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German Pages [205] Year 2018
Markus Gabriel Csaba Olay Sebastian Ostritsch (Hg.)
Welt und Unendlichkeit Ein deutsch-ungarischer Dialog in memoriam László Tengelyi
ALBER PHILOSOPHIE
https://doi.org/10.5771/9783495813768
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B
Markus Gabriel Csaba Olay Sebastian Ostritsch (Hg.) Welt und Unendlichkeit
ALBER PHILOSOPHIE
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https://doi.org/10.5771/9783495813768 .
Markus Gabriel Csaba Olay Sebastian Ostritsch (Hg.)
Welt und Unendlichkeit Ein deutsch-ungarischer Dialog in memoriam László Tengelyi
Verlag Karl Alber Freiburg / München
https://doi.org/10.5771/9783495813768 .
Markus Gabriel Csaba Olay Sebastian Ostritsch (Hg.) World and Infinity A German-Hungarian dialogue in memoriam László Tengelyi
This book is a compilation of eleven texts by German and Hungarian philosophers in memory of László Tengelyi (1954–2014). At the core of these texts are the philosophical concepts of »world« and »infinity« as well as critical reflections on the totalizing aspirations linked with these concepts.
The Editors: Markus Gabriel holds the chair for Epistemology, Contemporary and Modern Philosophy at the University of Bonn. Csaba Olay holds the chair for Contemporary and Modern Philosophy at Eötvös Loránd University in Budapest. Sebastian Ostritsch is a member of the scientific staff at the Universities of Stuttgart and Tübingen.
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Markus Gabriel Csaba Olay Sebastian Ostritsch (Hg.) Welt und Unendlichkeit Ein deutsch-ungarischer Dialog in memoriam László Tengelyi
Der Band versammelt insgesamt elf im Andenken an László Tengelyi (1954–2014) verfasste Beiträge deutscher und ungarischer Philosophinnen und Philosophen. Im Zentrum stehen dabei die philosophischen Grundbegriffe »Welt« und »Unendlichkeit« sowie die kritische Reflexion des mit diesen Begriffen verknüpften Anspruchs, aufs Ganze zu gehen.
Die Herausgeber: Markus Gabriel ist Inhaber des Lehrstuhls für Erkenntnistheorie, Philosophie der Neuzeit und Gegenwart an der Universität Bonn. Csaba Olay ist Inhaber des Lehrstuhls für Philosophie der Neuzeit und Gegenwart der Eötvös Loránd Universität Budapest. Sebastian Ostritsch ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an den Universitäten Stuttgart und Tübingen.
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Gedruckt mit Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung, Köln
Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2017 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-48853-9 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81376-8
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Inhalt
Vorwort
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9
Michael N. Forster Anaximander’s thesis that to apeiron is the archê . . . . . . . .
15
Sebastian Ostritsch Die Ewigkeit der Welt und die Genese der Zeit – Überlegungen mit und gegen Augustinus . . . . . . . . . . . .
35
Gábor Boros Onto-Theo-Logie in der Geschichte – Versuch über László Tengelyis Deutung der Neuzeit . . . . . .
50
Anton Friedrich Koch Die Offenheit der Welt und der euklidische Raum der Imagination . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
68
András Schuller Der Satz vom Ungrund. Der schellingsche Überwindungsversuch der Ontotheologie als Vorläufer der phänomenologischen Metaphysik bei László Tengelyi . . . . . . . . . . . . . . . . .
79
Bianka Boros Weltentwurf und Unendlichkeit bei Nicolai Hartmann . . . . .
97
Inga Römer Was ist phänomenologische Metaphysik? . . . . . . . . . . . .
115
Sándor Sajó Is Experience Diacritical?
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131
Tamás Ullmann Phenomenology of experience and the problem of the unconscious . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
141
7 https://doi.org/10.5771/9783495813768 .
Inhalt
Csaba Olay Das Spannungsverhältnis von Theorie und Existenz aus neoexistentialistischer Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . Markus Gabriel Sinn, Existenz und das Transfinite
162
. . . . . . . . . . . . . . . 187
8 https://doi.org/10.5771/9783495813768 .
Vorwort
»Welt« und »Unendlichkeit« sind nicht nur Grundbegriffe der Philosophiegeschichte, sondern stehen auch im Zentrum gegenwärtiger Debatten um die Möglichkeit und Grenzen von Metaphysik überhaupt. 1 Versteht man unter »Welt« die Gesamtheit dessen, was ist, dann stellt sich die Frage nach dem ontologischen Status dieser Seinstotalität selbst. Wie, wenn überhaupt, kann die Existenz der Welt sinnvoll gedacht werden? Der Begriff der Unendlichkeit konturiert und verschärft diese ontologische Frage dadurch, dass wir die Ganzheit namens »Welt« als unendlich erfahren, d. h. so, dass sie unsere in epistemischer Hinsicht endlichen Weltbezüge grundsätzlich übersteigt. Mit »Welt« und »Unendlichkeit« ist daher ein begrifflicher Spannungsraum eröffnet, bei dem es im wörtlichen Sinne ums Ganze geht. Denn die Frage, ob und wie die Welt als unendliche Ganzheit so gedacht werden kann, dass sie zugleich für endliche Wesen offensteht, ist gewissermaßen die Frage nach der Möglichkeit von Metaphysik überhaupt. Einen der bedenkenswertesten Gegenwartsbeiträge zu dieser durch die Begriffe »Welt« und »Unendlichkeit« abgesteckten Grundfrage der Philosophie hat László Tengelyi mit seinem letzten, glücklicherweise noch vor seinem überraschenden und viel zu frühen Tod Für eine auf der Höhe der aktuellen Diskussion erfolgende philosophiehistorische Darstellung des Weltbegriffs als allumfassende Totalität dessen, was es gibt, vgl. die ersten beiden Teile von László Tengelyis Welt und Unendlichkeit, Freiburg / München 2014. Einen konzisen philosophiehistorischen Abriss über den Begriff »Unendlichkeit« bietet Adrian Moore in The Infinite, 2., überarbeitete Ausgabe, London/New York 2001. Für aktuelle Debatten im Umfeld der Begriffe »Welt« und »Unendlichkeit« siehe neben Tengelyis Welt und Unendlichkeit auch Markus Gabriels An den Grenzen der Erkenntnistheorie. Die notwendige Endlichkeit des objektiven Wissens als Lektion des Skeptizismus, Freiburg / München 2008; sowie ders.: Sinn und Existenz, Berlin 2016. Für die französische Gegenwartsphilosophie ist in diesem Zusammenhang Alain Badious Das Sein und das Ereignis 2. Logik der Welten, übers. v. H. Jatho, Zürich / Berlin 2010, zu nennen.
1
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Vorwort
am 19. Juli 2014 fertiggestellten Buch Welt und Unendlichkeit verfasst. Darin versucht Tengelyi die Möglichkeit einer phänomenologischen Metaphysik im Spannungsfeld von Welt und Unendlichkeit auszuloten. Eine entscheidende Schwierigkeit besteht ihm zufolge dabei darin, wie wir die Welt als umfassende Seinsganzheit denken können, aber zugleich so, dass sie ontisch unerschöpflich und daher auch für unsere epistemischen Zugriffe offen bleibt. 2 Der vorliegende Band versammelt elf Beiträge, die am 26. und 27. November 2015 im Rahmen der von der Deutsch-Ungarischen Gesellschaft für Philosophie ausgerichteten Tagung »Welt und Unendlichkeit – ein deutsch-ungarischer Dialog in memoriam László Tengelyi« am Internationalen Zentrum für Philosophie NRW (Universität Bonn) gehalten wurden. Die Autoren – viele von ihnen Schüler und Weggefährten Tengelyis – möchten mit den hier abgedruckten Texten das in Welt und Unendlichkeit hinterlassene philosophische Vermächtnis Tengelyis pflegen und ehren, indem sie historisch informierte und zugleich systematisch relevante Forschungsarbeit auf dem durch die Begriffe »Welt« und »Unendlichkeit« umgrenzten Untersuchungsfeld leisten. Die Beiträge sind dabei trotz des sie einenden philosophischen Themas sowohl methodisch als auch inhaltlich als auch im Hinblick auf ihren historischen Fokus unterschiedlich ausgerichtet. Die Anordnung der Beiträge in diesem Band erfolgt chronologisch nach dem jeweiligen dominanten historischen Bezugspunkt. Den Anfang macht daher Michael Forster (»Anaximander’s thesis that to apeiron is the archê«) mit einer Untersuchung der These des Anaximander von Milet, dass to apeiron (das Unbegrenzte oder Unendliche) die archê (der Ursprung) von allem sei. Forster geht den Fragen nach, wie Anaximander zu seiner These gelangte, die im Abendland als der Beginn philosophischen Nachdenkens über das Unendliche gelten kann, insbesondere welche Gründe er hatte, von ihr überzeugt zu sein, und was er eigentlich genau mit ihr ausdrücken wollte. Der Beitrag von Sebastian Ostritsch (»Die Ewigkeit der Welt und die Genese der Zeit – Überlegungen mit und gegen Augustinus«) Tengelyi schließt dabei laut eigener Aussage an eine von Levinas formulierte und auch bei Adorno zu findende »Antinomie von Totalität und Unendlichkeit« an. Siehe Welt und Unendlichkeit, S. 20.
2
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Vorwort
beschäftigt sich mit der Philosophie des Augustinus und wendet zugleich die Frage nach Welt und Unendlichkeit ins Zeitliche. Ostritsch rekonstruiert zunächst Augustins komplexe Antwort auf die Frage, ob die Welt ewig sei, um daraufhin gegen die augustinische These eines Beginns der Zeit zu argumentieren; und zwar mit Verweis auf Überlegungen, die sich bei Augustinus selbst finden lassen. Gábor Boros (»Onto-Theo-Logie in der Geschichte – Versuch über László Tengelyis Deutung der Neuzeit«) erarbeitet eine Kritik an der von Tengelyi im Gefolge Heideggers vertretenen onto-theologischen Deutung neuzeitlicher Philosophie. Hierzu geht Boros zunächst auf Heideggers Begriff der Ontotheologie ein, um dann in kritischer Absicht aufzuschlüsseln, wie Jean-Luc Marion und seine Schüler mit diesem Begriff bei ihren Einzelanalysen neuzeitlicher Philosophen – insbesondere bei Descartes, Spinoza und Leibniz – umgingen und wie diese Analysen letztlich in Tengelyis Welt und Unendlichkeit Eingang gefunden haben. Der Text von Anton Friedrich Koch (»Die Offenheit der Welt und der euklidische Raum der Imagination«) argumentiert auf Basis der Subjektivitätsthese – der zufolge leibliche, raumzeitlich lokalisierte Subjekte mit Notwendigkeit im Universum auftreten – für eine Korrektur am von Kant angenommenen Verhältnis von reinem Raum und reiner Zeit einerseits und dem materiellen Raum-ZeitSystem andererseits. Nach Koch handelt es sich beim reinen Raum und der reinen Zeit (wie sie in Kants transzendentalem Idealismus vorkommen) um das Ideelle oder rein Imaginative, das sich – anders als Kant dachte – nicht auf die empirische Raum-Zeit vererbt; ja mehr noch, das rein Imaginative des reinen Raums und der reinen Zeit müsse letztlich als kontrapossibler Grenzfall des empirisch Realen gelten. András Schuller (»Der Satz vom Ungrund. Der schellingsche Überwindungsversuch der Ontotheologie als Vorläufer der phänomenologischen Metaphysik bei László Tengelyi«) knüpft an Tengelyis Schelling-Deutung in Welt und Unendlichkeit an. Diese erblickt in Schellings Spätphilosophie einen Vorläufer jener phänomenologischen Metaphysik, die radikal mit der traditionellen Metaphysik als Ontotheologie zu brechen sucht. Schuller weitet diese Deutung auf Schellings mittlere Philosophieperiode am Beispiel der Freiheitsschrift aus. Der Aufsatz von Bianka Boros (»Weltentwurf und Unendlichkeit bei Nicolai Hartmann«) setzt sich mit Nicolai Hartmanns Schich11 https://doi.org/10.5771/9783495813768 .
Vorwort
tenontologie und seinem Unendlichkeitsbegriff auseinander, um zu einem besseren Verständnis des für Tengelyi zentralen metontologischen Transzendentalismus und des damit einhergehenden Begriffs des Weltentwurfs als einer »unendlichen Idee mit endlich vielen – unter sich einstimmigen – Erfahrungen als Beleginstanzen« 3 zu gelangen. »Was ist phänomenologische Metaphysik?« – diese Frage stellt Inga Römer in ihrem gleichnamigen Text und gibt damit den Auftakt zu insgesamt drei phänomenologisch ausgerichteten Beiträgen. Dabei geht es ihr nicht darum, diese Frage direkt, etwa durch die Vorlage eines Entwurfs einer phänomenologischen Metaphysik zu beantworten, sondern darum, die Möglichkeitsbedingungen phänomenologischer Metaphysik zu erörtern. Behandelt wird also die Frage, ob es so etwas überhaupt geben kann oder ob nicht der Ausdruck bereits eine contradictio in adiecto ist, weil doch das husserlsche Projekt mit seinem methodischen Instrumentarium der epoché gerade als Metaphysikkritik angetreten war. Sándor Sajó (»Is Experience Diacritical?«) untersucht die von Tengelyi in Welt und Unendlichkeit beschriebene diakritische Vorgehensweise, die im Nachhinein trennt, was in der Erfahrung scheinbar zusammenfällt, ohne jedoch den ex post separierten Momenten abzusprechen, dass sie wesentlich zusammengehören. 4 Sajó rekonstruiert nicht nur die diakritische Verfasstheit unserer Erfahrung, wie sie Tengelyi darstellt, sondern buchstabiert zudem die diakritische Struktur der Erfahrung an drei Gestalten (nämlich an Liebe, Trauer und dem eigenen Tod) aus, die in Tengelyis Buch nicht hinlänglich Berücksichtigung finden. Tamás Ullmanns Beitrag (»Phenomenology of experience and the problem of the unconscious«) ist der letzte der phänomenologischen Trias und analysiert im Anschluss an Tengelyi das Verhältnis des Prozesses der Herausbildung von Sinn einerseits und dem Unbewussten im Allgemeinen andererseits. Darauf aufbauend behandelt Ullmann die für die Möglichkeit phänomenologischer Philosophie grundlegende Frage, wie wir mit Mitteln der Phänomenologie an etwas herankommen, was jenseits der Phänomenalität liegt. Ausgehend von einer Auseinandersetzung mit Jaspers und Heidegger lotet Csaba Olay (»Das Spannungsverhältnis von Theorie und 3 4
Tengelyi: Welt und Unendlichkeit, S. 411. Siehe ebd., S. 301.
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Vorwort
Existenz aus neoexistentialistischer Sicht«) die Frage aus, inwieweit sich das Erfassen der menschlichen Existenz den totalisierenden theoretischen Weltbetrachtungen der Wissenschaft entzieht und welche Schlüsse hieraus für die rechte Verfasstheit der Philosophie gezogen werden müssen. Den Abschluss des Bandes bildet Markus Gabriels Beitrag (»Sinn, Existenz und das Transfinite«), in dem die Grundzüge einer Ontologie skizziert werden, die erstens auf dem Begriff des Sinnfelds, zweitens auf der These, dass Existenz die Eigenschaft eines Sinnfelds sei, dass etwas in ihm vorkommt, und drittens auf einer für eine derartige Sinnfeldontologie angepassten Auffassung des cantorschen Transfiniten beruht. Hieraus resultiert das Bild einer Ontologie der transfiniten Multiplizität, die nicht in eine totalisierende Ganzheit eingebettet ist. Unser gleich zweifacher Dank gilt der Fritz Thyssen Stiftung; zum einen für die Finanzierung der Tagung, aus der dieser Band hervorgegangen ist, und zum anderen für die gewährte Druckkostenbeihilfe, ohne die die Veröffentlichung dieses Bandes nicht möglich gewesen wäre. Der Alexander von Humboldt-Stiftung sind wir zu Dank verpflichtet, weil auch sie die Tagung großzügig unterstützt hat. Dem Verlag Karl Alber und Lukas Trabert danken wir für die Aufnahme ins Verlagsprogramm sowie die freundliche und hilfreiche Begleitung des Publikationsprozesses. Bonn / Budapest / Stuttgart, Februar 2017
Markus Gabriel, Csaba Olay und Sebastian Ostritsch
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Michael N. Forster
Anaximander’s thesis that to apeiron is the archê
The Greek philosopher Anaximander of Miletus (approx. 617–545 B.C.) famously championed a thesis that the archê of everything is to apeiron. 1 What exactly he meant by this is very much up for interpretive grabs, but a reasonable first approximation is that he meant that the origin and constitution of everything (Anaximander may well have been the first person to have used the word archê in this proto-Aristotelian sense) 2 is the unlimited, or the infinite. This thesis can therefore plausibly be seen as the very beginning of philosophical reflection on infinity in the West. But how did Anaximander arrive at it, what were his reasons for holding it, and what more precisely did he mean by it? Unfortunately, no statement of Anaximander’s reasons for espousing the thesis has survived in his own words. But Jonathan Barnes has helpfully distinguished the four main arguments in its support that are attributed to him by the ancient doxographical tradition (albeit in some cases only by implication): (A) an argument, reported by Simplicius, to the effect that none of the four elements should be considered the underlying stuff, but instead something else apart from them: to apeiron; (B) an argument, reported by Aristotle (though not attributed by him to Anaximander explicitly), to the effect that only if that which brings things into being is to apeiron, the unlimited, can generation and destruction not fail;
KRS frr. 101, 94. In this article fragments relating to Anaximander and other presocratic philosophers are normally cited using the numbering in KRS. 2 See KRS, frr. 101A, 101B. For discussion of this question, see KRS, pp. 108–9; Guthrie: History, p. 77. 1
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Michael N. Forster
(C) an argument, again reported by Aristotle (though again not attributed by him to Anaximander explicitly), to the effect that to apeiron, the unlimited, must be a stuff that is distinct from the elements and from which they are generated since, given that the elements stand in opposition to one another (e. g. air is cold, fire hot, etc.), if any of them were itself unlimited it would have destroyed the others; (D) an argument, explicitly attributed to Anaximander by Aristotle, to the effect that everything is either a principle (archê) or derived from a principle; that if something is apeiron, unlimited, then it has no limit and so is not derived from a principle; and that therefore whatever is unlimited is a principle. However, as Barnes argues in detail, all of these arguments are both philosophically problematic and only very doubtfully attributable to Anaximander as his reasons for holding that to apeiron is the archê of everything. 3 It is quite difficult to imagine that Anaximander either did or should have arrived at his thesis on the basis of these considerations. 4 It seems to me that a more historically plausible and philosophically inspiring account of how he arrived at it and of why he held it can be found by asking exactly how it emerged in response to the rival thesis of his Milesian compatriot, older contemporary, and teacher or friend Thales that the archê – the origin and constitution – of everything is water. Thales was born in Miletus about fourteen years before Anaximander and became, with his thesis that the archê of everything is water, the very founder of the Milesian philosophers’ shared project of trying to identify a single archê of everything – a project in which he was first followed by Anaximander with his rival candidate to apeiron and then by Anaximenes with his rival candidate air. This much is well known. But what is not well known – and has Barnes: Presocratic Philosophers, pp. 28–37. Indeed, the very fact that Aristotle and his school are the ultimate witnesses for all of these arguments is a reason for skepticism about their attribution to Anaximander, given Aristotle’s notorious unreliability as a historian of philosophy (concerning which see the classic work by Cherniss: Aristotle’s Criticism). 4 This is not to deny that they contain any important information about Anaximander’s position at all. In particular, argument (C) does so, in my view. 3
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Anaximander’s thesis that to apeiron is the archê
indeed been strangely overlooked by the secondary literature – is that Anaximander’s position owes far more to Thales’ than just that general project, that it also owes to it a set of much more specific debts. Identifying these debts will enable us to see that Anaximander’s position probably arose through a sort of cogent immanent critique and revision of Thales’ position. It will thereby make it possible to give much more satisfactory answers to the questions how Anaximander arrived at his position, what his reasons for holding it were, and what precisely he meant by it. As a preliminary step towards identifying the debts in question, it is helpful to note that a corresponding point concerning both generic and more specific debts to a predecessor (or predecessors) applies to Thales himself. If one asks the (surely rather pressing) question why on earth Thales assumed that there had to be a single archê – a single origin and constitution – of everything at all, then a large part of the answer is that his predecessor Hesiod had already implied (or at least seemed to imply) such a state of affairs in the Theogony. 5 For he had said there that the god Chaos was the very first thing to come to be, and that all other things, beginning with the Earth, had only come into existence subsequently (Theogony, l. 116 ff.: »Verily at the first Chaos came to be, but next wide-bosomed Earth, the ever-sure foundation of all …«). 6 Moreover, in a subsequent passage of the work he had identified Chaos, or Chasma, as the »springs [pêgai]« of the Earth, the Sea (pontos), and other things (ll. 736–40, 807–14), thereby implying that it was their causal origin and continued to play a constitutive role in them (as the water of a spring does in the river to which it gives rise). 7 So the general assumption that there is some single archê, some single origin and constitution, of everything basically came to Thales from Hesiod. But in addition, even Thales’ specific identification of the origin and constitution in question as water Concerning continuities between Hesiod’s Theogony and Thales’ project, cf. Kahn: Anaximander, pp. 156 ff., 200 ff. 6 Notice that although Hesiod does not actually use the word here he could very well have described this role of Chaos as a case of archesthai in the common archaic sense of »leading off.« In other words, one can probably see here a source of Anaximander’s technical term/concept archê. 7 There is admittedly a shift here from the temporal perspective of the first passage to a predominantly spatial perspective in the second. However, someone who had already read the first passage would naturally infer that the second likewise had a temporal aspect, implying that Chaos was a causal origin that came first in time and that thereby constituted everything. 5
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Michael N. Forster
had striking precedents in Hesiod and Homer. For Hesiod’s characterization of the origin and constitution of everything as »springs« that were the source of the Earth, the Sea, and other things already suggests such an account (even if only in a metaphorical form). And in a better-known influence on Thales, Homer in Iliad, bk. 14 (ll. 201, 245, 302) had explicitly represented Ôkeanos, the Ocean, as the origin of all the gods. Indeed (to add a point that is of less immediate relevance but significant for the overall argument of this article), even Thales’ practice of combining such general and specific borrowings from Hesiod (and Homer) with innovations of his own was in a way indebted to Hesiod. For Hesiod’s very history of the gods is similarly a history of continuities combined with innovations (there are the continuities of a world of related gods and of rule by a single god, but Ouranos gets overthrown by Kronos who in turn gets overthrown by Zeus). And more importantly, Hesiod’s relation to his intellectual predecessors, in particular Homer, has the same double character (for example, Hesiod continues much of Homer’s theology and myth, even going to considerable pains to integrate Homer’s heroic narrative into the account of the ages of man that he gives in Works and Days as an ›age of heroes,‹ 8 but he also begins the Theogony with an insinuation that predecessor-poets such as Homer have sometimes told lies, 9 and he accordingly undertakes considerable revisions and innovations in comparison with Homer). Given that such a practice of both generic and more specific borrowing from a predecessor already existed, it would not be surprising if Anaximander’s debts to Thales turned out to go beyond a borrowing of the generic assumption that there had to be a single archê of everything to include more specific debts as well. And so it does turn out. But in what did these more specific debts to Thales consist? A first and crucial specific debt was the conception that the archê of everything is something apeiron (a conception very closely related to Anaximander’s thesis, though not quite identical with it). That Anaximander does owe such a conception to Thales is not obvious, Works and Days, ll. 109–201, esp. 156–69. The ›age of heroes‹ interrupts the steady development through the ages of gold, silver, and bronze to iron both in the sense that it inserts an age that is not defined by a metal and in the sense that it disrupts the picture of steady decline with a temporary improvement. 9 Theogony, l. 27: »we [the Muses] know how to speak many false things as though they were true.« 8
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Anaximander’s thesis that to apeiron is the archê
so let me make a case for saying so. A first point to note here is that even before Thales water – or, more specifically, the sea or the ocean – had already been thought of as something apeiron, so that in holding that water was the archê of everything Thales was already implying that something apeiron was the archê of everything. For Homer had used the expression (Hellês)pontos apeirôn (i. e. apeirôn sea) in the Iliad, 10 and it had also occurred in Hesiod’s Theogony in the variant form pontos apeiritos. 11 Moreover, Homer had sharply contrasted the earth’s limits (peirata gaiês) with the condition of the Ôkeanos that surrounds the earth (Iliad, bk. 14, l. 200), 12 thereby implying that Ôkeanos has no limits, or is apeirôn. In addition, it seems likely that the common but semantically obscure Homeric and Hesiodic expressions atrugetos pontos, atrugetos hals, atrugeton pelagos, which have usually been conjectured to mean either barren or restless sea, in fact bore the very similar meaning: inexhaustible sea. For, (1) atrugetos is probably just a verbal adjective of the common -tos form (this ending meaning -ed or -able) formed from the archaic verb truchô, meaning to exhaust or to consume, together with an alpha-privative prefix, and hence means: inexhaustible. And (2) this interpretation of the word’s meaning fits all of its individual occurrences in Homer and Hesiod perfectly (in particular, considerably better than either barren or restless does). In short, there is much indirect evidence that Thales must already have thought of his archê water as something apeiron. But we do not need to rest content with such indirect evidence, for in addition Simplicius explicitly says that he did so: »Some posited one element and said it was apeiron in size, for example Thales concerning water.« 13 Moreover, that Thales would indeed have considered water to be something apeiron is further supported by the facts that (1) Aristotle reports that he held that the earth rested on water, 14 and (2) it had already been part of the traditional archaic view of the roots of the earth that they reached down a huge distance or indefi-
Iliad, bk. 24, l. 545. Cf. KRS, p. 110. Theogony, l. 109. (Hesiod elsewhere implies that the sea does have peirata, though.) 12 He did not do so consistently, however, for he sometimes characterized the earth as apeirôn as well. 13 Diels and Kranz: Fragmente der Vorsokratiker, 11 Thales, fr. A13. Cf. Aristotle: Physics, 203a. 14 KRS, fr. 84; cf. fr. 85. 10 11
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Michael N. Forster
nitely far. 15 It also tends to support this interpretation of Thales that not only did Anaximander subsequently go on similarly to identify the archê as to apeiron, but Anaximenes conceived his archê air as something apeiron as well. In sum, when Thales held that water was the archê of everything he already implied that it was something apeiron, so that Anaximander’s outright identification of the archê of everything as to apeiron was far more continuous with Thales’ position than has usually been realized. In light of the chain of continuity running from Homer and Hesiod through Thales to Anaximander that has just been sketched, one can already see more clearly what Anaximander is likely to have meant by to apeiron. There is an issue that needs to be addressed here before we can make progress, though. Traditionally, the adjective apeirôn (masc.) or apeiron (neut.) has been interpreted as meaning unlimited: without a peirar, limit, or without peirata, limits. Recently, Charles Kahn, followed by others, has called this traditional interpretation into question, arguing that the correct etymology links the adjective not with those nouns but instead with the verb peraô and cognate verbs. 16 This issue may not in the end be as important as it looks, since either etymology could in principle lead to the adjective bearing more or less the same meaning. But be that as it may, it seems to me that Kahn is probably mistaken, and that the traditional interpretation is probably correct. Two considerations show this: (1) Whereas there are numerous precedents in Homer for an adjective formed with an alpha-privative prefix and an -ôn ending being based on a corresponding noun – aktêmôn, without possessions (from ktêma, possession); amumôn, blameless (from mômos, blame); anaimôn, bloodless (from haima, blood); aneimôn, without clothing (from heima, clothing); apêmon, without harm (from pêma, harm); and aphrôn, thoughtless (from phrên, mind) – there is no clear precedent for such an adjective being based on a verb (indeed, in the case of anaimôn no verb even exists). Moreover, (2) if it were added to the verb, the -ôn ending would not naturally yield the ›right,‹ passive sense for apeirôn (as a -tos ending
See e. g. Homer, Iliad, bk. 8, ll. 13–16; Theogony, ll. 740–1, 811–12. Cf. KRS, pp. 9– 10, 90. As Kirk, Raven, and Schofield point out, a conception of this sort is not only already found in Homer and Hesiod, but also later in Xenophanes, who actually uses the word apeiron to describe the roots in question. 16 Kahn: Anaximander, pp. 231–2. Cf. Barnes: Presocratic Philosophers, p. 36. 15
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Anaximander’s thesis that to apeiron is the archê
would, for example), but would on the contrary suggest a ›wrong,‹ active sense due to the ending’s morphological indistinguishability from the ending of the active present participle (meaning -ing). 17 In short, Kahn’s proposal can be set aside. That preliminary issue settled, what more precisely does the word apeirôn mean? In Homer and Hesiod this word and its variants apeire(i)sios and apeiritos mainly mean unlimited in extent or amount, but they also seem to involve a subordinate meaning of unlimited divisibility. In other words, both of the two senses of the word that Aristotle would later go on to distinguish carefully in the Physics (232a) were already involved, albeit as yet in unequal proportions and in a way that still fused them together. 18 For example, in Homer the word apeirôn and its variant apeire(i)sios are applied to (1) the sea (pontos), (2) the earth (gaia), (3) a huge group of people (anthrôpoi/ dêmos), (4) a long, deep sleep (hupnos), (5) extensive, inescapable bonds (desmoi), and (6) a huge ransom (apoina). In all of these cases the primary meaning is clearly unlimited in extent or amount (albeit that in most of them this meaning is being employed somewhat hyperbolically rather than quite strictly – much as we today often use such words as »perfect,« »flawless,« or indeed »infinite« itself hyperbolically rather than strictly). And at least in cases (1), (2), (4), (5) (sea; the earth; long, deep sleep; and extensive, inescapable bonds) – but probably also in cases (3) and (6) (a huge group of people, a huge ransom), namely in the form of hyperbole – a subordinate meaning of unlimited divisibility seems to be involved as well. 19 It is therefore Accordingly, where a cognate verb is available at all such adjectives normally correspond in meaning to the verb’s middle or active form: aktêmôn (ktaomai), aneimôn (heimai), aphrôn (phroneô). There are only two apparent exceptions: amumôn (memphomai), but here the active meaning is morphologically middle, not morphologically active as in the case of peraô; and apêmôn (pêmainô), but here the meaning of the adjective is often active (e. g. an apêmôn sending, return, wind) and only sometimes passive (e. g. apêmôn êlthe, apêmona pempein tina), which double-meaning (a) makes this case a poor precedent for Kahn’s reading of apeirôn, and (b) confirms my primary point that it is the (either actively or passively applicable) noun that underlies these adjectives rather than the verb. 18 Concerning this fusion, compare our everyday use of the word »huge« in English: huge in height?, in breadth?, in depth?, in volume? Usually when we use the word »huge« we are fusing these several distinguishable senses together. 19 Someone might be tempted to object that the archaic period did not have the conceptual resources to form such a meaning. But that is not true. Compare, for example, such common archaic words as akritos, pukinos, and diênekês. 17
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reasonable to assume that the core meaning of the term in Anaximander must likewise have been: unlimited in extent/amount and unlimited in divisibility (with the former meaning predominating over the latter, and the two still being fused). 20 So much concerning the first and most important specific debt that Anaximander owes to Thales: the conception that the archê of everything is something apeiron. But Anaximander also owes a second specific debt to Thales. 21 As one might in fact already infer from Thales’ thesis that water is the archê of everything, Thales seems in particular to have believed that it is the origin of earth or land (Heraclitus Homericus reports that he held that »when water is compacted and changes into slime it becomes earth«) 22 and of all living creatures (accordingly, Aristotle even speculates that the origin of all living creatures in moisture was probably the very source of his thesis that water is the archê of everything). 23 Now Anaximander evidently retained versions, or close variants, of both of these parts of Thales’ derivation of everything from water. First, Anaximander apparently held that dry land was formed from water through the drying action of the sun. As Aristotle and Alexander put it: For first of all the whole area around the earth is moist, but being dried by the sun the part that is exhaled makes winds and the turnings of the sun and moon, they say, while that which is left is sea; therefore they think that the sea is actually becoming less through being dried up, and that some time it will end up all being dry … Of this opinion, as Theophrastus related, were Anaximander and Diogenes. 24
This interpretation of Anaximander’s position is further supported by the fact that when Aristotle reports on Anaximander’s views concernBy contrast, notice that the archaic pre-history of the word just sketched would not lead one to expect it to bear in Anaximander a further connotation that he has sometimes been supposed to associate with it (e. g. by Barnes: Presocratic Philosophers, p. 29): qualitative indeterminacy. Given some of the interpretive claims I shall be arguing for below – in particular, that Anaximander associates to apeiron very intimately with space (or kosmos) and time, which are both in some sense qualitative, and also that he conceives to apeiron to be divine, which involves yet further qualitative determinations – the absence of any such connotation is significant. 21 Concerning this second debt, cf. Fränkel: Dichtung und Philosophie, pp. 341, 343– 4. 22 KRS, p. 92. 23 KRS, fr. 85. 24 KRS, fr. 132 (mainly Aristotle, Meteor., with the last sentence coming from Alexander). 20
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ing the elements he consistently mentions only air, fire, and water as such, not earth – 25 presumably because for Anaximander earth was not a real element but instead merely derivative from such. It is also indirectly supported by the fact that after Anaximander, Anaximenes likewise continued to hold Thales’ position that earth was derived from water. 26 Second, Anaximander also reportedly held that all living creatures, including human beings, were originally generated from water. As the doxographers put it: Anaximander said that the first living creatures were born in moisture … Living creatures came into being from moisture evaporated by the sun. Man was originally similar to another creature – that is, to a fish … Anaximander of Miletus conceived that there arose from heated water and earth either fish or creatures very like fish; in these man grew, in the form of embryos retained within until puberty; then at last the fish-like creatures burst and men and women who were able to nourish themselves stepped forth … Anaximander … declares … that originally men came into being inside fishes, and that having been nurtured there – like sharks – and having become adequate to look after themselves, they then came forth and took to the land. 27
Putting all of this information together, the picture that emerges of the likely origins of Anaximander’s thesis that the archê of everything is to apeiron is roughly as follows: He began from Thales’ thesis that the archê of everything is water and that this is something apeiron, in the sense of being unlimited both in extent and in divisibility. But he then revised this position by making to apeiron more fundamental than water, making to apeiron itself the single archê of everything. So the question we should now ask is: Why did Anaximander make this move? Why did he make to apeiron itself the single archê of everything? Part of the answer to this question probably lies in the fact that KRS, frr. 102, 103, 105. See Burnet: Early Greek Philosophy, p. 73: »Water, condensed …, turns to earth; and when condensed as much as it can be, to stones« (Hippolytus). 27 KRS, frr. 133–7, order altered (several sources: Aetius, Hippolytus, Censorinus, and Plutarch). A generation later, likewise in Ionia, Xenophanes would argue for similar theories about the earth and living creatures by appealing to the evidence of fossils of fish and seaweed (KRS, fr. 184). Perhaps this was already part of Thales’ and Anaximander’s evidence for holding water (or mud) to be the source of both earth and living creatures? 25 26
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the main theological source of the whole Milesian project of searching for a single archê of everything, Hesiod’s Theogony, had already held a strikingly similar position. For, as I mentioned earlier, in the Theogony Hesiod had identified Chaos or Chasma as the very first thing to exist, and as the thing from which all other things had subsequently flowed (Theogony, ll. 116 ff., 736 ff.). And the concept of Chaos or Chasma – cognate with the verb chainô, meaning to gape or to yawn – is strikingly similar to the concept to apeiron. 28 This, then, is evidently part of the answer. 29 However, a much more philosophically interesting part of the answer seems to be that setting out from Thales’ thesis that the single archê of everything is water and that this is something apeiron Anaximander developed a sort of immanent critique and revision of that thesis which led him to the conclusion that rather than water itself being the single archê of everything, the single archê of everything must instead be the more fundamental principle to apeiron, which water only manifests (at best). How did this immanent critique and revision go? A first, rough attempt at an account of it comprises two steps and runs as follows. (This first attempt will in the end turn out to be inadequate in certain ways and to require considerable refinement, but its approximate correctness, its simplicity, and its philosophical force make it a helpful stepping-stone towards the correct account.) First, Anaximander noticed that although water could plausibly explain, as their archê, i. e. their origin and constitutive principle, certain features of reality – in particular, land, living creatures, and mankind – there were two further important features of reality that it could not: space and time. Hesiod’s Theogony had offered no account of how Chaos gave rise to either space or time (the closest it had come to doing so was to offer a series of loosely related accounts of how Chaos gave rise to such temporal periods as night and day, on the one hand, and to such spatial regions or masses as the earth, aether, heaven, the sea, and the ocean, on the other hand). And in continuity with Hesiod’s omission, Thales seems not to have made any attempt Indeed, even the divinity of Chaos or Chasma fails to constitute a difference between them, for Anaximander likewise conceived to apeiron to be divine (KRS, fr. 108). 29 Concerning this part of the answer, cf. Solmsen: »Chaos and Apeiron«; Fränkel: Dichtung und Philosophie, pp. 148–9; Vlastos: »Cornford’s principium sapientiae«, pp. 121–2. 28
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to explain how water gave rise to or constituted space or time either. On the other hand, Thales had already been very focused on space and time in his geometrical and astronomical work. And his successor Anaximander continued such a focus. For example, concerning space, Anaximander was the first Greek to produce a map of the world; developed a radical new theory that the earth was cylindrical and floated without support; worked out dramatically new theories about the sizes and the spatial relationships of the earth, the moon, the sun, and the stars; and (as most commentators note) conceived his fundamental principle to apeiron in terms that seem to be primarily spatial. And concerning time, he invented, or introduced, the gnômon (the sundial) in order to measure time; focused in his cosmology on time itself (Hippolytus, relaying a report of Theophrastus’s on Anaximander, says not just once but twice, »He talks of Time [chronon]«) as well as on the closely related subjects of eternity, agelessness, motion, and generation and destruction; 30 and moreover famously wrote in his sole extant fragment that existing things »pay penalty and retribution to each other for their injustice according to the assessment of Time [chronou].« 31 So it seems probable that Anaximander developed something like the following line of thought: ›Thales has identified water as the origin and constitution of everything. But how could water possibly be the origin and constitution of space or time? Of earth/land, living creatures, and human beings, no doubt. But of space and time? How in the world would an account of water’s origination and constitution of space or time even begin to go? Indeed, so far from being their origin and constitution, water rather appears to presuppose them as conditions of its own possibility. It therefore seems clear that water cannot, after all, be the single archê of everything.‹ The second, more positive step that Anaximander then took was the following: He noticed that not only water but also the two additional features of reality in question here, space and time, all shared the characteristic of being something apeiron, i. e. unlimited in both extent and divisibility. – That space was something apeiron in this sense was already implied by the traditional conception in Homer, Hesiod, and Thales that water was apeiron, given that water is essentially spatial. Moreover, it is implied by Anaximander’s own conception of to apeiron, which seems to conceive it primarily as something 30 31
KRS, fr. 101B (Theophrastus as relayed by Hippolytus). KRS, fr. 110.
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spatial. And in addition, it is implied by his reliably reported doctrine that the heavens or worlds are apeiroi – 32 for, whether he meant by this an endless sequence of spatially separated heavenly spheres, 33 or else the simultaneous existence of an infinite number of worlds (as later espoused by the atomists), 34 in either case it evidently implies that space is unlimited. Similarly, that time was something apeiron (in the same sense) was already implied by the traditional archaic conception that the gods were immortal. 35 Moreover, it is implied by Anaximander’s own similar doctrine that his archê, to apeiron, is »deathless and imperishable.« 36 And it is also implied by his doctrines that motion is »eternal [aidion],« that generation and destruction occur »from infinite ages [ex apeirou aiônos],« 37 and that there is an infinite succession of worlds. 38 – So having noticed that water, space, and time all shared the characteristic of being something apeiron, Anaximander presumably inferred that this ›lowest common denominator‹ that they all shared, to apeiron, must be the real single archê of everything. As I said, this first, rough attempt at an account of how Anaximander arrived at his thesis that the single archê of everything is to apeiron through a sort of immanent critique and revision of Thales’ See KRS, pp. 122–6. For this interpretation, see Guthrie: History, pp. 106 ff. 34 For this interpretation, see Burnet: Early Greek Philosophy, pp. 58–61. An interpretation of this sort had been rejected before Burnet by Zeller and was subsequently rejected again by Cornford. For a more recent account and assessment of it, see KRS, pp. 122 ff. 35 Note in this connection that Homer often by contrast applies to mortals the expression olethrou peirata, »the limits/cords of destruction« (Iliad, bk. 6, l. 143; bk. 7, l. 402; bk. 12, l. 79; bk. 20, l. 429; Odyssey, bk. 22, ll. 33, 41). 36 KRS, fr. 108; cf. fr. 101B. As Kahn points out (Anaximander, p. 238), Anaximander seems indeed to have strengthened the traditional position here by holding that his archê (and therefore time itself) not only has no temporal end but also has no temporal beginning. 37 KRS, frr. 101B, 101C (Theophrastus as repeated by Hippolytus and Pseudo-Plutarch respectively). 38 KRS, fr. 113 (Simplicius). The attribution of this doctrine to Anaximander goes back to Theophrastus, and is endorsed by many modern commentators, including Zeller and Cornford. Kirk, Raven, and Schofield question it, mainly on the grounds that a doctrine of both infinite co-existing worlds and an infinite succession of worlds sounds like atomism and so was presumably taken from the atomists and foisted on Anaximander by Theophrastus (KRS, pp. 122–6). But this is a weak argument. Granted the similarities, is it not just as likely that the atomists borrowed the doctrine from Anaximander, so that Theophrastus’s report was accurate? 32 33
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thesis that the single archê of everything is apeiron water is helpful as a stepping-stone towards the correct account. But unfortunately, it is a bit too simplistic to be fully satisfactory. For there are three serious objections that can be raised against it, and which need to be accommodated by any fully satisfactory account: Objection (1): It is in fact very doubtful that Anaximander even had a concept of space. No such doubt arises in connection with time; as we saw, he himself uses the word »time [chronos]« in the relevant sense in his one surviving fragment, and it also plays a central role in the explanation of his cosmological views that Theophrastus gives. Moreover, several of his (near-)contemporaries from the sixth century B.C. likewise explicitly talk about »time« in the relevant sense, including Solon a generation before him (in a text that like Anaximander’s fragment characterizes time (metaphorically) as a sort of legal authority) 39 and Pherecydes (who included time as one of the three fundamental principles of his own cosmogony). 40 But in the case of space the problem is a real one. For, the archaic tradition does not seem to have had a concept of space. The words in Homer that come closest to expressing it, chôrê and chôros, do not mean space as such, but merely a particular land or place or open area. And as I mentioned earlier, Hesiod offers no account of, nor indeed does he even name, space as such, instead only naming and accounting for a collection of particular masses or regions which we moderns would think of as all occurring in a shared space (such as the earth, aether, heaven, the sea, and the ocean). Moreover, although Anaximander certainly seems to be interested in space in many ways de re, i. e. interested in what we would think of as space, it is far from clear that he is interested in it de dicto, i. e. under that very conceptual description, for he seems not to have any word or combination of words that quite expresses the concept of space, and in the absence of this we have no right to attribute such a concept to him. Indeed, one could make a case that such a concept really only emerges much later, with the atomists, 41 and then Plato’s Timaeus. 42 Objection (2): A second objection to our rough account is that there is strong evidence that Anaximander did not in fact retain 39 40 41 42
KRS, p. 121. KRS, frr. 49, 50. See KRS, fr. 556. Timaeus, 52a-d.
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Homer’s, Hesiod’s, and Thales’ conception of water as something apeiron. Two quite distinct sorts of evidence both speak against the assumption that he did so, and moreover reveal two distinct reasons why he did not. First, among the arguments for his thesis that the doxographical tradition attributes to him, as I summarized them following Barnes at the start of this article, argument (C), which is attributed to him by Aristotle – the argument that to apeiron, the unlimited, must be a stuff distinct from the elements and from which they are generated since, given that the elements stand in opposition to one another (e. g. air is cold, fire hot, and so on), if any of them were itself unlimited it would have destroyed the others – clearly implies that for Anaximander water is not something apeiron. Second, whereas (as I mentioned earlier) Thales had held that the earth floats on water and had evidently continued a traditional Greek conception that the basis of the earth is unlimited, Anaximander instead developed the radically new position that the earth is a cylinder, whose outer rim is indeed water (as in the traditional archaic conception of Ôkeanos), but which is free-floating and surrounded by a layer of air and then another layer of fire or the heavens – 43 so that water was clearly not in his view strictly unlimited in extent after all. In short, Anaximander denied that water was strictly speaking something apeiron, and he had at least two reasons for doing so. Objection (3): A third, albeit perhaps less severely threatening, objection to our rough account is that it assigns no role to Anaximander’s well-attested doctrine that to apeiron gave rise to the opposites, 44 and that these opposites (in particular, the hot and the cold) then in turn gave rise to a flame from which the heavenly bodies were formed: He says that that which is productive from the eternal of hot and cold was separated off at the coming-to-be of this world, and that a kind of sphere of flame from this was formed round the air surrounding the earth, like bark round a tree. When this was broken off and shut off in certain circles, the sun and the moon and the stars were formed. 45
In fact, it seems likely that this doctrine is just a fragment of an even broader account that Anaximander developed: a derivation from to See KRS, pp. 133–9. KRS, frr. 104, 118, 119. 45 KRS, fr. 121; cf. fr. 125. The nature of »that which is productive [gonimon]« of hot and cold here is mysterious; for some interpretive options, see KRS, pp. 131–2. 43 44
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apeiron of the opposites and thence of all the elements (i. e. not only flame/fire, but also air and water (though not at this early and fundamental stage earth, since, as we have seen, for Anaximander earth was not an element but instead merely something derived from elements)) and thence again of the whole of the kosmos (not only the heavens). 46 So our rough account’s omission here is probably even bigger than it initially seems to be. All three of these objections to our rough account need to be taken seriously. But I think that they can and should be accommodated by a revised version of it that still preserves its general spirit. Let us in this vein reconsider each of the objections in turn. Objection (1) (the objection that Anaximander did not yet have a concept of space) seems to me to contain a lot of truth, especially in its implications concerning the conceptual situation before Anaximander. But it also seems to me to be in the end much less damaging to our rough account than it might appear to be. This is because Anaximander was himself developing something very much like our concept of space. In somewhat this spirit, Charles Kahn has in effect argued that Anaximander’s concept of to apeiron itself constituted at least a big step towards our concept of space. Kahn puts the point like this: to apeiron »is in fact what we call infinite space … But this space is not as yet thought of in abstraction from the material which fills it.« 47 This way of making the point seems to me helpful as a first attempt, but not exactly right. This is because it in one way underestimates the proximity of Anaximander’s concept of to apeiron to our modern concept of space and in another way overestimates it. It underestimates it because the fact that Anaximander does not conceive to apeiron as ontologically separable from the material that fills it (does not conceive it »in abstraction« from material in this strong, ontological sense) actually presents no obstacle to its being space in Kirk, Raven, and Schofield give the following statement of such a broader account (including the subsequent development of earth), which seems to me helpful, though I would question a few of its details, such as their immediate identification of the opposites with the elements (e. g. the hot with flame) and also their omission of water: »The nature of the hot … and cold … : they are flame and air-mist … Something has been isolated in the Indefinite which produces flame and air-mist; earth condenses at the core, flame fits closely round the air. Now the ball of flame bursts, breaks up into circles which are enclosed by mist which has expanded …, and forms the heavenly bodies« (KRS, pp. 132–3). 47 Kahn: Anaximander, p. 233. 46
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our modern sense. Instead, it only presents an obstacle to its being the sort of absolute or ›container‹ space that certain modern theorists, such as Newton and Kant, have posited, rather than the sort of material-dependent space that other modern theorists, such as Descartes, Leibniz, and Einstein (in their different ways), have posited. (Our modern concept of space does indeed require a conceptual »abstraction« of space from material, but that is perfectly compatible with their ontological inseparability – a type of situation that Aristotle already illustrated in antiquity using the example of the concavity and the convexity of the opposite surfaces of a single curved sheet.) On the other hand, Kahn’s description overestimates the proximity of the two concepts because Anaximander conceives to apeiron not only as what we would call spatial but also as temporal and indeed as divine – and while our modern concept of space-time may make the inclusion of temporality no more than a modest point of difference, divinity seems a bigger one. Despite these qualifications, though, Kahn’s fundamental point can still be upheld: Anaximander was indeed with his concept of to apeiron at least approaching our modern concept of space. Moreover (although Kahn himself seems not to notice this point), if Kahn is correct in his additional hypothesis that the word and concept kosmos can be traced back to Anaximander, 48 as I think he probably is, 49 then this affords another, and even better, candidate in Anaximander for our concept of space. For unlike to apeiron, which seems to connote spatial and temporal aspects more or less equally, kosmos, while it no doubt likewise includes both, tends to connote the spatial more than the temporal (as the various meanings of the words kosmos and kosmein in Homer already show). And (as can again alKahn: Anaximander, pp. 219 ff. Besides the evidence that Kahn adduces, such as Anaximander’s development of the relevant concept, the obvious earliness of the use of the word kosmos in order to express it, and the unreliability of Diogenes Laertius’s crediting of Pythagoras with the first use of the word in the relevant sense, I would also emphasize the following two facts in support of Kahn’s hypothesis: (1) Theophrastus and other early doxographers routinely use the word in this sense when stating Anaximander’s position (see e. g. KRS, frr. 101A, 101B, 101C, 121) without giving any hint that his own choice of words was different. While such a practice is of course compatible with the word being their later translation of something else he wrote, it creates at least a presumption that he himself used the word in these contexts. (2) His immediate successor Anaximenes used the word in the relevant sense in what is usually and plausibly believed to be a direct quotation: »As our soul … being air holds us together and controls us, so does wind and air enclose the whole world [kosmon]« (KRS, fr. 160).
48 49
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ready be seen from Homer) the term kosmos tends to connote just the order produced by an ordering power – in this case to apeiron, which, as Aristotle reports, Anaximander conceived as »steering all« – 50 rather than both of them together, and so tends to exclude the divinity that pertains to to apeiron. In sum, it turns out that we can after all continue to say in the general spirit of our rough account that Anaximander recognized that space (i. e. to apeiron, or better: the kosmos) was something apeiron. Objection (2) (the objection that for Anaximander water was not something apeiron) seems more straightforwardly correct, and requires a somewhat more substantial revision of our rough account, though again one that still preserves its general spirit: Admittedly, it cannot be the case that for Anaximander water, space, and time all shared the characteristic of being something apeiron, since in his view water did not. But space – which contains water as a part of itself – and time still both did so. And so he presumably inferred from the fact that at least they both shared this ›lowest common denominator‹ of to apeiron to the conclusion that this had to be the single archê of everything that he was searching for. Finally, concerning objection (3) (the objection that our rough account assigns no role to Anaximander’s well-attested derivation from to apeiron of the opposites and thence flame and the heavens, or to his probable broader derivation from to apeiron of the opposites and thence all the elements and thence the whole kosmos), Anaximander’s just explained ontological demotion of water in comparison with space and time – his conception that unlike space and time, both of which are something apeiron and therefore intimately associated with to apeiron, water is not in fact something apeiron and therefore has no such intimate association with to apeiron – makes it easy to understand why he felt he needed such a derivation. Unlike space and time, which were in his view so intimately involved in to apeiron that they required no further explanation of their origin and constitution than to apeiron itself, water, along with the other elements air and fire, because they were less intimately involved in it did require an additional explanation. In other words, an account of Anaximander’s line of thought that stays within the general spirit of our rough account but modifies it in order to accommodate objections (1) and (2) in the ways that have already been described above can also very well 50
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cope with objection (3), since it explains the need for, and can therefore happily integrate, Anaximander’s derivation from to apeiron of the opposites, thence the element of flame/fire, and thence the heavens – or, more broadly, the opposites, thence all the elements, and thence the structure of the whole kosmos. Putting all of these points together, then, we achieve a more refined account of how Anaximander arrived at his thesis that to apeiron is the single archê of everything by way of a sort of immanent critique and revision of Thales’ thesis that the single archê of everything is apeiron water, an account that is still in the general spirit of our rough account but which also pays heed to and accommodates the several objections that it prompted: Starting from Thales’ thesis that the single archê of everything is water and that this is something apeiron, Anaximander saw that while water could indeed explain many things – in particular earth/land, living creatures, and human beings – it could not explain either space (the kosmos) or time, and so could not be the single archê of everything after all. Moreover, he noted that since an unlimited element would have overwhelmed the others and, furthermore, water was in fact confined to a cylindrical earth that floated freely amid air and the heavens, water could not be something apeiron either. However, he also saw that space (the kosmos) – which contains water and the other elements – and time really were both something apeiron. And so he inferred that it must be this ›lowest common denominator‹ that they both shared that was the real single archê of everything. In addition, he saw that this was confirmed by the fact that besides explaining space (or the kosmos) and time in an immediate way, to apeiron was also able to explain the more material features of reality: the opposites, thence the elements, and thence again the structure of the whole kosmos. Finally, let us consider more closely a further aspect of Anaximander’s conception of to apeiron that I have only mentioned in passing so far: his reliably reported conception of it as not only a material principle but also divine. 51 Here again his position is strikingly continuous with that of his predecessors, and seems quite natural when considered in the light of the latter. For one thing, it is continuous with Hesiod’s presupposition that the single origin and constitution of everything must be a god (on his own account, Chaos) and with Thales’ evident retention of 51
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Anaximander’s thesis that to apeiron is the archê
that presupposition when championing water as the single archê, in the course of which he held that water was divine, 52 and that everything was full of gods. 53 For another thing, the whole archaic tradition’s presupposition that temporal unlimitedness or immortality was a defining trait of divinity, 54 gave Anaximander a further reason to conceive to apeiron as divine – a position that is reflected in his characterization of it as »deathless and imperishable.« Accordingly, in continuity with traditional religion’s anthropomorphism concerning the gods, Anaximander seems to have retained a certain measure of anthropomorphism in his conception of to apeiron – in particular, conceiving it, according to Aristotle, as »holding all and steering all.« 55 On the other hand – in keeping with his general practice of marrying continuity with revision or innovation – there is also much evidence that Anaximander combined this continuation of his predecessors’ religious framework with an attempt to de-anthropomorphize it as much as possible. Five pieces of evidence speak for his pursuit of such a project. First, there is his choice of a neuter noun, rather than a feminine or masculine one, to characterize the single archê of everything: to apeiron. 56 Second, if Aristotle’s report is reliable, Anaximander also seems to have used neuter forms to describe the opposites that directly come forth from to apeiron (the hot, the cold, etc.). Third, as we have seen, he in addition explains the elements in terms of all these neuter antecedents. Fourth, as we have also seen, he moreover makes Earth, which had traditionally been more clearly anthropomorphized than water, fire, or air, merely explanatorily derivative from them. And fifth, he also explains meteorological phenomena such as thunder and lightning, which had traditionally been thought KRS, p. 97 (the sources here are Aetius and Cicero). KRS, fr. 91 (the source here is Aristotle). 54 Concerning the traditional tight conceptual link between immortality and divinity, see Guthrie: The Greeks and Their Gods. 55 KRS, fr. 108. 56 Someone might try to explain this choice as merely the result of a sort of grammatical accident: Hesiod had used not only the masculine noun Chaos but also its neuter variant Chasma to characterize his single archê, then Thales chose water, which perforce was again linguistically neuter, to hudôr, so perhaps Anaximander was simply following grammatical suit, as it were. But while these grammatical facts probably do supply part of the explanation of his choice of the neuter to apeiron, it is hard to believe that they exhaust the explanation, that he was not also moved by a de-anthropomorphizing purpose. 52 53
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Michael N. Forster
to be the preserve of Zeus, in naturalistic terms as merely the result of winds. 57 Putting all of this evidence together, then, one can see that despite strong continuities with traditional religion, even including a modicum of anthropomorphism, Anaximander was also engaged in a concerted attempt to minimize anthropomorphism.
Abbreviations KRS
= Kirk, G. S., Raven, J. E., and Schofield, M.: The Presocratic Philosophers, 2nd ed., Cambridge 1983.
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See KRS, pp. 137–8.
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Sebastian Ostritsch
Die Ewigkeit der Welt und die Genese der Zeit – Überlegungen mit und gegen Augustinus Einleitung Im Folgenden möchte ich mich mit der von Augustinus ausgearbeiteten Antwort auf die alte metaphysische Frage beschäftigen, ob die Welt ewig sei. Die Position des Augustinus ist sachlich interessant, weil sie sich einerseits gegen die These von der Ewigkeit der Welt richtet und sich mit ihr andererseits aber dennoch behaupten lässt, die Welt habe es immer schon gegeben. Letzteres ist möglich, weil laut Augustinus die Zeit zuallererst mit der von Gott geschöpften Welt auftritt. Im ersten Abschnitt möchte ich Augustins Position rekonstruieren. Im zweiten Abschnitt werde ich dann in sachlicher Hinsicht gegen die augustinische These eines Beginns der Zeit argumentieren und zwar mit Verweis auf Überlegungen, die sich bei Augustinus selbst finden. Meine These lautet also, dass sich mit Augustinus etwas gegen seinen eigenen Gedanken vorbringen lässt, es könnte einen absolut ersten Zeitpunkt der Welt geben. Schließen werde ich drittens mit einem Fazit sowie einem kurzen Ausblick auf ein Problem, das sich aus den Überlegungen des zweiten Abschnitts ergibt, nämlich das Problem der Genese der Zeit.
1) Augustinus über die Ewigkeit der Welt Von der Welt zu sagen, sie sei ewig, bedeutet im Kontext unserer Frage, zu behaupten, dass sie keinen zeitlichen Anfangspunkt habe. Der Vertreter der Ewigkeitsthese sagt also, dass die Welt immer schon existiert hat und meint damit, dass es für jeden Zeitpunkt t einen vorgehenden Zeitpunkt t-1 gibt, zu dem die Welt ebenfalls schon existierte. Wie wir sehen werden, gibt es durchaus auch einen anderen Sinn, in dem sich sagen lässt, die Welt hätte »immer schon« existiert, den auch Augustinus akzeptiert, nämlich die Aussage, dass es 35 https://doi.org/10.5771/9783495813768 .
Sebastian Ostritsch
nie einen Zeitpunkt gab, zu dem es keine Welt gab, und zwar deshalb, weil die Zeit und die Existenz der Welt zusammenfallen. Hierbei handelt es sich um eine ausdrückliche Negation der Ewigkeitsthese, die aber dennoch mit dem Satz verträglich ist, die Welt hätte immer schon existiert. Das eine Mal meint »immer schon« so viel wie »zu jedem von (in Richtung Vergangenheit) unendlichen vielen Zeitpunkten«, das andere Mal hingegen »zu jedem (in Richtung Vergangenheit) von endlich vielen Zeitpunkten«. Eine andere als die eben skizzierte augustinische Verneinung der Ewigkeitsthese besteht darin, zu behaupten, die Welt sei nicht ewig, weil es einen Zeitpunkt gebe, zu dem die Welt noch nicht existiert habe. Seit Augustinus die christliche Philosophie begründet hat, finden wir die Frage nach der Ewigkeit der Welt in theologisches Gewand gekleidet. Denn zentraler Bestandteil des Christentums ist der göttliche Schöpfungsakt im Sinne einer creatio ex nihilo, einer Schöpfung aus dem Nichts. Wer also die Ewigkeit der Welt bejaht, der scheint gezwungen, die christliche Schöpfungslehre zu bestreiten. Denn, wenn es immer schon, und zwar im Sinne einer unendlichen zeitlichen Dauer, eine Welt gab, so scheint Gott sie nicht aus dem Nichts geschöpft haben zu können. Dann aber wäre Gott nicht der Schöpfer der Welt und somit eigentlich gar nicht Gott. Es verwundert daher nicht, dass die Lehre von der Ewigkeit der Welt im Jahr 1277 auf der Liste von insgesamt 219 Irrlehren landete, die der Pariser Bischof Etienne Tempier auf Geheiß des Papstes erstellt hatte. 1 So wird in Artikel 99 die folgende These verurteilt: Obwohl die Welt aus nichts gemacht wurde, ist sie doch nicht neu entstanden. Und obwohl sie aus dem Nichtsein zum Sein herausgetreten ist, ging ihr das Nichtsein nicht der Dauer nach, sondern nur der Natur nach voraus. 2
Damit sollte der schädliche Einfluss des Heiden Aristoteles und seines Anhängers Averroes zurückgedrängt werden, denen man die These von der Ewigkeit der Welt unterstellte. 3 Als Hauptgewährsmann im Kampf gegen die heidnische Irrlehre von der Ewigkeit der Welt galt Augustinus. Begründet zu sein scheint dies vor allem durch seine Ausführungen in Buch XI von De Civitate Dei, in denen er die sogenannten »Platoniker« für ihre These schilt, die Welt habe weder 1 2 3
Vgl. Flasch: Aufklärung im Mittelalter? Ebd., Artikel 99 / S. 181. Siehe ebd., S. 31 ff.
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Die Ewigkeit der Welt und die Genese der Zeit
einen zeitlichen Anfang noch ein zeitliches Ende; sie verstünden sich, so Augustinus, »nicht auf den Anfang der Zeit […], sondern nur auf den Anfang ihrer Erschaffung« 4. Die augustinische Ablehnung der Position der »Platoniker« und die Pariser Verurteilung der These aus Artikel 99 sind nun aber nicht identisch. Bischof Tempier wendet sich nämlich gegen die Behauptung, die Nicht-Existenz der Welt gehe ihrer Existenz nur logischontologisch (»der Natur nach«), nicht aber temporal (»der Dauer nach«) voraus. Damit impliziert er, dass letzteres zutrifft und es somit einen Zeitpunkt vor der geschöpften Welt gegeben habe. Im Gegensatz dazu besagt die von Augustinus formulierte Kritik an der Position der »Platoniker« etwas anderes. Es geht ihr nur um die Zurückweisung der Behauptung der Platoniker, die Welt sei ewig im Sinne unendlicher Dauer und habe daher nur einen logischen-ontologischen aber keinen temporalen Anfangspunkt. Die augustinische Kritik der Platoniker legt also im Gegensatz zu Artikel 99 nicht nahe, dass es einen der Existenz der Welt vorgängigen Zeitpunkt gibt. Mehr noch: Wie wir gleich im Detail sehen werden, wendet sich Augustinus sogar ausdrücklich gegen letztere These. Augustinus lehnt also sowohl die platonische Lehre von der unendlichen zeitlichen Dauer der Welt als auch die von Artikel 99 implizierte These von einer zeitlichen Priorität des Nichts vor der Schöpfung ab. Daher ist übrigens auch die übliche Benennung der Position des Augustinus mit Vorsicht zu genießen. So liest man etwa Augustinus sei der »nachhaltigste« Vertreter der These einer »zeitliche[n] Weltschöpfung«, oder es gebe eine »augustinisch-christliche Lehre von einem zeitlichen Anfang der Schöpfung«. 5 Dies darf auf keinen Fall so verstanden werden, als sei der Vorgang der Schöpfung selbst zeitlich. Gott beginnt Augustinus zufolge nicht mit der Schöpfungstätigkeit, bevor es die Welt gibt, sodass das Resultat dieser Tätigkeit, die Welt, nach getaner Arbeit Gottes erscheint. Genau dieses Bildes bestreitet Augustinus in Buch XI seiner Confessiones, wenn er auf die Frage eingeht, was Gott getan habe, bevor er die Welt schöpfte. Diesen Ausführungen wollen wir uns nun näher zuwenden. Augustinus zitiert zunächst einen Witz. Was Gott vor der Schöpfung getan habe? Nun, ganz einfach. Er hat die Hölle geschafDe Civ, XI, 4: »Qui autem a Deo quidem factum fatentur, non tamen eum temporis volunt habere, sed suae creationis initium […].« 5 Behler: »Ewigkeit der Welt« u. Flasch: Aufklärung im Mittelalter?, S. 31. 4
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fen für Leute, die solche Fragen stellen. 6 Damit soll aber nicht die Frage an sich lächerlich gemacht werden, denn Augustinus erkennt umgehend an, dass sie eine philosophische Antwort verdient, und zwar die folgende: Ich hingegen sage: Du unser Gott, bist der Schöpfer aller erschaffenen Dinge. Und wenn man unter dem Ausdruck »Himmel und Erde« alles Geschaffene versteht, sage ich mit Zuversicht: Bevor Gott Himmel und Erde machte, machte er nichts. 7
Das entscheidende Argument dafür, dass Gott nichts vor der Schöpfung der Welt getan habe, basiert auf der Beobachtung, dass der hierbei verwendete Ausdruck »vor« einen temporalen Sinn hat. Zeitliche Ausdrücke sind nun aber nur auf das Geschöpfte, nicht aber auf Gott anwendbar; nur das Geschöpfte ist Augustinus zufolge »in« der Zeit – um es mit der üblichen Raummetapher zu sagen. Damit erweist sich aber die Ausgangsfrage als unsinnig, denn schließlich gilt: »Gab es aber vor Himmel und Erde keine Zeit, warum fragt man dann, was du damals machtest? Denn es gab kein damals, wo noch keine Zeit war.« 8 Den Gedanken, dass die christliche Lehre von der Schöpfung der Welt nur auf Kosten eines Kategorienfehlers als zeitlicher Akt bezeichnet werden kann, hat Augustinus in De Civitate Dei wiederholt: Hieraus [aus dem biblischen Schöpfungsbericht, S. O.] ergibt sich zweifellos, daß die Welt nicht in der Zeit, sondern mit der Zeit zusammen erschaffen worden ist. Denn was in der Zeit geschieht, das geschieht nach einer und vor einer Zeit, nach einer die vergangen, vor einer, die zukünftig ist [1]. Vergangen konnte aber keine sein, weil keine Schöpfung da war, mit deren veränderlichen Bewegungen sie in Erscheinung getreten wäre [2]. 9
In diesen Zeilen finden wir nun auch ein Argument dafür, warum sich zeitliche Ausdrücke sinnvollerweise nur auf die endlichen Wesen der geschöpften Welt, nicht aber auf Gott anwenden lassen. Betrachten wir hierzu nacheinander die beiden von uns mit Ziffern markierten Teile des Zitats. Siehe Conf, XI, 12. Ebd. 8 Conf, XI, 13. 9 De Civ, XI, 6: »[P]rocul dubio non est mundus factus in tempore, sed cum tempore. Quod enim fit in tempore, et post aliquod fit et ante aliquod tempus; post id quod praeteritum est, ante id quod futurum est; nullum autem posset est praeteritum, quia nulla erat creatura, cuius mutabilis motibus ageretur.« 6 7
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[1]: Zunächst sagt Augustinus, dass alles, was »in der Zeit geschieht«, sich nach einem bereits vergangenen und vor einem noch zukünftigen Zeitpunkt vollzieht. Ohne Vergangenheit und Zukunft in der Zeit zu sein, ist daher für Augustinus ausgeschlossen. Für diesen intuitiv plausiblen Punkt führt Augustinus an dieser Stelle keine Begründung an; er lässt sich allerdings von der augustinischen These aus, Zeit sei die »distentio animi« (die Aus- bzw. Zerdehnung des Geistes), erhärten. Wir werden auf diesen Punkt weiter unten zurückkommen. [2]: Um die essentiellen zeitlichen Bestimmungen von »vergangen«, »gegenwärtig« und »zukünftig« überhaupt vornehmen zu können, sind laut Augustinus »veränderliche Bewegungen« notwendig, d. h. Prozesse, die sich mithilfe zeitlicher Ausdrücke strukturieren lassen. Zeit ist also zwar nicht identisch mit Bewegung, tritt aber nur mit ihr »in Erscheinung«. Zeit, so lehrt Augustinus in Übereinstimmung mit Aristoteles, ist das »Maß« der Bewegung. 10 Wo es keine Bewegung als das zu Messende gibt, da ist auch die Rede von der Zeit als ihrem Maß sinnlos. Da es nun aber offenbar vor der Vollendung des Schöpfungsaktes keine Bewegung gab, kann es auch kein zeitliches Davor gegeben haben. Damit kann natürlich auch der Ausdruck »vor« im Satz »vor der Vollendung des Schöpfungsaktes« nur im logischen, nicht aber im temporalen Sinne gemeint sein. Damit argumentiert Augustinus also ausdrücklich gegen und nicht für die Zeitlichkeit des Akts der Weltschöpfung. 11 Der Artikel 99 von Bischof Tempier schießt der Sache nach also nicht nur gegen die Aristoteliker, sondern auch gegen den Kirchenvater Augustinus. 12 Die Frage, was Gott vor der Schöpfung getan habe, lässt sich also sinnvoll nur formulieren, wenn wir »vor« in einem nicht-zeitlichen Sinne auffassen. Nur so lässt sich das Resümee des Augustinus zum Verhältnis von Gott und Zeit verstehen: »Vor allen Zeiten bist du, und es gab nicht irgendeine Zeit, in der es noch keine Zeit gab.« 13 Dieses nicht-temporale Vor der Zeit ist, was Augustinus als die Ewigkeit Gottes fasst. Die Ewigkeit Gottes ist also nicht als sempiternitas, d. h. nicht als unendliche zeitliche Dauer gedacht, sondern als Unzeitlichkeit. Allerdings handelt es sich um eine spezifische Form von Un10 11 12 13
Siehe Conf, XI, 24. Siehe hierzu auch Christian: »Augustine«, S. 4. Vgl. hierzu auch Flasch: Aufklärung im Mittelalter?, S. 181 f. Conf, XI, 13.
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zeitlichkeit. Die Ewigkeit Gottes meint nämlich gerade nicht, dass Gott nichts mit der Zeit zu tun hat. Im Gegenteil. Ewigkeit ist das, was der Existenzgrund alles Zeitlichen, dabei aber selbst nicht zeitlich ist, sodass es im temporalen Sinne weder vor noch nach der Zeit ist. Die Ewigkeit Gottes liegt der Zeit zugrunde, ohne ihr zeitlich vorauszugehen. Dass dieser Grund im Zeitlichen gegenwärtig ist, verweist dementsprechend nicht auf einen (oder mehrere) temporale Jetztpunkte, sondern auf den Umstand, dass das Zeitliche überhaupt in irgendeinem Sinne ist. Die Schöpfung ist daher laut Augustinus eine creatio continua. 14 Sie findet nicht als ein einmaliges Ereignis zeitlich vor der Welt statt, sondern »Schöpfung« bezeichnet den Umstand, dass es überhaupt eine zeitliche strukturierte Welt gibt, wobei dieses Dass- oder Überhaupt-Sein selbst nichts Zeitliches sein kann. Anders gesagt: dass es überhaupt Zeit gibt, ist selbst keine zeitliche Tatsache. 15 Den zeitbezogenen (da zeitfundierenden), aber dennoch unzeitlichen Charakter der Ewigkeit gilt es auch zu berücksichtigen, wenn man sich an die Interpretation derjenigen Passagen im Zeittraktat der Confessiones macht, die von der Ewigkeit als einer »immer stehenden Ewigkeit«, wo »das Ganze gegenwärtig ist« 16, als einem »Heute«, das »nicht dem Morgen weicht und nicht dem Gestern folgt« 17, sprechen. Dieses Konzept der Ewigkeit als unvergänglicher Präsenz besteht gerade nicht in der ewigkeitstheoretischen Privilegierung der ZeitdiVgl. De civ, XII, 25. Eben diese Einsicht scheint übrigens Spinoza in der achten Definition der Ethik ausgesprochen zu haben, wenn er schreibt: »Unter der Ewigkeit verstehe ich die Existenz selbst«. Die Existenz als solche ist das, was bei der Existenz eines zeitlich bestimmten Etwas immer schon investiert ist. Sie kann daher, wie Spinoza schreibt, »durch die Dauer oder die Zeit nicht erklärt werden, selbst wenn man unter Dauer ›ohne Anfang und Ende‹ versteht.« (Spinoza: Ethik, Erl. zu Def. 8) Schelling hat übrigens als einer der wenigen (wenn nicht gar als Einziger) das wahre existenzphilosophische Potential hinter Spinozas Ethik erkennt und damit auch den Zusammenhang von Existenz und Ewigkeit entsprechend gedeutet. So heißt es bei ihm im Zuge einer Interpretation des spinozistischen Gottesbeweises: »Denn ewig nennen wir das, dem nicht einmal der Gedanke vorangehen kann, das geradezu Seiende. Das ewige Sein Gottes kommt selbst seinem eigenen Denken zuvor.« (Schelling: Offenbarung, S. 163) Spinozas Identifikation von Gott und Existenz einerseits – »Dei existentia, ejusque essentia unum & idem sunt« (Ethik, Lehrs. 20) – und Gott/Existenz und Ewigkeit andererseits deutet Schelling damit als von Spinoza selbst noch nicht recht begriffenen Vorläufer seiner eigenen Konzeption des unvordenklichen Seins. 16 Conf, XI, 11. 17 Conf, XI, 13. 14 15
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Die Ewigkeit der Welt und die Genese der Zeit
mension der Gegenwart. Wenn Augustins Pointe, wie wir gesehen haben, darin besteht, dass die Frage, was vor einer zeitlich strukturierten Wirklichkeit war, nur dann sinnvoll gestellt werden kann, wenn wir »vor« im nicht-temporalen Sinne verstehen, dann wäre es falsch, Augustinus eine temporale Verwendung des Ausdrucks »Gegenwart« bei seiner Charakterisierung der Ewigkeit zu unterstellen. Sprechen wir also im Kontext der Philosophie des Augustinus von der Frage nach der Ewigkeit der Welt und der Ewigkeit Gottes, gilt es zu berücksichtigen, dass der Ausdruck »Ewigkeit« in einem jeweils anderen Sinne gebraucht wird. Abgelehnt wird von ihm die Ewigkeit der Welt im Sinne einer unendlichen zeitlichen Dauer, aber nicht, um Gott diese Form von Ewigkeit zuzusprechen. Gottes Ewigkeit ist für Augustinus nämlich nicht die endlose Dauer, sondern die Unzeitlichkeit. Betrachten wir diese Argumentation des Augustinus im Hinblick auf ihr Verhältnis zu der von ihm abgelehnten Position der Platoniker, dann zeigt sich Überraschendes. Augustinus argumentiert, wie wir gesehen haben, gegen die Zeitlichkeit des göttlichen Schöpfungsaktes. Darin besteht nun aber gerade eine Übereinstimmung mit der Position der Platoniker. Auch die Platoniker lehnen ja eine zeitliche Vorgängigkeit des Nichts vor der Welt ab. Augustinus lehnt nun zwar auch die zusätzliche These der Platoniker ab, die Welt habe keinen zeitlichen Anfangspunkt und sei daher hinsichtlich ihrer zeitlichen Dauer unendlich. Dafür bringt Augustinus aber keine philosophischen Gründe vor. Dass die Welt einen zeitlichen Anfangspunkt habe – für das Alter der Menschheit setzt er weniger als sechstausend Jahre an 18 – wird von ihm als Offenbarungswahrheit vorausgesetzt. 19 Die philosophische Argumentation des Augustinus reicht also nur aus, um zu zeigen, dass diese Offenbarungswahrheit nicht mit der Unzeitlichkeit Gottes konfligiert. Der zeitliche Anfang der Welt impliziert eben nicht, dass Gott etwas vor (im zeitlichen Sinne des Wortes) ihrer Setzung im Schöpfungsakt getan hätte. Die Welt gab es immer schon, wenn man »immer schon« zeitlich auffasst und dabei Christian (»Augustine«, S. 17, Anmerkung 39) argumentiert dafür, dass sich diese Schätzung des Augustinus nicht auf die gesamte Schöpfung, sondern das Auftreten des Menschen bezieht und Augustinus die These vertrat, dass der Mensch nur der Möglichkeit nicht aber der Wirklichkeit nach zu Beginn der Schöpfung existierte. Schönberger (»Der Disput über die Ewigkeit der Welt«, S. XIV) hingegen ordnet diese Altersangabe der Welt zu. De Civ, XII, 11 gibt Christian recht. 19 Vgl. hierzu Christian: »Augustine«, S. 1 f. sowie 5 f. 18
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bedenkt, dass die Zeit erst mit der Welt und ihren zu messenden Bewegungen entstanden ist und somit selbst einen Anfang hat. 20 Es wäre aber nach Augustinus falsch zu behaupten, die Welt habe »immer schon« existiert, wenn man damit sagen wollte, es gäbe kein logischontologisches Prius zur Existenz der Welt. Nicht von seiner philosophischen Argumentation gestützt wird allerdings Augustins Ablehnung der These der Platoniker, die Welt existiere immer schon im Sinne einer unendlichen Dauer. Wenn auch Augustinus für die These vom zeitlichen Anfangspunkt der Welt keine philosophische Begründung vorbringt, sondern sich auf eine Offenbarungswahrheit beruft, so erfährt diese dennoch eine indirekte philosophische Bestätigung. Wie William Christian auf überzeugende Weise dargelegt hat, ebnet das Dogma von zeitlichen Weltanfang den Weg für eine zentrale geschichtsphilosophische These des Augustinus, nämlich, dass die Geschichte der Schauplatz für einzig- und neuartige Ereignisse ist. 21 Wird in neoplatonischer Manier eine unendliche Zeit in Richtung Vergangenheit angenommen, müssten die gegenwärtigen Ereignisse bereits einmal geschehen sein und wären daher nur eine Wiederkehr von Vergangenem. Dies hätte laut Augustinus vor allem in Bezug auf die Seele des Menschen katastrophale Auswirkungen, da sie dann keine echte Heilsgeschichte von Unschuld, selbstverschuldetem Unglück und göttlicher Erlösung durchlaufen könnte. 22 Wollen wir im Rahmen von Welt- und Individualgeschichte das Sich-Ereignen absolut neuartiger Ereignisse für real halten, müssen wir uns nach Augustinus von der heidnischen Lehre von der Ewigkeit der Welt ab- und der christlichen Doktrin vom zeitlichen Weltanfang zuwenden.
2) Mit Augustinus gegen Augustinus Nachdem wir die von Augustinus vorgebrachten Argumente für einen temporalen Weltanfang rekonstruiert haben, wollen wir uns nun demjenigen Aspekt der augustinischen Zeittheorie zuwenden, mit dem sich gegen einen temporalen Weltanfang argumentieren lässt. 20 21 22
Siehe ebd., S. 6. Ebd., S. 9–18. De Civ, XI, 4.
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Die Ewigkeit der Welt und die Genese der Zeit
Betrachten wir hierzu zunächst noch einmal die weiter oben zitierte Stelle aus De Civitate Dei: »[W]as in der Zeit geschieht, das geschieht nach einer und vor einer Zeit, nach einer die vergangen, vor einer, die zukünftig ist.« 23 Nun gilt offenbar Folgendes: Wenn es eine notwendige Bedingung für das Vorliegen eines zeitlichen Ereignisses ist, dass es sowohl vor als auch nach einem anderen Ereignis kommt, dann kann der Weltanfang kein zeitliches Ereignis sein. Denn schließlich gib es zu ihm kein temporales Vorgängerereignis. Der »temporale« Weltanfang hat keine Vergangenheit, weshalb er – gilt die von Augustinus formulierte Bedingung – nicht temporal sein kann. Das Problem ließe sich offenbar dadurch abwenden, dass man die Bedingung, jedes zeitliche Ereignis müsse sowohl einen Vorgänger als auch einen Nachfolger haben, dahingehend abschwächt, dass es genügt, wenn es einen Vorgänger oder 24 Nachfolger hat. Die Zeit selbst wäre dann wie eine Art Lineal, das in Richtung des Anfangs über eine Begrenzung verfügt. 25 Für diesen Grenzpunkt würde dann gelten, dass er nur einen Nachfolgerpunkt hat; für alle weiteren Punkte, dass sie sowohl Vorgänger als auch Nachfolger haben. Nun bietet allerdings die augustinische Zeittheorie selbst einen gewichtigen Grund dafür, warum wir nicht von der anspruchsvolleren Bedingung, die für jedes zeitliche Ereignis sowohl einen Vorgänger als auch einen Nachfolger verlangt, abweichen sollten. Hierzu müssen wir näher auf die Zeittheorie des Augustinus aus Buch XI der Confessiones und, wie oben bereits angekündigt, insbesondere auf seine Lehre von der Zeit als »distentio animi« eingehen. Ausgangspunkt für die augustinische Zeittheorie in den Bekenntnissen ist das Paradox des Zeitmessens. 26 Es besteht darin, dass wir einerseits in der Lage sind, objektive Zeitangaben zu machen, also zu messen, wieviel Zeit vergeht; andererseits aber dasjenige, was wir da messen, eigentlich gar nicht existent zu sein scheint. Denn die Ver-
De Civ, XI, 6, S. 714 ff. Natürlich im Sinne von und/oder. 25 Laut Christian (»Augustine«, S. 11, insbes. Anm. 23) geht Augustinus zwar von einem Ende des irdischen Geschehens, aber nicht von einem Ende allen zeitlichen Seins aus. Dagegen spricht allerdings die Rede von der »erfüllten Zeit« in De Civ, XX, 7 sowie der in Conf, XI, 29 geäußerte Wunsch, die zeitliche Zersplitterung durch Hinwendung auf die unzeitliche Einheit Gottes abzustreifen. 26 Conf, XI, 21. 23 24
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gangenheit existiert nicht mehr, die Zukunft noch nicht. Allein die Gegenwart scheint es zu geben. Im Versuch, die Gegenwart als solche zu bestimmen, ergibt sich aber, dass diese letztlich nur aus einem ausdehnungslosen Jetzt-Punkt besteht, der, sobald er aufgetreten, instantan auch schon wieder vergangen ist. 27 Auch die Gegenwart ist aufgrund ihrer absoluten Punktualität im wörtlichen Sinne maßlos, d. h. sie kann nicht gemessen werden. Wir wollen diese halt- und ausdehnungslose Sukzessivität der Zeit als ihren objektiven Aspekt bezeichnen. Um das Rätsel des Zeitmessens zu lösen, müssen wir nach Augustinus der Zeit als solcher zudem einen subjektiven, d. h. geistig vermittelten Aspekt, zuschreiben. 28 Soll die Zeit messbar sein, dann muss sie als Vergangenes, Zukünftiges und Gegenwärtiges auf irgendeine Weise doch existieren. Sie tut es laut Augustinus im menschlichen Geist (animus) und zwar vermittelst der geistigen Tätigkeiten des Erinnerns (memoria), des Wahrnehmens bzw. Aufmerkens (contuitus bzw. attentio) und des Erwartens (expectatio). 29 Die drei Zeitdimensionen der objektiven Zeit existieren daher in der Gegenwart des Geistes bzw. als geistig vergegenwärtigte: »Im strengen Sinn müßte man wohl sagen: Es gibt drei Zeiten, die Gegenwart von Vergangenem, die Gegenwart von Gegenwärtigem und die Gegenwart von Zukünftigem.« 30 Messbar wird die Zeit erst als Ausdehnung des Geistes (distentio animi). 31 Die halt- und daher für sich genommen maßlose Sukzession des objektiven Aspekts der Zeit muss erst
Conf, XI, 15: »Entdecken wir etwas an der Zeit, was in keine, aber auch nicht in die geringsten Teile geteilt werden kann, dann ist dies das einzige, was ›gegenwärtig‹ heißen sollte. Aber dies fliegt so rasch aus der Zukunft in die Vergangenheit hinüber, daß es sich zu keiner noch so kleinen Dauer (morula) dehnt. Dehnt es sich, zerfällt es in Vergangenes und Künftiges; das Gegenwärtige aber dehnt sich über keinen Zeitraum (spatium).« 28 Diesen Doppelcharakter der Zeit als objektive Sukzessivität von Naturprozessen einerseits und als deren subjektiv-geistige Modifikation andererseits hat Ursula Schulte-Klöcker (»Die Frage nach Zeit und Ewigkeit«, S. 21) treffend erfasst: »Ist im Hinblick auf die geist-unabhängige Weltzeit die Rede von ›Zeit‹, so erscheint dies, gemessen an der Zeitvorstellung der distentio animi, gewissermaßen als verkürzter Begriff, der sich inhaltlich auf die stete, objektive Veränderung des Seienden beschränkt. Erst in der Bindung an den menschlichen Geist erwächst die Zeit zu ihrer vollen Gestalt.« Siehe hierzu auch Weis: Zeitontologie, S. 98–100. 29 Conf, XI, 18. Für die »attentio« siehe XI, 28. 30 Conf, XI, 20. 31 Conf, XI, 26. 27
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einen bleiben Eindruck (affectio) im Geist hinterlassen. 32 Erst als solchermaßen geistig aufbewahrter Eindruck wird die Zeit zu einer messbaren Zeitspanne. Wie wir bereits weiter oben festgehalten haben, ist Zeit für Augustinus (wie auch schon für Aristoteles) das Maß der Bewegung. Nun sehen wir: Aufgrund ihres subjektiv-geistigen Aspekts kann die Zeit für Augustinus kein absolutes, beobachterindifferentes Maß sein. Denn die Zeit als das Maß der Bewegung verweist laut Augustinus auf eine maßnehmende Instanz, den Geist. Die Zeit selbst besteht für Augustinus darin, dass der Geist die unabhängig von ihm ablaufenden Bewegungen in sich aufnimmt, festhält und so Vergleichsmaße erstellt, mit denen er Zeitdauern erfassen und beschreiben kann. Aus augustinischer Perspektive kann daher das oben verwendete Bild von der Zeit als eines Lineals nicht richtig sein. Denn einen rein objektiven Maßstab für die Temporalität von Bewegungsabläufen gibt es nicht. In der Zeit zu sein heißt vielmehr, hinsichtlich der eigenen Bewegtheit einer geistigen Vergegenwärtigung zu unterliegen. An diesem Punkt können wir nun zur Aussage des Augustinus zurückkehren, alles, was in der Zeit geschehe, geschehe nach einer vergangenen und vor einer zukünftigen Zeit. 33 Vor dem erläuterten Hintergrund der Zeittheorie der Confessiones gibt es einen guten Grund, die Zeitbestimmungen von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft in einem derart engen Verhältnis zueinander zu sehen, dass wir von einem zeitlichen Ereignis nur dann sprechen können, wenn es sowohl von einem Nachfolger als auch einem Vorgänger umrahmt wird. Denn in der für die Zeit konstitutiven geistigen Tätigkeit des Vergegenwärtigens sind Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft unauflöslich miteinander verquickt. Besonders deutlich wird dies anhand des Zukunftsbezugs, der in jeder Gegenwartserfahrung steckt. Wie Augustinus ausführt, geht dem aufmerksamen Erfassen eines Gegenwärtigen die auf die Zukunft gerichtete Erwartung voraus, dass etwas gegenwärtig werden wird. Als ein solches erwartetes Gegenwärtiges wird es schließlich als ein Vergangenes in die es aufbewahrende Erinnerung überführt. 34
32 33 34
Conf, XI, 27. Siehe De Civ, XI, 6. Siehe Conf, XI, 28.
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Es ist dieses für das Zeitliche konstitutive erwartungsvolle Aufmerken der augustinischen Zeittheorie, dass das entscheidende Problem für die These von einem absolut ersten Zeitpunkt darstellt. Denn nach Augustinus muss vom zeitlichen Anfang der Welt gelten, dass er niemals zukünftig war, und zwar schlicht deshalb, weil er keine Vergangenheit hat. Denn vor ihm war gar nichts, weshalb es ihn – im weiter oben ausgeführten Sinne – immer schon gegeben hat. Der Anfang der Zeit stand niemals aus. Er ist daher unmöglicherweise Gegenstand eines erwartungsvollen Aufmerkens und daher auch unmöglicherweise Gegenstand eines geistigen Vergegenwärtigens im Sinne der augustinischen Zeittheorie der Bekenntnisse. Diese Unmöglichkeit bezieht sich nicht auf den Umstand, dass es zum Zeitpunkt der Weltschöpfung nach Augustinus noch keine Menschen geben hat. Denn im Rahmen einer augustinischen Zeittheorie ist es durchaus möglich, Vergangenes als solche zu bezeichnen, dass sich faktisch dem eigenen Erfahrungshorizont entzieht, solange es sich nur anders gegenwärtigen lässt; etwa als ein via Bibelexegese, oder durch archäologische Grabungen oder auch mittelst naturwissenschaftlicher Verfahren rekonstruiertes Vergangenes. 35 Das Problem ist nicht, dass wir uns den Anfang der Zeit nicht als ein vergangenes Ereignis denken können, sondern dass wir ihn nicht als ein vergangenes Gegenwärtiges denken können. Denn wären wir am Anfang der Zeit gegenwärtig gewesen, so hätten wir diesen Anfang mangels Erwartbarkeit dennoch nicht als ein Gegenwärtiges erfahren können. Der Anfang der Zeit ist vielmehr das absolut Unerwartete und Unerwartbare, nämlich der Übergang vom Unzeitlichen in die Zeit, für den bekanntermaßen schon Platon den Ausdruck »das Plötzliche« (»τὸ ἐξαίφνης«) verwendet hat. 36 Der Beginn der Zeit kann daher aus der Perspektive der Zeittheorie der Confessiones eigentlich selbst nicht in der Zeit sein; er ist das, was nicht mehr unzeitlich, aber noch nicht zeitlich genannt werden kann.
Siehe Weis: Zeitontologie, S. 99. Um die überindividuelle Qualität der Zeit zu wahren, bedarf es auch nicht der Hilfskonstruktion einer überindividuellen Weltseele, wie sie nach Flasch (Was ist Zeit?, S. 393–396 u. S. 402–413) zumindest in Überresten noch in den Bekenntnissen zu finden ist. 36 Platon: Parmenides, 155e-157b. 35
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Die Ewigkeit der Welt und die Genese der Zeit
3) Fazit und Ausblick: Die Genese der Zeit Unsere Rekonstruktion der augustinischen Lehre in Bezug auf die Frage nach der Ewigkeit der Welt zeigte zweierlei. Zum einen vertrat Augustinus die Ansicht, dass es die Welt immer schon gegeben habe und lehnte dabei zugleich die These ab, die Welt sei unendlich alt. Dies war möglich, weil Augustinus der Überzeugung war, dass die Welt als geschöpfte einen zeitlichen Anfangspunkt habe und der Beginn der Zeit mit dem der Welt zusammenfallen müsse, da es Zeit ohne die weltlichen Veränderungen und Bewegungen nicht geben könne. Der göttliche Schöpfungsakt kann Augustinus zufolge daher selbst nicht zeitlich sein, geht der geschöpften Welt also nicht zeitlich voraus; und doch hat die Welt einen zeitlichen Anfangspunkt. Wie im zweiten Abschnitt gezeigt wurde, lassen sich gegen letztere These nicht nur bestimmte Formulierungen des Augustinus anführen, sondern auch seine Zeittheorie aus den Confessiones. Weil ihr zufolge Zeit die Ausdehnung des Geistes (distentio animi) ist, in der alle drei Zeitdimensionen unverbrüchlich aufeinander verweisen, lässt sich ein Anfang der Zeit aufgrund der ihm fehlenden Vergangenheit und damit der Unmöglichkeit, ihn geistig zu antizipieren, eigentlich gar nicht als zeitliches Ereignis denken. Der Anfang der Zeit scheint vielmehr als ein plötzliches nicht-zeitliches Umschlagen von Ewigkeit in Zeit zu begreifen zu sein. Unser Manöver, mit Augustus gegen ihn zu denken, führt uns so auf die Frage nach dem Übergang von göttlicher Ewigkeit hin zum Inkrafttreten der Zeitbestimmungen. Anders ausgedrückt, wir sind aufgerufen, die Genese der Zeit zu denken. Diese Genese kann nun zum einen klarerweise selbst nicht zeitlich sein, zum anderen kann sie aber nicht als absolute Ewigkeit Gottes im Sinne des nunc stans gedacht werden, denn dies würde dem Gedanken einer Genese widersprechen. In Bezug auf diesen Punkt können wir das rätselnde Staunen des Augustinus über den Schöpfungsbericht der Bibel vernehmen, dem zufolge das Schöpfungsgeschehen sechs bzw. sieben Tage gedauert hat: »Welcher Art diese Tage sind, ist freilich für uns ungemein schwierig, wenn nicht unmöglich zu denken, und wir vermögen darüber kaum etwas auszusagen.« 37 De Civ, XI, 6: »Qui dies cuius modi sint, aut perdifficile nobis aut etiam inpossibile est cogitare, quanto magis dicere.« Zur nicht-wörtlichen Deutung der Schöpfungstage durch Augustinus siehe auch Christian »Augustine«, S. 4 f.
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Sebastian Ostritsch
Auch wir können hier die Frage nach dem Entstehen der Zeit aus der Ewigkeit nicht mehr klären. Es sei aber abschließend zumindest darauf verwiesen, dass vielleicht niemand diese unerhörte Frage so ernst genommen hat wie der späte Schelling. Sehr gut abzulesen ist dies beispielsweise anhand einer Bemerkung Schellings aus der von Horst Fuhrmans herausgegebenen Münchner Vorlesung zur Grundlegung der positiven Philosophie: Indische Brahmanen haben östlichen Missionaren mehr als einmal geantwortet, sie könnten ihre Lehre von der Schöpfung nicht eher annehmen, als bis sie ihnen erklärten, was Gott vor der Schöpfung getan habe, worauf die Missionare keine Antwort wussten. Man kann jenen Brahmanen so Unrecht nicht geben. Es gibt keine Schöpfung, wenn nicht zwischen ihr und der absoluten Ewigkeit etwas in der Mitte liegt. 38
Schellings hieran anschließender Gedanke in seiner Lehre von den »Weltaltern« (die Eindeutschung des griechischen »αἰών« bzw. des lateinischen »aevum«) ist, dass mit dem Anfang Zeit der geschöpften Welt zugleich dasjenige, was ihr zunächst zeitlos vorausging, rückwirkend selbst zu einer Zeit, nämlich der »vorweltlichen« wird. Zugleich verweist das Ende unserer weltlichen Zeit hinaus auf eine »nachweltliche«. Die sukzessive Zeit der geschöpften Welt (die »eigentlich zeitliche« oder »endliche« Zeit) wird somit umrahmt von der »vorweltlichen Zeit« einerseits und der »letzten Zeit«, die Schelling auch »die nachweltliche Ewigkeit« nennt, andererseits. 39 Von Augustinus können wir lernen, dass es sich bei »vor« und »nach« in diesem Kontext nicht um temporale Partikeln handeln kann. Aus unserer oben vollzogenen Denkbewegung mit Augustinus gegen ihn können wir zudem sehen, dass wir es gleichwohl mit einem temporalitätsbezogenen »vor« und »nach« zu tun haben. Den Schein des Paradoxen von einer nicht temporalen, aber dennoch temporalitätsbezogenen Vor- und Nachwelt zum Verschwinden zu bringen, bleibt eine auch nach Augustinus zu stemmende philosophische Aufgabe.
Schelling: Grundlegung, S. 448. Ebd., S. 487. Für eine äußerst kompakte und erhellende Darstellung der Grundidee der Weltalter-Lehre vgl. ebd., S. 486 ff.
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Die Ewigkeit der Welt und die Genese der Zeit
Siglen Conf De Civ
= Augustinus: Confessiones, Buch XI, in: Flasch: Was ist Zeit. = Augustinus: De Civitate Dei, Erster Band: Buch I–XIV, hrsg. u. übers. v. Carl Johann Perl, Paderborn et al. 1979.
Literatur Augustinus: Confessiones, Buch XI, in: Flasch: Was ist Zeit. Augustinus: De Civitate Dei. Erster Band: Buch I-XIV, hrsg. u. übers. v. Carl Johann Perl, Paderborn et al. 1979. Behler, Ernst: »Ewigkeit der Welt«, in: Ritter, Joachim et al. (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 2, Basel 1971–2007, S. 844–848. Christian, William A.: »Augustine on the Creation of the World«, in: Harvard Theological Review, 46 (1/1953), S. 1–25. Flasch, Kurt: Was ist Zeit? Augustinus von Hippo. Das XI. Buch der Confessiones. Text – Übersetzung – Kommentar, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 2004. Flasch, Kurt (Hrsg.): Aufklärung im Mittelalter? Die Verurteilung von 1277, Mainz 1989. Platon: Parmenides, übers. v. Friedrich Schleiermacher, in: Werke. Band 5, hrsg. v. Gunther Eigler, Darmstadt 1981. Schelling, Friedrich W. J.: Grundlegung der positiven Philosophie, hrsg. v. Horst Fuhrmans, Turin 1972. Schelling, Friedrich W. J.: Philosophie der Offenbarung. Nachschrift von 1841/ 42, hrsg. v. Manfred Frank, 2., erw. Aufl., Frankfurt a. M. 1993. Schönberger, Rolf: »Der Disput über die Ewigkeit der Welt«, in: Bonaventura, Thomas von Aquin, Boethius von Dacien: Über die Ewigkeit der Welt, übers. v. Peter Nickl, Frankfurt a. M. 2000. Schulte-Klöcker, Ursula: »Die Frage nach Zeit und Ewigkeit«, in: Fischer, Norbert u. Hattrup, Dieter (Hrsg.): Schöpfung, Zeit und Ewigkeit – Augustinus: Confessiones 11–13, Paderborn et al. 2006, S. 9–28. Spinoza, Baruch de: Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt, LateinischDeutsch, übers. v. Wolfgang Bartuschat, Hamburg 2006. Weis, Josef: Die Zeitontologie des Kirchenlehrers Augustinus nach seinen Bekenntnissen, Frankfurt a. M. et al. 1984.
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Gábor Boros
Onto-Theo-Logie in der Geschichte – Versuch über László Tengelyis Deutung der Neuzeit Gegenstand meiner Auseinandersetzung ist ein unter traurig-einzigartigen Umständen veröffentlichtes, eigenartiges, eigengesetzliches Buch. Der Umschlag hat sich fast völlig, bis zum Schwartz verdunkelt, nur dem Namen und dem Titel bleibt es erlaubt, die Monotonie des Schwarzes mit ganz schmalen weißen Linien zu brechen. In dieser Kombination der beiden Endpunkte der Welt der Farben drückt sich, in meinen Augen, die Eigenartigkeit des Buches mit ziemlicher Klarheit aus. Ich meine jedoch nicht den allgemeinen Trauercharakter der beiden Grundfarben. Ich denke vielmehr an die Eigenart des Buches, die dem Gesamtkonzept der Essais von Montaigne in dem Sinne nicht unähnlich ist, dass das Buch größtenteils Textanalysen, Textstellen aus anderen Büchern enthält, und das Eigene in erster Linie in die Auswahl, Begründung und Analyse der Texte bzw. manchmal sogar in die weiterführende Analyse von Analysen von Texten versetzt wird. Man denke z. B. an die Einbeziehung von Richirs Analyse von Cantors Texten in die eigene Analyse, oder an Marions für László Tengelyi durchaus richtungsweisende Analyse von Heideggers Texten über die ontotheologische Verfassung der Metaphysik, die dann sogar einigermaßen von Tengelyi »wiederholt« wird, damit schließlich die beiden Analysen von Heideggers Gedanken als Begründung der Auswahl der zur Hilfe genommenen französischen Philosophiehistoriker verwendet werden. Bei László Tengelyi handelt es sich jedoch um alles andere als eine »erstpersonale« Ichphilosophie, wie es bei Herrn von Montaigne der Fall ist. Ganz im Gegenteil: die Omnipräsenz der als Richtschnur verwendeten Texte soll die Interpretationen des Buches geradezu von einer höchstpersönlich-egoistischen Willkür hüten. In der eigenartigen Kombination der Grundfarben drückt sich also aus, dass der Text im »schwarzen« Teil Rechenschaft darüber abzugeben versucht, was ihn im »weißen« Teil behaupten lässt, was er behauptet. Was er behauptet, ist nun ziemlich kritisch gegenüber der als 50 https://doi.org/10.5771/9783495813768 .
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»traditionell« (dis)qualifizierten Metaphysik, deren verschiedene Varianten im Buch im Gefolge einer verbreiteten Meinung als lauter Ontotheologien gedeutet und scharf kritisiert worden sind. 1 Letztlich versteht er ja auch die von ihm intendierte phänomenologisch verfasste Ontologie als eine Philosophie in Abhebung von allen Varianten dieser sogenannten Ontotheologie. Auch der Titel des Schlusskapitels des Buches hebt hervor, dass es ihm letztendlich um eine »Metaphysik ohne Ontotheologie« gehe. Der Schlussteil greift gewissermaßen auf das Anfängliche zurück, indem er eine neuartige, von Levinas stammende »Rede von Gott ohne Ontotheologie« 2 in Aussicht stellt, die wohl als eine Antwort auf die reichlichen Zitate aus Heideggers »Identität und Differenz« am Anfang des Buches zu verstehen ist. Tengelyi zitiert Heidegger zunächst mit den programmatisch klingenden Worten, deren Programm an und für sich noch sowohl positiv als auch negativ ausfallen kann: »›Die Metaphysik ist Onto-Theo-Logie‹« 3. Er fügt dann hinzu: »Nunmehr betrachtet Heidegger diese Verfassung allerdings nur noch als fragwürdig« 4, eine Behauptung, deren Gewährstext sofort zitiert wird: ›Wer die Theologie […] aus gewachsener Herkunft erfahren hat, zieht es heute vor, im Bereich des Denkens von Gott zu schweigen. Denn der ontotheologische Charakter der Metaphysik ist für das Denken fragwürdig geworden […]‹. 5 Ich kann mein Unbehagen darüber kaum unbenannt lassen, wie die Metaphysikkritik des Buches letztendlich durch die Wahl von zwei Vertrauensmännern bestimmt wird – Nietzsche und Marion –, die als Denker und Menschen zwar von ziemlich entgegengesetztem Naturell sind, sich zur herkömmlichen Metaphysik jedoch gleichermaßen völlig ablehnend verhalten. Es fragt sich aber, ob die argumentative Arbeit an verschiedenen Gestalten der Metaphysik, die sich in diversen Denkrichtungen immer wieder hat beobachten lassen, und die nach wie vor vieles aus dem Begriffsapparat der traditionellen Metaphysik übernommen hat, nicht differenzierter hätte beurteilt werden müssen. 2 Tengelyi: Welt und Unendlichkeit, S. 555. 3 Ebd., S. 40. 4 Ebd. 5 Ebd. Mein früher angedeutetes Unbehagen kann hier dahingehend präzisiert werden, dass selbst wenn es stimmte, dass in Heideggers Text der Sinn des Ausdrucks »fragwürdig« so eindeutig ablehnend wäre, wie Tengelyis Behauptung voraussetzt, wäre der theoretische Ertrag des Zitats nicht mehr, als dass Heidegger dies so meinte. Die Meinung eines einzelnen Denkers kann jedoch kaum als schlichtweg entscheidend betrachtet werden, selbst dann nicht, wenn sie dadurch untermauert zu werden versucht wird, dass eine Reihe von interpretatorischen Versuchen ins Treffen geführt wird, die alle methodologisch von dieser selben Deutung von Heideggers Text geleitet 1
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Ein paar Seiten später wird auch der heideggersche Ausdruck für den »aus gewachsener Herkunft« erfahrenen Gott zitiert, nämlich der »göttliche Gott«: »der Gott der [ontotheologisch verstandenen] Metaphysik [fällt] keineswegs mit dem ›göttlichen Gott‹ zusammen […]«. 6 Daraus wird dann die paradoxe – teilweise sogar irritierend anmutende – These gezogen, dass dieser »göttliche Gott« als ein Gott aufgefasst werden könne, dessen Bedenken selbst methodologischen Atheisten möglich bleiben soll. 7 Tengelyis Text versteht sich also als eine zumindest methodologisch atheistische Annäherung an Fragen der phänomenologischen Metaphysik, Ontologie oder Metontologie, die auf einer gemeinsamen Plattform mit Marions und Levinas’ Ringen um einen »göttlicheren Gott« stehen soll. Nicht umsonst hatte Tengelyi mehrfach den gegen die »neueren Phänomenologen« erhobenen Vorwurf eines tournant théologique zu entschärfen oder sogar zurückzuweisen versucht. Die Bedeutung des von Heidegger geprägten Begriffs von »Ontotheologie« war also zweifelsohne grundlegend für Tengelyi. Man sieht dies schon daran, dass es ihm überaus wichtig war, einen regelrechten Feldzug gegen die Vertreter der traditionellen Metaphysik mit Hilfe detaillierter Analysen von in dieser Hinsicht gleichgesinnten Denkern zu führen, Denkern also, die sich genauso entschieden wie er für eine Entontotheologisierung der Metaphysik eingesetzt haben. Denn in diesem Feldzug musste er sich nicht allein auf Heideggers Texte stützen: in seinen umfangreichen »Nachvollzügen« lässt er ihn vor allem den kritischen Ton angeben. Alles andere wird von anderen ausgeführt, d. h. im Einzelnen beruft er sich auf eine Gruppe französischer Philosophiehistoriker, denen Heideggers Anweisung zur Kritik der »Ontotheologie« der von Tengelyi neben Richir am meisten geschätzte zeitgenössische Phänomenologe, Marion vermittelte. Tengelyi zitiert sogar Marions diesbezügliche Erinnerungen, denen zufolge sich zu dieser Gruppe Denker wie Courtine, Braque, Carraud und Bardout zählen. Tengelyi erwähnt zwar mehrfach, dass sich selbst schon im französischen Sprachraum anders eingestellte, zugegebenermaßen ernstzunehmende Philosophiehistoriker finden
worden sind. Ein anderes, von diesem ersten unabhängiges Problem ist, dass m. E. der Ausdruck »fragwürdig« hier kaum den eindeutig ablehnenden Sinn haben kann, wie ich später anzudeuten versuche. 6 Ebd., S. 45. 7 Ebd.
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lassen, die sich nicht oder nicht ohne Bedenken der ontotheologiekritischen Richtung von Marion verschrieben haben – von Philosophiehistorikern in anderen Sprachräumen ganz zu schweigen. Diesem Eingeständnis zum Trotz schließt er sich im Wesentlichen den Ansichten von Marion und seinen Schülern fraglos an, und zwar einerseits hinsichtlich ihrer allgemeinen kritischen Einstellung gegenüber allen Formen der von ihnen so genannten Ontotheologie, andererseits hinsichtlich ihrer Einzelanalysen von Werken derjenigen Denker, die als paradigmatische Beispiele für das kritisierte Projekt gelten – selbst wenn dies gleichbedeutend mit einer ziemlichen Verarmung der Geschichte der Philosophie wird. Unter dem Titel »Grundtypen der Metaphysik in der französischen Philosophiegeschichtsschreibung der letzten Jahrzehnte« 8 finden wir in der Tat eine chronologische Übersicht der metaphysisch angelegten Philosophien der europäischen Philosophiegeschichte unter dem Gesichtspunkt der Kritiker der »Ontotheologie« im Gefolge von Marion, an manchen Stellen bereichert von Vertretern anderer interpretatorischer Richtungen. Abgesehen von unseren Zweifeln bezüglich des ganzen Projekts, muss man zunächst einmal feststellen, dass es sich hier an und für sich um ein großangelegtes Projekt handelt, selbst wenn man zunächst das eigentliche »systematische« Anliegen des Buches als ein Ganzes nicht einmal dazu rechnet. 9 Ich halte mich nicht für zuständig, meine Meinung über alle die im Buch enthaltenen einzelnen Analysen zu äußern. Ich beschränke mich auf die Kapitel, die als »neuzeitliche Ontotheologie« zusammengefasst werden können. Ich werde diesbezüglich einige Punkte in kritischer Absicht hervorheben und zur Diskussion stellen. Meine Bemerkungen betreffen zuerst Heideggers Begriff der Ontotheologie, dann die Art und Weise, wie Marion und seine Schüler mit diesem Begriff in ihren Einzelanalysen
Teils verdeckt, teils verrät dieser Titel selbst die merkwürdige Eigenart des Projekts: er deutet einerseits auf die beschreibende Kenntnisnahme der existierenden Analysen einer partikularen Gruppe von Historikern, andererseits wird ihnen jedoch eine allgemeine normative Bedeutung zugeschrieben. 9 Meine allgemeinste kritische Bemerkung ist, dass ich nicht vom Nutzen dieses historischen Überblicks im Hinblick auf das systematisch-phänomenologische Gesamtprojekt des Buches überzeugt bin. Umgekehrt formuliert: ich hätte es für uns gewünscht, dass Tengelyi seine in der Tat bahnbrechenden systematischen Ausführungen zur phänomenologischen Ontologie ohne die umfangreiche historische Übersicht aus der Perspektive der Entontotheologisierung vorgelegt hätte. 8
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umgingen, bzw. wie diese Analysen in Tengelyis Text Eingang gefunden haben. Tengelyi weist im Buch zwar auf mehrere Texte von Heidegger hin. Was die Ontotheologie anbetrifft, bezeichnet er jedoch einen bestimmten Text als seinen Grundtext, nämlich das Protokoll eines Hegel-Seminars (Wintersemesters 1956/57), den Teil der unter dem Titel »Identität und Differenz« zusammengefassten Schriftstücke, dessen abschließende Erörterung (24. Februar 1957) unter dem Titel Die onto-theo-logische Verfassung der Metaphysik erschien. 10 Am Anfang des Buches rekonstruiert er sogar explizit den Gedankengang dieses Textes, wie es schon erwähnt wurde. Heideggers Text analysiert sensibel, wie in der Metaphysik die Zusammenhänge der Onto-Theo-Logik immer schon eine grundlegende Rolle gespielt haben, selbst dort wo die differenziale Verbindung zwischen Seiendem, Gott, Sein und Logos nicht ganz klar gesehen wurde. Er sagt jedoch: er wage einen Schritt zurück: Die Differenz von Seiendem und Sein ist der Bezirk, innerhalb dessen die Metaphysik, das abendländische Denken im Ganzen seines Wesens, das sein kann, was sie ist. Der Schritt zurück bewegt sich daher aus der Metaphysik in das Wesen der Metaphysik. 11
Der Schritt zurück bestehe allerdings nicht in einem »historischen Rückgang zu den frühesten Denkern der abendländischen Philosophie« 12. Heidegger geht es hier vielmehr einerseits um die Differenz zwischen Sein und Seiendem, andererseits um den richtigen Anfang der Philosophie, der bei Gott gesucht werden müsse. Nicht jedoch im Sinne einer mythisch-dichtenden Sage über Gott, sondern im Sinne der Lehre, d. h. der Wissenschaft des vorstellenden Denkens über Gott. Im Sinne einer Theo-logie also. Man findet hier den Begriff der Onto-Theo-Logie vorerst »als Notbehelf«, nicht als eine kritisch-normative Waffe verwendet, so wie es im Text der Antrittsvorlesung »Was ist Metaphysik?« geschrieben steht: In der Antrittsvorlesung »Was ist Metaphysik?« (1929) wird daher die Metaphysik als die Frage nach dem Seienden als solchem und im Ganzen be»Die onto-theo-logische Verfassung der Metaphysik gibt die stellenweise überarbeitete Erörterung wieder, die eine Seminarübung des Wintersemesters 1956/57 über Hegels »Wissenschaft der Logik« abschließt. Der Vortrag fand am 24. Februar 1957 in Todtnauberg statt.« Siehe Heidegger: Identität und Differenz, S. 29. 11 Ebd., S. 60. 12 Ebd., S. 61. 10
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stimmt. Die Ganzheit dieses Ganzen ist die Einheit des Seienden, die als der hervorbringende Grund einigt. Für den, der lesen kann, heißt dies: Die Metaphysik ist Onto-Theo-Logie. 13
Nach dieser Einleitung ändert sich allerdings Heideggers Ton; plötzlich wird er kritischer: Denn der onto-theologische Charakter der Metaphysik ist für das Denken fragwürdig geworden, nicht auf Grund irgendeines Atheismus, sondern aus der Erfahrung eines Denkens, dem sich in der Onto-Theo-Logie die noch ungedachte Einheit des Wesens der Metaphysik gezeigt hat. Dieses Wesen der Metaphysik bleibt indes immer noch das Denkwürdigste für das Denken, solange es das Gespräch mit seiner geschickhaften Überlieferung nicht willkürlich und darum unschicklich abbricht. 14
Kritisch sein heißt jedoch im Zusammenhang mit diesem Text gerade nicht, die angeblich ontotheologisch verfasste Metaphysik einfach wegzuwerfen, sondern sie als frag-würdig, sogar als »das Denkwürdigste« im Interesse des Zurückschreitens zu betrachten. 15 Das als Grund vorgeprägte und mit dem Denken zusammengehörende Sein des Seienden entbirgt sich als der sich selbst ergründende und begründende Grund. Der Grund, die Ratio sind nach ihrer Wesensherkunft: der Λόγος im Sinne des versammelnden Vorliegenlassens: das Ἓv Πάντα. 16
Wiederum kann man feststellen, dass Heideggers Text nicht ablehnend-kritisch gegen diese Verfassung der Metaphysik vorgeht: Die Metaphysik denkt das Sein des Seienden sowohl in der ergründenden Einheit des Allgemeinsten, d. h. des überall Gleich-Gültigen, als auch in der begründenden Einheit der Allheit, d. h. des Höchsten über allem. So wird das Sein des Seienden als der gründende Grund vorausgedacht. Daher ist alle Metaphysik im Grunde vom Grund aus das Gründen, das vom Grund die Rechenschaft gibt, ihm Rede steht und ihn schließlich zur Rede stellt. Wozu erwähnen wir dies? Damit wir die abgegriffenen Titel Ontologie, Theologie, Onto-Theologie in ihrem eigentlichen Schwergewicht erfahren. 17 Ebd., S. 64. Ebd. 15 Man könnte freilich auch die Frage stellen, inwieweit die Berufung auf eine näher nicht bestimmte »Erfahrung« des Denkens genügt, um die Fragwürdigkeit (im kritischen Sinne) einer ganzen Denkrichtung, die sogar nur als ein Interpretationskonstrukt identifiziert wird, »für das Denken« schlechthin zu begründen. 16 Ebd., S. 66. 17 Ebd. Hervorhebung von mir. 13 14
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Weiterführende Erwägungen in Richtung dieser »Erfahrung des Schwergewichts« der Onto-Theo-Logik kann man reichlich zitieren, sie sind bekannt, ich rufe nur je eine charakteristische Passage in Erinnerung, in denen fundamentalontologischen Termini wie »Austrag«, »Ankunft« und »Gott« eine große Rolle spielen: Worauf es jetzt für unser Vorhaben allein ankommt, ist der Einblick in eine Möglichkeit, die Differenz als Austrag so zu denken, daß deutlicher wird, inwiefern die onto-theologische Verfassung der Metaphysik ihre Wesensherkunft im Austrag hat, der die Geschichte der Metaphysik beginnt, ihre Epochen durchwaltet, jedoch überall als der Austrag verborgen und so vergessen bleibt in einer sich selbst noch entziehenden Vergessenheit. 18 Insofern Sein als Sein des Seienden, als die Differenz, als der Austrag west, währt das Aus- und Zueinander von Gründen und Begründen, gründet Sein das Seiende, begründet das Seiende als das Seiendste das Sein. Eines überkommt das Andere, Eines kommt im Anderen an. Überkommnis und Ankunft erscheinen wechselweise ineinander im Widerschein. Von der Differenz her gesprochen, heißt dies: Der Austrag ist ein Kreisen, das Umeinanderkreisen von Sein und Seiendem. Das Gründen selber erscheint innerhalb der Lichtung des Austrags als etwas, das ist, was somit selber, als Seiendes, die entsprechende Begründung durch Seiendes, d. h. die Verursachung und zwar die durch die höchste Ursache verlangt. 19 Der Gott kommt in die Philosophie durch den Austrag, den wir zunächst als den Vorort des Wesens der Differenz von Sein und Seiendem denken. Die Differenz macht den Grundriß im Bau des Wesens der Metaphysik aus. Der Austrag ergibt und vergibt das Sein als her-vor-bringenden Grund, welcher Grund selbst aus dem von ihm Begründeten her der ihm gemäßen Begründung, d. h. der Verursachung durch die ursprünglichste Sache bedarf. Dies ist die Ursache als die Causa sui. So lautet der sachgerechte Name für den Gott in der Philosophie. Zu diesem Gott kann der Mensch weder beten, noch kann er ihm opfern. Vor der Causa sui kann der Mensch weder aus Scheu ins Knie fallen, noch kann er vor diesem Gott musizieren und tanzen. Demgemäß ist das gott-lose Denken, das den Gott der Philosophie, den Gott als Causa sui preisgeben muß, dem göttlichen Gott vielleicht näher. Dies sagt hier nur: Es ist freier für ihn, als es die Onto-Theo-Logik wahrhaben möchte. 20
Fraglich ist allerdings, ob Heideggers hiesige Vorwürfe bezüglich der Onto-Theo-Logik, seine immer tiefer vor- bzw. zurückdringende 18 19 20
Ebd., S. 74. Ebd., S. 75. Ebd., S. 77. Hervorhebung von mir.
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denkerische Erfahrung geschichtlich-philosophisch gesehen im Ganzen wie in den einzelnen Fällen unbeirrbar berechtigt sind. Seine abschließende Überlegung über einen »göttlicheren Gott« scheint mir jedenfalls viel eher ein existenziell-theologisches argumentum ad hominem als ein geschichtlich-philosophisches Argument zu sein. Es versucht nämlich ein existenziell-religiöses Bedürfnis – das übrigens kaum sein eigenes sein konnte – auf dem Feld der argumentierenden Philosophie ins Treffen zu führen, ein Verfahren, das in dieser Form m. E. zwangsläufig misslingt. Dazu kommt, dass – wie mir scheint – die Sprache – wenn überhaupt – nicht so sehr von der onto-theologischen Metaphysik, sondern jederzeit vielmehr vom dialektisch ungeschulten alltäglichen Sprachgebrauch kontaminiert worden ist, woraus die Aufgabe erwächst, an einer asymptotisch-angemesseneren Metaphysik auf Basis der traditionellen – wenn man will – onto-theologischen Metaphysikversuche weiterzuarbeiten. Ich sehe also in Heideggers Zurück zur Herausarbeitung der ontotheologischen Wesensverfassung der Metaphysik weniger ein Werkzeug zur vernichtenden Kritik der einzelnen überkommenen Gestalten der abendländischen Metaphysik, und erst recht nicht einen quasi formallogischen Einwand der Zirkularität der Begründung zwischen Gott und dem endlichen Seienden. Also kann ich mit Tengelyis Formulierungen dort, wo sie einen eindeutigen Übergang zwischen seiner Rekonstruktion von Heideggers Position und der geschichtlich arrangierten Typologie der metaphysischen Theorien in der französischen Philosophiegeschichtsschreibung herstellen, nicht ganz einverstanden sein. In Tengelyis Buch lesen wir z. B., teilweise Heideggers eigene Worte aus »Identität und Differenz« zitierend: »Heidegers Auseinandersetzung mit der Metaphysik beruht auf ›einem Gespräch mit dem Ganzen der Geschichte der Philosophie‹.« 21 Heideggers Selbstdeutung ist jedoch strittig – sowohl im heutigen, als auch im alten Sinne des Wortes. Er hat trivialerweise nicht alle einzelnen Akteure der Philosophiegeschichte in sein Gespräch einbezogen – es wäre eine schiere Unmöglichkeit für einen einzigen Philosophen, alle auch nur einigermaßen relevanten philosophischen Werke in ein faires Gespräch einzubeziehen. In ein Gespräch also, das wirklich mehr als eine Bewehrungsprobe schon festgerannter Vormeinungen sein soll, wo das Ergebnis der Probe kaum noch fraglich ist. Über diese 21
Tengelyi: Welt und Unendlichkeit, S. 46.
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triviale Feststellung hinaus fragt sich jedoch, ob Heidegger wirklich mit dem »Ganzen der Geschichte der Philosophie« im nicht trivialen Sinne eines Gesprächs auseinandergesetzt hat, in dem alle die Denker befragt werden, mit denen er sich aufgrund seiner eigenen Vor-Ausführungen hätte auseinandersetzen müssen bzw. sollen. Tengelyi zitiert später Boulnois, der im Zusammenhang mit Heidegger den Ausdruck »Neuplatonismusvergessenheit« prägte. Unter dieser Rubrik könnte man sehr wohl z. B. auch an Johannes Scotus Eriugena denken, oder sogar – schon in meiner eigentlichen Periode – an jenen Spinoza, der in Heideggers ganzen Oeuvre sehr auffallend fehlt. Auch in dieser Hinsicht wird es sich jedoch als besonders aufschlussreich erweisen, das obige Zitat von Tengelyi fortzusetzen, weil es dort gerade um den Sinn des Übergangs von Heideggers prinzipiellen Erörterungen zu den Einzelanalysen der Marion-Schüler geht: Ihr [Der Auseinandersetzung] Ergebnis bleibt daher ein globaler Wesensentwurf […]. 22
Genau: in Heideggers Text handelt es sich um einen Wesensentwurf, der ständig (sich) befragend und selbstkritisch immer weiter fortgetrieben werden sollte, allerdings nicht in forciert-einzelkritischen Studien über einzelne Figuren oder Werke der Geschichte der Philosophie. Ich bin der Meinung, dass die abschließenden Worte oder besser Mahnungen des Textes von Identität und Differenz genau diese Art von Fehlentwicklungen prophezeien, wie wir sie nunmehr als misslungene Inanspruchnahme des terminus fundamentalontologicus »Onto-Theo-Logik« als terminus technicus in den Einzelanalysen der Marion-Schüler sehen: Der Blick in dieses Schwierige, das aus der Sprache kommt, sollte uns davor behüten, die Sprache des jetzt versuchten Denkens vorschnell in eine Terminologie umzumünzen und morgen schon vom Austrag zu reden, statt alle Anstrengung dem Durchdenken des Gesagten zu widmen. Denn das Gesagte wurde in einem Seminar gesagt. Ein Seminar ist, was das Wort andeutet, ein Ort und eine Gelegenheit, hier und dort einen Samen, ein Samenkorn des Nachdenkens auszustreuen, das irgendwann einmal auf seine Weise aufgehen mag und fruchten. 23
Der früher zitierte Satz von Tengelyi setzt sich nun wie folgt fort:
22 23
Ebd. Heidegger: Identität und Differenz, S. 79.
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Onto-Theo-Logie in der Geschichte
Ihr [der Auseinandersetzung] Ergebnis bleibt daher ein globaler Wesensentwurf, der einer besonderen Anwendung auf einzelne Denker der Tradition bedarf. Zwar liefert Heidegger in seinen Vorlesungen eine ganze Reihe von Beispielen für eine derartige Anwendung, aber der Abstand zwischen Wesensverfassung und einmaliger Denkkonstellation macht sich dabei überall bemerkbar. 24
Dies ist genau der Punkt: der Abstand zwischen Wesensverfassung bzw. deren Existenz behauptenden Wesensentwurf und einmaliger Denkkonstellation könnte kaum noch größer sein, wenn es nun einmal so ist, dass die beiden schlichtweg inkommensurabel sind. Ein Wesensentwurf soll(te) nämlich als ein hermeneutischer Vorgriff fungieren, der die zu erwartenden Antworten auf die an die »einmaligen Denkkonstruktionen« zu richtenden Fragen schon im Voraus zumindest richtungsweisend bestimmt. Und so werden in der Tat Beispiele in richtige »Anwendungsfälle« transformiert, anstatt dass, wie man erwarten würde, in einem gut-hermeneutischen Kreisen der Vorgriff und die Einzelinterpretation einander wechselseitig kontinuierlich vorwärtstreiben. Dem in eine Wesensverfassung transformierten – d. h. essentialistisch interpretierten – Wesensentwurf sind eigentlich alle »Anwendungsfälle« »besonders schwierig«, nicht nur, wie Tengelyi eigens bemerkt, der Fall von Aristoteles. Denn es müsste gezeigt werden, dass es sich nicht um den Anwendungsfall eines »vorherbestimmten« Prinzips handelt, sondern um eine organisch wachsende innere Analyse. Um endlich zum eigentlichen Thema meiner Untersuchung zu kommen, muss ich sagen, dass ich die marionsche Analyse von Descartes als einem Anwendungsfall vom Prinzip »Ontotheologie« – zumindest so, wie sie von Tengelyi vor Augen geführt wird – keineswegs für überzeugend halte. Marion wird einerseits als dafür argumentierend zitiert, dass der Ausdruck »Erste Philosophie« bei Descartes so etwas wie metaphysica generalis bedeutet, d. h. katholou im Sinne von Tengelyis von Boulnois geliehenen Ausdruck: ihre Gegenstände seien also nicht nur Gott und die unsterbliche Seele, sondern auch das Seiende als Seiende. Dafür habe der Ausdruck »Metaphysik« die engere Bedeutung auf sich genommen. Die von Marion und Tengelyi zitierten beiden Briefe an Mersenne begründen jedoch kaum die24
Tengelyi: Welt und Unendlichkeit, S. 46.
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Gábor Boros
se Art von Konstatierung einer Wende in der Metaphysikgeschichte. Die Briefe sprechen nicht über alle nur möglichen Seienden als Gegenstände der Ersten Philosophie im Sinne des von Tengelyi verwendeten Terminus »Tinologie«, sondern über jene Gegenstände, die für den ordentlich Philosophierenden als die ersten auftauchen. Liest man den Text der Meditationes de prima philosophia, so wird man wohl den Eindruck haben, dem Verfasser gehe es um ein völlig neuartiges Philosophieren, dessen beide Hauptpfeiler die Begriffe von Gott bzw. der unsterblichen vernünftigen Seele alias Geist (mens) sind, wobei die »Zwischenräume« durch ausgewählte – eklektische – Elemente aus der herkömmlichen Metaphysik aufgefüllt sind, ohne jedoch ein neuartiges, genuin metaphysisches Projekt zu initiieren. Interessanter als dies ist jedoch ein zweites Element der marionschen Analyse von Descartes, das Tengelyi in sein Buch herübernimmt. Marion konstruiert nämlich sogar zweierlei »Kreiseln«, wobei beide, so wird es nahegelegt, ontotheologische Strukturen aufweisen: »Verdopplung der ontotheologischen Verfassung der Metaphysik bei Descartes« heißt es titelmäßig in Tengelyis Buch. 25 Das Denken (cogitatio) ist dabei der Grund des Seins jedes Seienden als eines Denkobjekts. Das Denken zeichnet zugleich ein Seiendes als das erste in der Ordnung der Erkenntnis aus. Bei diesem ausgezeichneten Seienden handelt es sich allerdings nicht um Gott, sondern um das Ich, das ego. Bei Descartes bestimmt das ›ich bin‹ (sum) den ersten und ausgezeichneten Sinn des Seins. Das ›ich bin‹ begründet seinerseits wiederum das Denken (cogitatio). Damit ist der Kreis von Gründen und Begründen geschlossen. Die cogitatio gründet das Sein als ens cogitatum, indem es zugleich das ego in seinem erstpersonalen Sein (sum) als erstes Seiendes in der Ordnung der Erkenntnis auszeichnet; das sum des ego begründet wiederum die cogitatio. 26
An dieser Interpretationsfigur kann man sehr gut beobachten, wie ein bestimmter Typ der Descartes-Deutung, die wohl den Philosophen und Philosophiehistorikern der Aufklärung ihre Geburt und Ausformung zu verdanken hat, von einem völlig andersartigen Interpretationstyp, nämlich gerade vom ontotheologischen angeeignet und verstärkt wird. Aufklärungsdenker wie Émilie du Châtelet und nach ihr D’Alembert sahen und betonten im descartes’schen ego einerseits das 25 26
Ebd., S. 117. Ebd., S. 117 f.
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biographische ego von Descartes, andererseits eine mythisch-prometheische Figur, die sich gegenüber Gott genauso verselbständigt wie später Prometheus in Goethes Gedicht. 27 Wenn Heidegger in seinen Nietzsche-Vorlesungen das ego cogitare als »ich stelle vor«, als »ich stelle vor mir« übersetzt, um die Vorrangstellung des denkenden Ich gegenüber allem anderen Seienden hervorzuheben, dann wiederholt er einerseits die Geste der französischen Aufklärer auf einem viel abstrakteren Niveau. Andererseits legt er dadurch Marion und den ihm folgenden Interpreten nahe, im descartes’schen ego nicht nur ein sich gegenüber Gott verselbständigendes Seiendes zu erblicken, sondern geradezu einen kleinen Gott, deunculus (Leibniz), der in dasselbe Verhältnis mit seinen denkmäßigen »Geschöpfen«, ihren cogitata tritt, wie ursprünglich der eigentliche Gott mit seinen seinsmäßigen Geschöpfen. Dies scheint mir der (Hinter-)Grund dafür zu sein, dass in einem Verhältnis, in welchem der eigentliche Gott so gut wie gar nicht namentlich als Relatum vorkommt, trotzdem von einer ontotheologischen Verfassung die Rede ist. Ohne in die Details der Descartes-Interpretation einzugehen, begnüge ich mich jetzt damit, nur flüchtig darauf hinzuweisen, dass ich keineswegs damit einverstanden bin, dem biographischen Ich Descartes und / oder dem narrativ-philosophischen Ich der descartes’schen Philosophie die Rolle eines Stellvertretergottes zu attribuieren. Unter vernünftigen Grenzen stimme ich Pierre Guenancia zu, der in einem persönlichen Gespräch diesen Standpunkt dahingehend formulierte, dass Descartes sagte, was er glaubte und glaubte, was er sagte. Und im jetzt relevanten Zusammenhang sagte Descartes eindeutig, dass das ego sowohl genetisch als auch synchronisch prinzipiell von Gottes creatio continua abhängt – selbst was seine Erkenntnistätigkeit, also der Grund seiner angeblichen ontotheologischen Kleingöttlichkeit anbetrifft. 28 Er behauptete außerdem, dass das ego genauso wenig imstande ist, allwissender Herr im eigenen Haus zu sein, wie zu beobachten, wie genau sich die Korpuskeln unterhalb der Reizschwelle der Sinnesorgane seines Körpers bewegen. Es scheint also sehr zweifelhaft zu sein, ob sich Descartes ins norma-
Als Vor – und Nachbild denke ich vor allem an die letzte Strophe: »Hier sitz’ ich, forme Menschen / Nach meinem Bilde, / Ein Geschlecht, das mir gleich sei, / Zu leiden, zu weinen, / Zu genießen und zu freuen sich, / Und dein nicht zu achten, / Wie ich.« Siehe Goethe: »Prometheus«, S. 46 / Zeilen 52–58. 28 Siehe Boros: »The Anti-metaphysical Turn in the Philosophy of Love«. 27
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tiv-kritische Schema der Ontotheologie richtig – und zwar doppelt – einfügen lässt. Im Übergang zu Spinoza möchte ich noch einen klärenden Blick auf die tabellarische Form dessen werfen, was Tengelyi Marion folgend als die zweite ontotheologische Struktur aufzeigt. Hier habe ich auch einige Zweifel. Die Tabelle sieht wie folgt aus: 1. 2.
Das Sein des Seienden ist durch die Kausalität bestimmt. Das so bestimmte Sein gründet das Sein jedes einzelnen Seienden als verursachtes Seiendes (ens causatum). 3. Es zeichnet dabei ein erstrangiges Seiendes, nämlich Gott, als Ursache seiner selbst (causa sui) aus. 4. Dieses ausgezeichnete Seiende begründet wiederum das Sein jedes einzelnen Seienden als verursachtes Seiendes (ens causatum). Damit ist der Kreislauf von Gründen und Begründen auch hier abgeschlossen. 29
Hier bin ich wiederum nicht mit der ontotheologischen Interpretation als einem kritisch-normativen Werkzeug einverstanden, selbst wenn der eigentliche Gott in diesem Fall wohl genannt und ins »Kreisen« eingebunden wird. In diesem Fall würde ich den richtigen Kreischarakter der Sequenz bezweifeln. Um dies zu tun, genügt schon ein Blick darauf, wie Spinoza diese Sequenz – durchaus im Sinne von Descartes – weiterentwickelt, d. h. die Fäden, die bei Descartes nicht so klar getrennt sind, zerfädelt. Unter Kausalität in Punkt 1 soll nämlich ein Doppeltes verstanden werden: die Kausalität im Umkreis endlicher Seienden einerseits, bzw. die Kausalität im Einzelfall des unendlichen Seienden. Die endliche Kausalität bestimmt das Sosein endlicher Seienden, nicht aber ihr Sein schlechthin. Die Kausalität der endlichen Seienden bestimmt weder das Sosein noch – und erst recht nicht – das Sein schlechthin des unendlichen göttlichen Seienden. Das göttliche Seiende bestimmt demgegenüber sowohl das Sein schlechthin der endlichen Seienden – unmittelbar, durch eigenen schöpferischen Akt – als auch ihr Sosein – mittelbar, durch die unter den Endlichen verteilten Potenzialitäten, die sie (die Endlichen) gegenseitig aktualisieren. Das Sein des unendlichen göttlichen Seienden wird unter keinen Umständen von den endlichen Seienden bestimmt, begründet, beeinträchtigt und schon gar nicht verursacht. Die Formel causa sui kann nur für ein ungeschultes Denken als Ungereimtheit gelten. Für die Scholastik war sie im negativen Sinne bekannt und 29
Tengelyi: Welt und Unendlichkeit, S. 119.
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geläufig gerade im Sinne der Negation jedweder äußeren Ursache. Descartes verleiht ihr die positive Bedeutung durch die unermessliche Potenz, potentia, die von Spinoza eine Generation später als das schlechthinnige Wesen Gottes ausdrücklich hervorgehoben wird. Nimmt man außerdem hinzu, dass der Substanz-Gott von Spinoza immanent in den endlichen Seienden, in seinen Modi ist, mit denen er in mehrfachen Ausdrucksrelationen steht, dann kann man wohl die Meinung vertreten, dass die ontotheologische Verfassung in einem positiv-deskriptiven Sinne am besten bei ihm exemplifiziert ist. Wenn allerdings Tengelyi auf Spinoza zu sprechen kommt, folgt er grundsätzlich den Ausführungen von einem der bedeutendsten Schüler von Marion, nämlich Carraud. Ich bezweifle, dass dies die beste zugängliche Alternative war. Carraud ist zwar ein ausgezeichneter Pascal- und Descartes-Forscher. Spinoza scheint jedoch von ihm etwas weniger anspruchsvoll dargestellt zu sein. Im Gefolge von Carraud meint Tengelyi in Spinoza ein »Funktionswechsel der Idee von causa sui« entdecken zu können: »Es ist nicht mehr die Unermesslichkeit von Gottes Macht, die sich in dieser Idee ausdrückt, sondern einzig und allein das ontologische Argument, das die Existenz Gottes aus seinem Wesen ableitet.« 30 Dies ist ein höchst einseitiges, auf einem statisch-platonisierenden Geometrieverständnis fußendes Spinoza-Bild, das heutzutage von kaum jemand mehr geteilt wird. Wie schon erwähnt, definiert Spinoza das Wesen Gottes als Gottes Macht (potentia Dei), und damit erweist sich Carrauds These wiederum als eine allzu forcierte Interpretation aufgrund der Ontotheologie als eines negativ-kritischen interpretatorischen Vorgriffs. Man braucht spezielle, kaum berechtigte hermeneutische Kunstgriffe, um diese forcierte Interpretation als berechtigt erscheinen zu lassen. Spinoza wird sogar als ein Denker präsentiert, der die Anfänge, die bei Descartes’ Begriff der causa sui zu finden sind, gerade nicht so weiterentwickelt, dass darin die Wirkursachlichkeit und die damit zusammenhängende Macht bzw. Potenz Gottes die Hauptrolle innehätte. Stattdessen baue Spinoza auf die formale Ursachlichkeit und das rein logisch-formale ontologische Argument; und was die potentia Dei sowie den conatus sese conservandi anbetrifft, lasse sich Spinoza »eher durch eine bestimmte Vorstellung vom menschlichen Handeln, als durch eine Vorstellung von der Wirkungsmacht der wirkenden 30
Ebd., S. 123, Hinweis auf Carraud S. 320.
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Ursache überhaupt dazu hinleiten, diese dynamischen Begriffe zu bilden.« 31 Diese marionsche Spinoza-Interpretation von Carraud kann jedoch kaum als eine adäquate erachtet werden. Denn erstens kann ein Denker zwar durch vielerlei Vorstellungen zu einem Grundgedanken kommen. Durchdringt aber dieser Gedanke schon alle Teile des Systems bis in die kleinsten Details, dann ist es völlig zweitrangig, was die Genealogie des Gedankens in seiner Biblio-Biographie war. So sieht es auch mit Spinozas Konzept von potentia Dei und conatus aus: einerseits wurden sie wohl »durch eine bestimmte Vorstellung vom menschlichen Handeln« erzeugt. Andererseits ging bei Spinoza der Anwendung dieser Termini eine gründliche Lektüre von Hobbes und Descartes voraus, woraus wichtige Entscheidungen von systematischer Relevanz resultierten mit dem Ergebnis, dass diese Termini dermaßen allgegenwärtig wurden, dass dadurch das ganze System genauso dynamisch wurde, wie es John Toland im fünften Brief an Serena etwas später wünschte, bzw. unter seinem eigenen Namen darbot. Zweitens, und noch wichtiger: im Anhang zum ersten Buch der Ethik stellt Spinoza unmissverständlich dar, dass das, was er in der Geometrie als zu befolgendes Exemplar gefunden hat, nichts anderes als die unbegrenzte Dominanz der Wirkursachlichkeit ist, die einerseits auf gar keine Ziele blickt, andererseits die Rede von der Dominanz der Formalursachlichkeit vereitelt. Deleuze betont zwar in der Tat die Bedeutung der Immanenzansicht bei Spinoza, wie Tengelyi mit Recht hervorhebt. 32 Dies bringt jedoch keineswegs den »Verzicht auf die Erfassung der Wirkungsmächtigkeit« 33 mit sich. Gerade das Entgegengesetzte scheint der Fall zu sein. Man sollte also ernsthaft nachdenken, was Tengelyis Grund gewesen sein dürfte, der ihn so sehr in der Richtung der Ontotheologie als einer interpretatorischen Strategie bewegte, dass er den Vorzug der nicht sehr plausiblen Spinoza-Deutung von Carraud gegenüber den meisten heute schon als klassisch erachteten französischen Spinoza-Interpreten von Matheron bis Jaquet gegeben hat. 34 Ähnliches Schicksal erfährt Leibniz in Welt und Unendlichkeit Ebd., S. 123. Ebd., S. 125. 33 Ebd. 34 Für die genannten Autoren siehe Carraud: Causa sive ratio; Matheron: Individu et communauté chez Spinoza; sowie Jaquet: Sub specie aeternitatis, étude des concepts de temps durée et éternité chez Spinoza. 31 32
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im Ausgang von Carrauds Gedankengängen. Allerdings möchte ich hinzufügen, dass die viereinhalb Leibniz gewidmeten Seiten von einer gewissen Doppeldeutigkeit zeugen. Einerseits besteht nämlich Tengelyi nach wie vor darauf, der Marion-Carraud Linie mit der naheliegenden Konsequenz zu folgen, dass Leibniz grundsätzlich der »logizistischen« Interpretationsrichtung entsprechend gedeutet wird, die seit Russells Leibniz-Buch die eine prominente Richtung der Leibniz-Interpretation geworden ist. Dieses Bestehen kommt am klarsten im folgenden Satz zum Vorschein: »Vielmehr drückt der nunmehr allgemein formulierte Satz vom Grund eine ganz eigentümliche – nämlich rein rationalistische – Auffassung vom Prinzip der Kausalität aus.« 35 Andererseits erwähnt Tengelyi auch einen der Grundtexte der anderen prominenten Interpretationsrichtung, der »dynamischen«, nämlich »den kleinen Aufsatz De rerum originatione radicali (1697)« 36, die in gewissem Sinne metaphysische Konsequenzen aus den grundlegenden physischen Abhandlungen von Leibniz zieht, deren wichtigste Zusammenfassung der unter dem Titel Specimen dynamicum veröffentlichte Text bietet. In der Leibniz-Literatur spricht man über eine eher dynamisch-physikalisch orientierte Formulierung der leibnizschen Metaphysik im Ausgang vom anderen kleinen Aufsatz Système nouveau de la nature et de la communication des substances, aussi bien que de l’union qu’il y a entre l’âme et le corps (1695) gegenüber dem eher – aber auch nicht ausschließlich – logizistisch interpretierbaren früheren Text Discours de Métaphysique (1686). Der von Leibniz erst später eingeführte Begriff der monas scheint dynamischere Charakterzüge aufzuweisen als der der »einfachen Substanz« aus dem früheren Discours. Die Mainstream-Interpretationsrichtung versucht heutzutage allerdings keine der beiden Alternativen überzubetonen, dem Leibniz’schen Leitmotiv treu bleibend, dass mechanistische, auf dem Begriff der Wirkursache basierende Erklärungen nicht von zielursachlichen Erklärungen verdrängt werden dürfen, obwohl die letzteren in der Metaphysik dominierend bleiben müssen. 37 Mir scheint, dass Tengelyi am Ende nolens-volens diese vermittelnde Interpretationsrichtung in ihre Rechte versetzt, Tengelyi: Welt und Unendlichkeit, S. 126. Ebd., S. 127. 37 Siehe hierzu Busche: Leibniz’ Weg ins perspektivische Universum, sowie ders.: »Übernatürlichkeit und Fensterlosigkeit der Monaden«. 35 36
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ohne seine globale Selbstverpflichtung zur negativen Ontotheologie zu wiederrufen. Einerseits sagt er nämlich das Folgende: Diese Überlegungen machen »den Vorrang des Grundes gegenüber der Ursache« augenscheinlich. Zugleich zeugen sie von einer gewissen Umwandlung der ontotheologischen Verfassung, für die das Sein jedes Seienden als verursachtes Seiendes kennzeichnend ist. Denn bei Leibniz dreht sich diese Struktur um den Begriff einer durch die Wesenheiten geforderten und erstrebten Existenz. Der Drang des Möglichen nach Verwirklichung bestimmt hier den Sinn des Seins; er »gründet«, mit anderen Worten, das Sein jedes Seienden. 38
Gleichzeitig schreibt er jedoch konkludierend das Folgende: Dem Seienden kommt ja bei ihm, selbst wenn es wirklich wird, lediglich ein Sein zu, das sich durch kein inneres Kriterium vom Sein des Möglichen unterscheiden lässt. Daher bleibt das Seiende auch bei Leibniz […] ein Etwas überhaupt, kaum mehr als nichts. 39
Diese Darstellung gibt allerdings nicht genügend Rechenschaft von solchen nicht unwesentlichen Teilen der leibnizschen Philosophie ab, wie es ihr dynamischer Grundcharakter, ihre Theorie von der flüssigätherischen Materie (materia prima) und ihre nominalistische Lehre vom principium individuationis nun einmal sind. 40
Literatur Boros, Gábor: »The Anti-metaphysical Turn in the Philosophy of Love (From the Cartesian Perinatal Perspective on Love to Diderot’s Free Love in His Supplement to Bougainville’s Journeys)«, in: Fudan Journal of the Humanities and Social Sciences, 9 (3/2016), S. 365–377. Busche, Hubertus: Leibniz’ Weg ins perspektivische Universum. Eine Harmonie im Zeitalter der Berechnung, Hamburg 1997. Busche, Hubertus: »Monade und Licht – Die geheime Verbindung von Physik und Metaphysik bei Leibniz«, in: C. Bohlmann, T. Fink u. P. Weiss (Hrsg.): Lichtgefüge des 17. Jahrhunderts, München 2008, S. 125–162.
Tengelyi: Welt und Unendlichkeit, S. 128, Hervorhebung von mir. Man muss jedoch hinzufügen, dass auch diese Sätze durch Hinweise auf Carrauds Text untermauert werden. 39 Ebd., S. 129. 40 Vgl. Busche: »Monade und Licht – Die geheime Verbindung von Physik und Metaphysik bei Leibniz«. 38
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Onto-Theo-Logie in der Geschichte Busche, Hubertus: »Übernatürlichkeit und Fensterlosigkeit der Monaden«, in: ders.: Gottfried Wilhelm Leibniz: Monadologie. Klassiker Auslegen, Bd. 3, Berlin 2009, S. 49–80. Carraud, Vincent: Causa sive ratio. La raison de la cause de Suarez a Leibniz, Paris 2002. Descartes René: Meditationen. Mit sämtlichen Einwänden und Erwiderungen, vollständig neu übersetzt, mit einer Einleitung herausgegeben von Chr. Wohlers, Hamburg 2009. Goethe: »Prometheus«, in: Gedichte, hrsg. v. Erich Trutz auf Basis von Goethes Werke, Bd. 1, München 2007. Heidegger, Martin: Identität und Differenz [Gesamtausgabe, Bd. 11], Frankfurt a. M. 2006. Jaquet, Chantal: Sub specie aeternitatis, étude des concepts de temps durée et éternité chez Spinoza, Paris 1997. Leibniz, G. W.: Discours de métaphysique et autres textes, 1663–1689, Paris 2001. Leibniz, G. W.: Specimen dynamicum, Lateinisch – Deutsch, übers. v. H. G. Dosch, G. W. Most u. E. Rudolph, Hamburg 1982. Leibniz, G. W.: Système nouveau de la nature et de la communication des substances et autres textes: 1690–1703 de G. W. Leibniz, Paris 1999. Matheron, Alexandre: Individu et communauté chez Spinoza, Paris 1969. Spinoza: Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt. Lateinisch-Deutsch. 3., durchges. und verb. Auflage, Hamburg 2010. Tengelyi, László: Welt und Unendlichkeit. Zum Problem phänomenologischer Metaphysik, Freiburg / München 2014. Toland, John: Letters to Serena, Stuttgart-Bad Cannstatt 1965 (Wiederabdruck der Originalausgabe, London 1704).
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Anton Friedrich Koch
Die Offenheit der Welt und der euklidische Raum der Imagination 1
Wenn ich meine philosophische Position nach einem Klassiker benennen müsste, dann nach Kant. Ihrer Gattung nach ist sie Kantianismus, und ihre spezifische Differenz ist eine Lehre – ich nenne sie Subjektivitätsthese – durch die sie zur Phänomenologie tendiert. Dies unter anderem verbindet mich mit László Tengelyi, dessen Andenken unsere Tagung gilt. Allerdings zielt mein Hang ins Phänomenologische im Allgemeinen, wenngleich nicht dieses Mal, eher auf Heidegger als auf Husserl. Doch auch darin bin ich vielleicht nicht allzu weit von Tengelyis theoretischen Motiven entfernt. Für dieses Mal möchte ich bei der reinen, transzendentalen Grundstellung des konkreten, leiblichen In-der-Welt-Seins, also ganz in der Nähe Kants, verharren. Kant lehrte einen transzendentalen Idealismus des reinen Raumes und der reinen Zeit, von dem er annahm, dass er sich auf das materielle Raum-Zeit-System vererben würde. Raum und Zeit und alles, was in ihnen ist, sind demnach wesensabhängig von unserer reinen, transzendentalen Subjektivität. Kant lehrte ferner einen empirischen Realismus des materiellen Raum-Zeit-Systems, von dem er annahm, dass er sich auf die reine Raum-Zeit der Imagination vererben würde. Empirische Subjekte sind demnach eingebettet in die empirisch gegebene raumzeitliche Wirklichkeit. In Wahrheit aber ist die transzendentale Subjektivität eine Abstraktion und keineswegs die reale Instanz, relativ zu der das materielle Raum-Zeit-System als ideal gedacht werden könnte. Und in Wahrheit treten das reine Raum-Zeit-System der Imagination und das
Der nachfolgende Text stimmt weitgehend mit Passagen aus meinem Buch Hermeneutischer Realismus, Tübingen 2016, Kapitel 1 und 4, überein. Dem Mohr Siebeck Verlag, der die Rechte hält, danke ich für die freundliche Genehmigung zum Wiederabdruck.
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Die Offenheit der Welt und der euklidische Raum der Imagination
materielle Raum-Zeit-System auseinander. Ersteres ist abstrakt und ideell, letzteres konkret und real. Ersteres – das reine Raum-Zeit-System – ist so beschaffen, wie Kant mit Newton und Newton mit Euklid von ihm und vom realen Raum-Zeit-System glaubten: streng euklidisch, kontinuierlich, homogen und 3+1-dimensional. Das reale Raum-Zeit-System hingegen ist durch die Massen, die in ihm vorkommen, leicht gekrümmt oder gekräuselt, also aus seiner idealen, euklidischen Grundstellung gebracht. Das lehrt die gegenwärtige Makrophysik, die allgemeine Relativitätstheorie. Und die gegenwärtige Mikrophysik, die Quantentheorie, lehrt oder legt nahe, dass der reale Raum und die reale Zeit vielleicht gequantelt sind: der Raum körnig, die Zeit tropfend. Außerdem spielen einige Physiker in der Theorie der Mikrosaiten (»théorie des cordes«, sagen die Franzosen »string theory« die Engländer) mit dem Gedanken parasitärer, kleiner, eingerollter Zusatzdimensionen. Nichtsdestoweniger bleibt unsere reine, apriorische Imagination an den euklidischen Raum und die zugehörige Zeit gebunden. »Kein Wunder«, wird man sagen dürfen, da die reine Imagination ja keine realen Massen herbeischaffen kann, die das imaginative Raum-ZeitSystem kräuseln, quanteln oder mit Zusatzdimensionen anreichern könnten. Mit der Subjektivitätsthese, die ich andernorts begründet habe und heute voraussetze, hat es Folgendes auf sich. 2 Wenn wir uns fragen, warum es unsereins gibt: lebendige, bewusste, denkende und sprechende Wesen, so lautet eine richtige Antwort, dass es uns gibt, weil unsere Existenz nach Naturgesetzen aus den Anfangsbedingungen des Weltprozesses folgt. Weil der Urknall so geschah, wie er eben geschah, mussten nach fundamentalen Naturgesetzen Galaxien, Sterne, Planeten und darunter die Erde entstehen und auf der Erde vor knapp vier Milliarden Jahren eine Urzelle, von der alles irdische Leben, auch das menschliche, abstammt. Allerdings hätte der Urknall ganz anders ausfallen, hätten also die Anfangsbedingungen des kosmischen Prozesses ganz andere sein können, als sie de facto waren. So scheint es jedenfalls. Und die Wahrscheinlichkeit, dass sie immerhin so ausfallen würden, dass nachher irgendeine Form von Leben, Bewusstsein und Intelligenz aufkäme, liegt nach allem, was die Physik uns lehrt, nur ganz unmerklich über Siehe Koch: Versuch über Wahrheit und Zeit sowie ders: Hermeneutischer Realismus, Kapitel 3.
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Anton Friedrich Koch
Null. Müssen wir also einen Schöpfergott als intelligenten Gestalter der kosmischen Entwicklung bemühen, der die Anfangsbedingungen des Weltprozesses auf nachmaliges Leben feinabgestimmt hat? Als eine im Erklären gleichwertige Alternative bietet Peter van Inwagen die Hypothese an, dass unser Universum eines unter unermesslich vielen wirklichen Universen ist, von denen nur sehr wenige, wie eben das unsere, Leben zulassen. 3 Allerdings ist diese Hypothese wohl nicht wissenschaftlich überprüfbar, weil uns Experimente stets nur über unser eigenes Universum Auskunft geben können. So scheint uns das Problem der kosmischen Feinabstimmung vor die wissenschaftlich unerfreuliche Wahl zwischen der unbeweisbaren Annahme vieler Universen und der unbewiesenen Annahme eines intelligenten Gestalters zu stellen. Doch wenn sich zeigen ließe, dass in jedem möglichen RaumZeit-System irgendwann und irgendwo leibliche, wahrnehmende und denkende Subjektivität vorkommt, wäre die Bandbreite möglicher Anfangsbedingungen des Weltprozesses durch die logische Notwendigkeit intelligenten innerweltlichen Lebens entsprechend eingeschränkt. Aus der Notwendigkeit verkörperter Subjektivität würde dann die Notwendigkeit von (empirisch näher zu bestimmenden) lebensfreundlichen Anfangsbedingungen folgen, ohne dass es eines intelligenten Gestalters oder einer Vielheit von Universen bedürfte. Allerdings müsste es sich bei der betreffenden Notwendigkeit um eine logische Notwendigkeit in einem erweiterten Sinn von »logisch« handeln; sonst wäre sie uns schwerlich bis jetzt verborgen geblieben. Logisch notwendig im engen Sinn sind die Wahrheiten der klassischen formalen Logik, das heißt die allgemeingültigen Sätze der Prädikatenlogik erster Stufe mit Identität. In einem erweiterten Sinn kann man auch die Theoreme der Mengenlehre, also der Mathematik, als logische Wahrheiten betrachten und in einem anderen, ebenfalls erweiterten Sinn die genuin philosophischen Wahrheiten, falls es dergleichen gibt. Aussichtsreiche Kandidaten sind transzendentallogische Theoreme im Sinne Kants und phänomenologische Wahrheiten im Sinne Husserls und Heideggers. Die Subjektivitätsthese besagt nun, dass es sich tatsächlich so verhält, wie hier erwogen, dass, mit anderen Worten, raumzeitlich verkörperte, lebendige Subjektivität, also unsereins, mit logisch-philosophischer Notwendigkeit irgendwo und irgendwann im Raum3
Für eine Ausarbeitung der Hypothese vgl. Van Inwagen: Metaphysics, S. 142 f.
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Die Offenheit der Welt und der euklidische Raum der Imagination
Zeit-System existiert. Die Feinabstimmung der kosmischen Anfangsbedingungen auf mögliches Leben hin wird damit zu einer logischen Notwendigkeit (die in der Physik unsichtbar bleibt) und führt uns nicht länger in Versuchung, ihretwegen einen intelligenten Gestalter zu postulieren. Die Subjektivitätsthese besagt ferner, dass auch umgekehrt jede mögliche Subjektivität in Raum und Zeit verkörpert ist. In dieser Janus-Köpfigkeit ist sie zentraler Bestandteil meines von Kant ausgehenden und zur Heidegger’schen Phänomenologie tendierenden hermeneutischen Realismus. Zwar hängt das Universum logisch davon ab, dass es unsereins gibt (nicht notwendig Menschen, aber doch intelligente Lebewesen), was die Subjektivitätsthese in die Nähe des Idealismus zu rücken scheint. Doch andererseits gibt es uns nur im Universum und ist das Universum viel älter und größer als wir und wird uns bei weitem überdauern. 4 Denn wir sind keine rein geistigen, sondern lebendige, sterbliche, innerweltliche Wesen. Insofern ist die These samt ihren weiteren Folgen eine Variante des Realismus. Aber sie ist kein metaphysischer Realismus, des Inhalts, das Reale sei unabhängig nicht nur von jeder einzelnen unserer Meinungen, sondern unabhängig auch davon, dass es überhaupt Meinungen gibt. Und sie ist ebenso wenig ein reduktiver szientifischer Realismus, dem zufolge die Naturwissenschaft und in letzter Instanz die Physik allein den Maßstab dessen setzt, was der Fall ist und was existiert. Sie ist auch kein neutraler Realismus, der die Frage, welche Kategorien von Gegenständen existieren, höchst inklusiv beantwortet, wie Markus Gabriel ihn vertritt. 5 Sondern sie ergreift beherzt Partei für die lebensweltlichen Dinge und Personen (und lässt natürlich auch die Physik zu ihrem relativen Recht kommen). Unsere Subjektivität und das Raum-Zeit-System stehen nach kantischer Lehre wie auch nach der Subjektivitätsthese in einem Verhältnis wechselseitiger wesentlicher Abhängigkeit, kurz: in einem Wechselverhältnis. Raum und Zeit sind notwendig um je meine SubMartin Wendte (Die Gabe und das Gestell) nennt meine Position mit gutem Recht einen Realidealismus und bringt sie mit Luther, Schelling und Heidegger in Verbindung, S. 15, 151, 204, 261, 482. Aber »hermeneutischer Realismus« ist mir als Etikett lieber, aus Gründen, die ich noch zu verdeutlichen hoffe. (Vermutlich wäre auch Heidegger, anders als Schelling, reserviert gegenüber der Bezeichnung seiner Lehre als Realidealismus gewesen.) 5 Vgl. Gabriel: »Neutraler Realismus«. 4
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jektivität zentriert, weswegen wir uns Raum und Zeit auch nicht von außen, sondern nur von innen, als uns umgebend, vorstellen können; und Subjektivität ist notwendig leiblich und zeitlich. Dieses Wechselverhältnis ist die Grundlage für unser Wissen a priori von Raum und Zeit, das wir in einer ursprünglichen raumzeitlichen Orientierung bei der Verankerung unseres informellen egozentrischen Koordinatensystems abrufen können. Aber wir müssen bedenken, dass die Wesensabhängigkeit wechselseitig ist, dürfen also nicht im Geist des Idealismus schlussfolgern, Raum und Zeit inhärierten einseitig »in« uns. Sondern wir sind auf die realistische Position festgelegt, dass auch wir im Gegenzug wesentlich von Raum und Zeit abhängig, also »in« ihnen sind, im Sinn der Inhärenz und ferner auch im gewöhnlichen raumzeitlichen Sinne. Kant hat in der transzendentalen Ästhetik versucht, die beiden Seiten dieser Abhängigkeit zu trennen und die Lehre zu begründen, Raum und Zeit seien im transzendentalen Sinn wesensabhängig von unserer Subjektivität und daher transzendental ideal, während wir im empirischen Sinn wesensabhängig von Raum und Zeit seien, was einen empirischen Realismus begründe. Diese Lehre ist in ihrem ersten Teil indessen ihrem Wortlaut nach durch die allgemeine Relativitätstheorie falsifiziert worden. Es lohnt sich aber, ihren Geist gegen Kritik in Schutz zu nehmen. Man kann versuchen, einen horizontalen kantischen Schnitt durch das Wechselverhältnis zu legen, um »oben« seine reinen, »unten« seine empirischen Anteile je für sich übrigzubehalten. Dieser Schnitt wird von Kant weniger vollzogen als beschrieben: Wir alle vollziehen ihn lebensweltlich, also vortheoretisch. Mittels seiner konstituiert sich unsere Einbildungskraft auf der einen, reinen, »oberen« Seite gegenüber der Wahrnehmung (und dem Wahrgenommenen) auf der anderen, der »unteren« Seite. Raum und Zeit sind nach Kant ja die reinen und allgemeinen Formen der sinnlichen Anschauung, und zwar sowohl des Anschauens (also unseres epistemischen Zugangs zu den Dingen) wie auch zugleich der angeschauten Dinge selber. Diese Doppelung verweist auf die Problematik einer Dualität, die für das Sensorische charakteristisch und die Basis des Rätsels des Bewusstseins ist: auf ein basales Dualitätsproblem, wie Joseph Levine es in seinem Buch Purple Haze genannt hat. Im sinnlichen Gewahren finden wir eine Bewusstseinsbeziehung, die als Beziehung zwei Relata braucht: Anschauungsakt und Angeschautes oder Erlebnis und Er72 https://doi.org/10.5771/9783495813768 .
Die Offenheit der Welt und der euklidische Raum der Imagination
lebtes. Aber das wirkliche Erleben kennt keine derartige Verzweigung. 6 Vielmehr besitzt ein und dasselbe phänomenale Erlebnis den qualitativen Charakter, der »für mich« – der meinem Geist gegenwärtig – ist, und ist zugleich das bewusste Gewahren selbst. 7 Kant sieht das Sensorische in einer Doppelrolle zunächst auf der Seite der Form, bei Raum und Zeit, während er auf der Seite der Materie dem Sensorischen die subjektseitige Rolle zuweist. Der subjektiven Empfindung, sagt er, soll objektseitig die Materie der Erscheinung entsprechen. Allerdings gibt es keinen raumzeitlichen Gehalt ohne Gestalt. Auch der subjektiven Empfindung ist ihre raumzeitliche Form also nicht zu nehmen. Daher müssen wir die Rede von einem kantischen Schnitt entschieden qualifizieren. Denn man kann zwar das reine, formale Moment der sinnlichen Anschauung in der Imagination, vom materialen »abschneiden« und für sich imaginieren, nicht aber umgekehrt das materiale Moment vom formalen, nicht einmal in der Imagination. Wenn daher die Imagination das Wechselverhältnis von Subjektivität und Raum-Zeit auseinanderlegt, bleibt auf der Seite des Inhalts alles, wie es war. Nur die Form tritt auf ihrer Seite rein für sich hervor, allerdings nicht substantiell, sondern nur ideell, d. h. als Inhalt einer Vorstellung, und zwar hier nicht einer diskursiven oder gehaltvoll sinnlichen, sondern einer reinen imaginativen Vorstellung. Auch die wesentliche Leiblichkeit der Subjektivität und die erfüllte Wahrnehmung sind aus dieser reinen Imagination getilgt, so dass vom Subjekt nur der leere Blickpunkt der raumzeitlichen Perspektive übrig bleibt: ein leeres Ich-hier-jetzt, dessen räumliche Verankerung in je meinem Leib und zeitliche Verankerung in je meinem Wahrnehmungsbewusstsein der abstrahierenden Kraft der Imagination zum Opfer fielen. Nur die leere, homogene, kontinuierliche, drei-plus-eins-dimensionale, euklidische Raum-Zeit, zentriert um ein verlassenes Hier und Jetzt, ist noch vorhanden. Vom anschaulich konkreten Wechselverhältnis je meines Leibes und Wahrnehmungsbewusstseins auf der einen Seite und des ganzen materiellen RaumZeit-Systems auf der anderen Seite blieb nur ein imaginativ abstraktes, »reines« Wechselverhältnis-Gerüst mit leergeräumter Perspektive und unbesetztem Blickpunkt übrig. Es bildet die streng eukliSinngemäßes Zitat von Levine: Purple Haze, S. 168. »It is the quale, the phenomenal experience, that at once has the qualitative character that is ›for me‹, present to my mind, and also is the awareness itself.« Ebd., S. 173.
6 7
73 https://doi.org/10.5771/9783495813768 .
Anton Friedrich Koch
dische, leere Schreibtafel meiner Einbildungskraft und kann in reproduktiver Imagination mit Gehalten meiner Erinnerung neu beschrieben werden. Nicht jedoch kann imaginativ sein euklidischer Charakter aufgehoben werden. Denn eingebildete Objekte haben nicht die reale Masse, um das Raum-Zeit-System aus seiner ideellen, euklidischen Grundstellung zu bringen, und entfalten auch sonst keine realen Wechselwirkungen, um es etwa zu quanteln, es diskontinuierlich – den Raum körnig, die Zeit tropfend – zu machen oder mit kleinen, parasitären Zusatzdimensionen anzureichern. Die transzendentale Idealität von Raum und Zeit erweist sich demnach als die Idealität, näher Imaginativität, des nicht nur kontrafaktischen, sondern sogar kontrapossiblen Grenzfalles, in dem Raum und Zeit absolut leer, zentriert allein um eine leere Zentralperspektive, wären. Anders als Kant dachte, vererbt sich diese Idealität aber keineswegs auf das reale, materielle Raum-Zeit-System. Vielmehr vererbt sich nur umgekehrt die Realität der massiven Dinge auf Raum und Zeit. So ideell Raum und Zeit in ihrer reinen, imaginativen, kontrapossiblen Grundstellung auch sein mögen, so real sind der wirkliche Raum und die wirkliche Zeit. Zugleich sind sie notwendigerweise aus ihrer euklidischen Grundstellung gebracht, und sei es auch nur geringfügig. Die Realität von Raum und Zeit kann nachgerade mit ihrer Abweichung von der Euklidizität identifiziert werden. Hier stehen wir an der nie versiegenden Quelle unseres Hangs zu metaphysischen Abwegen. Das Raum-Zeit-System in seiner reinen, kontrapossiblen, imaginativen Grundstellung ist nicht nur kontinuierlich und euklidisch, sondern auch homogen und in seiner Homogenität epistemisch transparent: Alle seine Gegenden sind der Imagination vollkommen gegenwärtig, und alle sind gleich, nichts an ihnen ist verborgen. Wie Kant unangefochten davon ausging, dass sich die Euklidizität des reinen Raum-Zeit-Systems auf die Dinge übertragen würde, so gehen wir reflexartig davon aus, dass auch seine epistemische Transparenz sich im Prinzip überträgt. Zwar verstellen Dinge typischerweise den epistemischen Zugang zu anderen Dingen und feste, undurchsichtige Oberflächen den Zugang zum Inneren der Dinge. Aber diese Abschattungen sind nach unserer gewöhnlichen Einschätzung nicht prinzipieller, sondern faktischer Natur. Die Wissenschaften spätestens machen den Weg der Erkenntnis frei: um Dinge herum zu verstellten Dingen und durch Oberflächen ins Innere der Natur. 74 https://doi.org/10.5771/9783495813768 .
Die Offenheit der Welt und der euklidische Raum der Imagination
Natürlich hätten wir gewarnt sein sollen. Das Kontinuum kann nichts Reales enthalten; es ist transzendentaler, nicht realer Raum (und Zeit). Reale Dinge würden es zwar realisieren, aber ipso facto auch deformieren und quanteln. Im transzendentalen Raum wären ob dessen unendlicher Teilbarkeit die Dinge nicht unterzubringen; zwingt man sie imaginativ hinein, so müssen sie zu infinitesimalem Staub zerfallen. Aber das transzendentale, imaginative Raum-Zeit-System ist seinerseits nicht einfach nichts, sondern für alle möglichen realen Raum-Zeiten die transzendental notwendige und metaphysisch unmögliche Grundstellung, die wir a priori kennen und von der die möglichen realen Raum-Zeiten in systematischen Weisen abweichen. Das transzendental Notwendige ist insofern zwar metaphysisch unmöglich (und das metaphysisch Notwendige transzendental unmöglich), aber dennoch der Grenzfall, gegen den alles Reale notwendigerweise konvergiert, wenn es imaginativ ausgedünnt und dem reinen Vakuum angenähert wird. So ist denn auch das reale, materielle Raum-Zeit-System immerhin beinahe euklidisch: euklidisch im Großen, weil dann die RaumZeit-Krümmungen durch einzelne Massen kaum noch ins Gewicht fallen; und euklidisch im Kleinen, weil Krümmungen durch Massen im Infinitesimalen gegen Null gehen. Vollkommen euklidisch ist hingegen die Raum-Zeit der Imagination und kann nicht anders sein, da sie ja nichts Reales enthält, was sie krümmen könnte. Daher kommt es, dass unsere Imagination auch heute noch wider besseres Wissen Raum und Zeit nur als euklidische Kontinua vorstellen kann. Wahrnehmen zwar können wir Raum-Zeit-Krümmungen, wenn auch unter anderer Beschreibung, nämlich als massive Objekte, aber wir können sie uns nicht vorstellen, weil in der imaginativen Vorstellung nichts Massives übrigbleibt, um die Krümmung zu induzieren. So treten Wahrnehmung und Imagination ebenso radikal auseinander wie die transzendentalen und die metaphysischen Modalitäten. Was wir wahrnehmen, können wir nicht imaginieren, und was wir imaginieren, können wir nicht wahrnehmen. Folglich sind Wahrnehmung und Imagination intrinsisch unverwechselbar. Halluzinationen sind also keine Einbildungen, sondern Fehlwahrnehmungen, Fehllokalisationen ungewöhnlicher empirischer Gehalte, etwa gewisser Gehirnzustände, die normalerweise dienstbar und unbeachtet im Hintergrund des Wahrnehmungsfeldes bleiben. Unter bestimmten 75 https://doi.org/10.5771/9783495813768 .
Anton Friedrich Koch
Nichtstandard-Bedingungen werden sie phänomenal-qualitativ auffällig, und wir projizieren sie dann, weil wir Gehirnzustände sonst nicht wahrnehmen, sondern achtlos übergehen, unwillkürlich in unsere äußere Umgebung und versuchen, sie narrativ in unser Leben einzupassen. Wären sie Einbildungen, so würden wir uns von ihnen nicht täuschen lassen. Weil das transzendental Notwendige metaphysisch unmöglich ist, dürften wir den transzendentalen Grenzfall nie und nirgends für realisiert halten, tun es aber reflexartig allenthalben, denn unsere Imagination sträubt sich gegen das metaphysisch Notwendige. So stellen wir uns unter das Ideal des Transparentismus und ignorieren dabei, dass im Kontinuum nichts Kleinstes, ja nicht einmal Kleines, Mittelgroßes und Großes vorkommen kann. Es gibt kein Maß im Kontinuum, wie Quine einmal unter Berufung auf Poincaré verdeutlicht hat. Poincaré nämlich brachte einst als empirisch äquivalente Alternative zur gewöhnlichen Vorstellung des unendlichen Raumes, in dem die Festkörper sich bewegen, ohne zu schrumpfen oder zu wachsen, einen endlichen kugelförmigen Raum ins Gespräch, in dem die Körper gleichförmig schrumpfen, wenn sie sich vom Mittelpunkt wegbewegen. 8 Objektive Größenmaße haben wir, wie wir a priori wissen und gern vergessen, allein am je eigenen Leib als einem Quäntchen qualitativen Raumes, das nicht schrumpft oder wächst, wenn es sich im Raum bewegt, und am je eigenen Wahrnehmungsbewusstsein als einem Quäntchen qualitativer Zeit. Einen präzisen, universalen Widerhalt für diese ungefähren, je persönlichen (wenn auch objektiven) Größenmaße wird es nur geben können, wenn der reale Raum und die reale Zeit kraft ihrer Realisierung zugleich gequantelt sind. Im Kontinuum, wie gesagt, gibt es kein Maß, keine Quanten oder Quäntchen qualitativer Raum-Zeit. Für Kants transzendentale Ästhetik folgt daraus, dass ihr transzendentaler Idealismus als notwendige Wahrheit a priori nur für die reine Raum-Zeit der Imagination, für die realen raumzeitlichen Dinge und Ereignisse aber allein im reinen, leeren, kontrapossiblen Grenzfall gilt. Der empirische Realismus dagegen gilt für die Dinge und die Raum-Zeit gleichermaßen. Es gibt somit nichts, was sowohl transzendental ideal als auch empirisch real wäre, sondern das Transzendentale ist das Ideelle, näher rein Imaginative, und das Empirische 8
Quine: Pursuit of Truth, S. 96 f.
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Die Offenheit der Welt und der euklidische Raum der Imagination
ist das Reale. Durch diese Modifikation wird die transzendentale Ästhetik widerspruchsfrei mit der allgemeinen Relativitätstheorie und ebenso mit der Quantenphysik vereinbar, wie es sich im Übrigen für eine philosophische Theorie gehört, die ja als solche immun gegen empirische Widerlegungen und gleichwohl welthaltig, substantiell sein muss. Das reine und abstrakte Wechselverhältnis-Gerüst der Imagination, das zum Transparentismus und zu atomistisch-modularer Metaphysik verführt, ist die kontrapossible Grundstellung des realen und konkreten Wechselverhältnisses, in dem je ich jeweils jetzt zum materiellen Raum-Zeit-System stehe, dessen verschwindend kleiner Teil ich zugleich bin. Aus der Subjektivitätsthese folgt also eine Kritik des Transparentismus. Allerdings ist schon die affirmativ geführte Rede von möglichen Welten als wohlbestimmten Großindividuen transparentistisch. Solche Großindividuen gibt es nicht und kann es nicht geben – ein Grund mehr im Übrigen, warum es die Welt nicht gibt, 9 die wirkliche Welt als großes Individuum nämlich, die es in Wahrheit nur gibt als offenen Horizont für Wechselverhältnisse. Wenn dem aber so ist, dann ließe sich im Nachhinein vielleicht die Subjektivitätsthese als Zwischenresultat einer Reductio – als Sprosse einer Beweisleiter, die nach Gebrauch weggeworfen werden kann – aus dem Endergebnis wieder herauskürzen, und es bliebe allein die Lehre vom allseitigen Wechselverhältnis der Dinge in Raum und Zeit und mit der Raum-Zeit; ein Bild, wie es Adorno unter dem Leitbegriff des Nichtidentischen, des ontisch Unscharfen, vorgeschwebt haben mag. 10 Doch aus der Widerlegung des Transparentismus folgt nicht die Ungültigkeit von Argumentationen, die sich der Vorstellung möglicher Welten bedienen. Der Transparentismus samt der Rede von möglichen Welten, möglichen Raum-Zeit-Systemen, ist legitim im transzendentalen, kontrapossiblen Grenzfall, der die reine, leere Grundstellung möglicher Raum-Zeit-Systeme darstellt.
Vgl. den bekannten Buchtitel von Markus Gabriel: Warum es die Welt nicht gibt. Einen in mancher Hinsicht verwandten Vorschlag, der ebenfalls ohne die Notwendigkeit von Subjekten auskommt, macht Konrad Utz in Philosophie des Zufalls unter dem Leitbegriff des Ereignisses, vgl. insbesondere Kapitel II des Buches. In vielen Punkten vertrete ich ähnliche Positionen wie Utz. Eine Auseinandersetzung mit seiner Philosophie des Zufalls muss ich auf eine andere Gelegenheit verschieben.
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Anton Friedrich Koch
Auch in der theoretischen Physik werden idealisierte, kontrapossible Grenzfälle betrachtet – Massepunkte in der vorrelativistischen und punktförmige Ereignisse in der relativistischen Physik –, die es nicht geben kann, für die aber diejenigen Gesetze exakt gelten, die für Festkörper und reale Prozesse desto genauer gelten, je mehr diese sich in ihren Ausmaßen Massepunkten bzw. punktförmigen Ereignissen annähern. Da nun die reine, euklidische Grundstellung transzendental notwendig, d. h. für alle möglichen materiellen Raum-Zeit-Systeme dieselbe ist, wird auch die transparentistische Vorstellung möglicher Welten als Mittel der philosophischen Argumentation weiterhin gebraucht werden können. Man muss sich nur dessen bewusst sein, dass man dabei aus der reinen Grundstellung und dem idealen, kontrapossiblen Grenzfall argumentiert, und dies bei der Anwendung auf die Realität entsprechend berücksichtigen.
Literatur Gabriel, Markus: Warum es die Welt nicht gibt, Berlin 2013. Gabriel, Markus: »Neutraler Realismus«, in: Philosophisches Jahrbuch 121 (2/2014), S. 352–372. Koch, Anton Friedrich: Hermeneutischer Realismus, Tübingen 2016. Koch, Anton Friedrich: Versuch über Wahrheit und Zeit, Paderborn 2006. Levine, Joseph: Purple Haze. The Puzzle of Consciousness, Oxford 2001. Quine, W. V. O.: Pursuit of Truth. Revised Edition, Cambridge (Mass.) und London 1992. Utz, Konrad: Philosophie des Zufalls. Ein Entwurf, Paderborn 2005. Van Inwagen, Peter: Metaphysics, Oxford 1993. Wendte, Martin: Die Gabe und das Gestell. Luthers Metaphysik des Abendmahls im technischen Zeitalter, Tübingen 2013.
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András Schuller
Der Satz vom Ungrund. Der schellingsche Überwindungsversuch der Ontotheologie als Vorläufer der phänomenologischen Metaphysik bei László Tengelyi Einleitung In seinem letzten, unter dem Titel Welt und Unendlichkeit erschienenen Werk legt László Tengelyi – von der heideggerschen SchellingDeutung 1 ausgehend – die Spätphilosophie des Leonberger Philosophen als einen Überwindungsversuch der traditionellen, d. h. als Ontotheologie verstandenen Metaphysik aus, und in diesem Sinne scheint er in der Metaphysik des späten Schellings den Vorläufer jener phänomenologischen Metaphysik zu erblicken, die zur traditionellen Ontologie ebenfalls eine radikale Alternative zu bieten sucht. In diesem Aufsatz habe ich vor, im Anschluss an Tengelyis letzte Monographie nicht nur – wie Tengelyi selbst – Schellings Seinsdenken in seiner späten, sondern schon in seiner mittleren Periode als Antizipation der phänomenologischen Metaphysikauffassung darzustellen. Demzufolge wird mein Beitrag sich in zwei Teile untergliedern. Im ersten Teil werde ich die Hauptintentionen der phänomenologischen Metaphysik am Leitfaden ihrer Auseinandersetzung mit der Tradition der abendländischen Metaphysik rekonstruieren und ich werde daraufhin darlegen, dass und inwiefern das schellingsche Seinsdenken mehrere Bestrebungen der phänomenologischen Metaphysik antizipiert. Im zweiten Teil werde ich die Krisis der traditionellen Metaphysik als Ontotheologie und seinen ihren ersten schellingschen Überwindungsversuch nach den zwei verschiedenen ontologischen Grundlegungen der Freiheitsschrift (eines der Hauptwerke aus Schellings mittlerer Periode) darstellen. Dementsprechend fange ich mit der Darlegung der phänomenologischen Metaphysik und ihres Pendants, der Ontotheologie-Geschichtsschreibung an.
1
Siehe Heidegger: Schelling.
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András Schuller
1.
Die phänomenologische Metaphysik und ihr Schatten, die Ontotheologie-Geschichtsschreibung
Im dritten Teil von Welt und Unendlichkeit unternimmt Tengelyi nichts geringeres als die Ausarbeitung seiner eigenen phänomenologischen Metaphysik. Diese von Tengelyi entworfene Variante der phänomenologischen Metaphysik knüpft an zwei Richtungen der Philosophie der letzten hundert Jahre an: einerseits an die gewisser Phänomenologen – von Husserl und Heidegger, über Sartre, Merleau-Ponty und Levinas bis hin zu Henry, Richir und Marion –, die anhand spezifisch phänomenologischer Methoden Metaphysik betreiben; und andererseits an die der überwiegend von französischen Philosophiehistorikern vorangetriebenen Erforschung der Philosophiegeschichte, d. h. an die sogenannte Ontotheologie-Forschung, die die von Heidegger als Ontotheologie charakterisierte Grundstruktur der ganzen abendländischen Metaphysik 2 auf die Beschreibung der metaphysischen Systeme einzelner Hauptfiguren der Philosophiegeschichte anwendet.
1.1
Von der antimetaphysischen Phänomenologie zur Phänomenologie als Metaphysik
Was die Strömung der phänomenologischen Metaphysik anbelangt, die Tengelyi im zweiten Teil von Welt und Unendlichkeit rekonstruiert, ist es gar nicht selbstverständlich, dass Metaphysik von einer strikt phänomenologischen Einstellung aus überhaupt möglich ist. Wie Tengelyi behauptet, stellt sich die Phänomenologie seit jeher der traditionellen, d. i. spekulativen Metaphysik entgegen. 3 Der Grund dafür besteht darin, dass im Gegensatz zur traditionellen Metaphysik, die über die ersten Gründe und letzten Ursachen der Wirklichkeit nur spekuliert und eigentlich nur spekulieren kann, die ihrem husserlschen Gründungsprogramm nach antispekulative Phänomenologie der bloßen Spekulation über die ersten Gründe und letzten Vgl. u. a. öfters im Abschnitt unter dem Titel Die onto-theo-logische Verfassung der Metaphysik des Aufsatzes Identität und Differenz, S. 51–79; z. B.: S. 63: »Die Metaphysik ist Onto-Theo-Logie« oder S. 64: »die Wesensherkunft der onto-theologischen Struktur aller Metaphysik«. 3 Vgl. Gondek und Tengelyi: Neue Phänomenologie in Frankreich, S. 211 und Tengelyi: Welt und Unendlichkeit, S. 180. 2
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Der Satz vom Ungrund
Ursachen der Realität gerade absagt, insofern sie als apriorische, »strenge Wissenschaft« sich nur auf die Untersuchung der Phänomene, d. i. auf die Analyse des in der Erfahrung Erscheinenden reduziert, und auf diese Weise alle Spekulation verhütet. 4 Nichtsdestoweniger bedeutet die Tatsache, dass die Phänomenologie der »lauten« Spekulation über die ersten Gründe und höchsten Ursachen der Wirklichkeit absagen soll, keineswegs, dass sie auf die Untersuchung der letzten Tatsachen der Realität überhaupt verzichten soll. Da die phänomenologische Tradition von Husserl bis Marion eine Reihe von Faktizitätsstrukturen entdeckt – wie zum Beispiel das jeweilige Ich, seine »Welthabe«, seine Geschichtlichkeit, sein Miteinandersein mit anderen Egos 5 und das Erscheinungsereignis selbst 6 –, die die Erfahrung jedes Phänomens notwendigerweise begleiten, könnten sie als Bedingungen aller Erscheinung ausgelegt werden. In diesem Sinne entwerfen diese sogenannten Urtatsachen, um nicht gerade zu schreiben: Ur(tat)sachen, die Umrisse einer in spezifisch phänomenologischer Weise, d. h. auf Basis echter Erfahrung konzipierten Metaphysik, die der ganzen Tradition der spekulativen Metaphysik gegenübersteht und eine radikale Alternative dazu bietet. 7 Von diesem Gesichtspunkt aus scheint es schon von vornherein bemerkenswert, dass Tengelyi – anstatt die husserlsche Metaphysik der Urtatsachen als den ersten Überwindungsversuch der traditionellen Metaphysik zu loben – schon im letzten Kapitel des ersten Teils seines Welt und Unendlichkeit, d. h. schon vor der den zweiten Teil seines Buches bildenden Darstellung der phänomenologischen Metaphysik einen anderen Verwindungsversuch, nämlich den des späten Schelling anspricht, der noch dazu einen spekulativen, ja sogar höchst spekulativen Überwindungsversuch der als Onto(-theo-)logie verstandenen metaphysischen Tradition darstellt. 8
Vgl. Tengelyi: Fenomenológia, S. 51–52 und Tengelyi: Welt und Unendlichkeit, S. 14–15. 5 Vgl. Tengelyi: Fenomenológia, S. 50–51 und Tengelyi: Welt und Unendlichkeit, S. 184–185. 6 Vgl. Tengelyi: Fenomenológia, S. 54 und Tengelyi: Welt und Unendlichkeit, S. 190. 7 Vgl. Gondek und Tengelyi: Neue Phänomenologie in Frankreich, S. 211–212 und Tengelyi: Welt und Unendlichkeit, S. 14. 8 Ebd., S. 154–168. 4
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András Schuller
1.1.1
Seinsgrundlosigkeit: Metaphysik der Urtatsachen versus Metaphysik der Ursachen
Die Parallele zwischen dem phänomenologischen und dem schellingschen Anliegen, die traditionelle Metaphysik zu überwinden, ist aber bei weitem nicht die einzige. Obgleich die Urtatsachen der phänomenologischen Metaphysik als die letzten Bedingungen aller Erscheinung verstanden werden können, geht es keineswegs darum, dass sie als Gründe im kausalen Sinne, d. i. als Ursachen aufgefasst werden könnten. 9 Die Tatsache, dass es jedes Phänomen notwendigerweise für ein jeweiliges Ich in einem bestimmten Raum- und Zeithorizont sowie in einer mit den anderen Egos geteilten Welt gibt, bedeutet keineswegs, dass das jeweilige Ich, seine Raum- und Zeithorizonte oder die Anderen, mit denen es eine Welt teilt, das Erscheinen der Phänomene verursachen würden. Deswegen scheint die Phänomenologie eine überaus bedeutsame Erneuerung der metaphysischen Tradition zu verheißen; nicht nur in dem Sinne, dass sie eine spekulationsfreie Metaphysik ausarbeitet, sondern auch in dem Sinne, dass sie selbst noch die Bestimmung der Metaphysik umdeutet. 10 Während die traditionelle Metaphysik dazu bestimmt war, die Wirklichkeit, d. h. das Sein der Seienden durch einen ersten Seinsgrund, durch eine letzte Ursache des Seins zu begründen, beugt die phänomenologische Metaphysik durch das Aufzeigen der bloß zufälligen Faktizität der Urtatsachen 11 allen Begründungsversuchen als solchen Vgl. Tengelyi: Fenomenológia, S. 51–52 und Welt und Unendlichkeit, S. 14–15. Vgl. Gondek und Tengelyi: Neue Phänomenologie in Frankreich, S. 211–212 und Tengelyi: Welt und Unendlichkeit, S. 180. 11 Unter »zufälliger Faktizität«, d. i. »notwendiger Zufälligkeit« der Urtatsachen versteht man eine janusköpfige Modalität: Einerseits ist es notwendig, dass es die Urtatsachen gibt; andererseits aber ist es zufällig, was sie sind, d. h. in welchen jeweiligen konkreten Wesen es sie gibt. In diesem Sinne ist die notwendige Zufälligkeit der Urtatsachen der Urzufälligkeit der schellingschen uranfänglichen Seinsfigur, nämlich des »grundlos Seiende[n]« ähnlich, insofern das ehemalige Dasein – ich würde sagen: Dass-Sein – dieses zufälligerweise bestehenden Urseins sich von einem retrospektiven Standpunkt aus als notwendig erweist. Weiterhin handelt es sich, was den Unterschied zwischen den Dass- und Was-Strukturen, der Existenz und der Essenz anbelangt, um nichts anderes als das schellingsche Differenzkriterium, dass die eigentliche Metaphysik des späten Schelling, die sogenannte positive Philosophie, von der Ontologie der bisherigen Philosophiegeschichte als »negative Philosophie« unterscheidet. Während die negative Philosophie sich mit der Washeit, der Essenz des höchsten und eigentlichen Seienden als Gott beschäftigt und während sie nicht von seiner Essenz aus zu seinem wirklichen Sein gelangen kann, fängt die positive Philosophie mit der 9
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82 https://doi.org/10.5771/9783495813768 .
Der Satz vom Ungrund
vor. 12 Anders gesagt: Während die als Ontologie, als Logik des Seienden verstandene traditionelle Metaphysik einen Seinsgrund, einen Logos des Seienden von vornherein voraussetzt, kündigt die phänomenologische Metaphysik nichts Geringeres auf als die Begründbarkeit, d. i. die Logos-haftigkeit der Wirklichkeit bzw. der Erscheinungsereignisse der Phänomene. Wie Tengelyi auch andeutet 13, hat die phänomenologische Bewegung von diesem zweiten Standpunkt aus betrachtet wiederum keinen anderen Vorläufer als den späten Schelling, der die Ontologie verwindet durch den Rückgang zu der uranfänglichen Seinsfigur, zu dem »grundlos [ich würde sagen: alogisch, a-rational – A. Sch.] Seiende[n]«, »allem Denken [noch einmal: allem Logos – A. Sch.] vorhergehende[n]« und ebendeshalb »unvordenkliche[n] Seyn« 14, und derart eine ganz neue Art von Metaphysik errichtet. Vorläufig würde ich diese bahnbrechende neue Metaphysik als Ontonomie bezeichnen, in dem Sinne, dass es, »nicht weil es ein Denken gibt, ein Seyn« gibt, sondern dass es, »weil ein Seyn ist, […] es ein Denken« 15 gibt, und es also das Sein ist, welches dem Denken das Gesetz, den Nomos gibt und nicht umgekehrt, wie es in der Ontologie der Fall ist.
1.2
Die Metaphysik als Ontotheologie
Was den anderen Ausgangspunkt der von Tengelyi ausgearbeiteten Variante der phänomenologischen Metaphysik, die OntotheologieForschung, betrifft, deren akkurater Rekonstruktion Tengelyi den ersten Teil von Welt und Unendlichkeit widmet, so geht es hier um eine Richtung der Philosophiegeschichtsschreibung, deren Bestreben darin besteht, den heideggerschen Entwurf einer »onto-theo-logischen Verfassung der Metaphysik« 16 auf die Beschreibung der Dassheit, der wirklichen Existenz, oder eher Seiendheit Gottes an und gelangt von dieser seiner Existenz zu seiner Essenz. Insofern es im Falle des »grundlos Seiende[n]« um eine solche notwendige, aber aller Essenz vorhergehende, und in diesem Sinne zufällige Seinsfigur geht, kann es als eine notwendige Urzufälligkeit, als Vorläufer der notwendigen Zufälligkeit der Urtatsachen erklärt werden. 12 Vgl. Tengelyi: Fenomenológia, S. 52. 13 Vgl. Tengelyi: Welt und Unendlichkeit, S. 167–168. 14 Schelling: Philosophie der Offenbarung (I), S. 337. 15 Schelling: Philosophie der Offenbarung (II), S. 161. 16 Siehe die 2. Fußnote.
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András Schuller
Grundstrukturen der metaphysischen Untersuchungen der philosophischen Tradition anzuwenden. Was Heidegger unter der »ontotheo-logischen Verfassung der Metaphysik« versteht, ist nichts anderes als eine gewisse Doppelbestimmung der »Seiendheit des Seienden« 17, die sowohl nach seiner Überzeugung als auch nach Meinung der Ontotheologie-Forscher alle Metaphysik der Philosophiegeschichte von Platon bis Nietzsche charakterisiert. Einerseits ist die Metaphysik die Wissenschaft, die das Seiende als Seiendes untersucht; andererseits aber ist dieselbe Metaphysik zugleich die Wissenschaft, die sich vor allem mit einem ausgezeichneten Seienden befasst: mit der ersten und letzten Ursache des Seins der anderen Seienden, die unter seinem gewöhnlichen Namen als Gott bekannt ist. Dementsprechend erweist sich die Metaphysik einerseits als »Wissenschaft vom Sein«, andererseits als »Wissenschaft vom höchsten und eigentlichem Seienden«. 18 Heidegger beschreibt diese Doppelbestimmung in folgender Weise: Denkt die Metaphysik das Seiende im Hinblick auf seinen jedem Seienden als solchem gemeinsamen Grund, dann ist sie Logik als Onto-Logik. Denkt die Metaphysik das Seiende als solches im Ganzen, d. h. im Hinblick auf das höchste, alles begründende Seiende, dann ist sie Logik als Theo-Logik. 19
1.2.1
Die Ontotheologie als (Fundamental-)Ontologie und Metontologie
Dieser Doppelsinn der Metaphysik als Onto-theo-logie ist im Zusammenhang des Gedankengangs dieses Aufsatzes in zweifacher Hinsicht bemerkenswert. Erstens ist sie insofern von Interesse, als die heideggersche Erkenntnis dieser Doppelbestimmung nicht nur die ontotheologische Philosophiegeschichtsschreibung seiner späteren Nachfolger, sondern auch die Entfaltung des heideggerschen Seinsdenkens selbst befruchtet. Wie Tengelyi durch seine subtile Analyse der Umstrukturierungen innerhalb des heideggerschen Denkwegs nachweist, kann einerseits seine das Seiende als solches untersuchende Fundamentalontologie als Abkömmling des ontologischen Aspektes der Ontotheologie, d. i. der »Wissenschaft vom Sein«, und andererseits seine sogenannte Metontologie, die sich mit dem Seienden im Gan17 18 19
Heidegger: Wegmarken, S. 378. Heidegger: Die Grundbegriffe der antiken Philosophie, S. 149. Heidegger: Identität und Differenz, S. 76.
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Der Satz vom Ungrund
zen beschäftigt, als Deszendent des theologischen Aspektes der Ontotheologie, d. h. der »Wissenschaft vom höchsten und eigentlichen Seienden«, ausgelegt werden; nämlich derart, dass es die Welt als Gesamtheit der Seienden ist, die im Falle der Metontologie als Repräsentanten des Seienden im Ganzen an Stelle von Gott, dem höchsten und eigentlichen Seienden tritt. 20 Da jedoch Tengelyi in seiner eigenen phänomenologischen Metaphysik auf der einen Seite eine Analyse der Dingerfahrung an die Stelle der Fundamentalontologie, auf der anderen Seite eine Analyse der Wirklichkeit der Welt an die Stelle der Metontologie setzt, scheint seine phänomenologische Metaphysik nicht bloß die Erbin des heideggerschen Denkens, sondern dadurch auch eine, und zwar von Grund aus umgestaltete Erbin der Ontotheologie zu sein. 21 1.2.2
Von der Doppelbestimmung zur Doppelsinnigkeit: Über die problematische Zweiheit der Ontotheologie
Der zweite Aspekt jener Bedeutsamkeit bezüglich der Doppelbestimmung von Metaphysik als Ontotheologie besteht des Weiteren darin, dass der Doppelsinn der Metaphysik nicht so unproblematisch, ja nicht so unverfänglich ist, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Es geht nicht allein um einen simplen Doppelsinn, sondern auch um eine mit schweren Folgen belastete Doppelsinnigkeit. Es handelt sich dabei nämlich nicht nur um eine einfache Homonymie, wonach die Philosophen bald Ontologie, bald Theologie unter Metaphysik verstehen und bald Ontologie, bald Theologie betreiben. Es geht auch nicht bloß um eine untrennbare Zusammengehörigkeit der Ontologie und der Theologie, mithin der Wissenschaft vom Sein und der Wissenschaft vom höchsten und eigentlichen Seienden, die sowohl Heidegger in gewissen Phasen seiner Laufbahn als auch Tengelyi durch die Umdeutung beider innerhalb seiner phänomenologischen Metaphysik affirmativ aufgreifen. Es handelt sich vielmehr auch um eine Einheit, noch dazu um eine »ungedachte Einheit« 22, d. i. um eine Vermengung der Wissenschaft vom Sein und der Wissenschaft des höchsten und eigentlichen Seienden, die sich Heidegger zufolge aus der Vergessenheit der ontologischen Differenz ergibt. Er bringt diese 20 21 22
Vgl. Tengelyi: Welt und Unendlichkeit, S. 29–45; v. a. S. 33. Vgl. ebd., S. 303–433. Heidegger: Identität und Differenz, S. 63.
85 https://doi.org/10.5771/9783495813768 .
András Schuller
Vermengung selbst auf eine lapidare Formel: »[Die Metaphysik] nennt das Sein und meint das Seiende als das Seiende« 23. Nach Heidegger ist es eben auf diese Vermengung, diese ungedachte Gleichsetzung des Seins mit dem höchsten und eigentlichen Seienden zurückzuführen, dass die ganze abendländische Metaphysik versäumt, die Frage nach dem Sein als solchem zu stellen. 1.2.3
Vom Satz vom Grund zum Satz vom Abgrund: Über die aporetische Struktur aller Ontotheologie
Denkt man hingegen die Gleichsetzung der Ontologie mit der Theologie, d. h. fasst man Metaphysik als Ontotheologie auf, so sieht die Lage auch nicht viel besser aus. Will Heidegger diese Gleichsetzung denken, so muss er nämlich dem Zirkel des doppelten Gründungszusammenhangs des Seins entgegensehen. Dieser circulus vitiosus besteht darin, dass es der Ontologie zufolge das Sein ist, das das Seiende als solches, d. i. alles Seiende und somit folgerichtigerweise auch das höchste und eigentliche Seiende gründet; der Theologie zufolge hingegen ist es ein ganz bestimmtes Seiendes, »das Seiende als das Seiendste« 24, d. i. das höchste und eigentliche Seiende, das das Sein selbst begründet. 25 Oder wie Heidegger selbst diesen Zirkel der ontotheologischen Doppel(be)gründung formuliert: Das Gründen selber [d. i. das Sein als solches] erscheint […] als etwas, das ist, was somit selber, als Seiendes, die entsprechende Begründung durch Seiendes, d. h. die Verursachung und zwar die durch die höchste Ursache verlangt. 26
Da es keinen einheitlichen Grund gibt, welcher der Grund für die Seiendheit der Seienden wäre, sondern es in der Tat nur zwei unterschiedliche Gründe gibt, das Sein als solches und das höchste und eigentliche Seiende, die je der Seinsgrund nicht nur einfach der gemeinhin Seienden, sondern auch derjenige des jeweils anderen »Grundes« sind, so ist es nichts Geringeres als der berühmte Satz vom Grund, der durch die heideggersche Aufdeckung der »ontotheologische[n] Wesensverfassung« 27 aller Metaphysik keinen Halt, – ich 23 24 25 26 27
Heidegger: Wegmarken, S. 370. Heidegger: Identität und Differenz, S. 75. Vgl. ebd. Ebd., S. 75–76. Ebd., S. 64.
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Der Satz vom Ungrund
würde sagen – keinen Grund oder genauer keinen einheitlichen Grund mehr gewährleistet. So beweist die kritische Beschreibung der Ontotheologie nichts anderes als die letzte Unbegründetheit des Seins in der ganzen metaphysischen Tradition. Der Satz vom Grund enthüllt sich als Satz vom Abgrund.
2.
Der schellingsche Überwindungsversuch der Metaphysik als Ontotheologie
Deswegen ist es nicht überraschend, dass Tengelyi in jenem Schelling, der – statt den Satz vom Grund zu retten – in seinem späten Seinsdenken von der Grundlosigkeit des uranfänglichen Seins ausgeht, den ersten Denker einer alternativen Metaphysik erblickt, die nicht mehr auf der in einem Zirkel befangenen ontotheologischen Begründung beruht. Es scheint indessen bemerkenswert, dass er seine Darstellung des schellingschen Überwindungsversuchs der Ontotheologie auf die späte Seinsphilosophie des Leonberger Denkers beschränkt, 28 obwohl Schelling – wie Heidegger in seiner 1936 gehaltenen Schelling-Vorlesung 29 auch anerkennt – schon in seiner mittleren Periode, insbesondere in den Philosophische[n] Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit, nicht nur die ontotheologische Doppelstruktur avant la lettre beschrieben und ihre unvermeidbare Aporie erkannt hat, sondern sich auch schon in dieser Periode seines Denkens um die Überwindung jener Doppelstruktur bemüht hat. Der Grund dafür ist sicherlich in Tengelyis Darstellung der Entwicklung der Ontotheologie-Geschichte zu suchen: Er versteht den schellingschen Überwindungsversuch der Ontotheologie als Antwort auf die Vollendung der Ontotheologie in Hegels Philosophie. 30 In der Überzeugung, die Behandlung der Ontotheologie und ihrer Überwindung sei schon und eher für das Programm von Schellings mittlerer Philosophie charakteristisch, setze ich mich im Folgenden davon ausgehend mit der allgemeinen Problematik von Welt und Unendlichkeit auseinander.
28 29 30
Tengelyi: Welt und Unendlichkeit, S. 154–168. Heidegger: Schelling. Vgl. Tengelyi: Welt und Unendlichkeit, S. 143–144.
87 https://doi.org/10.5771/9783495813768 .
András Schuller
2.1
Die Existenz Gottes und ihr Grund: Eine ontotheologische Doppelstruktur bei Schelling
Schelling unterscheidet in seiner 1809 veröffentlichten Freiheitsschrift zwischen Existenz und Grund der Existenz, oder – wie er selbst formuliert – »zwischen dem Wesen, sofern es existiert, und dem Wesen, sofern es bloß Grund von Existenz ist« 31. Wenn man unter dem Existierenden das Seiende und unter dem Grund von Existenz das Sein versteht, kann man behaupten, dass es um nichts anderes als die ontologische Differenz Heideggers geht, die – wie dargelegt wurde – bei Heidegger als jene Haupteinsicht ausgewiesen wird, die den Weg zur Erkenntnis der ontotheologischen Doppelstruktur ebnet. Dies findet sich in ähnlicher Weise auch bei Schelling, in dessen Freiheitsschrift dieser Unterschied im Falle Gottes zu einem Problem wird. 2.1.1
Grund vor Gott? Die schellingsche Fassung der aporetischen Ontotheologie
Dieses Problem steht mit Schellings »Pantheismus« in engstem Zusammenhang. Einerseits gibt es dem »Pantheismus« der Freiheitsschrift zufolge »nichts vor oder außer Gott« 32. Andererseits aber, aufgrund des Unterschiedes zwischen der Existenz und ihrem Grund, ist der Grund der Existenz Gottes selbst eine von Gottes Wesen unterschiedene Entität. Aus diesen zwei Prämissen folgt, dass Gott »den Grund seiner Existenz in sich selbst haben« 33 muss: Dieser Grund […], den Gott in sich hat, ist nicht Gott absolut betrachtet, d. h. sofern er existiert; denn er ist ja nur der Grund seiner Existenz. Er ist die Natur – in Gott; ein von ihm zwar unabtrennliches, aber doch unterschiedenes Wesen. 34
Er ist, »was in Gott selbst nicht [Gott] selbst ist« 35. Das eigentliche Problem besteht darin, dass es unmöglich ist, diesen Grund in seiner herkömmlichen Auffassung als Ursache auszulegen. Wäre dieser Schelling: Über das Wesen der menschlichen Freiheit, S. 357. Ebd. 33 Ebd. 34 Ebd., S. 358. 35 Ebd., S. 359. Schelling fügt noch hinzu, dass es hier um »de[n] einzig rechte[n] Dualismus« geht, »nämlich [um] de[n], welcher zugleich eine Einheit zulässt« (ebd.). 31 32
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Der Satz vom Ungrund
Grund in der Tat die Ursache der Existenz Gottes, müsste er seiner verursachten Wirkung, der Existenz Gottes, vorangehen. Da er aber »vor Gott nicht ist«, kann der Grund der Existenz Gottes derselben nicht vorausgehen. Daraus folgt, dass dieser im nicht kausalen Sinne verstandene Seinsgrund in Bezug auf die Existenz Gottes entweder gleichzeitig oder nachzeitig sein muss: Entweder ist der Seinsgrund seit aller Ewigkeit gegeben, wie Gott selbst, oder er wird von dem seit jeher existierenden Gott zu einem bestimmten Zeitpunkt erzeugt. 2.1.2
Gott vor seinem Grund? Unterwegs zu Schellings Spätphilosophie
Was diese letztere Option anbelangt, erweist sie sich ebenfalls als unmöglich. Denn wenn der Seinsgrund Gottes von Gott selbst erzeugt werden würde, so ginge die Existenz Gottes dem Grund ihrer selbst voraus. Das würde aber nichts anderes bedeuten, als dass das anfänglich als Wirkung begriffene Wesen Gottes seine eigene Ursache, den Grund seiner eigenen Existenz verursachen würde. Das wäre aber Unsinn. Was denn schon weniger Unsinn zu sein scheint, wäre die Behauptung, dass Gott als erste und allerletzte Ursache, oder eher Ur-tat-sache des Seins den Seinsgrund, seinen eigenen inbegriffen, selbst als seine Wirkung erzeugen würde. Nichtsdestoweniger handelt es sich in diesem Fall keineswegs um einen Seinsgrund, der Gottes uranfängliche Existenz begründen würde. Es wäre nur von einem Seinsgrund die Rede, der allererst von einem bestimmten Zeitpunkt, eben von dem Moment seiner Erzeugung an – und nicht vorher –, der Existenz Gottes zugrunde liegen würde. Da es demzufolge ein gewisses Alter, ja ein »Weltalter« vor der Erzeugung des Seinsgrunds geben würde, in dem Gott schon existiert hätte, würde dies voraussetzen, dass der uranfängliche Gott ohne Seinsgrund, d. h. grundlos existiert hätte. Von dieser Formulierung her ist es nicht schwer einzusehen, dass es um die Lösung des späten Schelling geht, der zufolge Gott als »Herr des Seyns«, »Freiheit gegen Seyn« seine uranfänglich grundlose Existenz durch die Erzeugung des Seinsgrundes in eine von da an begründete göttliche Existenz umwandle. Da die uranfängliche Existenz Gottes, das grundlos Seiende unter allen Umständen ohne seinen eigenen Grund bleibt, führt dieser Kerngedanke nichtsdestotrotz zu nichts Geringerem als einem Bruch mit der Hauptbestrebung der letzten Begründung, d. i. mit dem Grundprogramm aller bisherigen Metaphysik. 89 https://doi.org/10.5771/9783495813768 .
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2.1.3
Die Doppelbegründung und ihre Zirkelstruktur
Derjenige Schelling jedoch, der erstmals in seiner zwischen 1827 und 1837 viermal gehaltenen – und viermal unterschiedlich dargestellten – Vorlesung (die unter dem Titel Grundlegung der positiven Philosophie 36 erst 1972 herausgegeben wurde) die ursprüngliche Grundlosigkeit der Existenz Gottes und den Vorgang der göttlichen Umwandlung in eine begründete Seinsformation systematisch ausarbeiten sollte, ist zur Zeit der Freiheitsschrift um 1809 noch gar nicht imstande, den Kampf um die allerletzte Begründung des Seins Gottes, des höchsten und eigentlichen Seienden aufzugeben, oder genauer: zu überwinden. Dementsprechend hält der Schelling der Freiheitsschrift die Option, Gott würde seinen Seinsgrund selbst erzeugen, für unmöglich. Daraus folgt die einzig übrig und möglich gebliebene Option: Die Existenz Gottes und ihr Grund müssen von Ewigkeit her und zugleich voneinander »unabtrennlich« sein. 37 Infolgedessen – mithin weil weder die Existenz Gottes aus dem Grund der göttlichen Existenz selbst noch umgekehrt ihr Grund von der Existenz Gottes, sei es im zeitlichen, sei es im kausalen Sinne, abgeleitet werden kann – gibt es nicht einen, sondern zwei erste und allerletzte Gründe: die Existenz Gottes und den Grund dieser Existenz, die wechselseitig einander zugrunde liegen. 38 Es ist nicht schwierig einzusehen, dass es sich um die Doppelbegründung der Ontotheologie handelt, die Schelling fast Wort für Wort wie Heidegger beschreibt, wenngleich mit der von dem Gesichtspunkt seiner bisherigen Überlegungen aus unglücklichen Metapher 39 des Vorangehens, da die unvermeidbare Aporie der ontotheologischen Verfassung nichts Besseres erlaubt: Gott hat in sich einen innern Grund seiner Existenz, der insofern ihm als Existierendem vorangeht; aber ebenso ist Gott wieder das Prius des Grundes, indem der Grund, auch als solcher [d. i. als Existierender], nicht sein könnte, wenn Gott nicht actu existierte. 40 Schelling: Grundlegung der positiven Philosophie. Vgl. Schelling: Über das Wesen der menschlichen Freiheit, S. 408: »die zwei gleich ewigen Anfänge«. 38 Ich bin Tamás Ullmann Dank schuldig, dass er mich darauf aufmerksam gemacht hat, dass diese zwei Seinsgründe weder in einem zeitlichem, noch in einem kausalen Sinne verstanden werden können. 39 Der Idee, dass es hier eher um eine Metapher als um ein striktes begriffliches Konzeptualisieren der Doppelbegründung geht, bediene ich mich aufgrund einer mündlichen Mitteilung von Gábor Boros. 40 Schelling: Über das Wesen der menschlichen Freiheit, S. 358. 36 37
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Der Satz vom Ungrund
2.1.4
Zirkelbegründung und Problembewusstsein
Der beste Beweis dafür, dass Schelling nicht allein die heideggersche ontotheologische Verfassung der Metaphysik vorwegnimmt, sondern sich auch noch des problematischen Charakters der Zirkelbegründung völlig bewusst ist, besteht des Weiteren darin, dass er seine vorige Beschreibung der Ontotheologie schon von vornherein mit ihrer Apologie einleitet. Anders gesagt, er entschärft die Zirkelhaftigkeit der Doppelbegründung. Er schreibt: In dem Zirkel, daraus alles wird, ist es kein Widerspruch, dass das, wodurch das Eine [d. h. Gott] erzeugt wird, selbst wieder von ihm gezeugt werde. Es ist hier kein Erstes und kein Letztes, weil alles sich gegenseitig voraussetzt, keins das andere und doch nicht ohne das andere ist. 41
Dessen ungeachtet scheint diese Apologie eher eine Entschuldigung als eine gut argumentierende Verteidigungsrede seines ontotheologischen »Pantheismus« zu sein. Um die belletristische und mit Argumenten nicht belegte Peroratio zu zitieren: Wollen wir uns [das] Wesen [des Grundes] menschlich näher bringen, so können wir sagen [siehe dazu die Anerkennung Schellings selbst, dass die bildliche Ausdruckweise anstatt der buchstäblichen unvermeidbar ist – A. Sch.]: [der Grund] sei die Sehnsucht, die das ewige Eine empfindet, sich selbst zu gebären. Sie ist nicht das Eine selbst, aber doch mit ihm gleich ewig. Sie will Gott, d. h. die unergründliche Einheit, gebären, aber insofern ist in ihr selbst noch nicht die Einheit. 42
2.2
»Verbesserte Aufgabe«: Über die zweite ontologische Grundlegung der Freiheitsschrift
Der überzeugendste Schuldbeweis dafür, dass es nicht um eine echte Beweisführung geht, ist, dass Schelling auf den letzten Seiten der Freiheitsschrift nicht einfach noch einmal den Versuch unternimmt, das Sein Gottes, des höchsten und eigentlichen Seienden, zu begründen, sondern auch noch einen solchen Begründungsversuch in Angriff nimmt, der in einem schreienden Gegensatz zu seiner eigenen, von uns so lange erörterten Zirkelbegründung am Anfang der Freiheitsschrift steht: Er bricht nun dafür eine Lanze, dass es nicht aus41 42
Ebd. Ebd., S. 359.
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schließlich im zeitlichen oder kausalen Sinne, sondern überhaupt unmöglich ist, dem göttlichen Wesen, und dadurch – oder darin – der ganzen Wirklichkeit zwei erste und letzte Gründe beizumessen, die einander gegenseitig begründen, nämlich die Existenz Gottes und deren Grund. Wäre dem so, so hätten wir es mit einem »absoluten Dualismus« 43 zu tun, der von dem Standpunkt eines »pantheistischen Monismus« – wie demjenigen Schellings – natürlich unannehmbar ist. Deswegen behauptet Schelling, dass die Wirklichkeit einen einzigen ernsthaft ersten und allerletzten Grund haben muss; einen solchen, in dem die bis jetzt als zwei verschiedene Ursachen behandelten Gründe, die Existenz Gottes und ihr Grund, zusammenfallen. 44 Dieses Zusammenfallen jedoch bedeutet keineswegs die Identität dieser zwei Gründe. Verhielte es sich so, dann würden beide Gründe ihr voneinander verschiedenes Wesen innerhalb des Identitätszusammenhanges aufbewahren, weil je eine Differenz in jeder Identitätsaussage unvermeidbar inbegriffen ist. Selbst wenn man aussagt, »A ist A«, macht man notwendigerweise einen Unterschied zwischen dem A als Subjekt, d. h. dem A, von dem man aussagt, dass es »A ist« und dem A als Prädikat, d. i. dem A, das von dem anderen A aussagt, dass jenes »A ist«. Mehr noch, weil Schelling – wie dargelegt wurde – sowieso schon behauptet, dass der Grund ein von Gott verschiedenes Wesen in Gott, d. h. ein(e) Teil(menge) Gottes sei, würde es sich auf alle Fälle um eine Identität vom Typ »A ist B« handeln. Deswegen würde die Identität der Existenz Gottes mit ihrem Grund den Unterschied, und dadurch die Doppelung der Gründe als je aus sich selbst Seiende, auch nicht ausräumen, sondern im Gegenteil würde sie deren Unterschied und dadurch die zwei Gründe als je aus eigener Kraft bestehende Entitäten gerade festschreiben; dessen ungeachtet, dass sie ihre Einheit als ihre Relation, nicht aber als ihre Gleichheit setzt. Demgemäß bestimmt Schelling den wirklich ersten und allerletzten Grund nicht als Identität der Existenz Gottes und ihres Grundes, sondern als die Indifferenz beider: das uranfängliche Wesen Gottes, in dem die Existenz von ihrem Grund noch nicht unterschieden und infolgedessen deren Differenz auch noch nicht erzeugt ist. 45 Sie werden eben erst durch die Differenzierung dieser ursprünglichen Indifferenz ins Dasein treten. 43 44 45
Ebd., S. 406. Ebd. Vgl. ebd.
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Der Satz vom Ungrund
2.2.1
Ein Urgrund vor allem
Schelling bezeichnet diese Indifferenz als »Urgrund, oder vielmehr Ungrund« 46. Beide Bezeichnungen sind sprechend. Was die Benennung »Urgrund« anbelangt, mag das Präfix »Ur-« bedeuten, dass es um einen solchen allerletzten Grund geht, der als Indifferenz sowohl der Existenz Gottes als auch ihrem Grund vorausgeht; ganz abgesehen davon, ob dieses Vorausgehen im ontologischen Sinne (buchstäblich Ur-grund), im logischen Sinne (Ur-teil), im zeitlichen Sinne (Ur-zeit, Ur-sprung) oder im kausalem Sinne (Ur-sache) verstanden werden muss – wie Gérard Bensussan das Präfix »Ur-« im Kontext der Weltalter auszulegen vorschlägt. 47 Der Urgrund bestimmt ein ganzes Weltalter, das der Vergangenheit, d. h. eine solche Urzeit, »die nie Gegenwart gewesen ist«; in dem Sinne, dass die Wesenheit von diesem Urgrund wegen seiner Indifferenz – nämlich der des Subjekts der Existenz, d. h. Gottes als des Existierenden, und des Prädikates der Existenz, d. i. des Seinsgrundes Gottes – nicht prädiziert werden kann. Sie ist die ewige Gewesen-heit. 2.2.2
Ein Ungrund vor allem
Was die andere Benennung, den »Ungrund«, betrifft, scheint das Präfix »Un-« noch bedeutsamer als das Präfix »Ur-« im Falle des Urgrundes zu sein: Es bringt eine vom dem Gesichtspunkt des in der Freiheitsschrift dargestellten Überwindungsversuchs der Ontotheologie aus entscheidende Unentschiedenheit zum Ausdruck. Diese beruht darauf, dass das Präfix »Un-« entweder eine Negation, eine Pejoration (zum Beispiel: Unmensch), oder eben den Gegensatz hierzu, d. h. eine Steigerung (zum Beispiel: Unsumme), oder auch dies alles zugleich bedeuten kann (zum Beispiel: Untiefe; entweder im Sinne von Seichtheit, Flachheit, oder im Sinne von bodenloser, grundloser Tiefe). Das Präfix kann jedoch sogar eine Negation und Pejoration durch Steigerung ausdrücken (zum Beispiel: Untier, das dadurch noch unter den Tieren steht, dass es eine gesteigerte Tierheit, nämlich die Bestialität, besitzt). Die entscheidende Unentschiedenheit der Freiheitsschrift besteht darin, dass das Präfix »Un-« nach dem Muster von »Untier« im Falle vom Ungrund sowohl als Negation, als auch als Steigerung ver46 47
Ebd. Vgl. Bensussan: Les Âges du monde, S. 133.
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András Schuller
standen werden kann, die noch dazu notwendigerweise einander widersprechende Bedeutungen zur Folge haben kann. Einerseits, versteht man »Un-« als Negation, bedeutet »Ungrund« Abgrund und enthüllt die Abgründigkeit dieses allerletzten Grundes. Also scheint bei Schelling auch prompt der Satz vom Ungrund zum Satz vom Abgrund zu werden. Andererseits aber, versteht man »Un-« als Steigerung, bedeutet »Ungrund« den höchsten, allerletzten Grund: den »ins Quadrat erhobenen« Grund, den Grund der Gründe, nämlich denjenigen der Existenz Gottes als eines Grundes und zugleich denjenigen des Grundes der göttlichen Existenz als eines anderen Grundes, wie schon dargelegt wurde. Folglich erweist der Satz vom Ungrund sich als ein richtiger Satz vom Grund, als der Satz von dem einen, einzigen und allerletzten Grund. Kurzum: Der Satz vom Ungrund scheint sowohl der Satz vom Abgrund als auch der Satz vom allerletzten Grund zu sein. In diesem letzten und tiefen, untiefen Widerspruch besteht die entscheidende Unentschiedenheit der Freiheitsschrift. 2.2.3
Der Satz vom Ungrund
Nichtsdestoweniger kann dieser Widerspruch schon im Horizont der Freiheitsschrift aufgehoben werden. Wenn man bedenkt, dass der Ungrund in seinem zweiten Sinne, d. i. der höchste Grund, der Grund der Gründe, der »ins Quadrat erhobene« Grund als ein Wesen seinerseits auch einen eigenen, auch noch ihm vorausgehenden Grund, einen in die dritte Potenz erhobenen Grund benötigt, um wohlbegründet zu sein, und so weiter, dann muss man bemerken, dass das Begründungsprogramm der traditionellen Metaphysik jeden Halt, d. h. seinen Grund verliert. Folglich sollte der Satz vom Ungrund als Abgrund nicht allein die vielleicht nur eventuell noch nicht überkommene Unbegründetheit der Wirklichkeit, sondern ihre prinzipielle Unbegründbarkeit, d. h. Zufälligkeit, ja Urzufälligkeit, oder vielmehr »Un-zufälligkeit« ausdrücken.
Schluss: Vom Satz vom Ungrund zur Méontologie: Unterwegs zu Schellings später Metaphysik Von dieser Perspektive aus scheint es so, dass dem Schelling der Freiheitsschrift nur ein kleiner Schritt fehlt, nämlich derjenige des Auf94 https://doi.org/10.5771/9783495813768 .
Der Satz vom Ungrund
gebens des Satzes vom Grund, der allerletzten Begründbarkeit der Wirklichkeit, damit er nicht nur die ontotheologische Doppelstruktur, sondern auch die unvermeidbare Begründungsaporie aller traditionellen Metaphysik verwindet. Zugleich aber erweist sich dieser scheinbar winzige Schritt so riesig, dass es Schelling fast zwanzig Jahre kostet, in seiner Spätphilosophie durch die Erkenntnis der Grundlosigkeit des uranfänglichen Seins diesen Schritt zu tun. Deswegen hat Tengelyi völlig Recht, im grundlos Seienden der schellingschen Spätphilosophie die Verwirklichung eines der ganzen Tradition der Ontologie gegenüberstehenden, die Begründung der Wirklichkeit verhütenden, auf der notwendigen Zufälligkeit der letzten Prinzipien beruhenden Seinsdenkens, das als ein Vorläufer der phänomenologischen Metaphysik im Allgemeinen und dadurch auch der tengelyischen Variante derselben aufgefasst werden kann, zu erblicken. Dieses Seinsdenken habe ich als Ontonomie bezeichnet. Nichtsdestoweniger ist der »Gesetzgeber« des Denkens, das »grundlos Seiende«, welches zufolge seiner nicht begründeten, nicht determinierten Seiendheit von Schelling oft auch als Mé on, als Nichtseiendes bezeichnet wird, nur der Ausgangspunkt der schellingschen Spätmetaphysik. Was die höchste Zielsetzung des späten Schelling anbelangt, so geht es nicht darum, zu dem grundlosen Seienden, zum Mé on hinzugelangen, sondern darum, zu erklären, wie sich dieses unbegründete und unbegründbare Ursein Gottes, das göttliche Mé on in eine begründete, Logos-haftige Seinskonstellation verwandelt. 48 Anders gesagt: Die letzte Aufgabe des späten Schelling besteht nicht in der Verwirklichung einer Ontonomie, sondern in der Beschreibung des Umschlags dieser Ontonomie in eine Ontologie. Deswegen würde ich die Metaphysik des späten Schelling im Kontrast zur heideggerschen Metontologie Méontologie, oder sogar Méontotheologie nennen. Jedenfalls scheint der später Schelling, durch die Verknüpfung der Ontonomie mit der Ontologie, auch noch den Horizont der phänomenologischen Metaphysik zu überwinden – wie es Tengelyi in seinem letzten Vortrag nicht von der schellingschen Spätphilosophie, sondern von den Weltalter-Fragmenten aus-
In den modalen Termini des späten Schelling handelt es sich um die Umwandlung des Urseins Gottes von seiner »notwendig zufälligen« Seiendheit in eine »notwendig notwendige« Seinskonstellation.
48
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András Schuller
gehend auch angedeutet hat. 49 Wie László Tengelyi diesen Rückstand der phänomenologischen Metaphysik aufgeholt hätte, werden wir leider nie mehr erfahren. Ich möchte Philipp Höfele und Karl Vajda für ihre hingebungsvolle Korrektur meines Textes meinen aufrichtigsten Dank aussprechen.
Literatur Bensussan, Gérard: Les Âges du monde de Schelling. Une traduction de l’absolu, Paris 2015. Gondek, Hans-Dieter und Tengelyi, László: Neue Phänomenologie in Frankreich, Berlin 2011. Heidegger, Martin: Die Grundbegriffe der antiken Philosophie [Gesamtausgabe, Bd. 22], Marburger Vorlesung, Sommersemester 1926, hrsg. von Franz-Karl Blust, Frankfurt am Main 1993. Heidegger, Martin: Identität und Differenz [Gesamtausgabe, Bd. 11], hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main 2006. Heidegger, Martin: Schelling: Vom Wesen der menschlichen Freiheit (1809) [Gesamtausgabe, Bd. 42], Freiburger Vorlesung, Sommersemester 1936, hrsg. von Ingrid Schüßler, Frankfurt am Main 1988. Heidegger, Martin: Wegmarken [Gesamtausgabe, Bd. 9], hrsg. von FriedrichWilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main 1976. Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph: Grundlegung der positiven Philosophie, Münchner Vorlesung, Wintersemester 1832/33 und Sommersemester 1833, hrsg. von Horst Fuhrmans, Torino 1972. Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph: Philosophie der Offenbarung (I), in: Sämmtliche Werke, Bd. 13, Stuttgart und Augsburg 1858. Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph: Philosophie der Offenbarung (II), in: Sämmtliche Werke, Bd. 14, Stuttgart und Augsburg 1858. Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph: Über das Wesen der menschlichen Freiheit, in: Sämmtliche Werke, Bd. 7, Stuttgart und Augsburg 1860. Tengelyi, László: Fenomenológia mint első filozófia, in: Világosság 2008 / 3–4. 2008, S. 49–59. Tengelyi, László: Philosophie als Weltoffenheit, hrsg. von Inga Römer, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 63 (5/2015), S. 958–976. Tengelyi, László: Welt und Unendlichkeit. Zum Problem phänomenologischer Metaphysik, 3. Aufl., Freiburg / München 2015.
Vgl. Tengelyi: Philosophie als Weltoffenheit. Ich bedanke mich bei Tamás Miklós dafür, dass er mich auf diesen Vortrag aufmerksam gemacht hat.
49
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Bianka Boros
Weltentwurf und Unendlichkeit bei Nicolai Hartmann
Auf Nicolai Hartmanns Kategorialanalyse des Kausal- und Finalnexus, seine Modaltheorie, sowie seine schichtenontologische Interpretation der Freiheit wird in László Tengelyis Welt und Unendlichkeit öfter Bezug genommen. Im modalanalytischen Teil des Werkes wird u. a. Hartmanns Möglichkeit und Wirklichkeit zitiert. 1 Daneben dient Hartmanns Theorie der Schichtung der Determinationsformen als Basis für die Analyse der Handlungsteleologie als Einstimmigkeitstendenz. In diesem Aufsatz werde ich aber zwei andere Aspekte hervorheben. Die Behandlung von Hartmanns Schichtenontologie – parallel zu Heisenbergs Stufenmodell und Husserls regionaler Ontologie – wird sich als aufschlussreicher Begleiter bei der Entfaltung der Position des metontologischen Transzendentalismus erweisen. Diese Überlegungen führen dann zur Analyse der verschiedenen Unendlichkeitskonzeptionen über. Der Hartmanns »diesseitigem« Realismus angrenzende Unendlichkeitsbegriff kann zwischen Kants (potenzieller) und Husserls (aktueller und offener) Unendlichkeitskonzeption eingeordnet werden. Dabei werden auch weitere einschlägige Einzelanalysen aus einigen früheren Werken von László Tengelyi behandelt. Zusammenfassend – und aus der Verflechtung der verschiedenen Bereiche abgeleitet – kann angekündet werden, dass Hartmanns Schichtenontologie ein wichtiger Anhaltspunkt bei der Ausführung des als metontologischer Transzendentalismus gekennzeichneten Weltentwurfes ist. Weltentwürfe sind – laut Tengelyis Definition – durch eine paradoxe Struktur gekennzeichnet: »Ein Weltentwurf ist eine unendliche Idee mit endlich vielen – unter sich einstimmigen – Erfahrungen als Beleginstanzen.« 2
1 2
Tengelyi: Welt und Unendlichkeit, S. 171–179. Ebd., S. 411.
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Bianka Boros
1.
Entwurf aus Schichten, Bereichen oder Regionen
Die Schichtenontologien geben der Frage des Aufbaus der Welt eine über die naturwissenschaftliche hinausgehende allgemeinere und umfassendere Bedeutung. 3 Hartmanns philosophiegeschichtliche Untersuchungen verfolgen den Schichtungsgedanken bis zu Platon und Aristoteles zurück; 4 als offizielle Vorläufer gelten aber im Grunde genommen Descartes, Émile Boutroux und August Comte. 5 Laut Hartmanns Aussage aus dem Jahr 1943 ist der Schichtengedanke »schon beinahe zu einer Art Gemeingut geworden.« 6 Neben Hartmann 7 und den Vertretern der Philosophischen Anthropologie als Paradigma 8 – dessen ontologische Grundlagen gerade in Hartmanns Schichtenontologie liegen – haben u. a. auch Edmund Husserl und Werner Heisenberg ähnliche Entwürfe dargelegt. In László Tengelyis Deutung sind Schichten- und Stufenmodelle überdies Versuche, »die faktische Abhängigkeit des Menschen von der Natur mit dessen weltbildender Transzendenz zu vereinigen« 9. Bei Husserl und Heisenberg drückt sich die Vereinigung dieser beiden Perspektiven unmittelbar in den Vordergrund. Bei Hartmann ist diese Bestrebung darin zu erkennen, dass er die Freiheit des geistigen Wesens (als Urheberin selbstgeschaffener Fesselung 10) und zugleich die Freiheit des in den Naturzusammenhang eingebetteten Wesens aufzeigen will. Die Schichtenkonzeption von Hartmann, Husserl und Heisenberg teilen dieselbe Grundintention, die Unterschiede liegen nur in ihren weiterführenden Anliegen. Heisenberg beschäftigt sich in seinem aus dem Jahr 1942 stammenden Manuskript mit globalen, weltanschaulichen Fragen und mit dem Gedanken einer Ordnung der Wirklichkeit. 11 Ähnliche Fragen stellt er bereits in der Schrift ErVgl. Landgrebe: »Seinsregionen und regionale Ontologien«, S. 143. Vgl. Hartmann: Die Anfänge des Schichtungsgedankens. 5 Vgl. Heimsoeth: »Zur Ontologie der Realitätsschichten«. 6 Hartmann: Die Anfänge des Schichtungsgedankens, S. 164. 7 Vgl. Hartmann: Der Aufbau der realen Welt. 8 Fischer unterscheidet philosophische Anthropologie als Disziplin und Philosophische Anthropologie als Paradigma. Als die Begründer der Letzteren nennt er Max Scheler und Helmuth Plessner. Vgl. Fischer: »Neue Ontologie und Philosophische Anthropologie«, S. 132. 9 Tengelyi: Welt und Unendlichkeit, S. 416. 10 Vgl. Hartmann: Das Problem des geistigen Seins, S. 524. 11 Heisenberg: »Ordnung der Wirklichkeit«, posthum veröffentlicht. 3 4
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Weltentwurf und Unendlichkeit bei Nicolai Hartmann
kenntnistheoretische Probleme in der modernen Physik 12 bzw. im sogenannten »Budapester Vortrag« 13 vom 5. Mai 1941. Er erzielt die »Einteilung der Welt […] in viele ineinandergreifende Bereiche […], die sich durch die Fragen, die wir an die Natur richten, und durch die Eingriffe, die wir bei ihrer Beobachtung zulassen, voneinander abschließen.« 14 Husserl arbeitet eine regionale Ontologie aus und unterscheidet drei Konstitutionsstufen. Seine Einteilung entspricht – ähnlich wie bei Hartmann und Heisenberg – der Gliederung der Wissenschaftsbereiche, aber bei Husserl geht es überwiegend um den Versuch der Synchronisierung der naturalistischen und der personalistischen Einstellung. Die Problematisierung zweier Einstellungen erscheint bei Heisenberg in der Gegenüberstellung des subjektiven und des objektiven Pols. Die – mit Abstand am ausführlichsten ausgearbeitete – schichtenontologische Konzeption ist die von Nicolai Hartmann. Das Grundverhältnis kann mit der Formel Selbstständigkeit in der Abhängigkeit beschrieben werden, in der nicht nur auf das Überlagerungsverhältnis der Schichten, sondern zugleich auf die Freiheit des Höheren gegenüber dem Niederen hingewiesen wird. Hartmann versteht und analysiert die vier Seinsschichten als einzelne Kategorienschichten. So wird die Schichtenontologie zur Kategorienlehre und als solche schreitet sie von der allgemeinen Kategorienlehre zu den speziellen Kategorienlehren vor, welche sich dann unmittelbar an die Spezialwissenschaften anknüpfen können. Diese Schichtenontologie ist differenziert genug, um einen Dialog mit den Spezialwissenschaften anzufangen, ohne zugleich einer reduktionistischen Deutung irgendwelche Zugeständnisse zu machen. So eine konkrete, ontologisch fundierte Theorie des Aufbaus der realen Welt ist ein ausgearbeiteter Weltentwurf, welcher sich ohne Weiteres auf eine Diskussion mit dem – die Mannigfaltigkeit des Seienden, die Differenziertheit ihrer Gesetze und Verhältnisse vereinfachenden – Naturalismus einlassen kann. Laut Hartmann hat die Ontologie auch eine kritische Funktion: sie soll die Vermeidung bzw. Aufdeckung kategorialer Grenzüberschreitungen, unberechtigter Reduktion oder eben Metaphysik von Heisenberg: »Erkenntnistheoretische Probleme in der modernen Physik«, S. 22– 28. 13 Heisenberg: »Die Goethe’sche und die Newton’sche Farbenlehre«, S. 146–160. 14 Ebd., S. 158. 12
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unten oder von oben fördern bzw. ermöglichen. Während Hartmann mit der detaillierten Ausführung der kategorialen Gesetze und Schichtenverhältnisse gegen den Reduktionismus eintritt, legt Husserl den Schwerpunkt auf die Ausarbeitung der Wesensbegriffe der einzelnen Regionen. Die Gliederung nach Wissenschaftsbereichen ist ein bestimmender Wesenszug dieser Theorien. Ein wichtiger Zusatz ist, dass die Möglichkeit, das Schichtengebäude im Lichte neuer wissenschaftlichen Ergebnisse zu revidieren, von Hartmann offengelassen wird. Daneben räumt Hartmann für die Ontologie ein Mitspracherecht in kategorialen Fragen ein. Husserl bestimmt die regionalen Ontologien ausgehend von den einzelnen Wissenschaftsbereichen. Die Konstitution der materiellen Natur ist der Forschungsbereich der Physik, die der animalen Natur der Bereich der Biologie und der Psychologie, während die Konstitution der geistigen Welt zum Bereich der Geisteswissenschaften gehört. Charakteristisch ist, genau wie bei Hartmann, eine Fundierungsordnung der Seinsregionen. Von Goethes Theorie der neun Gründe (zufällig, mechanisch, physisch, chemisch, organisch, psychisch, ethisch, religiös, genial) 15 geht Heisenberg aus. 16 Die Wirklichkeitsbereiche sind nach den charakteristischen Verhältnissen, Gesetzen und Zusammenhängen der Dinge eingeteilt: klassische Physik (plus Relativitätstheorie), Chemie (plus Zufall), organisches Leben, Bewusstsein, Symbol und Gestalt, schöpferische Kräfte. Hartmann unterscheidet vier einander überlagernde Seinsschichten (anorganische, organische, seelische und geistige Schicht), wobei jede höhere Schicht auf den niederen aufgebaut ist und sich durch ihr eigenes »kategoriales Novum« von den untersten Schichten unterscheidet. Die höchste, spezifisch geistige Schicht ist eine Dreiheit, in der die drei Formen des Geistes (personaler, objektiver und objektivierter Geist) verflochten sind, zugleich aber eine untrennbare Einheit bilden und nur durch die Analyse trennbar sind. Bei der Distanzierung zwischen geistigem und geistlosem Bewusstsein ist ausschlaggebend, dass geistige Einzelindividuen nicht isoliert bestehen können. 17 Vgl. Goethe: »Schriften zur allgemeinen Naturlehre«, S. 795 f. bzw. Heisenberg: »Ordnung der Wirklichkeit«, S. 232. 16 Vgl. dazu die Abbildung in Schiemann: Werner Heisenberg, S. 95. 17 Weiteres dazu siehe in Boros: Selbstständigkeit in der Abhängigkeit, S. 173 f. 15
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Sein seelisches Sein hat jeder für sich. Es ist ein esoterisches Sein des Individuums, unübertragbar […]. Der Gedanke ist [im Gegensatz dazu] von Hause aus objektiv. Er ist expansiv, er verbindet, wo der Bewusstseinsvorgang isoliert. Dasselbe ist es mit Willenszielen, Strebens- und Schaffensrichtungen, Überzeugungen, Glaubens-, Wertungs- und Anschauungsweisen. Sie alle gehören der Sprache des Geistes an. Der Geist aber verbindet, das Bewusstsein isoliert. 18
Während geistloses Bewusstsein noch in die Vitalfunktionen eingespannt ist, hat geistiges Bewusstsein bereits die Fähigkeit zur Objektivität. Objektivität besteht in der Distanz zu den Dingen, der Mensch relativiert Dinge nicht auf seine Triebe, sondern sie interessieren ihn, wie sie an sich sind. Die Fähigkeit zur Objektivität wird von Hartmann als eine Folge der exzentrischen Selbsteinordnung identifiziert; dank dieser wird das dienende Bewusstsein zum gegenständlichen Bewusstsein. Der Mensch kann sich durch die »Objektion« als Subjekt der Objekte erfahren. 19 Bei Husserl bilden diese Realitätsbegriffe eine Stufenordnung, die den Aufbau der ganzen Wirklichkeit, ihre innere Schichtung bestimmt. Alle Spezialwissenschaften haben einen speziellen Realitätsbegriff, welche der Differenzierung zwischen den verschiedenen Regionen zugrunde liegen. Dementsprechend, dass ihre Begrifflichkeit eine Wissenschaft notwendigerweise bedingt, gehen aus den verschiedenen Wirklichkeitsbereichen einzelne Regionen hervor: Jede konkrete empirische Gegenständlichkeit ordnet sich mit ihrem materialen Wesen einer obersten materialen Gattung, einer »Region« von empirischen Gegenständen ein. Dem reinen regionalen Wesen entspricht dann eine regionale eidetische Wissenschaft oder, wie wir auch sagen können, eine regionale Ontologie. 20
Die Differenzierung zwischen den Regionen geht nicht bloß aus der Beschreibung des Seienden und seiner Unterschiede hervor; dafür ist auch die bestimmte Korrelation – die Art und Weise wie diese für das Bewusstsein gegeben sind – konstitutiv. Die Analyse der Seinsregionen versteht sich als Konstitutionsforschung. Noch fundamentaler ist aber die Distanzierung zwischen der naturalistischen und personalistischen Einstellung, welche für die einzelnen Konstitutionen grundlegend sind. 18 19 20
Hartmann: Das Problem des geistigen Seins, S. 71. Vgl. ebd., 121 f. Husserl: Ideen I, S. 19.
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Heisenberg will auch – in ähnlicher Weise, wie es bei Husserl ersichtlich war – zwei gegenüberstehenden Perspektiven (einer subjektiven und einer objektiven) Rechnung tragen, indem er das ganze Spektrum der Wissenschaftsbereiche zwischen einem subjektiven und einem objektiven Pol einordnet: Die Begriffe »objektiv« und »subjektiv« bezeichnen zwei Pole, von denen eine Ordnung der Wirklichkeit ihren Ausgang nehmen kann. Sie bezeichnen auch zwei Seiten der Wirklichkeit selbst […]. Da diese Einteilung wissenschaftlich sein soll, wird sie schrittweise vom objektiven zum subjektiven aufsteigen; die Beschreibung und Abgrenzung der einzelnen Wirklichkeitsbereiche soll mit all der Sorgfalt erfolgen, die der durch Jahrhunderte entwickelten neueren Naturwissenschaft angemessen ist. 21
Eine Tatsache, welche von uns und von ihrer Beschreibung unabhängig gemacht werden kann, ist charakteristisch für den objektiven Pol. Annähernd an den subjektiven Pol sind solche Beschreibungen immer weniger möglich. Vom objektiven Pol ausgehend nimmt die Objektivität ab, die Subjektivität muss generell immer mehr in Betracht gezogen werden. Die Zunahme der Subjektivität bedeutet »dass es bei einer vollständigen Beschreibung der Zusammenhänge eines Bereiches vielleicht nicht möglich ist, davon abzusehen, dass wir selbst in die Zusammenhänge verwoben sind.« 22 Der Erkenntnisvorgang – der uns die Wirklichkeit aufdeckt – wird immer mehr Teil der Zusammenhänge, welche den aktuellen Bereich beschreiben, bzw. charakterisieren. 23 Auf die Gegenüberstellung dieser zwei Einstellungen legt Hartmann keinen derartigen Akzent. Im Sinne der Schichtenontologie ist gerade die Beachtung der speziell geistigen Gesetzlichkeiten und Kategorien grundlegend für die Wissenschaft des Geistigen. Die Rolle der Erkenntnisakte im Lebenszusammenhang ist im Vergleich zu den emotionalen Akten eine sekundäre, dementsprechend ist der Lebensspielraum des Menschen primär kein Objektfeld, sondern ein Aktions- und Reaktionsfeld. Die Person erscheint als Ganzheit und trotzdem als eine sich im stetigen Wandel befindliche Identität. Sie wird als die Synthese des zeitlich Auseinanderliegenden beschrieben. 24 Es geht um »[d]as ständige, nie abgeschlossene, spontane Sich-selbst-Konsti21 22 23 24
Heisenberg: »Ordnung der Wirklichkeit«, S. 231–323. Ebd., S. 235. Vgl. ebd. Vgl. Hartmann: Das Problem des geistigen Seins, S. 132.
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tuieren oder Sich-selbst-Vollziehen.« 25 Der Mensch ist durch den objektiven Geist seines Zeitalters begrenzt, aber er ist zugleich der Mitgestalter von diesem. Vor allem ist aber der Mensch ein im Naturzusammenhang eingebettetes, (vier)geschichtetes Wesen, welches alle vier Seinsschichten in sich vereinigt. 26 Die von Hartmann präferierte Einstellung ist eine Art natürlicher Realismus, welcher sich nicht als philosophischer Standpunkt, sondern als »die allgemeine apriorische Form des konkreten Gegenstandsbewußtseins überhaupt« 27 versteht. Wichtig zu bemerken ist, dass er mit einem dem natürlichen Realitätsbegriff nahestehenden, aber erweiterten Realitätsbegriff arbeitet, der mehr als die raumzeitlichen Dinge beinhaltet: Er ist aber zugleich auch der natürliche Realitätsbegriff, der die »reale Welt« gar nicht anders kennt als in ihrer Einheitlichkeit, d. h. als diejenige, die das Heterogene stets verbunden und verflochten enthält: lebendige und leblose Mächte, geistige und dingliche Geschehnisse. 28
Geist und Materie haben dieselbe Seinsweise, beide sind durch Zeitlichkeit und Individualität charakterisiert. 29 Laut Tengelyis Argumentation entspringt die Tendenz zum erkenntnistheoretischen Realismus in Hartmanns kritischer Ontologie aus einer Fehldeutung des Unendlichen. 30 Der an Hartmanns diesseitigen Realismus angrenzende Unendlichkeitsbegriff wird im nächsten Kapitel behandelt und zwischen Kants und Husserls Unendlichkeitskonzeption eingeordnet. Für die personalistische Einstellung – im Sinne Husserls – erscheint die Natur als Umwelt, als Welt für mich, während die Natur von den Naturwissenschaften als objektive Natur, als Welt an sich gedeutet wird. 31 Die personalistische Einstellung ist eigentlich die Art und Weise, wie wir unser selbst und der Welt unmittelbar bewusst sind; dieser ist die naturalistische Einstellung bloß untergeordnet:
Ebd. Weiteres dazu in: Boros: Selbstständigkeit in der Abhängigkeit, vierter Teil: Freiheit des Geistigen, S. 175–201. 27 Hartmann: Metaphysik der Erkenntnis, S. 135. 28 Hartmann: Zum Problem der Realitätsgegebenheit, S. 8. Vgl. auch Hartmann: Zur Grundlegung der Ontologie, S. 171. 29 Vgl. Hartmann: Metaphysik der Erkenntnis, S. 477. 30 Vgl. Tengelyi: »Nicolai Hartmanns Umkehrung«, S. 670. 31 Vgl. Husserl: Ideen II, S. 247. 25 26
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Die Umwelt ist die von der Person in ihren Akten wahrgenommene, erinnerte, denkmäßig gefaßte, nach dem und jenem vermutete oder erschlossene Welt, die Welt, deren dieses personale Ich bewußt ist, die für es da ist, zu der es sich so oder so verhält, z. B. thematisch erfahrend und theoretisierend in Beziehung auf die ihm erscheinenden Dinge […]. 32
Aus der Zweiheit der Einstellungen ergibt sich sowohl für den Menschen als auch für die Natur eine zweifache Definition. Der Kern des Problems liegt einerseits in der Subjektabhängigkeit der objektiven Natur, andererseits in der Objektivierung des Subjekts. Husserl fasst diese Verhältnisse wie folgt zusammen: Wir geraten hier, scheint es, in einen bösen Zirkel. Denn setzten wir zu Anfang die Natur schlechthin, in der Weise, wie es jeder Naturforscher und jeder naturalistisch Eingestellte sonst tut, und faßten wir die Menschen als Realitäten, die über ihre physische Leiblichkeit ein plus haben, so waren die Personen untergeordnete Naturobjekte, Bestandstücke der Natur. Gingen wir aber dem Wesen der Personalität nach, so stellte sich Natur als ein im intersubjektiven Verband der Personen sich Konstituierendes, also ihn Voraussetzendes dar. 33
Es scheint also entweder die ausgezeichnete Position des Menschen oder die Objektivität der Natur verletzt zu sein. Der Verdienst von Husserls Schichtentheorie sieht Tengelyi nicht einfach darin, dass durch diese die Grenzen einer universellen Naturalisierung und die Berechtigung der methodischen Selbstständigkeit der Geisteswissenschaften aufgezeigt werden. Wie es aus dem oben Gesagten hervorgeht, besteht zwischen naturalistischer und personalistischer Einstellung eine unüberbrückbare Kluft und, laut Tengelyis Interpretation, entspricht der Gegensatz der beiden Einstellungen der Gegenüberstellung von zwei agonalen Weltentwürfen. 34 Laut dem Standpunkt des metontologischen Transzendentalismus setzen alle Weltentwürfe eine geistige, bewusste Subjektivität, ein weltbildendes Wesen voraus, welche einen Überstieg über das Seiende zur Welt hin vornimmt. Wichtig ist dennoch hervorzuheben, dass diese Konzeption zugleich »eine bloß materielle Welt […] ohne Subjekt, Geist und Bewusstsein ohne weiteres zulassen kann« 35. Der metontologische Transzendentalismus ist ein Weltenwurf, 32 33 34 35
Ebd., S. 185. Ebd., S. 210, zitiert in Tengelyi: Welt und Unendlichkeit, S. 409. Vgl. Tengelyi: Welt und Unendlichkeit, S. 409 Ebd., S. 414.
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der die Existenz einer der Korrelation von Bewusstsein und Wirklichkeit vorausgehender Weltphase durchaus anerkennt, aber darauf besteht, dass diese Weltphase uns erst im Ausgang von der nunmehr bestehenden Korrelation zwischen Bewusstsein und Wirklichkeit durch eine Rückläufige Konstitution greifbar wird. 36
Der naturalistische Autarkismus glaubt dagegen an die in sich geschlossene Selbstgenügsamkeit der Natur. Charakteristisch ist auch, dass er die Entscheidung darüber, was wirklich ist, den Naturwissenschaften (und oft einem reduktionistischen Verfahren) überlässt. Tengelyi tritt für den metontologischen Transzendentalismus ein. Als Ausgangspunkt nimmt er die bekannte Textstelle über die Offenheit der Dinge aus der letzten Seite von Husserls Ideen II. Aber hat jedes Ding […] überhaupt ein solches Eigenwesen? Oder ist das Ding sozusagen immer auf dem Marsch, ist es gar nicht in dieser reinen Objektivität zu fassen, vielmehr vermöge seiner Beziehung zur Subjektivität prinzipiell nur ein relativ Identisches, etwas, das nicht in voraus sein Wesen hat, bzw. hat als ein für allemal erfaßbares, sondern ein offenes Wesen hat, das immer wieder je nach den konstitutiven Umständen der Gegebenheit neue Eigenschaften annehmen kann? 37
Den Kern dieser Textstelle sieht Tengelyi in einer doppelten Einsicht. Einerseits kommt den einzelnen Dingen auf der Welt ein offenes Wesen zu, sie können immer wieder neue Eigenschaften annehmen; andererseits kann die Natur gerade deswegen keine in sich geschlossene Totalität, ein homogenes, autarkes Ganzes sein. Die Natur ist gerade ein Teil einer Gesamtwelt, welche durch offene Unendlichkeit charakterisiert ist. 38 Diese Offenheit wird problematisch für die naturwissenschaftliche Objektivität, da »[…] die Welt, zu der die Dinge gehören, nicht mehr als eine in sich geschlossene und selbstgenügsame Natur aufgefasst werden kann« 39. In Husserls Interpretation ist die Unendlichkeit der Welt keine transfinite Unendlichkeit, sie weist auf eine Offenheit hin. 40 Der Begriff der offenen Unendlichkeit führt uns weiter zur Behandlung der vorhin genannten Unendlichkeitskonzeptionen.
36 37 38 39 40
Ebd., S. 551. Husserl: Ideen II, S. 299. Vgl. Tengelyi: Welt und Unendlichkeit, S. 430–431. Ebd., S. 544. Vgl. ebd., S. 544.
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2.
Hartmanns Irrationalitätsbegriff
Die Tendenz zum erkenntnistheoretischen Realismus in Hartmanns kritischer Ontologie sieht Tengelyi einer Fehldeutung des Unendlichen entspringen. 41 Er analysiert Hartmanns Irrationalitätsbegriff und seine Überlegungen bezüglich des Ansichseienden als »Fühlungnahme mit dem Unendlichen.« 42 Hartmanns Ansicht nach ist für die Ontologie eine Diesseitsstellung (diesseits der Dichotomie von Idealismus und Realismus) erforderlich, um die Seinsphänomene richtig erfassen zu können. Er bezeichnet seinen Ausgangspunkt als neutrale Einstellung, das heißt, dass die Deutung der Phänomene (in der Hinsicht, ob diese nur für das Subjekt oder unabhängig von ihm existieren) vorerst unwesentlich ist. Eine Stellungnahme wird erst bei der Behandlung des Immanenzphänomens fällig. 43 An diesem Punkt erweist sich seine Ontologie aber als eine realistisch eingestellte. Wichtig zu bemerken ist, dass diese Einstellung nicht mit Realismus als einem theoretischen Standpunkt gleichzusetzen ist. Ersichtlich wird dies auch daraus, dass die realistische Tendenz nicht auf der Ebene der Theoriebildung auftaucht, sondern die Stufe der reinen Phänomenologie der Erkenntnis charakterisiert. 44 Hartmann versteht das Realismus-Motiv in seiner Ontologie als ein nicht mehr naives, sondern kritisches, indem er die Realitätsthese zwar annimmt, aber statt der Adäquatheitsthese bloß ein partielles Deckungsverhältnis akzeptiert. 45 Er hält die Annahme, dass das Subjekt der zentrale Bezugspunkt der Erkenntnisrelation ist, für ein idealistisches Vorurteil, das zu einer paradoxen Erkenntnistheorie führt, »in der das eigentliche Erkenntnisproblem gar nicht mehr vorkommt« 46. In seiner Interpretation ist das Erkenntnisverhältnis ein Seinsverhältnis, wobei zwei Seiende einander gegenüberstehen: das Subjekt als Erkennendes und der Gegenstand als GegenVgl. Tengelyi: »Nicolai Hartmanns Umkehrung«, S. 670. Hartmann: Metaphysik der Erkenntnis, S. 257. 43 Vgl. Hartmann: Zur Grundlegung der Ontologie, S. 77. 44 Das systematische Denken unterteilt Hartmann dreifach: Phänomenologie nennt er die getreue Beschreibung der Phänomene. Diese wird von einer Aporetik gefolgt, welche sachgerechte Probleme zu stellen versucht. Erst die dritte Stufe wäre dann die Theorie – als Schau, reines Schauen, im aristotelischen Sinne verstanden –, die Lösung der Aporien, die immer noch nur eine Tendenz, aber keine Vorwegnahme des Systems bedeutet. 45 Vgl. Hartmann: Metaphysik der Erkenntnis, S. 188. 46 Hartmann: Zur Grundlegung der Ontologie, S. 15 41 42
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Stehendes, das Ding, welches indifferent gegenüber seinem Erkanntwerden dasteht. Laut Hartmanns Argumentation ist im natürlichen Gegenstandsbewusstsein die Ansicht (stillschweigend) vorausgesetzt, dass der gegen-stehende Gegenstand mehr ist als bloß ein Objekt für das Subjekt. Auf diese Weise soll die These des Dinges an sich bereits zum natürlichen Bewusstsein gehören. 47 Dass sie ihre Gegenstände als Ansichseiendes, als von ihnen Unabhängiges voraussetzen, ist ein Wesenszug transzendenter Akte: […] [D]ie Erkenntnis, als Akt verstanden […], geht nicht darin auf, Bewußtseinsakt zu sein; sie ist ein transzendenter Akt. […] Wäre das Bewußtsein keiner transzendenten Akte mächtig, es könnte vom Sein der Welt, in der es lebt, nichts wissen. Es wäre in seiner Immanenz gefangen und könnte um nichts als seine eigenen Produkte, seine Gedanken oder Vorstellungen wissen. Wie denn die Skepsis von jeher eben dieses behauptet hat. […] Denken kann man sich alles Mögliche, auch Nichtseiendes; erkennen aber kann man nur, was »ist«. 48
In der Metaphysik der Erkenntnis werden vier Schichten des Transzendenten unterschieden: das Erkannte (als Objectum), das zu Erkennende (als Objiciendum), das Unerkannte (als Transobjektive) und schließlich das Unerkennbare (d. h. Irrationale oder Transintelligible). 49 Aus der Verschiebbarkeit der Grenze der Objektion ergeben sich folgende Verhältnisse: Während das Rationale teilweise objiziert und transobjektiv ist, ist das Irrationale immer transobjektiv. Das Objizierte ist immer rational, während das Transobjektive teilweise rational bzw. irrational ist. Zur Rationalität gehören Erkennbarkeit und logische Struktur, die Erfüllung dieser beiden Bedingungen macht etwas begreifbar. Irrational kann dementsprechend entweder das Alogische (das wäre das mystisch Irrationale) oder das Unerkennbare (der Transintelligible) sein. Das absolut (eminent) Irrationale – das gleichzeitig alogisch und transintelligibel ist – würde die Denkbarkeit überhaupt ausschließen, wäre bewusstseinsfremd, die Erkenntnis wäre davon vollkommen unberührt gelassen. Hartmann versteht das Irrationale
In diesem Sinne soll die Beweislast den Skeptikern zufallen, die das Sein des Scheins zu erklären haben. 48 Hartmann: Zur Grundlegung der Ontologie, S. 147. 49 Vgl. Hartmann: Metaphysik der Erkenntnis, S. 88 f. 47
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nicht als an sich, sondern für uns irrational, d. h. nicht als vernunftwidrig, sondern gerade auf die Grenze der Vernunfterkenntnis hindeutend. 50 Tengelyi hat in einem früheren Aufsatz darauf aufmerksam gemacht, dass dies dem von Emil Lask eingeführten Begriff der Irrationalität entspricht. 51 Dem Irrationalen begegnen wir »in bestimmter Angliederung an das Rationale« 52 bzw. das »Rationale geht in Abstufungen ins Irrationale über« 53. Die Erkenntnis ist also immer schon auf das Unerkennbare bezogen, dessen Vorhandensein ist ihr bewusst. In diesem Sinne meint Hartmann, dass es kein absolut Rationales bzw. Irrationales für die Erkenntnis gibt. Er führt den Begriff der Ebendenkbarkeit (im Sinne von minimal-rational, maximal-irrational) ein, und deklariert, dass bereits die niedrigste Stufe des Rationalen genügt, »um das Irrationale zu einem sinnvollen Begriff zu machen« 54. Der Begriff der Irrationalität spielt eine wichtige Rolle in Hartmanns Auseinandersetzung mit dem logischen Idealismus. In einem Brief an Meinong bekennt er, die Betonung der Irrationalität gegen die Marburger These der absoluten Erkennbarkeit etwas übertrieben zu haben. 55 Bereits in seinen früheren Schriften 56 interpretiert er Kants obersten Grundsatz als eine erkenntnistheoretisch neutrale These, laut dem die (partielle) Identität der Erkenntnis- und Seinsprinzipien die Bedingung der Erkennbarkeit der Gegenstände überhaupt ist. Die These der partiellen Identität der Prinzipien betrachtet er als »das unvermeidliche Minimum an Metaphysik« 57. Das Phänomen des Erkenntnisprogresses gründet sich darauf, dass Sein und Denken nur teilweise identisch sind. Dementsprechend befindet sich die Sphäre des Erkennbaren zwischen zwei Irrationalitäten, zwischen den irrationalen Momenten der Prinzipien und der partiellen Irrationalität der Gegenstände. 58
Ebd., S. 238 f. Vgl. Tengelyi: »Nicolai Hartmanns Metaphysik der Freiheit«, S. 229 f. 52 Hartmann: Metaphysik der Erkenntnis, S. 269. 53 Ebd., S. 273. 54 Hartmann: Metaphysik der Erkenntnis, S. 276. 55 Vgl. Morgenstern: »Vom Idealismus zur realistischen Ontologie«. 56 Siehe z. B. den Aufsatz zu Cohens 70. Geburtstag aus dem Jahr 1912: Hartmann: »Systembildung und Idealismus«, S. 69. 57 Hartmann: »Über die Erkennbarkeit des Apriorischen«, S. 199 f. 58 Vgl. ebd., S. 218 f. 50 51
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Denn sowohl die Gegenstände als die Prinzipien werden von einem gewissen Niveau ab unerkennbar. Auf beiden Seiten bedeutet diese Unerkennbarkeit nicht absolute Transzendenz, nicht totale Abgelöstheit, totales Fehlen der Beziehungen zum Erkennbaren. Beziehungen walten vielmehr durchgehend; und nur weil sie vorhanden sind, […] kann es überhaupt ein philosophisches Bewußtsein des Irrationalen geben. 59
Die Grenze der möglichen Objektion zerlegt den Gegenstand in zwei Teile: in einen endlichen, objizierten Teil und einen unendlichen, transobjektiven Rest. Die Einheit des Erkenntnisphänomens bedeutet, dass zwischen dem irrationalen Bestand des Gegenstandes und dem rationalen (erscheinenden) Teil kein Bruch besteht – Erscheinung und Ansichsein gehen kontinuierlich ineinander über. Die Erkenntnis tendiert immer nach dem ganzen Gegenstand, wobei ebenso das unendliche Transobjektive inbegriffen ist. In diesem Sinne ist die Erkenntnis an das Irrationale gebunden und die partiale Irrationalität des Gegenstandes ist als eine Voraussetzung beim Erkenntnisvorgang zu verstehen. Der objektivierte, erkennbare Teil des Gegenstandes ist bloß ein endlicher Ausschnitt; der Gegenstand weist auf eine unerschöpfliche Totalität, auf eine Unendlichkeit hin. »Die Totalität des Gegenstandes erweist sich als aktuale Unendlichkeit, die zu durchlaufen dem endlichen Verstande unmöglich ist.« 60 Das menschliche Erkenntnisvermögen tendiert aber immer dazu, »Unbegriffenes zu begreifen, Rätselhaftes zu enträtseln« 61: »Im Erkennen ihrer Endlichkeit nimmt sie Fühlung mit dem Unendlichen.« 62 Hartmanns Metaphysik gibt dem Irrationalen eine positive Bedeutung, insofern sie es als Grenzbegriff der Erkennbarkeit versteht: »Das Irrationale erscheint immer nur als die ins Unendliche verlaufende Perspektive des in bestimmter Blickrichtung stufenweise verblassenden Rationalen.« 63 Das Irrationale entspricht sogar dem Seienden überhaupt, »sofern es in den Grenzen des Erkennbaren nicht aufgeht« 64.
59 60 61 62 63 64
Ebd., S. 218. Hartmann: Metaphysik der Erkenntnis, S. 235. Ebd., S. 257. Ebd., S. 248. Ebd., S. 273. Ebd., S. 9.
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3.
Dreierlei Unendlichkeitsbegriffe
Im Folgenden soll gezeigt werden, dass sich Hartmanns Verständnis der Unendlichkeit (aktuelle und geschlossene Unendlichkeit) auf dem Mittelweg zwischen Kants (potenzielle Unendlichkeit) und Husserls (aktuelle und offene Unendlichkeit) Konzeption befindet. Neben den Hinweisen in den vorher genannten Schriften gibt es bei Tengelyi eine andere Textstelle, welche uns diesbezüglich belehren kann, und zwar das vierte Kapitel im Werk Erfahrung und Ausdruck: »Die Erfahrung und das Unendliche« 65. Laut Tengelyi ist bei Kant Unendlichkeit als unbedingtes Ganzes oder absolute Totalität gedeutet. Kants Ableitung folgt dem folgenden Weg: von der Unmöglichkeit einer unendlichen gegebenen Größe über eine neue (zuerst mathematische) Definition (»eine Menge (von gegebener Einheit), die größer ist als alle Zahl« 66) hin zum wahren Begriff des Unendlichen (als transzendentalem Begriff). Diesem zufolge kann »die sukzessive Synthesis der Einheit in Durchmessung eines Quantum niemals vollendet sein« 67. Da die empirische Synthesis sukzessiv ist, »kann« – so Tengelyi – »vom Unendlichen im Bereich der Erfahrung gerade nicht die Rede sein. Anders gesagt, bleibt die Erfahrung vom Unendlichen stets durch eine Kluft getrennt.« 68 Genau dieser Aspekt motiviert Tengelyi zu einem anderen Begriff des Unendlichen fortzuschreiten. Das Unendliche als regulatives Prinzip, als bloße Idee, hat keine objektive Realität. In der Erscheinungswelt gibt es nur sukzessiv Unendliches, potenziell Unendliches, aber kein wirklich Unendliches. 69 Die Idee der unendlichen Menge hat ein Ziel (als regulatives Prinzip) aber keinen Gegenstand. Bei Husserl wird das vollendete Ding an sich als regulative Idee, als Idee im kantischen Sinne gefasst. Das Ding (an sich) selbst bedeutet bei Husserl die Totalität seiner Aspekte, seiner Abschattungen, – d. h. kein sukzessiv Unendliches, sondern ein Erscheinungskontinuum, und zwar ein allseitig unendliches. 70 Die Idee des Unendlichen hat bei ihm sowohl ein Ziel als auch einen Gegenstand, welcher nicht 65 66 67 68 69 70
Tengelyi: Erfahrung und Ausdruck, S. 65–86. Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 461 / S. 418. Ebd., B 459 / S. 417. Tengelyi: Erfahrung und Ausdruck, S. 69. Vgl. Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 552 / S. 483. In der Erfahrung ist dies natürlich nicht gegeben.
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bloß potenzial, sondern aktual unendlich ist. Der Gegenstand ist: das Ding an sich in seiner allseitigen Gegebenheit: »[D]ie Idee des Unendlichen ist selbst einsichtig gegeben.« 71 Die Erscheinungen bilden nicht einfach eine unendliche Menge, sondern ordnen sich in verschiedene unendliche Mengen ein, welche miteinander keineswegs in eine chaotische Gesamtheit verschmelzen. Die Unterscheidung von Erscheinung und Ding an sich vertritt bei Husserl die Zweiteilung von Teilaspekt und Gesamtkontinuum. Tengelyi macht uns darauf aufmerksam, dass dieses Begriffspaar zugleich den untrennbaren Zusammenhang zwischen Unendlichem und Endlichem annimmt. Laut seinem Selbstverständnis vollzieht Hartmann eine kopernikanische Gegenwende. Die ontologische Umkehrung des subjektozentrischen gnoseologischen Weltbildes »gliedert die Vernunft in ein größeres Seinssystem ein« 72. Es bedeutet die Dezentralisation des Weltbildes, die Immanenz des Denkens im Sein, die Einbettung der Ratio in das Irrationale. 73 Das Irrationale (verstanden als Anzeichen, dass das Seiende nicht ohne Weiteres an unsere Denkformen angepasst ist bzw. denen entspricht), dient – laut Tengelyis Interpretation – als der zur Umkehrung von Kants kopernikanischer Tat führende Motivationsgrund. Das Irrationale als das Transintelligible drückt die Unangemessenheit des Seienden für den Verstand aus, und hängt als solches im engsten Sinne mit dem Unendlichen zusammen, und steht daneben im Gegensatz zum endlichen Umkreis des Menschen. 74 Ein Potenzial-Unendliches setzt aber immer schon ein AktualUnendliches voraus. 75 Mit Hartmanns Worten: »[E]ine unendliche Aufgabe der Erkenntnis ist doch nur möglich […], wo ein unendlicher Gegenstand vorhanden ist.« 76 Tengelyi bewertet diese Ableitung als Hartmanns Hauptargument für die realistische Annahme des Ansichseins und pointiert, dass es hier entscheidend ist, wie der Gedanke »Vorhandensein eines unendlichen Gegenstandes« verstanden wird. 77 In Hartmanns Konzeption besteht die Unendlichkeit des Seins Tengelyi: Erfahrung und Ausdruck, S. 74. Hartmann: Metaphysik der Erkenntnis, S. 287. 73 Vgl. ebd. 74 Vgl. Tengelyi: »Nicolai Hartmanns Umkehrung«, S. 663 und Hartmann: Metaphysik der Erkenntnis, S. 270. 75 Vgl. ebd., S. 665 f., bzw. Tengelyi: Welt und Unendlichkeit, S. 439 f. 76 Hartmann: Metaphysik der Erkenntnis, S. 196. 77 Vgl. Tengelyi: »Nicolai Hartmanns Umkehrung«, S. 665. 71 72
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an und für sich, von dem erkennenden Bewusstsein unabhängig; ebenso die Einzelgenstände: diese sind unerschöpflich und unerkennbar, der Vernunft unangemessen. Er nimmt aber auch an, dass »jeder Einzelgegenstand eine Totalität ›aller Bestimmtheiten‹ in sich schließt« 78. Gerade diese Idee einer geschlossenen Totalität unendlicher Bestimmtheiten wird dann problematisch, da – so Tengelyi – »alle Bestimmtheiten nicht einmal in einem aktual-unendlichen Gegenstand widerspruchsfrei zu einer absoluten Totalität oder zu einem unbedingten Ganzen vereinigt werden können« 79. Mit Bezugnahme auf Cantor macht Tengelyi deutlich, dass der unendliche Gegenstand als unbedingtes Ganzes, als absolute Totalität aller Bestimmtheiten eine inkonsistente Vielheit bedeuten würde. 80 Von einer absoluten Totalität kann man nur im Endlichen widerspruchslos reden. Fasst man aber mit Hartmann die transzendentale Sphäre als ontisch reale Sphäre – im Sinne von einer absoluten Totalität des Ansichseins – auf, führt dies laut Tengelyi dazu, dass der Abgrund zwischen dem Endlichen und Unendlichen außer Acht gelassen wird, was also eine Verendlichung des Unendlichen bedeuten würde. 81 Darum bezeichnet Tengelyi Hartmanns Verständnis des Dings an sich als ein Ding der Unmöglichkeit. 82 Tengelyi schlägt in Übereinstimmung mit Husserl vor, den Erfahrungsgegenstand als »eine aktual unendliche Mannigfaltigkeit« aufzufassen und »die Realität des Aktual-Unendlichen in der Welt auf die grundsätzlich immer offen bleibende Sphäre der Erscheinungen« 83 zu beschränken bzw. die Unendlichkeit der Erfahrungswelt als Offenheit zu verstehen. Hartmanns Bezeichnung des Einzelgegenstandes als einer geschlossenen Totalität unendlicher Bestimmtheiten kann die Konzeption des individuellen Dinges mit seinem – im ontologischen Sinne – offenen Wesen entgegengesetzt werden. Der von Tengelyi vertretene metontologische Transzendentalismus behauptet, dass die Welt nicht durch die geschlossene Totalität des Seienden ausgemacht wird, sondern von der jeweiligen dinglichen Totalität zum Unendlichen führt.
78 79 80 81 82 83
Ebd., S. 666. Ebd., S. 667. Vgl. Cantor: Gesammelte Abhandlungen, S. 443. Vgl. Tengelyi: »Nicolai Hartmanns Umkehrung«, S. 668. Vgl. ebd. Ebd., S. 685.
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Weltentwurf und Unendlichkeit bei Nicolai Hartmann
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Inga Römer
Was ist phänomenologische Metaphysik?
Im Ausgang von der Kritik Rudolf Carnaps einerseits und Martin Heideggers andererseits galt es lange Zeit hindurch sowohl in der so genannten analytischen als auch in der so genannten kontinentalen Tradition als selbstverständlich, dass die Metaphysik als solche zu über- beziehungsweise zu verwinden sei. Diese Grundhaltung jedoch scheint derzeit an ein Ende zu gelangen, was mindestens vier verschiedene Renaissancetendenzen der Metaphysik in den aktuellen Debatten bezeugen. Erstens gibt es in der analytischen Tradition seit mehreren Jahrzehnten ein wachsendes Feld von Versuchen spekulativer Metaphysik, in denen unter anderem danach gestrebt wird, modallogische Fragen mit Theorien möglicher Welten zu lösen. Zweitens öffnet sich seit ungefähr zehn Jahren auch die naturwissenschaftsnahe analytische Philosophie unter der Überschrift einer »metaphysics of science« diesem lange verschmähten Forschungsfeld. In den anwachsenden Diskussionen um einen zeitgenössischen Realismus, die sowohl Felder der analytischen als auch der kontinentalen Philosophie ergriffen haben, finden sich drittens vor allem bei den spekulativen Realisten einige Ansätze, die sich selbst als Erneuerungsversuche der Metaphysik verstehen. Die vierte Renaissancetendenz entspringt der Tradition der mit Edmund Husserl beginnenden phänomenologischen Bewegung. Es ist diese vierte Tendenz eines wiedererwachten Interesses an der Metaphysik, der ich mich hier zuwenden möchte. Was aber ist phänomenologische Metaphysik? Kann es so etwas überhaupt geben, oder ist der Ausdruck bereits eine contradictio in adiecto? Ist nicht das Husserl’sche Projekt mit seinem methodischen Instrumentarium der epoché gerade als Metaphysikkritik angetreten? Wie kann derzeit gerade im Ausgang von Husserl eine Renaissance der Metaphysikproblematik entstehen? Diesen Fragen widmen sich die folgenden Überlegungen. Ein erster Abschnitt stellt diejenigen Entwicklungen dar, die aktuell zu einer Renaissance des Problems der Metaphysik inner115 https://doi.org/10.5771/9783495813768 .
Inga Römer
halb der Phänomenologie geführt haben. Ein zweiter Abschnitt weist den spezifischen Charakter phänomenologischer Metaphysik bei Husserl auf. Ein dritter Abschnitt stellt denjenigen Ansatz zu einer phänomenologischen Erörterung des Problems der Metaphysik vor, den László Tengelyi in seinem letzten Buch Welt und Unendlichkeit. Zum Problem phänomenologischer Metaphysik verfolgt hat. In einem vierten und letzten Abschnitt wird auf eine alternative Linie eines phänomenologischen Umgangs mit dem Problem der Metaphysik hingewiesen, die sich wiederum in verschiedene Richtungen auffächert. Ziel der Überlegungen ist nicht eine eindeutige Beantwortung der Titelfrage, sondern vielmehr eine Erörterung der Frage selbst, durch die die Möglichkeiten phänomenologischen Fragens nach der Metaphysik in den Blick kommen sollen.
1.
Das »Ende des Endes der Metaphysik« in Frankreich
Während die Tradition der Phänomenologie in Deutschland seit Kriegsende weitestgehend marginalisiert wurde, ist sie in Frankreich bis zum heutigen Tage eine philosophische Bewegung von einschlägiger Bedeutung, an der nicht nur selbständig weitergearbeitet wird, sondern die in vielen Fällen auch den systematischen Horizont bereitstellt, vor dem philosophiegeschichtliche Untersuchungen unternommen werden. In Deutschland ist die französische Phänomenologie vor allem durch Bernhard Waldenfels und in der jüngeren Vergangenheit durch László Tengelyi bekannt gemacht worden. 1 Während Waldenfels die erste Generation von Sartre, Merleau-Ponty, Levinas und Ricœur für ein deutsches Publikum porträtierte und selbst eine vor allem von Merleau-Ponty und Levinas, aber auch von Michel Foucault und Jacques Derrida inspirierte Phänomenologie der Responsivität entwickelte, in der die Spannung zwischen Ordnung und Außerordentlichem im Mittelpunkt steht, hat László Tengelyi gemeinsam mit Hans-Dieter Gondek die nächstfolgende Generation von Phänomenologen und dabei vor allem Michel Henry, Jean-Luc Marion und Marc Richir als eine Generation vorgestellt, die in kritischer Abgrenzung von Husserls Idee eines sinngebenden Bewusstseins den Gedanken einer spontanen, von sich aus erfolgenden lebendigen SinnbilVgl. Waldenfels: Phänomenologie in Frankreich; Waldenfels: Deutsch-Französische Gedankengänge; Gondek / Tengelyi: Neue Phänomenologie in Frankreich.
1
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Was ist phänomenologische Metaphysik?
dung in den Mittelpunkt einer grundlegend neu ausgerichteten Phänomenologie rückt. Während in seiner Überblicksdarstellung Neue Phänomenologie in Frankreich zwar bereits teilweise die Frage nach dem Verhältnis der dort erörterten Generation von Phänomenologen zu Fragen der Ersten Philosophie, der Metaphysik und der Theologie zur Sprache kommt, um vor allem den von Janicaud erhobenen Vorwurf einer theologischen Wende innerhalb der französischen Phänomenologie zu entkräften, widmet sich László Tengelyi im ersten Teil seines letzten Buches Welt und Unendlichkeit jener französischen Entwicklungslinie, die uns hier interessiert. 2 Es handelt sich um eine für den französischen Raum spezifische Entwicklung, in der Studien zur Metaphysikgeschichte ihre systematische Perspektive der phänomenologischen Bewegung entnehmen. Im zentralisierten französischen Hochschulsystem gab es eine Reihe von späteren Philosophiehistorikern, die sich zu Beginn ihrer Karriere mit zwei einschlägigen Figuren konfrontiert sahen, welche in einer gewissen Spannung zueinander standen: Jean Beaufret und Pierre Aubenque. Über den Heideggerianer Jean Beaufret wurde Heideggers These, Metaphysik als solche sei Ontotheologie, vermittelt, während der Aristoteliker Pierre Aubenque eine Interpretation der aristotelischen Metaphysik vorschlug, die mit Heideggers These nicht zu vereinbaren war. Es entsprang aus dieser Grundspannung ein auf die gesamte Metaphysikgeschichte ausgedehntes Forschungsprogramm, dessen Leitfrage war, ob die großen metaphysischen Entwürfe tatsächlich ontotheologisch verfasst waren, und wenn sie es waren, in welchem spezifischen Sinne. Studien zu Aristoteles, zum Mittelalter und zu Descartes standen dabei besonders im Vordergrund. Das einschlägige Ergebnis dieser Forschungen aber war: Metaphysik ist nicht als solche Ontotheologie im Heidegger’schen Sinne, das heißt sie ist nicht als solche ein Denken, das, mit Heidegger gesprochen, das Sein auf ein höchstes Seiendes reduziert und aus diesem mittels des Satzes vom Grund das Sein des Seienden sowie das Seiende im Ganzen ableitet. Wenn das proklamierte »Ende der Metaphysik« sich aber auf die Metaphysik als Ontotheologie bezog, so bedeutet die These, Metaphysik sei philosophiegeschichtlich betrachtet gar nicht als solche Ontotheologie, dass sich systematisch die Perspektive einer nicht-ontotheologischen Behandlung des Problems der Metaphysik eröffnet. Eben diese sich eröffnende Möglichkeit lässt Jean-François Courtine 2
Vgl. Tengelyi: Welt und Unendlichkeit.
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Inga Römer
davon sprechen, dass wir am »Ende des Endes der Metaphysik« 3 angelangt seien. Wenn »Metaphysik« nicht mehr synonym mit »Ontotheologie« ist, stellt sich aber die Frage: Welche spezifische Gestalt vermag eine nicht-ontotheologische Metaphysik anzunehmen? Und auf welchem Wege kann ihre Bearbeitung versucht werden?
2.
Phänomenologische Metaphysik als Fortsetzung von Kants kritischer Neubegründung der Metaphysik
Insofern in Frankreich weitestgehend immer noch Husserl und Heidegger als die bedeutendsten Philosophen des 20. Jahrhunderts gelten und schon seit mehreren Jahrzehnten zunehmend Husserl der wichtigste Anknüpfungspunkt ist, ist es naheliegend, eine Bearbeitung der genannten Fragen im Ausgang von Husserl zu versuchen. Inwiefern aber kann Husserl überhaupt als Gewährsmann für eine nicht-ontotheologische Metaphysik herangezogen werden? In der Tat ist Husserls Phänomenologie ebenso wenig wie Kants kritische Philosophie schlechthin antimetaphysisch. Beide sind Kritiker einer unkritischen, dogmatischen Metaphysik, die sich in spekulativen Abenteuern verliert. Das bedeutet jedoch keineswegs, dass sie die Metaphysik als solche ablehnen. Vielmehr geht es ihnen um eine neuartige Behandlung des Problems der Metaphysik, die zunächst die Möglichkeiten des Fragens nach der Metaphysik in den Blick nimmt. Kant versteht die Kritik der reinen Vernunft in der Methodenlehre der ersten Kritik als eine Propädeutik zu einer Metaphysik der Natur und der Sitten, 4 und er gibt der Kurzfassung seiner ersten Kritik 1783 den Titel »Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können«. Husserl versteht seinerseits die transzendentale Phänomenologie in den Ideen I als eine »unabläßliche Vorbedingung […] für jede Metaphysik und sonstige Philosophie – ›die als Wissenschaft wird auftreten können‹« 5. Beiden geht es also durchaus um das Problem der Metaphysik, jedoch sind sie der Auffassung, dass der Problemcharakter der Metaphysik selbst so eigens in den Blick genommen werden muss, dass die Frage nach Courtine: Inventio analogiae, S. 13. Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 859 / B878. 5 Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, S. 8. 3 4
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Was ist phänomenologische Metaphysik?
Möglichkeit und Reichweite der Beantwortung metaphysischer Fragen in den Mittelpunkt rückt. Bei Husserl nun lässt sich eine gewisse Spannung bei der Bestimmung des Status der Metaphysik beobachten. In der Vorlesung Erste Philosophie von 1923 / 24 etwa bestimmt er die eidetische Phänomenologie als Erste Philosophie. Als »Erste Philosophie« gehe voran eine Wissenschaft von der Totalität der reinen (apriorischen) Prinzipien aller möglichen Erkenntnisse und der Gesamtheit der in diesen systematisch beschlossenen, also rein aus ihnen deduktibeln apriorischen Wahrheiten. 6
Dies ist die eidetische Phänomenologie, verstanden als transzendentale Wesenswissenschaft. Die »Anwendung« dieser Ersten Philosophie auf »die Gesamtheit der ›echten‹, d. i. der in rationaler Methode ›erklärenden‹ Tatsachenwissenschaften« führe darüber hinaus zu einer auf der »Einheit der obersten apriorischen Prinzipien« der Ersten Philosophie begründeten »Einheit eines rationalen Systems«, dessen »Korrelat und Gebiet die Einheit der faktischen Wirklichkeit ist« und dessen Erörterung Husserl einer »›Zweiten Philosophie‹« zuordnet. 7 Diese rationale Interpretation der Einheit der faktischen Wirklichkeit auf der Basis der eidetischen Phänomenologie bezeichnet Husserl auch als »›metaphysische‹ Interpretation« des »Weltall[s]«, letzteres verstanden als »das universale Thema der positiven Wissenschaften«. 8 In dieser Architektonik ist die eidetische Phänomenologie als Möglichkeitswissenschaft und Erste Philosophie der rationalen Erforschung der Einheit der faktischen Wirklichkeit in der Zweiten Philosophie vorgeordnet: die Möglichkeit geht der Wirklichkeit voraus, die Erste Philosophie als phänomenologische Ontologie geht der Zweiten Philosophie als Wissenschaft von der Gesamtheit der Wirklichkeit voraus. Husserl wird sich jedoch zunehmend dessen bewusst, dass sich diese Ordnung phänomenologisch so eigentlich nicht aufrechterhalten lässt. Der Grund dafür ist, dass die phänomenologischen Wesen aus einer eidetischen Variation gewonnen sind, die selbst in einem faktischen Ego, einem Ego des Vollzugs gründen. So heißt es etwa um 1922: »Habe ich keinen wirklichen Existenzboden, keine Erfahrungsbasis, so habe ich auch keine Möglichkei6 7 8
Husserl: Erste Philosophie (1923/24), S. 13 f. Ebd., S. 14. Ebd., S. 188, Fußnote.
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ten.« 9 Oder noch pointierter Anfang 1933: »Hinsichtlich der Apodiktizität des Ego steht es aber so, dass sie die notwendig frühere ist, als welche die des Wesens erst einsehbar macht.« 10 Diese Einsicht in ein Primat der Wirklichkeit vor der Möglichkeit führt Husserl zu der Idee, dass es bestimmte Fakta des Vollzugs gibt, die der eidetischen Wissenschaft nicht nachgeordnet werden können, sondern ihr vielmehr voraus liegen. Diese Umkehrung des Verhältnisses von Möglichkeit und Wirklichkeit wirft grundlegende Fragen auf: Was bedeutet diese Entdeckung für die Vorstellung von einer phänomenologischen Metaphysik als einer Wissenschaft von der Einheit der faktischen Wirklichkeit? Und was bedeutet sie für die Idee einer eidetischen Phänomenologie als Wesenswissenschaft? Es sind diese Fragen, die bei Husserl zwar auftauchen, jedoch nicht systematisch und vor allem nicht in einem eindeutigen Sinne behandelt werden.
3.
László Tengelyis Metaphysik der Urtatsachen im Ausgang von Husserl
László Tengelyi stellt eben jene von Husserl verstreut vorgebrachte Einsicht in ein Primat der Wirklichkeit vor der Möglichkeit in den Mittelpunkt seiner eigenen Behandlung des Problems der Metaphysik. Dabei sucht er seine Erörterungsweise dieses Problems ebenso in der Metaphysikgeschichte zu verankern wie seine spezifisch phänomenologische Gestalt auszuweisen. Seine Auseinandersetzung mit dem Problem der Metaphysik steht in derjenigen aristotelischen Traditionslinie, in der zwei Problembereiche der Metaphysik voneinander unterschieden werden: die Frage nach dem Seienden als Seienden einerseits, die spätestens seit Johannes Clauberg als Ontologie und spätestens seit Christian Wolff als metaphysica generalis bezeichnet wird, und die Frage nach dem höchsten Seienden bzw. nach dem Seienden im Ganzen andererseits, die sich zum Problem einer metaphysica specialis mit mehreren speziellen Gegenständen ausgestaltet. Mit Aubenque hält Tengelyi an dem spannungsvollen, gar aporetischen Charakter jener aristotelischen Doppelproblematik fest und betont zugleich mit Kant den Problemcharakter der Metaphysik selbst. Metaphysik habe nicht nur jenes Doppelproblem, das sie zu lösen ver9 10
Husserl: Zur Phänomenologie der Intersubjektivität, S. 153. Husserl: Grenzprobleme der Phänomenologie, S. 122.
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Was ist phänomenologische Metaphysik?
sucht, sondern sie hat in sich selbst einen Problemcharakter: die Zurückhaltung im Untertitel seines Buches »Zum Problem phänomenologischer Metaphysik« ist daher nicht bloße persönliche Bescheidenheit, sondern systematisch begründet. In welcher Weise behandelt Tengelyi jenes Doppelproblem und wie trägt er dabei dem Problemcharakter der Metaphysik Rechnung? Das Problem des Seienden im Ganzen kann nach Tengelyi durch die Husserl’sche Idee von metaphysischen Urtatsachen erörtert werden. Wieder ist es zunächst Aristoteles, bei dem er anknüpft und im Ausgang von dem er auf jene Husserl’sche Idee eingeht. 11 Bei Aristoteles findet er die Idee einer hypothetischen Notwendigkeit, die von Apriorität unterschieden ist: So lange, wie ein Seiendes existiert, ist es notwendig, da seine Existenz die Möglichkeit seiner Nichtexistenz ausschließt. Damit macht Tengelyi am Beginn der Metaphysikgeschichte bereits die ersten Spuren einer Metaphysik der Faktizität aus, die Notwendigkeit von Apriorität unterscheidet und deren fortgeschrittenste Ausgestaltung er bei Husserl erblickt. Die eben erwähnte Idee Husserls ist hier zentral, dass eine eidetische Phänomenologie, die mittels der Methode eidetischer Variation Wesensmöglichkeiten untersucht, letztlich in Urtatsachen fundiert ist. Und diese Urtatsachen haben nach Tengelyi den Charakter hypothetischer Notwendigkeit, der allerdings insofern von dem aristotelischen Konzept unterschieden ist, als die hypothetische Notwendigkeit bei Aristoteles jede reguläre Tatsache betrifft, während die hypothetische Notwendigkeit der metaphysischen Urtatsachen an den Vollzugscharakter der jeweiligen Urtatsache gebunden ist. Vier Gruppen derartiger Urtatsachen macht Tengelyi bei Husserl selbst aus: Das Ego, die Welt, die Intersubjektivität im Sinne einer intentionalen Verflechtung sowie die Geschichte. 12 Diese vier Urtatsachen, auf denen eine jede eidetische Phänomenologie unweigerlich basiere, tritt bei Tengelyi an die Stelle der drei Probleme der metaphysica specialis und begegnet zugleich der Frage nach dem Seienden im Ganzen. Sie tut dies allerdings fragmentarisch und unter Berücksichtigung des Problemcharakters der Metaphysik selbst: Die vier Urtatsachen können nicht noch einmal auf erste Ursachen zurückgeführt werden, und gehören daher keiner onto-theologisch verfassten Metaphysik zu. Die Urtat-
11 12
Vgl. Tengelyi: Welt und Unendlichkeit, S. 188–191. Vgl. ebd., S. 184–187.
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Inga Römer
sache des Ego kann in seiner Konzeption als Antwort auf das traditionelle Problem der Seele, die Urtatsache der Welt als Antwort auf das Problem der Welt und die Urtatsachen von Intersubjektivität und Geschichtlichkeit als Substitute für die Gottesproblematik verstanden werden. Über Husserl selbst explizit hinausgehend fügt Tengelyi jedoch noch eine fünfte Urtatsache hinzu, die in seiner Konzeption offenbar einen gewissen Brückencharakter hat, wenngleich er dies, soweit ich sehe, nicht eigens zum Thema macht: Es handelt sich um das Erscheinen des Erscheinenden selbst. 13 Diese Urtatsache des Erscheinens des Erscheinenden selbst aber eröffnet ihm den Weg zu einer neuartigen Auffassung der metaphysica generalis, die bei ihm – mit Kant gesprochen – auf den stolzen Namen einer Ontologie des Seienden als Seienden verzichtet und mit dem bloßen Anspruch einer Theorie der Kategorien des Erscheinenden in seinem Erscheinen auftritt. Diese Kategorien sind keine Seinskategorien, sondern Erfahrungskategorien weshalb Tengelyi sie als »Experientialien« 14 bezeichnet. Weil sie aber in den Urtatsachen und ihrem Faktizitätscharakter fundiert sind, können sie aus prinzipiellen Gründen nicht ein für alle Mal vollständig aufgezählt werden; mittels einer vom Besonderen zum Allgemeinen aufsteigenden reflektierenden Urteilskraft bleibt es immer möglich, neue Experientialien zu entdecken. Tengelyi charakterisiert diese Experientialien als bloße »Einstimmigkeitstendenzen der Erfahrung«, 15 deren erste die Wirklichkeit der Welt als umfassende Sicht aller Einstimmigkeitstendenzen sei. Diese phänomenologische Transzendentalphilosophie versteht er als einen bloß noch »methodologische[n] Transzendentalismus«, 16 insofern die Transzendentalien aus prinzipiellen Gründen nur im methodischen Ausgang von den Urtatsachen, aber nie ein für alle Mal aufgelistet werden können und nicht mehr als bloße Kategorien des Erscheinenden in seinem Erscheinen sind. Diese Metaphysik der Faktizität mit ihrem Komplement eines bloß methodologischen Transzendentalismus nimmt bei Tengelyi die Gestalt einer Philosophie der Welt und ihres Unendlichen an, was
13 14 15 16
Vgl. ebd., S. 190. Ebd., S. 194. Ebd., S. 197. Ebd., S. 200, vgl. S. 200–213.
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Was ist phänomenologische Metaphysik?
dem Buch seinen Haupttitel gibt. Die von ihm anvisierte Phänomenologie ist weder eine Philosophie des Subjekts noch eine Philosophie des Seins, sondern eine Phänomenologie der Welt. In ihrem Zentrum steht weder die Differenz von Subjekt und Objekt noch die ontologische Differenz zwischen Sein und Seiendem, sondern diejenige zwischen Welt und Ding. Die Welt wird von ihm dabei weder als ein existierendes Seiendes noch als eine geschlossene Totalität der existierenden Dinge verstanden, sondern er fasst sie in einer kantischen Tradition als das All der Erscheinungen auf, welches aufgrund seiner Offenheit in sich selbst auf das Unendliche verweist. Jeder Weltentwurf, innerhalb dessen uns Dinge erscheinen, ist zwar eine unendliche Idee; aber ein Weltentwurf kann nur durch eine endliche Anzahl einstimmiger Erfahrungen ausgewiesen werden. Zugleich ist eine endliche Anzahl von Erfahrungen kompatibel mit unterschiedlichen Weltentwürfen. Für Tengelyi bedeutet das, dass prinzipiell mehrere Weltentwürfe möglich sind, wobei er in unserer Zeit die Weltentwürfe des Transzendentalismus und des Naturalismus einander gegenüberstellt. Während er in Welt und Unendlichkeit für einen »agonale[n] Respekt« 17 der Weltentwürfe füreinander plädiert, scheint er in seinem letzten Vortrag »Philosophie als Weltoffenheit« 18 eine integrative transzendentalphilosophische Perspektive in den Vordergrund zu rücken, in der im Anschluss an Schellings Weltalter-Fragmente die Natur als das Weltalter der Vergangenheit und die Geschichte als das Weltalter der Gegenwart verstanden werden, welche zusammen das Seiende im Ganzen erschöpfen, während das Weltalter der Zukunft als eine Öffnung zum Unendlichen hin verstanden wird, die alle Totalität des Seins überschreitet. Jene drei Zeitmomente sind dabei keineswegs sukzessiv aufeinander folgende Phasen, sondern gleichursprüngliche Momente unserer durch Geschichte bestimmten Welt, die als ihre Vergangenheit die Natur impliziert und die offen unendlich auf Zukunft ausgerichtet ist. Die Metaphysik der Urtatsachen und der ihr zugehörige methodologische Transzendentalismus verbinden sich hier mit dem Entwurf eines durch Schelling inspirierten phänomenologischen Denkens der Geschichte.
17 18
Ebd., S. 425. Vgl. Tengelyi: »Philosophie als Weltoffenheit«.
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4.
»Henologische« und praktische Perspektiven phänomenologischer Metaphysik?
Der Leser des Buches Welt und Unendlichkeit wird sich des Eindrucks kaum erwehren können, dass er es hier mit einem großangelegten Entwurf zu tun hat, den sein Verfasser weiter ausgearbeitet und differenziert hätte, wäre ihm die Zeit dazu geblieben. An dieser Stelle werde ich nicht direkt auf Fragen eingehen, die sich in Bezug auf den Entwurf von László Tengelyi stellen können, sondern ich möchte stattdessen skizzenhaft auf eine alternative Linie phänomenologischer Metaphysik hinweisen, die er in den Hintergrund rückt, obgleich doch nicht ganz ausklammert. Worum handelt es sich? In einem bereits 1908 entstandenen Manuskript formuliert Husserl: Metaphysik. Erste Stufe: Rückgang auf das erste Absolute, das der Phänomenologie und der phänomenologisch reduzierten Wissenschaften, das Bewusstsein und seine Verteilungen in Henaden. Zweite Stufe: die Einheit der mannigfaltigen Henaden oder Monaden durch Teleologie, durch Harmonie. 19
In diesem Zitat wird eine Bezugnahme auf die neuplatonische Philosophie des Einen, die Henologie deutlich, und in der Tat finden sich Spuren einer derartigen henologischen Perspektive bis in Husserls späteste Schriften hinein. Husserl lässt sich damit der Sache nach auch in jene philosophiegeschichtliche Traditionslinie stellen, die eine Kontinuität zwischen dem Neuplatonismus und dem Deutschen Idealismus sieht. Tengelyi bezeichnet die Tradition plotinischer Henologie zum einen als einen »henologische[n] Sonderweg« 20 in Bezug auf die Hauptlinie der von Aristoteles ausgehenden Metaphysikgeschichte und hebt auch – soweit ich sehe – ihre Kontinuität zum Deutschen Idealismus nicht heraus; zum anderen jedoch versteht er sie mit dem Plotin-Forscher Jean-Marc Narbonne nicht als eine zur Ontotheologie parallele Einheitsmetaphysik, »sondern als eine Lehre vom Unterschied zwischen Unendlichkeit und Seinstotalität«, in der das Unendliche ähnlich wie bei Levinas den Horizont der Totalität durchbricht. 21 In dieser Lesart liegt schon die Andeutung, dass auch an die henologische Tradition eine nicht-ontotheologische Erörterung des 19 20 21
Husserl: Grenzprobleme der Phänomenologie, S. 164. Tengelyi: Welt und Unendlichkeit, S. 72. Ebd., S. 83, vgl. S. 82.
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Was ist phänomenologische Metaphysik?
Problems der Metaphysik angeknüpft werden kann. Tengelyi stellt seinem Buch ein auf diesen Gedanken hinweisendes Plotin-Zitat voran, obgleich er jenen Weg als einen »henologischen Sonderweg« bezeichnet und im Buch selbst an die aristotelische Tradition anknüpft. Nun gibt es aber auch bei Husserl selbst durchaus Perspektiven, die als eine Anknüpfung an die im Deutschen Idealismus entwickelte Transformation des Neuplatonismus verstanden werden können. Wo aber ist der systematische Ort der Frage nach dem Einen jenseits des Seins in Husserls phänomenologischer Transformation dieser henologischen Tradition? Es sind vor allem die von Husserl in drei Anläufen unternommenen Analysen zum Zeitbewusstsein, welche hier den Ansatzpunkt bieten können, denn es sind die Zeitanalysen, die ihn immer wieder auf einen ersten Grund des Bewusstseins führen, der als letzte Quelle fungiert, selbst aber nicht phänomenal gegeben und derart nicht als ein Seiendes bestimmt werden kann. Die immer wieder neu sich aufdrängende Frage ist: Wie ist der letzte Grund des phänomenologisch reduzierten Bewusstseins zu verstehen, der sich selbst der Phänomenalisierung entzieht? An diese Frage aber haben schon früh Husserls Assistenten Ludwig Landgrebe und Eugen Fink angeknüpft. Beide hatten dabei das Problem der Metaphysik im Blick, schlugen jedoch wesentlich unterschiedliche Perspektiven ein. Landgrebe vertritt die Auffassung, dass in dem »zum absoluten Faktum des Ich-bin« gehörigen »Weltglauben« »jedes Begründen auf[hört]«; zu jenem absoluten Faktum des Ich-bin gehöre »eine vorgängige Affirmation, auf deren Boden alle Urteilsgewißheiten und Wahrscheinlichkeiten ruhen«, es sei »die Gewißheit, aus der wir leben« und die »grundsätzlich niemals in Urteilsgewißheit, das heißt in Wissen, aufgehoben werden kann«. 22 Diese »Gewissheit, aus der wir leben«, glaubt Landgrebe als eine »›Glaubensgewißheit‹« deuten zu dürfen, die er als ein »Annehmen der Herausforderung« dessen, was in jenem gelebten Urfaktum liegt, versteht und eher mit dem von Pascal unterschiedenen »Gott Abrahams und der Propheten« in Verbindung bringt als mit dem »Gott der Philosophen«. 23 Während Landgrebe den Grund des phänomenologisch reduzierten Bewusstseins in einer gelebten Glaubensgewissheit sieht, auf der jede Reflexion und jedes Begründen beruht, geht Fink einen Landgrebe: »Faktizität als Grenze der Reflexion und die Frage des Glaubens«, S. 123. 23 Ebd., S. 132, S. 128. 22
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Inga Römer
ganz und gar anderen Weg. In seinem Entwurf zu einer VI. Cartesianischen Meditation 24 tritt an die Stelle von Landgrebes These einer religiös erlebten Urgewissheit, auf die sich alles Argumentieren, Begründen und Reflektieren stützt, der Gedanke einer phänomenologischen Konstruktion, welcher im Rahmen einer phänomenologischen Transformation des Aufbaus von Kants Kritik der reinen Vernunft vorgetragen wird. Fink hat eine Phänomenologie im Sinn, die in einer »transzendentalen Ästhetik« mit einer Auslegung des gegebenen Weltphänomens beginnt, in einer »transzendentalen Analytik« regressiv in die konstituierenden Tiefenschichten des transzendentalen Lebens zurückfragt und schließlich in einer als »konstruktive Phänomenologie« verstandenen »transzendentalen Dialektik« das konstruiert, was phänomenologisch nicht mehr ausweisbar ist. 25 Letztere Konstruktion betrifft vor allem Fragen nach dem Anfang und nach dem Ende der Konstitution und Fink geht davon aus, dass »phänomenologische[] Theorien« im Ausgang von dem phänomenologisch Gegebenen konstruiert werden können und müssen, in denen die Fragen nach Anfang und Ende der Weltkonstitution nicht nur »aufzuwerfen«, sondern auch »zu beantworten« sind. 26 Sowohl Landgrebe als auch Fink verstehen ihre Ansätze als Antworten auf das Problem der Metaphysik: Der eine bringt an der Grenze der Phänomenalität eine Glaubensgewissheit, der andere den Gedanken einer notwendig werdenden Konstruktion ins Spiel. Führen aber Husserls Überlegungen zum selbst nicht phänomenal gegebenen Grund des phänomenologisch reduzierten Bewusstseins unweigerlich entweder in die prärationale Glaubensgewissheit oder in die Konstruktion? Vor allem wenn man die Nachlassmanuskripte einbezieht, ist Husserl ein so vielseitiger Denker, dass sich im Ausgang von seinen im Fluss befindlichen schriftlich festgehaltenen Überlegungen ganz unterschiedliche Wege einschlagen lassen, wovon die Husserl nachfolgende Phänomenologie Zeugnis gibt. Abschließend sei eine weitere Perspektive lediglich angedeutet, die sich im Ausgang von seinen Manuskripten hinsichtlich des Problems der Metaphysik zu eröffnen scheint. Es handelt sich um die Perspektive einer Metaphysik, welche in theoretischer Hinsicht mit einer wesentlichen Offenheit konfrontiert ist, die lediglich in praktischer Hinsicht ausgefüllt werden kann. 24 25 26
Fink: VI. Cartesianische Meditation. Teil 1. Vgl. ebd., S. 11 f. Ebd., S. 12.
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Was ist phänomenologische Metaphysik?
Mit anderen Worten geht es um die Perspektive einer Metaphysik, in der theoretisch unauflösbar bleibende Aporien nur noch praktisch beantwortet werden können. Dies ist die Tradition einer spezifisch praktischen Metaphysik, welche durch Kant eröffnet wurde. An welchen Stellen können bei Husserl Ansätze zu einer derartigen Konzeption gefunden werden? Ein Anknüpfungspunkt für jene Perspektive praktischer Metaphysik liegt in Husserls eigentümlicher Auffassung einer rationalen Teleologie und dem damit verknüpften Vernunftbegriff. Den phänomenologisch ausweisbaren Grund dieser Teleologie, der zugleich ihre spezifische Gestalt zeigt, findet Husserl in dem, was er Triebintentionalität nennt. Diese Urintentionalität ist eine strebende Intentionalität ohne bestimmten Gegenstand; sie könne zwar »fundiert« sein in einer vorstellenden Intention, aber nicht in einer solchen, die im Voraus Bestimmtes (sei es auch nur allgemeinen Zügen nach Bestimmtes) im Voraus Bekanntes meint, sondern in dieser Hinsicht völlig unbestimmt ist, vielmehr Bestimmtheit erst durch die Erfüllung sich zueignet. 27
Das »Was« ihrer Ausgerichtetheit »ist vieldeutig, ist nicht voll bestimmt«. 28 Diese Struktur der triebhaften Urintentionalität überträgt sich aber Husserl zufolge auf die höherstufigen Leistungen. Er schreibt: Jede schöpferische Leistung völlig neuer Art, die für die künftige Menschheit schicksalsbestimmend wird, setzt voraus einen auf das Neue gerichteten dunklen Trieb, der erst in der Erfüllung (der hier schöpferische Handlung bis zum Endprodukt des schöpferischen Werkes ist) seinen teleologischen Sinn zeigt. 29
Wenn aber die Struktur der Triebintentionalität Husserls Überlegungen zu einer phänomenologischen Teleologie zugrunde liegen, so handelt es sich bei dieser Teleologie nicht um eine Metaphysik, in der ein oberstes Zweckprinzip als Ableitungsgrund fungiert. Die Vernunft selbst wird von Husserl in einem Vernunftinstinkt verankert, den er als eine Tendenz zur Erfüllung versteht; vernünftig ist das, was nicht nur leer intendiert, sondern anschaulich erfüllt ist. Die Struktur der Triebintentionalität aber zeigt, dass nicht nur jene Erfüllung, sondern auch die bestimmte Leerintention in der Urintentionalität noch 27 28 29
Husserl: Grenzprobleme der Phänomenologie, S. 84 (1916–1918). Ebd., S. 94 (1930). Ebd., S. 120 (1933).
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Inga Römer
nicht fertig vorliegt. Es handelt sich bei Husserl daher um eine Teleologie, die auf Vernunft ausgerichtet ist, den Wasgehalt des Vernünftigen aber gerade nicht von vorneherein in sich trägt: Was das Ziel ist, zeigt sich erst im Nachhinein. Die Teleologie der Urintentionalität ist in sich selbst wesentlich offen. Kein konstituiertes Seiendes erschöpft die Fülle jener konstituierenden Urintentionalität. In dieser ursprünglichen Triebintentionalität gibt es Husserl zufolge aber auch einen »Trieb hzuri Naturkonstitution« als »Konstitution der Körperlichkeit«. 30 In dieser Ausrichtung »auf die ontische Konstitution« 31 ist in der faktisch fungierenden Triebintentionalität der teleologische Zug auf Gegenstandskonstitution angelegt, der erste Schritt, auf Grund dessen eidetische Variation und damit die Arbeit an einer phänomenologischen Ontologie möglich wird, die sich nach Husserl in regionale Ontologien zu unterteilen und als Folie für die konkreten Wissenschaften zu fungieren vermag. Husserls Bestimmung der faktisch fungierenden Urintentionalität aber weist darauf hin, dass es im jemeinigen Bewusstsein einen grundlegenden Überschuss gegenüber ontischer Konstitution und an sie anknüpfender eidetischer Variation gibt, so dass eine unaufhebbare Spannung zwischen der Fülle des konstituierenden Bewusstseins und dem jeweils konstituierten Seienden gibt. Mit anderen Worten: Die Verfestigungen in der ontischen Konstitution sowie die auf ihnen aufbauende phänomenologische Wesenswissenschaft erschöpfen prinzipiell niemals das Potential, aus dem sie hervorgegangen sind. Sollte es sich hierbei aber tatsächlich um eine nicht nur vorläufige, sondern prinzipielle Differenz handeln, wie es die Husserl’schen Analysen der Triebintentionalität anzudeuten scheinen, so wäre an den Grenzen des theoretisch ausweisbaren Seienden und seiner ontologischen Strukturen immer eine praktische Verantwortung des Einzelnen gefordert, der für die auf dem Boden der Faktizität ermittelte Ontologie und der in ihr gründenden rationalen Wissenschaften einsteht und die Verantwortung übernimmt, obgleich sie niemals voll und ganz gesichert ist. Husserl formuliert einmal: Es liegt in »der Selbstverantwortlichkeit des Handelnden […], wie weit er sich autoritativ bestimmen lässt: Es ist seine Verantwortung, wie er Kritik an der Wissenschaft selbst übt, wie viel er ihrer Autorität traut usw.« 32 30 31 32
Ebd., S. 117 (1933). Ebd., S. 117 (1933). Husserl: Grenzprobleme der Phänomenologie, S. 180 (1916–18).
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Was ist phänomenologische Metaphysik?
Weder der Glaube noch die Konstruktion füllt hier die Lücke des phänomenal nicht mehr Gebbaren, sondern eine praktische Verantwortung. Ein Urquell des Bewusstseins, der selbst nicht als ein Seiendes bestimmt werden kann, geht mit einem Überschuss über alles konstituierte Seiende und seine Strukturen einher, eine prinzipielle Differenz, die theoretisch nicht überwunden, sondern nur praktisch verantwortet werden kann.
5.
Schluss
Ziel der voranstehenden Ausführungen war nicht die Beantwortung der Titelfrage, sondern die Erörterung der Frage selbst, um die Möglichkeiten phänomenologischen Fragens nach der Metaphysik etwas genauer in den Blick zu bekommen. Drei Grundcharaktere dieses Fragens könnten festgehalten werden, im Ausgang von denen sich dann unterschiedliche Richtungen eröffnen. Die drei Grundcharaktere sind erstens, dass sie dem Primat der Faktizität vor der Möglichkeit Rechnung zu tragen hat, daraus folgt zweitens, dass sie nicht onto-theologisch verfasst bzw. keine Einheitsmetaphysik sein kann, und drittens den Problemcharakter der Metaphysik selbst in Anschluss an Kant eigens in den Mittelpunkt rücken muss. Die Renaissance des Problems der Metaphysik innerhalb der Phänomenologie hat gerade erst begonnen. Ob sich seine Bearbeitung jedoch eher in Richtung einer Metaphysik der pluralen Urtatsachen mit einem komplementären methodologischen Transzendentalismus, in die Richtung einer prärationalen Glaubensgewissheit und der auf ihr gründenden Rationalitätsfiguren, in die Richtung einer konstruktiven Phänomenologie oder aber in die Richtung einer die theoretischen Grenzfragen beantwortenden praktischen Metaphysik entwickeln wird, muss sich in Zukunft herausstellen. Dass die Phänomenologie derzeit aber überhaupt eine neuartige, konturierte Stimme in der die Phänomenologie weit überschreitenden Renaissance der Metaphysikproblematik hat, ist wesentlich László Tengelyi zu verdanken.
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Inga Römer
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Sándor Sajó
Is Experience Diacritical? 1
In Welt und Unendlichkeit, Tengelyi describes the diacritical method the following way: »[T]he diacritical method (Vorgehensweise) is to separate in retrospect, true to the facts, from one another moments which seemingly coincide, but without calling into question that the moments that are separated essentially belong together.« 2 Accordingly, it is not only the method that is diacritical but experience itself as well: its moments belong together diacritically. If this is the case, and I think it is, and if experience is the subject matter of philosophy, as Tengelyi argues, rightly, I think, then philosophy’s task is to describe this structure. In his last book, Tengelyi gave an excellent overall account of experience along these lines. In what follows, I will first sketch his ideas. Then, I would like to highlight some other figures of experience that, in my opinion, are fundamental, and also show this very structure but, for some reason, are not analyzed extensively in his book. If experience is diacritical, then it is impossible to separate, »clearly and distinctly«, a first moment, a fundamentum inconcossum, an apodictically certain point of departure. Tengelyi rejects all attempts that try to develop a philosophy on the assumption of a real separation. Let me sketch briefly some possible options, focusing on the phenomenological tradition. In doing so, I will assume that the ultimate, irreducible moments of experience are the ego, the other, and the world. (1) One option is Cartesian egology, which takes its point of departure in the ego and aims to develop a philosophy on this foundation. In Husserl (I would underline that I have his Cartesian Medita-
Tengelyi was my Doktorvater and, also, a friend. I am deeply indebted to him, in many ways. Probably much more than I will ever be aware of. 2 Tengelyi:Welt und Unendlichkeit, p. 301. The English translations are mine. 1
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tions 3 in mind, and not those manuscripts in which he sketches the four »primal facts«, including intersubjectivity, without ever elaborating on them systematically), one finds a critique of this conception, based on the idea of intentionality. Since consciousness is necessarily the consciousness of something, instead of the ego cogito, the ego cogito cogitatum is to be the point of departure. However, in a sense, Husserl keeps the foundational-hierarchical conception since he maintains the separation of the ego/world (intentionality) and the alter ego, or at the very least, his analysis remains highly questionable and ambiguous in this respect. 4 In his Cartesian Meditations, the other is conceived on the basis and from the perspective of the ego or, to be more precise, the ego/world correlation. Therefore, I would call his phenomenology »objective egology«. (2) »Alterology«, as elaborated by Lévinas, takes its point of departure in the other. Its emblematic expression, and I must admit that my account is a little too simplistic here, is the phrase »One is the hostage of the other«. 5 However, such a conception remains in the framework of separation since it continues to assume that it is possible to start philosophy from a separate moment – this time, instead of the ego, it is the other. (3) The third option would be an »objectivistic« philosophy, taking the world as its point of departure. Since Tengelyi starts from experience, and not from the world (originally, the title of the book was to be Weltentwurf und Unendlichkeit, instead of Welt und Unendlichkeit), I do not think that this option and the reason why it is rejected by Tengelyi need to be analyzed in detail. (4) A further option, represented by Sartre 6 in the phenomenological tradition, is to discard all three above versions and hold that the three moments of experience make up a homogeneous or neutral unity, without any foundational asymmetry. Despite his brilliant analyses, however, I think that Sartre’s conception is far-fetched: for even if there is no foundational hierarchy between the three moments, they can and must be distinguished from one another. And this is Tengelyi’s position too: for instance, however critical he is of
Husserl: Cartesian Meditations. Cf. for instance Held: »Das Problem der Intersubjektivität«. 5 At the end of the book, Lévinas claims that »this book interprets the subject as a hostage«. See Lévinas: Otherwise Than Being, or, Beyond Essence, p. 184. 6 Cf. Sartre: Being and Nothingness, and also The Transcendence of the Ego. 3 4
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the egological tradition, he would not say that the ego may be discarded altogether. In this context, it is worth referring to Tengelyi’s critical remarks of Deleuze and positive assessment of MerleauPonty, or the Husserlian conception of Vermöglichkeit. 7
1.
The categories of experience and their relation
Assuming that experience is a threefold structure of ego-other-world, Tengelyi’s philosophy focuses on the ego/world relation. More specifically, on the relation between the ego, on the one hand, and the object and the world on the other; and on the relation between the ego on the one hand, and the world and the infinite on the other. As to the first, relying on a critical evaluation of Kant, Husserl, and French phenomenology, and focusing on »the idea in the Kantian sense« as interpreted by Husserl, Tengelyi shows the essential interrelatedness or »diacritical belonging together« of the object and the world. As to the relation between the world and the infinite, we once again see a diacritical relation. Even the infinite is and can only be »the infinite of this world«. There is no transcendence in the strict sense of the term – that is why Tengelyi may rightly claim that his phenomenology is »metaphysics without onto-theology«. In Tengelyi’s view, experience is not only the point of departure but also the unsurpassable subject matter of philosophy. Accordingly, he offers a philosophy of what he calls »Experimentialien« (categories of experience). These categories have an intentional structure, including the paradox of consciousness. As Tengelyi says: »It is still for consciousness that something proves to be independent of consciousness« 8. Or: »the existence of a worldphase anterior to the consciousness/reality correlation […] can only be grasped from a now existing consciousness/reality correlation, by retroactive constitution« 9. I would even say that when, at the very end of the book, Tengelyi says that the infinite is »the infinite of this world« 10, »world« might as well be replaced by »experience«. Cf. Tengelyi: Welt und Unendlichkeit, pp. 538–540. Ibid., p. 413. In Tengelyi’s original sentence the emphasis is elsewhere. 9 Ibid., p. 551. 10 Ibid., p. 548. My modification. In Tengelyi’s text, the whole phrase is in italics. 7 8
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The categories of experience are related to one another: they are consonant. The term »consonance« (»Einstimmigkeit«), derived from the Kantian analysis of reflecting judgement, has a much more fundamental role in Tengelyi’s philosophy than in Kant’s. While for Kant its role is limited to aesthetics and teleology, Tengelyi shows that consonance pervades the entire experience. 11In other words, Tengelyi extends consonance to what, according to Kant, belongs to determining judgements, including the category of cause. It is in this context that Tengelyi emphasizes that consonance is »a mere primal fact«, and not an a priori determination. 12 In line with this, one may call experience not only a diacritical formation but also a cracked totality. In contradistinction to closed totality where every moment would have its sense once and for all, cracked totality is a necessary interconnectedness or intermingling of moments. Accordingly, it is not Hegel but Saussure 13 whom I have in mind: the idea that each and every element obtains its sense in and thanks to a whole network of terms. Instead of the system of signs, however, I would say that experience is a system of differences. In experience, moments belong together, since they mutually condition each other.
2.
The diacritical relation between the ego and the other
As I said, in Tengelyi’s book, the mutual belonging together, or even the mutual inclusion of the ego and the other, is not in the forefront. However, I do not think that Tengelyi would ever deny its philosophical significance. On the contrary, he underlines its essential role in experience. Accordingly, I think that the reason why it remains in the background has nothing to do with Tengelyi’s philosophical position. Let me refer to some points that may verify this. (1) Again and again, Tengelyi underlines that his point of departure is the lifeworld, which definitely is a shared world of persons.
Cf. ibid., p. 360. Cf. Ibid., p. 547. 13 And, from the phenomenological tradition, obviously, Merleau-Ponty, especially The Visible and the Invisible. Naturally, Tengelyi also analyzes, critically, MerleauPonty’s conception. 11 12
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(2) Tengelyi repeatedly refers to the later Husserl’s third »primal fact«, i. e. the mutual intertwining of the ego and the other. He also mentions it in the presentation of the keystones of his own philosophy. (3) Tengelyi claims that in experience, we necessarily assume and request that everybody will share our presuppositions. 14 In what follows, I would like to highlight some figures of experience with a diacritical structure or, as I would say, with the structure of cracked totality: love, despair, and the consciousness of one’s own death. These figures also make it plain that »cracked totality« is a neutral term: it appears in both negative and positive forms. Arthur Rimbaud’s phrase »I is another« 15 is an emblematic expression of the ego/other relation. It implies that there is no one-way path, from the ego or the other, no linearity, discursivity, hierarchy, ultimate foundation, no atomism. However, experience is not pure becoming or perfect circularity either. Totality is cracked: I cannot be myself without being someone else, and I cannot be not myself without being myself. In my relation to myself, not only do I relate to someone else, but I am someone else. Obviously, Rimbaud’s phrase is agrammatical and inconsistent; however, or rather, for that very reason, it makes the state of affairs as clearly visible as possible. In love, the ego/other separation seems to disappear but in fact the impossibility of their strict unity appears; on the other hand, in despair and in the consciousness of one’s own death, the ego/other distinction comes close to a strict separation but turns out to be impossible.
Love 16 Love is the approximation of a unity by the ego and the other, but in fact it has the structure of diacritical or cracked totality. It is unity and Cf. Tengelyi: Welt und Unendlichkeit, p. 359. »Je est un autre«. Later on, Sartre, Merleau-Ponty, Lacan, Ricoeur, Deleuze, Derrida, Badiou, Nancy and many others elaborate on this phrase, occurring twice in Lettres du voyant. 16 In the phenomenological tradition, it is Jean-Luc Marion who puts love into a central position: in The Erotic Phenomenon, the erotic reduction is to replace the phenomenological reduction (Husserl) and the ontological reduction (Heidegger). 14 15
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distinctness at once: unity as demand and as telos indefinitely approximated but never achieved. And it needs to be so, otherwise love would be impossible. This is a dynamic or even dialectical movement where, to some extent, I am you and you are me, and yet, it has to be me as a person that the other is in love with and it is the other that I am in love with. Even here, there is no homogeneous totality but a cracked one. Needless to say, it is not the mark of imperfection; on the contrary, this is the condition of possibility of love’s dialectic. Love is desire and desire is absence. The desire of the other intensifies my desire, and my desire is the desire of the other, in both senses: it is at once a genitivus obiectivus and a genitivus subiectivus. Marion describes this excellently: its structure is even more intricate than what Merleau-Ponty, following Husserl, describes as the reflexivity of one’s own body. For in love two embodied minds stand in a reflexive relation. It is different from touching one hand with the other (Merleau-Ponty’s example), where exteriority and interiority are not separate. In touching the other, I feel that the other feels me, and I feel that the other feels that I feel him/her. This is the condition of possibility of the Dionysian-Apollonian undulation of making love. 17 Lovers are almost inextricably intertwined: they experience the play of moving towards and moving away, of fusion and division. In love, desire intensifies to a point that it almost wants to ruin itself. On the one hand, the other should be totally mine, that is, should cease to be another, and yet, if he/she indeed ceased to be another, love would come to an end. The other must remain another or else I cannot want her/him to cease to be another and become totally mine. On the other hand, I may only want her to be mine if I am still there in some way: in love, desire’s total success would equal to its total failure. Since the other is my other, that is: me, I would cease to exist as soon as the other ceased to be. That is why love and death are so close to each other – like in the story of Tristan and Isolde or in Haneke’s movie Love, all their differences notwithstanding.
Grief Grief is the result of the loss of another: the experience of outliving someone close to us. This or, more precisely, the fear thereof is the 17
In Nietzsche’s sense. See Nietzsche: The Birth of Tragedy.
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topic of the story of Baucis and Philemon, the old couple asking the Gods to let them die together, that is, to relieve them of the pain over the loss, i. e. the present absence or the absent presence of the other. In grieving, I might try to say to myself that it was someone else who has passed away, and I am still here, so I should not be devastated: but I will not be able to believe myself. This shows that I am the other and the other is me, almost inextricably: it is an existential, mutual relation. There is no such thing as me, absolutely separated and distinct from others. When we lose someone, it is our own pain that we are dealing with, and the pain of others who are also mourning. Nevertheless, grief can be shared only because those who are mourning are connected to each other and form a community via their relation to the one who has passed away. Grief is sym-pathy: we all feel the same at the same time. 18 The deceased is present in his/her absence to all of us, and there is no need for any »physical« presence, not even the sight of the corpse. Funeral service is magic, but an everyday magic. 19 The farewell – the putting to rest, the burning or the scattering of the deceased – is the last contact where the deceased is present through the dissociation of their identity with their body becoming irrevocably absent. However, even though death means coming to an end, it is not the fixation of sense once and for all. If experience is sense formation 20, it will remain in the making 21, and even the dead may go through modifications. Though they are not able to give answers any more, we may well contemplate how they would respond in a given situation. Due to such phantasies after someone’s death, the deceased may go through gradual transformation. It may be objected that coming to an end in fact means that our view about their »nature«, »character« and »beliefs« cannot change any longer, assuming that the way we think the deceased would respond presupposes our view of the deceased. However, such an objection implies an atomistic and one-sided conception: it assumes that the deceased determines me in a way such that in the past I received passively and mechanically what his »nature« was, and Scheler calls this Einsfühlung; to be sure, he uses the expression in a wider sense than love. See Scheler: Wesen und Formen der Sympathie. Die deutsche Philosophie der Gegenwart, pp. 15 ff. 19 Cf. Sartre: The Imaginary, pp.125 ff. 20 As Tengelyi argues in many of his books. 21 In opposition to Sartre’s view, cf. Sartre: Being and Nothingness, pp. 114 ff. 18
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since the becoming of this nature has now come to an end, no new »effects« can come about. In fact, the way I conceive of a deceased person’s »nature« is always co-conditioned by who I am and, since I am still in the making, correlatively, my »image« of the deceased keeps changing. Therefore, the deceased may change. The events in which they once were involved are in constant becoming and, as such, they are capable of obtaining new senses, retroactively.
One’s Own Death Perhaps it is death that suggests the ego’s privileged position in the most acute form, insofar as it seems that death radically separates me from everyone else. However, here again, it proves to be impossible that, on the one hand, the ego and the other and, on the other, the ego and the world be completely separated. My death may be considered as an event occurring at an uncertain point in the future – but only from an objectivistic perspective. »So long as we exist, death is not with us; but when death comes, then we do not exist.« 22 But here is the problem: however hard we try, we do not manage to represent to ourselves our own non-being from an objective, third-person, external point of view. The Epicurean answer does not take the paradox of consciousness into account: for every time we think we have managed to represent our own death, it turns out that in fact we have not, since the supposedly external point of view is still our own. We are too close to look at ourselves from the outside; and, to think that we have managed to do so assumes that totality (the totality of what is) may be available from the outside, which is a paradox, obviously, since if I am outside the totality, that means that it cannot be totality because there is something (i. e., me) outside of it. It may well be argued that we become anxious because we do not know what comes after death or because we do not even know whether something comes at all. But »whether something comes at all« implies exactly that it occurs to us that perhaps nothing will come, that is, we are trying to conceive of nothingness, and this attempt is bound to fail. We are anxious because of the idea that there will be a time at which we are not going to be: but even in order to be able to conceive of this we have to be, and thus we reach a boundary 22
Epicurus: »Epicurus to Menoeceus«, p. 85.
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that we cannot surpass. I may claim that when I am dead, everything that is around me now will continue to be, including everyone who is important to me, and sometimes they will even think of me: but it is still envisaged from my point of view. Even my own non-being requires my being. »The world will continue to be the same after my death«: I can claim this only if I envisage the world as it will be after my death. It is never »the world without me« that I envisage, if by this the world in itself, present even in my absence or non-being is meant. In fact, I attempt to envisage the world as experienced by me as not experienced by me – and this is impossible. And that is why I become anxious: however hard I try, I cannot conceive of this. An attempt to envisage one’s own death is never a purely egological matter. Although the death of others is given to me only from the outside, at least it is given, whereas of my own death I cannot obtain any immediate experience. To me, my death is not an external, objective event in the world but the consciousness of my death. When I represent to myself my corpse, the first person and the third person perspectives necessarily intertwine: I think that I will die because it seems that until now everyone has died. Consequently, in an egological philosophy starting from the certainty of the ego cogito the problem of my own death cannot even appear. If it is not even certain that others exist, the thought that I will die cannot be deduced from the fact that until now everyone else has died.
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Tamás Ullmann
Phenomenology of experience and the problem of the unconscious 1
In contemporary phenomenological research, there is a widely held conviction concerning the self: the self must be interpreted first of all within the framework of self-awareness. The aporetic problem of the self – is it a substantial being? or is it constantly and radically changing? or is it a mere illusion? – might be solved by reducing it to an undeniable experience: we can always distinguish our experiences and thoughts from the experiences and thoughts of others. Therefore – that is the conclusion – we can speak of an »experiential core-self« 2 which is supposed to be the common denominator of the phenomenological theories of consciousness (Husserlian intentional consciousness, Heideggerian Jemeinigkeit, Sartrean conscience de soi, etc.). The »experiential core-self« has no egological structure: it is neither the Cartesian ego, nor a pregiven transcendental sphere, but is considered to be a phenomenological factum of pure self-awareness. We are constantly aware of our experiences and of the fact that these are our experiences and not someone else’s. 3 This theory was born in the debate between phenomenology and the analytical philosophy of mind. The first accepts the first-person perspective, the second either denies it (no-self theories) or accepts it in a very abstract form: mind This article was written with the support of Hungarian Research Found (NKFI 91278, 91283, 120375). All translations of non-English quotes are mine. 2 Zahavi: Self and Other. The Limits of Narrative Understanding, p. 194. 3 As Zahavi writes: »there is a minimal sense of self present whenever there is selfawarness. Self-awareness is there not only when I realize that I am perceiving a candle, but whenever I am acquainted with an experience in its first-personal mode of givenness […]. In other words, pre-reflective self-awareness and a minimal sense of self are integral parts of our experiential life.« Zahavi: Subjectivity and Selfhood, p. 146. The whole argumentation which leads him to conclude that there must be a kind of core-self preceding narrative story-telling about ourselves is based on the following insight: if there is no distinction between my experience and experiences of another, than no one can guarantee that my experiences are really mine and not someone else’s. 1
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is that »special ontological entity« to which I have »private access« and which is always and necessarily perspectival and has phenomenal character. 4 The »experiential core-self« theory is a reaction to the narrowness of the horizon of the analytical philosophy of mind and it seems to »mirror« the narrowness of its opponent. I think that the experiential core-self (the pure self of self-awareness) is almost nothing, not even a pure form without »content«. The experiential core-self can be a phenomenological foundation of self-experience and self-understanding, but only if it has some concreteness. That is the point where we can begin to analyze Tengelyi’s phenomenological investigations of experience, namely the narrative selfhood, the traumatic subjectivity, and the unconscious.
Phenomenology of experience László Tengelyi’s work can be divided into three parts or periods. In the first, ethical period, he asked the following questions: how can the problem of guilt be clarified through the concepts of life-history (Lebensgeschichte) and fate (in that respect, he relied first of all on Kant)? And how can contemporary philosophy rethink the foundations of ethics (in that respect, he followed Lévinas)? His second period can be considered as the phenomenological period par excellence, since during these years he was dealing, above all, with a central problem of the phenomenological tradition, i. e. the problem of experience. During the last years, in his third period, he concentrated on the task of elaborating on a phenomenologically based metaphysics. We cannot speak about sharp limits between these periods since the fundamental questions of ethics, the concept of life-history, and the problem of experience always intrigued him; nevertheless, the problems and methods were characteristically different. In the present essay, I will focus mainly on his second, phenomenological period, more precisely, on a special question. I would like to analyze – following Tengelyi’s argumentation – the relation between the process of formation of sense and the unconscious in general (the unconscious in the psychoanalytical, phenomenological, social, cul-
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See Farkas: The Subject’s Point of View.
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tural, etc. sense). Even more specifically, I will concentrate on a central problem for contemporary phenomenology: how can we treat something which is beyond phenomenality with phenomenological method and with phenomenological tools? Let us begin with the concept of experience. Tengelyi was never interested in an abstract theory of phenomenological consciousness. What is at stake for him in dealing with the phenomenological conception of experience is the problem of subjectivity. The problem of consciousness is an epistemological and ontological question, whereas the problem of subjectivity has existential, ethical, cultural and social dimensions as well. The reasoning of Erfahrung und Ausdruck (2007) keeps revolving around the question of »how the process of the spontaneous formation of sense, which takes place –in Hegel’s words – ›behind the consciousness‹ becomes accessible to consciousness?« 5 This formulation indicates, first of all, that the sense originating from experience is not given once and for all but is taking shape and becomes itself in an a-subjective temporal process; secondly, it suggests that consciousness is not the master of the becoming and appearing sense; and thirdly, it implies that the strange and unexpected character of appearing sense can be accessible only from the point of view of our own consciousness, and never from a supposedly higher, external, objective point of view outside consciousness. For Tengelyi, the fundamental question is the following: how does »Erlebnis« become experience? 6 In other words: how can we conceive of the phenomenon of experience, if we would like to avoid both the naïve subjectivism of sense-giving activity of transcendental consciousness and the similarly naïve objectivism of the scientific approach? His phenomenological descriptions can be considered in a negative and in a positive way, i. e. with respect to what kind of philosophical approaches are criticized and with respect to what kind of positive conceptual tools are worked out. Tengelyi reproaches the whole Western metaphysical tradition with not having been able to grasp the vivid reality of experience and, moreover, for having constantly falsified vivid experience by forcing it in previously fixed forms:
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See Tengelyi: Erfahrung und Ausdruck, p. 11. See Tengelyi: L’expérience retrouvée, p. 14.
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[T]he first big step of Western metaphysics consists in separating once and for all the sense of truth from the stream of multiform and ambiguous experiences to be able to tie it to conceptually expressed, categorically determined and logically regulated thinking. 7
The theoretical approach has impoverished the richness of experience. One of the most significant turns in 20th century thinking was brought about by the appearance of phenomenology and the phenomenological method, and yet, the concept of experience was not really grasped neither by Husserl nor by Heidegger. Since Tengelyi always situated his own thinking in relation to Husserlian philosophy, it is important to see how he relates his concept of experience to the Husserlian approach. By elaborating on the phenomenology of experience and the phenomenology of sense formation, Tengelyi’s approach differs from a Husserlian phenomenology on decisive points. In Husserl’s approach, Erlebnis is nothing but the »content of consciousness«. In the idiom of transcendental phenomenology, it means, first, that appearances of reality are units of sense and, second, that all appearing units of sense can be reduced or traced back to the sense-giving activity of a consciousness. According to Tengelyi, experience cannot be traced back to a sense-giving activity of consciousness (because of its radical novelty and unexpected character), even though it is the experience of that consciousness. According to Tengelyi, in contemporary phenomenology everything depends on whether it is possible to interpret Erlebnis at the same time as experience. 8 In other words: whether it is possible to grasp experience in its multiform vivid streaming without the subjectivistic and idealistic consequences of Husserlian phenomenology. After presenting the critical side of Tengelyi’s philosophy, let us now turn to the positive side. I will concentrate on three basic concepts: »experience«, »reality« and »the unconscious«.
»Rufen wir uns in Erinnerung […], dass der grosse Anfangsschritt der Abendländischen Metaphysik gerade darin bestand, den Sinn von Wahrheit über den Fluss strömend mannigfaltiger Erfahrungen hinaufzuheben und ihn auf der Ebene der begrifflich ausgeprägten, kategorial bestimmten und logisch geregelten Denkens festzusetzen.« Tengelyi: Erfahrung und Ausdruck, p. 23. 8 »On peut soutenir […] que tout dépend aujourd’hui en phénoménologie de ce point essentiel: appréhender et exprimer l’expérience, non comme vécu, mais aussi bien comme épreuve.« Tengelyi: L’expérience retrouvée, p. 13–14. 7
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Experience The reasoning of Tengelyi’s book relies on Hegel’s and Gadamer’s insight separating the concept of experience from a traditional conception according to which experience is nothing but the application of general concepts to sense-perception. Experience brings something new which has never been seen and thought, every genuine experience has the character of novelty, refuting our expectations and happening »behind consciousness«, that is, independently of the intentions of consciousness. 9 Such a conception not only attributes great importance to experience but also highlights its »rarity«, which means that not all of our everyday experiences bear novelty, i. e. the surprising and unexpected aspects of sense formation. Nevertheless, experiences in that sense are not only borderline cases and extraordinary versions of everyday perceptions, but they are the »real« experiences. The question arises: is it not an unnatural exaggeration? We have to answer negatively. These are the real cases of experiences because such experiences constitute and form our life. »Not mere Erlebnisse, but significant experiences constitute the history of a life.« 10 Nevertheless, an experience is not only an application of concepts to sensual data, nor an activation of psychic dispositions but an event in a specific sense. An event is something which happens without being aimed at or initiated by somebody. An event cannot be described in subjective or in objective terms: it happens and takes place without being completely subjective or completely objective. Such an experience is not part of the possibilities of a given moment, since per definitionem it crosses and even violates actual expectations. That means that it can be considered unimaginable or even »impossible«. On the other hand, with experience not only something surprising and unpredictable appears but consciousness itself has a lapse for a moment. In other words, real experience as an event implies the eclipse of consciousness. 11 It is evident that the process of sense formation in such cases cannot be traced back to the intentions »[Gadamer] behauptet, dass jede Erfahrung, die diesen Namen verdient, eine Erwartung durchkreuzt. Damit wird die Erfahrung als ein Ereignis bestimmt, dass eine vorgängige Überzeugung durchstreicht.« Tengelyi: Erfahrung und Ausdruck, p. 9. 10 »Nicht durch blosse Erlebnisse, sondern durch bedeutsame Erfahrungen konstituiert sich die Geschichte eines Lebens.« Ibid., p. 341. 11 »Daher ist die Heraufkunft von interintentionalen Sinnregungen mit einer noetisch-noematischen Eklipse verbunden.« Ibid., p. 136. 9
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of a sense-giving consciousness. The formation of sense among and behind conscious intentional acts (that is, independently of them, sometimes even against them) is called by Tengelyi interintentional formation of sense. When interintentional formations of sense take place, the correlation of consciousness and reality breaks down, their balance overturns. Suddenly a multiplicity of proto-forms of sense appear and the consciousness cannot keep up with the speed of their multiplication. A surplus of sense appears which is not a correlate of any conscious intentions. 12 Experience originates exactly in that kind of surplus. Nevertheless, that surplus – being at the same time the surplus of sensibility over understanding, the surplus of concept over synthetized data, and the surplus of language over perceptual sense (all these forms are investigated by Tengelyi) – it is far from being given in advance. It does not exist, it is constantly becoming. That conception of experience paves the way for two fundamentally important philosophical problems: on the one hand, for a better understanding of the relation of consciousness and reality; on the other hand, for the phenomenological reinterpretation of the relation between consciousness and the unconscious.
Reality In Tengelyi’s phenomenological approach, reality is not only the subsistence of objective and consciousness-independent being. The modern concept of reality has been determined more or less by the natural sciences: reality is the being describable in physical terms, the totality of things and states of affairs describable by the laws of physics. As opposed to this, Tengelyi could refer to the spiritual, cultural and social reality thematized by human sciences, but he does not. He conceives reality in a way different from both the natural sciences and »Ces considérations jettent une nouvelle lumière sur le sens de l’expression hégélienne ›derrière le dos de la conscience‹. Aussitôt que des amorces de sens interintentionnelles font leur apparition, l’équilibre noético-noématique est, au moins pour un instant, rompu. Tout d’un coup, des formations de sens floues et multiples s’annoncent du côté noématique, en débordant les noèses. Ces formations de sens constituent un excédent de visée (Mehrmeinung) par rapport à ce qui est actuellement visé ; […] elles relèvent donc d’un surplus qui dépasse toute la structure de corrélation noéticonoématique. C’est pourquoi la genèse des amorces de sens interintentionnelles est reliée à une éclipse de la conscience.« Tengelyi: L’expérience retrouvée, p. 24.
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the human sciences. The concept of reality – according to the phenomenological method (not only that of transcendental phenomenology, but phenomenology in general) – can only be approached in its relation to consciousness: reality is that which breaks into consciousness, transforms the system of our expectations and leads to new insights. Reality is the kind of strangeness that surprises consciousness. According to this conception, reality does not consist in the objective subsistence of mind-independent being: »phenomenology breaks with the presupposition of the ready-made and objective structure of the world, and it does not conceive the world as a totality of things and states of affairs« 13. Things are not things in themselves and not mere physical things. Things are not entities that cannot be reached by the epistemological efforts of consciousness but can be perfectly described by the natural sciences from their objective point of view. The real sense of the thing in itself, Tengelyi claims in relating his philosophy to Hegel and in opposition to the transcendental idealism of Kant and Husserl, in other words, the real sense of the thing (Sache) and reality is the following: although it offers itself to conscious activity and to consciousness, it takes shape behind the back of consciousness. The new concept of reality can be characterized by a special movement: it takes fixed forms, then it becomes fluid, then it takes another fixed form, and so on. Reality is not only strange and unexpected for consciousness, but fluently ambiguous, its essential characteristic is that it cannot be conceptually exhausted and stabilized.
The Unconscious The new concept of experience leads to a specifically phenomenological interpretation of the unconscious. In the event of experience – even if only in a mediate way – the phenomenological unconscious »reveals itself« as well. Nevertheless, what may be called »the phenomenological unconscious« does not coincide with the well-known concept of the unconscious discussed by psychoanalysis. One may be »Schon mit der Annahme einer fertig vorliegenden Gegenstandsstruktur der Welt bricht [die Phänomenologie] aufs entschiedenste. Überhaupt fasst die Phänomenologie die Welt weder als eine Gesamtheit von Dingen, noch als eine Gesamtheit von Tatsachen auf.« Tengelyi: Erfahrung und Ausdruck, p. 348.
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tempted to understand and elucidate the formation of sense revealed by the phenomenological analysis of experience through the Freudian concept of the unconscious. However, Tengelyi does not consider this to be a viable strategy. He shows at least three differences between the two approaches. (1) Even if occasionally he refers to possible parallels between phenomenology and psychoanalysis, he sees at least one decisive point where they differ considerably. Phenomenology tries to grasp the process of formation of sense within »real« experience, whereas psychoanalysis – as a theory – tends to situate and interpret all experiences within the framework of a symbolic structure. Freud has based the concept of the unconscious on the repression (Verdrängung) of sense, while Husserlian phenomenology investigates the appearance of sense. The former approach analyzes the unconscious manipulation of symbolically fixed senses, the later analyzes new sense formations. There are some points of contact between the two conceptions of the unconscious formation of sense, but we cannot speak about coincidence at all. The phenomenological theory of the unconscious aims at grasping the movement through which the streaming multiplicity of experience tends to break open the shell of the categorical fixation of sense, and not that movement which reveals a hidden fixation of sense beyond the »public« or apparent fixation of sense. One of the most important and richest threads in the tissue of the book Erfahrung und Ausdruck is that of the elaboration of the concept of the phenomenological unconscious. 14 (2) Perhaps it is in his article »Urimpression und Urassoziation« that Tengelyi comes closest to an elucidation of the passive formation of sense, independent of any conscious activity, by means of a Husserlian phenomenology. But, in the end, the article points out the profound ambiguity of Husserl’s efforts: All difficulties originate from the fact that Die Analysen zur passiven Synthesis, with the term Urassoziation, refer to such an event that breaks into consciousness against conscious intentions […], on the other hand, they refer through this term to a kind of associative relation, to a passive synthesis and thereby tend to interpret such an event as a special form or aspect of intentionality. 15
14 15
See Tengelyi: Erfahrung und Ausdruck, p. 114–131. Tengelyi: Urimpression und Urassoziation, p. 55.
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There is not only a tension between the two tendencies of interpretation but they seem to be mutually exclusive. To put it very simply: the first tendency underlines the passivity of passive synthesis, the other emphasizes the synthetic character of passive synthesis. Passivity refers to egoless, a-subjective and unconscious processes, while any concept of synthesis indicates a kind of transcendental activity, a kind of intentionality. (3) Tengelyi analyzes the structural difference between the phenomenological and the psychoanalytical conception of the unconscious from a third perspective as well: In contrast to Freud, Husserl does not conceive of the unconscious as a center or source of energy that affects consciousness […], that has nothing to do with conscious activity, intentionality or synthesis. Husserl conceives the unconscious as a stock or residuum of sedimented senses, which is actually out of reach of consciousness, but it is – in principle – at consciousness’s disposal. 16
In contrast to this conception, the essential feature of the Freudian unconscious is that the path leading from the conscious sphere to the unconscious is blocked. According to the principle of all principles, Husserlian phenomenology cannot accept a concept of the unconscious, to the contents of which consciousness has not any (intuitive or experiential) access. Husserl does not deny the existence of unconscious mechanisms (see appendix XXI to The Crisis of European Sciences, written by Eugen Fink, on the problem of the unconscious), but he classifies the cases analyzed by psychoanalysis (hysteria, repression of sexual contents, etc.) as anomalies. By the unconscious, he means what is not-known, what is half forgotten, a content sinking into obscurity, and not something which is structurally opposed to the actual conscious self. We should not think that it is a symptom of the blindness or naivité of phenomenology. According to Tengelyi, for a phenomenological approach based on a rigorous methodology, the Freudian unconscious is nothing but a »mythic construction«, because the existence and constant effects of the supposedly »unconscious contents« remain without intuitive covering. As I mentioned above, what is at stake for Tengelyi in his phenomenology of experience is a theory of subjectivity. That is why the 16
Ibid., p. 52.
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unconscious plays a significant (and problematic) role in his investigations. Tengelyi was always interested in concrete subjectivity, that is why he ventured into the theory of narrative identity and into the theory of traumatic subjectivity. I will give a brief survey of these theories and their problems, then I contrast them with Tengelyi’s diacritical method and finally I will describe a possible third aspect of the theory of subjectivity that is supposed to be able to connect the phenomenological method and the experience of the unconscious.
The theory of narrative identity and its problems The problem of personal identity has apparently an aporetic, or even antinomic structure: either we posit an identical subject which is a bearer of its own qualities and attributes in its changes over time, or we assume, in the manner of Hume and Nietzsche, that the subject is only an illusion resulting from imaginative tendencies, in other words, that the subject is only a complex manifold of ideas and experiences. The first option reduces personal identity to a version of the substantial and physical identity of a thing. The second gives up the Cartesian-transcendental discovery of a core experience of the self. The classic debate repeats itself in the context of 20th century philosophy with more or less different concepts. In the second half of the 20th century, a new theory appears that seems to be able to overcome the aporetic opposition: that of narrative identity. It is not difficult to see that the emergence of this theory is a kind of response to two extremes of the concept of personal identity: to that of analytical philosophy (technical-objective consideration of the I of temporal subsistence) and to that of the dispersion of the ego (poststructuralist and deconstructive liquidation of the self, of the subject, of the author, etc.). According to Ricoeur, narratives serve as the privileged access to our confused, unformed and mute temporal experience. Time becomes human time to the extent that it is organized into narratives and narratives are meaningful to the extent that they represent our temporal existence. Ricoeur’s conclusion is that all philosophical attempts to grasp the nature of time have failed and only narratives of time give reflective access to the experience of time. The concept of narrative identity appears in this context. Ricoeur distinguishes two 150 https://doi.org/10.5771/9783495813768 .
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sorts of identity: substantial identity (mêmeté) and personal identity (ipséité). Aiming to grasp the dynamic structure of selfhood, Ricoeur recognizes the shortcomings of the theoretical approach: he affirms that the identity of the self consists in practical responsibility for his or her own actions. The self constitutes itself, on the one hand, as the protagonist of his or her own stories and, on the other, as a person responsible for his or her actions and for other persons. The distinction of idem and ipse, sameness and selfhood, can only be described on the level of temporality. Their difference is a difference between two forms of permanence in time. Ricoeur goes further and doubles this distinction by claiming that idem and ipse tend to coincide in the character (which seems to be a combination of permanent habits and acquired identifications), while selfhood breaks loose from sameness when we speak about a person who keeps his word. Character and keeping one’s word are two models of personal identity: in the first case, sameness and selfhood coincide almost perfectly (my character is something almost objective), in the second, only selfhood is present (in the form of my personal will and of my ethical responsibility): Character designates […] the set of lasting dispositions by which a person is recognized. 17 Keeping one’s word expresses a self-constancy which cannot be inscribed, as character was, within the dimension of something in general but solely within the dimension of ›who?‹. […] The perseverance of character is one thing, the perseverance of faithfulness to a word that has been given is something else again. 18
Between the two forms of permanence in time only narrative identity can mediate. In opposition to Ricoeur, Tengelyi thinks that there is no need for dialectical mediation between the two relatively fixed poles. He chooses the opposite way: nothing is pregiven in a fixed way in the process of experience, and that is why dialectical mediation is not necessary. According to the diacritical method, the categorially formed moments of experience and the moments of novelty are mutually conditioning each other. And narrative identity is the result of the process of constant changing. The narrative self is the result of the 17 18
Ricoeur: Oneself as Another, p. 121. Ibid., p. 123.
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spontaneous formation of sense and at the same time the structure which retroactively stabilizes the process. Instead of dialectics, the diacritical method is supposed to be the adequate way to understand the process of formation of sense. Even if the theory of narrative identity opens up a new field for theoretical understanding, it has several internal problems. 1) There will always remain a certain tension between real life (which is contingent, put together from heterogeneous events, occurrences) and narrated life. The latter is threatened by the danger of becoming solely a fiction. 2) A kind of tension will always remain between the concretely lived experience of the self (phenomenological experience of a core-self) and the protagonist as a character of a life story (which happens to be my life story). The former belongs to the first-person perspective, the latter to a third-person perspective, to a kind of cultural perspective. There are three typical counter-arguments against the theory of narrative identity: 1) What warrants the clear distinction between true narrative and false narrative? The internal coherence of a story is no guarantee for its accuracy, it must be »externally« coherent as well, in other words, it should fit with the narratives told about me by other people, it should fit with the present situation (not only with the past) and it should fit with narrative-transcendent facts. 2) A narrative version of my life can become rigid and seemingly unchangeable. A narrative which was at the beginning true can become step by step a false version, a false image of the self. 3) What is the position or the »ontological status« of the self in narrative self-understanding? Is it the foundation of all narratives or just the opposite: the result of narrative activity? Do we unearth this self or do we construct it by telling stories about it? I think that the so-called »no-self« doctrines (e. g. Hume, Nietzsche, early Husserl, Dennett) are not right. We have a kind of a self that is more than mere experiential core-self but it is not completely and exclusively narrative either. The main question is: why do we constantly retell our stories? Neither because unpredictable new events happen all the time (it would only imply the same story plus a new event), nor because the actual end of a story retroactively changes the story as a whole (hatred at the end of a love story retroactively changes its beginning). We retell our stories because there are always moments that exceed our narrative and cannot be integrated into our life narrative without tension. As Tengelyi sum152 https://doi.org/10.5771/9783495813768 .
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marizes: »the narrative identity of the self necessarily presupposes a radical alterity which it is unable to absorb.« 19
Theory of traumatic subjectivity That is why we have to take into consideration »external« factors in the study of subjectivity: besides community, social relations and tradition, we also have to consider traumas. The concept of traumatic subjectivity is based on the philosophical insights of Emmanuel Lévinas, but it can be traced back to psychoanalysis (to Lacan, and mainly to Freud). According to this conception (elaborated, among others, by Rudolf Bernet), subjectivity is not a pregiven substantial being but a result of past events that cannot be integrated into the world of the conscious subject or might have never been present to his conscious mind. For Lévinas, the relation to the Other in its basic form is a traumatic relation: the Other does not appear as a normal phenomenon but reveals itself as a face. The sphere of this encounter is not the phenomenological sphere of visibility: it is language. The other appeals to me, speaks to me with his or her face. The face of the Other questions my self-sufficient well-being in the world. The traumatic character of alterity is always linked by Lévinas to the figure of the Other, and is always interpreted in an ethical context. Rudolf Bernet has tried to elaborate a conception of traumatic subjectivity which is, unlike in Lévinas, not based necessarily on ethical relations. The subject can be and effectively is traumatic without the ethical demand of an Other. What does trauma mean in general? Trauma has at least four basic characteristics: 1) it is an event through which the subject comes into contact with something completely alien (unknown, unpredictable); 2) the strangeness of this event is not an abstract, remote strangeness, but it touches the subject in the very center of its existence; 3) the trauma deprives the subject of its security; 4) the subject has no answer to the traumatic event. The trauma always brings about a strange relation between the subject and the traumatic phenomenon. According to Freud, the subject can neither forget the traumatic event, nor represent it in mem19
Tengelyi: The Wild Region in Life-History, p. 52.
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ory: the representation of the event remains halfway between oblivion and memory. The subject cannot represent it, which means: the subject cannot integrate it within the system of representations. The character of non-representability of the event is unbearable for the subject, and that is why he or she represses its memory. In the Freudian model: the subject denies the reality of the phenomenon. Lacan presents the process differently: the subject tries to integrate the memory of a traumatic event but the integration is necessarily imaginative. The trauma remains »real«, in the sense that it neither belongs to the imaginary sphere, nor to the symbolic sphere. 20 It haunts the subject and his attempts to integrate it are completely hopeless. While, in the Freudian model, the subject denies the phenomenon in order to protect his own integrity, in the Lacanian model, the phenomenon itself denies the subject, as the »real« denies something imaginary and illusionary. 21 What kind of explanatory advantage does the theory of traumatic subjectivity have over that of narrative identity? The theory of narrative identity suggests that the self is the »master in his house«, the subject sees the essential features of his or her life, he or she chooses between important and unimportant experiences, controls his or her life in the form of actively narrating (structuring, forming) his or her life story. But we all know that we do not control completely our own life, since unpredictable events happen all the time and, also, we are unpredictable to ourselves as well. The theory of trauma has two structurally different versions. 1) Trauma is an event that belongs to an immemorial past; the subject is not yet a ready-made being that has or has not a good answer to this event. On the contrary, the subject in its actual form is the result of this traumatic event. 2) The trauma belongs to the memorial past, but it has a paradoxical structure: it happened, but it is not »true«. The trauma violates the well-known and secure world of the subject, and the subject cannot integrate it into his or her world without destroying this world. Either the subject’s personality, or the subject’s »[Le trauma] fait un trou dans le tissu symbolique dont se compose l’histoire du sujet.« Bernet: Le sujet traumatisé, p. 275. 21 »Chez Freud, le sujet semble donc refuser avec l’apparition du trauma en le reconnaissant dans la méconnaissance, alors que chez Lacan c’est le phénomène qui triomphe du sujet. Cela fait un grand différence, puisqu’on passe ainsi de la dénégation d’un phénomène par le sujet à la négation pure et simple d’un sujet par le phenomène.« Bernet: Le sujet traumatisé, p. 276. 20
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world is denied by the trauma. Trauma cannot be part of one’s life, even if this event remains in the unconscious or subconscious center of one’s life. The concept of traumatic subjectivity has two possible interpretations to be distinguished clearly: 1) subjectivity is traumatic if and only if it passively suffered some traumatic event: in this narrow sense, not all subjectivity is traumatic, although all subjects are structured in a narrative manner; 2) in a broader sense, we are all traumatic subjectivities. Not only a violent effect can be traumatic and trauma does not exclusively imply an immemorial past event which can be neither represented and situated in symbolic knowledge, nor integrated to the narrative self. According to psychoanalysis, birth and the separation from the mother is already a traumatic event (the beginning of a series of possible traumatic events). 22 This kind of trauma has nothing to do with knowledge, with representation, with understanding, with life history. It happens on the level of affectivity. The theory of traumatic subjectivity answers some questions opened by the theory of narrative identity (why do we retell our stories?), but it has its own difficulties. It has no good answer to the question whether everyone has traumatic subjectivity or only those who have really experienced a trauma. If everyone is a traumatic subject, then the concept of trauma seems to be dissolved in a vague generality. If not everyone has traumatic experiences, then some people, the normal, balanced individuals, do not attain the status of subjectivity?
The scope of the diacritical method Is »diacritical phenomenology«, as Tengelyi calls his philosophical undertaking, able to answer these questions? I think only a diacritical phenomenology of the unconscious could really answer the enigmatic questions of subjectivity. The attribute »diacritical« comes immediately from Merleau-Ponty’s philosophy and indirectly from Ferdinand de Saussure’s linguistic structuralism: an element can be deter»Ferenczi a été parmi les premiers à s’éloigner de cette présentation belliqueuse du trauma en insistant sur le fait que la séparation était un événement non moins traumatique que l’intrusion violente du non-représentable.« Bernet: Le sujet traumatisé, p. 281.
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mined only in contrast and in relation to other elements. In Tengelyi’s phenomenology, it does not mean that an element can only be taken into consideration in relation to the whole structure (for example in relation to the whole horizon of experience), it means rather that for grasping an element of experience we have to grasp its relation to other elements. And in a temporal-genetical context (which is the real context of the phenomenology of sense formation), it indeed means that the genetic process of sense formation can only be »seen« in relation to the static result of this process: the origin of a fixed sense can only be seen in its diacritical relation to the result of that very process. Sinnbildung and Sinnstiftung are always and necessarily linked together. The recognition of the mutual relation between sense formation and sense fixation may be the central idea of Tengelyi’s thinking. 23 We have no intuitive and immediate access to the essentially inchoative process of sense formation. The diacritical separation can be a well-founded methodological procedure only if it is rooted in such phenomena that require separation, while making it understandable why the subsequently separated moments could have been considered to be one and the same at the beginning. »[T]he initial state – similarly to Husserlian ›primal consciousness‹ [Urbewusstsein] – resists direct phenomenological representation.« 24 The diacritical method does not imply dialectical oppositions. It is supposed to show that, similar to differential relations among linguistic signs, the processes of sense formation and sense fixation are carried out only mutually within one and the same genetical process. It is not dialectics, nor relation between complementary elements, but diacritical interdependence. Husserl has not elaborated a particular method for genetic phenomenology, and his genetic phenomenology does not even have a separate field of investigation. It seems to me that Tengelyi’s phenomenology tends to eliminate both deficiencies: the diacritical method is offered as the method of genetic phenomenology, the field of investigation is sense formation, as opposed to sense fixation. NeverThat central idea is represented by Inga Römer as follows: the systematic unity of Tengelyi’s life work »consists in the tension, systematically enlarged in each period, between freedom, the story of a told life, expression and the finite projection of a world on the one hand, and guilt as an event of destiny, the region of a wild sense, the wild responsibility and an open infinite on the other hand.« Römer: From Kant to the Problem of Phenomenological Metaphysics, p. 119. 24 Tengelyi: The Wild Region in Life-History, p. 68. 23
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theless, the process of sense formation cannot be grasped through immediate intuition, but can only be pointed at indirectly, because it surpasses the range of possible phenomenological intuition. The situation is paradoxical: we would really understand a phenomenon only if we could have a glimpse at its origin; but an immediate look at the beginning of the process of sense formation would definitely fix or at least alter and distort the process. After presenting Tengelyi’s methodological reasoning I would like to ask the following question: does the diacritical method not narrow down the scope of genetic phenomenology by allowing always only one step back? If sense formation cannot be considered in itself but only in differential relation to the actual sense fixation, then we can only make one step back from the given actual intentional system of senses. But if this is the case, then do we not – exactly because of the methodological constraints – smuggle an implicit isomorphism into the description of the process? Given the methodological limit of understanding, does the »pre-predicative« not only appear in its »necessary« relation to the predicative? The question seems to be more general: how can one avoid the Husserlian »narrowing down« of genetic phenomenology to its part that is evidently closely connected to the results of static phenomenology? How can we liberate genetic phenomenology from the guardianship of static phenomenology? Tengelyi gave a clear answer to these and similar questions in a debate concerning his book in Hungarian Philosophical Review: I think that from the point of view of the diacritical method, sense formation and sense fixation can be differentiated, but cannot be separated as different moments in themselves. Sense formation takes place only within the framework of an actual and effective sense fixation. It is in that relation that I see the principal cause of the inseparable connection of static and genetic phenomenology. […] There is no way of jumping immediately into the middle of sense formation […] and having a glance at where reality is ›produced‹. Nevertheless, we can shed light on the process of sense formation within the limits of a given, actual sense fixation. The diacritical method opens up a dynamic difference but it does not dissolve this difference from the context of contrastive analysis and does not transform the process of becoming into an independent principle (as it happened in Bergson’s and Deleuze’s philosophy). 25
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Tengelyi: Válasz elemzőimnek és bírálóimnak, pp. 281–282.
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Tamás Ullmann
According to Tengelyi, this kind of investigation must be kept away both from the pitfalls of speculative dialectics and from the traps of the »psychologism« of psychoanalysis and developmental psychology.
An alternative model: unconscious affectivity I really do think that on this methodological point we can broaden the scope of the phenomenological method and thereby we can reinterpret the concept of the phenomenological unconscious. As we have seen, the source of dynamism in the narrative structure of the self is due not only to unpredictable external events but also to internal tensions, to unintelligible holes in the narrative tissue and to desires and thoughts that cannot be integrated into our actual narrative identity. Tengelyi’s phenomenology can be considered as a constant quest for the correct interpretation of this – as he calls it – wild sense: »there is a wild sense, spontaneously emerging in experience, a wild sense on which narrative identity is based, but which nevertheless resists a total integration into the story of a told life.« 26 What can be the source of this wild sense? It can be a traumatic event, or a kind of radical alterity within subjectivity, or not integrated, unconsciously effective shreds of sense moments. 27 I suppose on the one hand that the unconscious in general can be considered as the main source of the urge of constantly retelling our stories. But the unconscious is not necessarily linked to the concept of sense or representation (Vorstellung), not even to shreds of sense that are actually ineffective. The phenomenological unconscious might mean as well that we have an affective sphere which can be traumatically alien to our conscious ego, even in cases in which we are not effectively traumatized. There are holes in the narrative structure, annoying and problematic moments which cannot be integrated into our actual narrative self or can be integrated only in a very problematic manner. Sources of such holes can be: 1) external (traumatic effects); 2) or internal
Römer: From Kant to the Problem of Phenomenological Metaphysics, p. 118. »[T]he sense in the making is always a multiple and fluctuant sense, containing, in itself, some refractory shreds, which are discarded by the retroactive fixation of sense without, however, being prevented thereby from exerting an underground influence.« Tengelyi: The Wild Region in Life-History, p. xxxi.
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(non-representable desires, unintelligible affective moods or blind spots of our relation to others and the world). We can conceive of a phenomenological unconscious which is not based on repressed »Vorstellungen« but on an unconsciously schematized sphere. The unconsciously schematized substratum of subjectivity can be either a personal affective unconscious or an impersonal cultural unconscious (with Marc Richir’s expression: institution symbolique). This schematized sphere means a kind of constant alterity to our narrative identity, and a kind of traumatically alien aspect for our conscious self-awareness. Affectivity is not a kind of emotional »state« which is experienced in an evident and immediate way. Affectivity has a dynamic character. It is not a homogeneous sphere of articulated emotions but a kind of schematized affectivity, which is nothing else but the subject’s unconscious. An event, a gesture or a remark can function as a sign, in other words, they can launch a series of emotional responses to a concrete situation. These responses fit to a kind of emotional pattern or configuration (a Gestalt or a schematic structure) – but this structure is not on the conscious level where we elaborate causal explanations and integrate new events into our narrative life story. We suffer from the strangeness of our own emotional responses. For example, we feel a strong emotion but we do not know why this emotion is so intense, so incomprehensibly strong. I think I understand the cause of this emotion, but this rational explanation cannot give account of its intensity which remains strange. Or, on the contrary, a certain situation is supposed to cause strong emotional response but I do not feel anything. It happens very often that the causal explanation of an affective mood and the reality of this emotional stance do not meet at all: a kind of gap separates them, that is why the situation can be really annoying and become even critical. I call this phenomenological unconscious »schematized affectivity«. That means several things. It is supposed to be – similarly to the Merleau-Pontian difference between visible and invisible – the invisible and unconscious structure of our affective life. In other words, it is the implicit and hidden affective scheme of our explicit emotional responses, the background within our affections. We do not see the schematized framework that makes it possible for us to see what appears in phenomenal and representable reality. This kind of invisibility is not completely hidden, it is always present, organizes phenomenality without being visible. The same structure characterizes the affective sphere as well and which could shed more light on the con159 https://doi.org/10.5771/9783495813768 .
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cept of the affective unconscious: it is not a secret receptacle of repressed representations. Unconscious affectivity or the affective unconscious is an »invisible« system of affective structures, schemes and Gestalts and as such it is opposed to phenomenally appearing feelings and emotions. In phenomenological terms: the affective unconscious is an emotional or affective horizon (Spielraum der Möglichkeiten) or a prefigured implicit sense-structure. The Husserlian distinction between first sensibility and second sensibility offers another analogy: first sensibility is the pure ability of apprehension, while second sensibility is a structured, habitualized and schematized sphere, a second nature of our sensibility determined by personal experiences, cultural background and historical tradition. The affective unconscious is a kind of second affectivity partly based on social determinations, and partly on personal emotional learning process. We cannot integrate it into our narrative story because this hidden structure has a kind of otherness to us: it cannot be represented on conscious level. It has reality, but no representable being. It is not part of our conscious existence. On the other hand, it is not the result of some traumatic event. Unconscious affectivity is not the counterpart of our rational subject but its hidden structure, its invisible foundation. If we try to give account of a person’s subjectivity, then – besides his own narrative story and his self-altering and self-producing trauma – we have to take into consideration this kind of affective unconscious as well. The theory of the affective unconscious does not aim to refute the narrative and traumatic conceptions of subjectivity: it tries to shed light on their internal and structural problems and I think it fits well to the conceptual framework of Tengelyi’s phenomenology of experience. The concept of the invisible and schematized affectivity implies a concept of unconscious which, on the one hand and contrary to classical concepts of consciousness, has nothing to do with repressed representations and does not lead to the assumption of a second consciousness behind conscious consciousness and, on the other hand, seems to be more capable of giving account of the dynamism of subjectivity. The concept of unconscious affectivity is compatible with the fact that a self can sometimes be represented much better by what it cannot tell about itself than by narratives about its life.
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Phenomenology of experience and the problem of the unconscious
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Csaba Olay
Das Spannungsverhältnis von Theorie und Existenz aus neoexistentialistischer Sicht 1
Nicht selten stand der Existentialismus im schlechten Ruf, eine irrationalistische Richtung der Philosophie gewesen zu sein. Ihm wurde vorgeworfen, die Vernunft oder den Verstand zu verachten, und stattdessen Schwärmerei, Gefühle, Affektivität verschiedenster Art zu propagieren. Dagegen lässt sich anführen, dass es sich in vielen von den öfters erwähnten Fällen nicht um die Verachtung, sondern um die angemessene Einschätzung von Vernunft und Intellekt handelte. Verstand und Ratio im Haushalt menschlicher Existenz angemessen zu beschreiben, so kann man das Programm eines glaubund vielleicht denkwürdigen Existentialismus formulieren. Für einen solchen Existentialismus geht es nicht darum, einen Vorrang des Gefühls und der Affektivität vor der Vernunft oder vor dem Denken zu behaupten, sondern um die bescheidenere und zugleich wichtigere Aufgabe, die Vernunft und das Denken in den Kontext weiterer menschlichen Fähigkeiten und Anlagen zu stellen, mit besonderer Rücksicht auf die intellektualisierenden Verzerrungen und Missdeutungstendenzen. 2 Vor allem mit Blick auf letztere Gefahren wurde der theoretische Charakter der Philosophie, sosehr auch ihre Vorzüge als Theorie in
Vorliegender Aufsatz ist die Umarbeitung eines Vortrags, der im Rahmen der Tagung »Welt und Unendlichkeit« in Bonn vorgetragen wurde. Der Aufsatz wurde in der MTA-ELTE Forschungsgruppe Hermeneutik ausgearbeitet und vom Projekt 120375 des ungarischen Wissenschaftlichen Landesforschungsfonds (OTKA) gefördert. 2 Vgl. neuerdings Susanne Möbuß’ Bemerkung: »In keiner der Theorien, die sich entweder in vollem Ausmaß als existenzphilosophisch erweisen oder zumindest partiell in dieser Weise klassifiziert werden können, wird die Funktionsweise der Vernunft grundsätzlich in Frage gestellt, doch wird ihr Wirkungsumfang als nicht mehr ausreichend bezeichnet. Die Vernunft allein ist nicht in der Lage, jenes Verständnis des Seins zu gewährleisten, das dem Menschen ein Verstehen seiner Existenz ermöglicht.« (Möbuß: Existenzphilosophie, Bd. 1, S. 96) 1
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Theorie und Existenz aus neoexistentialistischer Sicht
anderen Hinsichten verlockend seien, von einigen Denkern als Hindernis für die Thematisierung menschlicher Existenz gesehen. Zwei Varianten dieser Kritik wurden von Karl Jaspers und Martin Heidegger ausgearbeitet, die den Existentialismus bekanntlich entscheidend beeinflusst haben. Im vorliegenden Beitrag geht es in Anschluss an diesen beiden Konzeptionen um das Problem der Spannung zwischen Theorie und Existenz, das auch als das Problem des Verhältnisses von theoretischer Weltbetrachtung und angemessenem Erfassen der Existenz formuliert werden kann. Mit dieser Frage nach der Spannung von Theorie und Existenz handelt es sich teilweise um den theoretischen und mithin wissenschaftlichen Charakter der Philosophie und um ihre Orientierung an der Wissenschaft. Sowohl Jaspers wie auch Heidegger haben ihre einschlägigen Überlegungen im Rahmen von Reflexionen entwickelt, die auf je eigene Weise auf den Anspruch der Wissenschaft und der Theorie reagieren, grundsätzlich über jedes Phänomen Rechenschaft geben zu können. Im Kontext dieser Auseinandersetzung entwickeln Jaspers und Heidegger zwei Möglichkeiten, wie die philosophische Thematisierung menschlicher Existenz aufgrund einer Ablehnung der Zuständigkeit theoretischen Erkennens artikuliert werden kann. Diese beiden Varianten beziehen sich gleichermaßen auf den Grundgedanken der Ungegenständlichkeit menschlicher Existenz, der den gemeinsamen Nenner für ihre Denkbemühungen darstellt. Behandelt werden soll diese Fragestellung aus der Perspektive des Neoexistentialismus, der eingangs kurz charakterisiert werden muss. Zuerst gibt vorliegende Arbeit deswegen eine skizzenhafte Darstellung von Neoexistentialismus. 3 Als zweiter Schritt werden je nacheinander die Konzeptionen von Jaspers und Heidegger behandelt und kritisch diskutiert. Abschließend werden sowohl Leistungen und Tragweite wie auch die Mängel und Desiderata berücksichtigt. Wenden wir uns zunächst dem »Neoexistentialismus« zu.
Die Skizze gibt auch Gelegenheit, die Berührung vorliegender Studie mit dem Werk von László Tengelyi zu erläutern. Im Anschluss an Kant und Husserl hat Tengelyi immer die Idee der Wissenschaft zwar kritisch, aber philosophisch sehr ernst genommen. Die folgenden Überlegungen geben darüber Rechenschaft, wie seine diesbezüglichen Impulse aufgenommen werden können.
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Csaba Olay
Neoexistentialismus Der Ausdruck »Existentialismus« wird ungern als Leitfaden einer thematischen Explikation in Anspruch genommen. Dies ist wohl darauf zurückzuführen, dass der Ausdruck mehr als andere Bezeichnungen philosophischer Richtungen nur eine erste Orientierung zu geben imstande ist und sich leichter auflöst, wenn er als präzise Definition genommen wird. Begriffsgeschichtlich hat erst Karl Jaspers den Ausdruck »Existentialismus« in seinem Vernunft und Existenz (1935) verwendet, und zwar in einer pejorativ gemeinten Abhebung und Unterscheidung von seiner eigenen Existenzphilosophie. 4 Der Existentialismus ist für Jaspers die problematische Verabsolutierung von Existenz und die ontologische Verfestigung von Existenzerhellung. Der Ausdruck wird nach dem Zweiten Weltkrieg in erster Linie auf die französische Existenzphilosophie bezogen, und er wurde in einem weiten Sinne sogar für die Bezeichnung eines Lebensstils modisch. 5 Mit dieser weiten Verwendungsweise von »Existentialismus« könnte auch die bereits mehrmals festgestellte Tatsache zusammenhängen, dass außer Jean-Paul Sartre keiner der maßgebenden Denker des Existentialismus sich als solcher bezeichnet hatte, und selbst Sartre tat dies nicht ohne Vorbehalte. 6 Diese Ablehnung ändert natürlich nicht unbedingt Wert und Bedeutung der Bezeichnung, betrifft aber auf jeden Fall das Selbstverständnis dieser Denker und sollte im Hinblick darauf erläutert werden können. Man sollte ferner auch berücksichtigen, dass das Selbstverständnis dieser Denker bereits für sich sehr kompliziert sein kann. So etwa hat Kierkegaard sich aufgrund einer für sein Denken konstitutiven Polemik gegen Hegel nicht mal für einen Philosophen gehalten, und der späte Heidegger wollte sich mit seinen Versuchen der Überwindung der Metaphysik von der PhiJaspers: Vernunft und Existenz, S. 46. Zum Verhältnis von Jaspers und Sartre siehe den Aufsatz von Anton Hügli »Sartre und Jaspers zur Frage nach der Transzendenz. Ein Aufriss der grundlegenden Differenzen zwischen Jaspers und Sartre aus der Jaspers’schen Sicht« und meinen Aufsatz »Der Begriff der Existenz bei Jaspers und Sartre«. 5 Über den französischen Wortgebrauch bemerkt Colette: »Pour le public français de cette fin de siècle, le terme d’existentialisme évoque le climat d’une époque, un style, voire une mode, plutôt qu’un corpus de pensées cohérentes. Il faut l’avouer, le terme ne désigne aucune orientation précise – que ce soit dans le champ de l’ontologie, de la théorie de la connaissance, de la pensée morale ou politique, de la philosophie de l’art, de la culture ou de la religion.« (Colette: L’existentialisme, S. 4) 6 Flynn: Existentialism, S. xii; Colette: L’existentialisme, S. 4. 4
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Theorie und Existenz aus neoexistentialistischer Sicht
losophie, wie sie traditionell verstanden wurde, distanzieren. 7 Der Fall von Kierkegaard wirkt sich außerdem darin ungünstig auf die Rezeption des Existentialismus aus, dass seine Abweisung des Titels »Philosophie« auch diese philosophische Richtung in den Verdacht mit hineinzog, nicht zu den wirklichen Philosophien zu gehören, sondern eher eine Randerscheinung zu sein. Es ließe sich jedoch leicht zeigen, dass Kierkegaards Ablehnung des Titels »Philosophie« aus seinem auf Hegel fixierten Philosophieverständnis folgt und die Klassifizierung seines Denkens als Philosophie mit guten Gründen vertreten werden kann. Es wird oft behauptet, der Existentialismus als philosophische Richtung sei überholt oder widerlegt, zumindest aber nicht mehr aktuell. Im Hinblick auf diese Diagnose ist es bemerkenswert, dass der Existentialismus von Jean-Paul Sartre nicht widerlegt, sondern durch den dezidierten Antihumanismus von Strukturalismus, Neostrukturalismus und Postmoderne marginalisiert und verdrängt wurde. Mit anderen Worten: seine Grundprobleme haben keine befriedigende Antwort gefunden, sondern wurden aufgrund bestimmten Voraussetzungen für uninteressant erklärt und beiseitegeschoben. Wenn diese Voraussetzungen an Glaubwürdigkeit zu verlieren beginnen, dann liegt es nahe, dass die Fragestellungen des »klassischen« Existentialismus wieder aktuell werden können. Der Titel »Neoexistentialismus« schlägt eben dies Projekt vor, das sich grob wie folgt formulieren lässt: Da der Neostrukturalismus, die Varianten postmodernen Denkens wie auch die Dekonstruktion an Glaubwürdigkeit und Aktualität verloren haben, und die angelsächsischen Entwicklungen, die den Übergang von der »sprachlichen Wende« zu philosophy of mind seit den 90ern des vergangenen Jahrtausends bestimmen, weit davon entfernt bzw. nicht bereit sind, die für den klassischen Existentialismus relevanten Fragerichtungen ernst zu nehmen, ist es jetzt an der Zeit, den Existentialismus in neuer Form wieder aufleben zu lassen. Der Neoexistentialismus soll dabei die Ansätze des klassiSusanne Möbuß, die neuerdings einen zweibändigen Überblick über Existenzphilosophie vorgelegt hat, deutet diesen Konflikt mit der traditionellen Philosophie geradezu als Markenzeichen der Existenzphilosophie: »Bereits die Haltung jener Theoretiker, die in den vergangenen Jahrhunderten Ansätze existentiellen Denkens formuliert hatten, machte eines deutlich: Ihr Anspruch an Philosophie läßt sich nicht immer innerhalb der Strukturen tradierten Denkens und schon gar nicht im Konzept einer Philosophie verwirklichen, die sich über ein ihrer Zeit entsprechendes Wissenschaftsideal definiert.« (Susanne Möbuß: Existenzphilosophie, Bd. 2, S. 21)
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schen Existentialismus von Kierkegaard, Heidegger, Jaspers und Sartre aus den jeweiligen übergreifenden Rahmentheorien herausnehmen, um sie von diesen komplizierten Denkprojekten (etwa von der Frage nach dem Glauben bei Kierkegaard oder von der Seinsfrage bei Heidegger) zu entlasten. 8 Die derart auf ihren Beschreibungsgehalt gebrachten klassischen Ansätze des Existentialismus sollen im Haushalt menschlicher Grunderfahrungen verortet und kritisch geprüft werden. Unter Berücksichtigung dieser Umstände wird hier als Neoexistentialismus ein Ansatz verstanden, dessen Grundziel in der philosophischen Beschreibung und Erläuterung der menschlichen Existenz besteht. Ein wesentlicher Aspekt dieser Beschreibung bildet die These, die auch als gemeinsamer Grundgedanke des klassischen Existentialismus gelten kann, dass das einzelne menschliche Leben unvermeidlich auf eine Perspektive dieses Lebens hinweist, die nicht hinreichend aus der Beobachterperspektive, also aus der Perspektive der dritten Person beschrieben werden kann. Ferner ist das unabhängig davon, ob man glaubt, dass die Perspektive der Beobachtung eine Vorurteilslosigkeit oder sachliche Neutralität ermöglicht oder nicht. Es gibt Erfahrungen, die wesentlich zur menschlichen Existenz gehören, die nur der jeweiligen Person zugänglich sind, und für andere nur vermittelt durch Berichte bzw. Verhalten jener Person zugänglich gemacht werden können. Einer der sensibelsten Indexe solcher Erfahrungen ist der Fragekomplex des Sinnes, d. h. die Frage nach dem Sinn des eigenen Lebens. Mit der Nennung der Sinnfrage ist auch der naheliegende Einwand entkräftet, dass die Deutung des Verhaltens einer Person grundsätzlich auch aus der Perspektive der Beobachtung vollzogen werden kann. 9 Der Neoexistentialismus geht über den klassischen Existentialismus insofern hinaus, als er einerseits versucht, die divergierenden Die Schwierigkeit des Ineinanders von mehreren Themenkomplexen dokumentiert auch Susanne Möbuß’ Bemerkung über die von ihr zur Existenzphilosophie gezählten Autoren vor des 19. Jahrhundert: »Alle Denker, die bisher betrachtet wurden, sind religiöse Theoretiker, selbst Søren Kierkegaard wird diesen Typus noch in besonders prägnanter Weise repräsentieren. Erst durch Arthur Schopenhauer und Friedrich Nietzsche wird jene Verknüpfung von Denken und Glauben aufgelöst, die bislang die Entstehung vernunftübergreifenden Erkennens bedingte.« (Möbuß: Existenzphilosophie, Bd. I, S. 96.) 9 Zum Sinn der Existenz bzw. zum Sinn des Lebens siehe den instruktiven Aufsatz von Anton Hügli: »Grenzsituationen oder: vom Sinn der Frage nach dem Sinn der menschlichen Existenz«. 8
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Theorie und Existenz aus neoexistentialistischer Sicht
Entwürfe mit systematischem Anspruch möglichst zu vereinigen. Andererseits sucht der Neoexistentialismus, solchen Themen verstärkt Aufmerksamkeit zu widmen, die bei den Autoren des klassischen Existentialismus zwar behandelt, aber nicht hinreichend erörtert wurden. Zu den beiden wichtigsten Themenkomplexen unter solchen Themen gehören die Vermassung und die Entfremdung. 10 Schließlich sollte im Neoexistentialismus auch den veränderten geistigen Bedingungen Rechnung getragen werden, die sich seit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts abzeichnen. Es handelt sich dabei nicht zuletzt, um die Veränderung des Stellenwerts der Naturwissenschaften, die für den klassischen Existentialismus noch viel deutlicher einen Gegenpol der Profilierung gebildet hatten, wie sich am Beispiel von Jaspers zeigen lässt. Der so verstandene Neoexistentialismus sollte ferner die Chance nicht versäumen, systematische Ansätze und Bestrebungen, die im Rahmen anderer Denkbemühungen gewonnen wurden, zusammenzufassen und mit systematischem Anspruch möglichst weitgehend zu vereinigen. Aus dem Deutschen Idealismus, Lebensphilosophie, Phänomenologie, philosophischer Hermeneutik lassen sich deutlich Problemstellungen und Antwortversuche aufzeigen, die ins neoexistentialistische Projekt integriert werden können. Man könnte zeigen, dass etwa Hans-Georg Gadamer, Hannah Arendt und auch Denker der Frankfurter Schule anregende Beiträge zur Beschreibung menschlicher Existenz geliefert haben, ohne sich ausdrücklich als Existentialismus oder Existenzphilosophie zu benennen. 11 Letzterer Umstand kann oft auf die für problematisch erachteten Nebenklänge der Bezeichnung »Existentialismus« zurückgeführt werden. 12 Im Rahmen vorliegender Arbeit lassen sich die inhaltlichen Schwerpunkte des Neoexistentialismus nicht ausführlich entwickeln. Zu diesen Grundthemen gehört aber zweifellos der Gedanke der UngegenAn Rahel Jaeggis Entfremdung ließe sich leicht zeigen, wie eng die Analyse von Entfremdungsphänomene mit der Beschreibung menschlicher Existenz verflochten ist. 11 Die Rede von »politischem Existentialismus« bei Arendt ist in der Sekundärliteratur nicht unbekannt. Vgl. zu Gadamer mein Buch Hans-Georg Gadamer. Was die Frankfurter Schule betrifft, reicht es, auf den Untertitel von Adornos Minima Moralia hinzuweisen, der Reflexionen aus dem »beschädigten Leben« verspricht. 12 Der Anspruch dieses Unternehmens geht demnach einerseits über die Verwendung der Adjektivform »neoexistenzialistische Gefühlsphilosophie« bei Jan Slaby hinaus, andererseits wird er allgemeiner artikuliert, als Markus Gabriel es im Buch Ich ist nicht Gehirn (S. 31) tut. 10
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ständlichkeit menschlicher Existenz, in dessen Zusammenhang sich die folgenden Überlegungen über die Spannung von Theorie und Existenz im Anschluss an Jaspers und Heidegger fügen.
Die Spannung von Theorie und Existenz bei Karl Jaspers Wie eingangs bemerkt, arbeitet Jaspers eine Variante des Gedankens aus, dem zufolge theoretische Erkenntnis nicht imstande ist, menschliche Existenz angemessen zu fassen. Die Theorie und der theoretische Charakter der Philosophie werden im vorliegenden Zusammenhang unter einem bestimmten Aspekt angesprochen, und zwar mit Blick auf die Klärung menschlicher Existenz im Sinne von unserer Weise zu sein. Es versteht sich, dass dies nicht der einzige mögliche Ausgangspunkt ist, die Theorie und den theoretischen Charakter der Philosophie zu erörtern; die Tradition von Aristoteles sah ja in der Theorie die höchstmögliche Form der Erkenntnis. Allerdings ist mit der Theorie und mit der neuzeitlichen Wissenschaft als ihrer paradigmatischen Ausprägung in der Moderne eine spezifische Unzufriedenheit mit Blick auf die menschliche Existenz verbunden. Dieses »Unbehagen an der Wissenschaft« lässt sich am Beispiel von Max Weber verdeutlichen, der gleichwohl an seiner Hochschätzung der Wissenschaft keinen Zweifel lässt. Webers berühmter Vortrag »Wissenschaft als Beruf« vertritt die These, dass die Wissenschaft im Sinne der neuzeitlichen Naturwissenschaften, wie imposant auch ihre Ergebnisse sein mögen, nicht imstande ist, dem menschlichen Leben in den wichtigsten Fragen verbindliche Antworten zu geben. Weber findet die als rational, voraussetzungsfrei und intersubjektiv gültig gefasste Wissenschaft nicht fähig, in den letzten Lebensfragen und Stellungnahmen zur Welt im Ganzen weiterzuhelfen und derart zur Führung und Orientierung des Lebens beizutragen: Und wenn […] Tolstoj in Ihnen aufsteht und fragt: »Wer beantwortet, da es die Wissenschaft nicht tut, die Frage: was sollen wir denn tun? und: wie sollen wir unser Leben einrichten?« oder in der heute Abend hier gebrauchten Sprache: »welchem der kämpfenden Götter sollen wir dienen? Oder vielleicht einem ganz anderen, und wer ist das?« – dann ist zu sagen: nur ein Prophet oder ein Heiland. 13 13
Weber: Wissenschaft als Beruf, S. 268–9. Siehe auch: »Überall freilich geht die
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Theorie und Existenz aus neoexistentialistischer Sicht
Mit Webers Ausführung meldet sich die Perspektive des Handelnden, die den Gegensatz von objektiv allgemeingültiger Wissenschaft und der Unvermeidlichkeit persönlichen Handelns in ihrer existentiellen Paradoxie aufweist. Deutlich zeichnen sich dadurch lebensphilosophische Motive im Denken Max Webers, die auch in der in den letzten Jahrzehnten von Tenbruck und Hennis aufgeworfene These, im Zentrum des Riesenwerks von Weber stehe nicht die Rationalisierung, sondern die Frage der Lebensführung, klar formuliert wurde. Hennis hat diese »völlig undiskutierte Annahme« kritisiert und ist zur Überzeugung gekommen, dass das religionssoziologische Thema der »Lebensführung« das zentrale Thema bildet, das Weber kontinuierlich bewegte. 14 Es ist in unserem Kontext aufschlussreich, wie diese Diagnose von Weber unter anderem auch auf die philosophische Hermeneutik von Hans-Georg Gadamer gewirkt hat, der an einer wichtigen Stelle Jaspers’ Programm so beschreibt, dass damit auch die Stoßrichtung seiner eigenen philosophischen Bemühungen gezeigt wird: Die Strenge, mit der Max Weber alle Weltanschauungs-Momente und alle Wertungen aus der Wissenschaftslehre eliminieren suchte, aber gleichzeitig die Grenze aller Wissenschaft in der Notwendigkeit, selber seinen Gott zu wählen, anerkannte, zeichnete Jaspers seine philosophische Aufgabe vor. Es galt, die Selbstbegrenzung der Wissenschaft […] mit dem Anspruch der Philosophie zu vermitteln, nicht nur aus irrationalen Entscheidungen, sondern aus der Kraft des Gedankens eine Wahl der Götter vorzunehmen, denen man folgen wolle. 15
Beim näheren Hinsehen lässt sich feststellen, dass Gadamer hier im Grunde genommen sein eigenes Programm formuliert, das die Geisteswissenschaften als eigenständige Formen der Erkenntnis zu berücksichtigen und überhaupt einige nicht naturwissenschaftliche Erkenntnisformen philosophisch zu legitimieren versucht. Das Ziel der Gadamer’schen Hermeneutik ist es, die existentiell unbefriedigende Alternative von Weber zu unterlaufen, der zufolge – um Wittgen-
Annahme, die ich Ihnen vortrage, aus von dem einen Grundsachverhalt: daß das Leben, solange es in sich selbst beruht und aus sich selbst verstanden wird, nur den ewigen Kampf jener Götter miteinander kennt, – unbildlich gesprochen: die Unvereinbarkeit und also die Unaustragbarkeit des Kampfes der letzten überhaupt möglichen Standpunkte zum Leben, die Notwendigkeit also: zwischen ihnen sich zu entscheiden.« (Ebd., S. 267–8) 14 Hennis: Max Webers Fragestellung, S. 33. 15 Gadamer: »Die phänomenologische Bewegung«, S. 111.
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stein zu variieren – gilt: Wovon man nicht wissenschaftlich sprechen kann, darüber muss man schweigend entscheiden. Gleichwohl muss man sehen, dass weder Weber noch Gadamer eine verzerrende Wirkung oder einen problematischen Charakter der Theorie selbst behaupten, sondern nur deren Begrenztheit hinsichtlich letzter Fragen feststellen. 16 Für die Frage nach der menschlichen Existenz, wie sie im Neoexistentialismus gestellt sein sollte, kommt es hingegen auch auf eine solche verzerrende strukturelle Eigentümlichkeit der Theorie an, die sowohl von Karl Jaspers wie auch vom jungen Heidegger thematisiert wurde. Die von beiden geteilte Grundüberzeugung, die auch als gemeinsames Grundmotiv des klassischen Existentialismus gelten kann, artikuliert den Gedanken der Ungegenständlichkeit menschlicher Existenz, die im negativen Sinne besagt, dass menschliche Existenz nicht wie ein Gegenstand unter anderen aufgefasst werden kann. Dieser Gedanke der Ungegenständlichkeit menschlicher Existenz bildet für Karl Jaspers einen Eckstein seiner ersten Denkphase, in deren Zentrum die Klärung des spezifischen Seins des Einzelnen steht. 17 Im 1932 veröffentlichten Hauptwerk Philosophie arbeitet Jaspers im Anschluss an Kierkegaard ein Stufenmodell menschlicher Seinsweise aus, deren ungegenständlichen Kern die auf eine Transzendenz angewiesene Existenz bildet. Im Mittelpunkt der Philosophie von Jaspers steht die Frage nach dem Sein, aber nicht im Sinne einer Ontologie, die mit einer festgelegten Begrifflichkeit verschiedene Seinsweisen zu unterscheiden und in einem abgeschlossenen System zu präsentieren suchte. Im Gegensatz dazu sollte die Philosophie, wie Jaspers sie versteht, das Ganze des Seins in einer prinzipiell offenen Erörterung entfalten. Allerdings erhält man mit dieser Beschreibung kein Kriterium oder keine Definition der Philosophie, mithilfe deren sie von anderen Bereichen abgegrenzt werden könnte. Jaspers grenzt innerhalb der Philosophie drei Bereiche voneinander ab, in die sich ihm zufolge das Sein selbst gliedert: »das All, das Die Sonderstellung der Axiome als unbewiesene, aber zum Zwecke der Möglichkeit von Beweisen für wahr gehaltenen Grundsätze in der Mathematik verdeutlicht eine ähnliche Begrenzung innerhalb der Wissenschaft selbst. 17 Damit wird eine Binnendifferenzierung des Denkweges von Jaspers behauptet, indem die Spätphase des Denkens von Jaspers etwa nach 1945 mit der Zentralstellung der Vernunft und der Beschäftigung mit politischen Fragen ausgeklammert wird. Eine Kontinuitätsthese in Form der Untrennbarkeit von früher Existenz- und später Vernunftphilosophie haben u. a. Volker Gerhardt und Leonard H. Ehrlich vertreten. 16
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Theorie und Existenz aus neoexistentialistischer Sicht
Ursprüngliche und das Eine: das All des Daseins ist Welt, unsere Ursprünglichkeit Existenz, das Eine Transzendenz.« 18 Die entsprechende Erörterung dieser Bereiche markiert zum einen den Weg der Weltorientierung, zum anderen den der Existenzerhellung und schließlich den der Metaphysik. Die Einteilung der Bereiche der Philosophie hängt mit Jaspers’ Philosophieverständnis eng zusammen. Philosophie hat ihm zufolge grundsätzlich die Aufgabe der Lebensorientierung für den Einzelnen, woraus auch die Ablehnung der Wissenschaft bzw. der wissenschaftlichen Philosophie jeder Art folgt. Im fast gleichzeitig erschienenen Buch Die geistige Situation der Zeit fasst Jaspers das Programm der Existenzphilosophie wie folgt zusammen: Existenzphilosophie ist das alle Sachkunde nutzende aber überschreitende Denken, durch das der Mensch er selbst werden möchte. Dieses Denken erkennt nicht Gegenstände, sondern erhellt und erwirkt in einem das Sein dessen, der so denkt. In die Schwebe gebracht durch das Überschreiten aller das Sein fixierenden Welterkenntnis (als philosophische Weltorientierung), appelliert dieses Denken (als Existenzerhellung) an seine Freiheit und schafft den Raum seines unbedingten Tuns im Beschwören der Transzendenz (als Metaphysik). 19
Dabei integriert philosophische Weltorientierung nicht Ergebnisse der Wissenschaften zu einem einheitlichen Weltbild, sondern zeigt die Unmöglichkeit eines solchen gültigen und absoluten Weltbildes, und darin zeigt sie die Fragwürdigkeiten der faktischen wissenschaftlichen Weltorientierung. 20 Jaspers beschreibt das, was er Existenz nennt, im Rahmen eines Stufenmodells des Menschen, das vier Seinsweisen umfasst: Dasein, Bewusstsein überhaupt, Geist und Existenz. Der Mensch existiert als »empirisches« oder »bloßes Dasein«, womit das körperliche, biologische Leben gemeint ist. »Bloßes Dasein« hat also in erster Linie mit Instinkten, Trieben und Interessen bzw. mit deren Ausleben zu tun. Eine zweite Stufe oder Schicht der menschlichen Seinsweise nennt Jaspers mit einer an Kant erinnernden Formulierung »Bewusstsein überhaupt«. Im Sinn des Verstandes bei Kant meint diese Ebene menschlichen Seins die Fähigkeit und Möglichkeit des logischen Denkens, das allgemeingültig und zwingend funktionieren kann im Ge18 19 20
Jaspers: Philosophie I, S. 28. Jaspers: Die geistige Situation der Zeit, S. 145. Jaspers: Philosophie I, S. 30
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gensatz zum Bewusstsein des bloßen Daseins, das nur intentional auf Zwecke in der Umgebung gerichtet ist. Das Bewusstsein überhaupt beschreibt die Dimension des Menschen als erkennendes Wesen. Die dritte Stufe des Menschseins ist die Ebene des »Geistes« oder der Vernunft, mit deren Hilfe der Mensch imstande ist, sich auf »geistige Ganzheiten« zu beziehen. Damit meint Jaspers Wertvorstellungen und Ideen, die in von Menschen gestaltete Sinnzusammenhänge und umfassende Orientierungen eingebettet sind. Den drei erwähnten Seinsweisen des Menschen ist gemeinsam, dass sie Aspekte des Menschen charakterisieren, die sich empirisch erfassen lassen. Dagegen ist die vierte Seinsweise, die »Existenz« bzw. das »eigentliche Sein«, nicht empirisch oder rational zu beobachten. Sie bildet die ungegenständliche Seite des Menschen, der im »Aufschwung« zur Existenz seine individuelle, unvertretbare Art und Weise des Menschseins realisiert. Der Aufschwung zur Ebene der Existenz geschieht unabhängig vom Willen des Einzelnen und lässt sich nicht objektiv beschreiben, sondern nur in jeweils individuellen eigenen Verwirklichungen erleben. Entsprechend ist ein solcher Aufschwung nicht dauerhaft, vielmehr beschränkt sich er auf existentielle »Augenblicke«. 21 Die Realisierung der Existenz ist Jaspers zufolge auf zweifache Weise möglich: entweder in Grenzsituationen oder in der eigentlichen Kommunikation, wobei deren Verhältnis in der Jaspers-Forschung umstritten ist. Jaspers kommt also dadurch zur Bestimmung der Existenz, dass er ein nicht objekthaftes Sein nach allem gegenständlich Wissbaren vorfindet: dieses Sein »bin ich selbst als Existenz. Sie bin ich, sofern ich mir nicht selbst Objekt werde. In ihr weiß ich mich unabhängig, ohne daß ich zu schauen vermöchte, was ich mein Selbst nenne. Aus ihrer Möglichkeit lebe ich; nur in ihrer Verwirklichung bin ich ich selbst.« 22 Der Wesenskern des Menschseins ist demnach für Jaspers nicht gegenständlich. Die vergegenständlichende Erfahrung des Alltags muss Jaspers zufolge in die Schwebe gebracht werden, und dazu ist allein die Philosophie fähig, die auf diese Weise auch über die wissenschaftliche Erkenntnis hinausführen kann und muss. Gegenstand dieser ErfahEine Strukturähnlichkeit zu Heidegger ergibt sich dadurch, dass die Eigentlichkeit auch von Heidegger nicht als dauerhafter Zustand, sondern als etwas immer wieder neu zu Gewinnendes konzipiert wird. 22 Jaspers: Philosophie II, S. 1 f. 21
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rung ist die Welt als »Inbegriff alles dessen, was mir durch Orientierung des Erkennens als ein zwingend für jedermann wißbarer Inhalt zugänglich werden kann« 23; die »Existenz und Transzendenz«, oder, mythisch ausgedrückt, »Seele und Gott« gehören nicht mehr in diesen Bereich. Letztere sind nicht im selben Sinne wie die Dinge in der Welt, und dementsprechend können sie auch nicht so gewusst und gekannt werden wie die Dinge. Nach Jaspers ist es für die Grenze der gegenständlichen Erkenntnis charakteristisch, dass sie noch immanent ist und bereits auf Transzendenz hindeutet; derart weist die gegenständliche Erkenntnis über sich hinaus. Das Hinausgehen über das gegenständliche Wissen nennt Jaspers »Transzendieren«, das als ein Überschreiten des gegenständlich Wissbaren in Richtung des Nicht-mehr-gegenständlich-Wissbaren der Existenz und der Transzendenz gefasst wird. Ohne Transzendieren kann Philosophie nur begrenzte Gegenstandserkenntnis oder intellektuelle Spielerei sein. Dabei wird der Akzent auf den Vollzug des Überschreitens, und nicht auf die gewonnenen Einsichten gelegt: »Die Wirklichkeit des Philosophierens ist nicht im objektiven Resultat, sondern eine Bewußtseinshaltung« 24. Zwar handelt es sich darum, Existenz und Transzendenz zugänglich zu machen, dies lässt sich jedoch nicht mithilfe des gewöhnlichen Sprechens erreichen. Das sieht man auch daran, dass die Existenz Jaspers zufolge ausdrücklich nicht definiert und erkannt, nur erläutert werden kann: »Existenz ist, was nie Objekt wird, Ursprung, aus dem ich denke und handle, worüber ich spreche in Gedankenfolgen, die nichts erkennen; Existenz ist, was sich zu sich selbst und darin zu seiner Transzendenz verhält.« 25 Jaspers stützt sich in dieser Formulierung erklärtermaßen auf Kierkegaards Formel vom Selbst in Krankheit zum Tode. Dass das Sich-zu-sich-selbst-Verhalten mit einem Gottesbezug identifiziert werden kann, war aber bereits bei Kierkegaard eher nur behauptet als begründet: »So ambivalent Kierkegaards Nein zum System ist, so halbherzig ist auch seine Ablehnung philosophischer Gottesbeweise. Insgeheim möchte er die Existenz Gottes aus der Existenz der Verzweiflung beweisen.« 26 Zumindest versucht Kierkegaard, die Formel von der Macht, in der das Selbst gründen 23 24 25 26
Ebd. Jaspers: Philosophie I, S. 264. Vgl. Jaspers: Philosophie II, S. 15. Theunissen: Der Begriff Verzweiflung, S. 25.
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soll, deskriptiv gar nicht erst einlösen. Immerhin bemüht sich Jaspers, den von ihm im Selbstbezug behaupteten Transzendenzbezug plausibel zu machen, indem er das Erreichen von Existenz als etwas beschreibt, was mir in bestimmten Augenblicken gleichsam »passiert«. Gleichwohl ist an der Erörterung von Jaspers die Vorstellung nicht überzeugend, dass aus dem Umstand, dass ich mich als Selbst vorfinde, folge, dass es eine Macht gibt, die mich gesetzt hat und die dann gleich als Gott verstanden wird. 27 Wie auch immer es mit dem Transzendenzbezug bestellt sein mag, die Aufklärung der Existenz, die Jaspers »Existenzerhellung« nennt, kann nur mittelbar sein. Die Philosophie kann nicht eine allgemeingültige Theorie über das Wesen des freien Menschen liefern, sondern höchstens den Einzelnen zu einem Punkt führen, von dem her er selbst die eigenen Möglichkeiten erfahren muss. Diesen Punkt bestimmt Jaspers nicht ganz eindeutig: Zum einen sind es die Grenzsituationen, zum anderen die existentielle Kommunikation, die die Möglichkeit des Selbstwerdens bieten und gleichzeitig die Unzulänglichkeit des bloß theoretischen Denkens zeigen. Die Frage, wie das Selbstwerden in Grenzsituationen und das Selbstwerden in existentieller Kommunikation sich aufeinander beziehen lassen, ist umstritten und sollte hier ausgeblendet werden. 28 Existenz ist für Jaspers gleichbedeutend mit Selbstsein, wobei dies nicht passiv verstanden werden darf, sondern als eine nicht von jedem realisierte Form menschlichen Lebens. Die Existenz bezeichnet dementsprechend die Aufgabe und die Wahl, im Dasein selbst zu werden und sich nicht in der bloßen Daseinsweise der Menge zu verlieren. Um sich selbst zu finden und werden zu können, ist man auf eigentümliche Situationen angewiesen, in denen man sich auf besonders intensive Weise selbst begegnet. Zwar ist das menschliche Sein grundsätzlich immer situativ, »ein Sein in Situation«, denn ich kann »niemals aus der Situation heraus, ohne in eine andere einzutreten«. 29 Die Situationen des Lebens lassen sich aber mehr oder weniger durchschauen, auch wenn sie mannigfaltig und einzigartig sind. Die
Für eine ausführliche Diskussion der Frage vgl. Evans: »Who Is the Other in The Sickness unto Death?« und Hannay: »›Spirit‹ and the Idea of Self as a Reflexive Relation«. 28 Vgl. dazu Salamun: Karl Jaspers, S. 54 ff. 29 Jaspers: Philosophie II, S. 203. 27
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Grenzsituationen, unter denen Jaspers Tod und Leiden, Kampf und Schuld anführt, sind dagegen nicht überschaubar: [I]n unserem Dasein sehen wir hinter ihnen nichts anderes mehr. Sie sind wie eine Wand, an die wir stoßen, an der wir scheitern. Sie sind durch uns nicht zu verändern, sondern nur zur Klarheit zu bringen […]. Sie sind mit dem Dasein selbst. 30
Die grundlegende Bedeutung dieser Situationen beruht darauf, dass sie einen vor die Alternative stellen, entweder die Augen vor ihnen zu verschließen oder bewusst in sie einzutreten. Letzteres ist Jaspers zufolge die Möglichkeit, man selbst zu werden, weswegen die These gilt: »Grenzsituationen erfahren und Existieren ist dasselbe.« 31 Die andere wesentliche Weise des Selbstwerdens erblickt Jaspers, wie erwähnt, in der existentiellen Kommunikation, deren Stellenwert durch den Gedanken bestimmt ist, dass man nicht imstande ist, in der Vereinzelung sich selbst zu finden: »Ich kann nicht ich selbst werden, ohne in Kommunikation zu treten, und nicht in Kommunikation treten, ohne einsam zu sein« 32. Wichtig im vorliegenden Kontext ist der Gedanke, dass die Verwirklichung der Existenz von der Kommunikation als ihrem einzig möglichen Ort abhängig gemacht wird. Nicht ein einsames Tun, sondern Kommunikation mit anderen ermöglicht das Selbstwerden, das über die Kommunikation auch mit dem Dasein anderer verschränkt wird. Jaspers sieht das eigentliche Selbstwerden mit einem Offenbarwerden gegenüber sich selbst und einem anderen Menschen notwendig verbunden. Der springende Punkt dabei ist, dass sich dieses Offenbarwerden nicht isoliert vollziehen lässt, weil »ich […] als Einzelner für mich weder offenbar noch wirklich« bin. Den Prozess dieses Offenbarwerdens in der Kommunikation bestimmt Jaspers als »liebende[n] Kampf« 33. Als Fazit der Erörterung des Gedankens der Ungegenständlichkeit menschlicher Existenz bei Jaspers kann man feststellen, dass der Grundgedanke des in seinem Kern ungegenständlichen Menschseins für ihn im Zentrum steht: ein Mensch oder ein Selbst zu sein, heißt
Ebd. Ebd., S. 204. 32 Ebd., S. 61. Auf die von Jaspers nicht aufgelöste Spannung zwischen Grenzsituation und existentieller Kommunikation hat u. a. Kurt Salamun hingewiesen (ders.: Karl Jaspers, S. 54 ff.). 33 Ebd., S. 65. Zur Erläuterung siehe Olay: »Jaspers und Sartre«. 30 31
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nicht, ein Gegenstand unter anderen zu sein. Ferner muss bemerkt werden, dass seine Bemühungen um die Thematisierung menschlicher Existenz eher im negativen, kritischen Teil überzeugend sind, als im Aufzeigen dessen, wie menschliche Existenz nicht in Gegenstandskategorien angemessen beschrieben werden kann. Im Grunde genommen ist Jaspers zufolge bereits das Ziel der Beschreibung menschlicher Existenz irreführend, weil dies seiner Ansicht nach bereits eine unzulässige Vergegenständlichung impliziert. 34 Wenden wir uns jetzt dem jungen Martin Heidegger zu, der die Beschreibung menschlicher Existenz unter der Voraussetzung unternimmt, dass sie nicht in Gegenstandskategorien hinreichend zugänglich gemacht werden kann.
Die Spannung von Theorie und Existenz bei Martin Heidegger Der Gedanke der Ungegenständlichkeit menschlicher Existenz steht auch bei Heidegger in der Vorbereitungsphase von Sein und Zeit im Mittelpunkt seiner philosophischen Bemühungen. Die Konzeption wird im Zusammenhang einer eigentümlichen Weltanalyse ausgearbeitet, deren tragende Voraussetzung besagt, dass die gesamte abendländische Philosophie unsere Seinsweise unter der »Vorherrschaft des Theoretischen« verzerrt betrachtet hatte. Heideggers Ansatz lässt sich am besten in seinen ersten Vorlesungen verdeutlichen, wie er in der Vorlesung Die Idee der Philosophie und das Weltanschauungsproblem aus dem Jahr 1919 hervortritt und die ganze Vorbereitungsphase von Sein und Zeit maßgebend bestimmt. In der Vorlesung Die Idee der Philosophie und das Weltanschauungsproblem ist die ontologische Problematik, die in Sein und Zeit unter dem Stichwort »die Frage nach dem Sinn von Sein« behandelt »Existenzerhellung erkennt nicht die Existenz, sondern appelliert an ihre Möglichkeiten. Sie würde aber als Existentialismus ein Sprechen wie von einem erkannten Gegenstand sein und würde, gerade weil sie der Grenzen innewerden und den unabhängigen Grund erhellen soll, nur umso tiefer in die Irre gehen, indem sie Erscheinungen der Welt unter ihre Begriffe erkennend und beurteilend subsumierte. – In jeder der Verfestigungen, Isolierungen und Verabsolutierungen geht also der eigentliche Gedanke des Umgreifenden verloren. Im gegenständlich gewordenen Umgreifenden ist nicht mehr das wahre Umgreifende.« (Jaspers: Vernunft und Existenz, S. 54).
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wird, in Heideggers Überlegungen überhaupt nicht präsent. 35 Ein Hauptmotiv dieser Vorlesung aus 1919 bildet vielmehr eine Weltanalyse, die das Kernstück des neuen Ansatzes bildet. Thesenhaft besteht Heideggers Programm hier darin, mit dem »Primat des Theoretischen« 36, das ihm zufolge die ganze philosophische Tradition beherrscht, zu brechen. Unter diesem Titel kritisiert Heidegger das Verfahren, das er dem Neukantianismus zuschreibt, das sich von vornherein in einer grundsätzlich theoretischen Dimension bewegt, und zwar in der Überzeugung, dass diese Sphäre allen anderen zugrunde liegt, und sie derart begründet – etwa das Theoretische das Praktische. Die polemische Forderung der Verabschiedung des Primates des Theoretischen richtet sich aber im Grunde bereits auch gegen Edmund Husserl, der seine Phänomenologie aus Problemen des Erkennens, also aus der Theorie im eminenten Sinne entwickelte. 37 Problematisch wird das Theoretische für Heidegger, sofern seine »Generalherrschaft«, also das Primat des Theoretischen die Problemstellung von vornherein entstellt: Im Problemansatz, der Isolierung der Empfindungsdaten als der zu erklärenden bzw. aufzuhebenden Restbestände, Ungeklärtheiten und Fremdheiten des Bewußtseins, steckt bereits der alles weitere determinierende Schritt ins Theoretische, oder vielmehr […] es ist nicht erst ein Schritt ins Theoretische: Schon von Anfang an und immer ist man im Theoretischen. Man nimmt dieses als ein Selbstverständliches, zumal wenn man Wissenschaft und gar noch Erkenntnis-theorie treiben will. 38
Bedeutet der Vorrang des Theoretischen einen selbstverständlichen Schritt mit verzerrender Wirkung, lässt sich dieser Vorrang dementsprechend brechen, indem man jenen Schritt nicht vollzieht. Heidegger präzisiert diesen Schritt als eine Einstellungsveränderung, und damit lässt sich das Theoretische als die Sphäre verstehen, die für eine spezifische Einstellung charakteristisch ist. Wenn die fragliche Einstellung erst das Ergebnis einer Veränderung ist, dann muss es eine andere, ursprünglichere Einstellung geben, woraus erst die Veränderung denkbar ist. Und das ist in der Tat Heideggers Überzeugung: Das Zum Auftauchen der ontologischen Problematik siehe Günter Figals: »Heidegger als Aristoteliker«. 36 Heidegger: Zur Bestimmung der Philosophie, S. 84. 37 Zu Heideggers komplexen Verhältnis zu Husserl vor der Vorbereitungsphase von Sein und Zeit siehe den Aufsatz von Péter Varga: »Phenomenology and its History«. 38 Heidegger: Zur Bestimmung der Philosophie, S. 87. 35
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Theoretische weist unausweichlich auf eine vortheoretische Dimension zurück. Heidegger will nun plausibel machen, dass diese vortheoretische Dimension unserer ursprünglichen, und darin »natürlichen« Einstellung entspricht. 39 Die These, dass das Theoretische gegenüber dem Vortheoretischen sekundär und aus ihm abgeleitet sei, stellt für ihn nicht nur die Aufgabe, diese vortheoretische Sphäre zugänglich zu machen, sondern auch die zusätzliche Aufgabe der Klärung der »Genesis des Theoretischen«, wobei letztere in der Vorlesung aus 1919 eher nur angedeutet, aber nicht näher ausgeführt wird. 40 Die Aufgabe, die vortheoretische Sphäre zugänglich zu machen, ist mindestens mit zwei Schwierigkeiten verknüpft. Zum einen fehlt dafür gewissermaßen die Sprache, und ein nicht unerheblicher Teil der sprachlichen Merkwürdigkeiten und Eigenwilligkeiten der Vorlesungen Heideggers in den 20er Jahren stammt aus dem Bestreben, eine angemessene Sprechweise zu finden. Zum anderen erblickt Heidegger ein weiteres Problem der theoretischen Einstellung in einer Vorlesung zwei Jahre später darin, dass sie für sich nicht thematisch wird: Es gehört zum Sinn theoretischer Voraussetzungen, d. i. auf denen theoretische Einstellung als solche steht, von denen sie lebt, daß sie gerade von dieser Einstellung nicht erfaßt und nicht erfaßbar sind. 41
Um die vortheoretische Dimension zugänglich zu machen, versucht Heidegger ein konkretes Erlebnis zu beschreiben, und zwar die Art und Weise, wie ein gewöhnliches Ding, etwa das Katheder im Hörsaal in bekannter Umgebung erlebt wird. Dass Heidegger dieses Erlebnis als »Umwelterlebnis« bezeichnet, klärt auch seine eigentümliche Perspektive. Es geht nicht darum, den Bezug auf Objekte, mithin einen isolierenden Gegenstandsbezug zu fassen, sondern das umfassendere
Es sollte unbedingt betont werden, dass Heideggers Vorschlag nur dann darin besteht, statt des Vorrangs des Theoretischen nun ein Primat des Praktischen zu behaupten, wenn »praktisch« hier als das verstanden wird, was im Hinblick auf »theoretisch« privativ aufgefasst wird. Dies spricht dann auch dagegen, Heideggers Bestrebungen im Sinne des Pragmatismus interpretieren zu wollen, selbst wenn einige wie etwa Hubert Dreyfus in den USA über Heidegger arbeiten, die eine gewisse Nähe zum Pragmatismus aufweisen. 40 Heidegger: Zur Bestimmung der Philosophie, S. 88. 41 Heidegger: Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles, S. 159. 39
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Verhältnis zur Umwelt zu klären, worin sich jeder isolierende Gegenstandsbezug von vornherein bewegt. Was heißt es genauer, sich zur Umwelt zu verhalten? – diese Frage soll die Analyse des Umwelterlebnisses, und zwar als Basis der Kritik am Primats des Theoretischen leiten 42: In dem Erlebnis des Kathedersehens gibt sich mir etwas aus einer unmittelbaren Umwelt. Dieses Umweltliche (Katheder, Buch, Tafel, Kollegheft, Füllfeder, Pedell, Korpsstudent, Straßenbahn, Automobil usf. usf.) sind nicht Sachen mit einem bestimmten Bedeutungscharakter, Gegenstände, und dazu noch aufgefaßt als das und das bedeutend, sondern das Bedeutsame ist das Primäre, gibt sich mir unmittelbar, ohne jeden gedanklichen Umweg über ein Sacherfassen. 43
Kritisch wird damit die Auffassung betrachtet, der zufolge wir in alltäglichen Zusammenhängen zunächst Dinge oder Gegenstände erfahren, die mit bestimmten Charakterisierungen ausgestattet sind. Heidegger, ähnlich wie Husserl, widerspricht entschieden der Ansicht, dass die primären Gegebenheiten für uns Empfindungen seien: »Unmittelbar ist mir im Kathedererlebnis das Katheder gegeben. Ich sehe dieses als solches und sehe nicht etwa Empfindungen und Empfindungsdaten; ich habe überhaupt kein Bewußtsein von Empfindungen.« 44 Anders als Husserl behauptet Heidegger jedoch, dass die primären Gegebenheiten für uns nicht (ideale oder reale) Gegenstände sind, sondern »das Bedeutsame« bzw. »das Umweltliche«. Das wiederum soll heißen, dass wir Sachen vor allem so erfahren, dass wir mit ihnen etwas tun, etwas anfangen können. Dabei kommt es nicht darauf an, was verschiedene Personen mit demselben anfangen können, sondern dass sie das können. So z. B. würde, wie Heidegger ausführt, jemand einen für ihn ungewöhnlichen Gegenstand, etwa »ein Senegalneger« das Katheder im Hörsaal »als etwas (sehen), ›mit dem er nichts anzufangen weiß‹. Das Bedeutungshafte des ›zeuglichen Fremdseins‹ und das Bedeutungshafte ›Katheder‹ sind ihrem Wesenskern nach absolut identisch.« 45 Womit man zu tun hat, wird also zuerst unter
Vgl. Gander: Selbstverständnis und Lebenswelt, S. 255–63; Fehér: »Verstehen bei Heidegger und bei Gadamer«. 43 Heidegger: Zur Bestimmung der Philosophie, S. 72–3. 44 Ebd., S. 85. 45 Ebd., S. 72. 42
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dem Aspekt gesehen bzw. erfahren, was man damit tun kann bzw. welche Möglichkeiten des Verhaltens es für einen bereithält: [D]as Bedeutsame ist das Primäre, gibt sich unmittelbar, ohne jeden gedanklichen Umweg über ein Sacherfassen. In einer Umwelt lebend, bedeutet es mir überall und immer, es ist alles welthaft, »es weltet«, was nicht zusammenfällt mit dem »es wertet«. 46
Dieser Umstand bedeutet wohlbemerkt nicht, dass man von Empfindungsdaten und Gegenständen gar nicht reden kann; es bedeutet nur, dass eine solche Rede nur in der theoretischen Einstellung möglich ist, die »ihrem Sinne nach […] Zerstörung des Umwelterlebnisses« 47 ist. Für Heidegger ist von grundsätzlicher Bedeutung, was in der theoretischen Einstellung vernichtet wird, weil es deutlich macht, wie die Umwelt und das menschliche Leben zusammenhängen. 48 Die theoretische Einstellung lässt nämlich vergessen, wie wir uns in der Welt bewegen, oder anders, wie menschliches Leben vollzogen wird. Zu diesem Sich-in-der-Welt-Bewegen gehört aber das Gebrauchenkönnen von Sachen, eben das, was oben mit der Formel »mit ihnen etwas anfangen können« angezeigt wurde. »Das Umwelterleben ist keine Zufälligkeit, sondern liegt im Wesen des Lebens an und für sich; theoretisch dagegen sind wir nur in Ausnahmefällen eingestellt« 49. Damit wird sicherlich noch nicht beantwortet, in welchem Verhältnis das »Leben« und die »theoretischen Ausnahmefällen« zueinander stehen. Deutlich wird aber, dass die Umweltanalyse eine solche Beschreibung des Lebens vorbereitet, welche auch das mitberücksichtigt, worin menschliches Leben vollzogen wird und davon nicht getrennt werden kann. 50 Die Beschreibung des Umwelterlebnisses bereitet eine solche BeEbd., S. 73. Ebd., S. 85. 48 Heidegger formuliert pointiert die Zusammengehörigkeit von Leben und Welt an folgender Stelle: »Unser Leben ist die Welt, in der wir leben, […] Und unser Leben ist nur als Leben, insofern es in einer Welt lebt.« (Grundprobleme der Phänomenologie, S. 34) 49 Heidegger: Zur Bestimmung der Philosophie, S. 88. 50 Rahel Jaeggi sieht in Heideggers hier zusammengefassten Analysen eine Beschreibung der »Verdinglichung«, die mit der Entfremdung im weiteren Sinne verbunden ist (Jaeggi: Entfremdung, S. 35 ff.) Den Preis für diesen Zusammenhang bezahlt sie allerdings damit, dass der je verschiedene Sinn der Vergegenständlichung bei Heidegger bzw. der Verdinglichung bei Lukács verwischt wird. 46 47
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schreibung des Lebens vor, welche mitberücksichtigt, worin menschliches Leben vollzogen wird. Heidegger sagt dazu zwei Jahre später: Die intransitiv-verbale Bedeutung »leben« expliziert sich, konkret vergegenwärtigt, selbst immer als »in« etwas leben, »aus« etwas leben, »für« etwas leben … Das »etwas«, was seine Beziehungsmannigfaltigkeit zu »leben« anzeigt in diesen scheinbar nur gelegenheitlich aufgerafften und aufgezählten präpositionalen Ausdrücken, fixieren wir mit dem Terminus »Welt«. … – Leben ist in sich selbst weltbezogen, »Leben« und »Welt« sind nicht zwei für sich bestehende Objekte. 51
Die Rede von Leben und Welt unterstreicht die Überzeugung, dass das Subjekt-Objekt Schema als unzureichendes Modell gilt. Menschliches Leben vollzieht sich nicht in einem isolierbaren Bereich genannt »Bewusstsein«, dem man eine »Außenwelt« entgegensetzen könnte. Wenn das Leben die Fähigkeit und das Können bedeutet, sich in einem Zusammenhang, in gewissem Rahmen bewegen zu können, dann kann es von jenem Zusammenhang nicht scharf getrennt werden. Mit diesen Überlegungen gewinnt der junge Heidegger seine entscheidenden Impulse zu einer ungegenständlichen Beschreibung menschlicher Existenz. Das lässt sich daran deutlich machen, dass die Zusammengehörigkeit von Leben und Umwelt die grundsätzliche Strukturbestimmung der Daseinsanalyse aus Sein und Zeit vorwegnimmt, nämlich den Gedanken, dass Dasein als In-der-Welt-sein zu fassen ist. Genauso wie das faktische Leben nicht isoliert von der Umwelt konzipiert werden kann und derart faktisches Leben und Umwelt zusammengehören, erläutert Sein und Zeit die Zusammengehörigkeit von Dasein und Welt allein schon dadurch, dass Dasein als Inder-Welt-sein gefasst wird. Damit wird der für die neuzeitliche Philosophie charakteristische Dualismus von Innen- und Außenwelt in einer Weise in Frage gestellt, für die Husserls Idee der Intentionalität – wie auch Diltheys Behandlung der Erkenntnisproblematik – eine grundsätzliche Vorarbeit leistet. Anders als in der frühen Vorlesung arbeitet Heidegger allerdings in Sein und Zeit die Existenzstruktur und den konstitutiven Gegensatz von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit aus, die aber am Gedanken der Ungegenständlichkeit nichts ändern. Heidegger führt die Daseinsanalyse mit folgenden Sätzen ein:
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Das Seiende, dessen Analyse zur Aufgabe steht, sind wir je selbst. Das Sein dieses Seienden ist je meines. Im Sein dieses Seienden verhält sich dieses selbst zu seinem Sein. Als Seiendes dieses Seins ist es seinem eigenen Sein überantwortet. 52
Dasein ist also nicht einfach vorhanden, wie ein Gegenstand unter anderen, sondern dadurch ausgezeichnet, dass es sich zu seinem Sein verhalten kann und muss. Im Kontext der vorliegenden Arbeit ist nun wichtig, dass der Sinn der Formulierung, der zufolge das Sein »je meines« ist, darin liegt, dass jeder dadurch charakterisiert ist, sich verhalten zu müssen, unabhängig davon, ob er sich darüber im Klaren ist oder nicht. Und dies kann ihm niemand abnehmen, selbst wenn er versucht, sich von seinem Sich-Verhalten-müssen zu entlasten. 53 Die so gedachte Jemeinigkeit liegt den »beiden Seinsmodi der Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit« zugrunde«, wobei diese Unterscheidung jedoch ausdrücklich nicht kulturkritisch gemeint ist. 54 Heidegger zufolge ist unsere Weise zu sein grundsätzlich von Möglichkeiten durchdrungen. Das Dasein wird von ihm als In-derWelt-sein gefasst, wobei »Welt« weder die Allheit von Sachverhalten noch die Allheit von Gegenständen, sondern den Spielraum von Handlungs- und Verhaltensmöglichkeiten bildet. Dementsprechend besagt für das Dasein in der Welt zu sein so viel wie stets einen Spielraum von Handlungs- und Verhaltensmöglichkeiten zu haben und sich dazu verhalten zu müssen. Am Anfang des § 31 von Sein und Zeit wird dieser Punkt im Hinblick auf das Verstehen nachdrücklich formuliert: Im Verstehen liegt existenzial die Seinsart des Daseins als Sein-können. Dasein ist nicht ein Vorhandenes, das als Zugabe noch besitzt, etwas zu können, sondern es ist primär Möglichsein. Dasein ist je das, was es sein kann und wie es seine Möglichkeit ist. 55
Heidegger: Sein und Zeit, S. 41–2. Es ist nicht schwierig, in dieser Passage Heideggers den Keim des Gedankens von Sartre zu entdecken, wir seien zur Freiheit verurteilt. Siehe dazu Olay: »Jaspers und Sartre«, S. 87–88. 54 Heidegger: Sein und Zeit, S. 42–43. 55 Heidegger: Sein und Zeit, S. 143. Vgl. dazu Schnell: De l’existence ouverte au monde fini, S. 59–60: »Le mot décisif est ici ›possibilité‹ : le mode d’être primordial de l’être-là, en tant qu’il existe, est le possible: l’être là n’est pas un être nu, mais c’est un pouvoir-être (Sein-Können). Exister veut alors dire: pouvoir être quelque chose et se comprendre à partir de cette potentialité.« 52 53
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Dasein als Möglichsein besteht grundsätzlich darin, seine Möglichkeiten zu sein, 56 und daraus ist ersichtlich, dass Heidegger unsere Weise zu sein extrem unbestimmt fasst. Es ist die wesentliche Instabilität und Unbestimmtheit des eigenen Seins, also das Sichverhalten zu einem Möglichkeitsraum, die das Sich-Orientieren an anderen motiviert, was das Leitmotiv der Man-Analyse in Sein und Zeit ist. Im Grunde genommen wird durch die Fassung des Daseins als Möglichsein, also durch seine Ungegenständlichkeit die Frage zugespitzt, wodurch das Dasein Kontinuität und Selbstsein gewinnt. Die Frage nach der Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit des Daseins lebt dementsprechend von dessen Ungegenständlichkeit. Auf eine detaillierte Diskussion der Ungegenständlichkeit menschlicher Existenz im Kontext von Sein und Zeit kann hier nicht eingegangen werden. An dieser Stelle lässt sich jedoch darauf hinweisen, dass die Differenzierung des einheitlichen In-der-Welt-seins in die Strukturmomente von »Welt«, »In-Sein« und »Wer« jene grundlegende Einsicht auch in der weiteren Ausführung bewahrt. Die Analyse des Weltbezugs erfolgt in Sein und Zeit mit der Erläuterung des In-Seins als solches, wobei Heidegger das Dasein mit seiner Erschlossenheit identifiziert, deren konstitutive Charakteristika das Verstehen, die Befindlichkeit und die Rede sind. 57 Was Heidegger »Verstehen« nennt, ist keine gelegentlich vollzogene Leistung, die hin und wieder vollzogen wird, etwa wenn man einen Satz, einen Text oder eine Handlung versteht, sondern fällt mit unserer Weise zu sein zusammen, wie allein schon aus dem Titel des § 31 zu sehen ist: »Das Da-sein als Verstehen«. Verstehen in diesem Sinne liegt auf einer viel elementareren Ebene als die des Sprachgebrauchs oder die einer intellektuellen Tätigkeit: Für Heidegger kann man nicht nicht verstehen, genauso wie man nicht nicht in der Welt sein kann. Ebenso ist Dasein immer gestimmt, wobei Heidegger als Befindlichkeit »das Bekannteste und Alltäglichste: die Stimmung, das Gestimmtsein« fasst. 58 Bei der Befindlichkeit handelt es sich um eine übergreifende Färbung dessen, dass es uns bevorsteht zu sein, und zwar zu sein in einer je anderen Konstellation von Möglichkeiten, und sofern ist
Günter Figal zufolge (»Seinserfahrung und Übersetzung«, S. 181) bilden diese Überlegungen »das gedankliche Zentrum« von Sein und Zeit. 57 Heidegger: Sein und Zeit, S. 133. 58 Ebd., S. 134. 56
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Csaba Olay
Befindlichkeit auch nicht mit einzelnen Emotionen zu verwechseln. Damit lässt sich auch die Wechselseitigkeit von Befindlichkeit und Verstehen klären: Ohne Möglichkeiten gibt es nichts, was einen übergreifenden Eindruck machen könnte, die Möglichkeiten, wie sie bekannt sind, machen aber eine solche Färbung noch nicht aus. Die Befindlichkeit deutet also letztendlich auf die grundlegende Bestimmung, der zufolge das Dasein Möglichsein ist.
Schlussbetrachtung Vorliegender Aufsatz versuchte, den Gedanken der Ungegenständlichkeit menschlicher Existenz als ein Schlüsselproblem für den Neoexistentialismus darzustellen, dessen Grundziel als die philosophische Beschreibung und Erläuterung der menschlichen Existenz unter den heutigen Bedingungen angegeben wurde. Die Thematisierung menschlicher Existenz, wie ausgeführt, steht immer in Gefahr, durch die Ansprüche theoretischen Erkennens verzerrt zu werden. Als zwei Varianten dieser Kritik wurden die Konzeptionen von Karl Jaspers und Martin Heidegger dargelegt, und zwar mit besonderer Rücksicht auf das Problem der Spannung zwischen Theorie und Existenz. Als Fazit unserer Argumentation lässt sich feststellen, dass Jaspers und Heidegger den Gedanken der Ungegenständlichkeit menschlicher Existenz auf verschiedene Weise in den Mittelpunkt ihrer philosophischen Bemühungen stellen. Für beide ging es darum, die Perspektive menschlicher Existenz vor den vergegenständlichenden Tendenzen zu bewahren, und das gilt auch für die Theorie und unter Umständen für den theoretischen Charakter der Philosophie. Man muss auch hinzufügen, dass die öfters bemerkten Thematisierungsschwierigkeiten menschlicher Existenz und das Problem der angemessenen Sprechweise über Existenz bei klassischen Autoren des Existentialismus im Grunde genommen aus deren Ungegenständlichkeit folgen. Bereits Kierkegaard sah deutlich die Schwierigkeit, die daraus stammt, dass der Einzelne als Einzelner betrachtet und angesprochen werden sollte. Die berühmt gewordene Frage von Thomas Nagel »What is it like to be a bat?« ist eigentlich ein Nachfolger der Frage Kierkegaards »Wie ist es, dieses Individuum zu sein?«. Das Problem der angemessenen Sprechweise findet sich in etwas verwandelter Form auch bei Karl Jaspers, und zwar in seiner
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Theorie und Existenz aus neoexistentialistischer Sicht
Idee des appellativen Denkens, das den Einzelnen als Einzelnen erreichen sollte. 59 Es wurde ferner gezeigt, dass sich beim jungen Heidegger eine produktivere Beschreibung der Existenz als bei Jaspers finden lässt, indem dieser versucht, das faktische menschliche »Leben« nicht nur ex negativo durch Abgrenzung vom Gegenständlichen, sondern im Sinne der phänomenologischen Deskription positiv zu charakterisieren. Heidegger geht es um den Möglichkeitscharakter menschlicher Existenz, um das Möglichsein, das wir in Zusammengehörigkeit mit der Welt sind. Dadurch eröffnen sich Perspektiven für den Neoexistentialismus, mit Hilfe derer das Erbe des klassischen Existentialismus weitergeführt werden kann. Eine ausführliche Entwicklung dieser Analyse und der damit zusammenhängenden Probleme fordert eine weitere längere Ausarbeitung.
Literatur Colette, Jacques: L’existentialisme, Paris 1996. Fehér, M. István: »Verstehen bei Heidegger und bei Gadamer«; in: Günter Figal u. Hans-Helmuth Gander (Hrsg.): »Dimensionen des Hermeneutischen«. Heidegger und Gadamer. Frankfurt/M. 2005. S. 89–115. Figal, Günter: »Heidegger als Aristoteliker«, in: ders.: Zu Heidegger. Antworten und Fragen, Frankfurt a. M. 2009, S. 55–82. Figal, Günter: »Seinserfahrung und Übersetzung. Hermeneutische Überlegungen zu Heidegger«, in: ders.: Zu Heidegger. Antworten und Fragen, Frankfurt a. M. 2009, S. 173–184. Flynn, Thomas R.: Existentialism, New York 2006. Gabriel, Markus: Ich ist nicht Gehirn. Philosophie des Geistes für das 21. Jahrhundert, Berlin 2015. Gadamer, Hans-Georg: »Die phänomenologische Bewegung«, in: ders.: Neuere Philosophie I. Gesammelte Werke, Bd. 3, Tübingen 1987, S. 105–146. Gander, Hans-Helmuth: Selbstverständnis und Lebenswelt. Grundzüge einer phänomenologischen Hermeneutik im Ausgang von Husserl und Heidegger, Frankfurt a. M. 2001 Heidegger, Martin: Grundprobleme der Phänomenologie (Wintersemester 1919/20), GA 58, Frankfurt a. M. 1992. Heidegger, Martin: Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles. Einführung in die phänomenologische Forschung, GA 61, Frankfurt a. M. 1985. Heidegger, Martin: Sein und Zeit, Tübingen 1986. Heidegger, Martin: Zur Bestimmung der Philosophie, GA 56/57, Frankfurt a. M. 1987. 59
Siehe dazu Salamun: Karl Jaspers, S. 34. ff.
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Csaba Olay Hennis, Wilhelm: Max Webers Fragestellung, Tübingen 1987. Hügli, Anton: »Grenzsituationen: oder vom Sinn der Frage nach dem Sinn«, in: ders., Kaegi, Dominic u. Weidmann, Bernd: Sinn und Existenz. Karl Jaspers im Kontext, Heidelberg 2009, S. 1–22. Hügli, Anton: »Sartre und Jaspers zur Frage nach der Transzendenz. Ein Aufriss der grundlegenden Differenzen zwischen Jaspers und Sartre aus Jaspersschen Sicht«, in: Hügli, Anton u. Hackel, Manuela (Hrsg.): Karl Jaspers und JeanPaul Sartre im Dialog. Ihre Sicht auf Existenz, Freiheit und Verantwortung, Frankfurt am Main et al. 2015, S. 27–52. Jaeggi, Rachel: Entfremdung, Frankfurt am Main / New York 2005. Jaspers, Karl: Die geistige Situation der Zeit, Berlin 1932. Jaspers, Karl: Philosophie, 3 Bde., Berlin – New York 1973. Jaspers, Karl: Vernunft und Existenz, Groningen 1935. Möbuß, Susanne: Existenzphilosophie, Bd. I-II, Freiburg / München 2015. Olay, Csaba: »Die Überlieferung der Gegenwart und die Gegenwart der Überlieferung. Heidegger und Gadamer über Tradition«, in: Internationales Jahrbuch für Hermeneutik VII (2013), S. 196–219. Olay, Csaba: Hans-Georg Gadamer: Phänomenologie der ungegenständlichen Zusammenhänge, Würzburg 2007. Olay, Csaba: »Jaspers und Sartre«; in: Hügli, Anton u. Hackel, Manuela (Hrsg.): Karl Jaspers und Jean-Paul Sartre im Dialog. Ihre Sicht auf Existenz, Freiheit und Verantwortung, Frankfurt am Main et al. 2015, S. 75–94. Salamun, Kurt: Karl Jaspers, Würzburg 2006. Schnell, Alexander: De l’existence ouverte au monde fini. Heidegger 1925–1930, Paris 2005. Theunissen, Michael: Der Begriff Verzweiflung. Korrekturen an Kierkegaard, Frankfurt a. M. 1993. Varga, Péter András: »Phenomenology and ist History: A Case Study on Heidegger’s Early Relation to Husserl – and a Plea for the Historical Method in Phenomenology«, in: Dialogue and Universalism (3/2015), S. 87–104. Weber, Max: »Wissenschaft als Beruf«, in: Schriften zur Wissenschaftslehre, Stuttgart 1991, S. 237–273.
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Markus Gabriel
Sinn, Existenz und das Transfinite 1
Es bedarf keiner großen Überzeugungskraft, um die Frage: »Was ist Sein?« oder »Was ist Existenz?« als eine der Grundfragen der Philosophie auszuzeichnen. Zwar waren Kant und ein Großteil der epistemologischen Unruhen, die seiner theoretischen Philosophie bis in weite Gebiete der analytischen und französischen Philosophie des zwanzigsten Jahrhunderts folgten, der Meinung, man müsse »den stolzen Namen der Ontologie« 2 aufgeben. An dessen Stelle wollte er eine theoretisch bescheidenere Transzendentalphilosophie setzen. Deren Aufgabe beschränke sich darauf, Gegenstände für uns, d. h. Gegenstände wahrheitsfähiger Überzeugungen, genannt: Urteile, im Hinblick auf ihre Bedingungen der Möglichkeit zu thematisieren. Gegenstände für uns sind Kant zufolge Gegenstände, die ins Gebiet »möglicher Erfahrung« fallen. Alle Erkenntnis sei dabei entweder empirisch, d. h. direkt auf Entitäten im Gegenstandsbereich möglicher Erfahrung (also Erscheinungen) bezogen, oder transzendental und d. h. solche Erkenntnis, die sich mit der Möglichkeit von Erfahrung befasse. Man könne demnach entweder etwas innerhalb des Feldes möglicher Erfahrung erkennen oder etwas über seine grundlegenden, notwendigen und allgemeinen Strukturen wissen. Damit hat Kant aber keineswegs den stolzen Namen der Ontologie hinter sich gelassen, bzw. genauer: er mag zwar den Namen Bei diesem Beitrag handelt es sich um eine nur leicht überarbeitete Version eines Vortrags, den ich am 27. 6. 2011 auf Einladung László Tengelyis im Kolloquium des Philosophischen Seminars der Bergischen Universität Wuppertal gehalten habe. Um das Andenken an den geschätzten Kollegen und an diesen Abend des philosophischen Austauschs zu wahren, auf den einige weitere Dialoge zum Zusammenhang von Welt und Unendlichkeit in Bonn und Toulouse folgten, habe ich mich entschlossen, den Text in vortragsnaher Form zu belassen. Der Vortragstext ist eine der Keimzellen dessen, was ich inzwischen in Gabriel: Sinn und Existenz ausführlicher dargestellt habe. 2 Vgl. KrV, B 303. 1
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Markus Gabriel
ausgetauscht haben, hat damit aber keineswegs auch die Sache verabschiedet oder gar als unmöglich erwiesen. An die Stelle der Ontologie tout court hat er lediglich eine Ontologie des Subjekts gesetzt. Doch selbst dieser Eindruck täuscht. Denn an hervorgehobener systematischer Stelle seines Projekts beantwortet er selbst die Frage: »Was ist Existenz?« mit der Angabe, Existenz bzw. existenziales Sein sei »offenbar kein reales Prädicat«, sondern »bloß die Position eines Dinges, oder gewisser Bestimmungen an sich selbst.« 3 Ohne hier auf exegetische Detailfragen einzugehen, kann man diese prima vista obskure Formulierung auf die Formel bringen, daß Kant Existenz als Erscheinung im Feld möglicher Erfahrung auffaßt. Was existiert, existiert im Feld möglicher Erfahrung; ontologische Begriffe wie die Modalitäten, Dasein, Existenz, aber auch Realität fänden zumindest keine für uns sinnvolle Anwendung außerhalb dieses Feldes, dessen Grenzen die Transzendentalphilosophie zu ziehen oder nachzuvollziehen beabsichtigt. Kant überwindet folglich die Ontologie keineswegs, sondern schlägt stattdessen eine neue Ontologie vor. Darin sehe ich kein Defizit, sondern vielmehr ein Anzeichen dafür, daß es keinen Grund gibt, die Frage: »Was ist Existenz?«, etwa aufgrund eines Skeptizismus bzgl. der Erkenntnismöglichkeiten der Philosophie vorschnell abzutun, um uns mit der logischen Analyse der Sprache oder unserer sonstigen Zugangsbedingungen zur Welt zufrieden zu geben. Dies entspricht auch dem optimistischen Ansinnen der Philosophie des beginnenden einundzwanzigsten Jahrhunderts, die mit einer ontologischen Wende dem »linguistic turn« die Treue aufkündigt. Sowohl Philosophen im Gefolge von Deleuze, aber auch Alain Badiou, Quentin Meillassoux und Slavoj Žižek sowie Philosophen wie Stanley Cavell, David Chalmers, Kit Fine, Saul Kripke, David Lewis, Jonathan Schaffer, und viele andere, die sich der analytischen Metaphysik verpflichten, sind zur Ontologie zurückgekehrt, die nunmehr – versteht sich – mit veränderten systematischen Vorzeichen praktiziert wird. Nachdem nun also die Grenzen des Dogmatismus eingerissen sind, der sich mit dem Kritizismus vereinigte, gilt es, frisch zur Sache selbst zurückzukehren. Das nachmetaphysische Zeitalter ist längst vorbei. Das Novum besteht nun darin, daß die Sache selbst sich nicht mehr als die Sache des Menschen zeigt. Gegen Kants in Wahrheit 3
KrV, B 626.
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Sinn, Existenz und das Transfinite
äußerst ptolemäische Reduktion von Existenz auf Existenz für Vernunftwesen und damit gegen die nochmalige Zentralstellung des Menschen im Kosmos ist es endlich ernst geworden mit der Einsicht der Moderne, daß der Mensch nur ein Fall von Sein, nur etwas Existierendes ist. Sicherlich ist der Mensch für den Menschen besonders interessant. Selbsterkenntnis ist und bleibt das oberste Gebot der Weisheitsliebe. Allerdings kann man den Menschen nicht verstehen, wenn man nicht zunächst versteht, was Existenz ist. Denn es könnte sich herausstellen, daß der Mensch gerade deswegen in die Welt paßt, weil es gar keinen ontologischen Sprung zwischen demjenigen, was man etwas naiv als »das Universum« anspricht, und dem Menschen gibt. Vor diesem Hintergrund schließe ich mich mutatis mutandis einer berühmten Bemerkung Schellings aus seinen Aphorismen zur Einleitung in die Naturphilosophie an: Das Ich denke, Ich bin, ist, seit Cartesius, der Grundirrtum in aller Erkenntnis, das Denken ist nicht mein Denken, und das Sein nicht mein Sein, denn alles ist nur Gottes oder des Alls. 4
Im folgenden werde ich nicht mehr eigens auf den Übergang vom Primat der Erkenntnistheorie bzw. der Sprachphilosophie zur Ontologie zu sprechen kommen, sondern in medias res die Grundideen einer neuen Ontologie skizzieren, an der ich gerade arbeite. 5 Unter »Ontologie« verstehe ich dabei die systematische Beantwortung der Frage »Was ist Existenz?« oder »Was bedeutet ›Existenz‹ ?« Meine Antwort auf die Frage lautet: Existenz ist die Eigenschaft eines Sinnfeldes, das etwas in ihm vorkommt oder erscheint. Existenz ist Sinnfeld-relative Erscheinung. Daraus folgt dann allerdings, daß es kein allumfassendes Sinnfeld geben kann oder wie ich gerne etwas marktschreierisch sage: daß es die Welt nicht gibt. Das ist die Einschränkung gegenüber dem Schelling-Zitat, da der Mensch weder in die Welt noch in Gott verstanden als All paßt, da es kein solches All geben kann. Dennoch gehört der Mensch zu dem, was es gibt. Seine epistemisch markanten Einstellungen – zu denen insbesondere das Wissen und damit auch das Wissen durch Wahrnehmung zählt – sind in dem verankert, was es gibt, weil der Mensch sich nicht von sich her auf ontologischem Abstand befindet. Alles, was existiert, entpuppt sich dabei als Sinnfeld. Alles, was 4 5
Schelling: Aphorismen über die Naturphilosophie, S. 148. Diese liegt inzwischen, wie gesagt, in der Form von Gabriel: Sinn und Existenz vor.
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Markus Gabriel
es gibt, ist zugleich ein Gegenstand in einem Sinnfeld und, je nach Indexierung, zugleich auch ein Sinnfeld, was ich die Konvertibilitätsthese nenne. Die Konvertibilitätsthese geht mit einer Version des Transfiniten einher, die sich teilweise in der Nähe von Georg Cantor bewegt, gegen diesen allerdings einwendet, daß das Transfinite, selbst das geschaffene Transfinite in seinem Sinne keineswegs primär ein mengentheoretischer Begriff ist. 6 Im ersten Teil meines Beitrags (I.) geht es um die Einführung des Begriffs des Sinnfeldes, also um den Grundbegriff der Sinnfeldontologie. Im zweiten Teil (II.) geht es sodann um die Konvertibilitätsthese und das Transfinite. Das Bild, das sich insgesamt ergibt, kann man sich als Neo-Monadologie der reinen Multiplizität vorstellen. Man übersetze »Monade« mit »Sinnfeld« und streiche sowohl die prästabilierte Harmonie als auch und v. a. die monas monadum aus der Monadologie und schon man bewegt sich in der Nähe dessen, was mir vorschwebt. Man könnte auch sagen, es gehe um ein Update der Monadologie nach der Präzisierung des Begriffs des Unendlichen durch den Begriff des Transfiniten.
I.
Was ist Existenz?
Nennen wir eigentliche Eigenschaften solche Eigenschaften, auf die wir dergestalt in der Form eines Prädikats oder Begriffs Bezug nehmen können, daß wir dadurch einen Gegenstand in der Welt zumindest von einem, meist aber von einigen anderen Gegenständen in der Welt unterscheiden können. Eigentliche Eigenschaften setzen immer ein relatives Komplement, d. h. eine endliche Menge an Kontrastbegriffen voraus, die uns zur Verfügung stehen müssen, wenn wir die eigentliche Eigenschaft begrifflich individuieren wollen. Ein absolutes Komplement, d. h. alles Andere, ist hingegen nicht notwendig. Wir werden noch sehen, daß es alles Andere, d. h. das absolute Komplement eines Gegenstandes ohnehin nicht gibt. Und selbst wenn es eine solche gigantisch große Menge gäbe, könnte es keine Anforderung an kompetente Begriffsverwender sein, eine eigentliche EigenDas übersehen zu haben, ist das πρῶτον ψεῦδος von Kreis: Negative Dialektik des Unendlichen, der – wie Badiou – die mathematische Darstellungsform des Transfiniten mit dem Transfiniten selber verwechselt. Richtig hingegen und historisch umfassend informiert zu Cantor dagegen Tengelyi: Welt und Unendlichkeit.
6
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Sinn, Existenz und das Transfinite
schaft nur dann zuzuschreiben, wenn sie alle anderen Eigenschaften hinreichend individuieren können. Ansonsten könnten wir nur dann irgendeinen Gegenstand erkennen, wenn wir auch etwas über alle anderen Gegenstände wüßten, was eine absurde Überforderung darstellte. Rot-Sein oder Bundeskanzlerin-Sein sind ebenso eigentliche Eigenschaften wie Müde-Sein oder Eine-Brasilianische-GroßstadtSein. Die Frage ist nun, ob »Existenz« eine eigentliche Eigenschaft ist. In der Kant-Frege-Tradition verneine ich dies, wobei ich viele der Konsequenzen nicht akzeptiere, die Kant und Frege aus dieser korrekten Beobachtung gezogen haben. Da alle Gegenstände in der Welt existieren, kann es ihnen zufolge keine diskriminierende Eigenschaft von Gegenständen sein zu existieren. Man könnte allenfalls behaupten, daß Existenz diejenige eigentliche Eigenschaft ist, die alle existierenden von allen nichtexistierenden Gegenständen unterscheidet, was aber bedeutete, daß nichtexistierende Gegenstände damit ihrerseits zur Welt gehörten. Dadurch existierten sie aber. Folglich kann es sich bei Existenz nicht um eine eigentliche Eigenschaft handeln. Existenz ist vielmehr, wie Frege besonders deutlich in seinem »Dialog mit Pünjer über Existenz« 7 hervorgehoben hat, immer schon vorausgesetzt, wenn wir eigentliche Eigenschaften zuschreiben. Nun haben Kant und Frege die folgenden Antworten auf die Frage gegeben, was Existenz ist, wenn sie nun einmal keine eigentliche Eigenschaft ist. Kant versteht Existenz als Erscheinung, d. h. als den Umstand, daß etwas im Feld möglicher Erfahrung vorkommen kann. Damit kauft er sich im einzelnen einige Schwierigkeiten ein. Die Schwierigkeit, die ich für die gravierendste halte, liegt darin, daß er trotz allem ein singuläres, allumfassendes Feld voraussetzt, nämlich mögliche Erfahrung. Nun kann dieses Feld selbst nicht existieren. Existierte es, erschiene es. Wir könnten mögliche Erfahrung erfahren. Dies können wir aber gerade nicht, weshalb Kant die Methode der »transzendentalen Reflexion«, d. h. der Reflexion auf die notwendigen und allgemeinen Strukturen des Felds einführt, die sich von Feld-immanenten Untersuchungen unterscheidet. Wenn das Feld möglicher Erfahrung aber nicht existiert, dann existiert gar nichts mehr, da alles unmittelbar nirgendwo existiert. Hier koinzidieren in der Tat transzendentaler Idealismus und Nihilismus, wie Jacobi zu Recht befürchtete. Das Problem ist demnach, daß Kant nur ein einziges Feld anerkennt – eine 7
Frege: »Dialog mit Pünjer über Existenz«, S. 14.
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falsch platzierte monistische Restriktion, die er in der Kritik der Urteilskraft zwar lockert, aber niemals vollständig aushebelt, da er dem »transzendentalen Ideal der reinen Vernunft«, der »Idee eines absoluten Alls der Realität« 8, wie er schreibt, auf die eine oder andere Weise verpflichtet bleibt. Frege hingegen, den man in diesem Punkt zu Unrecht oft mit Kant gleichsetzt, pflichtet Kant zwar bei, daß Sein kein reales Prädikat sei, versteht Existenz dann aber keineswegs als »Position«, sondern geradezu umgekehrt als »Verneinung der Nullzahl« 9. Frege deutet »Existenz« als die höherstufige Eigenschaft eines Begriffs, daß etwas unter ihn fällt, d. h. daß er einen Umfang oder in Freges Sprache: eine Anzahl hat, die größer ist als die Anzahl aller Begriffe, unter die nichts fällt. Auf diese Weise entspringt die Grundidee des Existenzquantors, die Quines berühmtes Diktum »to be is to be the value of a bound variable« 10 ermöglicht hat. Was existiert, fällt unter einen Begriff. Daraus folgt, daß es ohne Begriffe nichts gibt ebenso wie es Kant zufolge ohne mögliche Erfahrung und damit ohne die Möglichkeit von Erfahrung nichts gibt. Beide Thesen, Existenz sei Erscheinung bzw. Existenz sei das Fallen-unter-einen-Begriff, lesen sich wie idealistische Übertreibungen. Daß es Vulkane gibt, besteht wohl nicht darin, daß Vulkane erfahrbar sind, und auch nicht darin, daß Vulkane unter den Begriff … ist ein Vulkan fallen. Freilich kann man Kant und Frege auch anders lesen und sie zu ontologischen Realisten machen. Allerdings wird Kant damit immer noch zu einem anti-realistischen Verifikationisten in der Begriffstheorie und Frege wird darauf festgelegt, die Subjektunabhängige Existenz von Begriffen zu akzeptieren, selbst wenn es sich um Begriffe handelt, die wir mit keiner uns verfügbaren Methode empirisch fundieren könnten bzw. um Begriffe, die wir niemals erfassen werden oder gar prinzipiell nicht erfassen können. Anstatt mich länger mit der Frage aufzuhalten, wie man aus Kant einen ontologischen Realisten ohne anti-realistischen Verifkationismus oder aus Frege einen Platoniker ohne Anbindung an unsere diskursiven Praktiken und damit auch ohne Anbindung an eine brauchbare Logik machen könnte, behaupte ich einfach kurzum, daß der semantische Idealismus in der einen oder anderen Version am Ende der Sackgasse KrV, B 603. Frege: Die Grundlagen der Arithmetik, § 53 / S. 86. 10 Quine: »On What There is«, S. 44. 8 9
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der Kant-Frege-Tradition steht. Daher auch beider übergroße Anstrengung, sich vom Idealismus freizusprechen, der in ihren Prämissen steckt. Als was stellt sich also Existenz heraus, nachdem wir nun eingesehen haben, daß sie keine eigentliche Eigenschaft ist? Viele plausible Versuche, diese Frage nach Kant und Frege zu beantworten, bedienen sich der Mengenlehre und verstehen Existenz nach dem Modell des Elementschaftsprädikats, d. h. als Mengenzugehörigkeit. Damit wird Existenz auf Quantität reduziert. Allerdings fragt man nicht immer, wie viele X existieren, wenn man fragt, ob es X gibt. Dies spricht dagegen, Existenz mit dem Existenzquantor zu erläutern. 11 Darüber hinaus, und das ist entscheidender, existiert vieles, über das sich gar nicht sinnvoll quantifizieren läßt, z. B. vage Entitäten wie Staatsgrenzen oder Kunstwerke. Über vage Gegenstandsbereiche läßt sich nicht ohne weiteres quantifizieren, was die Quelle des Vagheitsproblems in der Semantik insbesondere seit Frege und Russell ist. Hier ist es hilfreich, sich an die Gründungsgeste einer auf der Mengenlehre basierenden Ontologie, d. h. an das Werk Georg Cantors zu erinnern. Cantor besteht darauf, daß die Bildung einer Menge einen doppelten Abstraktionsakt voraussetzt, der unser Zugang zu den Kardinalzahlen, sprich: zum Grundbegriff der Mengenlehre ist. Eine für die mathematische Mengenlehre relevante Menge erhält man Cantor zufolge dadurch, daß man in einem »zweifachen Abstractionsact« sowohl »von der Beschaffenheit ihrer verschiedenen Elemente m und von der Ordnung ihres Gegebenseins abstrahirt« 12. Diese Abstraktion konstituiert allererst eine Menge, »die als intellectuelles Abbild oder Projection der gegebenen Menge M in unserm Geiste Existenz hat.« 13 In diesem Sinne gibt es gar nicht so etwas wie die Menge aller Vulkane. Abstrahiert man nämlich sowohl von der Beschaffenheit von Vulkanen als auch von der Ordnung ihres Gegebenseins, hat man es gar nicht mehr mit Vulkanen, sondern mit der Idee einer reinen Extension (etwas »in unserm Geiste«!) zu tun, womit die Mengenlehre dann ja auch operiert. Daher lag Frege mit seinem LoVgl. zu einigen Details meiner Zurückweisung der Identifikation von Existenz und Quantifikation die Debatte in Gabriel: Neutraler Realismus. Vgl. neben vielen kritischen Stimmen in der gegenwärtigen Ontologie, die sich aus verschiedenen Motiven von der Gleichsetzung von Existenz und Quantifikation abwenden, Priest: One und Azzouni: Deflating Existential Consequence. 12 Cantor: »Beiträge zur Begründung der transfiniten Mengenlehre«, S. 481 f. 13 Ebd., S. 482. 11
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Markus Gabriel
gizismus ganz richtig, als er die Zahlen ausschließlich auf der Basis der Abstraktion einer schlechthin präzisen Sprache definieren wollte, die keine unscharfen Begriffe brauchen kann, da diesen keine reinen Extensionen zugeordnet sind. Dies mag immerhin für die Mathematik genügen. In der Ontologie kommen wir damit aber nicht weiter, da es vieles gibt, auf das wir zu Recht nicht mit scharfen Begriffen Bezug nehmen. 14 Frege hat diesen Bereich insgesamt als Poesie eingestuft, was im Einzelnen auch nicht trägt. Wie man sieht, taugt die Mengenlehre nicht zur Ontologie, weil nicht alles Existierende als Element einer Menge im strengen Sinne in Frage kommt. Existenz ist also weder das Fallen-unter-einen-Begriff noch das Elementschaftsprädikat der Mengenlehre. Gleichwohl ist sie keine eigentliche Eigenschaft. Bedenken wir: Die Option, sie über die Anzahl von Begriffen zu definieren, ergibt sich aus der Abstraktion vom Sinn, wie Frege ihn eingeführt hat. Existenz wird ausschließlich an Fregesche Bedeutungen gebunden. Der Sinn ist demnach allenfalls unser Zugang zur Existenz, kommt für diese dann aber nicht eigens in Frage. Dies kann man mit Freges Fernrohrgleichnis illustrieren: Jemand betrachtet den Mond durch ein Fernrohr. Ich vergleiche den Mond selbst mit der Bedeutung; er ist der Gegenstand der Beobachtung, die vermittelt wird durch das reelle Bild, welches vom Objektivglase im Innern des Fernrohrs entworfen wird, und durch das Netzhautbild des Betrachtenden. Jenes vergleiche ich mit dem Sinne, dieses mit der Vorstellung oder Anschauung. Das Bild im Fernrohre ist zwar einseitig; es ist abhängig vom Standorte; aber es ist doch objektiv, insofern es mehreren Beobachtern dienen kann. 15
Erinnern wir uns an die Idee, die hinter Freges Distinktion von Sinn und Bedeutung steht! Wenn man sowohl die Informativität als auch die Widerspruchsfreiheit von Identitätsaussagen verstehen will, kann man sagen, daß Identitätsaussagen behaupten, dasselbe werde auf zwei verschiedene Weisen gegeben. Der Gedanke: »Der 39. Gouverneur von Kalifornien ist Herkules in New York« ist genau deswegen wahr, weil Arnold Schwarzenegger sowohl der 39. Gouverneur von Kalifornien als auch Herkules in New York ist. Ebenso ist der Vesuv vom Lungomare in Neapel aus gesehen derselbe Vulkan wie der Vesuv von Sorrent aus gesehen. Nun haben wir Frege zufolge keinen von Sinn unabhängigen Zugang zu Gegenständen. Reine Bedeutung 14 15
Vgl. dazu Benoist: Concepts. Frege: »Über Sinn und Bedeutung«, S. 27.
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Sinn, Existenz und das Transfinite
ist uns gar nicht zugänglich (sie ist sinn-los). Denn selbst Eigennamen wie »Arnold Schwarzenegger« und »der Vesuv« haben einen Sinn, wie Frege an einer bemerkenswerten und oftmals übergangenen Stelle schreibt: Der Sinn eines Eigennamens wird von jedem erfaßt, der die Sprache oder das Ganze von Bezeichnungen hinreichend kennt, der er angehört; damit ist die Bedeutung aber, falls sie vorhanden ist, doch immer nur einseitig beleuchtet. Zu einer allseitigen Erkenntnis der Bedeutung würde gehören, daß wir von jedem gegebenen Sinne sogleich angeben könnten, ob er zu ihr gehöre. Dahin gelangen wir nie. 16
Wie Frege ebenfalls anerkennt, kann man auch nicht beweisen, daß es überhaupt Bedeutungen gibt. Denn dadurch, »daß man einen Sinn erfaßt, hat man noch nicht mit Sicherheit eine Bedeutung.« 17 Wenn wir uns auf Gegenstände beziehen, gehen wir davon aus, daß sie existieren: »wir setzen eine Bedeutung voraus.« 18 Identität ist demnach eine Voraussetzung, selbst aber kein Gegenstand. Dasselbe gilt auch für die Identität des Sinns, sofern wir uns auf Sinn beziehen, was Frege zufolge umstandslos möglich ist. Daraus folgt aber, daß Sinn selbst existiert. Und genau diesem Umstand müssen wir Rechnung tragen. Meines Erachtens durchaus noch im Sinne, wenn auch nicht im Geiste Freges, aber in eine andere Richtung gewendet, nenne ich nun »Sinnfelder« Gegenstandsbereiche, die nur dadurch individuiert sind, daß ein Sinn an ihrer Konstitution beteiligt ist. Sinnfelder abstrahieren demnach weder von der Beschaffenheit noch von der Ordnung des Gegebenseins desjenigen, was in ihnen erscheint. So ist ein Kunstwerk ein Sinnfeld, aber auch der Vesuv betrachtet aus Neapel. Und auch der Vesuv selbst ist ein Sinnfeld ebenso wie die Mengenlehre insgesamt. Ich halte dabei cum grano salis an Freges Sinnbegriff, zumindest minimal, fest. Denn wie bekannt faßt er Sinn als »Art des Gegebenseins« auf. Die Frage ist nun, was eine Art des Gegebenseins ausmacht? An diesem Punkt kann man über einige Umwege, deren Betrachtung ich hier ausspare, einen Gedankengang Putnams fruchtbar machen. Führen wir zu diesem Zweck eine Würfelwelt ein. Die Würfelwelt bestehe aus einem weißen, einem roten und einem blauen 16 17 18
Ebd., S. 24 f. Frege: Kleine Schriften, S. 145. Ebd., S. 147.
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Markus Gabriel
Würfel, die sich auf einem Tisch befinden. Man stelle sich nun vor, wir fragten einen philosophisch unbefangenen Passanten, wie viele Gegenstände sich auf dem Tisch befinden. In diesem Fall könnte man die Antwort »3« erwarten – was übrigens keine soziologische oder statistische These über durchschnittliche Passanten ist. Man könnte sich aber auch denken, daß ein Chemiker vorbeikommt, der nicht Würfel, sondern etwa Atome für Gegenstände hält, so daß die wahre Antwort nicht »3«, sondern »n« wäre, wobei n hier erheblich größer als 3 ist. Man könnte aber auch die Würfelseiten zählen oder die Würfel für ein einziges Kunstwerk halten. In all diesen Fällen erhielte man verschiedene, aber gleichermaßen wahre und zwar objektiv wahre Antworten. In der Würfelwelt wäre der Sinn die jeweils zur Anwendung kommende Zählregel. Allgemein ist Sinn die Art des Gegebenseins, die mit einem Gegenstandsbereich einhergeht. Der Sinn ist dabei so plural wie das Existierende. Es gibt sehr viel, genau besehen transfinit viel Sinn. Es gibt sogar, wie die Würfelwelt zeigt, viel mehr Sinn als Gegenstände, was freilich solange besonders auffällig ist, als man Gegenstände ausschließlich über Fregesche Bedeutungen definiert. Was existiert, erscheint in einem Sinnfeld. Auch Sinnfelder erscheinen in Sinnfeldern anderer Ordnung, weshalb sie existieren. Ich betrachte dies als eine ontologische Analyse der Einsicht, daß es alles gibt, wobei es darauf ankommt, in welchem Sinnfeld es erscheint. Es gibt Einhörner, z. B. im Märchen, und Jesus hat den See Genezareth überschritten und ist am dritten Tag von den Toten auferstanden, z. B. im Evangelium. Außerdem gibt es widersprüchliche Entitäten, z. B. im Sinnfeld des Unmöglichen oder mindestens im Bereich mentaler Zustände, sofern wir Widersprüche vorstellen oder aufschreiben können. Obwohl es alles gibt, gibt es Eines nicht, nämlich ein allumfassendes Sinnfeld. Dies könnte man zwar auch unter Rekurs auf Russells Antinomie oder Cantors Theorem beweisen wollen, wie bspw. Adrian Moore, Patrick Grim und Alain Badiou. Doch greifen mengentheoretische Argumentationen nicht wirklich in der Ontologie, was man leicht daran ablesen kann, daß es keineswegs nur reine Extensionen gibt, die es genau besehen auch nur in der Mengenlehre gibt, wie Cantor selber noch wußte. Um zu einer dem bisher entwickelten Befund angemessenen Negation der Totalität zu gelangen, definiere ich zunächst »Existenz« als die Eigenschaft eines Sinnfeldes, daß etwas in ihm erscheint. Erschei196 https://doi.org/10.5771/9783495813768 .
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nungen sind dabei durchaus qualitativ und durch Arten des Gegebenseins bestimmt. Deswegen sind sie auch begrifflich zugänglich, wobei dieser Umstand nicht konstitutiv dafür ist, daß etwas erscheint. Vieles, das in jedem anspruchslosen Sinne begrifflich nicht zugänglich ist, existiert gleichwohl. Z. B. existiert die Anzahl der Haare auf Leibniz’ Kopf im Augenblick der Vollendung der Monadologie. Diese Anzahl existiert, ist aber nur prinzipiell und vermutlich niemals faktisch zugänglich. Wir finden den Zugang wahrscheinlich nicht. Ein allumfassendes Sinnfeld müßte ex hypothesi in einem Sinnfeld erscheinen können, um zu existieren. Nun wäre das erscheinende allumfassende Sinnfeld zumindest durch eine Eigenschaft, nämlich in sich selbst zu erscheinen, durch ein noch umfassenderes Sinnfeld umfaßt und dadurch vom eigentlich allumfassenden Sinnfeld unterschieden. Folglich gibt es mindestens immer ein Sinnfeld, das noch umfassender ist. Dafür läßt sich auf viele verschiedene Weisen argumentieren. Hier sei nur eine weitere durchgespielt. Kehren wir dazu zum Würfelgleichnis zurück! Ein Elementganzes gibt es im Würfelgleichnis gar nicht unabhängig von einem Sinn. Die Frage, wie viele Gegenstände sich auf dem Tisch befinden, hängt von einer Indexierung des Gegenstandsbegriffs ab. Es gibt keine Gegenstände tout court. 19 Die Frage ist nun, ob es ein Sinnganzes gibt? Gibt es eine allumfassende Sinnwelt, in der alle Sinnfelder erscheinen, in denen die Gegenstände der Würfelwelt so-und-so erschlossen sind? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir uns auf die Sinnwelt beziehen. Doch in welchem Sinnfeld ist dies möglich? Offensichtlich nur in einem Sinnfeld, das sich in diesem Fall bereits auf dritter Stufe bewegt. Denn es bezieht sich auf die Sinne, in denen Gegenstände erscheinen. Diese Welt dritter Stufe, die Sinn-SinnWelt legt fest, wie die Sinne erscheinen. Der Sinn-Sinn-Welt ist folglich in der Sinnwelt noch nicht Rechnung getragen worden, so daß diese nicht vollständig sein kann, da die Sinn-Sinn-Welt konstitutiv für die Sinnwelt ist. Man sieht also, daß man kein Sinnfeld formulieren kann, in dem sowohl Gegenstände als auch die Sinne selbst vollständig erschöpft erscheinen. Um Schelling noch einmal meine Stimme zu leihen, kann man sagen, in dieser Unvollständigkeit bestehe »die unergreifliche Basis der Realität, der nie aufgehende Rest«, und er fährt fort: »Ohne 19
Vgl. dazu etwa Benoist: Elemente einer realistischen Philosophie.
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Markus Gabriel
dieß vorausgehende Dunkel gibt es keine Realität der Creatur; Finsternis ist ihr nothwendiges Erbtheil.« 20 Dieser Unvollständigkeitssatz ist ein ontologisches Prinzip, das keineswegs nur für formale Systeme gilt. Die Realität selbst ist ebenso unvollständig wie die Welt, obwohl es gleichzeitig wahr ist, daß es alles gibt. Das einzige, worauf der Existenzbegriff keine Anwendung findet, ist das Ganze. Es gibt alles außer das Ganze, das deswegen in der Tat, wie Adorno mit anderer Intention gegen Hegel deklarierte, in der Tat das Unwahre ist. Die Konvertibilitätsthese, auf die ich in der Einleitung kurz hingewiesen habe, ist das sinnfeldontologische Pendant zur mengentheoretischen Einsicht, daß es keine Elemente, sondern nur Mengen gibt. Letztlich sind alle Gegenstände zugleich Sinnfelder, was sich semantisch darin manifestiert, daß auch Eigennamen einen Sinn haben. Ich behaupte also bewußt, daß der Vesuv aus Neapel betrachtet genauso existiert wie der Vesuv. Es gibt keinen singulären, homogen strukturierten Gegenstandsbereich, die Welt, die Natur oder das Universum, auf den sich unsere sinn-orientierte Erkenntnis richtet. Wir sind vielmehr in Sinn geworfen, der sich in keiner Richtung erschöpfen und durch keine Methode ultimativ auf ein singulare tantum reduzieren läßt. Ich widerspreche dabei trotz einiger Überschneidungen Deleuzes Logik des Sinns, die behauptet, »der Sinn ist hervorgebracht (le sens est produit).« 21 Vielmehr bin ich gewissermaßen platonischer als Platon und behaupte, daß wir in unerschöpflichen Sinn geworfen sind. Es gibt Sinn, ja, es gibt Gedanken und wir erfassen sie. Was wir allenfalls hervorbringen, ist genau dieser Umstand, unsere semantische Geworfenheit, da wir trivialiter nicht ohne uns, d. h. ganz unbeteiligt in Gedanken geworfen werden könnten. Doch Begriffe und Gedanken sind nicht in unserer Hand, weil sie an Wahrheit gebunden sind, die wir auch nicht hervorbringen, sondern die wir genau deswegen suchen, weil sie unabhängig von uns da ist. Die richtige Verzauberung der Welt überwindet damit zugleich den Nihilismus: Wir müssen lediglich anerkennen, daß alles voll von Sinn (wenn auch nicht von Göttern) ist, um ein Urwort der Philosophie zu variieren.
20 21
Schelling: Über das Wesen der menschlichen Freiheit, S. 360. Deleuze: Logik des Sinns, S. 99.
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II.
Transfiniter Sinn
Unter Freunden der Mengenlehre ist es weniger verbreitet, sich auf Cantors eigentliche Metaphysik einzulassen. Doch ausgerechnet in seinen Auslassungen über dasjenige, was er kurzum als »das Absolute« anspricht, findet sich ein weiteres Theorieelement, mit dem sich die von mir vorgeschlagene Sinnfeldontologie ins Einvernehmen setzt. Freilich ist es auch hier entscheidend, die notwendigen Modernisierungen vorzunehmen. Cantor unterscheidet zwischen Gott und Welt, wobei er Gott als Absolutum und die Welt als Transfinitum bezeichnet. Das Transfinitum ist ein vermehrbares Aktual-Unendliches. Zu jeder noch so großen Ordnungszahl gibt es eine größere, wenn jede auch bereits etwas Aktual-Unendliches bezeichnet. So ist die Menge der natürlichen Zahlen aktual-unendlich, aber kleiner als die Menge der reellen Zahlen. In diesem Sinne ist das Transfinite vermehrbar. Das Absolute hingegen soll unvermehrbar sein und fällt aus dem Bereich der Mathematik heraus. Das Transfinite mit seiner Fülle von Gestaltungen und Gestalten weist mit Notwendigkeit auf ein Absolutes hin, auf das »wahrhaft Unendliche«, an dessen Größe keinerlei Hinzufügung oder Abnahme statthaben kann und welches daher quantitativ als absolutes Maximum anzusehen ist. Letzteres übersteigt gewissermaßen die menschliche Fassungskraft und entzieht sich namentlich mathematischer Determination. 22
Nun fällt an diesen Formulierungen ins Auge, daß das Absolute als quantitatives Maximum angesehen werden solle. Das absolute Maximum wäre dann aber sehr wohl noch mathematisch zugänglich, wenn auch nicht als determiniertes. An anderer Stelle überträgt Cantor mathematische Begriffe auf die Welt insgesamt, die er als »Infinitum creatum sive Transfinitum« 23 versteht. Dieses werde auch ausgesagt in Beziehung auf die, meiner festen Überzeugung nach, aktual-unendliche Zahl der geschaffenen Einzelwesen sowohl im Weltall wie auch schon auf unserer Erde und, aller Wahrscheinlichkeit nach, selbst in jedem noch so kleinen, ausgedehnten Teil des Raumes, worin ich mit Leibniz ganz übereinstimme 24. 22 23 24
Cantor: Gesammelte Abhandlungen, S. 405. Ebd., S. 399. Ebd.
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Im Unterschied zu Frege erkennt Cantor dabei aber nicht, daß seine Ausführungen über Kardinalzahlen als »Allgemeinbegriffe« immer nur für scharfe Begriffe gelten, wie er eigentlich einräumen müßte, da seiner Auffassung nach Mengen aus »wohlunterschiedenen Objekten m unserer Anschauung oder unseres Denkens« 25 bestehen. Weder läßt sich das vermeintliche Weltall, das alles andere als ein All ist, noch das Absolute im Sinne Cantors mathematisch beschreiben. Vielmehr bildet die Mathematik nur ein Sinnfeld unter transfinit vielen anderen. Das Absolute ist nicht etwa von der Welt als irgendein Maximum unterschieden. Vielmehr ist das Absolute das Transfinite, in dem transfinit viele Sinnfelder erscheinen. Es ist sozusagen die »Ebene der Immanenz«, wie Deleuze dies nennt, wobei man hervorheben muß, daß es sich bei der Immanenzebene um keine Substanz, ja um überhaupt nichts handelt, das existieren könnte. Der Existenzbegriff findet hier keine Anwendung. Es gibt sozusagen – Spinoza verzeihe mir – nur transfinit viele Attribute, die aber nicht Attribute der una substantia sind. Feste Gegenstände gibt es immer nur Sinnfeld-immanent als Voraussetzungen des Sinns. Der Sinn setzt voraus, daß es Bedeutung gibt, die Arten des Gegebenseins sind Arten des Gegebenseins von etwas. Was dieses Etwas ist, erscheint niemals sinnfrei. Ich komme zu einigen Schlußbemerkungen!
III. Drei Einwände Abschließend möchte ich auf drei Einwände antworten, die gegen die Sinnfeldontologie erhoben worden sind. Der erste Einwand befürchtet einen infiniten Regress oder eine Variante der Russellschen Antinomie und empfiehlt deswegen Reparaturmaßnahmen. Der zweite Einwand besagt, daß die Welt in meiner Ontologie sehr wohl existiert, namentlich im Sinnfeld des Unmöglichen oder Falschen. Der dritte Einwand schließlich beruft sich darauf, daß es keine ontologischen, sondern nur semantische Identitätskriterien gebe, so daß ich bestenfalls Strukturen der logischen, niemals aber der ontologischen Ordnung beschreibe. Zum ersten Einwand: Da es sich bei Sinnfeldern nicht um Mengen handelt, kann auch keine Version von Russells Antinomie auftreten. Dies schließt die standardisierte und in der Mengenlehre be25
Cantor: »Beiträge zur Begründung der transfiniten Mengenlehre«, S. 481.
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währte Reparaturmaßnahme in der Form der Ausarbeitung konsistenter Axiomensysteme für Sinnfelder aus. Gäbe es ein Axiomensystem sowie geeignete Schlußregeln und damit ein eindeutiges Wahrheitsprädikat, das über alle Sinnfelder hinwegläuft, gäbe es einen möglicherweise sehr komplexen allumfassenden Algorithmus mit universalem Gegenstandsbereich. Doch dies ist ja gerade durch die Argumentation ausgeschlossen, daß es kein allumfassendes Sinnfeld gibt. Folglich schließt meine Version eines konstitutiven Nicht-Ganzen, eines pas-tout, auch die Auslösung eines infiniten Regresses aus. Denn ein solcher kommt immer nur dann zur Anwendung, wenn eine singuläre Operation stets auf die gleiche Weise wiederholt werden muß. Eine solche Operation der Sinnfeld-Generierung wäre aber ein allumfassender Algorithmus, der unmöglich ist (was man übrigens auch der theoretischen Informatik entnehmen kann). Damit komme ich auch schon zum zweiten Einwand. Existiert die Welt nicht doch, und zwar im Sinnfeld des Unmöglichen? Schließlich habe ich behauptet, daß es unmöglich ist, daß die Welt existiert, so daß sie zumindest im Sinnfeld dieses Satzes zu existieren scheint. Doch trifft hier das Argument zu, daß die erscheinende Welt nicht mit der Welt identisch ist, in der sie erscheint. Deswegen erscheint die Welt, in der alles erscheint, niemals, auch nicht im Sinnfeld des Unmöglichen. Die im Sinnfeld des Unmöglichen erscheinende Welt ist allenfalls ein unheimlicher Doppelgänger des inexistenten Ganzen und man könnte übrigens mußtmaßen – was ich heute nicht entfalten kann – daß die literarische und filmische romantische Figur des Doppelgängers eine Erscheinung der Inexistenz des Ganzen, Ausdrucks des letztlich fragmentarischen Charakters auch noch des Ganzen ist. Doch dies würde mich in die psychoanalytische Ontologie Lacans entführen, der ich heute Abend aus dem Weg gehen möchte. 26 Der dritte Einwand schließlich ist Ausdruck der neuzeitlichen Erkenntnistheorie par excellence. Identitätskriterien sollen diesem Einwand zufolge diskursiver Natur sein. Doch inwiefern ist es eine diskursive Eigenschaft Arnold Schwarzeneggers, sich von Kalifornien zu unterscheiden? Der Umstand, daß Arnold Schwarzenegger notwendigerweise andere Eigenschaften als Kalifornien oder als der Mond hat – da er ansonsten nicht hinreichend ontologisch distinkt wäre – ist keine Eigenschaft, die ihm nur zukommt, weil wir sie ihm Bzw. in eine ontologische Lesart von Sartes pour-soi, die etwa Raoul Moatti in einer Reihe von Gesprächen gegen die Sinnfeldontologie geltend gemacht hat.
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zuschreiben. Identitätskriterien existieren, das Wirkliche hat selbst normative Eigenschaften. Denn alle normativen Eigenschaften sind auch Eigenschaften des Wirklichen, hier verstanden als einer der Bereiche desjenigen, was es gibt. Genauer: Einige Sinnfelder sind intern normativ, da der Sinn für alles gilt, was in ihnen erscheinen kann, weil er vorschreibt, was in ihnen erscheinen kann. Für einige Sinnfelder, z. B. für das Sinnfeld des Anständigen oder dasjenige des taktvollen Verhaltens, ist der Sinn normativ, für andere eher deskriptiv. Normativer Sinn existiert, es gibt Werte. Es gibt sie nur nicht im selben Sinnfeld wie den Mond oder wie Gene. Die de-totalisierende Einführung des Sinnfeldbegriffs in den Diskurs impliziert die Unmöglichkeit eines singulären homogenen Gegenstandsbereichs und hebt damit auch den Nihilismus auf, der Normativität auf Diskursivität gründet und damit Sein und Sollen entgegensetzt. Nicht alle Identitätskriterien sind diskursiv. Zu Anfang habe ich ohne weitere Auslegung Schellings These zitiert, in der Gott mit dem All in Verbindung gebracht wird. Allerdings wissen wir nun, daß das Ganze nicht existiert. Gleichwohl haben wir Übergänge vollzogen, die Zusammenhänge gestiftet haben. Damit haben wir vielleicht eine Begegnung mit dem »Lückenkönig« gehabt, dem Fernando Pessoa eines seiner englischsprachigen Gedichte gewidmet hat. Und so erlaube ich mir zum Abschluß dieses Beitrags eine inzwischen leider etwas unzeitgemäß gewordene Verbindung von »Dichten und Denken« und schließe mit den Versen eines philosophisch noch lange nicht ausreichend gewürdigten Dichters. The King of Gaps There lived, I know not when, never perhaps – But the fact is he lives – an unknown king, Whose kingdom was the strange Kingdom of Gaps. He was lord of what is twixt thing and thing, Of interbeings, of that part of us That lies between our waking and our sleep, Between our silence and our speech, between Us and the consciousness of us; and thus A strange mute kingdom did that weird king keep Sequestered from our thought of time and scene. Those supreme purposes that never reach The deed – between them and the deed undone – 202 https://doi.org/10.5771/9783495813768 .
Sinn, Existenz und das Transfinite
He rules, uncrowned. He is the mystery which Is between eyes and sight, nor blind, nor seeing, Himself is never ended nor begun, Above his own void presence empty shelf. All He is but a chasm of his own being, The lidless box holding not-being’s no-pelf. All think that he is God, except himself. Fernando Pessoa 27
Siglen KrV
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