback. In: Pädagogik 7–8/2015 Bastian, Johannes/Combe, Arno/Langer, Roman: Feedback-Methoden. Weinheim/Basel 2007 Berger, Regine/Granzer, Dietlinde/Looss, Wolfgang/Waack, Sebastian: Warum fragt ihr nicht einfach uns? Weinheim/Basel 2013 Buhren, Claus G.: Schüler-Lehrer-Feedback-Formen und Methoden. In: Buhren, Claus G. (Hg.): Handbuch Feedback in der Schule, Weinheim/Basel 2015a Buhren, Claus G.: Feedback – Definitionen und Differenzierungen, In: Buhren, Claus G. (Hg.): Handbuch Feedback in der Schule, Weinheim/Basel 2015b ganztag-blk.de/ganztags…2…/04M4Was_sind_Kompetenzraster.pdf, 1 (letzter Zugriff am 25. 03. 2016)
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Auf der Beziehungsebene
Griesel, Petra/Gnaudschun, Heide: Feedbackverfahren im Unterricht einführen. In Pädagogik 4/2014 Hattie, John/Timperley, Helen: The Power of Feedback. In: Review of Educational Research 77/1 (2007) London, Manuel: Job Feedback: Giving, Seeking and Using Feedback for Performance Improvement. New Jersey 22003 Meyer, Hilbert: Leitfaden Unterrichtsvorbereitung, Berlin, 42009 Miller, Reinhold: 99 Schritte zum professionellen Lehrer, Seelze 2010 Schmid, Anna/Knab, Julian: Feedback-Kultur an Schulen schärfen. In: Praxis Schule 4/2013 Seitz, Stefan: Aufbau einer Feedback-Kultur. In Praxis Schule 5–10. 8/2013 Steiger,Thomas M./Lippmann, Eric (Hg.): Handbuch Angewandte Psychologie für Führungskräfte, Berlin/Heidelberg, 42013 www.bw.ganztaegig-lernen.de/sites/…/2013-07-11_11-06-28-800.pdf (letzter Zugriff am 25. 03. 2016) www.goodschool.de/cms/front_content.php?idcatart=119&start=&view=upload%2Fmethoden% 2Fvorlagen%2Fbilder%2Fschuelerfeedback_lerntagebuch.jpg (letzter Zugriff am 25. 03. 2016) www.institut-beatenberg.ch/wie-wir-lernen/instrumente/kompetenzraster.html (letzter Zugriff am 26. 03. 2016) www.isb.bayern.de/download/7409/paedagogisch_diagnostizieren.pdf (letzter Zugriff am 26. 03. 16) www.schule-bw.de/unterricht/individualisiertes_lernen/(letzter Zugriff am 26. 03. 2016) Zierer, Klaus/Busse, Vera/Wernke, Stephan/Otterspeer, Lukas: Feedback in der Schule. In: Buhren, Claus G. (Hg.): Handbuch Feedback in der Schule, Weinheim/Basel 2015
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Elterngespräche führen
Pierre R. Pihet
Einige Grundregeln der Kommunikation: »Gesagt ist nicht unbedingt gehört. Gehört ist nicht unbedingt verstanden. Verstanden ist nicht unbedingt einverstanden. Einverstanden ist nicht unbedingt durchgeführt. Einmal durchgeführt ist nicht unbedingt erfolgreich durchgeführt. Einmal erfolgreich durchgeführt ist nicht unbedingt immer wieder erfolgreich durchgeführt.« (frei nach Konrad Lorenz) Kennen Sie meinen türkischen Freund Ahmaz Awevü? Na ja, er ist eigentlich gar nicht real existierend, er ist nur das Akronym von Alles hängt mit allem zusammen. Auch wenn es viele überrascht. Denn: Ob man es mit Eltern zu tun hat, mit SchülerInnen, mit welchen Unbekannten oder Bekannten und Freunden auch immer: Alle sind Kommunikationspartner. Und auch die will man motivieren, die eigene Sicht der Dinge zu verstehen und zu akzeptieren. Wie erhöht man hier seine Chance? Wie schafft man das, mit einem guten Gefühl auf Leute zuzugehen ohne Angst vor Konfrontation zu haben? Das ist der Gegenstand des folgenden Beitrags.
1. Ein bisschen Theorie In meinen Seminaren pflegte ich früher oft mit einer einfachen Frage anzufangen, indem ich die TeilnehmerInnen darum bat, sich einen Hund vorzustellen. Nachdem alle sich einen Hund vorgestellt hatten, fragte ich in die Runde, wie die jeweiligen Bilder wohl aussahen. Nach dem fünften Teilnehmer waren in der Regel fünf Hundebilder genannt worden. Hätte ich bis zum 20. Teilnehmer gefragt, wären garantiert 20 (wenn nicht gar 21) Hundebilder herausgekommen, mit allen möglichen Haarlängen und -farben, mit allen möglichen Rassen, mit allen möglichen Größen … ein Wort, zwanzig Vorstellungen.
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Auf der Beziehungsebene
Ja, dass wir uns überhaupt verstehen, ist das Wunder der Kommunikation. Oft haben Menschen das Gefühl, dass Konflikte sporadische, störende Inseln in einem sonst großzügigen, warmen Ozean der Verständigung seien. Man versteht sich gut, man schwimmt vor sich hin, und siehe da: Man muss ab und zu eine Zwischenstation einlegen, sich eben auf der Insel aufhalten, Streit und Auseinandersetzungen aushalten, obwohl man beim Schwimmen so glücklich war … Meine These lautet: Es ist genau umgekehrt. Wir schwimmen ständig in einem Ozean der Nicht-Verständigung, des halben Verständnisses, auch wenn nicht dauernd Streitigkeiten daraus entstehen. Wir können froh sein, wenn wir uns sporadisch auf einer gemeinsamen Insel des Verständnisses aufhalten dürfen. Wenn unser Hund genau der Vorstellung eines anderen Menschen entspricht. Dann sollte man diesen Zustand genießen, denn bald muss man wieder ins Wasser springen und weiterschwimmen. Und das, wohlgemerkt, unter Menschen gleicher Sprache, gleicher Kultur, gleicher Religion … Wann hat Ihnen ein Mensch das letzte Mal richtig, aber wirklich richtig zugehört? Und zwar so, dass Sie sich am Ende richtig verstanden fühlten? Sodass Sie am Ende sagen: »Ja, genau, so sehe ich die Dinge, du hast es genau erfasst.« – Falls Ihnen jemand und eine Situation sofort einfallen, dann sind Sie ein glücklicher Mensch. Die Regel ist: Wir kämpfen um unsere Meinungen, um unsere Ideen, um unsere Position. Sei es im Privaten oder im Beruflichen: Die Ja-aberHaltung dominiert. Stellen Sie eine These in den Raum, mit der Ihr Gegenüber nicht sofort einverstanden sein sollte, und es wird in 99,99 % der Fälle eine ablehnende Haltung zu erleben sein. »Ja, aber …«, oder »Das sehe ich aber anders« … Selten ist die Haltung: »Du denkst dies und das? Wir kommst du darauf? Woher weißt du, dass es so und so ist?« Auf eine ähnliche Art und Weise wird Ihnen vorgehalten, dass Sie sich aber mehr hätten anstrengen müssen, falls Sie Ziele nicht zur vollsten Zufriedenheit Ihrer Gesprächspartner erfüllt haben. Dass Sie besser hätten organisieren müssen. Dass Sie die Sache anders hätten angehen müssen. Dass Sie früher oder später hätten anfangen müssen. Dass Sie sich viel mehr Gedanken hätten machen müssen. Dass Sie die Lage nicht ausreichend analysiert hätten, dass Sie »eines aber auch nicht vergessen dürfen …«, und, und, und … Kurz, Sie hören, dass Sie nicht ganz in Ordnung sind. Nicht selten ertönt auch sinngemäß: »Das habe ich aber auch schon tausend Mal gesagt.« – Wie oft wird ›gesagt‹ mit ›gehört‹ gleichgesetzt, ›gehört‹ mit ›verstanden‹, ›verstanden‹ mit ›einverstanden‹. (Tipp: Beobachten Sie, wie PolitikerInnen in diesen turbulenten Zeiten miteinander kommunizieren.)
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Pierre H. Pihet, Elterngespräche führen
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Ein Gespräch »Frau Referendarin Meyer, Sie machen definitiv einen ganz anderen Unterricht als Frau Lehrerin Schulz (na ja, das ist nicht schlimm, jeder ist ja anders, nicht wahr, haha), aber das gefällt meiner Tanja nun nicht so gut, sie erzählt zu Hause, dass alles so kompliziert wäre … Übrigens habe ich die Hausaufgabe, die Sie neulich aufgegeben hatten, selbst gar nicht so richtig kapiert, was wollten Sie da eigentlich? Ich dachte, dass moderner Unterricht auch Spaß machen sollte. Ich meine, es hat Tanja bei Frau Schulz sonst schon Spaß gemacht, wissen Sie zufällig, wann Frau Schulz den Unterricht wieder übernimmt?« Es ist Elternsprechtag. Frau Schülermutter hat gesprochen, Frau Referendarin Meyer hört sich das an. Und die Wirkung lässt nicht lange auf sich warten. In Millisekundengeschwindigkeit wird das Kampfhormon Cortisol im Körper der Referendarin freigesetzt. Der Mund wird trocken. Der Pulsschlag beschleunigt sich auf gefühlte 180. Hitzewallungen steigen hoch. Nicht salonfähige Worte stellen sich am verbalen Tor an, aber der Torhüter wacht Gott sei Dank darüber, dass sie nicht einfach so ohne Weiteres die Schwelle passieren. Glorreiche fünf Minuten stehen einem zur Verfügung, um die unterschiedlichen Ebenen einer solchen Aussage zu deuten, zu sortieren, die Antwort darauf vorzubereiten. Aufgrund der Stressreaktion fällt einem nichts Besseres ein als die uralte Haltung des Angegriffenen: Flucht oder Kampf. Flucht: »Na ja, Frau Schülermutter, ich bin halt noch nicht so lange im Geschäft, man hat als Referendarin logischerweise viel weniger Erfahrung als eine gestandene Lehrerpersönlichkeit.« Verteidigung. Rechtfertigung. Flucht. Unterordnung. Kampf: »Also, Frau Schülermutter, andere Schüler sind aber sehr wohl mit der Hausaufgabe gut zurechtgekommen, die Ergebnisse sprechen auch dafür, und übrigens lässt sich nicht vermeiden, dass unterschiedliche Persönlichkeiten unterschiedlich unterrichten … oder schaffen Sie es vielleicht, es jedem recht zu machen?!« Das ist die Reaktion von denen, die sich ›so etwas‹ nicht bieten lassen. Wirkt stärker, selbstsicherer, ist aber genau so wenig effektiv: Angriff als Verteidigung. Und eine Rechtfertigung ist es auch.
Ja, wie soll man sich in einem solchen Fall verhalten? Überhaupt in solchen Fällen, es muss nicht Frau Schülermutter sein, es kann auch Frau Schuldirektorin, Herr Kollege oder Schülergruppe X sein! Was passiert denn in solchen Situationen? Nun, in dem genannten Fall hat sich Frau Referendarin (kann aber jeden älteren Hasen auch treffen) ebenso wie Frau Schülermutter nicht, aber auch gar nicht verstanden gefühlt. Alle schwimmen herum. Alle suchen verzweifelt nach dem Rettungsring, nach der Insel, auf der sie sich treffen könnten. Die finden sie aber nicht. Wie auch. Beide haben gesagt: »Hund«. Die eine meint aber: Bernhardiner, die andere: Yorkshire. Keine fragt, wie der Hund der anderen aussieht.
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Auf der Beziehungsebene
Was kann man da machen? Dieser Beitrag versucht einige Wege aufzuzeigen, wie man so schnell wie nur irgend möglich so viel Sand heranbaggert, dass eine Insel der Verständigung entsteht, die die Scheichs aus Dubai blass vor Neid werden lassen würde.
2. Ein bisschen Praxis – wie es nicht geht »Guten Tag, Frau Referendarin!« »Guten Tag, Frau Schülermutter!« (die Dame setzt sich vor die Lehrkraft, schweigend) »Sie sind Tanjas Mutter … also, sie verhält sich sehr zurückhaltend in letzter Zeit.« »Es ist ja auch kein Wunder, sie ist ziemlich verwirrt im Moment, sie war Frau Schulz gewohnt, und Sie machen ja einen ganz anderen Unterricht, Sie haben einen anderen Stil.« »Ja, ich bin nun mal nicht Frau Schulz, aber was ist denn passiert?« »Also, diese Hausaufgabe neulich: Tanja hat einfach nichts verstanden, ich konnte ihr auch nicht helfen, ich muss sagen, ich habe auch nicht richtig durchschaut, worauf Sie hinauswollten.« »Eigenartig … also andere sind da prima mit zurechtgekommen, die Auswertung hat sogar ergeben, dass einige Spaß daran hatten!« »Also, ich habe mich mit anderen Schülermüttern unterhalten, und Tanja war Gott weiß nicht die Einzige, die bei der Gelegenheit Schwierigkeiten hatte.« »Aber wir hatten doch im Unterricht XYZ durchgenommen, die HA war als Nachbereitung gedacht, ich habe sie sogar so formuliert, dass die SchülerInnen selbstständig zu Hause weiter forschen konnten, schauen Sie, zwei Links, die ich dazu gegeben hatte … Aber wissen Sie, das ist nicht weiter schlimm, ich kann Sie ja beruhigen, man muss es auch mal aushalten, etwas nicht zu können.« »Ja, aber in dem Fall ging wirklich nichts mehr, weil unsere Tochter so perfektionistisch ist, sie will immer alles hundertprozentig schaffen, sie war verzweifelt.« »Ach, so etwas passiert nun mal, machen Sie sich keine Sorgen: Es wird nicht das einzige Mal bleiben, dass Ihre Tochter an ihre Grenzen stößt! Ich weiß nicht, vielleicht muss Ihre Tochter lernen, mit Misserfolgen besser umzugehen.« »Moment, es ist nicht so, dass wir sie verwöhnen und ihr alles abnehmen, sie weiß sehr wohl, wie sie mit Misserfolg umgehen kann, das erlebt sie immer wieder beim Tennis, das kann sie sehr gut übertragen – aber in dem Fall war das etwas anderes.« »Die fünf Minuten sind leider schon vorbei, es klopft schon an die Tür. Es tut mir leid, Frau Schülermutter, ich hoffe, dass sich das in nächster Zeit bessert – wie gesagt, machen Sie sich keine Sorgen, Tanja wird sich schon wieder fangen. Aber melden Sie sich, wenn irgendetwas wieder nicht klappt, sodass wir das Gespräch weiterführen können.«
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Pierre H. Pihet, Elterngespräche führen
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»Auf Wiedersehen.« »Auf Wiedersehen.«
Übertrieben? Würden Sie ganz anders vorgehen? Dann Glückwunsch schon mal an dieser Stelle. Es wäre nämlich vollkommen in Ordnung, sich in diesem Dialog wiederzufinden. Wie soll man denn mit Eltern umgehen, die einem klarmachen wollen, dass der eigene Unterricht längst nicht die Qualität von Frau Schulzens oder Herrn Schmidts Unterricht hat? Selbstverständlich fühlt man sich da pikiert und hat Lust, ›zurückzuschlagen‹. »Dieser ewige Vergleich der Eltern. Wir Menschen sind nun mal alle anders, ja, es wird einem sogar im Lehrerseminar beigebracht, dass man die eigene Lehrerpersönlichkeit entwickeln soll! Und da kommt diese Mutter daher und verlangt, dass ich Frau Schulz bin … so was aber auch! Mit mir nicht. Außerdem, es ist doch wahr, diese hyperbehütenden Eltern heutzutage, wie nennt man die nochmal, ach ja, die Helikopter-Eltern, die kreisen ja um ihre Sprösslinge herum, jederzeit bereit, zu landen und zu Hilfe zu kommen. Mit mir nicht. Auch Scheitern muss gelernt werden.«
Von diesen legitimen Gedanken und Gefühlen ausgehend, ist es kein Wunder, dass die Betreffende hier zum Gegenangriff übergeht und ihre Position stärkt; sie stellt ihre Legitimität wieder her, indem sie auf den allgemeinen Zustand der Klasse hinweist, die überhaupt keine Signale sendet, die Frau Referendarin als Zeichen der Überforderung deuten könnte. Wer würde nicht gern auf solche normativen Argumente zurückgreifen, wenn er sich angegriffen fühlt? Wie soll man sonst reagieren? Es ist nun mal so, dass einige SchülerInnen immer wieder Schwierigkeiten haben, man kann es nicht jedem recht machen! Jetzt sind Sie dran: Was genau ist in diesem Dialog passiert? Versuchen Sie, die Elemente zu benennen, die dieses Gespräch auszeichnen; einerseits die Haltung der Referendarin, andererseits ihre kommunikativen Strategien:
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Auf der Beziehungsebene
Die Elemente im Einzelnen Haltung der Referendarin –– Ich bin auf der Hut. –– Ich fange sofort an, ohne um den heißen Brei herumzureden, die Zeit ist knapp. –– Ich habe mein Bestes getan; dass die Schülerin nicht mitgekommen ist, ist zwar schade, aber ich kann es nicht jedem recht machen. –– Ich nehme meine Beratungsfunktion wahr und empfehle dem Elternteil, ihrer Tochter den Umgang mit Misserfolgen beizubringen. –– Wenn es unbedingt sein muss, stehe ich zur Verfügung, das Gespräch kann weitergeführt werden
Strategien der Referendarin Sofortige Übernahme der (Gesprächs-)Führung im negativen Sinne: Ich bin hier der Boss und verkünde sofort ein Urteil über die Schülerin. Ich tue es sogar diplomatisch, ich hätte sagen können, dass sich die Schülerin viel zu wenig beteiligt und abwesend wirkt, und dass es sich auf die mündliche Note auswirken könnte, wenn es so weiter geht. Konfrontativer Dialog durch eine reine Aussagehaltung: Rechtfertigung des eigenen Handelns, Pochen auf Andersartigkeit der eigenen Person, Ausüben von sozialem Druck: »Die anderen sehen das aber ganz anders.« Missachtung des Selbstbilds der Mutter und des Bildes, das die Mutter von ihrer Tochter hat: Wieder wird ein Urteil gefällt, dass Tanjas Umgang mit Misserfolg fragwürdig sei: Aus dem Hund wird ein Bernhardiner gemacht, möglicherweise ist er aber ein Yorkshire. Den Gesprächspartner als unwissend ansehen und behandeln, versteckte Botschaft: »Sehen Sie zu, dass Sie ihrer Tochter beibringen, was Misserfolg bedeutet.« Die Führung behalten im Sinne der Macht der Institution: Die Zeit ist um. Halbherzige Offenheit mit dem Vorschlag, bei Bedarf zur Verfügung zu stehen und das Gespräch weiterzuführen
Geht es auch anders? Ja, es gibt auch den Typus Mensch, der an der gleichen Stelle vor Verlegenheit im Boden versunken wäre. Den die Anwürfe verletzt hätten. Denjenigen, der sich sofort in Frage gestellt hätte und hoch und heilig Besserung gelobt hätte. Jenen Menschen, der sich bei KollegInnen eine Bestätigung holt, dass er nicht vollkommen neben der Spur läuft, dass es normal sei, dass Eltern ihren Unmut auf diese Art kundtun. Kurz, jenen Menschen, der als Verlierer aus dem Gespräch herausgegangen wäre, genau wie in diesem Fall die Mutter als Verliererin von dannen ging. Aber geht es wirklich nur so? Kampf oder Flucht? Gibt es nicht irgendeinen Weg, der einem hilft, souverän mit solchen Situationen umzugehen? Doch, den gibt es.
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Pierre H. Pihet, Elterngespräche führen
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3. Wieder ein bisschen Theorie, Exkurs in die Welt der Kampfkunst Stellen Sie sich vor, Sie werden angegriffen und Sie schaffen es, die feindselige Energie so aufzunehmen, dass Sie sie neutralisieren; der Angreifer merkt, dass jeder weitere Versuch sinnlos wäre. Das könnten Sie theoretisch, wenn Sie die japanische Kampfkunst Aikido praktizierten, eine im Grundsatz vollkommen andere Art, mit physischen Konfrontationen umzugehen. Ganz kurzer Exkurs zum besseren Nachvollziehen: Aikido ist eine gewaltlose Kampfkunst, die darauf abzielt, Handlungsfähigkeit und Geisteskraft des Einzelnen zu stärken. Durch Aikido kann eine Schutzfähigkeit geschaffen werden, die ohne Gegenangriffe auskommt. Zu diesem Zweck wird ein Weg beschritten, auf dem Konflikte angenommen und nicht vermieden werden. Im Gegensatz zum üblichen Verhalten in Konfliktfällen geht es also nicht darum, den Partner zu bezwingen, zu bestrafen oder umgekehrt jeder Auseinandersetzung auszuweichen. Es geht darum, die Energie des Angriffs anzunehmen, zu erkennen, zu neutralisieren und umzulenken. Das ideale Ziel des Aikido ist es, jede aggressive Absicht in die Einsicht zu verwandeln, dass ein Kampf unnötig ist. Auf diese grundsätzliche Haltung weist der Name hin: AI-KI-DO ist »der Weg der Harmonisierung der Energien«. Auf den Alltag übertragen, bedeutet diese Haltung, dass der Mensch durch Aikido lernen kann, sich jeglichem Widerstand zu stellen, ohne dass er ihn brechen oder aber ihm ausweichen will. Die Konfliktfähigkeit des Menschen kann durch Aikido optimiert werden, weil dem Widerstand gegenüber eine grundsätzlich bejahende Haltung gepflegt wird. Auch der Nachlässigkeit gegenüber zeigt sich der Aikidoka konstruktiv, indem er sie positiv zu korrigieren und nicht durch irgendeine Form der Machtausübung zu monieren versucht (für den Aikidoka gibt es also keine ›Faulheit‹, sondern nur eine für bestimmte Zwecke nicht zur Verfügung stehende Energie). Warum erzähle ich Ihnen hier von Kampfkunst? Nun ja, ich kann einerseits als leidenschaftlicher Aikidoka nur empfehlen, das Beschriebene selbst zu erfahren – in jeder größeren Stadt finden Sie einen Verein oder ein Dojo (Japanisch für »Ort des Übens«), in dem Sie ihre ersten Schritte machen könnten – übrigens vom Alter, von der Kondition und sonstigen physischen Eigenschaften unabhängig, denn es gibt im Aikido keine Wettkämpfe. Andererseits habe ich in der Schublade ein Buchprojekt Kampfkunst für Lehrkräfte, in dem es darum gehen wird, wie man mit allen möglichen Widerständen im Schulalltag umgehen kann. Für unser Thema wichtig zu beherzigen: Die Auseinandersetzung mit dem anderen ist im Aikido in erster Linie eine Auseinandersetzung mit mir selbst:
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Ich sorge für meine Unversehrtheit und kämpfe nicht gegen denjenigen, der sie mir nehmen will. Das ist ein gravierender Unterschied: nicht gegen den anderen, sondern für mich eintreten. Der Transfer auf die Alltagskommunikation liegt gewissermaßen auf der Hand: Auch in verbalen Auseinandersetzungen verhalten sich Menschen wie bei einer potenziellen physischen Aggression auf drei Art und Weisen: Man kämpft (»Ja, aber, Gegenargument X, Gegenargument Y«, »Das sehe ich anders …«), man flieht oder ordnet sich unter (»Wenn du meinst …«), oder man stellt sich tot (»Was machen wir im nächsten Urlaub?«) – alles Verhaltensweisen übrigens, die wir mit dem Tierreich gemeinsam haben. Es gibt aber einen vierten Weg.
4. Ein bisschen Praxis, wie es sein sollte »Guten Tag, Frau Referendarin!« »Guten Tag, Frau Schülermutter, nehmen Sie Platz. Ich freue mich, dass wir kurz ins Gespräch kommen können – aber eben: Da die Zeit knapp ist, erzählen Sie doch mal, was sagt Tanja zu Hause, wie geht’s ihr im Schullalltag?« »Ja, also, ich dachte, Sie würden mir was erzählen … aber, wo Sie fragen … also, es ist nicht mehr das Gleiche wie bei Frau Schulz, irgendwie geht es im Moment nicht so gut …« »Hmmmh … Sie haben das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmt?« »Ja, Tanja konnte mit der Hausaufgabe, die Sie neulich aufgegeben haben, nicht viel anfangen, und ich muss sagen, ich habe auch nicht richtig verstanden, was da gemeint war.« »Hmmmh … da hing also der ›Hausaufgabensegen‹ ziemlich schief?« »Ja, das kann man wohl sagen … Jedenfalls war sie verzweifelt, ich auch, helfen geht auch nicht immer …« »Wissen Sie noch, was Tanja so beschäftigt hat?« »Na ja sie wusste nicht, ob sie dies oder ob sie das tun sollte und mir war das auch nicht klar, muss ich sagen.« »Aha, das heißt, Sie standen vor dem Dilemma, dieses oder jenes zu erledigen und keiner wusste, was richtig gewesen wäre … In einem solchen Fall fühlt man sich ziemlich hilflos, oder?« »Es war schlimm, zumal Tanja eine ganz Gewissenhafte ist.« »Was erst recht zu einem Dilemma führt. Andere zucken da mit den Achseln und meinen: ›Kann ich eben nicht‹. Anders ist es bei Tanja, wie ich heraushöre.« »Ja, also sie war schon immer ziemlich perfektionistisch, stellt sich schnell in Frage, wenn etwas nicht klappt …« »Mensch, Frau Schülermutter, was meinen Sie: Was könnte denn Tanja etwas Zuversicht wiedergeben?«
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Pierre H. Pihet, Elterngespräche führen
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»Sie fragen mich … Sie sind eigentlich die kompetente Person.« »Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Ich spreche mit Tanja darüber und versuche herauszubekommen, was sie aus der Bahn geworfen hat. Davon kann sie Ihnen gern berichten – und wir treffen uns wieder oder telefonieren in den nächsten Tagen, sagen wir, bis Ende nächster Woche – wie klingt das in Ihren Ohren?« »OK, machen wir – oh, es klopft schon an der Tür, da wollen die nächsten Eltern rein.« »Aus den fünf sind zehn Minuten geworden … das ist eben so. Dafür haben wir immer die Möglichkeit, in Kontakt zu bleiben. Also, bis nächste Woche, Frau Schülermutter!« Jetzt sind Sie dran: Was ist in diesem Gespräch passiert? Versuchen Sie, die Elemente zu benennen, die zu einer konstruktiven, lösungsorientierten Kommunikation geführt haben.
Die Elemente im Einzelnen Haltung der Referendarin –– –– –– ––
Ich heiße jeden willkommen: Ich mag dich. Ich heiße jede Form von Rückmeldung willkommen, auch wenn sie negativ sein sollte. Mir ist es wichtig zu erfahren, welche Motive mein Gegenüber bewegen. Ich handle nach bestem Wissen und Gewissen, darum kann mich nichts aus der Bahn werfen, sollte ich Fehler gemacht haben, so stehe ich dazu.
Strategien der Referendarin Sofortige Übernahme der Gesprächsführung durch Bekunden der Absicht, mehr über Tanja zu erfahren. Kontrollierter Dialog durch Spiegeln der Aussagen, dadurch Verständnis: Wie sieht der Hund aus? Ist das ein Bernhardiner oder ein Yorkshire? Dadurch Deeskalation der u. U. ›geladenen‹ Stimmung der Mutter. Aktives Zuhören durch antizipierendes Paraphrasieren: Die Gefühle und Gedanken der Mutter werden benannt und abgeglichen, möglicherweise werden sie nicht exakt
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Auf der Beziehungsebene
genannt, dann werden vom Gesprächspartner korrigiert: »Nein, ich fühlte mich eher wütend …« Annahme des Selbstbilds der Mutter und des Bildes, das die Mutter von ihrer Tochter hat. Akzeptanz der Gesprächspartnerin als Expertin. Führung beibehalten durch einen lösungsorientierten Ansatz, der den Vorschlag einer weiteren Kontaktaufnahme anbietet.
5. Wieder ein bisschen Theorie Eingebettet wurden alle Strategien in diese eine, doppelte: Die Führung übernehmen und beibehalten. Achtung, ich betrete nun ein Minenfeld. Alle ›Ja-aberKrallen‹ werden möglicherweise schon ausgefahren. Der Begriff ›Führung‹ ist einer derjenigen, mit denen sich viele Menschen schwer tun, weil sie das Gefühl haben, ein eher partnerschaftliches Verhältnis zu ihrem Gegenüber haben zu wollen oder zu müssen (sei es gegenüber einem einzelnen Mensch oder einer Gruppe). Insbesondere in Deutschland hat sich vieles historisch so entwickelt, dass diesem Begriff gegenüber teilweise eine regelrechte Aversion empfunden wird. Nicht selten, wenn ich empfehle, die Führung zu übernehmen, sehe ich mich mit dem Einwand konfrontiert, dass die Leute selbstständig seien und keinen bräuchten, der sie an die Hand nehme, um sie zu ›führen‹. Eine Variante davon ist, man habe schon längst – spätestens seit der 68er-Bewegung – erkannt habe, dass Autoritäten ausgedient hätten. Zum Glück habe dies auch in die Pädagogik Einzug gehalten: Lehrerzentrierter Unterricht wird als Relikt einer antiquierten, autoritätsbezogenen Epoche angesehen, in der man meinte, SchülerInnen sollen geführt, gelenkt, auf das ›Richtige‹ hingewiesen werden, das es zu lernen gelte. Nein, das gilt definitiv nicht mehr … Mit diesen Einwänden bin ich vollkommen einverstanden, wenn Führung so definiert wird, dass ein regelrechtes Machtverhältnis, ja ein Machtgefälle zwischen den Gesprächspartnern vorhanden ist und Macht dementsprechend ausgeübt wird. Viele heutige Führungskräfte in der Wirtschaft oder in Behörden, auch leider mittlerweile in Schulen, agieren nach wie vor nach dieser (unbewussten) Definition von Führung: Führen heißt dann, Menschen Anweisungen zu geben, die sie gefälligst durchzuführen haben. Ich führe, wenn mir meine Befugnisse ermöglichen, anderen Menschen Anleitungen zu geben, wie sie sich zu verhalten haben. Nicht selten werden diese Befugnisse sogar mit höheren Kompetenzen gleichgesetzt, nach dem Motto: Ich bin dir recht-
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lich überlegen, also kann ich generell mehr als du. Dies habe ich immer wieder bei Führungskräften beobachten können, sogar bei Gesprächen, die mehr ins Private gingen, z. B. beim Mittagessen an einem Meetingtag. Ob man sich über die Belange der Organisation, über die Fußball-WM oder den nächsten Urlaub unterhält, nicht wenige Führungskräfte haben Schwierigkeiten anzunehmen, dass sie außerhalb ihrer Befugnisse mit anderen Menschen auf einer Stufe stehen und ihr Urlaubsgeschmack oder ihr favorisierter Fußballer nicht der aller sein muss. Leider konnte ich auch öfter beobachten, dass bei solchen Gesprächen eine ungesunde Anpassung an den Geschmack der Führungskraft stattfand. Diese antiquierte Art der Führung ist aber nicht gemeint. Ob Elterngespräche oder welche Gespräche auch immer: Die zwischen LehrerInnen und SchülerInnen, zwischen Eltern und Kindern, zwischen Führungskräften und MitarbeiterInnen, die gemeinte ›Gesprächsführung‹ ist eine komplett andere – an sich müsste ein neuer Begriff her, weil er – gerade in Deutschland – so ungünstig konnotiert ist. Ein anderer Begriff – Kontakt. Elterngespräche gestalten durch Kontakt. Gespräche gestalten, die trotz konträrer Positionen zu einem gemeinsamen Ziel führen. Und weil Aikido nicht jedem geläufig ist, hier ein anderes Bild: Tango. Wie fast jeder weiß, auch ohne Tango tanzen zu können: Hier führt der Mann die Frau dorthin, wohin sie will …
6. Ein bisschen mit Theorie gemischte Praxis Es ist verhext: Begriffe halten uns wirklich gefangen. Gefangen in Vorstellungen, in Glaubenssätzen. Beispiel? Bitte denken Sie kurz darüber nach, wie Sie sich einen erfolgreichen Menschen vorstellen. So sieht mein erfolgreicher Mensch aus:
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Auf der Beziehungsebene
Die meisten Menschen erläutern auf diese Frage hin, ihr erfolgreicher Mensch sei in einen Nadelstreifenanzug gekleidet, fahre einen teuren Sportwagen und trage augenfällige Merkmale des finanziellen Erfolgs wie Uhren, Designerkleidung. Dieser Mensch sei in der Regel schlank und groß – ich habe auf diese Frage noch nie gehört, dass er ziemlich fettleibig wäre. In 99 % der Fälle ist die Vorstellung eines erfolgreichen Menschen immer die eines schlanken Managertypen, der ständig auf die Uhr schaut, von Termin zu Termin jagt, ins Fitnessstudio geht, und, ach ja, in der Regel Single ist. Aber noch viel, viel schlimmer ist die Tatsache, dass in fast 100 % der Fälle der erfolgreiche Mensch – ein Mann ist. Eine Frau wird kaum je erwähnt. Wie war’s bei Ihnen? Erröten Sie jetzt? Meinen Sie immer noch, Sie hätten keine Vorurteile oder dass die Sprache eine zuverlässiges Instrument zum Abbilden der Wirklichkeit sei? Und wenn Sie selbst eine Frau sind, dann: na, bravo. Sie erkennen hier wieder, was diese Frage mit der nach dem Hund gemeinsam hat: Wir haben nun einmal unsere festen Vorstellungen und der einfache, verbale Austausch reicht eigentlich nie aus, um zu verstehen, was ein anderer wohl meint. Aber wir tun im Alltag so als ob, denn meist fehlt schlicht und ergreifend die Zeit zu hinterfragen, was der Gesprächspartner wirklich meint. Gehört ist nicht unbedingt verstanden. Aber wir tun so, als ob. Und hat der andere nicht oder etwas anderes verstanden, heißt es eben blitzschnell: »Das habe ich doch schon drei Mal gesagt!!!« Also bitte: Wenn man sich schon zusammensetzt, um über Kinder zu reden, wie das im Rahmen von Elterngesprächen stattfindet, dann sollte man sich die Zeit nehmen zu hinterfragen, zu fragen, abzugleichen. Genau darauf zielen die weiter oben genannten Strategien ab. Guten Tag Herr Referendar, ich bin der Vater von Daniel, ich rufe Sie an wegen der Klassenarbeit – also diese Fünf kann ich mir beim besten Willen nicht erklären, haben Sie einen Moment Zeit? Und? Wie geht es jetzt weiter? Probieren Sie es!
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Zum Schluss das Protokoll eines authentischen Gesprächs, das ich mit einem Schülervater, seines Zeichens Bankmanager, führen durfte, wobei wir uns bei einem Extratermin zusammengesetzt hatten – ich zeichne meinen damaligen inneren Monolog und die Strategien sowie meine Kommentare nach: Vater: Guten Tag, schön, dass Sie sich die Zeit nehmen, mit Thomas und mir über die letzte Deutschklausur zu reden – ich wollte Sie auch kennenlernen, denn da ich Sie noch nicht kenne, kann ich die Art, wie Sie korrigieren, nicht einordnen. Um es direkt zu sagen, die drei Punkte finde ich ungerechtfertigt, aber da kommen wir noch darauf zurück, ich wollte Sie erst kennenlernen … Ich: Hallo, Herr Schülervater, hallo Thomas – OK, er hat die Führung übernommen und den Ton angegeben, der ist es wohl gewohnt, zu führen. – Ich finde es auch hervorragend, dass Sie sich die Zeit nehmen, denn das zeigt, dass Sie sogar in der Oberstufe noch wahrnehmen, was in der Schule passiert und den Eltern-Lehrer-Dialog gern weiterführen. – Da er führt, zeige ich ihm von Anfang an, dass auch ich führen kann, indem ich aus seiner Initiative eine Handlung mache, die ich selbst begrüße und die ich wertschätze. Ich führe ebenso ›plump‹, weil ich ihn durch das Betonen der Weiterführung des Eltern-Lehrer-Dialogs unausgesprochen lobe, ich signalisiere ihm indirekt, dass er in der Elternlandschaft herausragt: Notenbesprechung in der Oberstufe? Das gibt es nicht, höchstens in Form von Klagen nach dem Abitur. Das ist ja ein toller Vater! Diese Rabe-und-Fuchs-Strategie ist nur bei harten Fällen wichtig, aber deren Grundprinzip bleibt gültig: Die Suche jedes Menschen nach Anerkennung, nach Wahrnehmung seiner Eigenart, nach Akzeptanz seines Selbstbildes. Gleichzeitig steigt eine Art Wut in mir hoch, weil der Herr dermaßen arrogant auftritt: Er bestimmt, wann die Note besprochen wird, erst will er mich ›kennenlernen‹, was das auch immer heißt! Wow, das Kaliber hatte ich noch nie. Ok, also jetzt erst recht: Ich mag dich. Wie war das Mantra nochmal? MMMM, man muss Menschen mögen … Du hast deine Motive, hier zu sein. Du willst, wie alle Eltern der Welt, nur das Beste für dein Kind. Und du bist es gewohnt, unterstellte MitarbeiterInnen zu führen. Dein Sohn sitzt daneben und sagt nichts, grinst etwas vor sich hin. Oder sehe nur ich das? OK, Sturm im Schädelwasserglas, was mach ich jetzt? Ach ja – gehört ist nicht verstanden, darum zoome ich mal seinen Begriff ›Kennenlernen‹ heran … – Sie haben vollkommen recht, Herr Schülervater, wir haben alle Zeit der Welt, um in Ruhe die Bewertung exakt zu analysieren, denn ich kann mir gut vorstellen, dass es eben einige Zeit in Anspruch nehmen wird – in dem Fall habe ich keine Ruhe, bis sich alle wohl fühlen und das Gefühl haben: OK, so ist es gut, ich habe alles nachvollzogen. Das gilt für dich auch, Thomas, oder? – Thomas bejaht, leicht verlegen – Aber zunächst: Kennenlernen. Zugegeben, es gibt viele Möglichkeiten, Menschen kennenzulernen, was, Herr Schülervater, stellen Sie sich unter Kennenlernen bei unserem heutigen Treffen vor? – Puh, drei Fliegen mit einer Klappe: Erst habe ich
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aus der Notenbesprechung eine Notenanalyse gemacht, die nach meinem Willen viel Zeit in Anspruch nehmen wird; es sei auch mein Wille, dass eine solche Besprechung so lange geführt wird, bis sich alle wohl fühlen: So habe ich das Ziel der Unterredung schon mal gesetzt; gleichzeitig habe ich den Sohn ins Boot geholt; drittens ergründe ich, was er mit ›kennenlernen‹ wohl meint. Vater: Ja, Sie sind neu hier an der Schule, ich hatte noch nie von Ihnen gehört, als Schulelternsprecher kriegt man sonst alles mit, aber ich bin es seit einiger Zeit nicht mehr, darum verpasse ich das eine oder andere, gerade Personalfluktuationen kriege ich nicht mehr sofort mit. Sie sind erst seit diesem Schuljahr an der Schule? – Alles klar, das Profil schärft sich: Elternsprecher! Was, um alles in der Welt, spielt denn das für eine Rolle, seit wann ich an dieser Schule bin? Ich könnte ihn ja mit der Absurdität der Frage konfrontieren, aber das wäre Kampf. Also will ich diese Energie erst einmal annehmen, um sie zu erkennen. Keine Flucht, kein Kampf. Kontakt aufnehmen. Erst dann kann ich mit dieser Energie arbeiten, wenn ich sie erkannt habe. Wie es scheint, braucht dieser Mensch ganz viel Bestätigung, dass sein Selbstbild honoriert wird – na dann, weiter die Variante »Rabe und Fuchs«. Ich: Dass Sie Elternsprecher waren, kann mich nicht wundern; man wird es, weil einem nicht nur das Schicksal der eigenen Kinder, sondern auch das Schicksal der Schulgemeinschaft am Herzen liegen. – Hier mache ich eine Sprechpause, damit er seinen Erfolg auskostet; die Antwort kommt prompt mit einer heftigen, bejahenden Kopfbewegung; alles klar, er fühlt sich wohl, er fängt an zu denken: Der Kerl versteht einen ja, wunderbar. – Also, damit Sie im Bilde sind, stelle ich mich etwas länger vor, damit Sie auch wissen, mit wem Sie es zu tun haben. – Hier übernehme ich wieder die Führung, indem ich aus seiner Absicht meine mache. Dass ich mich ›länger‹ und nicht, wie die Floskel es besagt, ›kurz‹ vorstellen will, betont, dass ich mich vorstellen will, und zwar so lange und mit so vielen Details, wie ich für richtig und wichtig halte. Prinzip: Ich übernehme die Führung, aber offen. Ich gestalte das Gespräch. Dieser Vater wird mich führen, wohin ich will. Was will dieser Vater aber? Na klar, er will, dass ich die Note heraufsetze und signalisiert mir, dass ich für ihn ein Nobody bin, der sich anmaßt, seinen Sprössling zu beurteilen. Die Vorstellung erfolgte, indem ich auf die gleiche Art wie der Vater, der mir von seiner Bankmanager- und Elternsprecher-Position erzählt hatte, einige Eckpunkte meiner Biografie erwähnte, die für die nötige Glaubwürdigkeit sorgten. Wie jeder andere Mensch in welchem Stadium seiner Biografie und seines Werdegangs auch immer, konnte ich mit einigem auftrumpfen. Tipp: Seien Sie immer in der Lage, Ihre Erfolge knackig vorzustellen. Keine falsche Bescheidenheit an dieser Stelle, absolut jeder Mensch hat eine ganz große Besonderheit, die ihn einzigartig macht. Jedenfalls war nach der Vorstellung eine Basis vorhanden. Um eins draufzusetzen, fragte ich am Ende, ob ich ihm auch noch die Unterschiede zwischen meinen Erfahrungen an den jeweiligen Schulen schildern sollte – was er lachend ablehnte. Die Stimmung war schon
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wesentlich lockerer, das Eis war gebrochen. – So und nun bin ich gespannt, was wir zu Thomas’ Klausur besprechen können. Sie sagten eingangs, dass Sie die drei Punkte ungerechfertigt finden. Schauen Sie, ich bin dankbar für Ihre Offenheit, denn nicht jeder hätte den Mut, auf diese Art direkt zum Punkt zu kommen. – Harter Fall, zweiter Akt: Rabe und Fuchs weiter, gleichzeitig Führung. Er zeigt mir die Klausur, in der er meine Anmerkungen mit korrekturtypischen Wellenlinien versehen hatte! Er hatte meine Korrektur korrigiert und bewertet! Sowohl einzelne Positionen im Bewertungsbogen als auch der Endkommentar sowie die Randbemerkungen waren betroffen. Zur Beruhigung an alle ReferendarInnen und jungen Lehrkräfte: So etwas hatte ich noch nie erlebt und es ist nicht alltäglich; diese Anekdote soll nur zeigen, dass mit den genannten Prinzipien auch ein worst case bearbeitet werden kann. Was sollte ich tun? Manch einer – auch ich im ersten Augenblick – würde sagen: Debatte abbrechen, dem Gesprächspartner signalisieren, dass er die rote Linie überschritten hat. Aber das wäre Kampf. Und notgedrungen gibt es da Gewinner und Verlierer. Und das ist nie günstig. Also nochmal: Kein Mensch handelt einfach so, aus einer bösen Absicht heraus, sondern er hat seine Motive, seinen Motor, der ihn bewegt, der ihn handeln lässt. Es war offensichtlich, dass dieser Schülervater seine Infragestellung der Bewertung offen zur Schau stellte, er hatte eine Kopie der Klausur angefertigt, auf der er diese Korrekturkorrekturen ausgebreitet hatte. – Mensch, Herr Schülervater! Sie haben sich auch hier, wie ich sehe, sehr gründlich mit Thomas’ Klausur auseinandergesetzt. Das ist gut, denn nur so können wir uns ein objektives Bild machen, wenn wir auch wissen, wovon wir sprechen, ich mache Ihnen einen Vorschlag: Wir gehen die gesamte Klausur Schritt für Schritt durch und wir tauschen uns detailliert über alle Stellen aus. – Das Übliche: Anerkennung, Erkennen, Übernahme der Führung: Ich will nun, dass die Besprechung nichts, aber auch nichts auslässt. Was dann aber kam, überraschte mich: Vater: Nein, das ist nicht nötig, ich habe nur einige Stellen markiert, den Rest habe ich einfach nur so kommentiert, einfach nur für mich. – Ein unerwarteter Erfolg, zugegeben: Aber der signalisierte mir, dass wir Fortschritte machten, es wurde plötzlich nicht mehr so heiß gegessen, wie gekocht worden war. – Ich finde z. B. hier, an dieser Stelle, dass Thomas diesen Punkt des Erwartungshorizonts erfüllt hat. – Es war nicht der Fall: Die Position im Bewertungsbogen führte eine analytische Leistung an, der Text des Schülers eine einfache Paraphrase der Vorlage. Ich: Aha, Sie sind also der Meinung, dass Thomas hier den Nagel auf den Kopf getroffen hat; er hat geschrieben … Sehen Sie den Unterschied? Was Thomas sagt, steht im Text, was im Erwartungshorizont steht, ist so explizit im Text nicht zu finden. Sehen Sie? – Vater schaut sich die Stellen an. Langes Zögern. Man merkte, dass die späte Einsicht doch irgendwie weh tat. Vater: Ja. Ok, das stimmt … Aber diese Formulierungen im Bewertungsbogen, die klingen so abstrakt, sind die von Ihnen? – Ulkig: In dem Fall war der Bewertungsbogen
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Auf der Beziehungsebene
der ›offizielle‹ Bogen einer Musterklausur von einem Verlag, zu dem ich nichts Eigenes beigetragen hatte. Offensichtlich war das Problem, dass der Sohn wie der Vater mit bestimmten, zugegeben hochtrabend klingenden Formulierungen Schwierigkeiten hatte. Es war ab da ein Leichtes, diese Meinung zu bestärken und lösungsorientiert zu argumentieren. Ich: Ach ja, hier haben wir es mit einem Phänomen zu tun, das immer mehr um sich greift: Je wissenschaftlicher solche Bewertungen klingen, desto besser scheinen sie zu sein. Im Grunde kann ich sehr gut verstehen, was sie gedacht haben: Es handelt sich hier um ein Niveau, das vielleicht im Germanistikstudium abverlangt werden kann, aber wohl nicht in einer 11. Klasse – sehe ich das richtig? – Hier antizipierendes Parapharasieren: Ich übersetzte ins Blaue die Gedanken, die Vater und Sohn wohl gehabt haben konnten. Und das stimmte! Sie hatten das Gefühl gehabt, dass die Anforderungen dermaßen hoch waren, dass Ottonormal-Elftklässler unmöglich damit umgehen konnten. Wohlgemerkt: Dass der Notenspiegel völlig normal war und dass einige sehr gute Ergebnisse vorlagen, schien gar keine Rolle zu spielen. Für die beiden war die Klausur eine eindeutige Überforderung, Punkt. Danach war es sehr leicht aufzuzeigen, was unter den jeweiligen Bogenkommentaren gemeint war. Aber abgeschlossen musste das Ganze noch werden. – So, dann hätten wir die Kuh vom Eis. Schauen Sie, es hätte durchaus sein können, dass irgendwelche Fehler vorliegen, man ist ja nicht unfehlbar, darum nochmal danke, dass Sie sich die Zeit genommen haben. Und du, Thomas: Tue mir einen Gefallen, nutze im Unterricht jede Gelegenheit aus, um deine Stärken im Mündlichen zum Tragen zu bringen. Machen wir das so? – Zum Schluss ›vertrauliches‹ Gespräch mit dem Schüler, der bis dahin nicht sehr viel gesagt hatte. Dadurch neues Ziel gesetzt: Wir bleiben im Kontakt, das geht weiter; dass die ›Reklamation‹ in diesem Fall unbegründet war, war überhaupt nicht schlimm, keiner hatte gewonnen, keiner verloren. Der Hinweis auf eine intensivere mündliche Beteiligung war eher als Hoffnung auf eine selbsterfüllende Prophezeiung gemeint, die auch funktionierte: Thomas hatte sich mündlich bis dahin nicht besonders profiliert, nach diesem Gespräch beteiligte er sich tatsächlich öfter und konsequenter. Anderthalb Jahre später, kurz vorm Abitur, tauchten beide Eltern auf an einem Sprechtag, nur um sich zu bedanken, dass sich ihr Thomas so gut entwickelt hätte.
In diesem Beitrag bin ich davon ausgegangen, dass Elterngespräche nicht unbedingt die Richtung einnehmen, die man sich gewünscht hat. Optimal wäre es natürlich, in einem Seminar Rollenspiele einzuüben, bei denen eine immer bessere Routine im Umgang mit konfliktuellen Situationen erworben werden könnte. Am besten ein Coachingsseminar mit Aikido kombiniert … Falls das Angebot fehlen sollte, trainieren Sie mental: Stellen Sie sich einfach vor, wie Sie von Eltern plötzlich in die Mangel genommen werden, und wie
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Pierre H. Pihet, Elterngespräche führen
Sie darauf reagieren würden. Testen Sie selbst. Es macht Spaß. Viel Spaß beim Sandbaggern. Es ist herrlich, wenn man am Ende auf der Insel steht.
Lisa, 11 Jahre, Klasse 5
Jiranek, Heinz/Edmüller, Andreas: Konfliktmanagement. Als Führungskraft Konflikten vorbeugen, sie erkennen und lösen. Freiburg 2003 Kropp, Dirk/Barandum, Christina: Aikido – die friedfertige Kampfkunst zur Persönlichkeitsentwicklung. München 2009 Lorenz, Konrad: Gedacht ist noch nicht gesagt …, in http://peter-lohoff.de/motivation/lorenz.pdf (letzter Aufruf am 19. 4. 2016)
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Lernprozesse durch Visualisierungen gestalten
Christoph Brill/Meike Luster/Anke Meisert
In diesem Kapitel werden Sie sich mit dem Potenzial des Visualisierens in Lehr-Lernprozessen auseinandersetzen und dieses anhand konkreter Beispiele reflektieren können. Zudem erhalten Sie praktische Tipps zur visuellen Gestaltung von Lernmaterialien.
1. Warum visualisieren? Vermutlich kennen Sie solche Situationen: Ein Werbeplakat zieht Ihren Blick auf sich und geht Ihnen nicht mehr aus dem Sinn. Oder: Die bebilderte Bauanleitung für ein neues Möbelstück erschließt sich auch Ihnen als Laie wie von selbst und macht Sie trotz Ihrer zwei linken Daumen unversehens zum Profi. Das Potenzial von Visualisierungen ist schon im Alltag offenkundig: Sie finden leicht Eingang in unser Denken und unterstützen unsere Verstehensprozesse. Doch was meinen wir eigentlich mit dem Begriff ›Visualisieren‹ und woher kommt dessen Potenzial? Zur Bestimmung des Begriffs gibt es unterschiedliche Ansätze: So beschreibt Stangl im Online-Lexikon für Psychologie und Pädagogik das Visualisieren als »den psychischen Vorgang, bei dem Vorstellungen und Bilder vor dem inneren Auge eines Menschen aktiviert werden« (Stangl 2016). Er verortet damit den Prozess in der Sphäre menschlicher Kognition (= interne Repräsentationen). Bingel (2012, 6) charakterisiert hingegen das Visualisieren als die »Umsetzung von Informationen in Bilder mit Hilfe von textlichen und grafischen Mitteln«. Dieses Begriffsverständnis entspricht weitgehend unserer Alltagsvorstellung und wird auch mit dem Begriff der externen Repräsentation belegt (Schnotz/Kürschner 2008). Diese beiden Begriffserläuterungen müssen aber gar nicht verwirren, sondern verdeutlichen in ihrer Kombination die zentrale Funktion von Visualisierungen, die darin besteht, durch externe Repräsentationen (also visuell erfassbare Darstellungen) die entsprechenden internen Repräsentationen (also Vorstellungen) zu aktivieren oder zu entlasten bzw. deren Aufbau zu initiieren oder zu unterstützen. Das hohe Potenzial von Visu-
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alisierungen liegt darin begründet, dass wir Menschen vor allem ›Augentiere‹ sind: Wir nehmen visuell angebotene Informationen deutlich besser wahr als auditive und memorieren sie nachhaltiger (Bingel 2012, Seibold 2012). Obwohl generell alle visuell erfassbaren Darstellungen im Sinne externer Repräsentationen als Visualisierungen bezeichnet werden können, verstehen wir darunter im engeren Sinne meist bildhafte Visualisierungen, da sich hierin ein besonderes Potenzial des Visualisierens verbirgt: Auch wenn wir Informationen meist über Sprache austauschen, sind die meisten internen Repräsentationen im Gehirn nicht nur als sprachanaloge Aussagen gespeichert, sondern auch als bildliche Vorstellungen: Die Lernpsychologie unterscheidet hier zwischen aussageartigen und analogen (= bildhaften) Repräsentationen (Abb. 1). Somit verfügen wir im Gehirn in der Regel über multiple Repräsentationen zu einem Phänomen oder Zusammenhang, die sich gegenseitig ergänzen und hierdurch tiefere Verstehensqualitäten ermöglichen (Schnotz/ Kürschner 2008).
Abb. 1: Bildhafte und sprachbasierte Impulse korrespondieren mit entsprechenden aussage- und bildbasierten Repräsentationen im Gehirn, die sich im Sinne multipler Repräsentationen gegenseitig ergänzen.
Das besondere Potenzial der bildhaften (externen) Repräsentationen geht zudem über die einfache Idee der Nutzung zweier Eingangskanäle oder sich ergänzender (interner) Repräsentationen hinaus. So konnte gezeigt werden, dass Bilder ein besonderes Potenzial haben, beispielsweise die Erschließung kausaler und zeitlicher Zusammenhängen zu unterstützen (Gyselinck/Tardieu 1999). Bestimmte Inhalte erfordern demnach geradezu eine bildhafte Darstellung, um erschließbar zu werden: Und hier sind wir dann wieder bei der schrittweisen Bauanleitung zu einem Möbelstück!
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C. Brill/M. Luster/A. Meisert, Lernprozesse durch Visualisierungen gestalten
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Halten wir fest: Bildhafte Visualisierungen unterstützen Lern-, Denk- und Verstehensprozesse im Sinne multipler Repräsentationen und bieten zudem ein besonderes Potenzial bei der Erschließung spezifischer Informationen. Um das Potenzial bildhafter Visualisierungen genauer zu verstehen, hilft das so genannte EIS-Schema (Bruner/Oliver/Greenfield 1971), welches drei Stufen unterscheidet, wie ein zu erschließender Lerngegenstand zur Verfügung gestellt werden kann (enaktive, ikonische und symbolische Stufe, Abb. 2). Die enaktive Stufe bietet eine direkte Originalbegegnung mit hoher Zugänglichkeit, der Lerngegenstand kann in all seiner originalen Beschaffenheit und Merkmalsfülle erfasst werden.
Abb. 2: Das EIS-Schema nach J. Bruner mit der enaktiven, ikonischen und symbolischen Repräsentationsstufe und deren steigender Abstraktion und abnehmender Zugänglichkeit.
Die beiden anderen EIS-Stufen erfolgen über Darstellungen (= Repräsentationen), also vermittelt. Die mittlere, sogenannte ikonische Stufe stellt eine Erschließung über eine modellhaft-bildliche Repräsentation des Gegenstandes dar, die aufgrund der Ähnlichkeit mit dem Original eine noch vergleichsweise hohe Zugänglichkeit bietet. Die abstrakteste Stufe der Gegenstandserschließung erfolgt über Symbole, z. B. in Form von Buchstaben oder Zahlen, die erst durch das Wissen über ihre Bedeutung einen Zugang zum Gegenstand bieten. Die hohe Abstraktion dieses Zugangs mit der entsprechenden Gefahr von inadäquaten Vorstellungen besteht vor allem darin, dass zwischen dem Gegenstand und der sprachlichen Repräsentation keine Ähnlichkeit mehr besteht, sodass insbesondere für die Ausbildung der bildlichen Vorstellung vom Gegenstand nur indirekte Anhaltspunkte bestehen. Diese Stufenunterscheidung führt deutlich vor Augen, warum bildliche Darstellungen (neben Originalbegegnungen)
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häufig als entscheidender Zugang bei der Erschließung von Phänomenen oder (zeitlichen, kausalen) Zusammenhängen erlebt werden. So weit, so gut! Entlang dieser Erläuterungen haben Sie nun zentrale Aspekte des (vor allem) bildhaften Visualisierens kennengelernt: ȤȤ Visuell erfasste Informationen können besser verstanden und memoriert werden als auditive. ȤȤ Unser Gehirn verfügt neben sprachbasierten Repräsentationen auch über bildbasierte Vorstellungen, deren Aktivierung und Weiterentwicklung durch entsprechende Visualisierungen unterstützt werden. ȤȤ Bildhafte Darstellungen sind aufgrund ihrer Ähnlichkeit mit dem Original in der Regel zugänglicher als sprachbasierte Angebote. Diese Überlegungen zeigen vor allem das große Potenzial des Visualisierens, nämlich Informationen inputorientiert zugänglich zu machen, und haben eine entsprechend große Relevanz für die Gestaltung von Lernmaterialien, sei es das Arbeitsblatt, die OHP-Folie oder die Präsentation über den Beamer. All dies kann genutzt werden, um Informationen lernförderlich zu gestalten, wie weiter unten konkretisiert wird. Doch darin erschöpft sich noch nicht das Potenzial unterrichtlichen Visualisierens; denn nicht nur das Zur-Verfügung-Stellen von Informationen im Sinne von Input-Phasen des Lernens kann durch Visualisierungen optimiert werden. Gerade für offene Arrangements entdeckenden und selbstgesteuerten Lernens, in denen Themen von den Lernenden gemeinsam strukturiert, Lernwege entworfen und Ergebnisse ausgehandelt werden müssen, stellen prozessbegleitende Visualisierungen ein entscheidendes Instrument des Gelingens dar (s. → 17 Mit neuen Medien arbeiten). Auch hierzu noch ein Theorieangebot: Wenn wir selbstständig einen komplexen Prozess planen, nehmen wir meist einen Zettel zu Hilfe, auf dem wir wesentliche Teilschritte notieren und diese durch Pfeile o. Ä. verbinden. Mit dieser Skizze entlasten wir unseren Denkprozess, da wir bereits erfolgte Überlegungen sichern, sodass wir uns auf die nächsten Schritte konzentrieren können. Ohne diese externe Visualisierung müssten wir entweder einen Teil unseres Arbeitsspeichers im Gehirn dafür investieren, das Vorangegangene ständig mitzudenken, oder wir liefen Gefahr, es zu vergessen. Die Skizze auf dem Zettel stellt somit eine Art externen Denkspeicher dar und wird deshalb auch als »erweiterte Kognition« (distributed cognition, Giere 2002) bezeichnet. Sowohl sprachliche als auch bildhafte Visualisierungen können also unsere Denkprozesse als externe Speicher entlasten und vermindern damit vor allem innerhalb längerer ergebnisoffener Prozesse mit vielen Rückschritten, Seitenwegen und Sackgassen die Gefahr des Scheiterns durch Überforderung. Dies hat jedoch
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nicht nur Potenzial für individuelle Denkprozesse, sondern liefert auch eine zugängliche Grundlage für Gruppendiskussion, in der durch Visualisierungen die eigenen Ideen erstens für die anderen zugänglich gemacht werden und zweitens konkrete Bezugnahmen auf die Ideen anderer durch Aufzeigen leicht transparent gemacht werden können. Diese Funktion von Visualisierungen als Prozessbegleiter wird für unterrichtliche Belange in Abschnitt 4 ausgeführt. Ausgehend von den Überlegungen zu der Frage »Wozu wird visualisiert?« schließen sich Ausführungen zu den folgenden Grundfragen an: Was wird wie visualisiert? Wer visualisiert? Womit wird visualisiert?
2. Wozu wird visualisiert? Die möglichen Funktionen des Visualisierens im Unterricht sind vielfältig und reichen von Stichworten an der Tafel als einfachen Denkstützen, der übersichtlichen Gestaltung von Schaubildern auf einer OHP-Folie, der systematischen Strukturierung des Tafelbildes als Dokumentation mehrerer Lernschritte bis hin zur Gestaltung von Präsentationen im Rahmen eines informierenden Einstiegs. Um diese Vielfalt in Bezug auf den Charakter der jeweiligen Visualisierungsfunktion zu systematisieren, kann man zwischen inputorientierten und prozessbegleitenden Visualisierungen unterscheiden. Wenn wir an Input-Phasen im Unterricht denken, assoziieren wir damit meist den lange Zeit in Verruf geratenen Lehrervortrag, obschon auch informierende Lernmaterialien wie Buchtexte oder Arbeitsblätter in diese Kategorie fallen. Und auch die OHP-Folie, die als stummer Impuls fungieren soll, stellt zunächst einen visuellen Input dar. Ein eindrückliches Beispiel für Gelingensbedingungen eines Inputs ist die Einführung der Methode Gruppenpuzzle (Abb. 3, s. auch → 7 Methoden kennen und einsetzen). Wird die Methode ausschließlich sprachlich zugänglich gemacht (verbal oder ergänzend mit einer schriftbasierten OHP-Folie) ist das Verständnis aufseiten der SchülerInnen häufig gering, da die Strukturen im Gruppenpuzzle räumlich und zeitlich variieren und somit vor allem eine bildliche Vorstellungsebene erfordern. Diese Vorstellungsbildung kann wesentlich durch eine Bildreihe entlastet werden, welche jeweils die räumliche Anordnung zu den unterschiedlichen Zeitpunkten aufzeigt. Die Visualisierung greift somit genau jene Aspekte auf, die bei der Vorstellungsbildung zur entscheidenden Hürde werden. Welche Art der Visualisierung hilfreich ist, leitet sich also davon ab, welche Verständnishürden in den zu vermittelnden Informationen lauern. Funktionales Visualisieren erfordert somit vor allem ein didaktisches Verständnis des Lernprozesses und eine entsprechend treffende Schwierigkeitsanalyse.
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Abb. 3: Anleitung zum Gruppenpuzzle, die die unterschiedlichen Personenkonstellationen in den unterschiedlichen Phasen visualisiert
Wesentliches Ziel aller Input-Arrangements ist es, dass die zur Verfügung gestellten Informationen möglichst frei von Missverständnissen und mit einem minimierten Wahrnehmungsaufwand von den Lernenden erschlossen werden können. Geht es um Visualisierungen, die einen verbalen Vortrag begleiten, so ist insbesondere die Verknüpfung des auditiven und visuellen Inputs zu beachten, also eine weitreichende Reduktion auf Stichworte und einfache Bildelemente vorzunehmen. Erfolgt der Input über Arbeitsblätter o.Ä., steht vor allem die möglichst hürdenfreie Erschließung der Informationen (z. B. durch Strukturierungen in Teilinformationen, ergänzende Elemente zur Aufmerksamkeitssteuerung usw.) im Vordergrund. Über die reine Optimierung der Informationsentnahme hinaus ist jedoch auch das motivationale Potenzial von Visualisierungen nicht zu unterschätzen. Kleine Visualisierungen, die nicht unbedingt zum Verständnis notwendig sind, können wesentlich dazu beitragen, die Informationsaufnahme zu erleichtern oder atmosphärisch aufzuhellen, z. B. durch das Bild einer diskutierenden Gruppe neben einem Arbeitsauftrag zur Gruppenarbeit oder den Glücksklee neben einer Leistungsaufgabe. Zu all diesen Aspekten gibt es auf den folgenden Doppelseiten Tipps von Profi Christoph Brill!
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»Ich kann doch nicht zeichnen …« Dies ist eine häufige Befürchtung. Keine Angst: Müssen Sie auch nicht. Sie sollen sich in erster Linie visuell verständlich machen. Und das können Sie ganz bestimmt. Erinnern Sie sich mal an Zeichnungen aus Ihrer frühen Kindheit: ein Haus, ein Baum, ein Auto, ein Kind – alles unzweideutig erkennbar. Vielleicht genügt dies nicht Ihren heutigen ästhetischen Ansprüchen, aber daran lässt sich leicht arbeiten. Praxis-Tipp 1 Weniger ist mehr – jeder Strich soll Ihre Aussage unterstreichen Was zeichnet all diese frühen Kinderzeichnungen aus? Sie sind in ihrer Form allgemeingültig (fast alle Häuser sehen gleich aus) und dabei auf das Wesentliche reduziert, schnörkellos. Geben Sie Ihrer Visualisierung die treffende Bedeutung. Nur so knüpft unser Gegenüber bewusst und unterbewusst spontan die gewünschten Assoziationen. Und dann unterstützt Visualisierung erfolgreiches Lernen und gegenseitiges Verstehen. Wählen Sie hierzu Elemente, die 1. als Zeichen wiedererkennbar sind, 2. von allen mit demselben Inhalt verknüpft werden (»Wohnhaus«) und 3. im richtigen Kontext eingesetzt sind (z. B. in Mitteleuropa, wohingegen in manchen Teilen Afrikas Häuser womöglich anders aussähen).
Abb. 4: Voraussetzungen für visuelles Verstehen: gemeinsames Verständnis über Inhalt, Form und Kontext
Zugespitzt: Setzen Sie jeden Strich bedeutungsvoll ein! Fragen Sie sich stets: Unterstützt dies meine Botschaft? Oder verwirrt es vielmehr? Im Zweifel ist weniger mehr.
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Praxis-Tipp 2: Piktogramme ermöglichen schnelle Assoziationen Bilder sagen mehr als tausend Worte. Piktogramme sind selbsterklärende Bilder, die Informationen durch vereinfachte grafische Darstellung vermitteln. Verkehrszeichen, Wettersymbole oder Computer-Icons sind beispielsweise weithin verständliche Sinnbilder mit starker Ausdruckskraft. ȤȤ Suchen und finden Sie treffende Piktogramme für wiederkehrende Themen oder Situationen; etablieren Sie deren Verwendung im Unterricht. Beispiele finden Sie auch in diesem Buch. ȤȤ Kombinieren Sie Piktogramme für mehr Eindeutigkeit mit einem Schlagwort. ȤȤ Versehen Sie Überschriften und Kernbegriffe mit Schlüsselbildern.
Abb. 5: Eine Auswahl exemplarischer Piktogramme
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Praxis-Tipp 3: Container heben Wichtiges hervor oder fassen Zusammengehörendes zusammen Container sind nichts anderes als Umrahmungen – und Multitalente: ȤȤ Heben Sie Überschriften oder zentrale Begriffe optisch hervor, indem sie einen Rahmen darum zeichnen. ȤȤ Wählen Sie einen einfachen eckigen Kasten für neutrale Aussagen. Wählen Sie bildhafte Container, um Inhalte zu untermauern oder Stimmungen auszudrücken. Jedes Piktogramm kann Text aufnehmen und so zum bedeutungsvollen Container werden. ȤȤ Lassen Sie sich durch Comics inspirieren: In den verschiedensten Sprechund Denkblasen drücken Sie den Charakter von Aussagen, Meinungen oder Haltungen aus. ȤȤ Oder kombinieren Sie einen Kasten mit einem aussagefähigen Symbol.
Abb. 6: Eine Auswahl exemplarischer Container
Praxis-Tipp 4: Figuren stellen Situationen, Emotionen oder Handlungen dar Menschliche Personen oder Emotionen sind für den Neu-Visualisierer eine besondere Herausforderung. Machen Sie es sich zu Beginn einfach: Oft genügen symbolhafte Darstellungen von Spielbrett-Figuren mit KegelRumpf und Kugel-Kopf. Allein schon über deren Anordnung zueinander (einzeln – Gruppe, Nähe – Distanz) und in Verbindung mit Linien, Pfeilen oder Symbolen können Sie zwischenmenschliche Situationen abbilden. Und über kleine Modifikationen in der Körperhaltung (gerade – geneigt, aufrecht – gebückt, zuoder abgewandt) lassen sich bereits Stimmungen andeuten.
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Abb. 7: »Kegel-Kugel«-Figuren
Praxis-Tipp 5: Erzeugen Sie räumliche Tiefe mit dem Schattenwurf Kleiner Strich – große Wirkung. Setzen Sie eine zusätzliche Linie oder einen breiten Strich auf die der Lichtquelle abgewandte Seite aller Objekte. Auf einfache Weise wirkt Ihr Bild sogleich plastisch. Zeichnen Sie den Schatten dabei innerhalb von dreidimensionalen Objekten (z. B. Figuren) oder außerhalb von zweidimensionalen Objekten (z. B. Container oder Pfeile). Bleiben Sie Ihrer Schattenseite treu: Stellen Sie sich dazu die Lichtquelle z. B. immer links oben vor, der Schattenwurf ist folglich immer unten rechts.
Abb. 8: Schattenwirkungen
Praxis-Tipp 6: Schaffen Sie Ordnung und Übersichtlichkeit Übersichtliche Bilder bleiben besser hängen. Fassen Sie Zusammengehöriges in Containern zusammen. ȤȤ Schaffen Sie Bezüge mit Linien und Pfeilen. ȤȤ Gruppieren Sie mit Farben, die Sie bedeutungsvoll einsetzen. ȤȤ Welche logische Struktur liegt Ihrem Inhalt zugrunde? Gibt es z. B. ein Nacheinander, ein Zentrum oder eine Polarität? Bilden Sie diese Struktur auch in Ihrer Visualisierung ab: als linearen oder zirkulären Prozess, in Form einer Mindmap oder als vertikale oder horizontale Zweiteilung. ȤȤ Legen Sie sich vorab im Kopf eine Blaupause zurecht. So wissen Sie, was wo hin soll und wie viel Platz es benötigt. Fertigen Sie dafür vorab eine Skizze auf Papier an.
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Praxis-Tipp 7: Legen Sie sich Ihren visuellen Grundwortschatz zu. Oft sind es relativ wenige wiederkehrende Themen oder Situationen, für die Sie visuelles Handwerkszeug benötigen. Welches sind Ihre regelmäßigen Themen (z. B. Fächer) und/oder typischen Anwendungssituationen? Wählen Sie hierfür passende Container und Piktogramme, Figuren und Farben. Führen Sie in Ihrer Klasse Symbole ein, z. B. für wiederkehrende Betrachtungsebenen (Beschreibung, Deutung u. Ä.) oder Arbeitsformen (Einzelarbeit, Gruppenarbeit, …). Wenn Sie ein wenig üben, haben Sie diese rasch jederzeit bei der Hand und sind für Standardsituationen bereits gerüstet. Sukzessive können Sie dann Ihren Aufbauwortschatz ergänzen. Praxis-Tipp 8: Themen mit Bildlandschaften emotional erkunden Strukturieren und durchdringen Sie komplexere Sachverhalte mithilfe von BildMetaphern: Auf eine Reise gehen, eine Brücke bauen, einen Obstbaum pflanzen und die Früchte ernten. ȤȤ Wählen Sie Bildlandschaften, die zur Erlebenswelt Ihrer Zielgruppe passen. ȤȤ Bedienen Sie sich bestehender Blaupausen, z. B. aus der Fundgrube. ȤȤ Oder entwickeln Sie Ihre individuelle Bildmetapher: Formulieren Sie hierzu die Kernfrage Ihres Themas, assoziieren Sie Bildideen und entwerfen Sie Ihre Bildlandschaft – gern zusammen mit Ihren SchülerInnen.
Abb. 9: Vier exemplarische Bildlandschaften
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3. Lernprozesse durch Visualisierungen entlasten und strukturieren Nach den Praxistipps noch ein bisschen theoretischer Hintergrund: Ein zentrales Ideal gelungener Unterrichtsplanung zielt auf Lern- und Erkenntnisprozesse mit hohem Öffnungsgrad, sodass die SchülerInnen ihre Wissensaneignung eigenständig und selbstgesteuert vornehmen können. Dieses Ideal der reduzierten Steuerung durch die Lehrkraft geht allerdings oft mit der Gefahr von Orientierungsverlust einher. Ihr kann gemäß dem Motto »Öffnung braucht Struktur« durch orientierende und strukturierende Hilfestellungen entgegengewirkt werden. Zentrale Unterstützungselemente für offene Lernphasen sind Visualisierungen, die unter dem Vorzeichen stehen, Denkprozesse sukzessiv zu begleiten und diese in eine zugänglichere und mitunter abstraktere Repräsentationsform zu überführen: ȤȤ Die Mindmap liefert eine visualisierte Struktur für die Hierarchisierung einer Begriffssammlung. ȤȤ Die Placemat-Methode bietet einen Organisationsrahmen für intersubjektive Aushandlungsprozesse. ȤȤ Die Tabellenstruktur auf dem Arbeitsblatt ermöglicht Zuordnung und vergleichende Auswertung unterschiedlicher Teilergebnisse. ȤȤ Die vorstrukturierte Skizze auf einer OHP-Folie offeriert das Ergänzen weiterer Aspekte innerhalb eines sicheren Orientierungsrahmens. ȤȤ Eine angebotene Auswahl von Zeichen (Pfeile, Blitze, Herzen, …) schafft Anregungen für die Entwicklung eines Schaubilds. ȤȤ Der Zeitstrahl kann zeitliche Abläufe verschiedener Ebenen miteinander in Beziehung setzen. ȤȤ Skizzierte Treppenstufen stellen ein Angebot dar, analysierte Entwicklungsstufen (z. B. einer Romanfigur) zu ordnen. Diese Beispiele zeigen, dass Visualisierungen in Lernprozessen als Strukturierungsinstrument genutzt werden können, um die Denkbewegungen der Lernenden zu unterstützen, zu steuern und zu fokussieren. Und dies gilt sowohl für dezentrale als auch für zentrale Phasen, sowohl für individuelles als auch gemeinsames Denken. Hier sei an die zu Beginn erläuterte Idee der erweiterten Kognition durch Visualisierungen erinnert: Visualisierungen übernehmen für den Einzelnen eine den Denkprozess entlastende Funktion und für den Austausch mit anderen eine kommunikativ-mediale Funktion. Und auch hier gilt: Prozesssteuernde Visualisierungsangebote können nur dann sinnvoll ausgewählt werden, wenn die wesentlichen Prozessschwierigkeiten erkannt und entspre-
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chend entlastet werden. Besteht in einer Lernphase beispielsweise die zentrale Herausforderung darin, in einem Versuchsprotokoll im Fach Chemie der Klasse 7 zwischen der beschreibenden und der deutenden Ebene zu unterscheiden, dann sollte hierzu eine visualisierte Strukturierungshilfe angeboten (Abb. 10).
Abb. 10: Strukturierung eines Versuchsprotokolls mit einer tabellarischen Anordnung und sich anschließender Schlussfolgerung. Das Verständnis der Bezugsebenen wird durch P iktogramme visuell unterstützt.
Visualisierte Strukturierungsangebote wie Tabellen, Fließdiagramme, Black-BoxSchemata u. Ä. haben zudem ein großes Potenzial, die Verknüpfung zwischen ergebnisoffenen Lernphasen in Einzel-, Partner- oder Kleingruppen mit den entsprechenden Auswertungsphasen im Plenum herzustellen. Wird bereits in der dezentralen Phase ein einheitliches Strukturierungsangebot gegeben, dann kann diese Struktur als kongruent fortgesetzter Orientierungsrahmen in der Auswertungsphase genutzt werden. Ein Beispiel: Die SchülerInnen werden aufgefordert, ihr bisheriges Wissen über den Zweiten Weltkrieg zu notieren: Ohne Strukturierungsangebot notieren manche eine Stichwortliste, andere fertigen eine Mindmap an, wiederum andere formulieren ihr Wissen in ganzen Sätzen. In der Auswertungsphase, die beispielsweise von der Lehrkraft als Zeitleiste an der Tafel entworfen wird, müssen die Lernenden ihre Teilaspekte in dieses neue Visualisierungsformat übertragen. Diese Übertragung erfordert häufig auch das Ergänzen von weiteren Informationen (hier deren genaue zeitliche Zuordnung), da z. B. eine Stichwortliste diese meist noch nicht enthält. Somit wird für die Lernenden durch den Darstellungstransfer und gegebenenfalls das Ergänzen weiterer Informationen die Schwelle höher, ihre Ergebnisse in den Auswertungsprozess einzubringen. Bei diesem Beispiel wäre eine strukturelle Kongruenz zwischen Erarbeitung- und Auswertungsstruktur ungleich vorteilhafter: Sammelt in Form von Stichwor-
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ten euer bisheriges Wissen über den Zweiten Weltkrieg, und ordnet es entlang eines Zeitstrahls von 1930 bis 1950! Zusammengefasst liegen die Vorteile einer kongruenten visualisierten Struktur in Arbeits- und Auswertungsphase vor allem in den folgenden Bereichen: 1. Die Lernenden müssen sich im Übergang zur Auswertung nicht in eine abweichende Auswertungsstruktur eindenken. 2. Die kongruente Struktur bietet ihnen eine leichtgängige Zuordnung ihrer Ergebnisse in den gemeinsam zu verhandelnden Ergebnishorizont, sodass die Schwelle für eine aktive Teilhabe niedrig ist. 3. Ein Verständnis für die Beiträge von MitschülerInnen fällt durch deren Einordnung in die bekannte Struktur leichter und fördert damit SchülerIn-SchülerIn-Interaktionen im Sinne des intendierten Aushandelns von Ergebnissen.
4. Was wird wie visualisiert? Kommen wir noch einmal auf unsere Alltagsbeispiele: Unsere Wahrnehmung und unser (kognitives) Handeln werden durch bestimmte Prinzipien gesteuert, die Sie sich für die Planung Ihrer unterrichtlichen Visualisierungen zunutze machen können. Es gilt, unter Verwendung von möglichst wenig Text und unter Einsatz von Farben, Formen, Zeichen und Symbolen eine überschaubare Informationsdichte zur Vermeidung von Reizüberflutung zu gestalten. Hierbei muss auf gängige Konventionen sowie überindividuelle Deutungsmuster zurückgegriffen werden. Eine Hilfestellung bei den Überlegungen, wie die Visualisierung eines Sachverhalts (welcher Natur dieser im jeweiligen Unterrichtsfach auch sei) eine überindividuelle Repräsentanz und damit eindeutige Sinnzuweisungen erreichen kann, gibt uns die Gestaltpsychologie mit den sogenannten Gesetzen der Gestaltung bzw. der Wahrnehmung (vgl. Zimbardo/Gerring 2003). Zwar sind nicht alle dieser Gesetze im unterrichtlichen Kontext von Relevanz, doch ist Folgendes zu bedenken: ȤȤ Elemente oder Teilaspekte, die miteinander in Beziehung gesetzt werden sollen, müssen nah gruppiert und ähnlich sowie gegebenenfalls mit parallelen Bewegungsrichtungen dargestellt werden. ȤȤ Soll ein Inhalt, ein Sachverhalt, eine Struktur oder ein Zusammenhang eindeutig identifiziert werden, sodass eine Sinnzuschreibung erfolgen kann, muss eine gewisse Knappheit der Darstellung gewährleistet sein. Hier geht es aber nicht um Vereinfachungen, sondern um Elementarisierungen einer Gesamtaussage im Sinne der Prägnanz bzw. guten Gestalt: So steht etwa das Herz als Piktogramm unzweideutig für Liebe. Es sind gleichermaßen Rück-
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griffe auf Konventionen denkbar wie auch gruppeninterne Vereinbarungen, die das Alter, das Vorwissen und den Lernstand der Lernenden berücksichtigen müssen. Neben diesen psychologischen Aspekten ist bei der Visualisierung auf der formal-ästhetischen Ebene zu berücksichtigen, dass symmetrische Anordnungen (z. B. Oppositionen bzw. Kontrastierungen) die Reizaufnahme und -verarbeitung erleichtern und dass unsere Lesegewohnheiten eine Bewegung von links nach rechts oder aber von oben nach unten erfordern, sodass die gedankliche Logik der Inhalte dieser Raumaufteilung folgen sollte. Die graphische Anordnung der Teilinformationen bzw. -aussagen ist demnach planerisch gut zu überlegen. Wie auch Überschriften und Quellenangaben nicht zu vergessen sind. Auch durch den Einsatz von Schrift und Farbe kann für Struktur, Orientierung und Aufmerksamkeitssteuerung gesorgt werden, wobei wohl kaum erwähnt werden muss, dass eine lesbare Schrift, eine angemessene Schriftgröße oder das Anlegen eines Lineals bei bestimmten Darstellungsformen für die Dekodierung ebenso unerlässlich sind wie die Eindeutigkeit der gewählten Zeichen und Symbole. Nichts ist enttäuschender als ein von SchülerInnen liebevoll gestaltetes Plakat, das vorn an der Tafel aufgehängt wird und bei dem die Stichpunkte für die MitschülerInnen nicht lesbar sind! Bei der Farbwahl ist nicht nur an den Aspekt der Lesbarkeit zu denken, sondern auch an die Symbolbedeutung, die den Farben zukommt, z. B. dass Gelb mit Licht und Wärme assoziiert wird. Beim Visualisieren können Sie verschiedenste Inszenierungsformen nutzen, um die Aufmerksamkeit zu steuern und das Lernen zu befördern: Beispielsweise können Sie an der Tafel prozessbegleitend collageartig arbeiten, indem Sie Bildelemente aus Pappe mit Schrift kombinieren oder Plakate nebeneinander hängen und diese in eine schriftliche Bündelung überführen. Einen Sachgegenstand hingegen könnten Sie am OHP oder Whiteboard schrittweise entstehen lassen bzw. einführen, indem Sie ihn im Overlay-Verfahren oder durch sukzessives Ab- bzw. Aufdecken präsentieren. Bedenken Sie auch die grundlegenden Bildhaftigkeiten, die uns zur Verfügung stehen. Einige Beispiele: •• Himmel-Erde-Opposition: inszeniert Inhalte des Erdkunde- oder Religionsunterrichts und schafft dabei Ordnung •• Boot: Gemeinschaft oder gemeinsames Schicksal; Ruderboot: eine gemeinsam zu leistende Aufgabe •• Baum: sich entwickelnde oder wachsende Strukturen •• Haus: Systematik in einem System, das Parallelen und Hierarchien aufweist
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•• Weg: Veranschaulichung einer Einwicklung, Struktur eines geplanten Vorhabens ȤȤ Nicht zuletzt sollten Sie bedenken, dass derjenige, der visualisiert, die Aufmerksamkeit zusätzlich über seine Person steuert, indem er auf die Teilaspekte zeigt, sie betont, strukturierend nachzeichnet oder aber gemeinsam mit den anderen einen Schritt zurücktritt und das Dargestellte nachdenklich reflektiert. Je nach Fach, das Sie unterrichten, kommen bestimmte Visualisierungsformate zum Einsatz. Im Dienste des kumulativen Aufbaus eines gemeinsamen Visualisierungsrepertoires, auf das sich die SchülerInnen verlassen und das sie eindeutig entschlüsseln können, ist es hilfreich, Grundformen der Visualisierung in den unterschiedlichen Fächern einheitlich zu verwenden: Dann kann z. B. ein Tortendiagramm im Fach Deutsch die Charaktereigenschaften einer literarischen Figur abbilden, in Erdkunde prozentuale Verteilungen von Ressourcen veranschaulichen und in Physik den Energieverbrauch verschiedener Fortbewegungsarten aufschlüsseln – und dabei immer auf die Unterteilung eines Ganzen verweisen. Um Visualisierungsentscheidungen zielgerichtet und lernpsychologisch effektiv treffen zu können, sollten Sie sich bewusst werden, welche Formate in Ihrem Fachunterricht regelmäßig zur Anwendung kommen. Arbeiten Sie mit Textbausteinen, Begriffen, Definitionen bzw. Regeln? Kann Ihr Fach Zusammenhänge mit Bildern, Karikaturen oder Zeichnungen vermitteln? Finden Formeln, Zeichen und Symbole häufige Verwendung in der Visualisierung des zu Erlernenden? Können Sie Piktogramme zur Veranschaulichung nutzen? Kommen Schaubilder zum Einsatz? In Bezug auf die Art der Darstellung ist zu überlegen, welche Formen den Unterrichtsgegenständen in Ihrem Fach entsprechen und ob Sie möglicherweise von fachfremden Darstellungsformen profitieren können. Die Vielfalt möglicher Strukturogramme (Organigramm, Beziehungsdiagramm, Flussdiagramm, Kurvendiagramm, Kreis-/Torten-/Kuchendiagramm, Säulen-/Balkendiagramm) ist ebenso auf ihr Potenzial zur Visualisierung des Lerngegenstandes zu reflektieren wie die Allrounder Tabelle und Zeitleiste/-strahl. Modernere Darstellungsformen bieten z. B. Placemat, Mindmap (kognitive Landkarte), Concept Map und Metaplan. Auf organisatorischer Ebene ist dann zu überlegen, welche Visualisierungsmedien zur Verfügung stehen, wie gut Sie persönlich diese beherrschen und entsprechend nutzen können und ob räumliche Gegebenheiten die Wahl möglicherweise begrenzen (vgl. → 17 Mit neuen Medien arbeiten).
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Nehmen Sie eines Ihrer bereits verwendeten Arbeitsblätter, Tafelbilder oder Arbeitstransparente zur Hand und überprüfen Sie, inwiefern es dem entspricht, was Sie über das Visualisieren erfahren haben bzw. wo Optimierungsmöglichkeiten bestehen. Es könnte auch interessant sein, sich ein Tafelbild aus einem Unterrichtsmaterial, einer Lehrerhandreichung vorzunehmen und dies auf Herz und Nieren zu prüfen. Beachten Sie auch die Tipps vom Profi!
5. Wer visualisiert? Die Frage, wer die Visualisierungen im Unterricht vornimmt, ragt weit in die Durchführungsplanung einer Unterrichtsstunde hinein und umfasst zwei zentrale Herausforderungen: 1) Visualisierungen so anlegen, dass sie Freiräume für lernerseitige Denkbewegungen offerieren. Hierzu bieten sich beispielsweise die in der Fundgrube vorgestellten Lernlandschaften an, die einen visuellen Rahmen vorgeben, der dann von den SchülerInnen ausgefüllt bzw. weiterentwickelt werden kann. Dieses Ineinandergreifen lehrerseitigen Steuerns und lernerseitiger Kognitionen im Sinne einer Lehrer-Schüler-Ko-Konstruktion (Clement 2008) wird in Visualisierungen besonders sichtbar. Ein häufig lohnenswerter Ansatz ist die Tafelbildentwicklung entlang einer lehrerseitig vorgegebenen Makrostruktur, die sukzessive durch SchülerInnenbeiträge mit Inhalt gefüllt wird und aufgrund ihrer Logik eine spezifische Auswertungsperspektive ermöglicht; diese Strategie wird in Abb. 11 beispielhaft aufgezeigt.
Abb. 11: Exemplarisches Tafelbild, das auf einer inhaltsbezogenen und abstraktionsbezogenen Strukturierung basiert und eine prozessorientierte Schrittigkeit mit wechselnden Zuständigkeiten von Lehrkraft und/oder Lernenden aufzeigt.
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Schrittweise Genese des Tafelbildes 1. Lehrkraft notiert Stundenthema als Orientierung an der Tafel. 2. Lehrkraft positioniert Teilüberschriften als inhaltliche Strukturierung der Tafel; SchülerInnen notieren ihre Textbefunde gemäß arbeitsteiliger Hausaufgabe. 3. Lehrkraft evoziert durch Einzeichnen des Pfeils Überlegungen zu möglichen veränderungswirksamen Aspekten oder Ereignissen; darauf folgt gemeinsame Problematisierung, die durch ein Fragezeichen am Pfeil visualisiert wird. 4. Nach einer dezentralen Erarbeitung werden textanalytische Befunde ausgetauscht, begrifflich geschärft und an der Tafel notiert. 5. Lehrkraft steuert auf begriffliche Abstraktion, die diskutiert und ausgehandelt wird, um sie dann an der Tafel zu ergänzen. Wichtig: Trauen Sie ihren SchülerInnen zu, auch selbst zu visualisieren: ȤȤ Geben Sie ihnen Übungsgelegenheiten durch das Entwerfen von Plakaten, Folien für den Overheadprojektor u. Ä. Regen Sie Ihre SchülerInnen zum Beispiel dazu an, ihre Ergebnisse durch Schaubilder zu visualisieren. ȤȤ Geben Sie ihnen anfänglich Hilfestellungen durch eine Auswahl an Visualisierungsmöglichkeiten, wie Sie sie oben finden. ȤȤ Sie werden staunen, wie viel Kreativität dies in den SchülerInnen freisetzt und wie es die Aufmerksamkeit für die Lerninhalte erhöht! 2) Visualisierungen in der Planung anlegen, aber in der Durchführung flexibel handhaben: Wesentlich für alle Lernprozessplanungen ist die flexible Umsetzung im Hinblick auf die lernerseitigen Denkbewegungen. Dies gilt in besonderer Weise für prozessbegleitende Visualisierungen, da auch diese an die Überlegungen der Lernenden angepasst werden müssen. So kann es leicht passieren, dass eine geplante Inhaltsstruktur wie in Abb. 11 von den Lernenden durchbrochen wird, indem diese vielleicht eine weiterführende Entwicklungsphase mit in die Überlegungen einbeziehen wollen. Hierbei ist es von großer Bedeutung, dass sich diese Vorschläge der Lernenden, sofern sie sich im Aushandlungsprozess des Unterrichtsgespräches als relevant erwiesen haben, auch in die Visualisierungsstruktur mit aufgenommen werden. Eine solche Neustrukturierung oder auch nur Erweiterung des zuvor geplanten Tafelbildes fällt meist schwerer als eine nicht geplante Ausweitung des Unterrichtsgesprächs, ist für die SchülerInnen aber auch ein umso deutlicheres Signal für die ernsthafte Öffnung des Unterrichts. Und auch hier gilt wie für viele andere Aspekte des Unterricht: Je differenzierter die Vorbereitungsüberlegungen, umso höher die Flexibilität im Umgang mit nicht geplanten Lernverläufen, da diese dann durch ein krisenfesteres Inhalts- und Prozessverständnis problemlos eingeordnet werden können.
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Planen Sie eine prozessbegleitende Visualisierung und probieren Sie diese in Form einer Trockenübung ohne die Lernenden in einem Ihrer Klassenräume aus. Wo wird es eng oder problematisch? Fotografieren Sie das Ergebnis und reflektieren Sie es nach Durchführung des zugehörigen Unterrichts mit der dort entstandenen Umsetzung.
6. Womit wird visualisiert? Im Laufe der bisherigen Überlegungen zu visuell gestalteten Lernangeboten spielten bereits hin und wieder die Medien eine Rolle, über die diese Visualisierungen verfügbar gemacht werden. Hierin verbirgt sich eine oft ungenau genutzte Unterscheidung, die sich mit der Kontrastierung der Begriffe ›Materialien‹, ›Repräsentationen‹ oder ›Darstellungsarten‹ einerseits und dem Begriff ›Medium‹ andererseits andeutet. Den Kern dieser Unterscheidung bilden die Überlegungen, wie bestimmte Informationen dargestellt werden (Gestaltung der externen Repräsentationen in Form von Texten, Bildern, Diagrammen usw. – diese Ebene wird im Kontext von Unterricht auch häufig als ›Materialauswahl‹ bezeichnet) und wie dann diese Darstellungen verfügbar gemacht werden (Medien wie Beamer, Arbeitsblatt etc.). Auch wenn eine bestimmte Materialauswahl die möglichen Wege des medialen Verfügbarmachens bereits weitgehend einschränkt, sind diese beiden Entscheidungsebenen doch deutlich voneinander zu trennen, da sie sehr unterschiedliche Ebenen des unterrichtlichen Planens betreffen. Während die Materialauswahl zu den didaktischen Überlegungen gehört, sind Überlegungen zu deren medialer Aufbereitung methodischer Natur und damit auch eng in Verbindung mit den geplanten sozialen Arrangements zu reflektieren. Neben den Überlegungen zur zugänglichen und bedeutungsvollen Gestaltung von Materialien durch Visualisierungen ist es daher sinnvoll, die generellen Potenziale ausgewählter Unterrichtsmedien wie Tafel, Overhead-Projektion, Beamer-Projektion und ActivBoard-Einsatz genauer unter die Lupe zu nehmen, denn für den gelingenden Einsatz visuell gestalteter Lernangebote ist die geeignete Auswahl des Mediums entscheidend. So kennen wir alle die Situation, dass ein Tafelanschrieb bereits zehn Minuten vor Stundenende die gesamte Fläche einnimmt, obwohl die entscheidenden Elemente noch ergänzt werden müssten; oder dass die Notizen auf einer OHP-Folie durch weitere Überlegungen im Auswertungsgespräch eine neue Anordnung erfordern, diese aber nur durch mühsames Wegwischen und erneutes Notieren und Visualisieren realisiert werden können. Hierin spiegelt sich ein wesentliches Kriterium für die Beurteilung von Medien wider: ihre Flexibilität, die vor allem im prozessbegleitenden Ein-
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satz zum Tragen kommt (Abb. 12). So können zwar am OHP durch eine zweite Folie im Gegensatz zur Tafel weitere Elemente ohne Probleme ergänzt, aber auch hier nur bedingt die vorhandenen Visualisierungen modifiziert werden. Eine noch geringere Flexibilität bietet eine Projektion über Beamer, da hier die Steuerung über einen Rechner erfolgt, sodass je nach Programm (z. B. PowerPoint für Präsentationen, Quicktime für Filmvorführungen u.v.m.) meist nur geringe Möglichkeiten des flexiblen Steuerns bestehen; diese Flexibilität erhöht sich allerdings in Kombination mit einer Dokumentenkamera. Grundsätzlich bietet ein Beamer auf jeden Fall eine sehr hohe Bildqualität, was für das Zeigen von Filmsequenzen, Darstellungen bildender Kunst oder Mikroskop-Aufnahmen ein wichtiges Qualitätsmerkmal darstellt. Qualität der Visualisierung Kriterium
Flexibilität/Interaktivität
Farbigkeit
Auflösung
für Lehrer
für Schüler
Tafel
mittel
gering
mittel
mittel
OPH-Folie
mittel
mittel
mittel/hoch
mittel/hoch
Beamer
hoch
hoch
gering
gering
ActivBoard
hoch
hoch
hoch
hoch
Medium
Abb. 12: Bewertung verschiedener Medien bezüglich ihres Potenzials in Bezug auf Visualisierungsqualität sowie Flexibilität bzw. Interaktivität
Abb. 13 verdeutlicht, dass insbesondere ActivBoards bezüglich der ausgewählten Kriterien ein hohes Potenzial haben (alternativ präferieren manche auch die Kombination Tablet/Beamer), wobei nicht unerwähnt bleiben soll, dass sowohl die Einarbeitung in die entsprechende Hard- und Software als auch die Gewöhnung an die Nutzung der interaktiven Oberfläche mit Stift und Finger durchaus zeitaufwendig ist. Ergänzend zu dem prozessbegleitenden Tafelbild-Beispiel (Abb. 6) wird in Abb. 8 das besondere Potenzial dieses Mediums exemplarisch konkretisiert. Und nun haben Sie die Wahl: Was soll künftig wann, von wem und mit welchen Medium in Ihrem Unterricht visualisiert werden? Das Potenzial ist aufgezeigt, doch die jeweilige Umsetzung ist immer neu zu entscheiden: Für den Gegenstand, für den Zeitpunkt, für die jeweilige Lerngruppe und letztlich für Sie selbst. Versprochen sei, wenn Sie die Grundidee, die Wirkungsweisen sowie die unterschiedlichen Funktionen für sich geklärt und unterrichtlich ausprobiert haben, werden Sie auch spontan im Rückgriff auf ein Stück Kreide das Potenzial, das dem Visualisieren innewohnt, situativ nutzbar machen können.
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1. Schritt: Präsentation des mikroskopischen Bildes, das von den Lernenden beschrieben wird
2. Schritt: Lernende markieren relevante Strukturen durch Umrisslinien
3. Schritt: Lernende ordnen verschiebbare Pfeile mit Fachbegriffen den passenden Strukturen zu
4. Schritt: Foto wird im Hintergrund gelöscht, sodass eine beschriftete Schemazeichnung bleibt, die die Lernenden als Zeichnung übernehmen können. Abb. 13: Vom Original zum Modell: transparent-prozessorientierte Erschließung eines mikroskopischen Bildes am ActivBoard
Mariella, 11 Jahre, Klasse 5
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Bingel, Claudia: Visualisieren. Freiburg i.B. 22012 Bruner, Jerome S./Oliver, R. S./Greenfield, P. M. (1971): Studien zur kognitiven Entwicklung. Stuttgart 1971 Clement, John J.: Student/teacher co-construction of visualizable models in large group discussion. In: Clement, John J./Rea-Ramirez, Mary-Anne (Hg.): Model based learning and instruction in science. Dordrecht 2008, 11–22 Giere, Ronald: Models as parts of distributed cognitive systems. In: Magnani, Lorenzo/Nersessian, Nancy (Hg.): Model based reasoning: Science, technology, values. Dordrecht 2002, 227–241 Gyselinck, Valerie/Tardieu, Hubert: The role of illustrations in text comprehension: What, when, for whom, why? In: Van Oostendorp, Herre/Goldman, Susan R. (Hg.): The construction of mental representations during reading. Mahwah NJ 1999, 195–218 Haussmann, Martin: UZMO – Denken mit dem Stift. Visuell präsentieren, dokumentieren und erkunden. München 2014 Haussmann, Martin: Bikablo 2.0: Neue Bilder für Meeting, Training & Learning. Eichenzell 2009 Schnotz, Wolfgang/Kürschner, Christian: External and internal representations in the acquisition and use of knowledge: visualization effects on mental model construction. Instructional Science 36/2008, 175–190 Seibold, Brigitte: Visualisieren leicht gemacht: Talentfrei Zeichnen lernen und professionelle Flipcharts erstellen. Offenbach a. R. 52012 Stangl, Werner: Visualisieren. 2016. URL: http://lexikon.stangl.eu/5315/visualisierung/ (zuletzt abgerufen am 18. 05. 2016) Zimbardo, Philip/Gerring, Richard: Psychologie. Berlin/Heidelberg/New York 72003
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Unterrichtsgespräche führen
Carolin Schaper
Das Führen von Gesprächen gilt als eine zentrale, nicht einfach zu erwerbende und selbst von erfahrenen LehrerInnen immer weiterzuentwickelnde Kompetenz. In diesem Kapitel gewinnen Sie einen Überblick über die verschiedenen Formen und Funktionen des Mediums ›Unterrichtsgespräch‹, erhalten methodische Anregungen zur Gestaltung von Gesprächen und werden für die Wirkung Ihrer eigenen Lehrersprache sensibilisiert.
1. Begriffsklärung Unterrichtsgespräch ›Unterrichtsgespräch‹ ist ein Sammelbegriff für unterschiedlichste Formen von Diskursen und Kommunikationsprozessen, deren Gelingen wiederum an ebenso unterschiedliche Rahmenbedingungen geknüpft ist. Diese unterscheiden sich stark nach der Intention des jeweiligen Gespräches sowie dem Grad der Öffentlichkeit, der Ritualisierung, der Anzahl der Beteiligten, der methodischen Form und der Gesprächssteuerung. Letztere kann vonseiten der Lehrkraft in einem Spektrum von offen bis eng gesteuert erfolgen. Gemeinsam ist allen Unterrichtsgesprächen, an denen SchülerInnen und LehrerInnen beteiligt sind, die asymmetrische Beziehungskonstellation sowie das Fehlen von Freiwilligkeit. Gute Unterrichtsgespräche zu führen gilt als eine der anspruchsvollsten Aufgaben jeder Lehrerin und jeden Lehrers. Wenn eine Lerngruppe in der Lage ist, sich in einem Gespräch selbstständig, kompetent und ernsthaft aufeinander zu beziehen und eine Sache voranzutreiben, begeistert das jeden Außenstehenden und oft auch die SchülerInnen selbst. Wie kann man als Lehrkraft lernen, gute Unterrichtsgespräche zu führen, und wie können Lerngruppen diese Kompetenz erwerben? Wir beginnen mit einem Überblick über die unterschiedlichen Gesprächsformen, die in einer Unterrichtsstunde auftreten können: ȤȤ die ersten Sätze der wechselseitigen Begrüßung im Klassenraum, ȤȤ die Aufforderung der Lehrkraft, die Gespräche untereinander einzustellen,
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ȤȤ das Formulieren eines konkreten Arbeitsauftrags für eine Arbeitsphase durch die Lehrkraft, ȤȤ die korrigierende oder lobende Kommentierung von Schülerbeiträgen durch die Lehrkraft, ȤȤ die Diskussion zwischen den SchülerInnen, ȤȤ den Lehrervortrag oder die Erklärung. Schon in dieser nicht vollständigen Aufzählung wird die besondere Gestalt dieser Gesprächsform deutlich: Das Unterrichtsgespräch ist ein Grundelement von Unterricht, dass in jeder Stunde zum einen den Lernprozess begleitet, zum anderen sachbezogene Informationen liefert und drittens die Beziehung zwischen SchülerInnen und Lehrkraft sowie zwischen Schülerinnen und Schülern untereinander maßgeblich gestaltet. Der ›Motor‹ des Unterrichtsgesprächs ist dabei die Lehrkraft, in deren Interesse es liegen kann, dass auch SchülerInnen partiell zu ›Motoren‹ werden. Weil das Unterrichtsgespräch in seiner Form häufig so undefiniert, aber zugleich allgegenwärtig die Unterrichtsstunden durchzieht, hat Hilbert Meyer es auf seiner didaktischen Landkarte einprägsam als Qualle mit alles umschlingenden Tentakeln gezeichnet (http://www.member. uni-oldenburg.de/hilbert.meyer/download/Didaktische_Landkarte.pdf; vgl. auch Meyer 2003). In den folgenden Abschnitten werden unterschiedliche Aspekte der Kompetenz Unterrichtsgespräch angesprochen, mit denen sich eine Auseinandersetzung als angehende Lehrerin oder angehender Lehrer lohnt.
2. Gestaltung der Lehrersprache – Arbeit an der eigenen Haltung In Ihrer Sprache drücken Sie Ihre Haltung gegenüber Ihren SchülerInnen, Ihr eigenes Selbstverständnis sowie Ihre Befürchtungen und Erwartungen aus. Dies geschieht häufig unwillkürlich, ohne dass Sie sich dessen sofort bewusst sind. Eine Lehrerin, die ihre SchülerInnen mit »Meine Lieben« anspricht, drückt damit zum einen ihre Vorstellung und ihren Wunsch einer Beziehung zu ihren SchülerInnen aus, legt diese damit aber zugleich auf ein bestimmtes Bild fest, dem vielleicht gar nicht alle der so Angesprochenen in ihrem Selbstverständnis zustimmen würden. Der Lehrer, der seine SchülerInnen nicht mit Namen anspricht, sondern mit »Du da!« drückt damit zugleich sein Desinteresse oder seine Hilflosigkeit aus. Welche Botschaft vermittelt eine Lehrkraft, die die grundfalsche Antwort eines Schülers mit »Na, bravo!« kommentiert? SchülerInnen wissen humor-
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Carolin Schaper, Unterrichtsgespräche führen
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volle Lehrerbeiträge durchaus zu schätzen, auch selbstironische Anmerkungen werden oft gut aufgenommen – Ironie auf Kosten Einzelner dagegen verunsichert oder verletzt SchülerInnen häufig. Die gilt umso stärker, je jünger sie sind. Die häufig verwendete Aufforderung »Ich möchte jetzt, dass ihr …« ist zwar authentisch im Sinne einer Ich-Botschaft, signalisiert dabei jedoch zugleich ein Verständnis von Unterricht, in dem die Lehrkraft als Bestimmende die einzelnen Schritte vorgibt, die die SchülerInnen zu befolgen haben. Die Variante »Lasst uns versuchen, diese Frage zu klären, indem ihr …« stellt dagegen Lehrkraft und Lerngruppe in einen gemeinsamen Prozess und betont ein gemeinsames Sachinteresse. Die meisten dieser eben genannten Beispiele sind nicht im pädagogischen Sinne ›schlimm‹ – immer kommt es auf die Gesamtsituation und die grundsätzliche Beziehung zwischen SchülerInnen und LehrerIn an, wie eine Äußerung verstanden wird. Aber SchülerInnen sind durchaus sensibel für die Art und Weise, wie sie angesprochen werden, und ›lesen‹ ihre LehrerInnen häufig genauer, als diese es wahrnehmen. In der Prüfungsverordnung des Landes Niedersachsen (2010) steht als eine der Forderungen an zukünftige Lehrkräfte im Kompetenzbereich Personale Kompetenzen (5.1.3): »Sie (die Lehrer im Vorbereitungsdienst) pflegen einen von gegenseitigem Respekt und Wertschätzung geprägten Umgang mit allen an der Schule Beteiligten.« Hier wird über die sprachliche Ebene hinaus eine Grundhaltung angesprochen, die Sie als angehende Lehrkraft unbedingt mitbringen sollten. Im Umkehrschluss: Wenn es Ihnen schwer fällt, andere Menschen grundsätzlich und unabhängig davon, ob sie Ihnen sympathisch oder unsympathisch sind, wertzuschätzen und als Person zu respektieren, sollten Sie überlegen, ob der Lehrberuf für Sie wirklich der richtige ist. Dies kann und wird Ihnen in der Regel niemand von außen sagen können – es ist aber sehr sinnvoll, Ihre Haltung in einer kritischen und offenen Auseinandersetzung mit sich selbst zu klären. Klären Sie Ihre eigene Einstellung gegenüber SchülerInnen allgemein oder bestimmten SchülerInnen einer Klasse: Wie sehen Sie diese? Wer wollen Sie für diese sein? Wie persönlich oder wie sachlich soll die Beziehung gestaltet werden? Welches Modell wollen Sie SchülerInnen mit Ihrem Sprachverhalten geben? Verfassen Sie einen Brief an sich selbst, in dem Sie Ihre persönlichen Vorstellungen notieren. Sie können diesen einer Person Ihres Vertrauens zum Lesen geben oder ihn einfach ein Jahr liegenlassen und dann die Frage erneut aufnehmen. Beobachten Sie im Rahmen von Hospitationen bewusst die Wechselwirkung zwischen der Sprachebene einer Lehrkraft und dem Schülerverhalten. Notieren Sie
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sich Anreden, Aufforderungen, Begrüßungen, die Sie überzeugen, zur Erweiterung Ihres eigenen Repertoires. Wenn Sie es nicht kennen: Informieren Sie sich über das »Vier-Ohren-Modell« Schulz von Thuns sowie über die Pragmatischen Axiome von Paul Watzlawick. Lassen Sie sich Rückmeldungen zu Ihrer (Lehrer-)Sprache von kritischen Freunden geben.
3. Funktionen von Unterrichtsgesprächen im Verlauf einer Stunde Eine wichtige Vorüberlegung, bevor Sie sich für eine bestimmte Form von Unterrichtsgespräch entscheiden, sollte dessen didaktischer Funktion gelten: Wozu wollen Sie z. B. in der Einstiegsphase der Stunde ein Gespräch führen? Selbst Begrüßung und die Klärung organisatorischer Fragen ganz zu Beginn der Stunden können schon eine Reihe unterschiedlicher Funktionen erfüllen, wie Kontaktaufnahme, Einstimmung auf die in dieser Stunde gesprochene Sprache, Disziplinierung und Aufmerksamkeitsbündelung. Mit der genauen Planung der Funktion von Unterrichtsgesprächen in einzelnen Phasen vermeiden Sie das durchgehende gleichförmige eigene Sprechen, das alle Schülerbeiträge und Aktivitäten umschlingt und zu einem überproportional hohen Sprechanteil der Lehrkraft (vgl. das Bild der Qualle!) sowie zugleich häufig zu einem passiven Rückzug der SchülerInnen führt. Die folgende Tabelle gibt Ihnen einen Einblick, in welchen Phasen einer Stunde das Gespräch regelmäßig »ausgeplant« werden muss: Phase
Funktionen
Hinweise
Einstiegs gespräch
SchülerInnen entwickeln erste Ideen, werden neugierig, sprechen sich warm, erkennen ein Thema oder ein Problem, konstruieren erste Deutungen, drücken subjektive Wahrnehmungen aus, … Ziel ist eine erste Verbindung der SchülerInnen mit der Sache.
Hier sagt die Lehrkraft wenig, hört aber gut zu, wo die Interessen, Verständnisschwierigkeiten oder Gedanken der SchülerInnen liegen. Sie ermutigt, dies auszudrücken und kann durch verstärkende Rückmeldungen einen Akzent setzen, wenn ein Beitrag besondere Qualität hat oder weiterverfolgt werden soll. Geklärt werden nur grundlegende Verständnis- oder Rezeptionsprobleme, die einer gedanklichen Weiterführung den Weg verstellen würden. Unterstützende Methoden: Redekette, Brainstorming, Stummer Impuls, Kugellager
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Carolin Schaper, Unterrichtsgespräche führen
Phase
Funktionen
Hinweise
Problematisierungsgespräch
Zielorientierung und Transparenz über das Arbeitsvorhaben der Stunde oder zumindest die nächste Erarbeitungsphase werden von der Lehrkraft hergestellt. Dazu kann sie die Schülerbeiträge zusammenfassen, akzentuieren und Aspekte einbringen, die für den Lernprozess wichtig sind. Ziel ist das Herstellen eines gemeinsamen Startplateaus für alle SchülerInnen.
Je genauer die vorangegangene Antizipation der Schülerreaktionen, desto näher liegen Thema/Frage der Stunde und Schüleräußerungen zusammen.
Sicherung richtiger Ergebnisse: Hierzu müssen die Ergebnisse von den SchülerInnen benannt, korrigiert und ergänzt, eingeordnet und eventuell in ein Verhältnis zueinander gesetzt werden.
Wichtigste Voraussetzung ist, dass die Lehrkraft einen guten Überblick über die erwarteten Aspekte hat und nachfragen oder ergänzen kann, wenn Ergebnisse unvollständig sind. Es empfiehlt sich eine chronologische oder thematisch akzentuierte Vorgehensweise, die gute Orientierung zulässt.
Auswertungsgespräch nach einer Erarbeitungsphase der SchülerInnen
Auf der Beziehungsebene sind die Würdigung der Ergebnisse und die Ermutigung der SchülerInnen wichtige Funktionen dieser Phase.
Unterstützende Methoden: Zusammenfassung des Gesagten durch Lehrkraft oder SchülerInnen, Überschrift oder Fragestellung an der Tafel notieren, erste Deutungen oder Hypothesen notieren
Unterstützende Methoden: Präsentationen mit festem Nachfrageritual, abschnittweises Vorgehen, Plateaubildung, Rückbindung an den Text oder das Material, Fragen – Rückmeldungen – Impulse Vertiefendes Unterrichts gespräch
Hier werden die erarbeiteten und gesicherten Ergebnisse weitergeführt. Möglichkeiten der Vertiefung: genauere Klärung eines einzelnen inhaltlichen Zusammenhanges, Vertiefung durch Rückbezug auf die Hypothesen oder die Fragestellung, Übertragung (Transfer) auf ein anderes Feld (Alltagserfahrung, bekannter Zusammenhang etc.), persönliche Bewertung oder Stellungnahme, Vernetzung mit weiteren fachlichen Zusammenhängen, Ausblick, Generalisierung, Methodenreflexion
Diese Phase sollte in der Regel durch die Lehrkraft moderiert werden: Ihre Rückmeldungen und Impulse, ihre fachlichen Präzisierungen, Hinweise oder Zusatzinformationen sind hier besonders wichtig. Sie muss ebenfalls abschätzen, wie gut die Mehrzahl der SchülerInnen der Weiterführung folgen kann und gegebenenfalls retardierende Momente initiieren.
Abb. 1: Phasen des Stundenverlaufs
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Probieren Sie die Anregung für ein Unterrichtsgespräch nach Unruh/Petersen 2011 aus. Diese Art des Gesprächs sollten Sie als Basisfertigkeit beherrschen – sie deckt nicht alle benötigten Gesprächskompetenzen ab, trainiert aber das Zuhören, Zusammenfassen, das positiv verstärkende Rückmelden und die Selbstdisziplin. Analysieren Sie beim Hospitieren: Welche Funktion hat das gerade laufende Gespräch für die Stunde? Ist es das Mittel der Wahl oder wäre eine materialgebundene Erarbeitungsphase für die Schülerinnen und Schüler sinnvoller? Für Fortgeschrittene: Stellen Sie sich vor, Sie wären heiser und hätten keine Stimme mehr. Planen Sie eine Stunde, die ohne Gesprächsbeiträge der Lehrkraft auskommt. Reflektieren Sie Ihre Planung: Was verändert sich?
4. Methodische Unterscheidungen von Gesprächsformen Neben der Unterscheidung in didaktische Funktionen (also der Frage, wozu ein Unterrichtsgespräch in einer bestimmten Phase der Stunde erfolgen soll) lassen sich Unterrichtsgespräche auch methodisch klassifizieren. Weil die Kommunikation zwischen den an Unterricht Beteiligten ein dynamisches und sich spontan weiterentwickelndes Beziehungsgeschehen ist, verläuft die Unterscheidung der einzelnen Gesprächsformen dabei nicht immer völlig trennscharf. So reagiert z. B. eine Lehrkraft beim Stellen eines Arbeitsauftrags auf den fragenden Blick eines Schülers und es entsteht ein Dialog zwischen den beiden (oder auch weiteren SchülerInnen) über die zugrundeliegende Fragestellung. Grundsätzlich kann man unterscheiden zwischen dem den Lernprozess begleitenden Lehrer-Schüler-Gespräch, das sich in den einzelnen Phasen je nach didaktischer Funktion formal in einem breiten Spektrum von sparsamer Moderation bis zur direkten Instruktion zeigen kann (s. Abb. 2). Gesprächsphasen dieser Art sollten von BerufsanfängerInnen gründlich geplant und antizipiert werden: ȤȤ Notieren Sie wichtige Fragen, Impulse oder Informationen und überlegen Sie, was diese bei Ihren SchülerInnen an Denkmustern und konkreten Reaktionen auslösen können. ȤȤ Halten Sie Erklärungen für Fachbegriffe oder hilfreiche Hinweise für vermutlich schwer zu erfassende Zusammenhänge oder Erinnerungen an bereits bekannte Strukturen oder Inhalte bereit. ȤȤ Überlegen Sie sich als BerufsanfängerIn unbedingt eine passende Schrittigkeit Ihrer Impulse und Fragen (z. B. chronologisch, vom Detail zum Gan-
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zen oder umgekehrt, den strukturell angelegten Aspekten der Sache folgend etc.) und führen Sie das Gespräch entlang dieser Struktur. Mit wachsender Erfahrung werden Sie sich trauen nach einer offenen Frage: »Was habt ihr herausgefunden?« zunächst den Gedanken Ihrer SchülerInnen zu folgen und die fehlenden Aspekte durch nachsteuernde Impulse einzuholen (die Struktur der Sache ist dann bereits bei Ihnen im Hinterkopf abgelegt, und Sie können bei Bedarf jederzeit auf sie zurückgreifen). Bei zunehmender Erfahrung und Kenntnis des Vorwissens und der Einstellung Ihrer SchülerInnen werden Sie immer genauer einschätzen lernen, was Sie an Antworten zu hören bekommen, wenn Sie eine bestimmte Frage stellen oder einen Impuls setzen. Dass man selbst als gestandene Lehrkraft immer wieder überrascht wird durch die Gedanken der SchülerInnen, macht das Führen von Unterrichtsgesprächen auch dauerhaft spannend und interessant. Es lohnt sich, den jeweiligen Grad der Steuerung, des Inputs oder der gewollten eigenen Zurücknahme phasenbezogen bewusst zu planen, zu variieren und auch den SchülerInnen gegenüber im Unterricht als bewusstes Handeln transparent zu machen: So können diese zum einen den an sie gestellten Erwartungen genauer entsprechen und zugleich Einblicke in methodisch unterschiedliche Verfahren gewinnen. Von diesem Grundgesprächsmuster des Schüler-Lehrer-Gesprächs in seinen verschiedenen Ausprägungen lassen sich weitere feste Formen unterscheiden, die – wenn sie nicht bekannt sind – methodisch angeleitet und häufig auch eingeübt werden müssen: ȤȤ die Pro-Contra-Diskussion, ȤȤ die amerikanische Debatte, ȤȤ die Fish-Bowl-Diskussion, ȤȤ das Interview auf dem Positionsfeld, ȤȤ das Vier-Ecken-Gespräch, ȤȤ der heiße Stuhl, ȤȤ die Redekette, ȤȤ das Blitzlicht, ȤȤ das Brainstorming, ȤȤ das Kugellager, ȤȤ der Partneraustausch (›Murmelphase‹), ȤȤ die Präsentation von Arbeitsergebnissen, ȤȤ das Schülerreferat, ȤȤ der Lehrervortrag.
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Gönnen Sie sich ein Methodenbuch, in dem die meisten dieser Formen bereits im Inhaltverzeichnis zu finden sind, oder vergleichen Sie mehrere entsprechende Anleitungen im Internet. Es gibt noch viele weitere Gesprächsformate, die häufig mit bestimmten übergeordneten methodischen Arbeitsformen in Zusammenhang stehen (z. B. der Placemat-Austausch oder die Vorstellung von Ergebnissen im Rahmen der Marktplatzmethode), die hier jedoch nicht alle erwähnt werden können. Sie können wiederum unendlich variiert, kombiniert und den Bedürfnissen der jeweiligen Lerngruppe, des Lehrkraft und der Sache angepasst werden. Probieren Sie systematisch alle methodischen Anregungen zum Thema Unterrichtsgespräche, die Ihnen in der Literatur begegnen, aus, und legen Sie sich eine Kartei an, in der Sie Ihre Erfahrungen notieren sowie Vorzüge, Optimierungsmöglichkeiten und Einsatzgebiete hervorheben. Sammeln Sie beim Hospitieren methodische Anregungen und notieren Sie diese. Setzen Sie einzelne Gesprächsformen mehrfach ein und trainieren Sie diese mit Ihren SchülerInnen. Reflektieren Sie den Verlauf von Gesprächsformen und die gemachten Erfahrungen mit den SchülerInnen, z. B. unter dem Aspekt der Effizienz und der Motivation.
5. Fragen und Impulse als Steuerungselemente des Unterrichtsgesprächs Die Diskussion um den Unterschied zwischen Frage und Impuls und das angebliche Verbot sogenannter W-Fragen (»Was ist der Auslöser für diesen Prozess?« »Wo spielt das Drama?«) durchzieht die pädagogische Diskussion seit mehreren Jahrzehnten. Daran haben auch die im Rahmen der Kompetenzorientierung eingeführten Operatorenlisten wenig geändert. Operatoren sind hervorragend geeignet, um sich als Lehrkraft Rechenschaft über die erwarteten Denk- und Arbeitsprozesse zu geben und diese als Standard mit SchülerInnen zu trainieren, sodass beide Seiten genau wissen, was z. B. unter einer Formulierung wie »Beschreibe und deute die vorliegende Graphik!« zu verstehen und als Arbeitsleistung vorzuweisen ist. Für das Führen lebendiger Unterrichtsgespräche müssen sie allerdings häufig durch Steuerungsimpulse und gezielte Nachfragen ergänzt werden: »Was genau kann man in dem oberen Abschnitt der Graphik erkennen?« »Welche Koordinaten stechen hervor?« »Was ist auf der x-Achse aufgetragen?«.
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Carolin Schaper, Unterrichtsgespräche führen
Als Lehrkraft sollten Sie die jeweiligen fachspezifischen Operatoren kennen und regelmäßig verwenden, damit Ihre SchülerInnen im Umgang mit diesen sicher werden. Darüber hinaus müssen Sie jedoch das ganze Spektrum von weit gesetzten offenen Impulsen bis zur kleinschrittigsten Nachfrage zur Klärung eines speziellen Details beherrschen. Dabei gibt es keine Wertigkeit an sich für die offene oder die enge Frage: Beide können nur nach ihrer Funktion in einem bestimmten Schritt der Unterrichtsprozesses bewertet werden. Offene Fragen werden in der pädagogischen Diskussion häufig bevorzugt, weil man von ihnen erwartet, dass das Spektrum des Nachdenkens weiter gefasst ist und mehr SchülerInnen davon angesprochen und aktiviert werden. Aber um ein Missverständnis zu klären oder einen wichtigen Punkt zuzuspitzen, müssen Sie auch sehr klar und sehr eng fragen können: »Wie heißt die Hauptstadt Rumäniens?« Es ist wichtig, sich der Reichweite einer Frage oder eines Impulses bewusst zu sein. Die folgende Graphik, die sich in vielen Veröffentlichungen zu diesem Thema findet, ist dabei hilfreich: Lehrerfrage
Schülerantwort
Denkfeld des Schülers
Impuls
Schüleräußerungen
Abb. 2: Impulsreichweite, nach http://www.studienseminar-koblenz.de/medien/pflichtmodule_ unterlagen/2004/8/02%20Gespraechsfuehrung%20im%20Unterricht%20-%20Skript.pdf
Im Allgemeinen wird davon ausgegangen, dass der Impuls eine größere schüleraktivierende Reichweite hat als die Frage – dies wird in Abb. 2 idealtypisch dargestellt. Ob dies tatsächlich so ist, hängt allerdings stark von der jeweiligen Form der Frage oder des Impulses ab und kann deshalb auch nur einzeln und konkret betrachtet werden. So kann die Frage »Was denkt ihr darüber?« ein weites Feld des schüleraktivierenden Nachdenkens aufreißen, während der Impuls »Achtet auf die angegebene Einheit!« durchaus ein stark fokussierendes Element enthalten kann. Wichtiger als der nicht genau zufassende Unterschied zwischen Frage und Impuls erscheint daher die Kompetenz des Lehrkraft passgenaue Fragen oder Impulse zu setzen, die zwar von einem größtmöglichen offenen Denkraum ausgehen, diesen aber abgestuft begrenzen oder auch durch diesen führen können,
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wenn das Vorwissen oder der kognitive Zugang der SchülerInnen eine offenere Auseinandersetzung nicht zulassen. Im Bereich der Impulse werden der Initialimpuls und der Steuerungsimpuls unterschieden. Während ersterer z. B. zu Beginn einer Einstiegs- oder Vertiefungsphase steht (Materialimpuls, provokatives Zitat, ein gesetztes Fragezeichen hinter einer Aussage, eine fragende Mimik der Lehrkraft zu einer Abbildung oder Aussage) und eine breite ungesteuerte Beteiligung der SchülerInnen im Sinne der oben gezeigten Abbildung anbahnt, lenkt der Steuerungsimpuls auf spezifische Zusammenhänge, die z. B. weiterverfolgt, in Frage gestellt oder erweitert werden sollen: »Beachtet die Größenverhältnisse!« »Erinnert euch daran, wie der Ich-Erzähler seine Eltern zuvor bezeichnet hat!« Nicht zu unterschätzen sind im Bereich der Impulse die nonverbalen Möglichkeiten der einzelnen Lehrkraft, Denk- und Wahrnehmungsprozesse von Schülern zu steuern: Neben dem ausdauernden Abwarten oder dem beredten Schweigen nach einer Schülerantwort können auch Zwinkern, Lächeln, abwägendes Kopfschütteln oder fragendes Stirnrunzeln etc. wichtige Hinweise für SchülerInnen sein, die sie dazu veranlassen, die Denkrichtung zu verstärken oder zu verändern. Eine interessante methodische Form der Umkehrung des üblichen Verhältnisses »Die Lehrkraft fragt, die SchülerInnen antworten« kann die Gesprächsform Schlaue Fragen stellen sein: Das Verfahren kehrt die Verantwortlichkeiten für den gelingenden Lernprozess um und übergibt den SchülerInnen die Verantwortlichkeit für ihren eigenen Erkenntnisprozess. Zugleich wird der Wert aktiven Nachfragens betont und die präzise Formulierung von Nachfragen eingeübt. Die Lehrkraft selbst lernt dabei, sich in ihren Gesprächsbeiträgen zu disziplinieren. Beim spontanen Formulieren von Fragen gibt es einige wenige Fallen, auf die es sich zu achten lohnt. Wartezeit aushalten und Anschlussfragen vermeiden Gerade BerufsanfängerInnen neigen häufig dazu, an eine gestellte Frage relativ schnell eine weitere anzuschließen und eventuell noch eine dritte, weil ihnen die Zeit, in der die SchülerInnen überlegen, zu lang erscheint und sie annehmen, dass ihre zuerst gestellte Frage unklar war. Für die SchülerInnen dagegen stellt sich die Situation umgekehrt da: Während sie noch eine Antwort auf die erste Frage formulieren, folgt eine zweite Frage, auf die die vorformulierte Antwort möglicherweise inhaltlich oder sprachlich nicht ganz genau passt. Um ihre Antwort adäquat anzupassen, müssen sie die beiden Fragen vergleichen und die
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Unterschiede ausmachen. Sie nehmen dabei automatisch an, dass die jeweils nachfolgende Frage als aktuellere die relevantere ist. Folgt in diesem Prozess des Abgleichens eine dritte Frage, fühlen sie sich häufig überfordert, steigen zunächst einmal aus dem Mitdenken aus und warten ab. Ihr Verstummen wiederum irritiert in der Regel die junge Lehrkraft erneut. Vermieden werden kann diese ungünstige Entwicklung zunächst durch das kontrollierte Abwarten nach einer gestellten Frage oder einem gesetzten Impuls: Erfahrungen und Untersuchungen zeigen, dass sich – vorausgesetzt, eine Frage ist sinnvoll! – die Beteiligung in Relation zur abgewarteten Zeit vervielfacht. Wenn die Frage tatsächlich unklar formuliert war oder sich die Lehrkraft schon in die Spirale der nachgesteuerten Fragen hineinbegeben hat, hilft die Kommunikation auf der Metaebene: »Moment mal – ich glaube, wir reden gerade aneinander vorbei. Ich wollte danach fragen … Könnt ihr noch mal sagen, wie ihr die Frage verstanden habt?« Unechte Fragen Manche Fragen enthalten bereits die gewünschte Antwort oder eine erkennbar angestrebte Antworttendenz und wirken damit auf SchülerInnen suggestiv, z. B.: »Waren es tatsächlich die Römer, die diese Schlacht begonnen haben?« Für SchülerInnen sind solche Fragen schwierig zu beantworten, da sie ihnen einerseits zu leicht erscheinen, wenn sie nur mit einem einfachen Nein zu beantworten sind, sich andererseits aber die Suche nach Gegenargumenten aus ihrer Sicht kaum lohnt, wenn die Frage schon in dieser eindeutigen Form gestellt wird. Mutige weichen auf die Metaebene aus und antworten etwa in dem Sinne wie »Wenn Sie schon so fragen …« Dies sollte von uns als Lehrkraft weniger als freche Entgegnung als vielmehr als klares Signal in einer intellektuellen Sackgasse verstanden werden. Zu leichte oder zu schwere Fragen SchülerInnen sind durchaus sensibel für das Niveau von gestellten Fragen und definieren ihre Leistungsfähigkeit auch darüber, wer welche Fragen beantworten kann. Fragen, die aus ihrer Sicht banal oder redundant erscheinen, werden von ihnen häufig vermieden, um dem eigenen Selbstkonzept als ›schlauer‹ Schüler gerecht zu werden. Als Lehrkraft kann man, wenn man trotzdem noch einmal eine Wiederholung eines bestimmten einfachen Aspektes benannt haben möchte, die Lage entschärfen, wenn man auf der Metaebene die Funktion dieses Unterrichtsschrittes transparent macht.
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Manchmal erweisen sich Fragen, die man als LehrerIn im Unterrichtsgespräch stellt, als zu schwer für die Lerngruppe – eine häufige und natürliche Reaktion darauf ist Schweigen. Dies gilt besonders für Situationen, in denen Sie Hospitationsbesuch haben und die Klasse nichts falsch machen will. Was kann an einer Frage für SchülerInnen zu schwer sein? Es kann sein, dass Sie sich beim Entwerfen der Frage im Vorwissen verschätzt haben und die SchülerInnen einfach keine Idee oder keinen Ansatz haben, sich mit der Frage auseinanderzusetzen. Es kann auch sein, dass das Vorwissen grundsätzlich zwar gegeben ist, aber die Frage in ihrem Umfang und ihrer Gesamtheit so komplex ist, dass den SchülerInnen die einzelnen Schritte, wie sie gedanklich vorgehen müssten, unklar sind und sie sich damit überfordert fühlen. Ebenfalls kann die Frage an sich zwar inhaltlich passend für das Lernniveau der SchülerInnen konstruiert, aber in ihrem sprachlichen Ausdruck zu abstrakt oder in einer anderen nicht ohne Weiteres zugänglichen Sprachform formuliert worden sein. Selbst ein einzelnes unbekanntes, aus Ihrer Sicht nicht einmal bedeutungstragendes Wort wie z. B. »explizit« in einer Frage kann SchülerInnen davon abhalten, eine Antwort zu wagen: Als SchülerIn weiß ich schließlich nicht, was das Wort bedeutet und ob es nicht für die Antwort von Bedeutung ist. Wenn Sie als Lehrkraft davon überrascht werden und erstaunt sind, dass die Lerngruppe schweigt und Ihre Fragen nicht beantwortet, hilft hier oftmals nur die direkte Kommunikation auf der Metaebene: »Ist meine Frage unklar für euch?« »Gibt es Wörter, die ihr nicht versteht?« Absichernd kann es günstig sein zu bitten, die Frage mit eigenen Worten zu wiederholen, so wie sie verstanden worden ist. Methodisch erweist es sich häufig als hilfreich, den SchülerInnen bei einer komplexen Frage eine kurze Phase der Beratung mit dem Sitznachbarn einzuräumen. Neben einem möglichen Abgleich des Zielhorizonts können hier auch kleinere Erinnerungsdefizite ausgeglichen werden und vorsichtigere SchülerInnen gewinnen Sicherheit aus der gemeinsamen Abstimmung. Verwenden Sie bewusst die Metaebene und sprechen Sie mit SchülerInnen über Kommunikations- und Lernprozesse in Ihrem Unterricht. Fördern Sie die Fragekultur und verstärken Sie zunächst Nachfragen jeder Art solange, bis die SchülerInnen sicher sind, dass diese ohne Gesichtsverlust gestellt werden können. Unterscheiden Sie nach Etablierung einer offenen Fragekultur zwischen weiterführenden und ›Nicht-aufgepasst-Fragen‹ und lassen sie Letztere ohne jeden Vorwurf von einem Mitschüler beantworten.
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Trainieren Sie Ihre Impulsgebung: Formulieren Sie gesprächsförderliche Impulse zu den Anforderungen. Aufgabe
Beispiel
Fünf Impulse, die ein Unterrichtsgespräch eröffnen können (Initialimpulse)
»Wie wirkt dieser Satz auf euch?« nonverbal: einladende Geste, fragender Gesichtsausdruck
Fünf Impulse, die Schüler auf eine bestimmte Fährte ansetzen (Steuerungsimpulse)
»Denkt den Gedanken von Katja zu Zeile 2 bitte weiter!«
Drei Impulse, die besonders stillere Schüler aktivieren
»Das Gespräch beginnt, wenn sich mindestens ein Drittel von euch meldet.«
Drei Impulse, die eine Schüler äußerung bewerten und so eine Rückmeldung geben (Steuerungsimpulse)
»Das hast du gut beobachtet!« nonverbal: Nicken
Drei Impulse, die die SchülerSchüler-Interaktion fördern
»Mario sagt, dass …« betonte Wiederholung der Aussage eines Schülers, die Anlass zum Weiterdenken, zur Kritik oder zur Zustimmung gibt
Ein bis zwei abgestufte Impulse von ganz offen bis ganz eng
Sie wollen als wesentliches Merkmal einer Kurzgeschichte herausarbeiten, dass die LeserInnen mit den Perspektiven von zwei Personen konfrontiert werden (Lehrziel). »Wenn ihr die Geschichte abschließend betrachtet: Gibt es etwas, was euch besonders erschienen ist?« »Gibt es eine besondere Form der Gestaltung?« »Verglichen mit der Kurzgeschichte, die wir davor gelesen haben: Gibt es formale Unterschiede?« »Wie erfahren wir als LeserInnen eigentlich von dem U-Bahn-Unglück?« »Welche Erzähler kommen in der Kurzgeschichte vor?« »Den ersten Teil des Unglücks erzählt Jenny, den zweiten Peter – woher bekommen wir unsere Informationen?« »Welche Erzählperspektiven sind zu erkennen?« (sinnvoller operationalisiert als Arbeitsauftrag für eine Erarbeitungsphase: Untersucht die Erzählperspektive in dieser Kurzgeschichte!) »In der Geschichte kommen zwei Erzählperspektiven vor – welche sind das?« (Vorgabe mit eingeforderter Konkretisierung)
Abb. 3: Impulse im Unterricht
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6. Rückmeldungen an SchülerInnen – Arbeit mit Schülerbeiträgen Für BerufsanfängerInnen ist es eine große Herausforderung, auf die unterschiedlichen Antworten der SchülerInnen auf eine gestellte Frage zu reagieren. Aus den Konventionen des höflichen Alltagsgesprächs kommend, gibt es eine Tendenz, auf jede gegebene Schülerantwort einzeln und explizit antworten zu wollen. Dass dies oft den zeitlichen Rahmen, aber auch die Aufmerksamkeitskapazität der Lerngruppe insgesamt sprengt, wird meistens schnell deutlich. Wie aber begegnet man als LehrerIn im Rahmen des Unterrichtsgesprächs im Plenum den einzelnen Schüleräußerungen? Wichtig ist zunächst, sich die einzelnen Frequenzen zu verdeutlichen, auf denen eine Rückmeldung gehört werden kann: Die Rückmeldung »Ja, ok!« kann z. B. als Bestätigung des eigenen Gedankengangs und des eingeschlagenen Lernwegs gehört werden, als grundsätzlich positives Bestätigungssignal der Mitarbeit auf der Beziehungsebene verstanden werden, aber auch als kritische Leistungsbewertungsrückmeldung im mittleren Bereich. Zugleich wirkt die Rückmeldung im Plenum der Klasse immer als Steuerungsimpuls für das Unterrichtsgespräch der gesamten Gruppe. Von John Hattie wird die Wichtigkeit des Feedbacks der Lehrkraft für die einzelnen Lerner, aber auch die ganze Lerngemeinschaft betont, weil hier erkennbar gemacht wird, ob ein Informationsgehalt bzw. Denkschritt als richtig einzuschätzen ist oder nicht (Hattie 2013). Für die Lehrkraft wiederum ist dies eine entscheidende Gelenkstelle, an der sie strukturierend eingreifen und Hilfestellungen, Korrekturen Zusatzinformationen oder Bestätigung geben kann. Für BerufsanfängerInnen stellt dies eine klassische Überforderungssituation dar und bringt auch erfahrene Lehrkräfte, wenn sie sich der vielfältigen Anforderungen an eine Rückmeldung bewusst sind, häufig ins Schwitzen. Folgende Kategorien lassen sich benennen, in denen eine im Unterrichtsgespräch des Plenums gegebene Rückmeldung Sicherheit vermitteln sollte: ȤȤ Beziehungsebene: Wertschätzung der Beteiligung, des Ansatzes, eines Details, der grundsätzlichen Aktivität der Schülerin oder des Schülers oder aber Herausforderung derselben: »Gut, dass du das noch mal sagst!« ȤȤ Sachebene: Festhalten des richtigen Kerns der Aussage oder Problematisierung eines Denkfehlers, einer Einschränkung der vollzogenen Schlussfolgerung etc.: »Die Spannung erscheint mir in eurer Messung tatsächlich unerwartet hoch.« ȤȤ Ebene des Lernprozesses: Individuelle Rückmeldung bezogen auf den Verstehens- oder Lernprozess der Schülerin oder des Schülers: Beschreibung
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Carolin Schaper, Unterrichtsgespräche führen
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der wahrgenommenen Herangehensweise, Korrektur oder Bestätigung des Lernweges, evtl. nachfragende Absicherung der eigenen Wahrnehmung als Lehrkraft: »Die Spannung erscheint mir in eurer Messung tatsächlich unerwartet hoch. Wie habt ihr euren Schaltkreis angelegt? Wie können wir überprüfen, ob dies ein Messfehler war oder nicht?« ȤȤ Wegweiser für die Arbeit der gesamten Lerngruppe setzen – in welche Richtung soll weiter gedacht werden, was ist das Ziel, welches ist der nächste Schritt? »Wie können wir überprüfen, ob dies ein Messfehler war oder nicht?« Es kann sinnvoll sein, Rückmeldungen subjektiv zu verbalisieren (»Ich denke, du hast hier …«), wenn dies dem Kommunikationsprozess zwischen Lernenden und Lehrkraft authentisch entspricht. Als regelmäßiges Feedback hat sich die Rückmeldung »Was meinen die anderen dazu?« als wenig hilfreich erwiesen, wenn diese Frage nur pauschal auf einen Fehler im vorangegangenen Beitrag aufmerksam machen soll. Diese durchaus sinnvolle Frage sollte für Momente des Unterrichtsgesprächs reserviert werden, in denen tatsächlich unterschiedliche Interpretationen oder Sichtweisen möglich sind. Nicht im Fokus einer Rückmeldung im öffentlichen Unterrichtsgespräch darf die Schülerin oder der Schüler selbst stehen – Feedback zu persönlicher Entwicklung oder Problemen im Entwicklungsprozess gehören in ein geschütztes Beratungsgespräch außerhalb des öffentlichen Unterrichtsgesprächs. Hilfreich und pragmatisch kann für BerufsanfängerInnen z. B. in der Brandung einer lebhaften Mitarbeit in Klasse 5 der folgenden Dreischritt zum Wahrnehmen von und Reagieren auf Schülerbeiträge sein: ȤȤ Automatisieren: nonverbal positive Bestätigung (Lächeln, Nicken, Zwinkern, Blickkontakt), evtl. verbales Lob ȤȤ Gibt es etwas in dieser Aussage, was ich in dieser Phase unbedingt korrigieren oder richtigstellen muss, um Folgefehler im folgenden Lernprozess zu vermeiden? Wiederholen sich Aussagen? ȤȤ Gibt es etwas, dass ich verstärken oder sichern sollte, weil es früher oder später von Bedeutung für den voraussichtlichen Lernprozess werden könnte? Mit diesem begrenzten Scannen der Aussagen kann der Beteiligungsfluss innerhalb einer Lerngruppe zunächst sinnvoll kontrolliert werden – eine Individualisierung der Lehrerrückmeldung sowie die bewusste Nutzung von Schülerantworten als Diagnose- und Steuerungsinstrument können bei zunehmender Erfahrung ergänzt werden.
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Trainieren Sie kurze nonverbale Rückmeldungen und lassen Sie sich von kritischen FreundInnen Feedback dazu geben, ob Ihre Botschaften ›rüberkommen‹. Lassen Sie sich videografieren und beobachten Sie Ihre Mimik ausschließlich unter dem Aspekt: Was gelingt schon gut? Arbeiten Sie bewusst mit dem vorgestellten Raster, um Schüleräußerungen zu scannen. Nutzen Sie es für sich beim Gespräche führen (Kategorien auf das Pult kleben). Nutzen Sie das Raster beim Hospitieren als Beobachtungsinstrument: Wie hat die Kollegin/der Kollege die Schülerin oder den Schüler bestätigt, was hat er oder sie korrigiert, was weitergeführt?
7. Schüler lernen Gespräche führen SchülerInnen können Gespräche oft selbstständiger und besser führen als LehrerInnen denken! Ein sehr überzeugendes Beispiel dafür sind Sitzungen im Klassenrat, in denen an vielen Schulen gruppendynamische Klärungsprozesse oder auch komplizierte Planungen für anstehende Projekte vorgenommen werden (vgl. → 10 Aus Klassen Gruppen machen) Wie kommt es, dass SchülerInnen das manchmal können und manchmal nicht einmal die ›Rederuhe‹ in einem von der Lehrkraft moderierten Unterrichtsgespräch möglich erscheint? Natürlich sind SchülerInnen immer eher bereit, sich an Rederegeln zu halten und auf andere einzugehen, wenn es um eine Sache geht, die für sie wichtig ist. Und das ist im alltäglichen Unterrichtsgespräch nicht immer der Fall – kann es vielleicht auch nicht immer sein. Aber selbst wenn es z. B. um das mögliche Ziel einer Klassenfahrt geht, also höchst bedeutsam aus Schülersicht ist, wird man feststellen, dass es Klassen gibt, die ertragreich über dieses Thema sprechen können und andere, die dies nicht können. Wie können SchülerInnen lernen, kompetente GesprächsteilnehmerInnen zu werden und Gespräche selbstständig zu führen? Die Antwort darauf ist einfach, die Umsetzung erfordert jedoch bewusstes Training: SchülerInnen werden sukzessiv und über zunehmend erweiterte Spielräume kompetent. Junge SchülerInnen in der Grundschule und auch in den ersten beiden Klassen der Sekundarstufe I haben noch viel damit zu tun, ihre spontanen Reaktionen zu kontrollieren, abwarten und zuhören zu lernen. Die persönliche Beziehung zur Lehrkraft ist oft sehr wichtig und wird z. T. noch als Einzelkontakt wahrgenommen, sodass MitschülerInnen, die etwas sagen wollen, im Gespräch manchmal ausgeblendet werden. Dazu kommt, dass die Begeisterung für die Sache
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ebenfalls oft hoch ist und Gefühle und Ideen auf sofortigen Ausdruck drängen. In diesem ersten Stadium der Gesprächsentwicklung ist das Erlernen und Einhalten von Strukturen eine wichtige Entwicklungsaufgabe. Dazu gehören klare und einfache Regeln (Meldesignale), die immer wieder geduldig eingeübt und rückgemeldet werden müssen. Auch die Redekette oder Meldekette (in der eine Schülerin oder ein Schüler jeweils den nächsten drannimmt) gehört in diesen Bereich, erweitert und verlangt aber bereits die soziale Kompetenz der Teilnehmenden. So nehmen bei ungeregeltem Verlauf zunächst Freunde nur Freunde dran, Mädchen Mädchen und Jungen Jungen. Dies den SchülerInnen bewusst zu machen und den Blick von den Einzelbeziehungen auf die Gruppe als Ganze zu lenken, wäre ein nächster Entwicklungsschritt. So kann es neben Gesprächen, in denen diese Einseitigkeit als Problem thematisiert wird, Zusatzregeln geben, die eine Reihenfolge Junge – Mädchen – Junge oder vorne – hinten – vorne, links – rechts –links, schon etwas gesagt – noch nichts gesagt aufnehmen. Damit erweitert sich der Blick auf den Gruppenfokus. In weiteren Schritten können die Freiräume erweitert, die strukturellen Vorgaben gelockert und die SchülerInnen in die Gestaltung von Gesprächen mit einbezogen werden. Nicht zu unterschätzen ist dabei, dass Menschen allgemein bei allen ›schwierigen‹ Themen (hoher emotionaler Gehalt, Kontroversen, neuer Wortschatz oder neue grammatische Struktur, neues unbekanntes Sachfeld, Transfer) mehr Sicherheit brauchen als bei wiederholenden, informellen Themen mit mittlerem Schwierigkeitsgrad. Hier gibt es manchmal Enttäuschungen bei Lehrkräften, wenn z. B. eine Klasse, die das durch eine Schülerin oder einen Schüler moderierte Gespräch in der Kleingruppe zu fünft schon gut beherrschte, bei einem brisantem Thema wie ›Gewalt‹ plötzlich wieder hinter den erreichten Stand zurückfällt. Für die Einübung einer neuen selbstständigeren Gesprächsform heißt dies wiederum, dass ein gut bearbeitbares Thema, das eine Überforderung vermeidet, ausgewählt werden sollte. Unverzichtbar im Sinne der Förderung der prozessbezogenen Kompetenz »Gespräche führen« ist es auch, sich als Lehrkraft immer wieder Zeit zu nehmen, um mit der Gruppe die Gesprächsformen, Befindlichkeiten und Resultate zu besprechen. Der Lernprozess von SchülerInnen, mit denen diese Ebene der Metareflexion regelmäßig eingenommen wird, vollzieht sich ungleich schneller als der in Lerngruppen, in denen neue Gesprächsformen nur stattfinden. Parallel zu der Entwicklung der zunehmenden Selbstständigkeit im Führen von Gesprächen in einer Gruppe müsste es darum gehen, möglichst allen SchülerInnen individuelle Redeanteile und Gesprächserfahrungen zu vermitteln. Hierzu bieten die kooperativen Verfahren (vgl. → 7 Methoden kennen und einsetzen) großartige Hilfen, in denen vom geschützten Austausch mit einem
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vertrauten Partner der Erfahrungsbereich der Einzelnen zunehmend auf andere, mehrere PartnerInnen bis zum Plenumsgespräch erweitert wird. Beobachten Sie bei Hospitationen, was eine Gruppe im Bereich der Gesprächsführung schon kann, und tauschen Sie sich darüber aus. Überlegen Sie, was ein nächster Schritt für diese Gruppe sein könnte. Notieren Sie (am besten zusammen mit KollegInnen methodische Regeln und Formen von Gesprächen, die gemeinsam und sukzessive in allen Fächern eingeübt werden. Suchen Sie im Stoff Ihres Faches nach abgegrenzten, motivierenden Themeninseln, an denen z. B. eine Fishbowl-Diskussion eingeübt werden kann. Planen Sie eine Struktur für eine Phase, in der Sie mit einer Gruppe deren Gesprächskompetenz wertschätzen und reflektieren.
Paul, 11 Jahre, Klasse 5
Hattie, John: Lernen sichtbar machen. Baltmannsweiler 2013 Meyer, Hilbert: Unterrichtsmethoden. Bd. 2 Praxisband. Berlin 2003 Unruh, Thomas/Petersen, Susanne: Guter Unterricht. Lichtenau 2011 Verordnung über die Ausbildung und Prüfung von Lehrkräften im Vorbereitungsdienst (APVOLehr) 2010 www.studienseminar-koblenz.de/medien/seiteneinsteiger/seiteneinsteiger2009/05%20 Gespr%E4chsf%FChrung/02%20Gespr%E4chsf%FChrung%20Skript.pdf
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Diversität berücksichtigen
Carolin Schaper
Heterogenität, Differenzierung, Individualisierung, Diversität und Inklusion: Diese großen Begriffe der aktuellen pädagogischen Diskussion gilt es zu füllen, in ihrem Verhältnis zueinander zu klären und auf ihre Bedeutung für den schulischen Alltag hin zu untersuchen. In diesem Kapitel soll Ihnen vor allem die Sorge genommen werden, den Anforderungen, die diese Begriffe transportieren, gerecht werden zu müssen und dies nicht zu können. Nehmen Sie sich einen Moment Zeit und stellen Sie sich als SchülerIn Ihre letzte eigene Klasse oder einen Ihrer Leistungskurse möglichst plastisch vor. An wen erinnern Sie sich noch? Wie viele Mädchen und Jungen waren sie? Wie sahen die Einzelnen aus? Was wussten Sie von wem in Hinblick auf seine Hobbys? Was in Bezug auf seine Familie oder seine Herkunft? An welche besondere Fähigkeiten, Abneigungen oder Ängste der Einzelnen erinnern Sie sich? Wie würden Sie sich selbst in dieser Gruppe einordnen? Wie funktionierte das Miteinander als Gemeinschaft?
An was haben Sie sich erinnern können? An wenige einzelne Personen, von denen Sie aber ganz genaue Details wussten, z. B. die Art und Weise, den Stift zu halten, oder den Belag der Pausenbrote? An das große Ganze Ihres Oberstufenjahrgangs und sein breites Spektrum von Individuen? Die unnahbar Schöne, der Spitzensportler, die Coplayerin, der Pechvogel des Jahrgangs, die Engagierte, die Partyqueen, der Nerd, … Bestimmt haben Sie sich viel weniger plakativ und deutlich personenbezogener erinnert. Die Wahrnehmung von Vielfalt hängt immer mit dem Betrachter selbst und den ihm verfügbaren und für ihn relevanten Kategorien zusammen. Für LehrerInnen ist die Wahrnehmung von Vielfalt eine wichtige Grundvoraussetzung und lebenslange Entwicklungsaufgabe.
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(Noch) besser unterrichten
1. Die Begriffe Die Wahrnehmung von Heterogenität als »Verschiedenheit der Köpfe« (Herbarth 1807, 389), die Unterschiedlichkeit/Unterschiede von SchülerInnen nach Geschlecht, Interesse, Erfahrungen, Herkunft, Begabungen und Beeinträchtigungen ist keine Entdeckung des 20. Jahrhunderts, sondern wurde in der Pädagogik schon lange als Herausforderung für einen möglichst für alle gewinnbringenden Unterricht betrachtet. Nicht immer und überall galt in Schulen die Einrichtung von möglichst homogenen Lerngruppen als Mittel der Wahl, um dieses Ziel zu erreichen (man denke an die bewusst altersgemischten Klassen in der Schweiz vor hundert Jahren oder die Doppeljahrgänge in kleinen deutschen Dorfschulen). Immer schon gab es neben dem Ideal einer homogenen Lerngruppe und den Forderungen von deutschen LehrerInnen nach mehr Selektion, um diesem Ideal näherzukommen, das Wissen darum, dass dieses Ideal eine Fiktion darstellt. Und es gab anerkannte bildungspolitische Bestrebungen, eine »Pädagogik der Vielfalt« umzusetzen (Steenbuck 2001). Trotzdem war für viele deutsche LehrerInnen das gute Abschneiden z. B. der skandinavischen Schulen in den Pisa-Vergleichsstudien, die im Gegensatz zum dreigliedrigen Schulsystem Heterogenität bewusst als pädagogischen ›Motor‹ betrachteten, überraschend. Diversität in der Bedeutung von »Verschiedenheit, Vielfältigkeit« wird in der aktuellen gesellschaftspolitischen Debatte vor allem mit Blick auf Menschen mit Migrationshintergrund verwendet. Der Begriff wird – anders als Heterogenität – eher positiv mit Blick auf einen Austausch von vielfältigen Erfahrungen und Vorstellungen und die sich daraus ergebende Chance einer Erweiterung von Bildungsressourcen verwendet. Differenzierung und Individualisierung sind zwei pädagogische Strategien, die als Instrumente im Umgang mit heterogenen Lerngruppen gelten. Die sogenannte äußere Differenzierung beschreibt dabei die Aufteilung in institutionelle und strukturelle Einheiten wie z. B. Schulform, Jahrgangsklasse, A- oder B-Kurs. Von innerer Differenzierung oder Binnendifferenzierung spricht man, wenn die einzelne Lehrkraft Maßnahmen innerhalb ihres Unterrichts anlegt, um Unterschiede zwischen den SchülerInnen z. B. in Bezug auf Leistungsstände oder Lerntempo auszugleichen oder individuellen Interessen gerecht zu werden. Dabei wird weiter an dem Grundgedanken festgehalten, dass alle SchülerInnen einen möglichst gleichen Lernstand erreichen. Individualisierung beschreibt eine darüber hinausgehende grundsätzliche Haltung, die SchülerInnen in heterogenen Gruppen einzeln in den Blick nimmt und ausgehend von deren Potenzial oder Notwendigkeit adaptiv angepasste Materialien, Aufgaben oder Unterstützung anbietet. Dabei geht Individuums-
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orientierung davon aus, dass nicht alle SchülerInnen das Gleiche lernen müssen, allen aber ein bestmögliches Bildungsangebot gemacht werden soll. Dies setzt eine grundsätzliche Anerkennung des Individuums voraus und führt zur Aufgabe des Normalitätsprinzips, welches Lernende nach Merkmalen wie begabt/ nicht begabt, mit oder ohne Migrationshintergrund, beeinträchtigt oder nicht beeinträchtigt beschreibt. Konsequente Individualisierung führt in heterogenen Klassen zu zieldifferentem (statt zielgleichem) Lernen und damit in der Regel auch zu unterschiedlichen Abschlüssen. Dass ein solcher Unterricht nicht voraussetzungslos gestaltet werden kann, sondern im Kollegium einer Schule den Konsens einer entsprechenden Anerkennungskultur und ein gemeinsames Verständnis von Unterricht als konstruktivistischem Lehr-Lernprozess voraussetzt, sei hier ausdrücklich angemerkt. Häufig diskutiert wird der Begriff einer Diagnostik des Förderns und Forderns, die einer Diagnostik der Selektion entgegengestellt wird. Diese Debatte wird gelegentlich hitzig und polarisierend geführt. Überlegen Sie, wo eigentlich der Sprengstoff in dieser Diskussion liegt. Welches Bild von Schule lässt sich mit den jeweiligen Begriffen verbinden? Welches Bild einer Gesellschaft liegt den jeweiligen Vorstellungen zugrunde? Klären Sie Ihre bisherige eigene Haltung: Verstehen Sie sich eher als VermittlerIn von Fachwissen, als Unterstützung für besonders oder besonders wenig begabte SchülerInnen, als LernberaterIn, als bewertende/r VertreterIn der Institution Schule, als ErzieherIn zur Selbstständigkeit, als Vertrauensperson, …? Hier lohnt sich ein Vergleich mit den in p 1 Neue Rollen finden und ausfüllen dargestellten Möglichkeiten. Auf welche der Funktionen geht Ihr ursprünglicher Berufswunsch zurück? Noch eine Frage: Müssen Sie eigentlich differenzieren? Sind LehrerInnen verpflichtet, auf Heterogenität zu reagieren? Klären Sie die schulrechtlichen Anforderungen, die das Schulgesetz Ihres Bundeslandes und gegebenenfalls Ihre Prüfungsverordnung vorsehen.
2. Handwerkszeug Differenzierung Als BerufsanfängerIn haben Sie in der Regel zunächst ausreichend damit zu tun, das Material in Umfang und Schwierigkeitsgrad für Ihre Lerngruppe allgemein richtig einzuschätzen, Methoden auszuwählen, die sich als disziplinarisch und zeitlich durchführbar erweisen und dem Stundenaufbau eine angemessene Progression zu verleihen. Manchmal werden Anfangsstunden entweder etwas zu
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schnell vorbei sein oder sich noch häufiger als viel zu kurz erweisen, um Ihre Planung vollständig umzusetzen. Ein Gefühl dafür, wie viel und welchen Schwierigkeitsgrad von Aufgaben oder Lehrerdarbietung Ihre Lerngruppe bewältigen kann, werden Sie erst durch Erfahrung erwerben. Deshalb sind die im Folgenden aufgeführten Vorschläge als sukzessiv ansteigende zu verstehen, die Sie zunehmend ausprobieren und umsetzen können. Lassen Sie sich dabei nicht entmutigen: Eine Stundenplanung, die zunächst einmal nur einen Großteil der SchülerInnen mitnimmt, ist ein wichtiger erster Schritt und die wesentliche Voraussetzung für alle Weiterentwicklungen. Beobachtung als Grundlage von Differenzierung Beobachten Sie Ihre SchülerInnen gezielt beim Arbeiten an einer Aufgabenstellung. Schauen Sie auf die Uhr und notieren Sie, wann die oder der Erste fertig ist, ebenso, wann die oder der Letzte die Aufgaben abgeschlossen hat. Werfen Sie gerade bei den Ersten einen Blick auf die Qualität der Bearbeitung: Ist die Schnelligkeit durch eine flüchtige Bearbeitung zustande gekommen? Fehlen vielleicht Aspekte? Wo lagen die Schwierigkeiten für die langsam Arbeitenden? Musste der Arbeitsauftrag erst ›übersetzt‹ werden? Fehlte Hintergrundwissen zur Bearbeitung (z. B. Vokabeln)? Gab es Ablenkung durch andere? Quantitative Differenzierung Eine der ersten Differenzierungsmaßnahmen, die Sie vermutlich vornehmen müssen, ist die quantitative Differenzierung aus dem Stegreif. Wenn Sie merken, dass SchülerIinnen eher fertig sind als andere, nützt der Hinweis, dass es gleich weitergeht, oder die Bitte, sich etwas zu gedulden, in der Regel wenig. Viele junge KollegInnen regen die schnellen SchülerInnen deshalb zur Bearbeitung der nächsten Aufgaben an, wenn eine solche vorgesehen ist, oder fordern auf, noch weitere Beispiele zu bilden oder den Text länger zu schreiben. Immer, wenn es nur um ein Mehr an gleichen Aufgaben geht, spricht man in diesem Kontext von einer quantitativen Differenzierung. Eine solche kann für den Lernprozesse durchaus sinnvoll sein, z. B. wenn es um das verstärkte Einüben einer grammatischen Struktur geht, die durch die Bildung weiterer Sätze gut eingeschliffen wird, wenn das Lesepensum erweitert wird o. Ä. SchülerInnen erkennen bei dieser Art von Zusatzaufgaben nicht immer den Mehrwert und ziehen oft die Konsequenz, sich beim nächsten Mal mehr Zeit zu lassen, um einen weiteren Arbeitsauftrag zu vermeiden. Etwas anders wird die Situation wahrgenommen, wenn mit den Übungen Hausaufgaben vorentlastet werden können.
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Ein anderer Fall, als mehr vom Gleichen zu machen, ist die Aufforderung, einfach die nächste Aufgabe zu bearbeiten. Hierbei ist ein grundsätzliches Problem zu beachten: Häufig sind Aufgaben – vor allem in Fächern wie Deutsch und Geschichte, aber auch in Physik und Biologie, nach Anforderungsbereichen gestaffelt aufgebaut, d. h. dass die Aufgaben zunehmend mehr von den BearbeiterInnen verlangen. Beispiel im Fach Deutsch – Aufgabenstellung zu einer Kurzgeschichte 1. Markiere im Text alle Informationen über die Orte, an denen sich die Familie aufhält. – Anforderungsbereich I/II 2. Vergleiche, was die Mutter und der Vater über den Picknickplatz am Fluss sagen (Tabelle). – Anforderungsbereich II 3. Das Kind sagt gar nichts über den Platz am Fluss, aber was könnte es denken? Notiere einen möglichen Gedanken des Kindes in einer Denkblase und begründe, wie du darauf gekommen bist. – Anforderungsbereich III
Solange alle SchülerInnen alle Aufgaben bearbeiten, bereitet eine gestaffelte Aufgabenstellung kein Problem. Häufig ergibt sich im Unterricht aber die Situation, dass bei vorangeschrittener Zeit ein Drittel der SchülerInnen bereits mit Aufgabe 3 fertig ist, während zwei Drittel gerade Aufgabe 2 abschließen. Die Lehrkraft, die die Ergebnisse gern noch in dieser Stunde vergleichen möchte, entschließt sich deshalb, die dezentrale Phase zu beenden und die Ergebnisse im Plenum zu vergleichen. Bis Aufgabe 2 können sich alle beim Vergleich der Ergebnisse beteiligen, ab Aufgabe 3 aber nur noch das Drittel der SchülerInnen, das besonders schnell und leistungsstark gearbeitet hat. Da die Aufgaben nach Schwierigkeitsgrad gestaffelt sind, fällt für zwei Drittel der Lerngruppe die selbstständige Auseinandersetzung gerade mit dem anspruchsvollsten, interpretierenden Aufgabenteil weg. Zwar kann in der Stunde so das richtige Ergebnisse der stärkeren SchülerInnen noch für die ganze Lerngruppe an der Tafel oder im Heft gesichert werden, in Bezug auf den Kompetenzzuwachs im Bereich der selbstständigen methodischen Bearbeitung klafft zwischen den langsameren und leistungsschwächeren und den schnelleren und leistungsstärkeren SchülerInnen aber eine Lücke. Wird dieses Verfahren häufiger angewandt, entsteht die Situation, dass im anspruchsvolleren Anforderungsbereich III (erläutern, bewerten, diskutieren, einordnen, Stellung nehmen, überprüfen, …) immer nur ein Teil der SchülerInnen weiter gefördert wird und die Schere zwischen den Kompetenzen, aber auch den konkreten mündlichen Beteiligungsmöglichkeiten innerhalb der Lerngruppe in diesem Bereich immer stärker auseinandergeht. Das nächste Unterkapitel Qualitative Differenzierung stellt Ihnen Möglichkeiten vor, wie
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stärkere SchülerInnen weiter gefördert und schwächere in Bezug auf die angelegte Lernprogression der ganzen Gruppe trotzdem nicht benachteiligt werden. Eine ganz andere Möglichkeit im Umgang mit schneller arbeitenden SchülerInnen soll an dieser Stelle ebenfalls noch thematisiert werden: In Lerngruppen, die dies von ihrem Umgang untereinander und von ihrem Sozialgefüge her zulassen, können einzelne SchülerInnen als LernhelferInnen eingesetzt werden. Mit Augenmaß angeleitet, kann dies für stärkere und schnellere LernerInnen eine sehr förderliche Herausforderung sein, die sie sowohl in ihrer sozialen Kompetenz schult als auch ihre inhaltliche Durchdringung der Sache stärkt: Etwas selbst zu berechnen oder jemand anderem die einzelnen Rechenschritte zu erklären und eventuelle Fragen zu beantworten, macht einen großen Unterschied in Bezug auf die dazu nötigen Kompetenzen aus. Hinzu kommt, dass SchülerInnen manchmal die Erklärungen ihrer MitschülerInnen besser verstehen als die der Lehrkraft, da diese genau den gleichen Lernweg wie sie beschritten haben. Voraussetzung für diese Form der Differenzierung ist in jedem Fall ein soziales Klima, dass das Einfordern und Geben von Hilfen als etwas Selbstverständliches zulässt, das Bewusstsein der HelferInnen für ihre eigene verantwortliche Rolle (es geht nicht um das Abschreiben der Lösungen, sondern darum, dass der andere etwas versteht!) und die Bereitschaft der Hilfe Einfordernden, die Kompetenzen der anderen anzuerkennen. Qualitative Differenzierung Qualitativ zu differenzieren, meint im Gegensatz zu dem oben aufgezeigten Prinzip der quantitativen Differenzierung nach Umfang, Anzahl und Zeitvorgaben, dass bereits in der Aufgabenstellung selbst unterschiedliche Schwierigkeitsgrade und thematische Zugänge angelegt sind, die den einzelnen LernerInnen ermöglichen, verschiedene Wege zu gehen. Dabei muss im Vorfeld die Entscheidung getroffen werden, ob der Lernprozess auf zielgleiches oder zieldifferentes Lernen ausgerichtet ist. Ist Letzteres der Fall, z. B. im inklusiven Kontext, sind die Freiheitsgrade bei der Konzeption einer Aufgabe höher. Zugleich muss den didaktischen und methodischen Möglichkeiten der Zusammenführung und Präsentation sowie den Rückmeldungen zu den Ergebnissen noch mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden als im Kontext zielgleicher Aufgaben. Qualitativ differenziert werden kann nach einer Vielzahl von Kriterien, die z. T. auch Überschneidungen aufweisen: ȤȤ Schwierigkeitsgrad, z. B. Komplexitätsgrad (Anzahl der zu berücksichtigenden Faktoren) oder Abstraktionsgrad (vom sinnlich Konkreten zum formallogisch Abstrakten),
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ȤȤ Materialbasis oder mediale Basis, z. B. Text oder Diagramm, ȤȤ Repräsentationsebene, z. B. enaktiv, ikonisch, symbolisch (vgl. → 14 Lernprozesse durch Visualisierungen gestalten, S. 299), ȤȤ thematischer Zugang nach Interesse, ȤȤ Lernstile oder Zugänge, z. B. eher kommunikativ-kooperativ, kognitiv-analytisch, handlungsorientiert, visuell, haptisch, auditiv, ȤȤ Lernvoraussetzungen der SchülerInnen, z. B. Stärken oder Defizite in bestimmten Bereichen, ȤȤ methodischer Zugang, z. B. Rollenspiel gestalten oder Bericht verfassen, ȤȤ Sozialform, z. B. Einzelarbeit oder Partnerarbeit, ȤȤ Grad der Selbstständigkeit, z. B. durch Variation von Lernhilfen. Ein Beispiel: Im Fach Englisch soll der Wortschatz für die Bewältigung einer kommunikativen Situation, z. B. das erste Ankommen im Hotel in London, erworben werden. Eine Differenzierung nach Lernvoraussetzungen der SchülerInnen oder auch nach Schwierigkeitsgrad könnte hier darin bestehen, die Progression in der Stunde so zu gestalten, dass zunächst alle den Wortschatz für einen Grunddialog kennenlernen (Begrüßung; Hinweis auf die Buchung; Frage nach einem freien Zimmer: Hello, my name is …; we have booked a double room for three nights; have you got vacancies …) und in dialogischen Übungen einüben und in der dann folgenden freieren Anwendungsphase im Partnerdialog anwenden. Dabei erhalten diejenigen, die feststellen, dass ihnen dies schon sicher gelingt, Angebote für Variationen (balcony; seaside view; non-smoking room; breakfast) und zur Erhöhung des Schwierigkeitsgrads (we need an extra bed; we have got a dog; we are allergic and need a special duvet; in our family there is a disabled person in a wheelchair; we would like to stay another night). SchülerInnen mit besonderen Schwierigkeiten wiederum erhalten Lernhilfen in Form von vorgegebenen Phrasen, die mit Bildern verbunden werden können, z. B. das Bild eines Hundes verbunden mit der Phrase: How much must we pay for our dog per night? Oder: Is our dog allowed to stay in your hotel? Ein für die eigene Unterrichtsplanung mit Blick auf zielgleiche Lernprozesse sehr hilfreiches Instrument ist die von Wolfgang Klafki getroffene Unterscheidung zwischen einem Fundamentum, einem für alle SchülerInnen verbindlichen Kernbereich des Lernens, und einem Additum, einem nur von einem Teil der LernerInnen zu nutzendem Erweiterungsbereich. Um die Unterscheidung zu treffen, welche Kompetenzen bzw. Inhalte von allen SchülerInnen einer Lerngruppe beherrscht bzw. verstanden werden sollen, müssen Sie als Lehrkraft zunächst die fachlich relevanten Zusammenhänge, Kompetenzen, Methoden oder Erkenntnisse, die erworben werden sollen, konkret benennen. Erstaunlicherweise fällt dies selbst
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(Noch) besser unterrichten
gestandenen LehrerInnen oft gar nicht so leicht (vgl. → 4 Eine Langzeitplanung anlegen) – manchmal hilft der Vergleich der Darstellung des Themas in mehreren Schulbüchern, um zu erkennen, was andere als wesentlich an einem Thema betrachten. Für die Festlegung dessen, was wichtig und von allen SchülerInnen zu lernen ist, reduzieren Sie ein Thema auf seine grundlegenden und wichtigsten Inhalte, diejenigen, an denen die zu fördernde Kompetenz nach Ihrer Einschätzung am besten zu erlernen ist (an dieser Stelle lohnt sich unbedingt ein Blick auf → 6 Reduzieren lernen!) In Rahmen der Planung einer Einzelstunde kann diese Reduktion z. B. in der Festlegung auf einen Textausschnitt und eine Aufgabe zur Erschließung seines Inhalts bestehen. Genauso gut kann Ihre Festlegung in der Auswahl eines Experiments bestehen, dass die SchülerInnen selbst durchführen und auswerten sollen, oder in einer Aufgabe zur Erprobung der Funktionalität bestimmter Bewegungsabläufe im Fach Sport. Diese Grundaufgabe und das, was SchülerInnen an ihr erkennen, erlernen oder auch üben können und was auf jeden Fall z. B. in einer Regel, einem Tafelbild oder einem Merksatz gesichert werden soll, stellt das sogenannte Fundamentum dar (Klafki 2007, 183 f.). Als Additum – in moderner Pädagogensprache auch oft als Enrichment bezeichnet – können nun alle Anschlussaufgaben gelten, die SchülerInnen über das Fundamentum hinaus zu weiteren Lern-, Performanz- oder Erkenntnisprozessen anregen. Wenn Sie in Ihrem Planungsprozess einer Stunde diesen Punkt für sich klar haben und das Fundamentum, den didaktischen Kern, z. B. als ein Hauptlehrziel, eine zu erwerbende Kompetenz oder ein zu erschließendes Material oder einen wesentlichen Zusammenhang ausweisen können, dann können Sie anfangen zu überlegen, wie eine mögliche Differenzierungsmaßnahme für Ihre Lerngruppe aussehen könnte. Auch hier gibt es eine von Klafki entwickelte Matrix, die für diesen Planungsschritt hilfreich ist: Sie sehen in horizontaler Richtung aufgelistet die grundsätzlichen, Ihnen schon bekannten Möglichkeiten der Differenzierung und in vertikaler Richtung die Phasen einer Unterrichtstunde. Daraus ergibt sich die erste interessante Überlegung: In welche Phase oder in welche Phasen will oder muss ich eigentlich eine Differenzierung legen? Nicht alle Phasen in einer Stunde eignen sich möglicherweise dafür, und es wäre ein Missverständnis anzunehmen, dass alle Felder der Tabelle ausgefüllt sein müssten. In der Vertikalen finden Sie aber noch eine weitere Unterscheidung, die Ihnen bekannt vorkommen könnte, die nach den einzelnen Aneignungsebenen – weiter vorn als Lernstile oder -zugänge bezeichnet. Auch hier regt die Tabelle an, sich zu überlegen, in welcher Phase einer Stunde unterschiedliche Zugänge angeboten werden sollen. Um die Möglichkeiten der Tabelle zu verstehen, sollte man Sie sie an einem konkreten Beispiel ausprobieren.
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Carolin Schaper, Diversität berücksichtigen B. Differenzierungsaspekte
A. Unterrichtsphasen C. Aneignungsbzw. Handlungsebenen a) konkrete Aneignungs- bzw. Handlungsebene b) explizitsprachliche Aneignungs- bzw. Handlungsebene c) rein gedankliche Aneignungs- bzw. Handlungsebene
2. 1. KomplexiStofftätsgrad umfang/ Zeitaufwand
3. Anzahl der notwendigen Durchgänge
4. Notwendigkeit direkter Hilfe/ Grad der Selbständigkeit
5. Art der inhaltl. od. method. Zugänge/ der Vorerfahrungen
6. Kooperationsfähigkeit
I. Aufgabenstellung bzw. -entwicklung II. Erarbeitung
III. Festigung
IV. Anwendung/ Transfer
Abb. 1: Dimensionen- und Kriterienraster (Ordnungs- und Suchraster) zur Inneren Differenzierung, nach Klafki 2007
Verwenden Sie die Tabelle von Klafki (Abb. 1) und analysieren Sie die Zugangsmöglichkeiten des Unterrichtsgegenstands unter den vorgegebenen Kategorien. Es macht nichts, wenn Sie nicht zu allen Kategorien eine Idee haben, aber geben Sie nicht zu früh auf. Alternativ: Sie können sich auch von Anfang an beschränken und das Differenzierungsangebot nur auf die Aufgabenstellung oder eine Phase des Unterrichts beziehen.
Kritik, die z. T. von pädagogischer Seite an Klafkis Unterscheidung geübt wird, bezieht sich häufig darauf, dass lernschwächeren SchülerInnen nur ein bestimmter basaler Bereich des Lernprozesses eröffnet wird, den die Lehrkraft zuvor festgelegt hat. Zwar trifft diese die Entscheidung aufgrund ihrer fachlichen und diagnostischen Einschätzung zu, doch nicht alle Lernprozesse verlaufen linear, und es kann durchaus sein, dass lernschwächere SchülerInnen über einen (für sie eigentlich nicht vorhergesehenen) Aspekt des Additums den für sich relevanten Weg zum Fundamentum findet, z. B. wenn ein/e SchülerIn, die eigentlich nur das Grundvokabular zum Thema Essen knife, fork, spoon erlernen soll, in einer offenen Lernsituation an den Begriffen eggspoon, teaspoon, soupspoon hängenbleibt, weil sie zwar das Wort spoon noch nicht gelernt hat, aber mit den Begriffen tea, soup und egg sehr wohl etwas anzufangen weiß, neugierig wird, den verbindenden Anschlussbegriff sucht und möglicherweise auch von der Sammlung fasziniert ist.
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Generell steht aus konstruktivistischer Sicht die Kritik dahinter, dass der Lernprozess einzelner SchülerInnen überhaupt nicht vollständig planbar sei und stattdessen eher Lernwege zu gestalten seien, bei denen Lernende ihren natürlichen Lernwegen folgen können. Diese Form der Differenzierung nennt man entsprechend natürliche Differenzierung. Auf anschauliche Weise stellt Kurhofer (2000) diese für den Mathematikunterricht in idealer Weise dar: »Die natürliche Differenzierung geht von den augenblicklichen Möglichkeiten und Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler aus. Gerade für Kinder mit Lernschwierigkeiten ist dies sehr wichtig: Dadurch, dass sie die Freiheit haben, über die benutzten Hilfsmittel, die Rechenwege und die Form der Lösung selbst zu entscheiden, können sie ihre eigenen Lernvoraussetzungen optimal einbringen und schließlich durch das Gespräch mit den anderen Kindern diese Lernvoraussetzungen nach und nach verbessern. Bei einer solchen Vorgehensweise hat selbstverständlich auch die Lehrerin bzw. der Lehrer die Möglichkeit, einen eigenen Weg ins Gespräch zu bringen – das ist dann aber nicht der Königsweg, sondern ein Rechenweg unter vielen, dessen Effizienz u. U. von den Kindern erkannt wird und den sie dann übernehmen. Dabei haben die Kinder die Vorteile selbst erkannt und rechnen nicht nur so, ›weil die oder der da vorn das so will!‹ In gemeinsamen Mathekonferenzen werden dann die Rechenwege der Kinder und evtl. der Weg der Lehrerin/des Lehrers thematisiert. Interessante und überraschende Erkenntnisse für alle Beteiligten, Lehrerinnen, Lehrer, Schülerinnen und Schüler, sind garantiert!«
Wenn Sie zunehmend individualisierende Lernwege im Unterricht zulassen wollen, dann bietet sich das Nachdenken über offene Lernformen an. Als Planungsraster für alle Unterrichtsformen kann eine Differenzierungsmatrix à la Klafki als Hilfe sehr empfohlen werden. Diese kann anders, vielleicht auch einfacher ausfallen als die von Klafki angelegte Tabelle, sollte sich jedoch so konkret wie möglich auf das zu unterrichtende Thema beziehen. Ein Beispiel dazu zum Thema Zeit aus der zweiten Klasse Grundschule:
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abstrakt
Verstandenes mit eigenen Worten wiedergeben, anderen erklären, davon erzählen
Mit anderen Kindern üben/ihnen das Ablesen der Uhr erklären
Verstandenes mit eigenen Worten wiedergeben, anderen erklären, davon erzählen
symbolisch
Was ist eine Sekunde, Minute, Stunde (nachlesen)
Die Uhr und ihre Zeiger (Informationstext lesen) Taschen-Quiz Die Uhr lernen
Wie eine Uhr funktioniert Wasseruhr, Sanduhr, Pendeluhr (Infokärtchen und in Büchern nachlesen) Verschiedene Uhren – wie die Uhren zu ihrem Namen gekommen sind Bastelanleitungen für die Uhren lesen Vorgang mit eigenen Worten aufschreiben
Uhrzeiten auf einem Arbeitsblatt ablesen oder einzeichnen Lük Lernschlüssel Lük Uhr-Kalender Logico Piccolo Sachunterricht: Das Jahr – die Zeit
Bauvorgang rekapitulieren und wiedergeben Logico Piccolo Sachunterricht: Das Jahr – die Zeit
Uhrzeiten an einer Lernuhr einstellen und ablesen Begriffe ausschneiden und zuordnen (Die Teile einer Uhr und Lies die Minuten)
Uhrendomino Eine ungewöhnliche Uhr (malen) Mein Uhrenregal (malen, ausschneiden, kleben)
Was schaffst du in einer Minute?
Uhrzeiten an einer großen, begehbaren Stoffuhr einstellen
Uhrenmuseum Wasseruhr, Sanduhr, Pendeluhr zusammenbauen
Sekunden, Minuten, Stunden
Die Uhr lesen (je nach viertel/ dreiviertel Stunden und/oder Minutenangaben)
Verschiedene Uhren kennenlernen und U hren bauen
Selbst Tätigkeiten verschiedener Dauer ausdenken und zuordnen Taschen-Quiz Die Uhr lernen
vollständig vorstellende Handlung
Tätigkeiten der Dauer nach zuordnen (z. B. 50 m Sprint – Sekunden, Zähne putzen – Minuten, Schlafen – Stunden) Lük Lernschlüssel Logico Piccolo Sachunterricht: Das Jahr – die Zeit
teilweise vorstellende Handlung
anschaulich praktisch
Abb. 2: Zeitmessung – die Vielfalt der Uhren, Wiebe 2013, 42
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Zum Weiterlesen empfehlen sich die Arbeiten Feusers (1989), der den Ansatz Klafkis verändert und weiterentwickelt hat und dessen Baummodell bis heute eine viel genutzte Planungshilfe für inklusive Kontexte darstellt. Aus der praktischen Erfahrung ist anzumerken, dass es zwar erfreulicherweise immer wieder überraschende und individuelle Lernwege einzelner SchülerInnen gibt, dass sich jedoch insbesondere für BerufsanfängerInnen eine gründliche Antizipation der klassischen Lernwege z. B. vom konkreten Erfahrungsbezug zur Abstraktion oder von der mehrfachen Präsentation eines sprachlichen Phänomens zur Anwendung auf jeden Fall lohnt.
3. Offene Formen des Unterrichts als Chance individualisierenden Lernens Als offene Formen des Unterrichts werden Lernarrangements bezeichnet, die eigene Entscheidungen der Lernenden in den je unterschiedlichen Bereichen von Unterricht zulassen. Abb. 3 gibt einen Überblick über die zu öffnenden Bereiche sowie über die graduellen Stufen von Offenheit: Organisatorische Offenheit Inwieweit können die SchülerInnen Rahmenbedingungen ihrer Arbeit selbst bestimmen?
Methodische O ffenheit Inwieweit können die SchülerInnen ihrem eigenen Lernweg folgen?
Inhaltliche O ffenheit Inwieweit können die SchülerInnen über ihre Lerninhalte selbst bestimmen?
Soziale Offenheit Inwieweit können die SchülerInnen in der Klasse (Unterrichtsablauf, Regeln) mitbestimmen?
Primär auf eigener Arbeitsorganisation der SchülerInnen basierender Unterricht
Primär auf ›natürlicher‹ Methode/ Eigenproduktion basierender Unterricht
Primär auf selbstgesteuertem/interessengeleitetem Arbeiten basierender Unterricht
Selbstregierung der Klassengemeinschaft
Offene Rahmenvorgaben
Meist Zulassen eigener Zugangsweisen/Lernwege der SchülerInnen
Inhaltlich offene Vorgaben von Rahmenthemen oder Fachbereichen
SchülerInnen können eigenverantwortlich in wichtigen Bereichen mitbestimmen
In Teilbereichen stärkere Öffnung der inhaltlichen Vorgaben zu vorgegebener Form
SchülerInnen können lehrergelenkt in Teilbereichen mitbestimmen
Öffnung der Rahmen- In Teilbereichen stärkerer Einbezug/ vorgaben in einzelstärkeres Zulassen nen Teilbereichen eigener Wege
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Organisatorische Offenheit Inwieweit können die SchülerInnen Rahmenbedingungen ihrer Arbeit selbst bestimmen?
Methodische O ffenheit Inwieweit können die SchülerInnen ihrem eigenen Lernweg folgen?
Inhaltliche O ffenheit Inwieweit können die SchülerInnen über ihre Lerninhalte selbst bestimmen?
Soziale Offenheit Inwieweit können die SchülerInnen in der Klasse (Unterrichtsablauf, Regeln) mitbestimmen?
Punktuelle Öffnung der Rahmenvorgaben in einzelnen Teilbereichen
Schülerwege werden aufgegriffen, aber die Hinführung zum Normweg bestimmt das Geschehen
SchülerInnen können aus festem Arrangement frei auswählen oder Inhalte zu fest vorgegebenen Aufgaben selbst bestimmen
SchülerInnen werden nur peripher gefragt, LehrerIn weiß schon vorher, wie es laufen sollte; SchülerInnen können in (belanglosen) Teilbereichen mitbestimmen
Öffnung der Rahmenvorgaben kaum wahrnehmbar/ begründbar
Anhören einzelner Ideen der SchülerInnen, aber der Lehrgang bestimmt das Geschehen
Einzelne inhaltliche Alternativen ohne große Abweichung werden zugelassen
Vorgabe von Verhaltensregeln durch LehrerIn oder Schulvorgaben
Vorgabe von Arbeitstempo, -ort, -abfolge usw. durch LehrerIn oder Material
Vorgaben von Lösungswegen/-techniken durch LehrerIn oder Arbeitsmittel
Lehrerzentrierte Vorgaben von Arbeitsaufgaben /-in- Vorgaben halten durch LehrerIn oder Arbeitsmittel
Abb. 3: Graduelle Stufen der Offenheit, nach Peschel 2002
Anknüpfend an den Gedanken der natürlichen Differenzierung wird bei offenen Lernarrangements davon ausgegangen, dass die Lernenden ihrem eigenen Lernweg folgen können und sich dies sowohl motivational als auch im Sinne einer größeren Passung zum individuellen Lernweg positiv auswirkt. Dass die Arbeit in offenen Lernarrangements nicht voraussetzungslos ist, ist eine Erfahrung, die motivierte junge Lehrkräfte, die z. B. das erste Mal ein Arbeitsblatt in unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden zur Wahl stellen oder die SchülerInnen die Sozialform selber wählen lassen, oft etwas enttäuscht: Die SchülerInnen suchen sich genau die LernpartnerInnen, mit denen sie nicht gut zusammenarbeiten können, die lernschwächere Schülerin nimmt das schwerste Arbeitsblatt und der leistungsstärkste Schüler der Klasse das leichteste. Es ist zu laut, während der Arbeit im Stationenlernen und am Ende der Stunde haben viel zu wenige SchülerInnen sinnvolle Ergebnisse notiert. Eine Erklärung dazu bietet die obenstehende Tabelle, wenn man sie von unten nach oben liest: Wenn sich der Unterricht zunächst auf der untersten Stufe bewegt und die SchülerInnen an klare Vorgaben und das Verfolgen eines Lernweges unter Anleitung gewöhnt sind, werden sie den Sprung z. B. zur punk-
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tuellen Öffnung, die Mitbestimmung und Entscheidungen innerhalb eines offenen Rahmenthemas verlangt, nicht leisten können. In allen genannten Bereichen müssen SchülerInnen den Umgang mit Offenheit erst allmählich lernen, und nicht alle Öffnungsmöglichkeiten sollten in diesem Lernprozess gleichzeitig eingesetzt werden. So kann es in einer Klasse, in der die sozialen Beziehungen untereinander eher konfliktreich sind, sehr sinnvoll sein, die Sozialform vorzugeben und nur eine Wahlmöglichkeit zwischen Themen oder Aufgabenformaten zuzulassen. Eine Methode wie das Stationenlernen z. B. (vgl. → 7 Methoden kennen und einsetzen) kann in jeder Facette von sehr eng bis ganz offen gestaltet und an die Kompetenzen der Lerngruppe im Bereich selbstständigen Arbeitens angepasst werden. Ähnlich verhält es sich mit den Methoden Wochenplanarbeit, Freiarbeit und Projektarbeit. Eine besondere Bedeutung kommt bei zunehmenden Wahlmöglichkeiten der SchülerInnen der Beratung durch die Lehrkraft zu. Wenn z. B. ein Schüler an einem viel zu schweren Arbeitsblatt scheitert, das er gewählt hat, weil sein Freund dasselbe gewählt hat oder weil er vielleicht zeigen wollte, dass er kompetent ist, dann steht diese Misserfolgserlebnis nicht nur dem konkreten Lernen in dieser Stunde, sondern auch der weiteren Bereitschaft, in dieser methodischen Form zu arbeiten, im Wege: Stationenlernen ist dann ›doof‹, weil sowieso nichts dabei herauskommt. Damit steht die Lehrkraft vor einem Dilemma: Soll sie dem Schüler oder der Schülerin von dem gewählten Arbeitsblatt abraten oder ihm/ihr sogar ein anderes geben? Oder soll sie lieber in Kauf nehmen, dass der Lernprozess nicht gelingt und sich bei den Lernenden Frust aufbaut? Es gibt kein Patentrezept für diese Situation. Wichtig herauszustellen ist aber, dass zu einem neu erlernten methodischen Zugang immer ein reflektierender Rückblick gehört, der transparent macht, was gelungen und was aus welchen Gründen nicht gelungen ist. SchülerInnen lernen dabei ihr eigenes Lernverhalten zunehmend bewusst wahrzunehmen, was eine wichtige Voraussetzung für einen weiteren Grad von Öffnung, der z. B. auf Mitbestimmung abzielt, darstellt. Analysieren Sie eine konkrete Lerngruppe in Bezug auf die Öffnungsmöglichkeiten von Unterricht (nach Peschel), die diese bewältigen könnte. Was wäre eine gut umzusetzende nächste Stufe? Erproben Sie eine Metareflexion: Bitten Sie Ihre SchülerInnen nach einer beliebigen Arbeitsphase, ihre gewählten methodischen Vorgehensweise und individuellen Arbeitsstrategien darzulegen. Sprechen Sie mit ihnen über Vor- und Nachteile.
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4. Differenzierung im Unterrichtsgespräch Eine Form der Differenzierung, die jede Lehrkraft im Unterricht vornimmt, ohne sich dessen immer bewusst zu sein, ist die Ansprache der einzelnen SchülerInnen und das Geben von Rückmeldungen. Beobachten Sie eine andere Lehrkraft oder sich selbst während des Unterrichtsgesprächs: Wer wird als erstes bei welcher Frage drangenommen? Wer als zweites? Wer vielleicht lieber gar nicht? Beobachten Sie die Auswirkungen von LehrerInnenrückmeldungen im Unterrichtsgespräch! Wann gehen Hände hoch oder runter? Wie reagieren SchülerInnen auf die Rückmeldung der Lehrkraft zu ihrem Beitrag?
Lehrkräfte handeln beim Drannehmen von SchülerInnen oft intuitiv und aus ganz unterschiedlichen Gründen: SchülerIn X ȤȤ nehme ich dran, weil ich den Namen weiß, ȤȤ nehme ich dran, weil er oder sie sich so ungestüm meldet/nett lächelt, ȤȤ nehme ich dran, weil er oder sie sich als erstes gemeldet hat, ȤȤ nehme ich dran, weil er oder sie sich noch nie gemeldet hat, ȤȤ nehme ich dran, weil er oder sie erwartungsgemäß die richtige oder eine den Erkenntnisprozess weiterbringende Antwort gibt, ȤȤ nehme ich dran, weil er oder sie erwartungsgemäß nicht die richtige Antwort gibt, ȤȤ nehme ich dran, weil er oder sie nicht aufpasst, ȤȤ nehme ich dran, um ihm oder ihr ein Erfolgserlebnis zu verschaffen, ȤȤ nehme ich dran, um ihm oder ihr seine Grenzen aufzuzeigen usw. Es kann nicht darum gehen, diese oft aus Erfahrung, aber auch zur Erhaltung der eigenen Handlungsfähigkeit verwendeten Mechanismen auszuschalten oder grundlegend zu kritisieren. Im Sinne eines verantworteten und angemessenen Umgangs mit Heterogenität wäre es jedoch gut, sich die eigenen Strategien bewusst zu machen und gegebenenfalls zu erweitern, um sich dem Anspruch einer Gleichbehandlung im besten Sinne anzunähern: »Zur Gleichbehandlung von Schülern gehört es auch, Ungleiches ungleich zu behandeln.« (Rohe 2001, 130)
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Dazu kann auch gehören, SchülerInnen nicht nach der nur scheinbar gerechten Redereihenfolge dranzunehmen oder Beiträge zu verstärken, die nur einen minimal weiterbringenden Ansatz für den Erkenntnisprozess enthalten. Es kann sein, dass Sie das eigene Ritual des Drannehmens durchbrechen müssen, um einen SchülerInnenbeitrag zu loben, der es in den Augen der anderen SchülerInnen gar nicht wert ist, so gelobt zu werden. Vielleicht müssen Sie sogar jemanden drannehmen, der sich gar nicht meldet, um genau dieser/m Lernenden gerecht zu werden. Immer wird die Schwierigkeit der Balance zwischen der individuellen Wertschätzung der einzelnen SchülerInnen und dem Orientierungswert (für die/den Einzelnen und die gesamte Lerngruppe) in Bezug auf den Sachstand zu suchen sein. Grundlegende Hinweise zum Geben von Rückmeldungen sowie zur Arbeit an der eigenen Sprache finden Sie im Kapitel → 15 Unterrichtsgespräche führen (Gestaltung der Lehrersprache – Arbeit an der eigenen Haltung und Rückmeldungen an SchülerInnen – Arbeit mit Schülerbeiträgen). Im Folgenden sollen im Kontext dieses Kapitels noch zwei zunehmend an Bedeutung gewinnende, thematisch durchaus abgegrenzte Aspekte der Differenzierung in den Blick genommen werden.
5. Unterrichtssprache Deutsch Ein wichtiger Aspekt in Lerngruppen, deren Lernvoraussetzungen durch sprachliche Diversität der SchülerInnen geprägt sind, ist die Lehrersprache und die sprachliche Gestaltung des Unterrichts. Auch wenn die wichtigsten Grundlagen der Bildungssprache Deutsch bereits in Kindergarten und Grundschule gelegt werden, zeigen sich in den weiterführenden Schulen oft große Unterschiede zwischen den Sprachkompetenzen von Kindern aus bildungsnahen Elternhäusern, in denen Deutsch gesprochen wird, auf der einen Seite und solchen, in denen Deutsch nicht die Alltagsprache ist und ein anregender Austausch in der deutschen Sprache fehlt, auf der anderen Seite. Selbstverständlich gibt es zwischen diesen beiden Polen jede Art von Mischformen. Was heißt das für uns als LehrerInnen? 1. Wir müssen damit rechnen, dass mit zunehmendem Gebrauch einer Bildungssprache, in der z. B. das Wort anziehen sich nicht mehr konkret auf die Jacke und das Hinausgehen nach draußen, sondern auf das Verhalten von Eisenspänen in der Nähe eines Magneten bezieht, SchülerInnen, deren Muttersprache nicht Deutsch ist, eine Lernschwierigkeit haben, weil sie das Wort in einem Merksatz oder Lexikonartikel nicht verstehen würden und es
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andererseits in der Beschreibung eines durchgeführten Experimentes auch nicht aktiv anwenden könnten. Im folgenden Beispiel (vgl. Niedersächsisches Kultusministerium 2015, 15) finden Sie Äußerungen von Kindern im Rahmen des Sachunterrichts an der Grundschule nach dem Durchführen eines entsprechenden Experiments (Hufeisenmagnet und Stecknadeln): Stufe 1
Ein Kind zeigt beim Experiment in der Kleingruppe auf einige Stecknadeln und sagt: »Guck, der bewegt sie. Die da sind nicht hängen geblieben.«
Richtige Beobachtung, wesentliche Begriffe wie Stecknadeln und Magnet fehlen aber, die Verwendung von allgemeinen Pronomen führt zu Unschärfen in der Aussage, keine Verallgemeinerung
Stufe 2
Ein Kind berichtet der Lehrerin: »Wir haben herausgefunden, die Stecknadeln bleiben an dem Magneten hängen.«
Wesentliche Begriffe werden benannt, Verallgemeinerung wird vorgenommen
Stufe 3
Ein Kind schreibt in einer Versuchsbeschreibung: »Unser Experiment zeigt, dass Magnete einige Metalle anziehen.«
Klare Verallgemeinerung, Einordnung in einen Geltungsbereich, Differenzierung der Aussage
Stufe 4
Text in einem Kinderlexikon: »Magnetische Anziehung tritt nur zwischen Eisenmetallen auf.«
Verkürzung, Verallgemeinerung und Abstraktra – »Anziehung« tritt nicht in der allgemeinsprachlichen Bedeutung auf
Abb. 4: Anziehen im Experiment: Sprachvermögen von Grundschulkindern
Zur Bildungssprache gehören dabei neben schulspezifischen Ausdrücken wie z. B. Pausenhof oder versetzt werden zunehmend fachsprachlich gebrauchte sprachliche Konstruktionen wie z. B. je – desto, unter Berücksichtigung von, nach Abzug von (deren Bedeutung nicht muttersprachlichen SchülerInnen aus ihrer Alltagssprache nicht bekannt ist) sowie die für Aufgabenstellungen besonders relevanten Operatoren wie z. B. vergleichen, erklären, ausführen. Unter dem Aspekt der Differenzierung ist dabei eine (fach-)sprachliche Förderung der entsprechenden SchülerInnen in den Blick zu nehmen, die spezifische Methoden wie z. B. die Wortschatzkiste oder den Einsatz eines Sprachheftes verlangen. Im Kerncurriculum für das Fach Mathematik an Realschulen (2014) werden konkrete Hinweise auf Instrumente eines sprachsensiblen Fachunterrichts gegeben: ȤȤ Wortschatzspeicher und Lernplakate zum Aufbau eines fachspezifischen Wortschatzes, ȤȤ Formulierungshilfen für Merksätze und Begründungen zur Weiterentwicklung des mathematischen Argumentierens,
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ȤȤ sprachlich klare Aufgabenstellungen, die Schülerinnen und Schüler mit eigenen Worten wiedergeben können, ȤȤ die Thematisierung von Operatoren wie Beschreiben, Vergleichen oder Begründen, die mathematische Tätigkeiten konkretisieren, ȤȤ kooperative Methoden, die vielfältige Kommunikationssituationen und damit Sprachanlässe über mathematische Inhalte ermöglichen, ȤȤ Lernprotokolle, Lerntagebücher und Selbsteinschätzungsbögen zur Darstellung und Reflexion des individuellen Lernprozesses. Analysieren Sie das beispielhafte Arbeitsblatt zur Erklärung des Operators Vergleichen: Auf welchen Ebenen liegen die gegebenen Hilfestellungen? Entwerfen Sie in Anlehnung daran ein eigenes Arbeitsblatt zum Operator Begründen.
6. Vorsichtige Anmerkungen zum Thema Inklusion Inklusive Lernkontexte lösen bei vielen LehrerInnen, die nicht speziell dafür ausgebildet sind, große Ängste aus. Zwar ist die rechtliche Sachlage klar – das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-Behindertenrechtskonvention 2006) schreibt vor, dass SchülerInnen mit Beeinträchtigungen an allen allgemeinbildenden Schulen aufgenommen und beschult werden können und sollen – die Umsetzung vor Ort ist jedoch häufig nicht so klar. Auch wenn viele Schulen in den letzten Jahren engagiert Inklusionskonzepte erstellt haben und sich auf der Ebene der Haltung alle Beteiligten in dem Gedanken des Grundrechts auf Bildungsteilhabe einig sind, führen die organisatorischen (und finanziellen) Rahmenbedingungen bisher häufig LehrerInnen an die Grenzen ihrer Belastbarkeit und bieten den betroffenen SchülerInnen bei Weitem nicht immer die Unterstützung und Entwicklungsmöglichkeiten, die in Förderschulen mit ausgewiesenen sonderpädagogischen Schwerpunkten geleistet werden können. Entscheidend sind deshalb immer die konkreten Bedingungen vor Ort, die sehr unterschiedlich ausfallen können. Informieren Sie sich über die Möglichkeiten und Bedingungen des Nachteilsausgleichs für Ihr Bundesland! Erkunden Sie an Ihrer Ausbildungsschule, welche Förderschwerpunkte durch SchülerInnen mit Beeinträchtigungen angefordert sind. Sprechen Sie mit den KollegInnen über ihre Erfahrungen.
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Informieren Sie sich allgemein über die sonderpädagogischen Schwerpunkte Ihrer Schule, die je nach Bundesland etwas anders formuliert sein können: geistige Entwicklung, körperliche und motorische Entwicklung, sozial emotionale Entwicklung, Sehen, Hören und Kommunikation, Sprache, Lernen. Suchen Sie konkrete inklusive Unterrichtssituationen auf, um zu hospitieren, Erfahrungen zu sammeln und Berührungsängste abzubauen. Befragen Sie (falls vorhanden) Fachkräfte mit einer sonder-/förderpädagogischen Ausbildung, was Sie als nicht in diesem Bereich ausgebildete Lehrkraft beachten sollten. Entwerfen Sie im Sinne Klafkis eine einfache Differenzierungsmaßnahme, die auch die SchülerInnen mit Beeinträchtigung einbezieht.
Unsere These als AusbilderInnen: Wer das Handwerkszeug einer qualitativen Differenzierung beherrscht, kann – mit Hilfe der sonderpädagogisch geschulten KollegInnen – auch eine inklusive Differenzierungsmaßnahme gestalten!
7. Hausaufgaben – die unterschätzte Differenzierungsmöglichkeit Von der ganz großen Herausforderung Inklusion noch einmal der Blick auf eine ganz unspektakuläre, einfach anzuwendende und sehr wirksame Differenzierungsmöglichkeit: Bieten Sie Ihren SchülerInnen ab und zu unterschiedliche Themen und Aufgabenstellungen in der Hausaufgabe an. So könnte z. B. im Fach Geschichte in Klasse 7 nach der Erarbeitung einer Quelle (Beschreibung und Analyse eines Bildes Louis XIV.) zwischen folgenden Aufgabenstellungen gewählt werden: 1. Verfasse eine schriftliche Quelleneinordnung des Bildes – recherchiere dafür im Internet die Biografie des Malers. 2. Verfasse einen Text für ein Kinderlexikon, in dem das berühmte Paradebildnis Ludwig XIV. aus dem Jahr 1701 erklärt wird. Verwende dazu die Notizen von der Tafel. Bedenke, dass du Fachbegriffe ›kindgerecht‹ erklären musst. 3. Das Bildnis aus dem Jahr 1701 zeigt den Königs von Frankreich Ludwig XIV. in seinem 63. Lebensjahr. Stelle ausgehend von dieser Selbstdarstellung Vermutungen über seine Regierungszeit an.
Hausaufgaben lassen sich fast immer so konstruieren, dass unterschiedliche Lerntypen und Schwierigkeitsgrade angesprochen werden. Für SchülerInnen liegt bereits in der Möglichkeit der Wahl ein entscheidender Motivationsfaktor – manchmal fallen selbstgewählte Hausaufgaben durch ihre liebevolle und
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ausführliche Bearbeitung aus dem von Lehrerseite erwarteten Rahmen heraus. Der Vorteil für die SchülerInnen liegt weiter darin, dass jede/r in seinem eigenen Tempo arbeiten kann – für Sie als Lehrkraft, dass Sie die Unterscheide in diesem Bereich nicht ausgleichen müssen. Hausaufgaben, die eine so intensive Auseinandersetzung der SchülerInnen wie in dem oben genannten Beispiel erfordern, müssen selbstverständlich im Unterricht (oder durch Einsammeln durch die Lehrkraft) zur Geltung kommen. Dies könnte bei diesem Beispiel methodisch z. B. durch die Vorstellung der Arbeitsergebnisse in themengemischten Kleingruppen erfolgen. Wo SchülerInnen dies bereits gelernt haben, kann mit Feedbackverfahren oder kooperativen Verfahren, die eine gemeinsame weitere Aufgabe anschließen, gearbeitet werden. Selbstverständlich können auch jeweils zwei Beispiele zu jedem Hausaufgabentyp im Plenum zur Auswertung vorgelesen werden. Immer wird das Interesse der SchülerInnen an verschiedenen Fragestellungen größer sein als zu einer Aufgabenstellung. Bei geschickter didaktischer Konstruktion lässt die Reihenfolg der Auswertung der Hausaufgaben eine weiterführend Progression zu und schult zugleich die fachbezogenen Kompetenzen: So würde in diesem Beispiel die Quelleneinordnung in Aufgabe 1 den fachspezifisch klassischen Auftakt bieten, Aufgabe 2 würde im Sinne einer Wiederholung die wesentlichen Inhalte der Selbstdarstellung des Sonnenkönigs ins Bewusstsein rufen und Aufgabe 3 interpretierend überleiten in die Bearbeitung einer weiteren Quelle oder die Erschließung eines Darstellungstextes, die es ermöglichen, die aufgestellten Vermutungen zu überprüfen. Pädagogischer Benefit: Durch eine so vorgenommene Einbindung in den weiteren Unterricht erhalten Hausaufgaben auch für SchülerInnen ein anderen Stellenwert, als wenn lediglich das ›Gemachthaben‹ per Strichliste überprüft wird.
8. Ein Abschlusswort – wie viel Differenzierung muss sein? »Heterogenität bewältigt man am wenigsten dadurch, dass man ohne Ende differenziert und immer heterogenere Schülerpopulationen ›erzeugt‹, sondern viel eher dadurch, dass man Schüler/innen möglichst häufig miteinander und voneinander lernen lässt.« (Klippert 2011, 103 f.)
Zum Abschluss des Kapitels sei dieser wichtige Punkt noch einmal explizit hervorgehoben: Als Lehrkraft, die unterschiedlichen SchülerInnen gerecht werden will, steht man vor zwei wichtigen Herausforderungen: Zum einen, die richtigen
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Aufgaben-, Darbietungs- oder Übungsformen für die individuellen Lernstände der SchülerInnen zu finden, zum anderen, den gemeinsamen Lernprozess in der Gruppe zusammenzuhalten und transparent zu machen. Dafür sind insbesondere alle Formen des kooperativen Lernens (→ 7 Methoden kennen und einsetzen) geeignet, aber auch das Einüben von vielfältigen Präsentationsformen und eine Lernkultur, die es allen SchülerInnen ermöglicht, ihren Beitrag einzubringen. Wie viel Differenzierung nötig und sinnvoll ist, hängt von vielen verschiedenen Faktoren ab, die Sie nicht alle selbst in der Hand haben: ȤȤ Grad der Heterogenität einer Lerngruppe (ein ausgewiesen inklusiver Kontext stellt andere Herausforderungen als die ebenfalls heterogene 5. Klasse eines Gymnasiums). ȤȤ Schulkultur und räumliche Gegebenheiten: Gibt es Differenzierungsräume? Sind die SchülerInnen an den nötigen Grad von Offenheit und Selbstständigkeit gewöhnt, den differenzierende Aufgabenformate verlangen? Sind die KollegInnen daran gewöhnt, dass SchülerInnen auf einer Lerninsel im Gebäude etwas allein bearbeiten? ȤȤ Soziale Kompetenzen der Lerngruppe: Können die SchülerInnen sich schon gegenseitig zuhören bei Präsentationen? Können sie zusammenarbeiten? ȤȤ Ihr eigener Erfahrungsstand: Gelingt die Planung eines Lernweges im Allgemeinen bereits? Erkennen Sie Schwierigkeiten von Aufgabenstellungen aus der Sicht der Schülerinnen? Trauen Sie sich, im Unterricht von ihrer Planung abzuweichen, wenn Sie merken, dass der Lernprozess der SchülerInnen anders verläuft? Wohlgemerkt: Keiner der benannten Faktoren sollte Sie davon abhalten, mit dem Differenzieren zu beginnen – wie einleitend dargestellt, werden Sie es sowieso müssen. Sie sollten sich als BerufsanfängerIn aber frei machen von der Vorstellung, dass das Lernen der SchülerInnen und eine gute Unterrichtsstunde nur durch Ihre passgenau vorüberlegten Differenzierungsangebote funktioniert. Wichtiger für Ihren Anfangsunterricht ist das bewusste Hinschauen auf die Lernprozesse der SchülerInnen und das Gespräch mit diesen darüber: Wie verstehen sie eine Formulierung? Wo liegen Schwierigkeiten der Bearbeitung? Was macht ihnen Spaß, was nicht? Experimentieren Sie! Probieren Sie nacheinander verschiedene Formen aus, beginnen Sie mit einem alternativen Angebot oder einer Wahlmöglichkeit. Erproben Sie arbeitsteilige Arbeitsformen und üben Sie mit den SchülerInnen wechselseitige Präsentationsformen ein (vgl. → 7 Methoden kennen und einsetzen, Marktplatz). Bieten Sie zu einem Thema, das sich besonders gut eignet, ein Statio-
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nenlernen oder eine Lerntheke mit Übungsformen an – beobachten Sie Ihre SchülerInnen. Nach und nach werden Sie die Lernstände, bevorzugten Zugänge und Schwierigkeiten in den jeweiligen Lerngruppen kennenlernen. Auch wenn Sie diese kennen, wird es selten möglich sein, eine Stunde zu halten, in der Sie allen SchülerInnen auf die gleiche Weise gerecht werden. Hier liegt aus meiner Sicht gerade für viele junge engagierte LehrerInnen eine klare Überforderungsfalle. Der folgende Vorschlag ist wiederum kein Patentrezept und kann in seinem Geltungsbereich sicher nur für Lerngruppen eines bestimmten Heterogenitätsgrades gelten – er ist aber andererseits weit mehr, als in vielen Unterrichtstunden im schulischen Alltag passiert: ȤȤ Ich unterrichte nicht nur, sondern schaue genau hin, wie meine Schülerinnen lernen und wie nicht. ȤȤ Ich plane in jeder dritten Stunde eine kleine Wahlmöglichkeit, eine arbeitsteiligen Zugang oder gestufte Lernhilfen ein. ȤȤ Ich übe mit meinen Lerngruppen verschiedene Präsentationsformen und wechselseitiges Zuhören ein. ȤȤ Ich biete einmal im Halbjahr eine differenzierte Hausaufgabenstellung an und lasse diese präsentieren oder schaue mir die Ergebnisse selbst an. ȤȤ Ich biete jeder Lerngruppe im Schuljahr einmal eine zu ihrer Selbstständigkeit und Sozialkompetenz passende offene Unterrichtsform an. ȤȤ Ich beginne das Differenzieren in nur einer Klasse und nehme erst nach und nach andere Lerngruppen hinzu. Wandeln Sie die Vorschläge so für sich ab, dass sie zu Ihnen, Ihren SchülerInnen und Ihrer Arbeitsbelastung passt, aber verzichten Sie nicht auf die innewohnende Systematik: Ein kleines Mantra auf die Innenseite der Mappe für die jeweilige Klasse geklebt, erinnert Sie über das Schuljahr an das, was möglich und sinnvoll ist, z. B. folgendes Motto frei nach Albert Schweitzer: »Das Wenige, das du tun kannst, ist viel.«
Lara, 15 Jahre, Klasse 8
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Feuser, Georg: Momente entwicklungslogischer Didaktik einer Allgemeinen (integrativen) Pädagogik. In: Eberwein, Hans /Knauer, Sabine (Hg.): Handbuch Integrationspädagogik. Kinder mit und ohne Beeinträchtigung lernen gemeinsam, Weinheim/Basel 72009 Herbarth, Johann F.: J. F. Herbarth’s kleine philosophische Schriften und Abhandlungen, nebst dessen wissenschaftlichem Nachlass. Dritter Band (Hg.: Gustav Hartenstein), Leipzig 1843 Höhnle, Steffen/Pape, Christina/Uphues, Rainer: Differenzierung im Geographieunterricht. In: Eisenmann, Maria/Grimm, Thomas (Hg.): Heterogene Klassen: Differenzierung in Schule und Unterricht. Baltmannsweiler 2011 http://methodenpool.uni-koeln.de/unterricht/darstellung.html (zuletzt abgerufen 13. 06. 2016) Klafki, Wolfgang: Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Zeitgemäße Allgemeinbildung und kritisch-konstruktive Didaktik, Weinheim/Basel 62007 Klippert, Heinz: Besser lernen. Kompetenzvermittlung und Schüleraktivierung im Schulalltag, Stuttgart 52008 Kurhofer, Dirk: Natürliche Differenzierung im Mathematikunterricht. In: Was? Wie? Warum? Berlin 2000, www.szacknys-kurhofer.de/differenzierung.html (zuletzt abgerufen am 13. 06. 2016) Leisen, Josef: Methoden-Handbuch Deutschsprachiger Fachunterricht (DFU). Bonn 2003 Niedersächsisches Kultusministerium: Perspektive Bildungssprache. Informationen und Anregungen zum Thema Sprachbildung in Niedersachsen. Hannover 2015 Niedersächsisches Kultusministerium: Kerncurriculum für die Realschule: Schuljahrgänge 5–10 Mathematik. Hannover 2014 Peschel, Falko: Offener Unterricht – Idee, Realität, Perspektive und ein praxiserprobtes Konzept zur Diskussion. Band 9, Teil 1 Allgemeindidaktische Überlegungen, Baltmannsweiler 2002 Rohe, Mathias: Der Islam – Alltagskonflikte und Lösungen: rechtliche Perspektiven. Freiburg/Br. 2001 Steenbuck, Olaf (2001): Heterogenität – Sind die Subjekte nur vielfältig und verschieden oder auch je besonders? In: Faulstich-Wieland, H. L. /Meyer, T. (Hg). Heterogenität.eWi-Report 24 (WS 20021/2002). Hamburg: Fachbereich Erziehungswissenschaften Wiebe, Antje: Möglichkeiten der Inneren Differenzierung im Gemeinsamen Unterrichtmit Hilfe von Differenzierungsmatrizen als Planungsgrundlage am Beispiel des Lernfeldes Zeit, Berlin 2013. www.gu-thue.de/material/Masterarbeit_mit_Anhang_gekuerzt.pdf (zuletzt abgerufen 13. 06. 2016) www.albert-schweitzer-stiftung.de/ueber-uns/menschen/albert-schweitzer/zitate (zuletzt abgerufen 13. 06. 2016)
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Auch wenn bis vor einiger Zeit das Finanzamt behauptete, Sie bräuchten zu Hause gar keinen Schreibtisch, weil Ihnen ja der Arbeitgeber in der Schule einen Arbeitsplatz zur Verfügung stellt, so haben Sie vermutlich doch bisher schon etliche Stunden dort verbracht, korrigiert, vorbereitet, nachbereitet und verwaltet. In gewisser Weise entsteht hier am heimischen Schreibtisch das Gerüst dessen, was im Klassenzimmer vermittelt werden soll. Umso wichtiger ist es, bei der Planung multimedialer Unterrichtsinhalte eben diese Vorbereitung gewissenhaft und vorausschauend zu halten; Fehler oder Unachtsamkeit rächen sich im Klassenzimmer oft bitterer als dies bei ›herkömmlichen‹ Inhalten der Fall ist. Ich gehe davon aus, dass Sie zumindest im grundsätzlichen Umgang mit dem PC Kenntnisse erworben haben und sich über die Einsatzmöglichkeiten im Unterricht einen Überblick verschaffen wollen.
1. Die Grundausstattung Neben einem Rechner (ob nun PC oder Laptop, Windows, Mac oder Linux) sind ein Drucker (für Farbfolien, Kopiervorlagen, Tischvorlagen) und ein Scanner (Schülerergebnisse, Korrekturen, Fotos einlesen) die sinnvolle Mindestvoraussetzung. Ich rate, je mehr Sie ein Gerät nutzen werden, umso gründlicher in eine längere Kaufberatung zu investieren. Denken Sie auch daran, dass ein höherer Kaufpreis gerechtfertigt sein kann, wenn die Lebensdauer oder Garantie entsprechend länger sind. Nicht vergessen: Das Finanzamt erstattet Ihnen einen Teil Ihrer Ausgaben, bewahren Sie daher die Belege gut auf. Ebenfalls sinnvoll sind: ȤȤ ein externes Laufwerk zur Sicherung der Daten, ȤȤ eine USB-Verlängerung direkt auf den Schreibtisch bzw. ein USB-Hub, denn Sie werden oft mit USB-Sticks von SchülerInnen oder KollegInnen umgehen müssen,
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ȤȤ ein bequemer und komfortabler Schreibtischstuhl. Sie verbringen hier einen Großteil Ihrer Zeit, denken Sie an Ihren Rücken, …), ȤȤ eine ergonomisch zum Schreibtyp passende Maus-/Tastaturkombinationen ȤȤ ein Mauspad – trotz optischer Mäuse mit Laserabtastung ist das Gefühl und die Handhabbarkeit auf einem Mauspad doch irgendwie besser im Kampf gegen das Karpaltunnelsyndrom, ȤȤ eine Handballenauflage. Richten Sie sich den Arbeitsplatz so ergonomisch wie möglich ein, den Bildschirm möglichst nicht direkt vor einem Fenster positionieren (schaltet ermüdendes Gegenlicht aus), für Ruhe sorgen, Arbeitsmaterialien griffbereit haben, ein Ablagesystem gut erreichbar positionieren.
2. Verwaltungsarbeit schnell erledigt Das neue Schuljahr beginnt! Welch ein Graus, wenn nun die handschriftliche Eintragung von scheinbar endlosen Schülerlisten beginnt und wertvolle Zeit raubt. Dabei liegen die Schülerdaten ja bereits digital vor. Beinahe jede Schule hat ein Schulverwaltungsprogramm und über dessen Exportfunktion können Sie Daten klassenweise exportieren und in ihr eigenes Notenverwaltungsprogramm importieren. Haben Sie selbst keinen Zugang zum Schulverwaltungsprogramm, fragen Sie die zuständigen KoordinatorInnen und bitten Sie um einen Export der Daten. Als Format für diesen Export wird häufig ein CSV-Format gewählt. Hier sind die einzelnen Datensätze durch ein Trennzeichen voneinander getrennt und können in diesem Format von vielen Programmen eingelesen werden. Auch können Sie selbst mit einer Tabellenkalkulation (Excel, Calc, …) in die Daten Einsicht nehmen und Änderungen einpflegen. Hier sind meine Favoriten zur Beschleunigung der Schülerverwaltung: Teacher Tool Dieses Programm ermöglicht die Verwaltung von Schülerdaten inklusive deren Leistungen über das Schuljahr. Besonders gut arbeitet dieses Programm mit Smartphone und Tablets mit iOS-Betriebssystem zusammen. Nach dem Import der Daten müssen Sie die Einstellungen für Ihre Fächer vornehmen und können dann bereits erste Eintragungen vornehmen. Nutzen Sie die Chance für eine Testversion der App und machen Sie sich mit dem Umgang vertraut, bevor Sie umsteigen.
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Abb. 1: Notenübersicht Teacher Tool (ipad Version)
Abb. 2: Beachten-Dialog Teacher Tool (ipad Version)
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Abb. 3: Fehlzeiten Teacher Tool (ipad Version)
Notenbox Das ist eine ›eierlegende Wollmilchsau‹ in Sachen Schüler- und Notenverwaltung. Hier sind wirklich bis ins kleinste Detail Einstellungen und Eintragungen zum jeweiligen Schüler/zur jeweiligen Schülerin möglich. Die Entwicklung ist sehr stabil und mittlerweile auch auf Smartphone und Tablet um eigens angepasste Versionen erweitert. Es gibt im Forum auch Anleitungen zur Nutzung des Programms auf Mac und Linux-Systemen, hier läuft das Programm in einer Windows-Emulation – ohne dass Windows installiert sein muss. Auch kann eine USB-Version erstellt werden, die direkt, ohne zusätzliche Installation, vom Stick lauffähig ist und daher auf jedem Windows-Rechner genutzt werden kann. Ideal, um in einer Freistunde schnell Noteneintragungen an einem Schulcomputer zu machen. Auch hier ist eine Testversion verfügbar, die mit Testdaten bereits bestückt ist, Sie können das Programm also vorher ausgiebig ausprobieren. Ein Tipp: ReferendarInnen, SammelbestellerInnen und Lehrerehepaare sparen zusätzlich auf den regulären Preis.
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Abb. 4: Leistungsentwicklung Notenbox (ipad Version)
Abb. 5: Übersicht Fach-Notenbox (ipad Version)
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Abb. 6: Sitzplan Notenbox (ipad Version)
Weitere Systeme Es gibt unzählige weitere Notenverwaltungssysteme, die teils auch den Umgang mit Daten auf dem Smartphone/Tablet unterstützen. Im Gegensatz zu den beiden genannten Programmen haben sich nach meiner Erfahrung aber im Umfang und/oder der Bedienung Einschränkungen ergeben, die in der Praxis den Unterrichtsalltag verzögern. Natürlich können und müssen Sie das für sich selber herausfinden, eventuell stören Sie diese Einschränkungen ja gar nicht.
3. Ein Wort zum Urheberrecht und Datenschutz Was kann ich eigentlich verwenden und veröffentlichen? Im Urheberrecht ist festgelegt, wie mit geistigem Eigentum umgegangen werden soll. Im Lehrerberuf ist man ständig der Versuchung ausgesetzt, fremdes geistiges Eigentum zu verwenden, so auf die Schnelle, weil es gerade so bequem ist und aus vielen weiteren Gründen.
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Heikel wird es besonders dann, wenn Lernunterlagen, Schülerprodukte oder Teile daraus veröffentlicht werden. Zur Erinnerung: Auch das Hochladen auf die schuleigene Homepage stellt eine Veröffentlichung dar. Hüten Sie sich vor Verwendung von fremdem geistigem Eigentum auf öffentlich zugänglichen Seiten, es drohen hohe Forderungen, die teils auch massiv von darauf spezialisierten Anwaltskanzleien beigetrieben werden. Nun ist der Grad der Schöpfung eines Werkes Definitionssache; Sie können sich aber sicher sein, dass Sie von anderen erstellte Karten, Noten, Musik- und Theaterstücke, Filme und dergleichen nicht als ihr Werk oder das der SchülerInnen ausgeben dürfen. Eigentlich ja selbstverständlich, aber das Internet ist natürlich eine verführerische Quelle. Gleichzeitig bietet das Internet jedoch auch abgabenfreie Grafiken, Musikstücke, Bilder und dergleichen. Auch gibt es besondere Lizenzformen wie die Creative Commons Licence, die Ihnen gestatten, diese Inhalte zu nutzen und auch wieder zu veröffentlichen, ohne dass Kosten dafür entstehen. Ein gängiges Problem der Unterrichtsvorbereitung liegt jedoch in der Suche nach geeigneten Bildern und vor allem in der Frage, inwieweit diese verwendet werden dürfen. So werden häufig beispielsweise Schülerergebnisse auf einem Arbeitsblatt mit einem fremden Bild auf der Homepage der Schule präsentiert, Artikel für die Schülerzeitung optisch aufgewertet oder Einträge auf der Homepage erstellt. Dadurch sind sie ja der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Diese Hinweise stellen keine Rechtsberatung dar und entbinden Sie nicht von der Pflicht, sich über die gültige Rechtslage zu informieren. Die geltenden rechtlichen Bestimmungen Ihres Bundeslandes können sich von anderen Bundesländern unterscheiden. Im Umgang mit sogenannten Digitalisaten gibt es ebenfalls unterschiedliche Übereinkünfte. Mögliche legale Quellen ohne entstehende Urheberrechtsabgaben sind: ȤȤ Die Clipart-Sammlung einer Textverarbeitung (kommerziell oder nicht kommerziell), ȤȤ Wikimedia Commons (ca. 20 Mio freie Bilder), ȤȤ Creative Commons bei Flickr, ȤȤ Openclipart, ȤȤ Library of Congress (nicht alle Bilder sind gemeinfrei). Wem gehören die Daten der SchülerInnen und wer bestimmt über diese Daten? Datenschutz ist im digitalen Zeitalter längst ein Grundrecht, denn je mehr Sie Dienste der digitalen Welt nutzen, desto mehr formt sich Ihre zweite, digitale Iden-
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tität. Sie haben ein Recht, dass diese Identität geschützt wird – und natürlich haben auch Ihre SchülerInnen ein Recht darauf. Auf der anderen Seite mussten und müssen Sie aber personenbezogene Daten verwalten (nichts anderes ist ja ein Notizbuch mit Notenlisten oder ein Smartphone mit Notenverwaltungsprogramm). Hier lauern bereits erste Fallstricke, denn um personenbezogene Daten speichern zu dürfen, muss ihr Dienstherr natürlich wissen, in welchem Umfang und wie diese Daten bei Ihnen abgelegt werden. Daher ist es an den meisten Schulen üblich oder gar zwingend vorgeschrieben, dass sich die Schulleitung und der oder die Datenschutzbeauftragte mittels eines Formulars einen Überblick über die Verwendung personenbezogener Daten verschafft und der Lehrkraft die Genehmigung zur Speicherung ebendieser erteilt. Dabei spielen neben technischen Angaben auch die Sicherungsmedien und der Zugang zu den verwendeten Geräten eine Rolle. Stellen Sie also sicher, dass diese personenbezogenen Daten auch nur von Ihnen einsehbar sind und das Einverständnis der Personen vorliegt. Weiteres regeln die Datenschutzgesetze und natürlich auch der an Ihrer Schule tätige Datenschutzbeauftragte.
4. Nachbereitung und Ablage Ein Ablagesystem ist nicht nur für Papierdokumente unerlässlich, auch die digitale Dateiflut will in Zaum gehalten werden. Dafür gibt es zwei grundlegende Prinzipien, die ich hier aufzeige. Für welches der beiden Systeme sie sich entscheiden, hängt ganz vor ihrer persönlichen Vorliebe ab. Ablage nach Klassenstufen In ihrer Ordnerstruktur werden Inhalte nach Fächern und anschließend nach Klassenstufen abgelegt. Das erleichtert die Wiederverwendung im folgenden Schuljahr, wirft aber eventuell alles über den Haufen, wenn neue Vorgaben Inhalte anders zuordnen oder die Anzahl der Schuljahre (wie bei uns in Niedersachsen) hoch- oder runtergesetzt wird. Ablage nach Themen Hier ordnen Sie die Inhalte zunächst den Fächern zu und bilden anschließend Oberthemen, die im Idealfall deckungsgleich mit Kerncurricula oder Rahmenrichtlinien ist. Der Vorteil hier ist die Möglichkeit, inhaltsbasiert Dokumente schnell auf höhere oder niedrigere Klassenstufen anpassen zu können. Eventu-
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elle Änderungen in der Zuordnung zu einzelnen Klassenstufen bringen dieses System nicht durcheinander. Denkbar ist natürlich auch eine Kombination aus beiden Systemen; dann aber erfordert die Ablagestruktur schon einiges an Aufmerksamkeit. Suchen und Finden in der Ablage Eine gute Volltextsuche macht es möglich, schon mit wenigen Stichworten die Dokumente zu finden, die Sie suchen. Entweder ist hier die Verwendung der systemeigenen Suche denkbar (Windows Suche, Mac Spotlight), es gibt aber auch installierbare Volltextsuchen, die mitunter leistungsfähiger und vor allem feiner justierbar sind. Als Beispiele seien hier google Search und Copernic genannt. Um die leistungshungrige Indizierung der Inhalte einzudämmen, rate ich, die Volltextsuche auf den Dokumentenordern ihrer Ablage zu konfigurieren und nicht das gesamte Dateisystem zu indizieren. Das kann, vor allem bei der initialen Indizierung, recht lange dauern, und der Rechner ist in dieser Zeit langsam. Sicherungsmedien und Sicherungsplan sind wichtige Rückfallebenen für den Fall der Fälle. Nehmen Sie hier stets das schlimmstmögliche Szenario an, den Totalverlust. Ich rate dazu, Daten mindestens zweigleisig zu sichern. In der Regel erfolgt einmal alle halbe Jahre eine Komplettsicherung der Daten auf einem externen Medium. Weiterhin sollten Sie nach wichtigen Arbeitsphasen (Abitur, neues Schuljahr) die geänderten Daten sichern. Ich nutze ein externes Medium (portable Festplatte) sowie einen Speicherdienst in der Cloud mit ausreichendem Platz. Lagern Sie das externe Sicherungsmedium nicht im Arbeitszimmer, besser ist es, dies in einem anderen Raum der Wohnung zu lagern oder, noch besser, in einem Schließfach außerhalb ihrer Wohnung. Die meisten Banken bieten solche Schließfächer gegen eine geringe Jahresgebühr an.
5. Die Ausstattung Die Grundausstattung Es gibt wohl kaum einen Bereich, der eine so weite Spanne unterschiedlicher Ausstattung beherbergt wie die EDV-Ausstattung an Schulen. Im Zuge verschiedener Offensiven der Politik sind historisch gewachsene Strukturen an den Schulen zu verschiedenen Zeitpunkten erweitert und vergrößert worden. Auszugehen ist zumindest davon, dass jede Schule über eine (unterschiedlich schnelle) Internetanbindung verfügt und zumeist mindestens einen Computer-
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raum für SchülerInnen eingerichtet hat. Alles andere ist die Kür: Smartboards, Beamer, Laptops, Tablet- und Notebook-Klassen und was sonst noch so denkbar ist, sind in unterschiedlicher Ausprägung in der Schullandschaft vertreten. Dies ist der gegebene Rahmen in der Schule. Nicht vergessen sollten Sie die Ausstattung der SchülerInnen, denn diese besitzen in der Regel ein aktuelles Smartphone als ›Schweizer Taschenmesser‹ des Informationszeitalters. Viele SchülerInnen der Oberstufe verfügen zusätzlich auch über einen eigenen Laptop und/oder ein Tablet. Auch dies kann man sich im Unterricht zunutze machen. Einige Schulen sind mittlerweile dazu übergegangen, weniger fest installierte Geräte zu beschaffen und stattdessen diese Ressourcen der SchülerInnen zu nutzen. Das aktuelle Stichwort lautet hier Bring your own device. Zwischen zwei Welten Mindestens zwei Arbeitsplätze (und als Pendler eventuell noch einen zusätzlichen Arbeitsplatz während der Fahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln), eröffnen ein Grundproblem: Synchronisierung zwischen diesen Arbeitsplätzen. Hier helfen mobile Lösungen, natürlich immer stärker in der digitalen Variante. Was bis vor einiger Zeit sogenannte Personal Information Manager (Palm, ipaq, …) erledigten, haben nun weitgehend Smartphones und Tablets übernommen. Auch das Synchronhalten der Daten zwischen zwei Rechnersystemen ist heute mittels Cloud-Lösungen (Achtung, Datenschutz!) oder günstigen USB-Sticks kein Problem mehr. Ich rate zu einem schnellen, ausreichend groß dimensionierten USB-Stick, der gleichzeitig möglichst in robuster Metallausführung daherkommt und ans Schlüsselbund passt. Die Auswahl der geeigneten Modelle wird aufgrund der Anforderungen schon recht dünn. Gute Erfahrungen habe ich bisher mit den großen Markenherstellern gemacht (Kingston, Verbatim, Sandisk, …). Viele KollegInnen verzichten gar auf zwei Rechner und tragen nur den Laptop von Arbeitsplatz A nach Arbeitsplatz B. Am heimischen Schreibtisch kann dieser dann mittels einer Docking Station in einen fast vollwertigen Arbeitsplatzrechner verwandelt werden. Zum Transport des Laptops gibt es Rucksäcke mit gepolstertem Laptop Fach und verschiedenste Taschen. Die digitale Werkzeugkiste Der Gedanke, alle benötigten Programme stets auf jedem Rechner verfügbar zu haben, ist Basis der digitalen Schultaschen. Hier werden die Programme auf einem USB-Stick in speziellen Versionen installiert und sind direkt von
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diesem Stick aus lauffähig. An jedem Rechner, mit gleichen Einstellungen und Speicherpfaden. Einige Bundesländer (Hessen und Baden-Württemberg gehören zu den Pionieren) haben spezielle Programmpakete geschnürt, die sich, um eine Benutzeroberfläche ergänzt, auf dem Stick installieren lassen. Auch Niedersachsen hat seit einiger Zeit eine solche Programmsammlung unter dem Namen n-stick herausgebracht. Diese lässt sich kostenlos unter http:// www.n-stick.de beziehen.
Abb. 7: Startseite des n-sticks
Eventuell fehlen dort Programme, die Sie sonst nutzen, dann lohnt sich ein Blick auf http://portableapps.com/de, vielleicht ist das benötigte Programm dort gelistet. Von etwaigen Versuchen, portable Versionen von kommerziellen Programmen aus herstellerfernen Quellen zu beziehen, rate ich ab. Sie verstoßen ziemlich sicher gegen die Lizenzbedingungen des Herstellers. Immerhin haben einige Schulbuchverlage den Bedarf erkannt und bieten portable Versionen ihrer Software an. Informieren Sie sich diesbezüglich bei den Verlagen. Tipps und Tricks ȤȤ Den USB-Stick ans Schlüsselbund der Schule, dort ist er immer griffbereit. Es gibt besonders robuste Modelle aus Metall mit ausreichend viel Speicherplatz (ideal und erschwinglich sind zur Zeit Modelle mit 32–64 GB Speicherkapazität)
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ȤȤ Öfter Sicherungen des Schulsticks erstellen (nach jedem Schulhalbjahr), möglichst auf einem anderen externen Medium, welches an einem anderen Ort gelagert wird. ȤȤ Für den heimischen Arbeitsplatz die Anschaffung einer NAS-Festplatte erwägen. Diese Network Attached Storage Festplatte (Marktführer sind Synology und QNAP) bindet man in das Heimnetzwerk ein; so hat man seine Daten immer und überall im Zugriff. Sie kann auch als Sicherungsmedium eingesetzt werden und ist je nach Konfiguration ausfallsicher. ȤȤ Den eigenen Rechner am heimischen Arbeitsplatz zumindest mit einem kommerziellen Virenscanner ausstatten; Gratis-Versionen nerven oft mit aggressiver Werbung und/oder schlechten Resultaten. Die Jahregebühr für ein solches Programm ist im Verhältnis zu einem Datenverlust niedrig und liegt bei ca. 30.− € ȤȤ Smartphone als Rechnerersatz: Wenn der Laptop zu schwer ist, reicht oft die Rechenleistung eine Smartphone für erstaunliche Ergebnisse. Die Anzeige des Smartphone kann mittels Zusatzsoftware (Airplay, Miracast mit den entsprechenden Programmen) an Beamer oder Fernseher übertragen werden. Gleiches gilt für Tablets.
6. Der Einsatz von digitalen Medien im Unterricht Gedankennetze Keine Methode ist wohl besser geeignet, umfangreiche Inhalte strukturiert darzustellen – daher ist sie aus meiner Sicht in allen Klassenstufen und in beinahe allen Unterrichtsphasen einsetzbar. Um einen zentralen Begriff, einen Impuls oder eine These werden die wichtigsten Begriffe spontan genannt und entweder in eine bestehende Struktur eingefügt oder die Struktur wird später ergänzt und die genannten Begriffe umsortiert. Hier spielen der Computer und digitale Medien eine tragende Rolle. Der Computer unterstützt und kann als Werkzeug flexibel und spontan eingesetzt werden, ohne große Vorbereitung und mit beachtlichen Ergebnissen. Als Software können Sie auf verschiedene Lösungen zurückgreifen. Kostenfreie Programme ȤȤ Freemind •• für viele Plattformen verfügbar •• sehr stabil
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•• grafische Bedienung eher solide als verspielt •• umfagreiche Exportfunktionen ȤȤ xMind •• für viele Plattformen verfügbar •• stabil, aber teils etwas langsam •• grafisch ansprechende Bedienung •• Exportfunktionen teils kostenpflichtig Kostenpflichtige Programme ȤȤ Mindmeister •• vollständig online bedienbare Software •• Abo-Modell mit vergünstigten Preisen für Lehrkräfte •• ohne Installation im Browser auf jedem System nutzbar •• korrespondierende Apps zum mobilen Arbeiten verfügbar ȤȤ Mindjet •• für die gängigsten Plattformen verfügbar •• sehr umfangreich in der Bedienung •• starke Exportfunktion •• Testversion verfügbar •• Rabatt für Lehrkräfte Ich skizziere Ihnen aus meinem bisherigen Schulalltag drei Einsatzmöglichkeiten, die sie als Grundlage nutzen können: Lernlandkarten als Möglichkeit der Partizipation von SchülerInnen und als Sicherung Zu Beginn eines Halbjahrs stelle ich den SchülerInnen meine Grobplanung vor, diese setzt sich aus den Vorgaben des Zentralabiturs, dem geplanten Lehrwerk und den Methoden zusammen. Diese Übersicht nutze ich in der ersten Stunde des neuen Schuljahres, um die Anforderungen des Faches und das Arbeiten im kommenden Semester zu präsentieren. Hier können, je nach Vorkenntnissen oder Wünschen der SchülerInnen natürlich Änderungen vorgenommen werden. Im weiteren Verlauf des Halbjahrs werden die umrissenen Themen erarbeitet und vertieft. In der letzten Doppelstunde fasse ich dann, gemeinsam mit den SchülerInnen, die Themen knapp zusammen, ordne sie der bestehenden Gliederung zu und ergänze diese nach Bedarf.
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Abb. 8: Semesterplanung Erdkunde, Oberstufe, Klasse 11
Ein eigener Strang sammelt die wichtigen Fachbegriffe und erweitert die Fachsprache der SchülerInnen. Hier lasse ich meist reihum von allen SchülerInnen einen Fachbegriff nennen und diesen gleich auch erklären. Es entsteht quasi eine Lernlandkarte des Semesters, die auch nachträglich für die SchülerInnen einen guten Überblick über das Semester bietet. Gerade in der Vorbereitungszeit für die Abiturprüfung haben sich diese Semesterzusammenfassungen bewährt. Sie bieten einen strukturierten Überblick, eine Lernliste und gleichzeitig auch den Blick aufs große Ganze, die fachliche Arbeit in der Oberstufe. Fächerabhängig ist diese Methode nicht, sie ist lediglich auf eine Strukturierbarkeit der Themen angewiesen. Das sollte aber in der Planung des Unterrichts Grundvoraussetzung sein. Arbeitsteilige Gruppenarbeit – Erschließung eines Themas Eine begrenzte Unterrichtseinheit, wie beispielsweise America in the 1960s, wird in Unterthemen aufgeteilt, arbeitsteilig bearbeitet und dann anschließend zusammengetragen und für die SchülerInnen dokumentiert. Dazu lege ich ein Grundgerüst mit den Themen an, unterstütze dies durch jeweils einen Bildimpuls, teile dann die Gruppenarbeit ein und stelle den Arbeitsauftrag. In der Präsentation der Arbeitsergebnisse kann entweder parallel mit Schlüsselwörtern dokumentiert werden oder die SchülerInnen tragen selbst Schlüsselwörter zusammen, die die vorhandene Struktur ergänzen. So verfügen alle über die erarbeiteten Ergebnisse an einem Ort, übersichtlich zusammengefasst. Das Teilthema muss sich für diese Methode natürlich
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eignen und in entsprechende Unterthemen unterteilen lassen. Auch müssen diese Teilthemen der zu erwartenden Anzahl an Gruppen angepasst werden. Ist diese Vorarbeit erledigt, haben Sie als Lehrkraft ausreichend Zeit, die einzelnen Gruppen zu betreuen, zu beraten und sich einen Überblick über Fortschritt und Arbeitsweise in den Gruppen zu verschaffen. Individuelle Lernwege sichtbar machen Einen aus verschiedenen Materialien bestehenden, komplexen Sachverhalt zu durchdringen und in einem eigenen Gedankennetz darzustellen, ist eine besondere kognitive Leistung, die SchülerInnen erbringen. Eine besondere Lernchance liegt dabei im individuellen Zugang – Software-Werkzeuge können sogar diese Gedanken und Zusammenhänge graphisch darstellen. Das Produkt kann präsentiert werden, ein Vergleich mit den Produkten der anderen SchülerInnen verschafft einen Überblick über das Vorgehen und die Arbeitsweise des Einzelnen. Idealerweise lassen sich einzelne Aspekte des Themas durch kleine Emoticons oder Cliparts illustrieren. Ein Beispiel wäre Das Hacienda- System in Lateinamerika. Natürlich könnte man dies auch auf dem Papier oder an der Tafel in einem klassischen Gedankennetz darstellen lassen; diese Methode ist aber nicht so effizient und flexibel wie die Nutzung der Software-Werkzeuge. Präsentationen In vielerlei Hinsicht sind Präsentationen ja zu einer Art Universalmittel geworden, kaum noch ein Unterrichtsfach, das ohne sie auskommt. Dass man diese herkömmlich mit Overhead-Folien vorführt, ist kaum noch zu beobachten. Computergestütztes Präsentieren ist das Mittel der Wahl, denn der Computer kann in der Vorbereitung und beim Design hilfreich sein, birgt aber auch gleichzeitig die Gefahr, den Inhalt zu vernachlässigen. Spricht man von computergestützten Präsentationen, so wird damit meist der Marktführer in Präsentationssoftware, Microsofts Powerpoint, gemeint sein. Aber auch die kostenlos erhältlichen Programme aus der LibreOffice bzw. OpenOffice Sammlung leisten gute Dienste. Benutzer eines Macs werden eventuell auch auf Keynote aus der iWorks Sammlung zugreifen; hier sind Designvorlagen und Effekte etwas hübscher und innovativer als bei den herkömmlichen Lösungen – aber dafür wird eben ein Mac benötigt, denn eine PC-Version gibt es nicht. Eher neuer und einem ungewöhnlichen Präsentationskonzept folgend ist die Cloud-Lösung Prezi, die motivierende und erstaunlich lebendige Präsentatio-
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nen ermöglicht, aber einem Abo-Modell unterliegt. Eine begrenzte Anzahl an Präsentationen kann man kostenlos erstellen und daran weiterarbeiten. Eine größere Anzahl und weitere Funktionen sind jedoch kostenpflichtig. Den Lehrervortrag digital präsentieren Der Lehrervortrag ist aus didaktischer Sicht sinnvoll, um in ein Thema einzuleiten, rasch Informationen zu vermitteln und vor allem in einer kurzen Phase die Aufmerksamkeit der SchülerInnen auf dieses Thema zu lenken. Eine digitale Präsentation ist eine Möglichkeit, einen solchen Lehrervortrag zu erstellen und medial anzureichern. Im Aufbau des Lehrervortrags sollten die Kriterien für eine gelungenen Präsentation (die man ja von den SchülerInnen auch verlangen würde) natürlich berücksichtigt werden. Auch kann ein Lehrervortrag mit eingebauten Fehlern dazu dienen, die Kriterien einer guten Präsentation für SchülerInnen begreifbar zu machen. Zudem bereitet es ihnen viel Spaß, Fehler beim Lehrer zu suchen und zu finden! Schnell wird man feststellen, dass es gar nicht so einfach ist, diese auch in einem digitalen Lehrervortrag zu berücksichtigen. Ein paar kleine Tipps zum Aufbau: ȤȤ klare, gut lesbare Schrift mit Titelfolie, Datum, Lerngruppe, ȤȤ große und gut erkennbare Abbildungen, ȤȤ klare Farbwahl, eventuell eine immer wieder erkennbare Vorlage, ȤȤ Nummerierung der Folien nicht vergessen, ȤȤ pro Folie mindestens eine Minute Standzeit, ȤȤ eine Dramaturgie des Vortrags und begrenzte Dauer, ȤȤ Feedback zu eigenen Präsentationen durch die SchülerInnen einräumen, so verbessert man seine eigene Präsentationstechnik stetig. Wenige Dinge gibt es zur Vorbereitung zu Hause zu sagen, hier richtet sich die Auswahl nach Vorlieben, vorhandener Hardware und dem Budget. Bei der Erstellung der Präsentation zu Hause sollte man vorher bedenken, wo die Präsentation vorgeführt wird. So kann ein Beamer in der Schule durchaus eine höhere oder niedrigere Auflösung haben als der heimische Rechner. Bewährt hat sich eine Auflösung von 1024*768 Pixeln. Diese kann zumindest der Großteil der Beamer darstellen. Weiterhin sollte bedacht werden, dass eventuelle Bilder, Schriften, Audio&VideoMaterial in die Präsentation eingebettet werden, nur ein Verweis darauf reicht nicht aus. Gerade bei Audio- und Video-Material sollte vorher geprüft werden, ob die vorhandenen Codecs (eine Art Format, in der die Dateien vorliegen) auf dem Rechner vorhanden sind, an dem man die Präsentation vorführen möchte.
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Will man in der Schule den Raum während der Präsentation auch abseits vom Rechner nutzen, gibt es verschieden teure Präsentationslösungen (ab ca. 40 €), die Maus und Tastatur ersetzen und meist noch mit einem Laserpointer ausgestattet sind. Hier muss man vorher abklären, ob diese eine Treiberinstallation erfordern. Wenn man all diese Probleme komplett vermeiden will, wird man wohl seinen eigenen Laptop mit in die Schule nehmen. Eventuell braucht man einen Adapter zum Anschluss an Smartboard oder Beamer. Die gängigen Anschlüsse sind der 9-polige VGA und der DVI-Anschluss. In letzter Zeit sind an manchen Beamern auch HDMI-Anschlüsse verfügbar. Diese übertragen praktischerweise gleich den Ton mit. Schulung von Präsentationskompetenz Präsentationen lassen sich im Unterricht vielfältig einsetzen. In der Erarbeitungsphase können sie als Gruppenarbeit erstellt werden, auch wenn die Zusammenarbeit meist durch Einteilung in Teilabschnitte statt durch ›gemeinsame‹ Arbeit an einem Dokument stattfinden muss. Diese Beschränkung liegt allerdings an der fehlenden Möglichkeit, gleichzeitig an der Datei einer Präsentation zu arbeiten. Für Texte – das Programm Etherpad ist ein solches Beispiel – existieren bereits solche Programme, vielleicht bald auch für Präsentationen? Ein spannender Gedanke. Bereits ab Sekundarstufe I lohnt es sich, eine Art Präsentationscurriculum in einer Jahrgangsstufe zu probieren. Ich habe dies häufiger in Jahrgangstufe 9 durchgeführt; dort bietet sich z. B. im Fach Englisch die Landeskunde dieses Jahrgangs für ein solches Projekt über ein ganzes Schuljahr an. Phase 1: Einführung und Entwurf von gemeinsamen Kriterien zur Bewertung, Präsentationen halten in Gruppen (gibt Sicherheit), Dauer der Präsentation ca. fünf Minuten, Auswertung der Ergebnisse und Feedback im Plenum. Phase 2: Präsentationen in Partnerarbeit, Berücksichtigung der Fehlerschwerpunkte aus Phase 1 bei der Erstellung/Präsentation, Dauer der Präsentation ca. sieben Minuten, Feedback im Plenum. Phase 3: Einzelpräsentation eines Themas, Dauer der Präsentation ca. sieben bis zehn Minuten, Berücksichtigung der Ergebnisse aus Phase 1 und Phase 2, Höhere Ansprüche an Produkt und Präsentation, Handout eine Woche vorab mit Gliederung, die Ergebnisse können zu einem Großteil in die Note der sonstigen Mitarbeit einfließen.
Für dieses Vorhaben braucht man allerdings Unterrichtszeit. Erwarten Sie nicht, dass die SchülerInnen eine Präsentation komplett als Hausaufgabe erledigen. Sie
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müssen sich mit den Gruppenmitgliedern/PartnerInnen organisieren, Arbeit aufteilen, Material recherchieren usw. Meist dauert dies, je nach Länge der Präsentation zwischen drei und fünf Unterrichtsstunden. Auch das Halten der Präsentationen erfordert Unterrichtszeit. Das kann über einen längeren Zeitraum z. B. zu Beginn der Stunde stattfinden. Idealerweise knüpft der Inhalt der Stunde an die Präsentationen an, muss dies aber nicht zwangsläufig. Bewährt hat sich ein Beobachtungsbogen, den SchülerInnen auch im Vorfeld mitgestalten können. Dieser lässt sich grob in Kategorien mit Leitfragen einteilen: 1. Methodisches Feedback zur Präsentation a. Beginnend mit den positiven Aspekten (Lob motiviert) – »Was ist gut gelungen?« b. Rückmeldung zu Möglichkeiten der Verbesserung – »Was könnten die Präsentierenden das nächste Mal besser machen? Welche Tipps würdet ihr geben?« 2. Fachliches Feedback a. Wie sind die fachlichen Inhalte vermittelt worden? b. Gibt es Fragen, die die Präsentierenden selber erklären können? c. Gibt es ungeklärte Dinge, die unmittelbar oder in einer der folgenden Stunden geklärt werden können oder gar müssen? 3. Für die Lehrperson a. Bewertung der Präsentation, b. Bewertung des fachlichen Inhalts (Reduktion des Themas, Quellen, Aufbereitung des Themas, …), c. Feedback zur Präsentation und am Ende des Durchlaufs aller Präsentationen Schwerpunkte ausmachen, an denen im nächsten Durchgang gearbeitet werden soll. In der Sekundarstufe II werden Präsentationen zunehmend wichtiger. Im Seminarfach wird oft erwartet, dass man sich mit den Werkzeugen und der Methode der Präsentation auseinandergesetzt hat. Hier hilft häufig noch Feinschliff, vor allem für die Gestaltung und Situation (Folienmaster, Gliederung aus Word importieren, Rhetorik und Dramaturgie des Vortrags). Hilfreich hierbei ist der Präsentationsknigge aus der c’t, Heft 11/2001 (http://www.heise.de/ct/artikel/ Kleiner-Knigge-285054.html). Auch kann man selbst immer wieder aus gehaltenen Präsentationen lernen. Mit den älteren SchülerInnen macht es Sinn, vorab ein Bewertungsraster für die Präsentation zu erstellen, gemeinsam zu vereinbaren und dann anzuwenden. So sind die Rahmenbedingungen und die Bewertung äußerst transparent. Einsatzfelder gibt es in jedem Unterrichtsfach. In gewisser Weise bereitet der Vortrag zudem auf eine mündliche Prüfungssitua-
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(Noch) besser unterrichten
tion vor, insbesondere, wenn sich eine offene Fragerunde an die Präsentation anschließt. In einer vergleichbaren Stresssituation befinden sich SchülerInnen in der mündlichen Abiturprüfung ja auch. Zumindest als besondere Lernleistung sind Präsentationen schon im Abitur zugelassen, eventuell gibt es in Ihrem Bundesland schon Präsentationsprüfungen, zumindest in Hessen sind diese als fünftes Prüfungsfach vorgesehen. Zum Abhaken ȤȤ Feste Medieneinsätze in der Unterrichtsplanung berücksichtigen. ȤȤ Themen wählen, bei denen sich ein Medieneinsatz lohnt, motiviert oder aus Gründen des aktuellen Bezugs der Einsatz von neuen Medien gar nicht anders denkbar ist. ȤȤ Traditionelle Unterrichtsmaterialien Schritt für Schritt digitalisieren – so wächst das Vertrauen in die Technik und die eigene Motivation, diese auch einzusetzen! ȤȤ Keine Angst vor Hilfe! SchülerInnen nehmen gern die Rolle des Helfenden an, vielleicht auch und gerade, weil es eine Umkehr der Rollen für kurze Zeit bedeutet. ȤȤ Technisch affine Schülerinnen als Multiplikatoren einsetzen. ȤȤ Ein gesundes und kritikfähiges Verständnis und Verhältnis zur Technik schaffen – nicht alles klappt digital besser, Bleistift und Papier haben in vielen Situationen immer noch eine Daseinsberechtigung (und sind natürlich ebenso eine Kulturtechnik wie die Suche nach Informationen im Internet). ȤȤ Anregung: Einer meiner Kollegen stellt zu Beginn des Halbjahres eine tabellarische Übersicht mit den geplanten Stundenthemen und einer gesonderten Spalte Medien zum Einsatz von (nicht nur digitalen) Medien zusammen und hat so auch einen Überblick, welche medialen Vorhaben gut klappen und in welchem Ausmaß die jeweilige Klasse über die Zeitdauer des Halbjahres mit Medien arbeitet.
7. Schlussbemerkungen Die digitale Revolution hat längst begonnen, ist aber in vielen Klassenzimmern noch nicht angekommen. Helfen Sie dabei, Unterricht lebensnaher, aktueller und begreifbarer zu machen. Nebenbei wird es Ihnen in der Vorbereitung eine Arbeitserleichterung bringen und vielfach mit hoher Motivation und hervorragenden Ergebnissen seitens der SchülerInnen gedankt.
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Nils Trzebin, Mit neuen Medien arbeiten
Viele kleine Denkanstöße und meine ganz subjektiven Wahrnehmungen aus dem Klassenzimmer haben Ihnen dabei hoffentlich Anregungen gegeben und Lust gemacht, die Tipps und Ideen in der Praxis auszuprobieren. Dabei wünsche ich Ihnen viel Spaß und Erfolg!
Paul, 11 Jahre, Klasse 5
Feuser, Georg: Momente entwicklungslogischer Didaktik einer Allgemeinen (integrativen) Pädagogik. In: Eberwein, Hans/Knauer, Sabine (Hg.): Handbuch Integrationspädagogik. Kinder mit und ohne Beeinträchtigung lernen gemeinsam, Weinheim/Basel 72009 https://irights.info/artikel/nicht-nur-kostenlos-sondern-frei-zehn-anlaufstellen-fuer-bilder-imnetz/22457 (zuletzt abgerufen am 11. 03. 2016) https://nstick.files.wordpress.com/2014/03/startseite_2_1.jpg (zuletzt abgerufen am 26. 03. 2106) https://nstick.wordpress.com/ (zuletzt abgerufen am 11. 03. 2016) http://portableapps.com/ (zuletzt abgerufen am 11. 03. 2016) http://www.heise.de/ct/artikel/Kleiner-Knigge-285054.html (zuletzt abgerufen am 11. 03. 2016) http://www.lehrerfreund.de/schule/1s/unterrichtseinheit-praesentation1/3967 (zuletzt abgerufen am 11. 03. 2016) http://www.mk.niedersachsen.de/portal/live.php?navigation_id=1855&article_id=6405&_ psmand=8 (zuletzt abgerufen am 11. 03. 2016)
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Im System Schule arbeiten
Wilfried Kretschmer
In diesem Kapitel erhalten Sie einen authentischen Einblick in die Innenstruktur einer großen Schule aus der Sicht des Schulleiters und einzelner KollegInnen dieser Schule. Es soll Ihnen einen ersten Überblick über das Funktionieren des Systems Schule außerhalb der Tür Ihres Klassenzimmers geben, Sie anregen die strukturellen Besonderheiten an Ihrer Schule genauer in den Blick zu nehmen, und Sie ermutigen, Ihre Ideen von ›guter Schule‹ in die Teams und an die Menschen an Ihrer Schule heranzutragen.
Die Arbeit der Robert-Bosch-Gesamtschule in Hildesheim, einer staatlichen Institution des Landes Niedersachsen, ist – wie wohl in allen Schulen des Landes – gut geregelt: Mit dem Grundgesetz, dem Niedersächsischen Schulgesetz, diversen Beamten- und Personalgesetzen, mit mehr als 300 Verordnungen und mit noch viel mehr Erlassen und Verfügungen sind die in der Schule tätigen Menschen tagtäglich mit einer hohen Regelungsdichte konfrontiert. Großes wie Kleines ist in dieser Behörde akribisch festgelegt. Als handelnder Akteur in diesem System – und zu meiner eigenen Verblüffung auch als der für die Rechtsförmigkeit der Vorgänge besonders verantwortliche Schulleiter – erlebe ich diese Schule allerdings weniger wie eine bürokratische staatliche Institution, sondern mehr wie ein ›kleines Gemeinwesen‹ mit vielen verschiedenen sozialen Facetten, speziellen vertikalen Macht- und Entscheidungsstrukturen, besonderen Gemeinschaften, Freundschaften und Nachbarschaften, offiziellen Plänen und inoffiziellen Praktiken, allgemeinen Regeln und praktischen Ungleichzeitigkeiten, interessanten Geschichten und besonderer Geschichte, ambivalenten Umgebungen und differenten Rahmenbedingungen. Jeden Morgen komme ich gern in dieses kleine Dorf mit seinen 1600 Einwohnern. Und beinahe jeden Tag gibt es dort etwas Spannendes zu erleben. Nehmen Sie sich die Zeit, die Schule an der Sie tätig sind, an einem Morgen langsamer als sonst und dafür sehr bewusst zu betreten, und gönnen Sie sich einen kleinen Spaziergang durch die Schule.
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Wilfried Kretschmer, Im System Schule arbeiten
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Welchen Eindruck haben Sie von Ihrer Schule? Finden Sie ein Bild (wie das des Dorfes), das auf Ihre Schule zutreffen würde!
1. Kooperationen und Kulturen Wer dieses Gemeinwesen als BerufsanfängerIn betritt, trifft als erstes auf die für den Berufseinstieg verantwortliche Schulleitung. Durch den Schulleiter wird man vereidigt – und danach mit erbaulichen Worten in den rauen Alltag geschickt; dann geht es zu der für die organisatorischen Abläufe zuständigen stellvertretenden Schulleiterin. Diese legt letztlich den Unterrichtseinsatz fest, Zugehörigkeiten zu Fach- wie Jahrgangsteams sowie Klassenleitungen werden von ihr bestimmt und von vornherein ist klar, dass in der jetzt beginnenden Probezeit Überprüfungen und Beurteilungen stattfinden werden. Diese wiederum werden vom Schulleiter durchgeführt. Die Schulleitung ist insofern für BerufseinsteigerInnen eine zentrale und bedeutsame Institution in der Schule. Wie bedeutsam die Schulleitung für die Qualität der pädagogischen Arbeit ist, ist demgegenüber noch einmal eine ganz andere Frage. Die Schule wird vielleicht von der Schulleitung beeinflusst; ›gemacht‹ wird sie von dieser aber nicht. Die Qualität des pädagogischen Handelns in einer Schule wird vielmehr durch die Arbeit der Lehrkräfte selbst bestimmt. Diese Qualität ist hauptsächlich von drei Faktoren – nämlich Kompetenzen, Haltungen und Strukturen – abhängig: Wichtig für das Gelingen von Schule sind die fundierten fachlichen und pädagogischen Fähigkeiten der Lehrkräfte, verbunden mit einer Haltung pädagogischer Handlungsbereitschaft und eingebettet in Entscheidungs- und Arbeitsstrukturen, innerhalb derer neben Vorgaben und Verabredungen institutionelle und curriculare Möglichkeiten und Spielräume für Eigeninitiative und Engagement bestehen. Solche organisatorischen Strukturen sind die Fachbereiche und Jahrgänge, durch die die Schule im Inneren gegliedert und in ihrer Arbeit geprägt wird. Diese stellen die eigentlichen Tätigkeitsräume der neuen wie der vorhandenen Lehrkräfte dar. Hier finden sich die professionellen und sozialen Beziehungsebenen. Die Jahrgangsteams der Robert-Bosch-Gesamtschule bestehen aus den Klassenlehrkräften eines Jahrgangs. Dieses Team wird geleitet von der Jahrgangsleiterin/dem Jahrgangsleiter, die/der selbst auch KlassenlehrerIn ist. Die Jahrgangsteams treffen sich meist einmal wöchentlich in der Mittagspause zu einer circa einstündigen Sitzung. Dabei werden vor allem pädagogische Fragen des Jahrgangs besprochen; Verabredungen zu gemeinsamen Veranstaltungen und Fahrten sowie die Organisation von Prüfungen, Praktika, Festen und UNESCO-
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(Noch) besser unterrichten
Aktivitäten spielen ebenfalls eine Rolle. Aber auch der ganz persönliche Tipp oder Hinweis ist bei diesen Besprechungen wichtig. Hinzu kommen regelmäßige Supervisionstagungen. Diese Tagungen werden von einem externen Moderator geleitet und begleitet. Einzelne Teams nehmen darüber hinaus an externen Fortbildungsreihen teil. Die pädagogische und fachinhaltliche Arbeit in den Jahrgängen wird über Jahresarbeitspläne organisiert und strukturiert. Dazu findet gegen Ende eines Schuljahrs eine das nächste Schuljahr vorbereitende Teamtagung statt. Die Jahrgangsteams sind in ihrem eigenen Jahrgangsgebäude untergebracht. Die SchülerInnen werden für je drei Jahre von demselben Jahrgangsteam betreut. Danach wechseln sie in die nächste Stufe und in ihr neues Jahrgangsgebäude. Die Jahrgangsteams selbst bleiben weitgehend in der alten Zusammensetzung, ergänzt durch ein oder zwei neue Lehrkräfte, zusammen. Erkunden Sie Ihre Schule: –– Fragen Sie ein oder zwei KollegInnen Ihrer Schule, in welchen organisatorischen Strukturen sie konkret eingebunden sind. –– Fragen Sie in der Schulleitung nach, welche Strukturen in Ihrer Schule vorliegen. Vergleichen Sie die Aussagen. –– Nicht alle Schulen haben Jahrgangsteams. Wie hat sich an Ihrer Schule das Kollegium organisiert? Gibt es ein oder mehrere Lehrerzimmer? Wo trifft man am besten die KollegInnen, die sich eher in Fachräumen befinden (Sport, Musik, Kunst, Naturwissenschaften)? –– Wer sitzt mit wem im Kollegium zusammen? –– Und welche Räume werden von welchen Schülergruppen vorrangig genutzt? Wo spielen die jüngeren SchülerInnen? Wo sind die OberstufenschülerInnen? Wo verstecken sich die RaucherInnen?
Die Jahrgänge der Stufen der Schule arbeiten eng zusammen: Auf die Eingangsstufe der Schule, in der die heterogene Lerngruppe als Struktur dominiert, folgt die Mittelstufe der Jahrgänge 8 bis 10. Pädagogisch haben sich diese Stufen zunehmend weiter ausdifferenziert. So gibt es in der Unterstufe Lernentwicklungsberichte statt Noten und keine äußere Fachleistungsdifferenzierung. Insgesamt hat sich diese Stufe hinsichtlich der Entfaltung der Begabungen der SchülerInnen immer weiter ausgebildet. Die Mittelstufe entwickelte sich demgegenüber zu einer Stufe, in der der Tatsache der Pubertät pädagogisch Rechnung getragen wird und in der es fachlich darum geht, die SchülerInnen gut auf die gymnasiale Oberstufe oder eine zukünftige berufliche Ausbildung vorzubereiten. Diese Stufe hat insofern das pädagogische Prinzip der Orientierung
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Wilfried Kretschmer, Im System Schule arbeiten
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in ihren Mittelpunkt gestellt. Eine äußere Fachleistungsdifferenzierung auf zwei Leistungsniveaus erfolgt in den Fächern Deutsch, Englisch, Mathematik und Natur. Diese ist gesetzlich vorgeschrieben. Das ebenfalls vorgeschriebene Ziffernzeugnis bestimmt die Form der Leistungsrückmeldung. Beides, äußere Differenzierung wie Notenziffern, ist allerdings in der Schulgemeinschaft umstritten beziehungsweise stößt auf Ablehnung. »Kooperation und Kollegialität konturieren für mich zwei entscheidende Eckpfeiler des fachdidaktischen Profils der RBG. Beide sind an unserer Schule gleichzeitig strukturell verankert und als Haltung präsent. Ob in Jahrgangsteams, der Kollegialen Schulleitung, in gegenseitigen Unterrichtsbesuchen und -besprechungen oder nur dem informellen Austausch auf dem Flur: Das Bemühen um gemeinsame Fortentwicklung der Schule und das gegenseitige Unterstützen auf dem Weg dorthin prägen das Miteinander an der RBG in besonderem Maße. Pädagogische Professionalität bleibt hier weniger auf das eigene Lehrerhandeln beschränkt, sondern wird vielmehr auf die einzelnen schulischen Handlungsfelder bezogen und von innen her verstanden. Es sind für mich diese beiden Begriffe, die jene besondere Qualität der Lernkultur an der RBG ausmachen – und zwar in und außerhalb des Unterrichts.« Anja Jankowiak, Lehrerin für Latein und Werte und Normen sowie Leiterin des Fachbereichs Religion/Werte und Normen und seit vier Jahren an der Schule
Bei der Arbeit der Jahrgangsteams spielt die externe Beratung durch Supervision und Coaching eine unterstützende Rolle. Der regelmäßige Erfahrungsaustausch der Mitglieder der Jahrgangsteams unter Zuhilfenahme eines Blicks von außen fördert die Arbeitsbeziehungen. Diese Supervisionssitzungen mit dem Coach wurden in den ersten Jahren von den Lehrkräften selbst finanziert. In späteren Jahren wurden sie aus dem schuleigenen Fortbildungsetat bezahlt. Das ist bis heute (2016) der Fall. Diese Aktivitäten zur Verbesserung der fachlichen und pädagogischen Expertise des Einzelnen wie der Jahrgangs- und Fachteams sind freiwillig. Eine formelle Verpflichtung zur Teilnahme besteht nicht, gleichwohl nahmen bislang alle Mitglieder der Teams an diesen Sitzungen teil. Die Qualität der Arbeit der Schule ist stark von der Qualität der Arbeit in den Jahrgängen abhängig. In einem hohen Maße bestimmen die Einsatzbereitschaft und Kompetenz der Jahrgangsteams die schulische Qualität. Werkzeuge wie die Jahresarbeitspläne oder die Inspektion der Jahrgänge haben die Unterstützung dieser Entwicklungsdynamik der AkteurInnen in den Jahrgängen zum Ziel. Und für neu in die Schule kommende Lehrkräfte sind die (von ihrer Sozialpsychologie durchaus etwas unterschiedlichen) Jahrgangsteams eine Struktur, die die Integration erleichtert und die – nachdem man das zu einem passende Team
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(Noch) besser unterrichten
gefunden hat – dann über viele Jahre hinweg so etwas wie eine professionelle Heimat mit freundschaftlichen Binnenbeziehungen ermöglicht und herstellt. Die Lehrkräfte der Schule gehören, entsprechend ihrer Lehrbefähigung, in der Regel zwei Fachgruppenteams an, die jeweils von einer/einem FachbereichsleiterIn geleitet werden. Diese Fachgruppenteams haben wesentlichen Einfluss auf die Lehrplanarbeit und die Verwirklichung der Lehrpläne der Schule. Hier werden die Fachanteile des Hauscurriculums entwickelt und gepflegt; darauf, dass über das Curriculum der jeweiligen Fachbereiche hinaus die Schule einen gemeinsamen modernen Lehrplan, inklusive eines besonderen Methodenplans entwickelte, hatten die Fachbereiche einen wesentlichen Einfluss. Für die Erstellung der Jahresarbeitspläne der Jahrgänge werden von den Fachgruppenteams die fachbezogenen Vorarbeiten (Unterrichtseinheiten der Fächer, zwingende oder variable Abfolgen der Unterrichtseinheiten und Abfolgen der Fachmethoden) geleistet. Neben Aufgaben wie der hauseigenen Planung der zu unterrichtenden Unterrichtsinhalte (mit dem von den Fachbereichen gepflegten und auf der Homepage der Schule – → www.robert-bosch-gesamtschule.de unter Curriculum – für alle zugänglichen und kompetenzorientierten Hauscurriculum) geht es in den Fachbereichen vor allem auch um die pädagogischen Formen des Unterrichts – mit dem Ziel, die Lern- und Lehrmethoden in der Schule kontinuierlich zu verbessern. ›Hospitationsringe‹ und kollegiale Unterrichtsreflexionen spielen hierbei eine wesentliche Rolle. Diese Formen der Zusammenarbeit stellen auch eine bedeutende Unterstützung und Chance für BerufsanfängerInnen und neu in die Schule kommende Lehrkräfte dar: »Hospitationsringe und kollegiale Unterrichtsreflexionen, wie es sie an der RBG gibt, stellen meiner Meinung nach zum einen für Berufsanfänger, aber auch für die erfahrenen Kolleginnen und Kollegen eine Chance für Innovationen dar. Für Berufseinsteiger besteht die Möglichkeit, sich mit den Erfahrenen auszutauschen, und zwar innerhalb eines Raumes, in dem Zeit für Fragen und Austausch besteht und beides explizit erwünscht ist. Vor allem ›pädagogische Tricks‹ und methodische Kompetenz können ›abgeschaut‹ werden. Aber nicht nur für die Neuen bietet sich eine Möglichkeit der Professionalisierung. Die erfahrenen Kolleginnen und Kollegen können von den Berufsanfängern über fachliche oder fachdidaktische Entwicklungen Kenntnis erlangen, die zum Beispiel im Studium oder im Referendariat aktuell vermittelt worden sind. So kann ein Transfer von Informationen stattfinden, der Schule innoviert.« Henrike Wagener, die mit Beginn des Schuljahres 2015/2016 als Lehrerin mit den Fächern Deutsch und Sport an der Robert-Bosch-Gesamtschule ihre Tätigkeit aufgenommen hat
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Neben den jeweils offiziellen Strukturen einer Schule gibt es auch informelle Informationswege: Schauen Sie sich im Lehrerzimmer und den anderen Räumen, die nur den Lehrkräften zugänglich sind, um, und nehmen Sie wahr, wie notwendige Informationen in Ihrer Schule weitergeben werden (Aushänge, Hefte, Ordner, Pausengespräche, Gespräche auf dem Parkplatz). Fragen Sie an Ihrer Schule oder in dem für Sie zuständigen Studienseminar nach, ob und welche die Möglichkeit zur kollegialen Hospitation es gibt oder schon einmal gegeben hat.
Die Pflege der Unterrichtskultur durch das gegenseitige Erlernen der Implementierung von kooperativen Lernformen, die Ausrichtung auf die Kompetenzorientierung im Unterricht oder die Stärkung von Formen kognitiver Aktivierung sind bedeutende Arbeitsfelder der Fachgruppen ebenso wie der Gruppe aller Fachbereichsleiter, die in der Robert-Bosch-Gesamtschule im sogenannten didaktischen Team zusammenarbeiteten. Die Fachbereiche und die Fachbereichsleitungen sind zudem in der Pflicht, durch regelmäßige Überprüfungen zum Beispiel der Testergebnisse, Klausurdurchschnitte, Prüfungsaufgaben und Unterrichtsbesuche zu einer guten Unterrichtsqualität beizutragen. Dies hilft gerade den neuen Lehrkräften auf kollegiale Weise, Fehler zu vermeiden. Die erfolgreiche Arbeit in den Fachteams ist eine wesentliche Bedingung für die Qualität des Unterrichts. Fachliche Unterrichtskompetenzen werden insbesondere in den sogenannten Jahrgangsfachkoordinationen gefördert und unterstützt. Hier finden Absprachen und Abstimmungen bezüglich der inhaltlichen und methodischen Arbeit in den Fächern statt. Der Unterricht ist jahrgangsbezogen organisiert, sodass immer mehrere Klassen gleichzeitig ähnlichen Fachunterricht durchführen und Absprachen zwischen den Lehrkräften erfolgen. Über diese interne Fachbereichsarbeit hinaus werden die fachlichen Kompetenzen auch durch die Mitarbeit in Kooperationen und Netzwerken mit anderen Schulen unterstützt. So arbeitet die Schule im eigenständig organisierten Netzwerk niedersächsischer Gesamtschulen mit dem Ziel der Verbesserung des Unterrichts zusammen; Zusammenarbeit mit anderen Preisträgerschulen (die Robert-Bosch-Gesamtschule wurde 2007 mit dem Deutschen Schulpreis ausgezeichnet) mit dem Ziel der Verbesserung der Teamarbeit ebenso wie der Stärkung des selbstständigen Lernens fördern die fachlichen und pädagogischen Kompetenzen.
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2. Teamarbeit und pädagogische Freiheit Insgesamt, und das gilt für Jahrgänge wie Fachbereiche gleichermaßen, gibt es in der Schule ein vielfältiges und engmaschiges Netz von Kooperationen mit dem Ziel der Stabilisierung, Förderung und kontinuierlichen Verbesserung der Kompetenzen der Lehrkräfte. Kooperationen der Lehrkräfte stehen im Mittelpunkt. Die Teams verstehen sich als professionelle Lerngemeinschaften. Diese Arbeit prägt und bewegt die ganze Schule. Sie ist der entscheidende Faktor für das Gelingen. Natürlich begreifen sich die Lehrkräfte durchaus als Einzelne mit eigenständigen Ideen; der Aspekt der sogenannten ›pädagogischen Freiheit‹ als Abwehrbegriff gegen Formen kollegialer Zusammenarbeit spielt in den Debatten und Diskussionen in der Schule jedoch keine Rolle. Die Teams sind Foren der gemeinsamen Planung, der Praxis und der Reflexion. Bei ihrer Arbeit geht es um regelmäßigen Erfahrungsaustausch genauso wie um die Planung neuer Aktivitäten und die Begleitung von deren Realisierung. Die Teams tagen regelmäßig und kontinuierlich. Die Arbeitsabläufe sind klar und organisiert. Es gibt Verantwortlichkeiten, Berichtspflichten und das Vereinbaren und Umsetzen von Zielen. Kontrolle und Feedback fehlen ebenso wenig. Die Teams werden eindeutig ›geführt‹. Das, was vor allem im angelsächsischen Bereich mit Leadership, auch im Gegensatz zu Management, gemeint ist, nämlich das Führen mit (möglichst von den Akteuren freiwillig und gemeinsam vereinbarten) Zielen, folgt dem Prinzip einer breit angelegten, gleichwohl klaren und unverwechselbaren Verantwortlichkeit. Wesentlich bei der Arbeit dieser Teams sind Aspekte, die als grundsätzlich für ein funktionierendes Arbeiten im Team anzusehen sind – und die m. E. auch die Arbeit in der Robert-Bosch-Gesamtschule besonders prägen. Michael Schratz führt dazu zutreffend aus: »Erfolgreiche Teamarbeit erfordert eine Aufgabenorientierung, die einen Komplexitätsgrad aufweist, der systematisch so anspruchsvoll ist, dass zur Bewältigung die gemeinsamen Fähigkeiten eines Teams gefordert sind. Dazu muss ihm aber der nötige Freiraum für eigensinnige und selbstgesteuerte Entwicklung zur Verfügung stehen. Weiterhin wird vorausgesetzt, dass es eine gegenseitige Abhängigkeit zwischen Aufgabe und Ergebnis gibt, denn Teams werden üblicherweise dazu eingesetzt, neue Lösungen für alte Probleme zu finden. Das Team erfordert dazu eine transformationale Führung, d. h. ein auf wirksame Veränderung (Musterwechsel) ausgerichtetes Leadership.«
Und weiter:
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»Dieses Führungsverständnis steht im Gegensatz (…) zu jenen Teams (…), die ›mit ihrer gewollt antihierarchischen, pseudodemokratischen Struktur‹ sicherstellen wollen, ›dass jeder einmal moderieren, aber keiner zustimmen, jeder einmal Teamleiter spielen, aber keiner wirklich Chef sein darf‹. Im Prozess der Teamarbeit sind nach Gebert sowohl Motivation (Zutrauen der Teammitglieder, die gestellte Aufgabe lösen zu können und eine sich gegenseitig stimulierende Stimmung) als auch kognitive Bedingungen (eine gute Abstimmung der Aktivitäten und Arbeitsabläufe sowie ein gemeinsam geteiltes Aufgaben- und Kooperationsmodell) von zentraler Bedeutung. Ebenso sind für die erfolgreiche Zusammenarbeit soziale Bedingungen (Vertrauen, Fairness und Gerechtigkeit) bedeutsam. (…) Das bloße Zusammenwirken dieser Faktoren ist im Hinblick auf (Schul-)Entwicklung nicht ausreichend, denn darüber hinaus braucht es auch einen ›innovationsorientierten Teamgeist‹. Dazu sind (…) ständiges Lernen und selbstkritisches, praktisches Hinterfragen zentrale Bedingungen des Teamerfolgs.« (Schratz 2010, 143)
Und natürlich geht es darum, dass die Teammitglieder sich untereinander gleichermaßen mit allen relevanten Informationen aus allen verfügbaren Perspektiven versorgen, es keine hierarchisch beeinflussten Entscheidungen gibt, Kritikfähigkeit ein hohes Gut darstellt, Konkurrenzen kreativ genutzt werden und die spielerische Einnahme von Gegenpositionen ein probates Mittel der Entscheidungsfindung sowie der Maßnahmenbewertung darstellt. Gerade für neue Lehrkräfte, die erst noch in besonderen Verkehrsformen der Schule ankommen müssen und die vielleicht die Sorge haben könnten, etwas ›Falsches‹ zu sagen, ist eine solche mindestens vom Anspruch her herrschaftsfreie Kommunikation im Team für den Einstieg gut geeignet. »Die an der RBG institutionalisierte Jahrgangsteamarbeit führt im besonderen Maße dazu, junge Kolleginnen oder Kollegen nicht nur zügig, sondern auch tiefgehend in das Kollegium, schulische Abläufe und pädagogische Verantwortlichkeiten innerhalb der Jahrgänge einzubinden. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass man schon als Referendarin z. B. bei der Teilnahme an einer Jahrgangsteamtagung zur Planung des kommenden Schuljahres, wie sie bei uns üblich ist, Anteil an diesen Strukturen haben kann. Der Schritt in die Vollzeitstelle und die ersten, anspruchsvollen Monate werden dann leichter überstanden, wenn man durch die vorhandenen Teamstrukturen selbstverständliche Ansprechpartner hat. Die wöchentlichen, zwar freiwilligen, aber doch verbindlichen Teamsitzungen sind nicht nur pädagogisch-fachlicher Austausch, sondern vielmehr kollegial unabdingbar. Nicht zuletzt dieses enge Netz hat für mich persönlich dazu geführt, dass ich mir schon früh nach meinem Berufsstart vorstellen konnte, selbst mehr Verantwortung zu übernehmen und nun seit drei Jahren einen Jahrgang leite. Dies mag eine individuelle Besonderheit sein, dennoch denke ich, dass, sei es auf einer
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kleineren oder größeren Ebene, auf die bei uns gepflegte Weise junge Kolleginnen und Kollegen klar bei ihrer Teilhabe an Schule unterstützt werden.« Franziska Völsch, Jahrgangsleiterin in der gymnasialen Oberstufe mit den Fächern Religion und Deutsch und seit fünf Jahren an der Schule Klären Sie für sich, an welchen Stellen Sie sich bei Ihrer Arbeit in der Schule eine klare Struktur, eindeutige Vorgaben oder auch alleiniges Arbeiten wünschen würden. Tauschen Sie sich darüber mit einer Kollegin oder einem Kollegen aus: Fragen Sie nach ihren oder seinen Bedürfnissen. Bei welchen Aufgaben einer Lehrkraft würden Sie gern auf Teamstrukturen, auf Austausch und Hilfe zurückgreifen können?
Die Lehrkräfte erleben sich gegenseitig als Mitglieder einer Gruppe, die ihre Arbeitsprozesse relativ eigenständig organisieren. Moralische Arbeitsprinzipien wie Verantwortlichkeit und Verbindlichkeit werden durch die Binnenbeziehungen in diesen Jahrgangs- und Fachgruppen in ihrer Wirksamkeit unterstützt. Die ganze Schule beeinflussende Einstellungen finden in diesen Teams ihre soziale Verortung. Hier wird die praktische Zusammenarbeit organisiert und hier werden Gruppeneinstellungen artikuliert und formuliert. Diese Subsysteme mit ihren informellen Regeln und Bezügen beeinflussen die Arbeit und das Schulleben mindestens ebenso wie die ›offizielle‹ Gremienstruktur und das formelle Regelwerk der kodifizierten Schulverfassung. Diese Praxis entspricht Konzepten einer innovativen Unternehmenskultur, so wie sie von der Managementtheorie vorgestellt wird: »In den netzwerkartigen Organisationen der Zukunft, im Zeitalter der dezentralen Selbstorganisation, verfügen die Mitarbeiter aller Stufen über einen großen Handlungsspielraum. Sie nehmen komplexe und anspruchsvolle Aufgaben wahr – ohne hierarchische Aufsicht und im Rahmen einer Organisation, die sich ständig im Fluss befindet. In dieser Situation ist es nicht mehr die äußere Struktur, die Orientierung und Sicherheit geben kann. An ihre Stelle treten vielmehr transparente und stabile Normen und Werte. Sie übernehmen die entscheidende Ordnungsfunktion. Sie geben der Gemeinschaft eine Identität und schaffen den Rahmen, innerhalb dessen Individuen und Gruppen sich weitgehend selbstständig organisieren können, ohne die gemeinsame Marschrichtung aus den Augen zu verlieren.« (Doppler/Lauterburg, 2008, 473)
Über diese Gruppierungen hinaus wird die Schule von den Beteiligten gleichwohl als Ganzheit erlebt. Das gilt besonders immer dann, wenn die Schule von außen kritisiert und, aus Sicht der Lehrkräfte, Eltern und SchülerInnen, unge-
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recht behandelt oder verunglimpft wird. Insofern trug im Fall der RBG die langjährige Ablehnung der Schule durch einen Teil der lokalen wie politischen Öffentlichkeit sogar mit zur Stabilisierung der schulischen Identität bei. Zwar bestanden immer wieder Divergenzen zwischen den Teams und Gruppen wie auch zwischen Lehrkräften und der Kollegialen Schulleitung. Dennoch sind alle einig bei dem Ziel, gemeinsam an diesem Standort diese Gesamtschule als eine gute Schule für alle Kinder zu gestalten. Eine weitere positive Folge dieser vielen Subsysteme ist, dass neu an die Schule kommende Lehrkräfte aufgrund der Vielfalt des Angebots von unterschiedlichen Gruppierungen recht schnell in diese kleinräumigen Strukturen integriert werden und eine zu ihnen passende soziale wie emotionale Heimat finden. »Die größte Herausforderung, der man sich als neue Lehrkraft (und besonders als Berufseinsteiger) stellen muss, ist das Verstehen und Umsetzen der in der Schule vorzufindenden Strukturen. Das betrifft sowohl formale Absprachen und gängige Vorgehensweisen wie auch das kollegiale Miteinander in der Schule. Dies gelingt dann, wenn man schnell Ansprechpartner findet, denen man unkomplizierte und informelle, auch vermeintlich dumme Fragen stellen kann. Durch die Strukturierung in und die Zuordnung zu Jahrgangsteams, wie sie an der Robert-BoschGesamtschule vorzufinden sind, findet man sowohl auf einer professionellen wie auch auf einer sozialen Ebene sehr schnell Anschluss und erhält Einblicke in die gängigen Praktiken der neuen Schule. Darüber hinaus profitieren auch die Jahrgangsteams von neuen Kolleginnen und Kollegen. Sie geben neue Impulse und stellen Fragen, die – hat man bestimmte Abläufe erst einmal verinnerlicht – vielleicht nicht mehr gestellt werden, weil man sie nicht mehr im Blick hat. Hierdurch bleibt das pädagogische Handeln lebendig, sodass die schulische Arbeit einem ständigen innovativen Wandel unterliegt. Durch die Zuordnung zu diesen kleinen Gruppen, den Jahrgangsteams, entsteht für alle Mitglieder der Gruppen zusätzlich eine Verbindlichkeit, die auch unabhängig von offiziellen Berichtspflichten funktioniert. Als Team möchten alle Beteiligten gemeinsam gute Arbeit leisten und sich zugleich innerhalb dieser Gruppe bewähren. So profitiert die pädagogische Arbeit durch den gegenseitigen Informations- und Ideenaustausch zwischen erfahrenen und neuen Lehrkräften.« Claudia Hake, seit einem Jahr Lehrerin an der Robert-Bosch-Gesamtschule mit den Fächern Deutsch und Mathematik
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3. Schülerfeedback als Motor von Schulentwicklung Mit Beginn der 1990er-Jahre begannen drei Lehrkräfte der Hildesheimer Robert-Bosch-Gesamtschule in den Jahrgängen 11 bis 13 sogenannte SchülerRückmelde-Bögen einzusetzen (wenn Sie mehr über Feedback wissen möchten, → 12 Feedbackkultur nutzen). Dabei ging es um die Atmosphäre im Unterricht, um den Wissensfortschritt, die Freundlichkeit der Lehrkraft sowie um die Geschwindigkeit des Lehrprozesses. Diese Fragebögen waren von den einzelnen Lehrkräften in Eigeninitiative selbst gefertigt worden. Im Jahr 1994 wurden erstmals Feedbackbögen auf einer Stufenkonferenz der gymnasialen Oberstufe der Robert-Bosch-Gesamtschule vorgestellt. Eine Arbeitsgruppe entwickelte daraufhin im Auftrag der Konferenz verschiedene Musterentwürfe. Diese wurden zunächst in einigen Lerngruppen getestet. Am Ende dieser Tests wurde ein einheitlicher Feedbackbogen für die ganze Oberstufe von der Stufenkonferenz verabschiedet. Dieser Bogen wurde im Folgejahr von mehr als einem Dutzend der Lehrkräfte freiwillig in ihren Kursen eingesetzt. Die Durchführung dieser Schülerfeedbacks war und ist für die Lehrkräfte freiwillig und hat am Ende der hier vorgestellten Entwicklungszeit im Jahr 2016 die ganze Schule erfasst. Mehr als 90 Prozent der Lehrkräfte führten und führen ein- bis zweimal pro Schuljahr in von der Schulleitung im Jahresterminplan ausgewiesenen Feedbackwochen diese Feedbacks durch. Die Erkenntnisse, die in den Klassen und Kursen gewonnen werden, tragen zur Verbesserung der Unterrichtsqualität bei. Und allein die Methode an sich ist Ausdruck des Ernstnehmens und der Achtung und Wertschätzung der SchülerInnen. Umgekehrt honorieren die SchülerInnen dies durch konstruktive Kritik, und so trägt diese Maßnahme auch zu einer Verbesserung der Lernatmosphäre in den Klassen und Kursen bei. Praktische Veränderungen waren die Folge: So wurde zum Beispiel im 11. Jahrgang in den Naturwissenschaften und im Fach Mathematik ein aufeinander abgestimmter gemeinsamer Fächerlehrplan entwickelt, der insbesondere die unterschiedlichen Wissens- und Lernvoraussetzungen der SchülerInnen am Anfang der gymnasialen Oberstufe auszugleichen helfen sollte. Die Idee und Praxis dieser Schülerrückmeldung in der gymnasialen Oberstufe übertrug sich auf die ganze Schule. Ab dem Jahr 2004 wurden auch in den anderen Stufen Feedbackbögen eingesetzt. Das Prinzip der Freiwilligkeit und der Unzugänglichkeit für bewertende Hierarchien half mit, dass dieses Instrument in der Robert-Bosch-Gesamtschule flächendeckend eingesetzt wird. Die positive Praxis-Erfahrung unterstützt dies. Der Koordinator der gymnasialen Oberstufe der Schule nimmt zum Feedbackverfahren folgendermaßen Stellung:
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»Die Form des Rückmeldeverfahrens/des Feedbacks ist nicht entscheidend, so lange die Anonymität der Schülerinnen und Schüler gewährleistet bleibt. Der entscheidende und wichtige Teil des Feedbacks besteht darin, mit den Schülerinnen und Schülern über den eigenen Unterricht ins Gespräch zu kommen. Schülerinnen und Schüler sind in der Lage, die Dinge, die sie am Unterricht als ›störend‹ empfinden, der Lehrkraft gegenüber klar und vor allem auch differenziert auszudrücken. Eine zentrale Erfassung der Ergebnisse des Feedbacks, z. B. durch den Schulleiter, wäre nicht zielführend, um nicht den Eindruck der ›Kontrolle‹ zu erwecken. Als problematisch wird aber empfunden, dass ein Austausch bei Problemen, die sich aus dem Feedback ergeben, häufig nur in Gesprächen mit Vertrauten aus dem privaten Kollegenumfeld erfolgen. Die Weiterentwicklung, die ständige Überarbeitung und Anpassung des Feedbackbogens ist ein zentraler Bestandteil der Arbeit des Schüler-Lehrer-Gremiums der gymnasialen Oberstufe.« Gerold Jäger, Koodinator der gymnasialen Oberstufe der Robert-Bosch-Gesamtschule mit den Fächern Mathematik und Chemie und seit 17 Jahren an der Schule
Zum Erfolg dieses Instruments hat vor allem das Interesse der SchülerInnen selbst beigetragen. Dazu kommt der leichte Druck, der von diesen auf die Lehrkräfte ausgeübt wird – nach dem Motto, »XY macht das aber …« Welche Formen der Mitbestimmung der SchülerInnen gibt es an Ihrer Schule? Welche Aufgaben werden KlassensprecherInnen zugewiesen? Wie erleben Sie die VertreterInnen der Schülerschaft in den Gremien? Wer aus dem Kollegenkreis betreut die Schülervertretungen? Fragen Sie ihn oder sie, was die Motivation dazu war.
In den Jahren nach der Einführung des flächendeckenden Feedbacks wurde in den Gremien der Schule immer wieder darüber gesprochen, ob man die Ergebnisse dieser interessanten, gleichwohl aber in der Privatheit der Klasse verbleibenden Schülerbefragung nicht systematischer für die Verbesserung der Unterrichtskultur der ganzen Schule nutzen könnte und sollte. Der Impuls dazu kam aus der Gruppe der Lehrkräfte der Schule. In dieser Diskussion wurde als ein erster Schritt eine teilöffentliche Erörterung einzelner Ergebnisse der Feedbackbefragung in den einzelnen Stufenkonferenzen vorgeschlagen. Ein wichtiger Hintergrund für diese Entwicklung war nicht zuletzt die gute und vertrauensstiftende Erfahrung, die die Lehrkräfte mit dem Feedback der SchülerInnen seit Jahren gemacht hatten, sowohl was die Ergebnisse wie auch die Form der Durchführung in der Schule anbelangt.
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Im Jahr 2011 wurde diese Idee der Basis aufgegriffen, und es wurde im Kreis der Jahrgangs- und FachbereichsleiterInnen der Schule erörtert, auf welche Weise Ergebnisse aus den Feedbackbefragungen als Instrumente der Schulentwicklung systematischer genutzt werden könnten. Die Meinung in diesem Kreis war, dass die in der Schule (seit einigen Jahren üblichen freiwilligen jährlichen) Hospitationsringe der Lehrkräfte, die die Verbesserung vor allem der Unterrichtsmethoden zum Ziel hatten, thematisch auf die Ergebnisse der Schülerbefragung Bezug nehmen sollten und insofern Schulentwicklung (auch) aus der Perspektive der ›Abnehmer‹ initiiert und gesteuert werden könnte. Dies, so das Ziel, ohne dabei die Anonymität der Feedbackbefragungen zu beeinträchtigen. Im Jahr 2012 wurden in den drei Stufenkonferenzen der Schule für alle Lehrkräfte, die mitmachen wollten – es waren fast alle –, an einem zu einer Pinnwand vergrößerten Feedbackbogen anonym die beiden Items markiert, bei denen ihre SchülerInnen sie als besonders gut und als eher nicht so gut bewertet hatten. Die Ergebnisse einzelner Lehrkräfte konnten nicht identifiziert werden. Das Verfahren verlief ohne Probleme und in neutraler Stimmung. Aus der Häufung der Klebepunkte an den Items ließen sich positive wie negative Schwerpunkte der Unterrichtsarbeit aus der Sicht der SchülerInnen insgesamt erkennen. In der anschließenden Auswertung und Diskussion in den Stufenkonferenzen und in der ganzen Schule wurde deutlich, dass am häufigsten der Wunsch, »selbstständiger arbeiten zu dürfen«, genannt wurde. Als Rahmenthema für die folgende Runde von Hospitationen wurde daraufhin vom didaktisch-pädagogischen Gremium der Schule (das ist die Gruppe der Fachbereichs- und Jahrgangsleitungen zusammen mit der kollegialen Schulleitung) Selbstständiges Lernen als Rahmenthema für die nächste jährlich stattfindende Hospitationsrunde festgelegt. Nach einer Auftaktveranstaltung mit einer externen Referentin und allen 115 Lehrkräften in der Aula wurden danach von den Lehrkräften thematisch unterschiedliche Workshops wie Kooperative Lernformen oder Projektlernen verabredet und mit externen ExpertInnen in Gruppen mit circa 25 Lehrkräften durchgeführt. Anschließend planten die Lehrkräfte Unterricht mit dem Ziel möglichst intensiven selbstständigen Lernens und besuchten sich gegenseitig im Unterricht. Zur Evaluation der Unterrichtsprozesse kamen zum Teil die Beurteilungsformblätter der niedersächsischen Schulinspektion, zum Teil eigene und vorher verabredete Bewertungsmaßstäbe zum Einsatz. Danach erfolgte eine Auswertungsphase zunächst im kleinen Kreis der meist etwa vierköpfigen Hospitationsringe; Anfang des nächsten Schuljahres fand eine stufenübergreifende Auswertung zum Abschluss dieser Hospitationsrunde statt.
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Begleitet wurde dieser Prozess von einer zwölfköpfigen Steuergruppe der Schule, an der zwei Schulleitungsmitglieder teilnahmen und die den terminlichen Ablauf kontrollierte. Die Gremien der Schule, die Gruppe der Fach bereichsleiterInnen ebenso wie die Gruppe der JahrgangsleiterInnen diskutierten den Stand der Dinge jeweils einmal pro Quartal auf ihren turnusmäßigen Sitzungen. Die kollegiale Schulleitung kontrollierte den Fortgang dieser erörternden und steuernden Gremienarbeit. In der Folge wurde das Thema Selbstständiges Lernen zu einem der Reformschwerpunkte der Robert-Bosch-Gesamtschule. Inzwischen (2016) arbeitet ein Lehrerteam der Schule zusammen mit Lehrkräften der Max-Brauer-Schule in Hamburg und der Integrierten Gesamtschule Franzsches Feld in Braunschweig, ebenfalls zwei Preisträgerschulen des Deutschen Schulpreises, an der weiteren strukturellen wie inhaltlichen Vertiefung eigenständiger Schüleraktivitäten. Unterstützt wird dieses gemeinsame ›Schullabor‹ durch die RobertBosch-Stiftung. Die regelmäßige Rückmeldung der SchülerInnen zur Qualität des Unterrichts hat bei diesen Reformen eine wichtige Rolle gespielt. Die unmittelbaren AbnehmerInnen stellten ihre didaktische und methodische Erfahrungskompetenz als unmittelbar Betroffene in den Dienst einer Schulentwicklung, von der sie selbst noch profitieren konnten. Nicht zuletzt handelte es sich dabei auch um eine besonders demokratische Form der Schulentwicklung. Insofern trug diese Methode nicht nur zu einer partizipativen Verbesserung der Lernatmosphäre in den einzelnen Klassen, sondern darüber hinaus auch zur Verbesserung der Unterrichtskultur der ganzen Schule bei. Schule wird auf diese Weise von ihren unmittelbaren Abnehmern, den SchülerInnen, in ihrer Entwicklung mitbestimmt und mitgesteuert. »Die Gespräche, die aus der gemeinsamen Erörterung der Feedbackbögen hervorgingen, habe ich als offen und respektvoll erlebt und sie haben zur Verbesserung des Kursklimas beigetragen. Indem die Schüler erleben, dass ihre Meinung, wie sie Unterricht erfahren, zählt, trauen sie sich eher, Verständnisfragen zu äußern und Unklarheiten anzusprechen.« Luisa Buck, Referendarin mit den Fächern Biologie und Französisch und seit einem Jahr an der Robert-Bosch-Gesamtschule
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4. Pädagogische Kultur Die pädagogische Kultur ist in jeder Schule besonders und sie beeinflusst das Handlungsethos der Akteure auf je eigene Weise. Eine Haltung des Gestaltens ist für das Gelingen von Schule besonders wichtig. Als deren Folge wie auch als ihre Ursache lassen sich die engagierten Praktiken der AkteurInnen in den Gruppierungen der Jahrgänge, der Fachbereiche und in den informellen Gruppen in den Lehrerzimmern wahrnehmen. Wahrscheinlich, so würde ich schlussfolgern, ist es so, dass sich Schulen dann gut entwickeln, wenn eine Haltung des Gestaltens als Kultur der ganzen Schule das professionelle Ethos der AkteurInnen prägt. Und wenn man danach fragt, wie die Umstände sein müssten, damit die Lehrkräfte sich gut und gern engagieren, so lautet die Antwort, dass es darum geht, die Anforderungen und Bedingungen so zu gestalten, dass die einzelnen Lehrkräfte viel können, viel wollen und viele Möglichkeiten haben – und dabei gern und professionell mit anderen zusammenarbeiten können. Meine eigenen Beobachtungen entsprechen den Ergebnissen von empirischen Untersuchungen, die besagen, dass Schulen mehr sind als nur serielle Ausprägungen einer jeweiligen Schulform – und dass sie insofern als »pädagogische Handlungseinheiten« (vgl. Fend 1986 und Fauser 1996) ihre Geschicke in einem hohen Maße, mehr als sie sich vielleicht selbst zubilligen, eigenständig bestimmen können: Jede Schule ist offensichtlich für sich als einzelne wahr – und jede Schule, das wäre dann eine am Handeln interessierte Schlussfolgerung, ist in diesem Anderssein besonders (weit- und tiefgehend) durch die AkteurInnen vor Ort gestaltbar. Vor diesem gedanklichen Hintergrund – und mit dem Ziel, Ihnen als jungen KollegInnen darzustellen, wie Schule pädagogisch zu gestalten wäre – möchte ich im Folgenden auf den inneren Zusammenhang von der komplexen sozialen Realität geschuldetem, systemischem Denken auf der einen Seite sowie der praktischen Notwendigkeit zu zielgerichtetem Handeln in einem (möglichst) erkannten und orientiert überschauten Areal auf der anderen Seite eingehen: Ich bin davon überzeugt: »Man kann Schule nur bedingt und nur in einigen Aspekten von ihren ›Funktionen‹ und ›Strukturen‹ her verstehen. Der heute übliche Funktionalismus scheint mir ebenso unzureichend wie die extreme Gegenmeinung, man könne Schulen allein vom guten Willen der sie ausmachenden Personen her reformieren. Die Institution Schule, ihre politischen, juristischen und sozial gegebenen Formen sind gewissermaßen das Knochengerüst, das mit Leben, mit Verständnis der Aufgaben und mit Sympathie für Kinder erfüllt und umgeben werden muss. Ein verknöchertes, sperriges Gerüst macht nicht nur Reformen und neue Gangarten schwer; es kann gewisse Lebensvollzüge der Schule
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geradezu verhindern. Aber auf der anderen Seite: Mit Strukturreformen, mit Umbauten am Gerüst ist nichts gewonnen, wenn nicht der initiative Teil der Lehrerinnen und Lehrer entschlossen mitgeht und bereit ist, solche neuen Strukturen auszufüllen und ihren Sinn in der täglichen Praxis zu verwirklichen.« (Flitner, 2001, 95)
Schule in dieser Wahrnehmung ist weniger etwas über Jahre Festgefügtes; vielmehr erscheint ihre Wirklichkeit als ›Fließgleichgewicht‹, bei dem Menschen, Ideen, Regeln, Ressourcen etc. von außen ein- und nach außen abströmen. Und meine Erfahrungen korrespondieren auch mit einer »Theorie sozialer Praktiken« (vgl. dazu Reckwitz 2003), die die Aktivitäten, Handlungsmuster, Routinen, Rituale, Strukturen und Gremien – und die dazu gehörigen Einstellungen und immanenten Theorien der Akteure einer Schule – aus einer Perspektive der Praxis in den Blick nimmt. Schule ist dabei das Resultat der sozialen Praktiken der in ihr – durchaus unter verschiedenen Bedingungen – tätigen AkteurInnen. Es sind deren Handlungen, die ›den Ort des Sozialen‹, hier den pädagogischen ›Handlungsraum‹ einer Schule, erfüllen. Handlungen und Handlungsprodukte stellen die ›Gesamtheit des Kleinen‹ dar, die die besonderen Prinzipien und Entwicklungsgesetze der Handlungen der Akteure erst hervorbringen, anstatt als Regeln oder Gesetz des Handelns der Wirklichkeit vorauszugehen. Handlungen vor Ort haben ihre eigene Theorie. Dies als reflektierter oder unbedachter Ausdruck der lokalen Praxis, der die Aktivitäten, das Selbstverständnis und das Ethos der AkteurInnen wiederum beeinflusst. Und wenn man die Logik der Wirklichkeit von Schule verstehen will, so sollte berücksichtigt werden, dass die Realität in vielen Fällen eher als nicht intendiertes – und sogar zufälliges – Phänomen einer immanenten ›Logik der Praxis‹ betrachtet werden muss. ›Überraschungen des Kontextes‹ tragen möglicherweise viel zu einer Modifizierung und Veränderung der Handlungen der AkteurInnen der Schule bei. Oft sehe ich zu, wie Routinen des Handelns in Form von Abläufen, Strukturen, Entscheidungsmustern und Gremien weniger durch bewusstes Handeln oder Entscheiden, sondern vielmehr durch die ›Zeitlichkeit des Vollzugs einer Praktik‹ aufgebrochen und verändert werden. Auch habe ich in der Realität ein durchaus ungeregeltes Konglomerat von Praktiken beobachtet, und ich bin geradezu erstaunt, in welcher Weise Divergenzen und Ungleichzeitigkeiten zwischen AkteurInnen Entwicklungen befördert oder behindert haben – mehr als dies intendierte Handlungen der unterschiedlichen Leitungsebenen vielleicht wahrhaben wollen. Auch hat die Tatsache, dass soziale Praktiken niemals gänzlich kongruent sind oder sein können, Spannungspotenziale zukünftiger Entwicklung erzeugt. Und sehr gut sind in wahrscheinlich jeder Schule organisatorische oder hierarchische Nischen auszumachen, die als Keimzellen für
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Veränderungsinitiativen gewirkt haben und vielleicht generell wirken. Solche Entwicklungsnischen, insbesondere dann, wenn neue Lehrkräfte in ihnen eine gruppendynamisch relevante Menge darstellen, können als Elemente lebendiger Veränderung angesehen werden. Gleichwohl ist es unabdingbar, dass vor allem die Lehrkräfte als die HauptakteurInnen in Schule im Sinne einer aktiven Beeinflussung zielorientiert und sachadäquat zusammenwirken. Nur so kann sich Schule entfalten und entwickeln. Schule gelingt durch Entscheidungen und Handlungen mit dem Ziel, die Kinder zunehmend neugieriger werden zu lassen und dabei ihr Wohlergehen in den Mittelpunkt zu stellen. Auch wenn wir uns nie sicher sein können, ob wir das erreichen, was wir uns vornehmen. Dies gilt es auszuhalten.
Julius, 14 Jahre, Klasse 8
Doppler, Klaus/Lauterburg, Christoph: Change Management. Frankfurt/M. 2008 Fauser, Peter: Nachdenken über pädagogische Kultur. In: Die Deutsche Schule 81 1/5–2 (1989), 238 Fend, Helmut: Gute Schulen – schlechte Schulen. Die einzelne Schule als pädagogische Handlungseinheit. In: Die Deutsche Schule 82/3 (1986), 275–293 Flitner, Andreas: Reform der Erziehung. Impulse des 20. Jahrhunderts. Weinheim/Basel 2001 Reckwitz, Andreas: Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken, in: Zeitschrift für Soziologie 32/4 (2003), 285 Schratz, Michael: Teamarbeit – ein Mythos wird entzaubert, in: Lehrerarbeit. Lehrer sein. Velber 2010
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Transkulturalität gemeinsam lernen
Silke Kamradt
Der folgende Beitrag versteht sich bewusst nicht als wissenschaftliche Abhandlung. Ich wurde gebeten, aus meinen Erfahrungen mit Interkulturalität zu schöpfen, und das habe ich getan. Aus zweierlei Gründen möchte ich wissenschaftliche Literatur betreffend weitgehend Abstinenz üben: Zum einen ist meiner Ansicht nach das Wichtigste nicht nur am Lehrberuf im Allgemeinen, sondern besonders auch in diesem Themengebiet, Authentizität. Es geht auf diesem Feld vornehmlich darum, sich zunächst – und immer wieder aufs Neue – zu positionieren, um einen Ausgangspunkt für eine authentische Annäherung zu finden. Theorien können hier auch im Wege stehen. Interkulturalität, mehr noch Transkulturalität, sind Geisteshaltungen. Im Grunde sind sie das Leben, die Praxis – keine Theorie, kein Modell, kein Allheilmittel. Ich möchte Ihnen mit ein paar Gedankenspielen und Anregungen die Angst nehmen vor dem diffusen Unbekannten, das sich für die meisten hinter diesem Begriff verbirgt. Sie sollen schlicht den Spaß nachvollziehen, den ich selbst hatte und habe im Umgang mit dem Thema – in der Hoffnung, dass Sie sich auf dieses Betätigungsfeld einfach nur freuen. Wenn Sie dann stark genug sind, können Sie mit der fachwissenschaftlichen Lektüre im Anhang fortfahren.
1. Von der Realienkunde zur Transkulturalität Überlegen Sie, wie früher Ihre eigenen Lehrwerke für Fremdsprachen aufgebaut waren, nach denen Sie unterrichtet wurden. Machen Sie sich Notizen zu folgenden Punkten: Welche Textsorten haben Sie behandelt?
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Was haben Sie konkret über das Land der Zielsprache gelernt (einige Beispiele genügen)? Hatten Sie im Nachhinein, z. B. bei Auslandsreisen, den Aha-Effekt, dass Sie Dinge wussten, die Sie nie explizit gelernt haben? Wie erklären Sie sich das?
Interkulturelles Lernen ist seit zwei Jahrzehnten das Zauberwort im Unterricht. Früher begegnete man, beschränkt auf den Fremdsprachenunterricht, Begriffen wie Realienkunde, Kulturkunde, Wesenskunde und Landeskunde. Den Fremdsprachlernenden sollte traditionell zunächst Zugang zur hohen Kultur des – natürlich ebenso hoch geachteten – Wahllandes gewährt werden. Exotik und die Darstellung des anderen waren relevant, sollten die Lernenden vorzugsweise in ehrfürchtiges Staunen versetzen und sie vor allem bilden, wobei ein augenzwinkernder Verweis auf stereotype Verhaltensweisen durchaus auch immer gern gesehen war: Wer schon beeindruckt sein soll von der ihm vorgestellten Kultur, fühlt sich nicht gar so unterlegen, wenn er auch etwas zum Schmunzeln hat. Kurz, es handelte sich vornehmlich um eine distanzierte Betrachtung der Zielkultur. Heute ist das Ziel natürlich ein ganz anderes: Bildungspläne verfolgen die Absicht, dass wir nicht nur theoretisches Wissen und Sprache beherrschen, sondern in der Lage sind, uns in einer globalisierten, international geprägten Welt mit Leichtigkeit und ohne Fettnapf-Gefahr zu bewegen. Ehrfurcht ist nicht länger das Zauberwort, sondern Verständnis und Toleranz. Man erkennt, dass Schule und Landeskunde bzw. interkulturelles Lernen der jeweiligen Politik und Geistesströmung untergeordnet sind. Natürlich gab es vornehmlich in Kolonialzeiten schlaue Ratgeber, die Auswandererfamilien und Kolonialbeamten die Tücken im Umgang mit den ›Eingeborenen‹ darlegten, auf dass sie derbe Rückschläge und Stolpersteine vermieden. Praktischer Nutzen stand im Vordergrund, wenn auch die Frage der Toleranz nach heutiger Betrachtungsweise vollständig ignoriert wurde (eine Frage, die allerdings zu damaligen Zeiten sicherlich anders beantwortet worden wäre). Vergleichende
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Wesenskunde in den 30er- und 40er-Jahren des letzten Jahrhunderts dagegen verfolgte in deutschen (wie natürlich auch anderen) Schulen klare politische Ziele, die auf der Hand liegen, und die Toleranz sehr absichtlich vernachlässigten. Als ich in den 1970ern und 1980ern zur Schule ging, begann man, Stereotypen und Klischees zu vermeiden. Neue, informative Sachtexte mit Fakten zum Land der Zielsprache waren für uns der langweilige Teil des Sprachunterrichts. Heute ist das nicht viel anders. Die Info-Box über Hintergründe, Zahlen, Daten ist noch immer beliebter bei Lehrwerks-HerausgeberInnen als bei SchülerInnen. Meiner Ansicht nach gehen manche dieser Bücher so weit, jegliche Spannung aus den Lehrbuchcharakteren und ihren Geschichten zu wringen, die ebenso langweilige Schultage in ebenso problematischen Familien verleben wie die Lernenden selbst. Politische Korrektheit und der Versuch, augenzwinkernd Klischees zu umschiffen, stehen in den 2010ern eindeutig im Vordergrund und verhindern dadurch andererseits vielleicht die Identifikation mit spannenden fiktiven Lehrwerkspersonen. Ab dem 19. Jahrhundert wurde Literatur gelesen und ganz nebenbei ›lernte‹ man auch ›etwas‹ über das Land der Zielsprache. Noch immer wird Literatur gelesen, kontextualisiert und dient als Motor zum Verständnis, als Lehrende müssen wir natürlich hier genauer überlegen, wie wir damit umgehen. Wieder ist politische Korrektheit gefragt, die Erziehung nicht nur auf Verständnis ausgerichtet, sondern vor allem darauf, praktischen Nutzen zu ziehen: Wie gehen die SchülerInnen damit um, was können sie daraus lernen, um zukünftige Entscheidungen im konkreten Umgang mit Multikulturalität gestützt auf schlagkräftige Argumente zu treffen und vor allem mit der notwendigen Kommunikationskompetenz ausgestattet zu äußern. Wie so häufig scheint hier alter Wein in neuen Schläuchen ausgeschenkt zu werden, die mit hübschen Worten und Begrifflichkeiten kaschieren, dass der gute traditionelle Weg dann vielleicht doch erhalten geblieben ist, oder? Ja und nein. Natürlich haben wir schon früher interkulturell gelernt. Neu ist die Orientierung. Wo früher die Landeskunde Wissen und Horizonte erweitern sollte, steht heute die schlichte Notwendigkeit im Raum, sich in einer globalisierten Welt der Herausforderung immer näher rückender kultureller Unterschiede zu stellen, um sich darin zu behaupten, ja, wenn man es politisch betrachtet, sicher auch um ›funktionieren‹ zu können. Wo früher die Sicht von außen auf das andere zumeist genügte, gibt es heute ständige Interaktion. Wissen allein reicht nicht mehr aus und ist vor allem kein Selbstzweck mehr, Handlungsfähigkeit ist die Zielvoraussetzung. Und die will erlernt werden. Ich möchte zuallererst, dass Sie sich bewusst werden, als LandesbeamtInnen oder Angestellte im öffentlichen Dienst die Bildungspolitik Ihres Landes zu ver-
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treten – ganz egal, welche Partei diese gerade bestimmt. Im Laufe Ihrer Schulkarriere wird sich diese Politik häufig ändern, Ihre Flexibilität wird gefragt sein. Gerade im Bereich des interkulturellen Handelns wird dies besonders deutlich. Aber hier ist der erste Schritt Ihrerseits nötig, über den Tellerrand Ihrer persönlichen Prinzipien hinauszusehen und sich in dem Rahmen zu positionieren, der Ihnen vorgegeben ist. Das ist nur ein Grund, warum es wichtig ist, dass Sie sich eine eigene Meinung bilden – und zwar immer wieder. Interkulturell agiert, wer sich zwischen zwei oder mehreren Kulturen bewegen kann. Klingt simpel, klingt erlernbar. Die Frage jedoch zu beantworten, was eigentlich Kultur ist, bedeutet schon, die erste Hürde zu nehmen.
2. Kultur? Versuch einer Definition Bitte versuchen Sie zunächst selbst, in zwei Schritten eine Definition zu entwerfen: Was bedeutet Kultur im Allgemeinen? Auch wenn Ihre Wurzeln nicht deutsch sind, Sie befinden sich hier in der Ausbildung und leben sicherlich schon eine ganze Weile hier: Was bedeutet für Sie die deutsche Kultur, der Sie sich, gewollt oder nicht, verbunden fühlen?
Die Japaner haben eine Badekultur, woran man merkt, um was für einen schwammigen Begriff es sich hier handelt, die Franzosen pflegen ihre Esskultur. Es gibt Gesprächskultur, es gibt Kultur im Sinne von Kunst, Literatur und Musik, gern auch im Zweierpack: Kunst und Kultur, der zunächst als Pleonasmus erscheint. Es gibt sogar einen Kompetenznachweis Kultur (http://www.kompetenznachweiskultur.de/) für Jugendliche. Aber Kultur ist mehr als das. Lassen Sie mich mit einigen Gemeinplätzen beginnen – Sie wissen dies alles, es geht um die Bewusstmachung.
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Kultur ist regional, sozial, national, international, altersspezifisch, schichtspezifisch, gruppenspezifisch, politisch, ideologisch, ökonomisch, wissenschaftlich, religiös. Sie stiftet Sinn und gibt Orientierung, ebenso wie sie bewusst oder unbewusst abgelehnt werden kann. Was dazu führen kann, dass ich eine Gabel benutze (die zunächst als barbarisches Werkzeug abgetan wurde und in größerer Ausführung in den Stall gehörte), bei Tisch nicht mehr rülpse, oder auch – Paradigmenwechsel! – davon ausgehe, dass die Erde rund ist und mein Denken damit ebenso ein paar Ecken weniger hat. Kultur ist traditionell begründet, aber ständigem Wandel unterworfen. Kulturen entwickeln sich weiter – durch bahnbrechende Erkenntnisse oder das, was wir heute Zeitgeist und main stream nennen. Und nicht zuletzt liegt dieser Wandel natürlich am Austausch mit anderen Kulturen, welcher Art auch immer. Wenn wir also von ›unserer‹ Kultur reden, dürfen wir nie aus den Augen verlieren, dass sie ein theoretisches Konstrukt ist, das es eigentlich gar nicht gibt und sich seit alters her aus diesem Austausch entwickelt hat. Was wir unsere Kultur nennen, ist lediglich genau das: der momentan gültige gemeinsame Nenner. Aber wir wissen alle auch, wie der sich verschieben kann. Das beginnt in der Familie, in der sich über die letzten Jahrzehnte schon allein das Essverhalten erheblich verändert hat. Ein Fondue, für viele Familien inzwischen ein ›traditionelles‹, also fest in der Kultur verankertes Essen für bestimmte Feiertage, war für meine Großmutter nachgerade Hexenwerk – der damals gerade in Mode gekommene, heute kaum mehr zeitgemäße Irish Coffee war ihr dann endgültig zu viel Feuer auf der weißen Tischdecke. Der Nachmittagskaffee meiner Mutter wird schon in der Generation ihrer Töchter nicht fortgeführt, ebenso wenig das Dessert nach der HauptmahlAbb. 1: Artischocken zum Dippen © tpzijl – Fotolia zeit. Sie selbst war sicherlich eine der ersten ihrer Generation und sozialen Herkunft, bei der am Sonntag statt Schweinebraten ein Ossobuco auf dem Tisch stand und Artischockenblätter gedippt wurden. Während meine Eltern jedoch selbst in Japan keine begeisterten Sushi-Esser wurden, schießt augenblicklich ein Sushi-Shop nach dem anderen in deutschen Städten aus dem Boden. Jetzt kann man sich bei drei Generationen deutscher Hausfrauen die Frage stellen, was denn deutsche Esskultur sei, wie sie auch wirklich gelebt wird – und wird wahrscheinlich endlose Diskussionen, wenn nicht Streit zu erwarten haben. Kurz: Hier sind wir sozusagen erst bei der Basis von Kultur angelangt und stellen schlicht fest: Kultur als verpflichtendes und allgemeingültiges Konstrukt gibt es nicht.
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Im täglichen Leben, auf unseren Reisen, im Umgang mit Migration in unserem eigenen Land bleibt also eins festzuhalten, dem wir als Lehrende, die wir nicht nur unser Fach, sondern vor allem übergeordnete Kompetenzen vermitteln wollen und sollen, Rechnung tragen müssen: Kultur ist nicht festgeschrieben. Unsere persönliche nicht, unsere deutsche nicht, ebenso wenig die anderer Menschen und Völker. Wir befinden uns in einem Universum von wechselnden kulturellen Systemen, die sich gegenseitig beeinflussen, wo manches verloren geht, anderes dazugewonnen wird und ständiger Wandel herrscht. Lange fühlten sich die Deutschen in ihrer Heimat geborgen wie auf einer Insel, begrüßten zwar ein zusammenwachsendes Europa, hatten aber Schwierigkeiten, ihr Land als Einwanderungsland zu erkennen. Als ich 1998 nach einem längeren Auslandsaufenthalt nach Deutschland zurückkam, gab es die erste Diskussion darum, die mich schmunzeln ließ. Als ich 2015 nach einem längeren Auslandsaufenthalt nach Deutschland zurückkam, gab es eine heftige Diskussion, weil Flüchtlingsströme an die Türen pochten. Ein Integrationskonzept war in all der Zeit nicht entwickelt worden. Schon – um noch einmal darauf zurückzukommen – die Veränderung unserer Küche in Richtung des Mediterranen hat es gezeigt, aber gerade die aktuellen Migrationsströme machen es deutlich: Auch unsere Gesellschaft befindet sich im Wandel, wird von anderen Kulturen durchdrungen. Wir sind schon lange (waren wir es je …?) nicht mehr monokulturell, sind auch nicht mehr interkulturell. Transkulturalität ist das neue Zauberwort, den Wandel und die Interdependenz der Kulturen zu bezeichnen. Wir bleiben nicht starr in unserem kulturellen System stehen, sondern werden mit jeder Berührung mit anderen Systemen zu allen Seiten ausgebeult, erweitert, vielleicht auch eingeschränkt. Das ist der Moment, in dem es wichtig ist, sich über Wertung Gedanken zu machen.
3. Der Umgang mit Transkulturalität Transkulturalität ist ein großes Wort, dabei entspringt sie einem vergleichsweise kleinen Kern: ganz individuell in uns und der Kultur, die wir verinnerlicht haben, indem wir mehr oder minder bewusst aus ›unserem‹ kulturellen System die Faktoren und Werte gewählt haben, die auf uns passen oder unseren Erfahrungen entsprechen. Ich kann mir selbst aussuchen, ob ich Picassos Spätwerk als Kunst erachte oder Spielerei eines alten Mannes, der schon alles hinter sich hat. Und ich kann mir sicher sein, dass es zu
Abb. 2: Pablo Picasso, Stierschädel, 1943
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diesem Thema zu fortgeschrittener Stunde in der Kneipe so viele Meinungen wie Menschen an der Theke gibt. Interkulturalität bedeutet zunächst – ebenso wie die Chimäre der Monokulturalität – Abgrenzung: Abgrenzung der eigenen Kultur von der ›anderen‹. Der Begriff ist verpönt und die dazugehörige Tat unerwünscht, meiner Ansicht nach bezeichnet er aber eine dem Menschen inhärente Notwendigkeit – zur Selbsterkenntnis und der erst daraus resultierenden Öffnung. Auch hier kennen wir alle im ganz privaten Bereich Dinge, Ideen, Hobbys, in denen wir uns selbst von den uns liebsten Menschen abgrenzen möchten, um wir selbst bleiben zu können. Ohne Abgrenzung können Unterschiede wie Gemeinsamkeiten nicht erkannt, nicht toleriert, nicht akzeptiert, im Bedarfsfall gar assimiliert werden. Die logische Grundlage ist eine Bewusstmachung der eigenen Kultur. Nicht immer kann oder muss die eigene Kultur vollständig erfasst, verstanden, analysiert und interpretiert werden, bevor der anderen Kultur Aufmerksamkeit geschenkt werden kann. Oft genug veranlasst uns erst die Konfrontation mit dem Fremden, uns selbst als Bestandteil der eigenen Kultur zu überdenken. Es handelt sich hier also durchaus um ein beständiges Oszillieren zwischen den Kulturen, zwischen dem Bekannten und dem Anderen. Wie ich mich positioniere, ist letztlich eine Frage der Wertung: Was ist mir wichtig an ›meiner‹ Kultur, was kann oder will ich nicht ablegen? Was ist mir erstrebenswert in der anderen Kultur, was nicht? Was davon kann und will ich für mich übernehmen? Im Grunde genommen ist das nichts Neues für Sie. Sie haben das zum ersten Mal getan, als Ihnen auffiel, dass der Papa von Ihrem besten Kumpel im Gegensatz zu Ihrem einen Bierbauch hat, nicht Fußball guckt, aber wiederum die beste Pizza backt. Eine Positionierung ohne eine Wertung ist nicht möglich. Der schwierige Teil kommt erst danach: Das Vermeiden der Abwertung anderer Wertungen. Damals haben Sie schließlich auch akzeptiert, dass für Ihren Kumpel sein Papa der bessere war, und es so stehen lassen. Sehen Sie sich die beiden Misses Japan von 2015 und 2016 an und versuchen Sie, einer anderen Person zu beschreiben, welche der beiden Sie gestern in der U-Bahn gesehen haben.
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(Noch) besser unterrichten
Abb. 3: Miss Japan 2016 mit Miss Japan 2015, © imago 69690477
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Silke Kamradt, Transkulturalität gemeinsam lernen
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Sie sehen, unser Beschreibungs- und Wertesystem passt hier gar nicht mehr. Haarfarbe, Augenfarbe, die ersten Merkmale, die wir gemeinhin nennen, können wir vergessen. Wollen wir ›politisch korrekt‹ und respektvoll bleiben, vermeiden wir natürlich so etwas wie ›Pfannkuchengesicht‹, ›Schlitzaugen‹ oder ›Knollennase‹ – angebliche Merkmale, die meine SchülerInnen immer zuerst nennen, selbst wenn sie Bilder von schmalen Gesichtern vor sich haben. Dies erst recht, wenn wir es mit der Sorte Japanerin zu tun haben, die auch einem westlichen Schönheitsideal entspricht. Man sieht, wie stark fest verwurzelte Klischees unsere Denkweise und Wahrnehmungen beeinflussen. Reifere, besser beobachtende SchülerInnen zeigen meist eine andere, Bände sprechende Reaktion: gar keine – Sprachlosigkeit. Dies ist einer der Momente, in denen man überrascht feststellt, dass alles, was man in seinem System als festgeschrieben und gesichert verinnerlicht hat, plötzlich wertlos ist. Hier beginnt die Horizonterweiterung: Wie würde eine Japanerin diese beiden Gesichter beschreiben, um sie zu unterscheiden? Wir beginnen, uns in das andere Denkmuster einzufühlen, unsere eigene Perspektive abzulegen bzw. durch eine neue zu erweitern. Wir beginnen buchstäblich, anders wahrzunehmen und achten auf Dinge, die uns vorher nie wichtig erschienen. Uns allen ist das Beispiel hinlänglich bekannt, wie viele Begriffe die Inuit für Schnee haben. Die Kanadier haben nur wenige im Vergleich, aber mehr als die Bayern – deren Schneebegriffe für Norddeutsche, erst recht, wenn diese keine Skifahrer sind, unverständlich sind. Schon derart geringfügige Perspektivwechsel zu vollziehen, fällt uns unerhört schwer. Schließlich verlassen wir heimisches Terrain und müssen, was wir als gut und richtig verinnerlicht haben, unter Umständen über Bord werfen, zumindest aber hinterfragen und neu bewerten, indem wir uns in ein neues Denkmuster einfühlen. Kein Wunder also, wenn sich eine ganze Nation vor ein unlösbares Problem gestellt sieht, ein System zu überdenken, zu hinterfragen und ändern zu müssen, wenn unsere innersten und tiefsten Werte berührt sind, wenn Rechts- und Glaubensfragen ins Spiel kommen. Hier befinden wir uns im Reich der Transkulturalität, denn wir werden unsanft darauf gestoßen, dass unser System nicht das einzig mögliche und lebbare auf diesem Globus ist. Wir müssen neu bewerten. Die deutsche Gesellschaft befindet sich momentan in einer Art Pubertät: Grenzen müssen weiter gesteckt und verschoben werden, von Haus aus tradierte Werte infragegestellt und neue Freiheiten erprobt werden. Wenn schon wir als Erwachsene mit mehr oder minder ausgeprägter Bildung und einem hohen Anspruch an unsere eigene Toleranz trotzdem an unsere Grenzen stoßen, wie sieht es dann bei Kindern und Jugendlichen aus, die gerade erst lernen, sich aus der ihnen bekannten Kinderwelt hinaus auszubreiten und damit in ihrem vertrauten Kultursystem schon zu kämpfen haben? Das ist die Welt, in der Sie als Lehrkraft leben.
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4. Kommunikation Befassen Sie sich bitte noch einmal mit dem ein oder anderen der gängigen Kommunikationsmodelle, die sowieso auf Ihrem Programm stehen. Ich schätze, Luhmann, Habermas oder Schulz von Thun finden sich noch immer auf Ihrer To-do-Liste für das Pädagogik-Examen, zu denen Sie gern auch eine Alternative entwickeln und diskutieren können. »Der Mensch ist nicht nur ein sprechendes, sondern ein interpretierendes, sinnproduzierendes Lebewesen.« Wir alle wissen, dass wir uns erst ›sinnvoll‹ verhalten können, wenn wir das Verhalten und die Aussagen unseres Gegenübers interpretieren und verstehen können. Wir verstehen kleine Gesten, klare Worte und auch Hintergründe dessen, was kommuniziert wird, wenn wir Lebensumstände, Sitten und Gebräuche wie auch individuelle Dispositionen kennen und analysieren. In dem, was wir sagen und wie wir es sagen, geben wir unseren KommunikationspartnerInnen zudem ein Selbstbild mit, das wir anerkannt sehen wollen. All diese Informationen verarbeitet das Gehirn in Bruchteilen von Sekunden, von denen abhängig ist, ob wir uns in der Kommunikation angemessen verhalten und von unserem Gesprächspartner verstanden und akzeptiert fühlen oder nicht. In dieser Hinsicht haben wir als Lehrende, mal ganz davon abgesehen, dass wir noch Fachwissen zu vermitteln haben, eine Doppelfunktion. Zum einen wollen und sollen wir unseren Zöglingen unabdingbare Werte vermitteln, die sie in unserer globalisierten Gesellschaft nicht nur überleben, sondern am besten brillieren lassen. Zum anderen brauchen sie das Handwerkszeug, diese Werte nicht nur zu verinnerlichen und im besten Fall natürlich auch zu leben, sondern auch auf angemessene Weise zu kommunizieren. Ich glaube, auch weil sie so gut zu unserer guten, alten Lehrmeistermethode passt, hat die Idee der political correctness aus dem puritanischen, angelsächsischen Sprachraum so schön in das Weltbild unseres neu-deutschen Zeitgeistes gepasst und dort Einzug halten können – weswegen wahrscheinlich wiederum in den gebildeten Schichten der USA das deutsche Wort »Zeitgeist« so beliebt ist. Wir bemühen uns, niemandem weh zu tun, allen gerecht zu werden und dasselbe Bemühen in unseren SchülerInnen zu verankern. Das Unterfangen scheint relativ einfach, wenn wir, wie es hier und da noch der Fall ist, in recht homogenen, sprich ›deutschstämmigen‹ Klassen unterrichten. Dann können wir ›offen reden‹, das Andere beim Namen nennen, ohne jemandem auf die Füße zu treten, und gleichzeitig klar machen, was heutzutage als Weltbild von den SchülerInnen erwartet wird, was korrekter Duktus ist und was nicht. Schwieriger wird es, wenn wir kulturell heterogene Klassen vor uns haben. Dann passieren
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in der Regel zwei Dinge. Entweder wir schweigen. Anderssein ist kein Thema, denn bei uns ist keiner anders. Wir signalisieren, dass wir alle gleich sind. Die zweite Möglichkeit ist der offene Umgang mit Andersartigkeit. Wir stellen interessierte Fragen, fordern auf, von dem anderen zu berichten, haben ein offenes Ohr und sagen erstaunt: »Ach, so ist das bei euch!«, womit wir beweisen, dass wir die individuelle Identität jedes Einzelnen anerkennen. Was ist die Folge? Stellen Sie sich vor, Sie sitzen in Indonesien mit dem Gepäck (hoffentlich auch Ihrem), zwei Hühnern, einer Ziege und drei jungen Männern auf dem Dach eines überfüllten Reisebusses. Die Hühner gackern, die Ziege meckert, die Männer sprechen verhalten und gucken ab und zu genau an Ihrer Nasenspitze vorbei. Nichts anderes geschieht, während Sie über die Landstraße holpern. Wie fühlen Sie sich? Stellen Sie sich vor, Sie steigen aus Ihrem Taxi-Bé in einem kleinen Dorf auf Madagaskar, wo Sie und Ihre Reisebegleitung sich eine Bleibe suchen wollen. Die bis dahin menschenleere Straße ist mit einem Mal voller Leute jeder Größe, die sich alle um Sie scharen, Kinder rufen Ihnen zu: »Weißer, Weißer!« und zupfen an Ihrem T-Shirt, Männer zerren an Ihnen, um für Sie ein Taxi ins allerbeste Hotel am Platz zu finden (obwohl Sie wissen, dass es dort weder das eine noch das andere gibt), Frauen fassen Sie an den Händen und bitten Sie um Ihren (gar nicht so billigen) Silberring, den Sie nur angelassen haben, um vorzugaukeln, Sie seien verheiratet. Sie können keinen Schritt tun, während Sie mit Fragen bombardiert werden: »Wo kommst du her?«, »Wo gehst du hin?«, »Wie alt bist du?«, »Hast du Kinder? Warum nicht?«, »Wo ist deine Familie?«, »Warum seid ihr nicht verheiratet?«, »Warum gibst du mir den Ring nicht, du bist doch reich und kannst dir einen neuen kaufen?«, »Warum hast du so blaue Augen?«, »Warum bedeckst du deine Arme nicht, du bist so schön weiß und wirst sonst ekelhaft braun?« und so weiter. Wie fühlen Sie sich?
Im ersten Fall ist es eindeutig: Man weiß, dass man aus dieser illustren Reisegesellschaft heraussticht, wie eine Ziege auf einem Busdach es bei uns täte. Man weiß, dass die drei jungen Männer sich die ganze Zeit fragen, was diese dämlichen Weißen hier eigentlich wollen. Man weiß, dass man anders ist als die anderen. Und doch wird das ignoriert. Das fühlt sich falsch an, denn man weiß,
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dass das nach außen getragene Benehmen der Mitreisenden nicht das innere Fühlen reflektiert. Das macht unruhig, denn es schafft Distanz. Ebenso eindeutig ist der zweite Fall: Nicht nur werden wir mit Anforderungen bombardiert, wenn wir gestresst von einer holprigen Reise eigentlich nur eins wollen: einen Ventilator und ein kühles Bad und bei ganz viel Luxus ein kühles Bier. Stattdessen werden wir nicht nur überhaupt mit Fragen, sondern auch noch mit einer Unzahl von Klischees überhäuft, denen wir nicht entsprechen und schon gar nicht entsprechen wollen. Das ermüdet, denn es engt ein. Und jetzt sagen Sie mir, ob wir mit unserer political correctness im Klassenzimmer alles richtig machen … Aber wie machen wir es richtig? Interkulturelle Kommunikation: Holzhammer-Methoden richtig angewandt Stellen Sie sich vor, Sie unterrichten in Kanada und einer Ihrer Schüler sagt: »In Deutschland würde ich nie an einen Badesee gehen. Die Deutschen baden immer alle nackt.« Wie fühlen Sie sich (nach dem ersten Lachen)? Wie reagieren Sie? Stellen Sie sich vor, Sie unterrichten in Japan und eine Ihrer Schülerinnen sagt: »Ich möchte später in Deutschland studieren. Da kann man einfach in eine Kneipe gehen, an der Theke einen Mann ansprechen und ihn über Nacht mit nach Hause nehmen.« Wie fühlen Sie sich (mit im Halse stecken gebliebenen Lachen, vor allem als Frau)? Wie reagieren Sie?
Letztlich ist political correctness nichts anderes als der Spruch meiner Oma: »Das macht man nicht!« Ein Satz, der uns leicht fällt, vor allem wenn wir uns in dem Rahmen befinden, den ich interkulturell nenne: In einer ethnisch relativ homogenen Gruppe, in der wir ohne Beteiligung des anderen über das Andere sprechen. Wir haben unsere – politisch korrekte – Meinung nach reichlichem Abwägen und Werten gebildet und sind von ihr überzeugt. Nächster Schritt: Wir sagen anderen, was sie zu tun und zu lassen haben. Ich selbst gebe zu, diesen Satz – sehr zur Belustigung ausländischer Freunde – immer wieder gern,
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noch lieber mit gespielter Empörung, zu benutzen. Hier will aber genau überlegt sein, wo und wann. Und gleichzeitig muss auf einer anderen Ebene ganz klar kommuniziert werden: »Auch wenn ich weiß, dass andere das mit ihren guten Gründen anders sehen.« Das fällt uns allen leicht, wenn es darum geht, ob ich Kartoffeln und Salat mit dem Messer schneiden darf oder nicht. Beim Nacktbaden kommen wir schon in tiefere Diskussionen, und leider bleibt das Leben bei solchen Nebensächlichkeiten nicht stehen. Also holen wir unseren Holzhammer raus und erklären ohne die zweite Ebene, was geht und was nicht. Ich habe mir abgewöhnt, darüber zu diskutieren, warum ein Kind zu spät ist oder seine Hausaufgaben nicht hat – ich verliere einfach zu viel Zeit damit. Auch unter Erwachsenen mag dieser Holzhammer möglich sein. Es gibt Themen, die ich gar nicht erst mit Freunden, Bekannten oder Zufallsbekanntschaften auf der Cocktail-Party diskutiere, weil meine Meinung feststeht, ich deren Meinung als inakzeptabel erachte und weder Zeit noch Nerven investieren möchte. Aber wenn es darum geht, dass wir das Bewusstsein von Kindern und Jugendlichen schärfen wollen, lasse ich den Holzhammer stecken. Wir alle wissen, wie leicht Kinder zu beeinflussen sind, je nach Alterslage und gefühlsmäßiger Verfassung. Hier ist sicherlich verständnisvolles Diskutieren mit Sinngebung angebrachter, zumal Verbote ja ihren eigenen Reiz haben, prinzipiell umgangen zu werden. Ein anderer Holzhammer ist bei mir aber erlaubt: Ich lasse meine SchülerInnen ihre Meinungen kundtun. Ich lasse sie über ›Knollennasen‹ und ›Pfannkuchengesichter‹ und ›Schlitzaugen‹ sprechen. Aber ich lasse es nicht dabei bewenden. Ich finde nichts erfrischender, als wenn diese Vorurteile politisch unkorrekt ausgesprochen werden. Zum einen kann man schlichtweg Spaß dabei haben, denn mit etwas Geschick und dem rechten Maß an Ironie können die Lernenden sehr schnell über ihre stereotypen Bewertungen lachen. Zum anderen sind diese Vorurteile, je plakativer, desto leichter zu entwerten. Geben Sie den Kindern zunächst das Gefühl, dass alles ausgesprochen werden darf – dass ihre Aussagen eben nicht gleich ebenso plakativ abgewertet werden. Quittieren Sie diese Feststellungen mit einem Schuss Humor, entschärfen Sie die Situation und stellen Sie dann Gegenfragen. Manchmal reicht ein kleines »Warum?«, um einen Gedankenprozess in Gang zu setzen. Vergessen Sie darüber hinaus nicht, dass wir es hier ja – je nach Alter – gar nicht mit wohlüberlegten, selbst bedachten Meinungen zu tun haben. Wir alle kennen diese Situationen von too much information, in denen wir mehr über das Elternhaus unserer SchülerInnen erfahren, als deren Eltern lieb ist. Und auch die ›Kleinen‹ merken, wenn Sie vehement gegen eine Meinung angehen und damit – unausgesprochen – ihre Mamas oder Papas kritisieren. Gerade in den jüngeren Klassen können Sie damit jedes Vertrauen verspielen.
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Bei den ›Großen‹ wird es natürlich schon schwieriger – aber auch spannender. Ein Thema, das ich immer wieder gern durchnehme, ist Kolonialismus – auch eine Frage von Transkulturalität, dazu kommt die chronologische Komponente. Wir befinden uns hier gleich auf mehreren Ebenen, aber immer geht es um den Perspektivwechsel. Natürlich ist Kolonialismus aus heutiger Sicht ganz klar als negativ und menschenverachtend zu bewerten. Ich bin mir trotzdem sicher, dass ich – zu damaliger Zeit – eine hervorragende Plantagenbesitzerin geworden wäre. Ich weiß nicht, ob ich meine Sklaven auch hätte auspeitschen lassen, denn ich schrecke allgemein vor körperlicher Gewalt zurück. Vielleicht kann ich mir daher einreden, sie hätten bei mir ein humaneres Leben gehabt. Fakt ist aber, ich hätte meine Rolle gut ausgefüllt. Für Teenager ist das ein absolut unmöglicher Gedanke. Die Empörung über menschenunwürdige Details ist groß (und das ist gut so), und oft geraten sie nachgerade in eine Stimmung von herrlicher Selbstgerechtigkeit. Sie sind gerade dabei, sich in ihrem Wertesystem zurechtzufinden. Sie entwickeln ein Gespür für Recht und Gerechtigkeit. Sie erkennen den Wert von Empathie. Sie haben ethische Positionen eingenommen. Sie äußern sich zu unumstößlichen Menschenrechten. Und dann sagt hinter dem Pult einer: »Stopp – falsch!« (Natürlich sagen Sie das anders …) Wie gemein ist das denn? Und wie sehr widerspricht es Ihren ebenso bewusst entwickelten pädagogischen Auffassungen, solche Meinungen zu hinterfragen? Aber genau darum geht es, unseren SchülerInnen klarzumachen: Ich vertrete vehement eine Meinung, die in der gesamten westlichen Welt und darüber hinaus als konsensfähig gilt, und das ist in der Bewertung meiner Lebenssituation und der Gesellschaft und Zeit, in der ich lebe, auch richtig. Eine Wertung einer anderen Lebenssituation, Gesellschaft und Zeit jedoch, in die ich nur durch das Schlüsselloch schaue, ist hinderlich, denn wenn ich abwerte und verurteile, kann ich nicht verstehen – die Tür bleibt zu. Es ist immer schwierig, den SchülerInnen den gesamten gedanklichen Hintergrund nahezubringen – jedes Beispiel hinkt und muss hinken, weil es keine Entschuldigung für Sklaverei und Folter gibt. Dazu kommt, dass wir ja nur mit einer gewissen Arroganz sagen können, dass wir heute gedanklich als Gesellschaft Fortschritte gemacht haben – in dem Moment, in dem ich die eine Wertung vermeiden will, ziehe ich eine neue hinzu. Aber nichts ist schöner, als wenn man in den Köpfen das Klicken hört, wenn diese erwachsenen AbiturientInnen nicht nur sehen, sondern spüren, dass sie an ihren Grenzen sind – und sich damit in bester erwachsener Gesellschaft befinden. Diese Sorte Schweigen von meinen SchülerInnen höre ich gern, denn ich weiß, es bewegt sich was, und ein Same ist gesät. Kurz: Vor allem in Klassen, in denen wir es mit einer weitgehend homogenen Gemeinschaft zu tun haben, kann die Holzhammer-Methode heilsam sein.
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Sie tut niemandem weh, ist von Offenheit und Vertrauen geprägt – und wiederholt sich im besten Fall herzlich selten, weil SchülerInnen eben in der Regel wirklich Lernende sind. Dies sind die Fälle, in denen wir es eigentlich leicht haben: Die Lernenden geben uns den Impuls, wir reagieren und bringen die Diskussion in Gang. Schwieriger wird es, wenn großes Schweigen herrscht, man aber spürt oder aus kurzen Kommentaren heraushört, dass eine Thematisierung vonnöten wäre. Vielleicht hat man aber auch nur Lust, die Klasse mit dem Thema zu beschäftigen? In solchen Momenten würde ich auf alle Fälle mit authentischem Material arbeiten. Es gibt genügend Romane, Berichte, Blogs etc. von und über Migrantenkinder, anhand derer man die Einstellungen der Lernenden messen und gegebenenfalls Gedankenanregungen geben kann. Belehrungen sind auch hier fehl am Platz. Ethische Standpunkte lassen sich nicht überstülpen, sie wollen erfahren werden. Transkulturelle Kommunikation: Durch ganze Blumenhecken gesprochen Ich spreche in diesem Zusammenhang von transkultureller Kommunikation, wenn wir es mit kulturell heterogenen Gruppen und Individuen zu tun haben. Je nachdem, wo wir leben, nimmt die Anwesenheit von SchülerInnen mit Migrationshintergrund oder solchen aus multikulturellen Elternhäusern in unseren Klassen zu. Vor ein paar Jahren hatte ich auf einem beschaulichen KleinstadtGymnasium noch wenige SchülerInnen, die nicht ganz ursprünglich aus der Umgebung kamen. Nach fünf Jahren Abwesenheit stelle ich selbst hier einen Unterschied fest, obwohl Berlin und Hamburg weit weg sind, wo bunte Klassenbilder schon lange an der Tagesordnung sind. Aus einleuchtenden Gründen bietet sich hier die Holzhammer-Methode nicht wirklich an, auch wenn MitschülerInnen hier und da schon einmal ein politisch unkorrekter Kommentar entgleitet, der verletzend sein kann. Hier sollten Sie eingreifen, denn in der Regel werden die Betroffenen schweigen. Ich mache meine Reaktion in solchen Fällen abhängig von der ›Schwere des Verstoßes‹. Letztlich gehe ich vor, wie oben beschrieben. Es kann aber von Schülerseite auch schon mal deutlich unter die Gürtellinie gehen. Persönlich bin ich der Meinung, dass wir dann durchaus in den Bereich kommen, in dem wir einfach klare Verbote aufstellen, nach Omas Grundsatz »Das macht man nicht!« Lernende suchen oft die schnelle Lösung, die schnelle Reaktion, schon allein, um ihre Lehrkraft einschätzen zu können, Regeln zur Orientierung zu haben
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oder auch ihren hohen Anspruch an Gerechtigkeit gestillt zu sehen. Letztlich geht es hier um Höflichkeit und Respekt, wo man sich meiner Meinung nach eine schnelle Reaktion erlauben darf. In der Regel halten Lernende sich eher mit Kommentaren bezüglich ihrer MitschülerInnen zurück und sind oft sensibler als wir – zumindest im Unterrichtsgeschehen. Nach einigen Jahren in Kanada in Klassen mit SchülerInnen verschiedenster Herkunft sehe ich, wohin sich unsere Gesellschaft entwickeln könnte, wenn sie erst einmal aus ihrer Transkulturalitäts-Pubertät hinaus ist. Für kanadische SchülerInnen war ethnischer Hintergrund schlicht und einfach keine Frage, kein Diskussionsthema, keines Kommentars wert. In meinem ersten Jahr dort musste ich die schmerzhafte Erfahrung machen, von meinen Sechstklässlern als furchtbar naiv – und kulturell armselig eingestuft zu werden. Bei einem Klassenausflug wagte ich abends am Lagerfeuer bei S’mores (geschmolzenen Marschmallows mit Schokolade zwischen Butterkeksen) meine Rasselbande nach ihren Hintergründen zu fragen. Einer traute sich dann, den Spieß (ohne den Marshmallow) umzudrehen. Zuerst warf er mir vor, dass ich hier die Kinder ausfrage und zu persönlich würde. Ich verteidigte also meine Motivation, diese Vielfalt verstehen zu wollen, die mir als Deutscher fremd war. Natürlich wurde ich prompt von ihm ausgefragt. Nach drei Generationen kürzte ich die Sache ab und erklärte, dass es vor Hunderten von Jahren einAbb. 4: S'mores, © evan-amos 2011, mal eine Dame aus Frankreich gegeben haben wikimedia commons muss, aber ansonsten hätte ich nur deutsch, deutsch und wieder deutsch als Hintergrund zu bieten. Der Junge sah mich mit großen Augen an, dann ins Feuer, dann wieder mich und sagte mitleidig: »Sie können weiterfragen!« Ich liebe diese Geschichte, weil sie zeigt, wohin eine Gesellschaft gehen kann – und hoffentlich irgendwann dieses leidige Thema in diesem Kontext nicht mehr besprechen muss, weil es nämlich kein Problem und keine Überraschung mehr darstellt. In der kanadischen Gesellschaft werden – meistens – Hintergründe nebenbei bekannt. Wichtig ist zunächst der Mensch, der vor einem steht, nicht sein Einkommen, nicht sein Hintergrund, aber seine persönliche Geschichte. Was man ansonsten über ihn lernt, lernt man, wie wir vielleicht aus Romanen lernen. Es wird eine Geschichte erzählt, und nebenher erfahren wir viel über die Denkweisen und Sitten, die im Hintergrund spielen. Sehr selten wurde ich ausgefragt, es sei denn, ich selbst stieß ein Thema im Vergleich an. Natürlich musste ich hier und da ein deutsches Weihnachtslied singen, ab und an kamen
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unverfängliche Nachfragen zu politischen Geschehnissen in Deutschland, die auch in Kanada eine Nachricht wert waren. Aber das war’s. Eine solche Kultur zu erreichen, wäre ein wundervolles Ziel – so lässt es sich gut im Ausland leben. So einfach ist es aber bei uns (noch) nicht. Und da wir nicht die nächsten 300 Jahre Zeit haben, um dorthin zu gelangen, wo Amerikaner und Kanadier jetzt sind, und zusätzlich deren Fehler vermeiden wollen, müssen wir darüber sprechen. Sprechen artet oft in die wohlgemeinte Fragestunde aus: »Woher kommst du – also ursprünglich?«, »Darf ich mal deine Haare anfassen?« sind inzwischen die Paradebeispiele für scheinbar wohlmeinenden, verdeckten Rassismus in Deutschland. Dabei vergessen wir, dass wir von Mischidentitäten ausgehen müssen. Die Kinder mit Migrationshintergrund in unseren Klassen sind zuallererst sie selbst, als Individuen. Wenn wir Interesse an ihnen zeigen, uns ihre Geschichten erzählen lassen, werden wir automatisch etwas über den Hintergrund erfahren. Manche meiner Fünft- oder SechstklässlerInnen haben ein starkes Mitteilungsbedürfnis – eine Situation, die auch Sie kennenlernen werden. Geben Sie dem Raum und fragen Sie nach. Wenn (in ein paar Jahren dann einmal …) Ihnen die deutschen Kinder erzählen, ihre Eltern seien in Ihrem Alter, aber das türkische Kind sagt: »Mann, sind Sie alt! Meine Mutter ist erst 29!«, dann überhören Sie geflissentlich den ersten Teil und haben einen ersten Eindruck von seinem Zuhause und eine erste Vorbereitung auf das Elterngespräch. Solche Eindrücke können sich vertiefen (wie bei jedem anderen Schülergespräch auch): ȤȤ Wohin geht es im Urlaub? ȤȤ Wie alt ist die Cousine, die heiratet? ȤȤ Der Mitschüler, der sagt: »Der braucht nicht in die Kirche gehen!«, bekommt die strahlende Antwort: »Ich darf gar nicht!« Die Möglichkeiten, etwas über seine SchülerInnen zu erfahren, sind vielfältig. Nur machen Sie nicht den Fehler zu werten, sondern nehmen Sie es so hin, beobachten Sie weiter, ob Sie notwendige Informationen erhalten, und fragen Sie, wie es bei Oma und Opa in der Türkei war – nicht, um noch mehr über den Hintergrund zu erfahren, sondern über das Kind, das vor Ihnen sitzt. Wenn nebenher etwas Bedeutsames dabei herausspringt, umso besser. Basteln Sie bitte ein bisschen: Suchen Sie sich mindestens fünf Bilder von verschiedenen 10-Jährigen. Schreiben Sie ebenso oft dieselbe Sprechblase mit dem Text: »Meine Cousine heiratet an ihrem 18. Geburtstag – ist das nicht praktisch?« und legen die Sprechblase über die verschiedenen Gesichter. Was für Bilder der Hochzeit erscheinen vor Ihrem inneren Auge?
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Sie werden sehen, es gibt eine Fülle von möglichen Interpretationen dieses Satzes aus Kindermund. Vor Ihrem inneren Auge werden die unterschiedlichsten Bilder entstehen, angefangen bei der erzwungenen Heirat einer Cousine in Burka bis hin zu einer Hippie-Hochzeit fröhlicher, blumenumkränzter Jugendlicher. Öffnen Sie sich für den Gedanken, dass auch die türkische Cousine vielleicht barfuß am Strand heiraten könnte. Was auch immer Sie hören werden, kann viel mehr Kontexte haben, als Sie sich im ersten oder zweiten Moment vorstellen. Das Kind, aus dessen Mund der Satz Ihrer Aufgabe stammt, hat einen türkischen Namen, wahrscheinlich auch einen türkischen Pass. Aber es ist kein Türke im klassischen Sinne. Nie sind diese Kinder ausschließlich türkisch oder pakistanisch oder afghanisch. Sie sind immer ein Stück deutsch, spätestens sobald sie unsere Sprache sprechen, Teil irgendeiner Institution hier sind. Das kann uns einerseits als Lehrende die Arbeit extrem vereinfachen. Gut ist es möglich, dass sie von klein auf beide Kulturen verinnerlicht und für sich miteinander vereinbart haben. Das funktioniert meistens ganz gut bei Kindern mit Elternteilen verschiedener Herkunft, häufig auch bei Kindern, deren Eltern schon hier aufgewachsen sind, manchmal auch bei Kindern, die nicht hier geboren wurden. In keinem Fall aber dürfen wir vergessen, dass Mischkulturalität nicht nur eine Chance und ein ewiger Quell der Freude ist, seinen Horizont möglichst jung schon in unerhörte Weiten zu strecken. Sehr häufig kann Mischkulturalität auch mit einer inneren Zerrissenheit verbunden sein. Im Extremfall leben die Kinder zwei Parallelleben, eins in der Schule, eins zu Hause. Sie werden zu Recht sagen, dass das ja immer der Fall sei, aber die Frage ist eben, wie weit diese Lebenswelten auseinander liegen. Das ist für uns als LehrerInnen doppelt schwierig, wenn zum Beispiel in der Welt zu Hause Schule und Bildung keine große Rolle spielen, vielleicht vor allem für Mädchen nicht, oder wenn die Eltern zu Hause davon ausgehen, dass diese beiden Lebenswelten keine gegenseitige Einmischung vertragen. In dieser anscheinenden Interesselosigkeit kann durchaus Respekt vor Ihrer Arbeit und Akzeptanz Ihrer Rolle liegen. Das Kind ist jedoch ein Wanderer zwischen zwei Welten, und wir können nur behutsam versuchen, ihm die unsere zu zeigen, ohne Türen zuzuschlagen, wenn das Kind nicht gleich eintritt. Es kann oft nicht, auch wenn es will, weil es diametral entgegengesetzte Anforderungen an sich gestellt sieht oder schlicht ungeahnte Freiheiten ahnt, wo eigentlich gar keine sein sollten, weil diese zu Hause anders definiert werden. Hier kommt jetzt zum Tragen, was eingangs so lange ausgeführt wurde: Ihre eigene Positionierung ist wichtig. Je unvorbereiteter Sie innerlich auf diese Begegnungen sind, desto mehr wird Sie das Fremde irritieren, vielleicht gar abstoßen.
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Konzentrieren Sie sich zunächst auf den kleinsten gemeinsamen Nenner, den alle SchülerInnen mitbringen: Sie wollen lernen – das können Sie Ihnen geben, das haben Sie gelernt, und dieses Buch gibt Ihnen weitere Anregungen dazu. Was wir alle vermehrt einsetzen müssen, und dafür haben Sie das bessere Rüstzeug als wir älteren Lehrergenerationen, sind individualisierte Methoden. Behutsam, ohne Ausgrenzung die SchülerInnen so individuell abzuholen, wie unser System es zulässt, ist nicht zuletzt in multikulturellen Umfeldern ein immer wichtigerer Faktor. Helfen können Sie den Kindern oft durch kleine Anstöße zur Selbstreflexion. Sie werden Ihnen Zeichen geben, ob sie tiefer gehen wollen oder nicht. Das Prinzip kann sehr ähnlich laufen wie im oben genannten interkulturellen Lernen. Regen Sie die SchülerInnen an, ihre Welten zusammenzuführen, zeigen Sie Ihnen, dass durchaus Interesse an ihrer Welt besteht, und wecken Sie ihr Interesse für Ihre andere Welt. Zeigen Sie ihnen auf, wo ihre Welt bei uns Einzug gefunden hat und wir sie schätzen, und sei es bei Lahmacun und Döner. Zeigen Sie die kleinen gemeinsamen Nenner auf wie McDonald’s und Schokolade. Ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, in zwei Welten zu Hause zu sein, geht mit ungemeiner Befriedigung einher und stiftet an zur Suche nach mehr Vereinbarkeiten. Stellen Sie das Besondere heraus und geben Sie den Kindern ein bisschen Stolz mit, dass sie mehrsprachig und multikulturell sind. Zeigen Sie ihnen auf, was für eine Kompetenz mit dieser Mehrsprachigkeit verbunden ist. Wenn man sich hier und da eine Minute Zeit nimmt, gibt es eine Fülle von Möglichkeiten, Bewusstsein zu schaffen und Ambiguitäten, die uns allen zunächst Angst einflößen und unsere Abwehrmechanismen aktivieren, als Chance wahrzunehmen. Natürlich werden auch sogenannte Störungen auf Sie zukommen, Verhaltensweisen, mit denen Sie nicht rechnen, weil Sie einfach in dem Ihnen vertrauten kulturellen Umfeld nicht gegeben sind. Verhaltensweisen, die Ihren Auffassungen von einem funktionierenden Lernen diametral entgegen gesetzt sind. Leicht empfinden wir dies in unserem Beruf als Provokation, nehmen es gar persönlich oder tun es als inakzeptables Verhalten ab. Sprich: Sie stehen diesen Situationen im Grunde hilflos gegenüber, ärgern sich insgeheim auch über sich selbst – und geraten in furchtbaren Stress. Wer gestresst ist, dem mangelt es wiederum an Empathie, der Grundvoraussetzung für jede gelungene Kommunikation. Nicht nur ist damit Ihr Erfolg mit den Lernenden gefährdet, sondern im Endeffekt Ihre eigene Gesundheit. Setzen Sie sich nicht unter Druck, schon von vornherein handlungsfähig zu sein. Jeder am Schulleben Beteiligte wird Ihnen zugestehen, dass Sie keine Entscheidungen treffen, keine Urteile fällen, keine Konsequenzen greifen lassen, bevor Sie sich ein umfassendes Bild gemacht haben.
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Kurz: Geben Sie den Kindern die Chance, Ihnen etwas beizubringen. Nicht, wie sich ihre Haare anfühlen, sondern wie sie denken – und lernen Sie daraus. Hören Sie zu und stellen Sie Fragen, geben Sie den Kindern eine Chance, wirklich zu erklären, anstatt Ausflüchte zu finden. Treten Sie aus Ihrer Rolle heraus, versuchen Sie, die Situation von außen zu betrachten – wie Sie das in Konfliktsituationen allgemein tun sollten – und lernen Sie mit. Nutzen Sie die Chance, hier Andersartigkeit zu erleben, ohne reisen zu müssen. Genießen Sie es, Ambiguität zu erleben und Ihre Rolle noch einmal zu überdenken. Gehen Sie per Literatur in Ihrer Freizeit auf die Reise und lesen Sie sich klug über die Herkunft Ihrer SchülerInnen. Stellen Sie sich Ihre SchülerInnen in der Romanwelt vor und prüfen Sie, ob Ihre Einstellung zu ihnen und zu dem scheinbar vorhandenen Problem sich vielleicht dabei ändert, das Problem sich gar pittoresk verklärt. Wahrscheinlich ist Ihr zehnjähriger MachoSchüler genauso ein nettes Früchtchen wie der aus dem Roman – auch im wahren Leben können Sie ihm mit einem Schmunzeln begegnen. Lesen Sie Fachlektüre, sehen Sie Dokumentationen. Überlegen Sie, was Sie von all dem Gelernten sogar für die Zukunft nutzbar machen können, wo Sie das Spiel mitspielen können und was Sie in Zukunft beachten sollten. Vergessen Sie aber über allem Verständnis nicht, zu überdenken, was Sie an Ihren zwischendurch wieder in Frage gestellten und neu orientierten oder auch nach Prüfung als gut befundenen und beibehaltenen Positionen durchsetzen wollen. Machen Sie sich bereit, klare Aussagen zu vermitteln, dafür auch geradezustehen und hier und da auf Konfrontationskurs gehen zu müssen, ohne die Identität des Lernenden zu verletzen. Das kann Sie, um es mal wirklich pathetisch auszudrücken, im besten Fall für die SchülerInnen zu einem richtungsweisenden Leuchtturm machen, in ihrem Versuch, mehrere Identitäten unter einen Hut zu bringen – und für sich selbst zu einem gefestigten und stressresistenten Fels in der Brandung. Zumindest in der Theorie – die Praxis wird immer wieder Überraschungen für uns bereithalten, die Leuchttürme ins Wanken und Felsen zum Bröckeln bringen. Dafür sind wir Menschen, und das müssen wir uns zuallererst verzeihen können.
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Interkulturelle Begegnungen in der Elternarbeit Gleich vorweg: Wir haben es in erster Linie nicht mit RussInnen, TürkInnen oder MarokkanerInnen zu tun, sondern mit Eltern. Das ist unser erstes Augenmerk. Zunächst einmal machen sich alle Eltern, egal welcher Abstammung, Sorgen um ihre Kinder. Sie werden sie verteidigen, wenn sie beschuldigt werden, und in Schutz nehmen. Sie möchten, dass es ihren Kindern gut geht und sie sich wohl fühlen. Sie möchten, dass sie erfolgreich sind und eine solide Bildung bekommen. In diesem Punkt liegen Eltern mit Migrationserfahrung oftmals über dem Schnitt deutscher Eltern. Sie wissen aus eigener Erfahrung heraus, wie wichtig es ist, dass ihre Kinder den Grundstein für ihre Zukunft legen. Auch wir kennen das: Unsere Kinder sollen es gut haben. Je nachdem, wie gut es uns selbst geht, müssen sie es später nicht noch besser haben, aber wenn es uns im Moment besser gehen könnte, dann ist dies das Ziel, das wir für unsere Kinder anstreben. Wenn in Deutschland Sprüche wie »Du sollst es mal besser haben als wir!« oder »So lange du deine Füße unter unseren Tisch steckst …« anscheinend ausgestorben sind, dann nur, weil eben jener inzwischen recht reich gedeckt ist. Nur weil wir in einer Wohlstandsgesellschaft leben, in der so einige Eltern schon fast für ihre Kinder mit ausgesorgt haben oder zumindest wissen, dass die Chancen, relativ gesehen, gut stehen, ist Ehrgeiz für die nächste Generation nicht unbedingt eine Frage der kulturellen, sondern auch der sozialen Herkunft. Sie werden in Anbetracht der sich öffnenden sozialen Schere hierzulande auch Kinder deutscher Abstammung kennenlernen, die dieses Paket im Ranzen haben. Kurz: Das ist oftmals die Sorte der Eltern, die wunderbar mit dem Lehrpersonal an einem Strang ziehen, manchmal gar heftiger als wir, und gebremst werden müssen, wenn wir den Kindern noch ein bisschen Freizeit und Kindheit zugestehen wollen. Nun kann aber auch genau das Gegenteil eintreten. Studien beweisen, dass Lernende mit Migrationshintergrund andererseits häufig schwache Leistungen erbringen, selbst wenn sie in zweiter Generation das hiesige Schulsystem durchlaufen und gut integriert scheinen. Ein Teil des Problems wurde weiter oben schon angerissen: Das Elternhaus und die Schulwelt sind so weit voneinander entfernt, dass wir hier noch einen Schritt weiter gehen müssen als bei unseren deutschen SchülerInnen. Der Fall ist gar nicht selten, dass eine Zusammenarbeit oftmals nicht angedacht ist, geschweige denn erstrebenswert erscheint. Lehrende, die sich an Eltern wenden, werden sogar oftmals als Versager in ihrem Beruf betrachtet – gar keine so abwegige Perspektive: Wahrscheinlich hätten auch Ihre Urgroßeltern den Schluss gezogen, ein Lehrer sei unfähig, der seine Kinder nicht »im Griff« habe. Nun war aber die Schulwelt
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vor fünfzig Jahren trotz aller Unterschiede doch näher an der des Elternhauses als das die Mehrheit heutiger Migrantenkinder von sich behaupten kann. Ansprüche sind oft sehr unterschiedlicher Natur, sei es bezüglich erwarteter Disziplin und ihrer Durchsetzung, sei es bezüglich allgemeiner Erziehungsideale, sei es bei der Einschätzung des Kindes und seiner Befähigung sowie beim Umgang damit. Wir sollten immer die durch verschiedene Studien belegte Tatsache im Hinterkopf haben, dass Kooperation auch und gerade mit Eltern aus anderen Kulturkreisen ein wichtiger Faktor ist, um ihren Kindern Chancen gleichheit zu gewähren. Zunächst sollten Sie vor einem Gespräch mit Eltern mit Migrationshintergrund schlicht an eines denken: an das, was Sie über das Führen von Elterngesprächen gelernt haben und an anderer Stelle nachlesen können (→ 13 Elterngespräche führen). Dazu kommt dann, dass Sie bedenken, was Sie im Umgang mit der/dem Lernenden schon von ihr/ihm gelernt haben, über Herkunft, Traditionen, Denkweisen, vielleicht Gefühle, Familienleben. Das ist eigentlich gar nicht so viel mehr, als Sie auch bei anderen Lernenden im Hinterkopf haben. Im Gespräch ist jetzt Feingefühl gefragt. Wir alle haben gehört, dass wir muslimischen Männern lieber als Frau nicht die Hand reichen, ihre Frauen wären brüskiert, wenn eine Lehrerin dies täte. Eltern könnten sich aber durchaus verletzt fühlen, wenn Sie von Ihrer deutschen Höflichkeitsgeste Abstand nehmen, schließlich kennen sie die deutschen Sitten und sind aufgeklärt. Gar nicht so einfach. Sie können sich hier darauf versteifen, dass man das eben hier so macht. Das ist eine valide Möglichkeit, aber keine feinfühlige. Es ist nicht Ihre Rolle, die Eltern zu erziehen. Vor allem sollten Sie dabei bedenken, dass es in Ihrem eigenen Interesse ist, eine angenehme Atmosphäre herzustellen. Eltern sind Ihre Gäste, und Sie stellen sich darauf ein, so wie Sie einem Vegetarier nicht fünf Scheiben Schweinebraten auf den Teller häufen, nur weil das bei Ihnen Sitte ist. Vor den Zeiten unserer BussiGesellschaft war es manchen Menschen schlicht zuwider (und das ist es auch heute noch), halbwegs Fremde in den Arm zu nehmen und ihnen einen Kuss auf die Wangen zu hauchen (wie es in Frankreich nur enge Freunde tun – auch die Bussikultur jenseits des Rheines ist nicht so einfach, wie wir es uns hierzulande machen). Das persönAbb. 5: Begrüßungsritual, © Simon Blackley, flickr.com liche Recht auf die Distanzzone sollte kulturübergreifend und individuell sein, keine Frage von Sitten, die durchzusetzen sind. Sie werden mit ein bisschen gutem Willen und Beobachtungsgabe einschätzen können, wie viel Nähe Ihre G esprächspartnerInnen
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vertragen. Halten Sie zunächst eine lockere, höfliche Distanz, näher kommen kann man sich immer noch. Beachten Sie auch bei jedem Gespräch, dass es wenige Kulturen gibt, die direkter sind als die deutsche. Guter Smalltalk ist die Kunst, langsam Nähe zu schaffen, Gemeinsamkeiten zu entdecken, sein Gegenüber etwas kennenzulernen, ihm Respekt und Interesse zu zollen und auch sich selbst als wohlmeinenden, empathischen und kompetenten Menschen darzustellen. Wie in jedem anderen Gespräch ist auch hier sicherlich angebracht auszuloten, wie Eltern und Kinder zueinander stehen. Sehr schnell erkennt man, ob die Eltern wirklich desinteressiert sind (sie haben sich ja schließlich nie gekümmert), ob sie unser Schulsystem nicht vollständig internalisiert haben, ob sie sich nur damit ›abgefunden‹ haben, dass ihr Kind ist, wie es ist, ob sie zu Hause ungeahnten Druck machen etc. Darauf können Sie sich zur Klärung im weiteren Gespräch einstellen. Es bietet sich sicherlich auch an zu betonen, dass das folgende Gespräch unter vier Augen bleiben wird. Viele Eltern aus anderen Kulturen sind öffentlichen Einrichtungen gegenüber zunächst skeptisch eingestellt. Wenn Sie dann zum Problem kommen, beachten Sie die üblichen Vorgaben, nur seien Sie vielleicht noch ein wenig blumiger, binden Sie eine hübsche Schleife um das Paket. Betonen Sie: Das Wohl Ihres Kindes ist unser gemeinsames Ziel. Konfliktträchtiger ist wiederum das Vorgehen, wenn es um Lösungsvorschläge geht, die von Eltern wie Lehrenden durchgeführt werden sollen. Vieles, was in einem deutschen Elternhaus eine Selbstverständlichkeit ist, geht in einem anderen nicht. Klopfen Sie ab, ob Lösungsvorschläge in den Alltag der Familie passen. Fragen Sie nach Strukturen und Rollenverteilungen. Wenn – schön nach Klischee – Papa den ganzen Tag unterwegs ist, Mama nur am Herd steht und sich die große Schwester um die Kleinen kümmert, während der große Bruder um die Häuser zieht, ist es unwahrscheinlich, dass Sie elterliche Hausaufgabenhilfe einfordern können. Überlegen Sie gemeinsam, welche Wege gangbar sind. Und hüten Sie sich vor allem davor, Klischees laut zu formulieren, selbst wenn Sie sich in einer Situation befinden sollten, in der Sie alle herkömmlichen Vorurteile bestätigt sehen. Überhaupt: Ob Klischee oder nicht – vielleicht haben Sie es schon am eigenen Leib erfahren: Nichts ist falscher, als die Aussage eines anderen über die eigene Kultur. Ihr erster Impuls ist, wenn nicht ein klares Nein!, dann zumindest ein Ja, aber..! Da sind wir uns in allen Kulturen wiederum sehr gleich, nur ein höflicher Asiate würde besorgt nicken und Ihnen unglücklich zustimmen – was er allerdings denkt, würden Sie nicht erfahren. Zuguterletzt ist eines vor allem zu beachten: Nicht überall hat der Lehrberuf eine so schlechte Reputation wie in Deutschland. In Kanada gab es einen Teacher Appreciation Day, der an meiner Schule darin bestand, dass einen gan-
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zen Vormittag Eltern bereitstanden, uns in unseren Pausen und Freistunden nach Strich und Faden mit selbst gemachten Leckereien zu verwöhnen. Das war nicht nur nahrhaft, bauchpinselnd und hilfreich, sondern half auch, sich einmal auf anderer Ebene zu begegnen, und wenn es zum Rezeptetausch war. Damit geht aber auch eine Anforderung einher, der Sie von Eltern aus anderen Kulturbereichen eher ausgesetzt sind: Man hat hohe Erwartungen an Ihre Professionalität wie auch Ihre Befugnisse. Letztere sollten Sie gleich umreißen. Anderswo haben Lehrende mehr Entscheidungsfreiheit – hier sollte klar gemacht werden, wo unsere Grenzen liegen. Was Ihre persönliche Kompetenz betrifft, ist es ebenso wichtig, klare Position zu beziehen und zu vertreten, ohne Kompromisslosigkeit vermissen zu lassen. Womit wir wieder am Anfang wären … Sie sehen, dass Transkulturalität vor allem deshalb so spannend ist, weil wir nicht nur für unsere SchülerInnen denken, sondern selbst auch in geistiger Bewegung bleiben. Und es ist für alle befriedigend und – darf ich wieder pathetisch sein? – erhebend, mit den eigenen SchülerInnen im selben Boot zu sitzen und die Welt gemeinsam zu erkunden. Nein, dem Pathos zuliebe nehmen wir einen Ballon! Beim Durchlesen dieses Artikels wird mir schamhaft bewusst, wie viel sich hier um das Essen dreht. Anscheinend geht nicht nur Liebe durch den Magen, sondern auch Kultur. Daher ein letzter Tipp: Nehmen Sie sich immer mal wieder eine Auszeit vom Schreibtisch und klappern Sie die internationalen Restaurants in Ihrer Umgebung ab. Kaufen Sie sich Kochbücher und stellen Sie sich an den Herd oder lassen Sie sich bekochen und überraschen. Mixen Sie Gerichte und Gewürze und Zutaten aller Herren Länder. Schauen Sie, riechen Sie, schmecken Sie, zelebrieren Sie. Kann es angenehmere Fortbildungen im Lehrberuf geben?
Emmeli, 11 Jahre, Klasse 5
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Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt/M. 1981 Holzbrecher, Alfred/Over, Ulf (Hg.): Handbuch Interkulturelle Schulentwicklung, Wiesbaden 2015 Jammal, Elias (Hg.): Kultur und Interkulturalität. Interdisziplinäre Zugänge. Heilbronn 2014 Klärer, R: Deutschland, Setzen! Das politische ABC für Durchblicker. Neobooks self-publishing 2015 Kumbier, Dagmar/Schulz von Thun, Friedrich (Hg.): Interkulturelle Kommunikation: Methoden, Modelle, Beispiele. Hamburg 2006 Schlösser, Elke: Zusammenarbeit mit Eltern – interkulturell. Münster 2004 Toprak, Ahmed/El Mafaalani, Aladin: Muslimische Kinder und Jugendliche in Deutschland. Sankt AugustinBerlin 2011 www.luhmann-online.de/ Einsteigerforum in System-Theorie und andere Themen Youzefi, Hamid R.: Grundbegriffe der interkulturellen Kommunikation. Trier 2014
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Autorinnen und Autoren
Christoph Brill ist Trainer, u. a. für Visualisierungstechniken, in Ihringen. Silke Kamradt ist Lehrerin für Französisch und Englisch am Robert-BoschGymnasium in Langenau und hat viele Jahre auf der Ile de la Réunion, in Japan und Kanada unterrichtet. Dr. Wilfried Kretschmer ist Schulleiter der Robert-Bosch-Gesamtschule in Hildesheim und Mitglied im Expertenteam der Deutschen Schulakademie in Berlin. Peter Larisch ist Lehrer für Deutsch und Englisch und stellvertretender Seminarleiter am Studienseminar Salzgitter. Meike Luster ist Lehrerin für die Fächer Deutsch und evangelische Religion und Fachleiterin Deutsch am Studienseminar Hildesheim. Dr. Anke Meisert ist Lehrerin für die Fächer Biologie und Deutsch, Professorin für Biologiedidaktik an der Universität Hildesheim sowie Fachleiterin für Biologie am Studienseminar Hildesheim. Christiane Pihet ist Lehrerin für Französisch und Kunst an der Michelsenschule in Hildesheim und Pädagogische Ausbilderin am Studienseminar Hildesheim. Pierre R. Pihet hat als Lehrer an einer Freien Waldorfschule und als Verkaufstrainer in einem Medienkonzern gearbeitet. Er ist ausgebildeter Konflikttrainer und Lehrer für Französisch und Deutsch am Gymnasium H immelsthür, Hildesheim. Carolin Schaper ist Lehrerin für die Fächer Deutsch, ev. Religion und Psychologie und bildet seit vielen Jahren Lehrerinnen und Lehrer aus. Seit Februar 2016 arbeitet sie in Paris als Prozessbegleiterin für pädagogisches Qualitätsmanagement und regionale Fortbildungen für deutsche Auslandsschulen. Nils Trzebin unterrichtet Erdkunde und Englisch am Gymnasium Sarstedt und ist freiberuflicher EDV-Berater und Trainer. Renate Will ist Lehrerin für Biologie und Chemie am Gymnasium Himmelsthür und Pädagogische Ausbilderin am Studienseminar Hildesheim.
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