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German Pages [500] Year 1983
WEGENETZ EUROPÄISCHEN GEISTES
SCHRIFTENREIHE DES ÖSTERREICHISCHEN OST- UND SÜDOSTEUROPA-INSTITUTS HERAUSGEGEBEN VON RICHARD GEORG PLASCHKA GESAMTREDAKTION DER REIHE KARLHEINZ MACK BAND VIII
WEGENETZ EUROPÄISCHEN GEISTES Wissenschaftszentren und geistige Wechselbeziehungen zwischen Mittel- und Südosteuropa vom Ende des 18. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg
Herausgegeben von
RICHARD GEORG PLASCHKA und KARLHEINZ MACK
1983
VERLAG FÜR GESCHICHTE UND POLITIK WIEN
Gedruckt mit Unterstützung des Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung und des Participation Programme der UNESCO.
© 1983. Verlag für Geschichte und Politik Wien Druck: R. Spies & Co., 1050 Wien Umschlagentwurf: Renate Uschan-Boyer ISBN 3-7028-0187-1 Auch erschienen im R. Oldenbourg Verlag München ISBN 3-486-51351-6
INHALT Vorwort
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HERTHA FIRNBERG
Zum Geleit
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RICHARD GEORG PLASCHKA
Einleitung. Im übernationalen Beziehungsfeld der Studentenströme. Ein Schritt zur Studiengeschichte Europas
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I. DIE BILDUNGS- UND FORSCHUNGSINSTITUTE IN IHRER WECHSELWIRKUNG JEAN LIVESCU
Die Entstehung der rumänischen Universitäten im Zusammenhang der europäischen Kulturbeziehungen (1850—1870)
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NICOLAS CONSTANTIN FOTINO
Die Entstehung der rumänischen Rechtsschule
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GERALD STOURZH
Die Franz-Josephs-Universität in Czernowitz, 1875—1918
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ANDOR TARNAI
Die Universitätsdruckerei von Buda um die Wende des 18. zum 19. Jahrhundert
60
ANTAL M Ä D L
Die Universität Budapest und ihre Beziehungen zum österreichischen und deutschen Geistesleben im 19. Jahrhundert
65
GRETE KLINGENSTEIN
Universitätsfragen in der österreichischen Monarchie um 1800
80
6
Inhalt
GUSTAV OTRUBA
Die Nationalitäten- und Sprachenfrage des höheren Schulwesens und der Universitäten als Integrationsproblem der Donaumonarchie (1863—1910)
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V A C L A V VANÄÖEK
Die Prager Archivbestände zur Thematik der Konferenz
107
Μ . N . KUZ'MIN
Die Teilung der Prager Hochschulen. Zur Formierung des tschechischen Schulsystems 112 FRANTISEK H E J L
Die Bestrebungen um die Erneuerung der aufgelösten Universität und um die Gründung einer zweiten tschechischen Universität in Mähren in der zweiten Hälfte des 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts . . . . 124 JOZEF BUSZKO
Organisatorische und geistig-politische Umwandlungen der Universitäten auf polnischem Boden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts 132 STANISLAW BRZOZOWSKI
Technische und verwandte Hochschulen in Polen bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts 146 WLESLAW BLENKOWSKI
Die polnischen wissenschaftlichen Institutionen zwischen der Revolution von 1905 und dem Ersten Weltkrieg. Organisation, grundlegende wissenschaftliche und ideologisch-politische Problematik 157 E R I C H DONNERT
Wissenschaftslehre und Bildung am Gymnasium Academicum zu Mitau 1775 bis 1806. Ein Beitrag zu den Anfängen des Hochschulwesens im Baltikum 178 Α . E . COHEN
Das Universitätswesen in den Niederlanden um 1780 bis 1880
206
ANTONIE M . LUYENDIJK-ELSHOUT
Die Universität Leiden, 1850—1875: Wissenschaft, Professoren, Gebäude 213
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Inhalt
II. DIE WECHSELSEITIGEN GEISTIG-WISSENSCHAFTLICHEN BEZIEHUNGEN STANISLAUS HAFNER
Die österreichische Slawistik und die Nationalkulturen der Südslawen . . 223 GERHARD GRIMM
Die Rolle der Universität München im geistigen Austausch mit den Ländern Südosteuropas zwischen 1826 und 1914 239 ZACHARIAS N . TSIRPANLES
Die Ausbildung der Griechen an europäischen Universitäten und deren Rolle im Universitätsleben des modernen Griechenland (1800—1850) . . 250 TRIANT. T . TRIANTAFYLLU
Griechische Bildungssysteme. Ein historischer Abriß
273
H A R A L D HEPPNER
Die Rolle und Bedeutung der Grazer Universität für die Studentenschaft aus Südosteuropa 1867—1914 286 HORST HASELSTEINER
Die Bedeutung Wiens als Universitätsstadt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts am Modell der slovenischen Studenten 294 A R N O L D SUPPAN
Bildungspolitische Emanzipation und gesellschaftliche Modernisierung. Die südslavischen Studenten an der tschechischen Universität Prag um die Jahrhundertwende und der Einfluß Professor Masaryks 303 WERNER G . ZIMMERMANN
Südslavische Studenten in Zürich. Ein Beitrag zur Auswertung lokalen Quellenmaterials 326 E R V I N PAMLENYI
Die Rolle der ungarischen akademischen Buchedition in der Wechselwirkung der Kulturen 1867 bis 1914 338 PETER H A N Ä K
Wandlungen der österreichisch-ungarischen wissenschaftlichen Beziehungen im Laufe des 19. Jahrhunderts 343
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Inhalt
M O R I T Z CSÄKY
Der Stellenwert Wiens im Prozeß des kulturellen Austauschs zwischen West- und Südosteuropa um 1800. Am Beispiel Ungarns 356 ROBERT A . K A N N ( F )
Wien im Blickfeld von Mittel- und Südosteuropa unter dem geistesgeschichtlichen Aspekt des 19. Jahrhunderts 370 K A R O L ROSENBAUM
Die Bedeutung der Universität Jena für die Kultur der slowakischen nationalen Wiedergeburt 380 Β . I . KRASNOBAEV
Die Rolle der Moskauer Universität bei der Entwicklung kultureller Beziehungen zwischen den europäischen Ländern im 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts 385 JAROSLAV N . SÖAPOV
Russische Studenten an den westeuropäischen Hochschulen. Zur Bedeutung einer sozialen Erscheinung am Anfang des 20. Jahrhunderts . . . . 395 NORBERT REITER
Johann Thunmann in der Geschichte der Balkanologie
413
FRITZ KLEIN
Der Einfluß Deutschlands und Österreich-Ungarns auf das türkische Bildungswesen in den Jahren des Ersten Weltkrieges 420 RITA R . THALMANN
Einige Beispiele zur Rolle der deutschen wissenschaftlichen Institute in den Kulturbeziehungen mit Mittel- und Südosteuropa 433 J . J . TOMIAK
Wissenschafdiche und kulturelle Beziehungen und Kontakte zwischen Polen und Westeuropa 1770 bis 1815 451 Verzeichnis der Mitarbeiter
473
Personenregister
475
Ortsregister
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VORWORT Die heutigen Organisationsformen von Wissenschaft und Forschung, die Universitäten, Hochschulen, Akademien der Wissenschaften und wissenschaftlichen Gesellschaften, haben, wenn sie nicht in ihr wurzeln, seit der Aufklärung eine beachtliche Entwicklung erfahren. Neue geistige Zentren sind entstanden, nationale und internationale wissenschafdiche Verbindungen sind immer stärker geworden und haben — ausgehend von den ursprünglichen europäischen Verflechtungsvorgängen — eine internationale Nord-Süd-Relation angenommen. Die Zukunft wird die internationalen Zusammenhänge in der Wissenschaft zweifellos weiter intensivieren. Übernationale Heranbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses, übernationale, grenzüberschreitende Forschungsvorhaben, grenzübergreifende Studieneinheiten für Studenten zählen zu den Wissenschafts- und Wissenschaftsförderungsprogrammen zahlreicher Länder. Die Internationalität der Universitäten gilt längst nicht mehr als Luxus. Im Gegenteil: Ein dichtes Netz der Beziehungen der Universitäten untereinander ist über den unmittelbaren Nutzeffekt in Forschung und Lehre hinaus eine fundiertere Förderung des gegenseitigen Verständnisses und damit der Friedensfähigkeit der Nationen untereinander als manche andere Aktion. Die Schaffung der für diese Internationalität notwendigen Voraussetzungen ist demgemäß eine Herausforderung unserer Zeit. Daher ist die Frage legitim, auf welche Weise in der Vergangenheit einleitende Schritte im Sinne solcher Zusammenhänge unternommen, welche Erfahrungen und Erkenntnisse gesammelt, welche Vorbedingungen wirksam, welche Entwicklungen gefördert und welche Konsequenzen deutlich wurden. Dazu soll die vorliegende Publikation eine erste Antwort geben. Der Band ist den wechselseitigen geistigen und wissenschafdichen OstWest-Verbindungen in Europa von der Aufklärung bis zum Ersten Weltkrieg gewidmet. Die Beiträge sind ein Ansatz, dem kein Anspruch auf Vollständigkeit zukommen kann. Sie geben eine Tagung und deren Referate wieder, zu der sich Forscher aus 14 Ländern zusammengefunden haben. Zur Bearbeitung bleibt festzustellen: Dem Generalthema entsprechend enthalten die einzelnen Beiträge zahlreiche Namen akademischer Lehrer und Forscher, von Mäzenen und auch von ehemaligen Studenten; sie wurden in ein Personenregister aufgenommen.
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Vorwort
Das Ortsnamenregister weist den Beiträgen entsprechend oftmals mehrere Namen für denselben Ort aus. In diesen Fällen wird vor den angegebenen Seitenzahlen auf den oder in alphabetischer Reihenfolge die anderen Namen verwiesen. Um die Benützung des Registers zu erleichtern, wird der heute amtlich gültige Ortsname in jedem Falle angeführt, und es wird selbst dann auf ihn verwiesen, wenn er in dieser Form im vorliegenden Band nicht vorkommt. Die Transliteration aus dem griechischen Alphabet erfolgte nach den Regeln der alphabetischen Katalogisierung (RAK) der deutschen Bibliotheken, aus den cyrillischen Alphabeten wurde nach den Empfehlungen der Internationalen Organisation für Normung transliteriert. Dasselbe gilt auch für die Anmerkungen. Bei der w- und v-Schreibung der Völker- und Sprachennamen wurde im allgemeinen dem Schreibgebrauch der Mitarbeiter des Bandes gefolgt. Die Herausgeber des Bandes haben einer ganzen Reihe von Mitarbeitern zu danken. Das sind zunächst jene im redaktionellen Bereich und die Bearbeiter und Übersetzer fremdsprachiger Beiträge. Zahlreiche Hinweise gaben Univ.-Prof. Dr. Josef Breu und die Universitätsassistenten Doz. Dr. Horst Haselsteiner, Dr. Max Demeter Peyfuss und Dr. Arnold Suppan. Dr. Peter Bachmaier besorgte die Übersetzungen aus dem Russischen und half bei der Redaktion der Texte mit. Mag. Franz Kriechmayr bearbeitete einige Manuskripte, übersetzte Beiträge aus dem Englischen und Französischen und bemühte sich um die Transliteration griechischer Texte. Dr. Leonhard M. Swennen übersetzte die niederländischen Titel in den Anmerkungen, und Dr. Karl Brousek war an der Redaktion vieler Texte beteiligt. Sonja Schneller legte die beiden Register an und half ebenfalls bei den Korrekturen. Bei den Korrekturen des Personenregisters wurden die Herausgeber zusätzlich von Univ.-Prof. Dr. Wolfdieter Bihl, Professor Roger und Dr. Jakub Forst-Battaglie unterstützt. Weiters ist auch dem Verlag, insbesondere Frau Dr. Erika Rüdegger, für die Betreuung und das Verständnis für die vielen Schwierigkeiten eines Sammelbandes zu danken. Die Publikation hätte schließlich ohne Unterstützung durch das Participation Programme der UNESCO und den Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung nicht erscheinen können. Auch ihnen gebührt der herzliche Dank der Herausgeber. RICHARD G . PLASCHKA KARLHEINZ M A C K
ZUM GELEIT Mehr denn je wird heute die Menschheitsgeschichte durch die Wissenschaft und ihr folgend durch die wissenschaftsorientierte Technologie geprägt. Vor allem die Entwicklung der Industrieländer erscheint wesentlich an die Ergebnisse des wissenschaftlich-technologischen Fortschritts gebunden, und die von ihnen bestimmten Lebensformen sind — unabhängig von der jeweiligen Gesellschaftsstruktur — dadurch weitgehend vorgezeichnet. Die Wurzeln der heutigen Entwicklungsebene der Wissenschaften reichen weit zurück, bis ins 12. und 13. Jahrhundert, als die ersten Generalstudien von Lehrern und Schülern in Italien, Frankreich, Spanien und England gegründet wurden. Theologische, medizinische, rechtswissenschaftliche und philosophische bzw. Artistenfakultäten entstanden und gewannen Gestalt. Ab dem 14. Jahrhundert schlossen sich die Territorien nördlich der Alpen und östlich des Rheins dieser Entwicklung an: mit den wissenschaftlichen Zentren in Prag und Krakau, Wien und Fünfkirchen, Heidelberg und Köln, Erfurt und Leipzig, um nur einige unter den ersten zu nennen. Und in den letzten zwei Jahrhunderten, etwa seit der Aufklärung, wurde vor allem unser gegenwärtiger Wissenschaftsbegriff geprägt, und die geistigen Wechselbeziehungen erhielten unter nun intensiver Einbeziehung des Ostens und Südostens des Kontinents gesamteuropäischen Charakter. Ich begrüße die Initiative des Österreichischen Ost- und SüdosteuropaInstituts, die Ergebnisse einer internationalen Konferenz in Wien zu veröffentlichen, die eben die Entwicklung dieser geistigen Zentren und deren wissenschaftliche Wechselbeziehungen in Europa mit der Hauptachse Mitteleuropa - Ost- und Südosteuropa zum Gegenstand haben und den Zeitraum von der Aufklärung bis zum Ersten Weltkrieg umfassen. Was aus den vorgelegten Untersuchungen nicht zuletzt hervorgeht, ist die Erkenntnis wesentlicher Schritte der Vertiefung der kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Verbindungen zwischen den einzelnen Völkern auf wissenschaftlicher Ebene und die Feststellung, daß es sich dabei in vieler Hinsicht um einen Prozeß der Gegenseitigkeit und nicht um Einbahnstraßen gehandelt hat. Es ist erfreulich, daß mit dem vorliegenden Band ein Beitrag zur europäischen Wissenschaftsgeschichte der Neuzeit geleistet wurde, und es ist zu wünschen, daß ähnliche internationale Treffen und daraus resultierende Veröffentlichungen folgen mögen.
RICHARD GEORG PLASCHKA EINLEITUNG IM ÜBERNATIONALEN BEZIEHUNGSFELD DER STUDENTENSTRÖME EIN SCHRITT ZUR STUDIENGESCHICHTE EUROPAS
1978 fand in Wien eine Konferenz über die Geschichte von internationalen Beziehungen besonderer Art statt: über die von Studien und Wissenschaft im 19. und am Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Wiener Universität, an der die Eröffnung dieser Konferenz vorgenommen wurde, präsentierte sich dafür als sinnvoller Ausgangspunkt: ein traditionell stark wirksamer Faktor übernationaler wissenschaftlicher Begegnung. Von seinem Ursprung, vom Stiftbrief des jungen, ehrgeizigen Herzogs Rudolf IV. aus dem Jahre 1365 an, war für das neue Generalstudium in Wien die Einteilung in vier Nationen vorgesehen: die österreichische, sächsische, böhmische und ungarische. Und dies setzte sich auch im erneuerten Stiftbrief des Herzogs Albrecht III. aus dem Jahre 1384 fort, wonach eine leicht veränderte Nationeneinteilung vorgezeichnet war: die österreichische, rheinische, ungarische und sächsische Nation. Europäisch ausgerichtet waren damit vier Ländergruppen angesprochen: zur österreichischen Nation sollten die Studenten aus Österreich, Aquileja, Churwalchen und Italien zählen; zur rheinischen Nation die vom Rhein, aus Bayern und Schwaben, aus dem Elsaß, aus Frankreich und Spanien, aus Holland, Flandern und Brabant; zur ungarischen Nation die aus Böhmen, Ungarn und Polen, und überhaupt die aus den slawischen und aus den griechischen Ländern; zur sächsischen Nation schließlich die aus Sachsen und Westfalen, aus Brandenburg und Preußen, aus Livland und Litauen, aus Dänemark und Schweden, England, Schottland und Irland. Auch in der späteren Zeit ihrer Geschichte wurde die Wiener Universität immer wieder von der Begegnung der Nationen geprägt. Dies bestätigt nicht zuletzt das 19. Jahrhundert: Belief sich die Gesamtzahl der Studenten zwischen 1848 und 1918 auf rund 179.000, so stammten mehr als 28.000 davon, also rund 16%, allein aus dem Bereich Südosteuropa — zweifellos ein beachtlicher
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RICHARD G . PLASCHKA
Beitrag nicht nur zur Deckung des ansteigenden Akademikerbedarfs, sondern auch zur Heranbildung neuer sozialer Schichten und nationaler Führungsgruppen am Übergang zur kapitalistischen und Industriegesellschaft in jenen Ländern. Und bereits 1852 studierte auch der erste ägyptische Student in Wien. Aber es ziemt sich gleich hinzuzufügen, daß es nicht nur ein Geben, sondern gerade in bezug auf jene südosteuropäischen Länder auch ein Nehmen war. Nicht nur daß die Internationalität der Studenten das Bild der Stadt wie den Inhalt der Lehrveranstaltungen mitprägte, gewannen auch die Fakultätskollegien der Professoren. Das Einzugsgebiet der Professorenergänzung war von Anfang an primär das Territorium des Heiligen Römischen Reiches gewesen. Der Einfluß Südosteuropas aber wurde bald deutlich. Schon im 16. Jahrhundert lehrte an der Wiener Universität Martin Capinius aus Siebenbürgen, der Slowene Andreas Perlachius, Johannes Sambucus aus Tyrnau und der Kroate Paulus Skalich. Und im 19. Jahrhundert wirkten in Wien Gelehrte wie die Slawisten Franz von Miklosich und Vatroslav Jagic, der Physiker Josef Stefan und der Photopionier Josef Petzval. Die Gegenwart hat nach den einschneidenden Veränderungen der beiden Weltkriege allmählich auch die internationalen Verbindungen für die Wiener Universität den gegebenen Möglichkeiten gemäß neu gezeichnet. Im Wintersemester 1978/79 studierten an der Universität 3.150 Ausländer bei einer Gesamthörerzahl von nun 38.115. Aus europäischen Ländern standen Studenten aus der Bundesrepublik Deutschland, Jugoslawien, der Türkei, Griechenland und Polen an der Spitze, aus afrikanischen Ägypter und Nigerianer, aus asiatischen Iraner, Saudiaraber, Chinesen und Syrer, aus Amerika Studenten aus USA, Brasilien und Kolumbien. Rund 37% der ausländischen Hörer kamen aus den in der OECD als solche geführten Entwicklungsländern. Und Einzugsgebiet für an der Universität Wien wirkende Professoren sind neben dem deutschsprachigen Gebiet auch heute wieder Städte wie Prag, Teschen und Brünn, Budapest und Zagreb: Frantisek Mares, Günther Wytrzens, Johann Navrätil, Käroly Redei, Lajos Gogolak, Josef Hamm, Radoslav Katicic — um nur einige zu nennen —; in Graz wirkt Ferdo Hauptmann, der aus Sarajevo, und in Innsbruck Zoran Konstantinovic, der aus Belgrad kommt. Und hier in Wien war nun, 1978, eine Tagung der Begegnung der Nationen auf der Ebene der Wissenschaften und Studien im Gesamtrahmen des Participation Programme der UNESCO über „Die Entwicklung der sozio-kulturellen Strukturen und der interkulturellen Beziehungen in Europa im 19. und 20. Jahrhundert" gewidmet. Vorrangiges Objekt der Konferenz waren die internationalen Bewegungen und Begegnungen in den Universitäts- und Wissenschaftsstätten in der regionalen Schwerpunktachse Mitteleuropa-Südosteuropa von der Wende des 18. zum 19. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg. Institutionen und Menschen traten in diesem Rahmen hervor, Institutionen, die operative Träger des Entwicklungsprozesses in der Wissenschaft
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Einleitung
waren, Menschen, die diese Institutionen mit Leben erfüllten und Signale in den Pro2essen der Forschung wie ihres Umsetzens in den Hörsälen und im späteren Beruf setzten, Professoren wie Studenten. Und hinzu trat der gesellschaftspolitische und der geistesgeschichtliche Hintergrund dieser Epoche, entscheidende Fragen, die nicht zuletzt auf den Universitäten aufgeworfen und durchgefochten wurden und die aktuell geblieben sind bis in die Gegenwart — die Fragen nach der individuellen Freiheit wie nach der sozialen Gerechtigkeit, nach der demokratischen Willensbildung wie nach der nationalen Integration bis zu jener schönen Maxime von Jözsef Eötvös 1869, wonach die Wissenschaft nicht einzelnen Nationen oder einer Epoche zuzuschreiben, sondern als „der gemeinsame Schatz der Menschheit" zu werten sei. Die Fragestellung der Konferenz war in der vorgezeichneten umfassenden Form und im Hinblick auf die konkreten Akzentsetzungen auf ein Netz von Beziehungen gerichtet. Es gibt keine Karten der Sogwirkungen der Wissenschaftsstätten und der Studentenströme gleich einer Nachzeichnung der Zugvögelschwärme und ihrer Ziele. Die Antwort der Konferenz konnte sich daher von vornherein weniger an einem Gesamtbild der Ereignisse, sondern mußte sich vielmehr an methodischen Fragen, dann an der Erarbeitung von Teilaspekten und den sich daraus ergebenden allgemeinen Problemstellungen und Schlüssen orientieren. Die modellhaften Hinweise und die gezogenen Vergleiche aber haben im Ergebnis ein erstes Bild der Entwicklungsprozesse und damit Zielrichtungen für weitere Arbeiten jedenfalls ergeben. Aus den Beiträgen schälten sich zwei Ansatzebenen heraus: 1) die institutionellen und personellen Faktoren: die Knotenpunkte der Bewegung und Begegnung; 2) die Impuls- und Sogwirkungsfaktoren: Analysen, die zu den Ursachen der Bewegungen, ihren Richtungen, ihrem Anschwellen und Abklingen führten. Es sei versucht, den Aussagen zu diesen Problemkreisen, wie sie in den Referaten und in den Diskussionen deutlich wurden, kurz zu folgen. 1 . D I E AUSSAGEN ZU INSTITUTIONEN UND PERSONEN
a) die Aussagen
Institutionen
Die Institutionen präsentierten sich als Träger, als operative Einheiten und Schaltstellen der gegebenen Strömungen: vor allem die Universitäten, Hochschulen, hochschulnahe Institutionen, aber auch Ubergangsentwicklungen zum Hochschulbereich und die wissenschaftlichen Gesellschaften, und die Institutionen wieder in ihrer Gründung, Entwicklung, Entfaltung und allfälliger Reorganisation. Eine ganze Reihe von Modellen und Modellentwicklungen wurde demonstriert. Zwei Nationalbereiche erschienen im Gesamtbild ihrer Institutionsentwicklung in besonderer Dichte — der polnische und der rumänische: die
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polnischen Wissenschaftsstätten in ihrem Wachsen, ihren Erfolgen und Schwierigkeiten, ihrer organisatorischen und geistig-politischen Problematik, einschließlich der Technischen Hochschulen, in Schwerpunkten besonders in der zweiten Hälfte des 19. und am Beginn des 20. Jahrhunderts, schließlich in ihren sich anbahnenden Verbindungen zum Ausland, nicht zuletzt nach Westeuropa; die rumänischen Universitäten Bukarest und Ia§i von ihrer Gründung her, vom Aufbau des Vorunterrichts bis zur Präsentierung der Studienunterlagen, das Heranwachsen von Fächergruppen, Fakultäten und Schulen an diesen Universitäten, so Schulen in der Rechtswissenschaft, die sich bildenden zeitnahen Forschungsschwerpunkte über die Akademien wie Philologie, Geschichte, Archäologie und Naturwissenschaften. Darüber hinaus wurde eine ganze Reihe von Modellentwicklungen an Flankenpunkten deutlich wie die Universität Moskau, von ihren Wurzeln bis zu ihren sich entfaltenden internationalen Beziehungen, die Universität Leiden in einer entscheidenden, einen Tiefpunkt überwindenden Phase, territorial erweitert im Südosten die Entwicklung des Hochschulwesens in Griechenland, und im Westen der Aufbau in den Niederlanden. Und die Wirksamkeit wurde erfaßt bis zu den verlängerten Armen der Effizienz, wie zum Druckwesen und zur Buchproduktion an Universitäten und Akademien, so in Moskau und Ofen bzw. Budapest. In der Verfolgung der Strukturentwicklung tauchte eine hochschulnahe Institution der baltischen Länder als Modell auf: das Gymnasium academicum Mitau. Wesentliche Gründungsphasen von Universitäten wurden erläutert: so die Versuche von Neugründungen und erfolgte Teilungs- und Neugründungsvorgänge in Prag, Brünn und Czernowitz. Wesentliche Ergänzungsentwicklungen gewannen an Deutlichkeit, so die von wissenschaftlichen Gesellschaften, weiters Ersatzinstitutionen wie eine „fliegende" Universität im polnischen Bereich Anfang des 20. Jahrhunderts, eine geheime Hochschule ohne ördiche Stabilität. Und in besonderer Weise trat gerade für den ins Auge gefaßten Zeitraum die Einordnung in die gesellschaftspolitische Entwicklung in Erscheinung: die Bedeutung der Universitäten als zentrale Objekte der sozialen Mobilität wie der nationalen Bewegung, ihre wachsende Bedeutung in nationalen Konkurrenzlagen. Die Umweltfaktoren, in- wie ausländische, erheischten ebenfalls Berücksichtigung. Im Auf- und Ausbau der Universitäten ergab sich nicht nur die Bedeutung von Voraussetzungen wie der eines entsprechend dichten Mittelschulnetzes im eigenen Land, sondern nicht selten auch der von übernationalen Beziehungen. Dazu ist vor allem die Übernahme von Modellen für Universitäten und Hochschulen zu zählen — so das Humboldtsche Modell, französische Vorbilder, Bergakademiemuster, die Neugestaltung von Fakultäten nach ausländischen Modellen, die Übernahme von wissenschaftlichen Schulen: so die ecole de droit nach Pariser Modell in Bukarest und Ia§i, Schul- und Organisationsimpulse — bis zur Frage der außerordentlichen Professoren — nach
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Einleitung
Wiener Modell in Pest bzw. Budapest, Institutionsstrukturen nach dem Vorbild deutscher Universitäten in Athen, auch in diesem Fall bis zu den personellen Gliederungen — ordentliche, außerordentliche und Honorarprofessoren ebenso wie Privatdozenten. b) Die Aussagen
Personen
Eine ganze Reihe von Einzelpersonen, Wissenschafter, die als solche Impulse in den Verbindungslinien hervorgerufen haben, traten hervor: Vuk Karadzic, der für die Verbindung zu mitteleuropäischen Universitäten und gelehrten Gesellschaften steht; Johann Thunmann, der als Nordeuropäer die Verbindung Mitteleuropas zu Südosteuropa in besonderer Weise hergestellt hat, in Richtung der Balkanologie; Sofija Kovalevskaja, Russin und Mathematikerin, Professor an der Stockholmer Universität und erstes weibliches Mitglied der Pariser Akademie; Johann Georg Sulzer, der Schweizer, der als Mitglied der Berliner Akademie der Wissenschaften nach Mitau gewirkt hat; Dimitrie Alexandrescu, Aristide Pascal, George Danielopol, die eine Verbindungslinie von Iasi und Bukarest zur Pariser Rechtsschule repräsentierten; Kopitar, Miklosich und Jagic, die als Südslawen in Wien über Generationen eine Schule eingerichtet und getragen haben. Und neben neuen Konturen für das Bild der Vertreter der Wissenschaft ergaben sich neue auch für das Bild der Studenten: institutionsbezogen die Feststellung von Quantitäten, der nationalen, regionalen und sozialen Herkunft, der fachlichen Ausrichtung. Ein Bild, das besonders für die Universitäten Zürich, München, Prag, Czernowitz, Paris, Padua, Jena, Leipzig, Wien und Graz an Plastizität gewonnen hat; Aufbruchsbewegungen, die in Richtung Ausland führten, wurden im russischen, polnischen, rumänischen und griechischen Bereich besonders verdeutlicht.
2 . D I E BEWEGENDEN KRÄFTE, DIE AUFTRETENDEN SOGWIRKUNGEN UND IMPULSE
Die Hinweise konzentrierten sich vor allem auf fünf Voraussetzungselemente: die Lehrerpersönlichkeiten und Schulen, die ökonomischen Grundlagen, die religiöse Motivation, die national-kulturelle Atmosphäre und die Anrechenbarkeit der Studien. a) Die Voraussetzungen der Forscher- und Lehrerpersönlichkeiten,
der Schulen
Als Beispiele wurden Karl Krumbacher in München, Ulrich von Wilamowitz-Möllendorff in Berlin, Johannes Scherr in Zürich, Thomas G. Masaryk und eine Reihe anderer Professoren in Prag, Franz von Miklosich, Vatroslav Jagic, Konstantin Jirecek, Josef Matija Murko in Wien und Graz präsentiert.
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RICHARD G . PLASCHKA
Deutliche Anziehung für ungarische und russische Studenten übten deutsche naturwissenschaftliche Schulen aus, die Wiener medizinische Schule bewirkte ebenso Studentenzustrom nach Wien wie historische Schulen in Richtung Paris und Wien, Kunstakademien in Richtung Paris, Wien und München. b) ökonomische
Voraussetzungen
Die Referate öffneten ein breites Feld von Einsichten, beginnend bei den Lebenshaltungskosten — so Jena in dieser Beziehung kostengünstiger als Göttingen oder Leipzig —, übergehend zur Stipendienfrage, der Gastländer wie der Heimatländer: die Frage der Unterstützung für südosteuropäische Studenten in Frankreich, Italien, Österreich; Sonderformen wie die Förderung griechischer Studenten in Bayern; private Stipendien wie die Knafl-Stiftung in Wien für Slowenen. Oft wichtige, wenn auch nur sektorale flankierende Möglichkeiten: so die Wohnmöglichkeit bulgarischer Studenten bei ansässigen bulgarischen Gärtnern wie in Ofen, Prag, Brünn und Wien. c) Religiöse
Motivationen
Eine Reihe von religiös bedingten Strömungsrichtungen, die deutlich wurden — katholische Polen nach Frankreich, protestantische Slowaken und Siebenbürger Sachsen nach Jena, Halle/Saale, Leipzig, Göttingen, Marburg, reformierte Magyaren nach Basel, Genf, Utrecht und Edinburgh, griechischorthodoxe Theologen aus Rumänien nach Czernowitz, griechisch-orthodoxe Theologen aus Griechenland in erstaunlich hohem Prozentsatz an protestantische Universitäten nach Deutschland. d) Die allgemeine kulturelle und kultur-politische
Atmosphäre
In nationaler Hinsicht vielfach als korrespondierend angesehen, übte auch diese Atmosphäre Anziehungskraft aus — so für südslawische Studenten in Richtung Odessa, Moskau, Prag, aber auch Paris, Padua, Venedig, für rumänische in Richtung Paris und Turin, für griechische in Richtung Pisa, für cisleithanische Studenten allgemein in Richtung Wien. Die in diesem Fall einschlägigen Ursachen: Museen, Sammlungen, Archive, Bibliotheken, nationale Verbände wie der Sokol, die ideologische Stütze sein konnten, einflußreiche Persönlichkeiten, die sich der Studenten annahmen, oder der Ruf eines besonders gepflegten liberalen Geistes. Letzteres galt für Mitau und Jena, ebenso für Zürich, wo die Zulassung von Frauen zum Studium eine Rolle spielte — Nadezda Suslova aus St. Petersburg promovierte im Jahre 1867 als erste Frau an der dortigen medizinischen Fakultät. Den Ruf eines fortschrittlich-demokratischen Geistes hatte vor allem in südslawischen Studentenkreisen auch Prag.
Einleitung
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e) Anrechenbarkeit von Studien Als Beispiel wurde die Frage der Anrechenbarkeit von Vorstudien für die Universität ebenso wie die des Universitätsstudiums für das spätere Berufsleben präsentiert. So für die Rumänen: die Bereitschaft vor allem in Paris und Turin, die rumänischen Vorstudien anzuerkennen. So die Ausrichtung der Studentenströmungen der Dalmatiner und Krainer: Die Anrechenbarkeit besonders des Jusstudiums für den Staatsdienst ließ sie weniger nach Agram, mehr nach Graz, Wien und Prag ziehen. Als Komplementärinstrument zu den Elementen der Sogwirkung war schließlich die Außenkulturpolitik zu berücksichtigen: von nationaler und national-verwandter Hilfestellung bis zur gezielten kulturpolitischen Expansion mit der Absicht der Schaffung von Abhängigkeiten. Das Instrumentarium: Staatsstipendien, Freiplätze, Entsendung von Professoren, Einrichtung von Schulen, in letzterem Fall Institutionen als Basiseinheiten der Entfaltung. Von besonderer Bedeutung wurde schließlich die Rück- und Auswirkung der Auslandsstudien in der Heimat: Auslandsstudenten gelangten in einem relativ hohen Ausmaß zu Schlüsselpositionen, auch zu politischen Schlüsselpositionen, in ihren Heimatländern. Als Modell wurde besonders angeführt: die Rückwirkung auf die Heimatlaufbahn des Studiums der Serben in Zürich, der Kroaten in Prag, der Slowenen in Graz und Wien, der Bulgaren in Leipzig, der Griechen an deutschen Universitäten. Hingewiesen wurde auch auf das aufkommende Konkurrenzverhältnis der Auslandsstudenten mit den im Inland Ausgebildeten, ja das Aufbrechen sozialer Gegensätze wie in Griechenland. Manche Themen der Tagung wiesen bereits auf mögliche künftige Forschungsrichtungen hin. Systematische, methodisch abgeklärte Ansätze wären freilich wünschenswert — von der Erfassung der Quellenlage bis zu Gruppenarbeiten auf bi- und multinationaler Basis und zu vergleichenden Studien, von der Erfassung von Einzelinstitutionen und Einzelpersonen bis zu der übernationaler Entwicklungsprozesse. Die Initiatoren der Tagung in Wien waren bemüht, für das Treffen angemessene Vorbereitung zu leisten. Dabei sind folgende Institutionen zu fruchtbringender Zusammenarbeit gelangt: die UNESCO-Zentrale in Paris; die AIESEE — die Association Internationale d'Etudes du Sud-Est-Europeen, vertreten besonders durch die Professoren Dr. Nikolai Todorov und Dr. Emile Condurachi; das Secretariat de Liaison pour les Chercheurs en Sciences Sociales sur l'Europe Centrale et Danubienne in Paris, vertreten besonders durch Professor Dr. Georges Castellan; die Österreichische UNESCO-Kommission, vertreten durch Professor Dr. Wilhelm Weber; das Österreichische Ost- und Südosteuropa-Institut. Von besonderem Wert war das Interesse und
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die Mitwirkung des österreichischen Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung, das durch eine Ansprache von Bundesminister Dr. Hertha Firnberg zum Ausdruck kam, ebenso der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, deren Präsident, Professor Dr. Herbert Hunger, die Tagung eröffnete. Das Österreichische Ost- und Südosteuropa-Institut beging mit der Tagung sein 20 jähriges Bestehen. Für die Organisation der Tagung ist Oberrat Dr. Karlheinz Mack und seiner Abteilung im Österreichischen Ost- und SüdosteuropaInstitut besonders zu danken, für die Führung der drei Sektionen den Assistenten Dr. Horst Haselsteiner, Dr. Max Demeter Peyfuss und Dr. Arnold Suppan vom Institut für Ost- und Südosteuropaforschung der Universität Wien. Durch die Bildung der Sektionen konnte die Diskussion in kleinerem Kreis belebt, durch die Einsetzung der Sektionssekretäre bei wechselndem Vorsitz die Kontinuität der Gespräche bis zur Zusammenfassung gewahrt werden. An den Universitäten jenes 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts erfolgte ein ständiges wechselweises Geben und Übernehmen neuer Erkenntnisse, neuer Zielvorstellungen, nicht nur für die Studien- und Fachrichtungen, sondern direkt oder indirekt auch für den Entwicklungsprozeß des gesamten gesellschaftspolitischen Lebens. Ziel der Tagung war es, eine Reihe dieser Beziehungen zu erfassen, als ein Versuch zum besseren Verstehen der übernationalen Partnerschaftsentwicklung von einst, aber auch als ein Versuch zur Weiterentwicklung der Forschungspartnerschaft von heute. Ist ein Schritt in dieser Richtung gelungen, darf das Anliegen der Veranstalter als erfüllt betrachtet werden.
I. DIE BILDUNGS- UND FORSCHUNGSINSTITUTE IN IHRER WECHSELWIRKUNG
JEAN LIVESCU DIE ENTSTEHUNG DER RUMÄNISCHEN UNIVERSITÄTEN IM Z U S A M M E N H A N G DER E U R O P Ä I S C H E N K U L T U R B E Z I E H U N G E N (1850—1870)
Die Universitäten von Jassy und Bukarest setzen die älteren Traditionen der Akademien fort, die in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts in diesen Städten entstanden sind. Entsprechend der lateinischen Sprache an den abendländischen Universitäten wurde an diesen Akademien, die sich auch in den benachbarten Ländern einer breiten Anerkennung erfreuten, das Griechische als Lehrsprache gebraucht. Der entscheidende Schritt auf dem Wege zu einer Anpassung an neue soziale und kulturelle Verhältnisse wurde durch die Einführung des Rumänischen als Unterrichtssprache vollbracht (1814 in Jassy, 1818 in Bukarest), anfangs für die praktischen Zwecke einiger Landmesserkurse, dann nach kurzer Zeit in der Überzeugung verallgemeinert, daß nur die Nationalsprache das Instrument zur Schaffung einer Nationalkultur sein kann. Die Jassyer und die Bukarester Akademien erfüllten dadurch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine wichtige Funktion; sie beteiligten sich an der geistigen Entwicklung des Landes, trotz aller Schwierigkeiten, welche eine Staatsverwaltung bereitete, die kein Interesse hatte, sie zu fördern. Die Akademien waren Ausbildungszentren der jüngeren Generation und erfreuten sich der Mitarbeit einiger Persönlichkeiten, die an den westlichen Hochschulen studiert hatten. Oft waren ihre Vorlesungen patriotische Kundgebungen, und aus diesem Grunde wurden sie von dem reaktionären Regime der damaligen Zeit scheel angesehen. Wenn man diesen positiven Aspekt der Tätigkeit der zwei Akademien anerkennt, so muß man doch unterstreichen, daß sie durch ihre Organisation und Struktur den Erfordernissen einer bürgerlichen Gesellschaft, die sich schnell entwickelte, nicht mehr entsprachen. Die Akademien umfaßten in ein und derselben Institution alle Schulstufen, was sie einerseits zu einer genauen Lokalisierung verpflichtete; andererseits hatten sie durch ihren KollegCharakter mit internen Schülern eine schmale, auf die begüterten Schichten der Bevölkerung reduzierte Aufnahmebasis. Die ökonomische und sozial-politische Entwicklung der rumänischen Gesellschaft erforderte dagegen ein breit angelegtes, allen Bürgern des Landes zugängliches Schulsystem, in dessen Rah-
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men die Universitäten die dritte, höchste Stufe bilden sollte. Aus diesen Gründen und zum Unterschied von den revolutionären Programmen des Jahres 1848 in den westlichen Ländern bezogen sich die rumänischen auch auf kulturelle und wissenschaftliche Fragen, darunter als Zentralproblem auf die Errichtung von Universitäten. Als Modell dienten die abendländischen Universitäten, besonders die in Frankreich, Deutschland und Österreich, wo die meisten Führer der revolutionären Bewegung studiert hatten oder noch studierten. Ein solches weit angelegtes Programm findet man in der Proklamation von Islaz, dem revolutionären Manifest in der Walachei: „. . . sie (die Versammlung) beschließt die Errichtung eines Schulwesens, das für alle gleich, progressiv, soweit wie möglich, nach jedermanns Fähigkeiten, vollständig, unentgeltlich sein soll; beschließt die Errichtung einer polytechnischen Schule in Bukarest, je einer Universität in Bukarest und Craiova und je eines Lyzeums und eines Pensionats in jedem Bezirk; je eines Lehrerseminars in jedem Kreis und je einer guteingerichteten Anfängerschule in jedem Dorf. . ," 1 ) Ähnliche Forderungen findet man in dem von den moldauischen Revolutionären entworfenen Verfassungsentwurf und — in Siebenbürgen — im Antrag der Blajer Versammlung. Hier heißt es: „Die rumänische Nation fordert die Errichtung von rumänischen Schulen in allen Dörfern und Städten, die Errichtung von Gymnasien, von technischen und (Grenz-)Militärschulen, von Pfarrerseminarien, sowie die Gründung einer rumänischen Universität, die im Verhältnis zur (rumänischen) steuerzahlenden Bevölkerung mit Staatsgeldern eingerichtet werden soll . . ." 2 ) *
Die ersten rumänischen Universitäten entstehen in den sechziger Jahren, die zu Jassy wird am 26. Oktober 1860 eröffnet3), die Bukarester am 4. Juli 18644). Was Siebenbürgen betrifft, wird in Cluj-Napoca eine rumänische Universität erst nach der Vereinigung von 1918 errichtet. Bezeichnend scheint die Tatsache, daß sich die Jassyer und die Bukarester Universitäten schon in den siebziger Jahren wissenschaftlich behaupten sollten, sowohl durch Publikationen wie durch ihre Teilnahme an internationalen Manifestationen. Diese Situation ist dadurch zu erklären, daß die feierlichen Gründungsakte eigentlich nur die Existenz von einigen Fakultäten und hohen Schulen bestätigten. Die Anfänge dieser Hochschulformen kann man bis gegen Anul 1848 in Principatele Romane. Acte si Documente . . . (Das Jahr 1848 in den Rumänischen Fürstentümern. Akte und Dokumente . . .) Bd. I. Bucuresti 1902. S. 494. 2 ) Zitiert nach A. Papiu-Ilarian: Istoria Romänilor din Dacia Superioarä (Geschichte der Rumänen aus Ober-Dazien). Bd. 2. Wien 1852. S. 248. 3 ) Universitatea Al. I. Cuza Iasi. (Die Universität Al. I. Cuza in Jassy.) Bucuresti 1971. 4) Al. Balaci, I. Ionascu (Hrsg.): Universitatea din Bucuresti 1864—1964 (Die Universität in Bukarest 1864—1964). Bucuresti 1964.
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1850 zurückverfolgen. Zu dieser Zeit findet man die ersten Schulgesetzgebungen, in denen sich die von den 1848er Revolutionären propagierten Ideen widerspiegeln. So legt 1850 in der Walachei eine Kommission „zur Aufstellung der Programme des öffentiichen Unterrichts" ihre Vorschläge vor, die kurz darauf vom Prinzen Barbu $tirbei genehmigt wurden. Anfang 1851 wird in der Moldau das „Schulreglement" veröffentlicht. Ein Vergleich der zwei Gesetzgebungen zeigt als gemeinsames Ziel die Ausbildung eines nationalen Schulwesens, weist zugleich auf die Verschiedenheit der Kulturverbindungen und Interaktionen mit dem Ausland, besonders mit Frankreich und Deutschland, hin. In der Moldau beschließt Fürst Grigore Ghica, der selbst in Berlin studiert hat, ein weitgehend einheitliches System, in dem Züge der deutschen Schule zu erkennen sind, besonders in der Vielfalt der Schulformen auf mittlerem Niveau. Ein Schulhistoriker jener Zeit charakterisiert es mit folgenden Worten: „Die neue Schulgesetzgebung sichert dem öffentlichen Unterricht eine ausgesprochen nationale und liberale Richtung. Sie sichert die Schulgeldfreiheit des moldauischen öffentlichen Unterrichts. Sie proklamiert die Bedeutung der Landwirtschaftsschulen, der Gewerbe- und Realschulen und organisiert zugleich den Gymnasial- und Hochschulunterricht. Der Gymnasialunterricht fußt auf dem lateinisch-griechischen Klassizismus. Der Hochschulunterricht wird gleich nach der vollen Organisation der Mittelschulen in den Fakultäten beginnen. Die Nationalsprache wird das einzige Unterrichtsorgan sein" 5 ). Im Zusammenhang mit unserer Diskussion ist es wichtig zu erwähnen, daß sich außer dem siebenjährigen Gymnasium eine distinkte Kategorie von Realschulen entwickelt, wenn auch in diesem Anfangsstadium ihre Beziehungen zum Gymnasium nicht klar definiert werden, ebenso andere Typen von Schulen mit praktischer Zielsetzung. In der Walachei dagegen werden anfangs mehrere Vorschläge diskutiert 6 ), vom Jahre 1852 an wird eine Gesetzgebung angewandt, in der als einzige Mittelschulkategorie das Kolleg (auch: das Lyzeum) aufscheint, mit einer Dauer von sechs Jahren und mit „komplementären" Klassen, die wie im französischen Lyzeum auf Fachgruppen eingerichtet sind. Schüler, die das Gymnasium nicht beenden, sollen sich auf die Praxis ausgerichteten Beschäftigungen „in der Karriere des Handels und des Handwerks" widmen, da man davon ausgeht, daß die im Gymnasium erworbenen Kenntnisse für sie nützlich sein würden 7 ). Den beiden Schulverordnungen gemeinsam ist die Absicht, dem Gymnasium einen klassisch-humanistischen Charakter zu sichern, der aber durch Kenntnisse auf dem Gebiet der Naturwissenschaften oder, wie es in der s) V. A. Urechiä: Istoria scoalelor de la 1 8 0 0 — 1 8 6 4 . . . (Die Schulgeschichte v o n 1800 bis 1864 . . .). Bd. 3. Bucurest'i 1894. «) Ebenda, S. 14 ff. ?) Ebenda, S. 15.
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Bukarester Formulierung heißt, „mit den Lehren der exakten Wissenschaften, wie Mathematik, Naturgeschichte, Physik und Chemie" 8 ) erweitert wird. Die Grundlage dieser klassizistischen Bildung bietet das Lateinische, das erzieherisch wegen seines strengen Aufbaus geschätzt wird, aber auch wegen der „Verwandtschaft mit der rumänischen Sprache" 9 ). Die griechische Sprache wird verschiedentlich behandelt: in der Moldau behält sie ihren Platz neben der lateinischen, in der Walachei dagegen wird sie durch die modernen Sprachen verdrängt. Auch in der Frage der Schulbücher, die zu dieser Zeit größtenteils aus Übersetzungen und Adaptationen bestehen, stellt man in den beiden Ländern verschiedenartige Situationen fest. Das moldauische „Reglement" versucht eine einheitliche Lösung und verordnet (§ 10) die Übersetzung der Lehrbücher, die in den preußischen Schulen benützt werden; es scheint jedoch, daß diese Maßnahme nur partiell durchgeführt worden ist, denn in den nächsten Jahren begegnet man außer rumänischen Verfassern Übersetzungen sowohl aus dem Deutschen wie auch aus dem Französischen. Für die Walachei zeigen die Informationen ein ausgesprochenes Übergewicht an Übersetzungen aus dem Französischen. Eine Liste aus dem Jahre 1850 zählt folgende Schulbücher auf, an deren Übersetzung man gerade arbeitete: Hollards „Naturgeschichte", Lefebures de Fonseys „Darstellende Geometrie", Victor Duruys „Geographie", Vablons „Politische Geographie", Burnoufs „Lateinische Sprache". Im Druck befand sich auch Francoeurs „Rationelle Arithmetik" 10 ). Ähnlichen Unterschieden begegnet man in bezug auf die Hochschulformen. Die moldauische Gesetzgebung sieht ein vollständiges System einer „Akademie" mit vier Fakultäten vor: Jura, Philosophie, Medizin, Theologie. Die Wechselwirkung mit dem deutschen (Humboldtschen) System erkennt man am deutlichsten in der Einschließung der Naturwissenschaften als Sektion im Rahmen der philosophischen Fakultät. Das Dekret aus dem Jahre 1860 über die Gründung der Jassyer Universität behält diesen Organisationstypus, er wird aber gleich darauf durch das Schulgesetz von 1864 geändert. Im Vergleich mit der moldauischen Gesetzgebung erscheinen die Maßnahmen von 1850 in der Walachei fragmentarisch, sie sind aber zugleich den realen Erfordernissen und Möglichkeiten angepaßt. Hier beabsichtigt man (mit der Motivierung „so weit uns die Mittel erlauben") eine „Ingenieurschule" zu errichten, mit Spezialisierungen in der Topographie, im Brücken- und Straßenbau und in der Architektur (sie entspricht der Forderung im Revolutionsprogramm nach einem Polytechnikum) und eine „Jura-Schule" (§coalä de 8)
Ebenda. Ebenda. 10) Urechiä: Istoria scoalelor . . S. 20. Der Verfasser konnte die Richtigkeit der Schreibung der zitierten französischen Schulbuchautoren nicht überprüfen. 9)
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legi), in der zum ersten Mal das römische Recht als „Grundlage unserer zivilen Gesetzgebung" erscheint 11 ). Unterschiedlich ist auch die Verwirklichung dieser gesetzlichen Schulmaßnahmen. In der Walachei findet man schon 1852 die ersten Formen der zwei vorgesehenen Fakultäten. 1860 gründet man in Bukarest eine philosophische Fakultät, 1863 kommt eine „Hochschule der (Naturwissenschaften" sowie eine der humanistischen Wissenschaften (litere) hinzu. Die Gründung der Bukarester Universität im Jahre 1864 wird eigentlich die Umwandlung dieser „Schulen" in Fakultäten und ihre Vereinigung mit der schon existierenden philosophischen Fakultät bedeuten (die medizinische Fakultät wird erst 1869 eröffnet). In der Moldau ist man vorsichtiger; die Schulverordnung selbst sieht eine Zeitspanne bis zum Erscheinen der ersten Gymnasialabsolventen vor, so daß die juristischen und philosophischen Fakultäten erst 1855 zu arbeiten beginnen. Eine medizinische Fakultät richtet man in Jassy erst später (1879) ein. Was die Theologie betrifft, wird in Jassy eine Fakultät zwischen 1860 und 1864 funktionieren, von diesem Jahr an bleibt eine einzige Fakultät in Bukarest bestehen. Nach der Vereinigung der Fürstentümer im Jahre 1859 wird durch das Schulgesetz vom 25. November 1864 ein organisch artikuliertes System geschaffen, in dem die Universitäten nach dem Bukarester Typus einheitlich organisiert werden, d. h. mit besonderen naturwissenschaftlichen und philosophischen Fakultäten. Einen bedeutenden Platz im Schulcurriculum der fünfziger Jahre erhält die Fächergruppe der modernen Fremdsprachen. Von diesen sichern sich zu dieser Zeit das Französische und das Deutsche einen festen Platz, der ihnen auch später einen Vorrang als Fremdsprachen im Mittelschulunterricht geben wird. Auch in dieser Hinsicht beobachten wir einen Kontinuitätsprozeß im Vergleich zu den vorigen Institutionen; denn man lernte das Französische, wahlweise auch das Deutsche, in den höheren Jahrgängen der Akademien von Bukarest und Jassy schon seit den dreißiger Jahren. Das Französische war so verbreitet, daß man in der Zeit, als die Vorlesungen in rumänischer Sprache von den Regierungen als gefährlich für die „öffentliche Ordnung" betrachtet wurden, daran dachte, die Akademien durch Kollegien mit Französisch als Lehrsprache zu ersetzen. So wandte sich der Fürst Gheorghe Bibescu an den französischen Unterrichtsminister de Salvandy mit der Bitte, ihm Pariser Lehrer für ein Bukarester Kollegium zu empfehlen 12 ). Außer dem Französischen und dem Deutschen wurden zeitweise und fakultativ auch andere Fremdsprachen gelehrt, darunter das Russische, das Italieni" ) Ebenda, S. 16. i 2 ) P. Körnbach: Studien über französische und daco-romanische Sprache und Literatur. Nebst einem Anhange, enthaltend historische, statistische, geo- und ethnographische Skizzen über die Moldau. Wien 1850. S. 154.
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sehe und das Neugriechische (die letzten zwei besonders in den Häfen Gala^i und Bräila, da sie als „Hafensprachen" betrachtet wurden). Die Kenntnis der modernen Fremdsprachen entsprach offenbar einem sozialen Interesse, das natürlicherweise bei einer kleinen Nation, deren Sprache sich einer begrenzten Zirkulation erfreute, größer war, so groß, daß es für einen Ausländer den Anschein eines Kosmopolitismus annahm. Ein Österreicher, der eine Zeitlang als Privatlehrer in Jassy tätig war, glaubt behaupten zu können, daß das Französische zusammen mit dem Rumänischen die Muttersprache der Moldauer bilde, „die man schon mit der Muttermilch einsaugt" 13 ). Er spricht sogar von einer „Gallomanie" der Moldauer, die allerdings seiner Meinung nach durch die Sprachenverwandtschaft gerechtfertigt sei, zum Unterschiede von anderen Gallomanien, wie ζ. B. jener der Österreicherl 14 ) Das Französische bildet zumeist auch die Lehrsprache in den zahlreichen Privatschulen und Pensionaten, die in Bukarest, Jassy und vielen anderen Städten eingerichtet waren und die Zöglinge beider Geschlechter der begüterten Familien aufnahmen. Auch in einer evangelisch-konfessionellen Privatschule, wie in dem von den Diakonissen-Schwestern 1858 unter dem Patronat der Bukarester evangelischen Gemeinde und des preußischen Konsuls eröffneten „Lehrhaus", wird französisch vorgetragen, wie uns die erste Vorsteherin dieser Schule in ihren Erinnerungen erzählt 15 ). Es gab selbstverständlich auch Privatschulen deutscher Sprache, teilweise konfessionelle katholischer Prägung. Von den Ausländern, die als Lehrer ins Land berufen wurden oder aus eigener Initiative kamen, bleiben viele namentlich in der Geschichte der rumänischen Kultur durch ihre positive Leistung bekannt; manche erweiterten ihren Tätigkeitskreis durch Ausarbeitung oder Übersetzung von Schulbüchern, auch durch Werke, in denen sie das Ausland mit den sozial-politischen und kulturellen Fragen des Rumänentums bekanntmachten. Ein Beispiel dafür ist der Franzose Jean A. Vaillant, der in den dreißiger Jahren Professor und Direktor der Bukarester Akademie war, später dann Privatschulen gründete und noch 1862 öffentliche Vorträge in Bukarest hielt. Vaillant veröffentlichte zahlreiche Schulbücher und Wörterbücher und verfaßte mehrere Arbeiten 13 ) Ebenda, S. 152 ff.: „Allein, wenn wir bedenken, daß die Moldauer schon durch ihre Sprache mit den Völkern romanischer Zunge anverwandt sind; wenn man ferner eine Parallele zwischen der Moldau und den anderen gebildeten Staaten zieht (nehmen wir ζ. B. Österreich, wo das Volk sogar lieber Schani (Jean) als Hans oder Johann, und Schorschl (Georgefs]) als Georg oder Jörgel sagt): so kann man ihnen diese Vorliebe für das Franzosentum nicht so sehr verargen." 14 ) L'Enseignement public en Roumanie. Publication du Ministere de l'instruction publique et des cultes. Bukarest 1900, S. 190. 15) Th. Trinks: Lebensführung einer deutschen Lehrerin. Erinnerungen an Deutschland, England, Frankreich und Rumänien. Eisenach 1892. S. 108—140.
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über Rumänien 16 ). Nach 1870 fand er einen verdienten Nachfolger in Frederic Dame (1840—1907), der als Schullehrer, Überset2er und Publizist tätig war und das erste rumänisch-französische Wörterbuch nach modernen lexikographischen Prinzipien verfaßte 17 ). Auf die Maßnahmen zur Schulgestaltung wirken natürlicherweise die Professoren und Lehrer ein, die im Ausland studiert haben und die die Erfahrungen des Schulsystems des betreffenden Landes mitbringen. Darüber hinaus aber werden Fachleute entsandt, mit der Aufgabe, die Schulen im Ausland zu studieren und Informationen über ihre Organisation und Funktionsweise zu sammeln. Eine solche Mission erhält 1851 der Jassyer A. Tiriachiu für das Studium der preußischen Schulen 18 ). Vier Jahre später fährt Α. T. Laurian, der Generalinspektor der moldauischen Schulen, mit einem ähnlichen Auftrag ins Ausland 19 ). Ihre Erfahrungen und Vorschläge sind leider verlorengegangen oder vielleicht in Archiven vorhanden, die noch nicht untersucht werden konnten. Eine komplette Dokumentation haben wir dagegen vom Bukarester Schulrat Gheorghe Costaforu, der seine Jurastudien in Paris absolvierte und der dann 1864 der erste Rektor der Bukarester Universität werden sollte. Costaforu wurde 1858 beauftragt, eine Studienreise in „einige der fortgeschrittensten Staaten Europas" zu unternehmen. Er besuchte Belgien, Preußen, Österreich, die Schweiz, Frankreich und Italien und verfaßte darüber einen Bericht, der die hervorragende Beobachtungsgabe des Verfassers bezeugt und der objektiv die Möglichkeiten einschätzt, für sein Land von der Erfahrung der Schulen im Abendland auf allen Stufen so viel wie möglich zu profitieren20). Costaforu zog — auf Grund zahlreicher Erkenntnisse gelegendich seiner Besuche in Schulen und Fakultäten — kritische Schlüsse bezüglich der Schulorganisation, der Finanzierung, der Studien- und Prüfungsordnung usw. Er nimmt gegen die Zentralisierung der französischen Schulen auf dem Niveau der Verwaltung Stellung („faktisch ersetzt der Präfekt die Universität" 21 ), andererseits scheint 16) J. A. Vaillant: La Romanie ou histoire, langue, littirature, Orthographie, statistique des peuples de la langue d'or, ardialiens, vallaques et moldaves, resumes sous le nom de Romans . . . Bd. I, II, III. Paris 1844; Quelques mots sur la Valachie. Paris 1857 — Poemes de la langue d'or. Traduites par . . . Paris 1851; Originea agricultural si dezvoltarea ei la romäni (Der Ursprung der Landwirtschaft und ihre Entwicklung bei den Rumänen). Bucuresti 1868. 17) F. Dame: Nouveau dictionnaire roumain-frangais. 4 Bde. Bucuresti 1893—1895. 1 8 ) Arhivele Statului Bucuresti (Staatsarchiv in Bukarest). Actele Μ. I. P. Moldova. Dosar 857/1851. 19) Urechiä: Istoria scoalelor, S. 107. 20) G. Costa-Foru: Studii asupra instruc^iunii publice in unele din statele cele mai inaintate ale Europei (Studien über das öffentliche Schulwesen in einigen der fortschrittlichsten Staaten Europas). Bucuresti 1860. 2 1 ) Ebenda, S. 299.
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es ihm, daß im deutschen Universitätssystem der Professor zu sehr von den Kolleggeldern der Studenten abhängig sei: „Die richtige Mischung (unter den Professoren) soll die der Wissenschaft, des Genies, des Talents sein . . ." „Es ist schädlich, wenn ein großer Geometer aus Geldverlegenheit zu der Notwendigkeit herabsinkt, (seinen Studenten) Stunden in der elementaren Mathematik zu geben". 22 ) Vergleichend zieht er das deutsche Universitätssystem vor, sowohl wegen des Aufbaus der philosophischen Fakultät, die im humanistischen Geist „das große Problem einer Verbindung der Humaniora (literelor vechi) mit den physischen und mathematischen Wissenschaften" löst 23 ), wie auch wegen der Modalität einer Professorenberufung durch die Fakultäten. Obwohl Costaforu auf dem Niveau der Mittelschule positiv die Diversifikation der deutschen Schule und die Existenz von Schulen mit praktischer Zielsetzung einschätzt, beschäftigt er sich weniger mit dem technischen Hochschulunterricht. Die Empfehlungen von Costaforu bleiben allgemein, sie gehen nicht auf Einzelvorschläge ein; er will den kritischen Geist erwecken und eine servile Nachahmung vermeiden. „Die Wissenschaft und das Licht der Erfahrung zivilisierter Völker werden uns für die verlorene Zeit entschädigen, wenn wir wahrlich wissen werden, sie zu benützen." 24 ) Costaforus Bericht ist für die Periode, die uns beschäftigt, vom rumänischen Standpunkt die vollständige analytische Studie über das Schulwesen des Auslandes. Seine Schlußfolgerungen wurden wie erwartet zur Klarstellung vieler Organisations- und Inhaltsaspekte des Unterrichts herangezogen, weil sie gerade in dem Moment erschienen, da die Grundlagen des modernen Schulsystems in Rumänien geschaffen wurden. Sein inniges Plädoyer für das Schulungsrecht des Kindes, aus dem er „ein Grundprinzip" 25 ) machte, hat sich wohl auf das Schulgesetz von 1864 ausgewirkt, das zu den wenigen dieser Zeit zählt, die Schulpflicht und die Schulgeldfreiheit vorsahen 26 ). Nach dem von Costaforu empfohlenen französischen Modell gründet man 1863 eine „scoalä normalä superioarä" (fr.: ecole normale superieure) mit zwei Sektionen, einer literarischen und einer naturwissenschaftlichen, zur Ausbildung von Mittelschullehrern (profesori secundari). Das Gesetz von 1864, an dessen Vorbereitung übrigens auch Costaforu tätig war, verweist diese Aufgabe — wohl aus Spargründen — an die Universitätsfakultäten. Auch spätere Versuche, die pädagogische Ausbildung von der universitätswissenschaftlichen zu trennen, scheiterten. Bis zuletzt entschied man sich für die Formel des pädagogischen 22 )
Ebenda, S. 227. Ebenda, S. 200. 24) Ebenda, S. 483. 25) Ebenda, S. 484. 26) C. C. Giurescu u. a. (Hrsg.), Istoria invä^ämintului din Romania. Compendiu (Geschichte des Unterrichtswesens Rumäniens. Kompendium). Bucuresti 1971. S. 118—119. 23 )
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Seminars, die sich lebensfähig und für ein kleineres Land entsprechend erwiesen hat. Neben den Bemühungen der jüngeren und älteren Spezialisten, die meistens im Ausland studiert hatten, trug eine Reihe von ausländischen Persönlichkeiten zur Entwicklung der rumänischen Hochschule und der Wissenschaft bei. Sie wurden aus verschiedenen Gründen ins Land gerufen. Eine solche Rolle spielte auf dem Gebiet der medizinischen Wissenschaften der Franzose Carol Davila (1832—1884), der 1853 zum Chefarzt der walachischen Armee ernannt wurde. Davila hatte an der Ecole de medicine et de pharmacie von Angers studiert, konnte aber aus materiellen Gründen nicht promovieren, kam dann nach Bukarest, wo er sein ganzes Leben verbringen und die Organisation der Sanitätsdienste leiten sollte. Große Verdienste erwarb sich Davila bei der Organisation des medizinischen Hochschulwesens. Bei seiner Ankunft existierten in Bukarest zwei Feldscherschulen, von denen eine 1842 von N. Kretzulescu, Doktor der Medizin in Paris (1839), gegründet worden war. Durch Davilas Bemühungen wurde 1857 die „Nationalschule der Medizin und Pharmazie" eröffnet, die nach dem französischen Modell die vierjährige allgemeine, präklinische Vorbereitung der zukünftigen Ärzte durchzuführen hatte. Zwei Jahre später organisierte Davila eine ähnliche Schule in Jassy. 27 ) Dank seiner guten Beziehungen zur französischen Regierung gelang es Davila, die Genehmigung von Napoleon III. zu erwirken, daß die Absolventen der Bukarester Medizinschule ihre Doktorstudien an der Medizinischen Fakultät in Paris fortsetzen durften. Gleich nachher gab Viktor Emanuel eine analoge Genehmigung für Turin. Diese Akte wirkten sich entscheidend auf die Orientierung der rumänischen Studenten nach Frankreich und Italien und auch auf die spätere Entwicklung der rumänischen Wissenschaft aus. 1869 wird die Schule für Medizin und Pharmazie in eine Fakultät umgewandelt und wird vom Kriegsministerium in die Bukarester Universität übertragen. Ein Davila-Denkmal schmückt heute das Hauptgebäude des medizinischen Instituts in Bukarest, als dankbare Anerkennung seiner großen Verdienste um die rumänische medizinische Wissenschaft. Prof. Bologa, ein bekannter Forscher auf dem Gebiet der Geschichte der Medizin, charakterisiert Davilas Tätigkeit folgendermaßen: „Die Zeit Davilas ist die Zeit der Organisation des rumänischen Schulwesens und des französischen Einflusses. Und der Einfluß des ,genius loci' bewirkte es, daß dieser Mann aus der Fremde ganz in seiner neuen Heimat aufging, sich ihre Belange zu eigen machte und in unwandelbarer Treue förderte" 28 ). 27) V. Gomoiu: Din istoria medicinii si a invä^ämintului medical in Romania (inainte de 1870) (Aus der Geschichte der Medizin und des medizinischen Schulwesens Rumäniens [vor 1870]). Bucureati 1923. S. 777. 2β) V. L. Bologa: Deutsche Einflüsse auf die Entwicklung der rumänischen Medizin. In: Südostdeutsche Forschungen. I. München 1936. S. 124.
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Unter ähnlichen Umständen kam 1851 der Ingenieur Leon Louis Chretien Lalanne (1811—1892) nach Rumänien. Lalanne studierte an der Pariser Ecole polytechnique und Ecole nationale des ponts et des chaussees, verfaßte mehrere Arbeiten auf dem Gebiet der angewandten Mathematik und wurde als Eisenbahnkonstrukteur in Frankreich, der Schweiz und in Spanien bekannt. Später wurde er Mitglied des Institut de France. Lalanne wurde 1852 nach Bukarest berufen und mit der Aufgabe betraut, das rumänische technische Korps zu organisieren. Er wurde bald darauf zum Direktor der neugegründeten Ingenieurschule ernannt und erwies sich als hervorragender Organisator und Lehrer 29 ). Er blieb nur bis 1854 im Lande, kam aber 1855 und 1880 wieder, und bleibt in der Geschichte der technischen Errungenschaften als Erbauer der für die damalige Zeit schwierigen und malerischen Straße in den Südkarpaten zwischen Cimpina und Sinaia bekannt. Die von ihm gegründete Ingenieurschule wird 1867 in eine „Schule für Straßen, Verkehrswege und Bergbau" umgewandelt, die den Kern des Bukarester Polytechnikums bilden sollte. Eine andere Persönlichkeit, deren Tätigkeit sich auf die Entwicklung der rumänischen Naturwissenschaften auswirkt, ist der 1800 in Aschaffenburg geborene Arzt Jakob Czihak. Sein Sohn Alexandru Czihak ist neben Β. P. Hasdeu und Alexandru Lambrior ein Hauptvertreter der rumänischen Sprachwissenschaft in ihren Anfängen; er erhält 1879 den Volney-Preis des Institut de France für den zweiten Band seines „Dictionnaire d'ethymologie dacoromaine". Jakob Czihak, der 1824 in Heidelberg promovierte, kommt 1832 nach Jassy als Chefarzt der russischen Besatzungsarmee, wird später Professor der Naturwissenschaften an der Jassyer Akademie. Er ist der Initiator und Begründer der Jassyer „Medizinisch-naturalistischen Gesellschaft", die er öfters im Ausland vertritt (so 1838 in Freiburg). Die Gesellschaft entfaltet im Laufe der Zeit eine rege Tätigkeit und bildet mehrere Jahrzehnte hindurch für Jassy das Zentrum wissenschaftlicher Beschäftigung. Czihak gelang es durch seine Verbindungen, bedeutende europäische Wissenschafter der Zeit als korrespondierende Mitglieder der Jassyer Gesellschaft zu gewinnen, so um 1835 Alexander von Humboldt, Hufeland, Berzelius, Radwansky 30 ). Gegen Ende des Jahrhunderts begegnet man unter diesen Mitgliedern Ernst Ludwig und Nicolae Teclu aus Wien, Ernst Haeckel aus Jena, A. Bertillon und Paul Ducor aus Paris, Leon Poincare aus Nancy, Sattler aus Prag u. a. m. 29) G. St. Andonie: Leon Lalanne et l'enseignement mathematique et technique en Roumanie. In: XII e Congres International d'histoire des sciences. Actes. Paris 1968. S. 5—9. 30 ) Vgl. Ν. A. Bogdan: Societatea medico-naturalistä si Muzeul istorico-natural din Iasi. 1830—1919 (Die medizinisch-naturwissenschaftliche Gesellschaft und das Naturgeschichtliche Museum in Jassy). Jassy 1919; /. Livescu: Rolul societätilor stiintifice din Moldova in dezvoltarea stiintelor din $ara noasträ (Die Rolle der wissenschaftlichen Gesellschaften in der Moldau in der Entwicklung der Wissenschaften in unserem Lande). In: Studii si cercetäri stiintifice 1, 1950, 1. S. 1—25.
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Von Czihaks Werken nennen wir die „Istorie naturalä" aus dem Jahre 1838, das erste Lehrbuch der Naturwissenschaften in rumänischer Sprache, mit interessanten Versuchen, eine geeignete Terminologie zu schaffen, sowie den Band ethnographischen Charakters „Heil- und Nahrungsmittel, Nutz- und Hausgeräte, welche die Ostromanen, Moldauer und Walachen aus dem Pflanzenreiche gewinnen" (Aschaffenburg 1863). Zu einer jüngeren Generation gehören der Arzt Jakob Felix, der in Wien 1858 promovierte, später Professor der Bukarester Universität und international als bedeutender Gelehrter bekannt wurde, oder der Venezianer Giovanni Frollo, Dr. juris aus Padua, der erste Professor der italienischen Sprache und Literatur an der Bukarester Universität. Aus Österreich und Deutschland stammt auch die erste Musikergeneration, die zu der Organisation des Musikunterrichts an den Konservatorien in Jassy (1860) und Bukarest (1863) beitragen. Nennen wir Francisc Seraphim Caudella (geb. 1812 in Wien, gest. 1867 in Jassy), den ersten Direktor des Jassyer Konservatoriums, den Bukarester Professor Johann Andreas Wachmann (geb. 1807 in Pest, gest. 1863 in Bukarest), der in seinen Kompositionen rumänische Volksmotive verwertet, und den bekannten Geiger Ludwig Wiest (geb. 1819 in Wien, gest. 1899 in Bukarest), Professor am Bukarester Konservatorium von dessen Gründung an. *
Das öffentliche Interesse für die Heranbildung einer nationalen rumänischen Intelligenz spiegelt sich auch in den Maßnahmen wider, seit den fünfziger Jahren junge Mittelschulabsolventen zu weiteren Studien ins Ausland zu schicken. Das moldauische „Reglement" enthält diesbezüglich ausdrückliche Vorhaben: „Für die Sekundärschule werden gelehrte Männer berufen und gut vorbereitete junge Leute auf Staatskosten an ausländische Universitäten entsandt." 31 ) Aus der Moldau besitzen wir auch nähere Angaben über solche Stipendiaten. So befanden sich 1850 auf Studien im Ausland neun Studenten, davon vier in Paris, je einer in Berlin, Potsdam, Wien, München und einer in Rußland 32 ). 1862 dagegen findet man im Ausland 31 Staatsstipendiaten aus der Moldau, davon sind 16 in Paris, 4 in Turin, 4 in Metz, 2 in Aschaffenburg, je einer in München, Karlsruhe, Halle, Berlin, Bonn. Für die Walachei wissen wir aus derselben Zeit, daß 1854 ein Wettbewerb für vier Stipendien nach Disziplinen ausgeschrieben wurde, ebenso 185 5 33 ). Eine genaue Kenntnis der Verteilung der rumänischen Auslandsstudenten auf Länder und Universitäten setzt nähere Studien in den privaten und institutionellen Archiven voraus, eine Arbeit, die noch nicht geleistet worden ist. Für einige Gebiete, wie die Medizin oder die Technik, wo die Eintragung 31)
Urechiä, Istorie scoalelor, S. 29. 32) Ebenda, S. 34. 33) Ebenda, S. 85 ff.
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der im Lande existierenden Spezialisten rigoroser war, kann man für diese Zeit eine klare Orientierung auf bestimmte Universitätszentren herauslesen. Von 75 Medizindoktoraten, die zwischen 1840 und 1870 in der Walachei erreicht worden sind, stammen 44 aus Paris, je zehn aus Berlin und Turin, 5 aus Wien, 2 aus München, je eines aus Königsberg, Prag, Greifswald, Straßburg 34 ). Die Polarisation auf Paris und Turin erscheint noch klarer, wenn man nur das Jahrzehnt 1860/1870 in Betracht zieht: von den 52 Medizinthesen, die in diesem Zeitraum von rumänischen Doktoranden verteidigt wurden, fallen 36 auf Paris, zehn auf Turin, vier auf Berlin, je eine auf Greifswald und Straßburg. Diese Präferenz der Kandidaten für Paris und Turin ist bestimmt mit der Anerkennung der Studien in Bukarest durch die französischen und italienischen Behörden in Verbindung zu setzen. Eine ähnliche Vorliebe für Frankreich zeigen auch die Spezialisten auf dem Gebiet der technischen Wissenschaften. Von 39 Ingenieuren, die zwischen 1864 und 1881 identifiziert werden konnten, stammen 31 von Pariser Hochschulen (21 von der Ecole centrale des arts et manufactures, 10 von der Ecole nationale des ponts et des chaussees). Von den übrigen acht hatten drei am Wiener Polytechnikum studiert, je zwei in Belgien und der Schweiz, einer in Charlottenburg 35 ). Der letzte aber, der Ingenieur Anghel Saligny, wird gegen Ende des Jahrhunderts international berühmt als glanzvoller Vertreter der rumänischen Technik: er ist der Konstrukteur der Donau-Brücke bei Cernavoda. Unterschiedlich war die Lage in Siebenbürgen, wo die große Mehrzahl der Studierenden nach Wien kam. „Von den 1546 jungen Leuten, die 1851 an den österreichischen Universitäten studierten, waren nur 62 Rumänen, und zwar 57 davon in Wien, 2 in Prag, 2 in Pest und einer an der Rechtsakademie in Sibiu. Die meisten von ihnen studierten Medizin und Philosophie." 36 ) Man sieht, daß im Falle Siebenbürgen Wien seinen vorrangigen Platz behält, den es auch für die anderen rumänischen Länder Ende des 18. Jahrhunderts besaß 37 ). Es ist natürlich, daß die Alten Herren für ihre Alma mater die dankbarsten Erinnerungen pflegten, und damit auch für die Stadt und das Land, wo sie ihre Studentenjahre verbracht haben. Man kennt die bewegten Worte, mit denen der Historiker und Politiker Mihail Kogälniceanu der Berliner Universität 34)
Gomoiu: Din istoria medicinii . . S. 444 ff. I. Ionescu: Istoricul Invä^ämintului ingineriei in Romania pinä la infiin^area scoalelor politehnice (Geschichte des Ingenieur-Unterrichtswesens in Rumänien bis Zur Gründung der polytechnischen Schulen). In: Aniversarea a 75 ani de invä^ämint tehnic in Romania. . . Bucuresti 1932. S. 181; Vgl. auch S. 210: „Die Pariser Zentralschule (der Künste und Manufakturen) gab in ihrer ersten Jahrhunderthälfte (1829—1879) 74 rumänische Ingenieure, und die Nancyer (Forstwirtschafts-)Schule gab zwischen 1885 und 1927 89 rumänische Absolventen". 36) Giurescu: Istoria invä^ämintului . .., S. 121. 3') J. Livescu: Die rumänische Kultur und der Josefinismus. In: Analele Universitä^ii Bucuresti 14. 1975. S. 61—73. 35)
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gedenkt: „Der Berliner Universität, meiner zweiten Mutter . . . verdanke ich die Liebe zum rumänischen Vaterland und den liberalen Geist, der mich in allen Taten meines Lebens beseelt hat." 38 ) In dem Maße, als sich solche Persönlichkeiten auch politisch betätigen, können sowohl Sympathien politischer Natur als auch Ressentiments zum Vorschein kommen. So erklärt man beispielsweise Bismarcks Antipathien einigen rumänischen Politikern gegenüber: „Man vergaß in Berlin nie, daß er (Ion C. Brätianu) ein alter Liberaler mit französischen Sympathien war, und Bismarck nahm ihm sogar übel, daß er seinen Sohn nach Aix-en-Provence zum Studium schickte. Größeres Vertrauen brachte man in Berlin Dimitrie Stürza entgegen, und später vor allem Petre P. Carp; beide hatten in Deutschland studiert." 39 ) *
Das öffentliche Interesse für die Entwicklung des Schulwesens und der Wissenschaft trat auch in den zahlreichen Vereinen und Gesellschaften zutage, die zwischen 1850 und 1870 entstanden. Viele davon setzten im Lande eine Tätigkeit fort, die im Ausland während des Universitätsstudiums angefangen worden war. Es wurden auf diese Weise soziale und politische Ideen der Jugendzeit auf die kulturelle und wissenschaftliche Ebene übertragen. Eine solche Gesellschaft, die in Paris 1839 mit dem Ziel gegründet wurde, „das Wissen zu verbreiten" 40 ), entwickelte sich 1866 als gleichnamige „Gesellschaft zur Erziehung (invätätura) des rumänischen Volkes", die sich vornahm, „sich mit allen möglichen Mitteln" zu bemühen, „daß die allgemeine, schulgeldfreie und obligatorische Erziehung in Rumänien Wirklichkeit wird". Die Gesellschaft eröffnete Niederlassungen in allen Bezirken, gründete zwei Lehrerseminare und unterhielt mit ihren Mitteln zahlreiche Erwachsenenschulen für Bauern, Arbeiter und Handwerker. 1846 entstand in Paris „unter dem Patronat von Herrn de Lamartine" die „Gesellschaft Rumänischer Studenten", die die Fortsetzung der Studien an der Ecole normale superieure unterstützt41). In Jassy setzte die „Medizinisch-naturwissenschaftliche Gesellschaft" ihre Tätig3S) M. Kogälniceanu: Discurs la Jubileul de 25 ani al Academiei Romane (Rede anläßlich des 25. Jubiläums der Rumänischen Akademie). In: Opere alese s. a. 1940. S. 270. 39) U. Haustein: Aspekte der deutsch-rumänischen Beziehungen zur Zeit Bismarcks. In: Deutsch-rumänisches Colloquium junger Historiker, Kulturhistoriker und Zeitgeschichtler. München 1974. In: Südosteuropa-Studien . . . hrsg. von Walter Althammer 22. S. 87; In seiner ironischen Weise erzählt M. Kogälniceanu, unter welchen Umständen er selbst von Luneville, wo er 1835 studierte, nach Berlin versetzt wurde: „Die damals in Bukarest und Jassy überaus allmächtigen russischen Konsuln machten dem Fürsten Mihail Stürza ergebenste Vorstellungen über das Entsenden seiner Söhne und einiger anderer Bojarensöhne (zum Studium) nach Frankreich . . . Die französische Erziehung schien dem Kaiser Nikolai I., unserem großen Protektor, zu revolutionär; wir wurden also Ende 1835 von Lundville genommen und nach Berlin geführt." (Vgl. Kogälniceanu: Discurs, S. 270). «0) Anul 1848 in Principatele Romane, S. 11. « ) Ebenda, S. 17.
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keit fort; an ihrer Leitung nahmen in unserem Zeitraum namhafte Gelehrte wie Gr. Cobalcescu, Al. Fätu, P. Poni, C. Bacaloglu teil. Die Pflege und Verbreitung des Wissens setzte sich auch die Gesellschaft „Das Rumänische Athenäum" zum Ziel, die 1860 von dem bekannten Schulmann V. A. Urechiä in Jassy gegründet und 1864 nach Bukarest verlegt wurde; nach eigener Aussage 42 ) fand Urechia das Modell ihres Statuts in einem Madrider „Athenäum". 1861 entstand in Sibiu „Der Transsylvanische Verein für Rumänische Literatur und Kultur des Rumänischen Volkes" (ASTRA), der neben der Schule eine außerordentliche Rolle in der Kultur des Landes spielen sollte. Zu den Gründern zählt man große Gelehrte, wie Timotei Cipariu und George Baritiu; als Mitglieder wurden auch wissenschaftliche und kulturelle Vertreter aus allen rumänischen Ländern gewählt, wie Aron Florian und Ion Maiorescu aus Bukarest, Simion Bärnu^iu aus Jassy, später Al. Odobescu und M. Kogälniceanu. Von Anfang an entfaltete ASTRA ihre Tätigkeit in drei Sektionen: Philologie, Geschichte, Naturwissenschaften; das im Statut vorgesehene Hauptziel blieb aber die Förderung der Wissenschaft und der Kultur: „Den Fortschritt der rumänischen Literatur und der Kultur des rumänischen Volkes zu betreiben durch Studium, Ausarbeitung und Herausgabe von Werken, durch Prämien und Stipendien für die einzelnen Fächer der Wissenschaft, Kunst und anderes dergleichen" 43 ). Von den vielen anderen in dieser Zeit entstandenen Vereinigungen weisen wir noch auf einige mit naturwissenschafdichem und medizinischem Charakter hin. In Sibiu bestand schon 1848 eine „Transylvanische Gesellschaft für Naturwissenschaften" 44 ). Von den Bukarestern zitieren wir die von N. Kretzulescu 1857 gegründete „Medizinisch-Wissenschafdiche Gesellschaft"45) und die „Rumänische Gesellschaft der Wissenschaften", die 1861 gegründet wurde und den Physiker E. Bacaloglu zu ihren Förderern zählte. Letztere setzte sich zum Ziel, „die Erkenntnisse und Bemühungen mehrerer Spezialisten zu vereinigen, um zur Kultur, zum Fortschritt und zur Verbreitung der Wissenschaften in unserem Lande beizutragen" 46 ). Wenn das Hauptziel der bis jetzt erwähnten Gesellschaften und Vereine die Aufklärung und die Popularisierung des Wissens war, entstand mit der „Literarischen Rumänischen Gesellschaft" die erste Organisation mit einer klar präzisierten wissenschafdichen Aufgabe. Sie wurde am 1. April 1866 durch Stastadekret erlassen; ihre erste Gründungssession fand im August 1867 statt, 4a)
Urechiä, Istoria scoalelor, S. 238. Vgl. für ASTRA und im allgemeinen für das Kulturleben in Siebenbürgen und der Bukowina V. Curticäpeanu: Die rumänische Kulturbewegung in der österreichisch-ungarischen Monarchie. Bukarest 1966 (= Bibliotheca Historica Romaniae. Studien 10). **) Gomoiu, Din istoria medicinii, S. 552. «5) Ebenda, S. 553. « ) Ebenda, S. 627. 43 )
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und die bei dieser Gelegenheit angenommene Umbenennung entsprach in größerem Maße ihrem vorgeplanten wissenschaftlichen Gehalt: „Die Rumänische Akademische Gesellschaft." Wir können sie als die Krönung zahlreicher Versuche betrachten, die wissenschaftlichen Kräfte des Landes in einem einheitlichen Organ zu vereinen 47 ). Obwohl ihr erklärter Hauptzweck linguistischer Natur war (die Festlegung einer einheitlichen Orthographie der rumänischen Sprache, die Herausgabe einer Grammatik und eines Wörterbuches des Rumänischen), entfaltete sich die Akademische Gesellschaft in drei Sektionen, einer literarisch-philologischen, einer für Geschichte und Archäologie und einer dritten für Naturwissenschaften 48 ). Zu gleicher Zeit und als Ausdruck der Einheit des rumänischen Volkes wurden repräsentative Persönlichkeiten der Wissenschaft aus allen von Rumänen bewohnten Provinzen als Mitglieder der Gesellschaft gewählt. Die Akademische Gesellschaft erweiterte bald ihr Tätigkeitsfeld und behauptete sich schon in den ersten Jahren im wissenschaftlichen Leben des Landes nicht nur auf dem Gebiet der Philologie, wo sie zur Bildung einer einheitlichen Literatursprache entscheidend beitrug, sondern auch auf anderen wissenschaftlichen Gebieten. 1879 in die Rumänische Akademie umgewandelt, bildete sie in der Kultur- und Wissenschaftsgeschichte Rumäniens das repräsentative Forum für die Schaffung und Organisation der theoretischen und angewandten wissenschaftlichen Forschung. 47 ) Schon 1856 ergreift der Bukarester Schulrat die Initiative zur Schaffung eines Wörterbuches und einer Grammatik der rumänischen Sprache, indem er einen Preis stiftet und die Absicht verkündet, .Aussagen' (ziceri) von den Leuten zu sammeln. Vgl. Urechiä: Istoria scoalelor, S. 220/221. 48 ) Diese dritte Sektion beginnt allerdings schon 1872 ihre Tätigkeit mit der Rezeptionsrede des Botanikers Anastasie Fätu „Versuche über die Entwicklung der Naturwissenschaften in Rumänien" und mit der „Dissertation" von George Barfyiu über „Darwins Theorien" (29. August 1872).
NICOLAS CONSTANTIN FOTINO
DIE ENTSTEHUNG DER R U M Ä N I S C H E N R E C H T S S C H U L E Die Beziehung zwischen der Entwicklung des positiven Rechts und der Rechtswissenschaft einerseits und der Entwicklung des Nationalstaates andererseits ist selten so aufsehenerregend und folgenreich, wie es für die Geschichte Rumäniens im 19. Jahrhundert und im ersten Viertel unseres Jahrhunderts der Fall ist. Bei näherer Betrachtung dieser Beziehung im Hinblick auf das vorliegende Expose gelangt man zu zwei wesentlichen Feststellungen : 1. Die Väter des modernen rumänischen Staates haben auch das positive Recht und die Rechtswissenschaft dieses Landes geschaffen, und zwar nicht nur als Generation, sondern auch als Einzelpersonen; und das kommt uns umso bedeutender vor. 2. Die Spitzenleistungen politischen und juridischen Denkens in Rumänien sind das glückliche Ergebnis des Zusammenwirkens nationaler Traditionen mit den großen europäischen Ideen dieser Zeit. Das bedeutet nicht nur, daß einige rumänische Juristen zugleich Politiker waren, sondern daß die meisten von ihnen zu einer bestimmten Zeit an den berühmten Universitäten des Alten Kontinents Studien betrieben hatten, die sich für die Geschichte ihres Landes als vorteilhaft erwiesen. Dazu kommt noch, daß die Generation des Jahres 1848 in den Donaufürstentümern die einzige Europas war, die die politische Macht erringen und ihr revolutionäres Programm in die Tat umsetzen konnte. Die rumänischen Revolutionäre von 1848 sind sowohl die Baumeister der Vereinigung der Fürstentümer — die im Jahr 1859 verwirklicht wurde — als auch die geistigen Väter der Unabhängigkeit, für die sie im Jahre 1877 kämpften. Trotz aller Einwände, denen sich die Reformer gegenüber sahen — heutzutage ebenso wie in der Vergangenheit —, bleiben die Agrar-, Schul- und Rechtsreformen dennoch bedeutende Leistungen. Durch sie erscheint das innenpolitische Programm dieser Generation beinahe dem der Außenpolitik ebenbürtig zu sein. Es überrascht daher wenig, daß die Führer im zaristischen Rußland die rumänische Regierung am Vorabend des Krieges von 1877 das „Rote Kabinett
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von Bukarest" nannten. Der Besuch westlicher Universitäten seitens der begüterten Jugend und sogar in gewissen Fällen seitens jugendlicher Stipendiaten aus bedürftiger Schicht läßt sich nicht nur durch die unzulänglichen Ausbildungsmöglichkeiten im höheren Schulwesen der Fürstentümer erklären; man kann darin nicht eine bloße Modeerscheinung sehen, wie man es manchmal fälschlicherweise behauptet hat. In gleicher Weise kann man nicht so tun — wie es schon zu gewissen Anlässen geschah —, als ob sie blinde Nachahmung ausländischer Vorbilder zur wichtigsten Folge gehabt habe. Unserer Meinung nach findet dieses Phänomen, das von beträchtlicher Intensität war, eine vorwiegend politische Erklärung: Es ist das Resultat eines nach bestem Wissen unternommenen Schrittes nach vorn und Ausdruck einer Geisteshaltung, die in erster Linie in den wohlhabenden Schichten der Bojaren und in der Großbourgeoisie verbreitet war, wo sie ihren Ausgang nahm und von allen Klassen und Schichten der rumänischen Gesellschaft übernommen wurde. Der Akt der Unterweisung wird zum Akt politischen Andersdenkens. Es ist ein Protest gegen die Stellung der Fürstentümer in der internationalen Staatenkonstellation, beinahe eine offene Revolte gegen die Hemmnisse, die nach innen wie nach außen den Weg zum Fortschritt verlegten. Politische und rechtliche Institutionen, Mode, Sprache der Fürstenkanzleien, Alphabet und die täglichen Aktivitäten der wohlhabenden Klassen änderten sich unvorhergesehen schnell. All diese Gegebenheiten kommen nicht nur in der Übereinstimmung mit dem türkisch-fanariotischen Jahrhundert, das im übrigen für die Fürstentümer unbestreitbare politische Folgen brachte, sondern im insgesamt legitimen Wunsch nach Erneuerung zum Ausdruck. Sie kommen auch — und vor allem — in der erwachenden, systematischen Bekräftigung ihrer Zugehörigkeit zu einer höheren Kultur, im Aufruf zur Solidarität mit einer technisch-wissenschaftlich und sozial-fortschrittlichen Zivilisation zur Geltung. Schon seit einiger Zeit waren die Kraftlinien der politischen, wirtschaftlichen und geistigen Felder vom Westen zum Osten hin gerichtet, so daß der Kampf für die nationale Wiedergeburt — wobei man sich den Lauf der Geschichte zunutze zu machen hat — gründlich vorbereitet werden mußte, und zwar nicht nur durch spezifische Kenntnisse, sondern vielmehr durch die Aneignung einer fortgeschrittenen Ideologie, die der Westen bereits entwickelt hatte. Es ist allgemein bekannt, daß das Rechtswesen der Moldau und der Walachei durch die Jahrhunderte verkümmerte, nämlich von der vollständigen Souveränität zu Beginn bis zur weitgehenden Autonomie im Rahmen des ottomanischen Reiches. Als die Frage der Fürstentümer zum internationalen Problem wurde, war eine Generation von Politikern, Diplomaten und Juristen unbedingt erforderlich, die in der Lage war, nach Form und Inhalt rechtsgültige Verhandlungen mit den zuständigen Behörden der Großmächte aufzunehmen.
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Ein erster Schritt war durch die Entwicklung und wissenschaftliche Untermauerung der Theorie vom lateinischen Ursprung des rumänischen Volkes getan. Von der Idee einer gemeinsamen Herkunft leitet sich unmittelbar die Vorstellung der Einheit von Sprache und Blut ab; sie wurde ebenso wie die Forderung nach Unabhängigkeit zur vorrangigen politischen These erhoben. Zwar war das Gefühl eines gemeinsamen Ursprungs, der Kontinuität und der Einheit von romanischer Sprache und rumänischem Volk nie völlig geschwunden. Doch zeichnet sich gerade in dieser Epoche zum ersten Mal die Notwendigkeit und Möglichkeit ab, diesen Ideen wissenschaftliche Grundlagen zu verschaffen, mit der Absicht, ihnen internationale Anerkennung und Bestätigung zu geben. Das Ideal eines lateinischen Ursprungs bot eine Plattform, von der aus man lautstark die Zugehörigkeit zu einer antiken und großen zivilisatorischen Tradition verkünden konnte, eine Zugehörigkeit, die im offensichtlichen Widerspruch zur damaligen nationalen Unterdrückung stand. Daher erschien es angebracht, diesem Zustand auf der Stelle ein Ende zu bereiten. Darüber hinaus rechtfertigte die romanische Herkunft des im Karpaten- und Donauraum lebenden Volkes den Aufruf zur Solidarität, der an die „Brüder" der westlichen Länder Italien, Frankreich und Belgien gerichtet wurde. Ihr Beispiel wird mit der Häufigkeit eines Leitmotivs in der politischen, historischen und juridischen Literatur der Zeit angeführt, wobei die Theorie von der lateinischen Herkunft in all diesen Bereichen schwerwiegende Folgen haben sollte. Hier liegt unserer Meinung nach die ursprüngliche Erklärung für den unwiderstehlichen Reiz, den westliche Universitäten und ganz besonders jene im romanischen Sprachraum ausübten. Unsere Aufgabe ist es nun darzulegen, wie die Entwicklung des Rechtsstudiums, insbesondere im letzten Jahrhundert, im Hinblick auf das nationale Schulwesen ebenso wie auf den Besuch ausländischer Universitäten verlief. Bei dieser Gelegenheit werden wir, soweit der verfügbare Umfang des Beitrags es zuläßt, den so fruchtbaren Dialog zwischen dem rechtlichen und politischen Bereich erhellen, der im Rahmen der Genesis des rumänischen Nationalstaates in der modernen Geschichte geknüpft wurde. Die Anfänge des Hochschulwesens in den rumänischen Ländern sind mit dem Komplex der nationalen Erneuerungsbewegung eng verbunden. Sie zeugen übrigens von einem beständigen Interesse in den Fürstentümern, einen Rechtsunterricht, der auf modernen Grundlagen basiert, zur Entfaltung zu bringen. D I E MOLDAU
Als der fanariotische Prinz Alexander Moruzi im Jahr 1792 an die Reorganisation der ehemaligen „Basilianischen Akademie" von Ia§i schritt — die „Basilianische Akademie" war die vom moldauischen Fürsten Vasile Lupu im Jahre 1640 in Ia§i gegründete Hochschule —, führte er zum ersten Mal in den
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rumänischen Ländern das Studium der Rechtswissenschaften ein und erhob das Lateinische zur Unterrichtssprache1). Nach der Abschaffung des türkischfanariotischen Regimes nahm die Bewegung zugunsten des Rumänischen als Unterrichtssprache an den Hochschulen immer mehr Gestalt an. Am 1. Jänner 1828 forderte man vom regierenden Fürsten der Moldau, im alten Gebäude der Drei Hierarchen, das von griechischen Mönchen belegt war, ein Lehrerseminar und ein „Gymnasium zu gründen, an das in der Folge ein Philosophieund Rechtskurs angegliedert wurde" 2 ). Im Jahre 1830 entschied die Schulverwaltung im Hinblick auf die Notwendigkeit der Verbreitung juristischer Kenntnisse, „einen zweijährigen wissenschaftlichen Privatkurs aus Römischem Recht in rumänischer Sprache für eine bestimmte Anzahl junger Leute aus der Bojarenklasse anzubieten". Es erscheint uns bemerkenswert, daß man zu jener Zeit unter „Römischem Recht" auch „Rumänisches Recht" verstand, wobei man letzteres als Fortentwicklung des ersteren ansah3). Dieser praxisorientierte Kurs wurde dem berühmtesten Juristen des Landes, dem Siebenbürger Christian Flechtenmacher4), anvertraut, der in Wien studiert und sich im Jahre 1811 in der Moldau niedergelassen hatte. Er war vor allem wegen seines wichtigen Beitrages zum Code Callimachi bekannt, der seit dem Jahre 1817 in Kraft war und von dem man kaum zufällig behauptet hat — übrigens unrichtigerweise —, er wäre dann die bloße Übersetzung des österreichischen Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches5). Flechtenmacher eröffnete seinen Kurs in Gegenwart bedeutender Bojaren und des hohen Klerus des Landes mit einer Vorlesung unter dem Titel „Geschichte des rumänischen Rechts oder der rumänischen Rechte" (Istoria dreptului romänesc sau a pravilelor romaneijti), die in der Tat eine auch gleichermaßen im Rechtsbereich bekundete Lobrede des lateinischen Ursprungs seines Volkes war. Die Prüfungen im Sommer 1832 sahen auch „Die Rechtspraxis im Zivilbereich" vor. Andererseits forderte die neue Schulordnung — im Herbst desselben Jahres erstellt — die praktische Kenntnis des moldauischen Bürgerlichen Gesetzbuches6); von den sieben jungen Stipendiaten, die im Jahre 1834 zur Vollendung ihrer Studien dorthin geschickt wurden, wollen wir Anastasie Fätu besonders hervorheben, der zum Rechtsstudium ausgewählt worden war 7 ). x) V. Gomoiu: Istoria invätämintului superior in Romania (Geschichte des höheren Unterrichts in Rumänien). Bucurejti 1940. S. 29. 2) A. D. Xenopol: Memoriu asupra inväjämintului superior in Moldova (Denkschrift über den höheren Unterricht in der Moldau). Ia$i 1885. S. 31. 3 ) S. A. Rädulescu: Pravilistul Flechtenmacher (Der Rechtsgelehrte Flechtenmacher). In: Pagini din istoria dreptului romänesc, hg. von der Academia R. S. Romania. Bucurejti 1970. S. 324; Xenopol, Memoriu, S. 37; Gomoiu, Istoria inväjämintului, S. 37. 4) Xenopol, Memoriu, S. 16. 5) Ebenda, S. 37. 6) Rädulescu, Pravilistul, S. 324 f. 7) Xenopol, Memoriu, S. 49.
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An der Akademie „Mihäileanä", von Fürst Mihail Sturdza im Jahre 1835 als Teil des Hochschulwesens gegründet, hatte das Rechtsstudium einen bedeutenden Platz inne. Laut Entscheidung des Fürsten sollten die Studenten, die zwölf Jahre hindurch alle Stufen des Unterrichts durchlaufen hatten, ein Abschlußdiplom erhalten, das sie zur Ausübung der verschiedenen Berufe, darunter des Anwaltsberufes, berechtigte 8 ). Den Bedürfnissen der Zeit entsprechend, gewannen die Rechtskurse zunehmend an Vielfalt und Bedeutung. So finden wir im Jahre 1837 Flechtenmacher als Leiter des Kurses „Naturrecht und Zivilrecht des moldauischen Gesetzbuches"9). Ein im selben Jahr einem Studenten ausgefolgtes Zeugnis zeugt von der Dauer dieses Naturrechtskurses. Im Jahre 1837 stellte Siebenbürgen der Moldau einen anderen Professor des Rechts zur Verfügung. Es handelte sich hier um den Doktor der Philosophie und Anwalt Petru Cämpeanu Maler, der im Jahre 1848 Eftimie Murgu, den zukünftigen Revolutionsführer des Banats, ersetzte. Als „Doktor der Philosophie, Mitglied der Universität Pest, diplomierter Jurist und Professor der Philosophie" fungierte der Neuankommende zuallererst als Inhaber des Lehrstuhls der Philosophie. Nach dem Abgang Flechtenmachers lehrte er auch Recht. Das zu der Zeit (1837) veröffentlichte Studienprogramm zeigt, daß der Franzose Maisorabe, ernannter Rektor der Akademie, beauftragt war, das öffentliche Recht und Privatrecht verschiedener Völker zu lehren. „Dieser letztgenannte Kurs war noch neu in Europa, und da die Sammlung der Gesetzbücher der verschiedenen Nationen nur in französischer Sprache gedruckt war, wurden die Vorlesungen eben in dieser Sprache gehalten, bis der Professor einige Schüler ausgebildet hatte, die würdig waren, in rumänischer Sprache zu unterrichten." 10 ) Nach einem fürsdichen Dokument aus dem Jahre 1840 umfaßte die „Mihäileanä"-Akademie, benannt nach dem Vornamen ihres Gründers, drei Fakultäten, nämlich die „der Philosophie, der Rechte und der Theologie" 11 ). Ab dem Jahr 1841 zählte ein anderer Rumäne aus Siebenbürgen zu ihrem Lehrkörper, und zwar Damaschin Bojincä, der seit 1833 in der Moldau lebte und zu diesem Zeitpunkt, ebenso wie Flechtenmacher, zum beratenden Staatsanwalt ernannt worden war — eine Funktion, die er bis zum Jahre 1861 innehaben sollte. Geprägt durch den Geist der siebenbürgischen Schule, verbrachte er seine Studenten)ahre zuerst in Szeged, wo er Philosophie studierte, dann in Oradea Mare und Budapest. Dort blieb er, nachdem er sein Studium 8)
Gomoiu, Istoria invä{ämintului, S. 40. Xenopol, Memoriu, S. 58. 10) C. I. Andreesco: Les Frangais dans l'Academie princiere de Iassy (Moldavie) au XVIII« et XIXe siecles. Paris 1936. S. 9 f.; Xenopol, Memoriu, S. 61. 11) Ebenda, S. 68. 9)
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abgeschlossen hatte, dem Kassationshof 12 ) verbunden. Als Verfechter der lateinischen Theorie veröffendichte er 1832 in Budapest die beiden Bände seines interessanten Werkes „Antiquitates Romanorum", das ihm später als Grundlage für seinen Kurs über Römisches Recht diente. Als Professor an der Akademie von Iasi unterrichtete er übrigens Zivil- und Strafrecht. Einige Jahre hindurch war er sogar Justizminister 13 ). Selbst ohne Berücksichtigung seiner wichtigen Rolle im Kampf um die Anerkennung der Einheit des rumänischen Volkes und für das Erwachen des Nationalbewußtseins hat Damaschin Bojincä — wie seine erhaltenen Vorlesungen und Werke beweisen — einen wertvollen Beitrag zur Festigung der rumänischen Rechtsdoktrin geleistet. Er hat sogar eine „Einführung in die Rechtswissenschaft" geschrieben, eine wichtige Arbeit, wenn man sich vergegenwärtigt, daß zu der Zeit an vielen großen Rechtsfakultäten Europas das Interesse, das der Rechtstheorie entgegengebracht wurde, lediglich zweitrangig war 14 ). Das Römische Recht wie das Zivilrecht wurden im Jahre 1843 von Nicolae Docan gelehrt. Seine Kurse waren dem dritten Jahr des Rechtsstudiums vorbehalten 15 ). Angesichts der aufflackernden Erneuerungsbewegung, die von seiner Akademie ausging, begann Prinz Mihail Sturdza um seinen Thron zu fürchten. Deshalb baute er im Jahre 1847 das Hochschulwesen ab, indem er das Rechtsstudium auf eine reine Rechtswissenschaft des Landes und der „Basilikalen" beschränkte, die im übrigen in einer fremden Sprache erforscht wurden 16 ). Im Jahre 1851 beschloß Prinz Grigore Ghica, das moldauische Hochschulwesen durch die Gründung von vier Fakultäten, darunter eine Rechtsfakultät, neuzugestalten. Letztere wurde August Treboniu Laurian, einem aus Siebenbürgen stammenden Rumänen, anvertraut, der einer der Führer der Nationalbewegung und der Revolution von 1848 war und bis dahin in Bukarest gelehrt hatte 17 ). Das erklärt auch die große Anzahl von Professoren aus Siebenbürgen, die in den folgenden Jahren nach Ia§i berufen wurden; an ihrer Spitze stand Simion Bärnu^iu, der im Jahre 1854 Rechtswissenschaft und Philosophie lehrte, nachdem er in Paris seine Lizenz der Rechte erhalten hatte. Simion Bärnu^iu hatte an der Fakultät von Iasi, wo er das Naturrecht lehrte, siebenbürgische Landsleute zu Kollegen, wie zum Beispiel Petre Suciu, 12) G. Ciulei: Un jurisconsulte oublie: Damaschin Bojincä. In: Revue de Transylvanie 10. Bucurejti 1945. S 116. 13) Ebenda, S. 120 f. ") Ebenda, S. 123 f. 15) Xenopol, Memoriu, S. 68. 16 ) Ebenda, S. 78. Die „Basilikalen" sind eine Sammlung römisch-byzantinischer Gesetze, die unter den Kaisern Basilios I. (867—886) und Leon dem Weisen (886—912) erlassen wurden. 17) Ε. A. Pangrati: Ce-au fäcut Universitäfile noastre? . . . (Was haben unsere Universitäten getan? ...). Bucurejti 1905. S. 14.
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der einen Kurs über die Geschichte der Institutionen des römischen Rechts und weiters über die Pandekten hielt, und Papiu Ilarian, der sich in der Moldau mit dem Strafrecht beschäftigte18). Der erste Fürst, der über die vereinigten Fürstentümer regierte, Α. I. Cuza, gründete die Universität zu Iasi, die über eine Juridische Fakultät verfügte 19 ). Dort unterrichteten: Römisches Recht — Petre Suciu; Völkerrecht, Staatsrecht und Verfassungsrecht — Simion Bärnutiu; Strafrecht — Teodori; Bürgerliches Recht — Gr. Märzescu; Handelsrecht — Petrescu; Wirtschaftspolitik — I. Strat20). Von den 106 Studenten im ersten Jahrgang besuchten 72 die Vorlesungen an der Juridischen Fakultät21). Eine wichtige Schlußfolgerung läßt sich von unserem kurzen Expose ziehen, daß nämlich das Rechtsschulwesen in der Moldau in seinen Anfängen viel den Siebenbürger Rumänen verdankt, deren Anteil sich als entscheidend erwies. I. Die Theorie des lateinischen Ursprungs des rumänischen Rechts ist fest verankert. II. Die an deutschen und italienischen Universitäten ausgebildeten Professoren verliehen dem Rechtsstudium einen philosophisch-theoretischen Charakter, der geeignet war, die Rechtslehre weiterzuentwickeln. DIE WALACHEI
Kaum hatte der Woiwode Caragea den Thron bestiegen, verlangte er von einigen großen Bojaren einen Reformvorschlag für das Hochschulwesen. Dieser mußte ihm zu Beginn des Jahres 1813 vorgelegt werden. Das Projekt sah unter anderem eine Lehrstelle zugleich für Latein und Recht vor. Da nun diese Leute ihre Aufgabe nicht zu seiner vollen Befriedigung ausführten, entschloß sich der Fürst, indem er das Hochschulwesen im Jahre 1816 reorganisierte, einen eigenen Lehrstuhl für Rechtswissenschaften zu schaffen. Er war wie die walachischen Bojaren der Meinung, daß „die Rechtswissenschaft für die Richter wie für die zu Gericht geladenen und schließlich allgemein für alle — einem Naturprinzip folgend — sich als notwendige, heilsamste Stütze der Menschheit erweise"22). Der Inhaber dieses Lehrstuhls war der Bojare Nestor Craiovescu, ein großer Gelehrter, der einer der Autoren des Code Caragea und später ein „Logothet der Gerechtigkeit", anders ausgedrückt: 18) C. V. Gheorghiu: Din istoricul Universitäjii din Ia$i (Aus der Geschichte der Universität Ia$i). Ia$i 1943. S. 4. 19 ) Documintele Universitäten de Iasii (Dokumente der Universität Ia$i). Iasii 1860. S. 3 ff. 20) Xenopol, Memoriu, S. 87. 21) Gheorghiu, Din istoricul, S. 5. 22 ) S. A. Rädulescu: Inceputurile invätämintului juridic in Tara Romäneascä (Die Anfänge des juristischen Unterrichts in der Walachei). Im zitierten Band S. 98.
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Justizminister, war 23 ). Ihm ist es zu verdanken, daß im Jahre 1818 der junge Siebenbürger Gheorghe Lazär, Doktor der Rechte und der Theologie in Paris, nach Bukarest berufen wurde. Ohne eindeutig beweisen zu können, daß er jemals Recht lehrte, wissen wir jedoch, daß er die Jugend des Landes aufgerufen hat, das „Neue Zeitalter" einzuleiten, wobei er zum Studium sowohl der „philosophischen" als auch der „juridischen oder normativen Kategorien" einlud 24 ). Unter den Kursteilnehmern befanden sich auch Eufrosin Poteca und Constantin Moroiu, die ihre Studien in Pisa fortsetzten; der letztgenannte erwarb in dieser Stadt sein Doktordiplom 25 ). Als die Fürstenakademie von St. Sava ihre Kurse im Jahre 1825 wieder aufnahm, erhielten Poteca und Moroiu dort eine Professur, so daß die 1826 in Gegenwart des Fürsten abgehaltenen Prüfungen unter anderem auch einige juristische Disziplinen zu Gegenständen hatten 26 ). Was nun Constantin Moroiu betrifft, so ist er vor allem als Professor des Römischen Rechts bekannt und, wie es ein Zeitgenosse ausdrückte, war dieser Kurs besonders geschätzt, denn wirklich jeder hörte „mit Tränen in den Augen die Gesetze unserer römischen Vorfahren". Im darauffolgenden Jahrzehnt lehrte C. Moroiu nach italienischem Muster auch Strafrecht und Wirtschaftsrecht (1834—1836); als Vorlage für diesen Kurs dienten ihm italienische Quellen. Andererseits war er Verfasser einer Studie über Strafanstalten und eines Entwurfes eines Handelsgesetzbuches nach französischem Vorbild 27 ). Nach 1837 wurden die Rechtskurse, die wie in einer wirklichen rechtswissenschaftlichen Fakultät organisiert waren, auf vier Lehrstühle aufgeteilt, deren Inhaber alle Doktoren des Rechts waren. Zu dieser Zeit hatte Constantin Moroiu den Lehrstuhl für Römisches Recht inne; Stefan Ferekide— er hatte wahrscheinlich in Padua studiert — den für bürgerliches Recht; Constantin Bräiloiu jenen für die Prozeßordnung und Strafrecht und schließlich Alecu Racovi^ä den für Handelsrecht. Im Jahr 1840 wurden diese Vorlesungen von 42 Studenten besucht28). Von 1851 an nahm das Studium der Rechtswissenschaften einen neuen Aufschwung. Zum Lehrkörper zählten bedeutende Juristen und Politiker wie Constantin Bozianu und Georges Costaforu. In der Folge wird die Liste berühmter Namen auf Grund der Professoren des rumänischen Rechts immer länger: Vasile Boerescu, Paul Vioreanu, Aristide Pascal, Constantin Boierescu, 23)
Gomoiu, Istoria inväjämintului, S. 65; Rädulescu, inceputurile, S. 99. Gomoiu, Istoria invätämintului, S. 63. 25) A. Rädulescu: Cultura juridicä romäneascä in ultimul secol (Rumänische Rechtspflege im letzten Jahrhundert). Im zitiertem Band S. 85. 26) Gomoiu, Istoria invätämintului, S. 72. 27) Rädulescu, Inceputurile, S. 100 f. 28 ) Ebenda, S. 101 f. 24)
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George Danielopol, Georges Cantili — der Großteil von ihnen hatte in Paris Rechtswissenschaften studiert. Diese großen Lehrmeister des Rechts haben ehrenvolle Jahre ihrer Professur an der Universität verlebt, in denen sie auch noch zahlreiche, für die romanische Rechtsdoktrin 29 ) fundamentale Werke verfaßten. Nach dem Gesetz für den öffendichen Unterricht (1864) stellte die Fakultät der Rechtswissenschaften in Bukarest, die im Rahmen der Universität organisiert war, die juridische Ausbildung in durchschnittlich neun Vorlesungen sicher. R U M Ä N I S C H E STUDENTEN DER RECHTSWISSENSCHAFT BESUCHEN AUSLÄNDISCHE U N I V E R S I T Ä T E N : D E R AUSLÄNDISCHE E I N F L U S S A U F DIE RUMÄNISCHE GESETZGEBUNG
Dieses Kapitel scheint uns auf Grund der ganz besonderen Bedeutung des Beitrages, den die im Ausland studierenden Rumänen nicht nur im Bereich der Bildung, sondern auch auf politischer Ebene, zur Formulierung der Doktrin des politischen Rechts und der ProzeßOrdnung, zur Organisation des Richteramts und zum Funktionieren des Justizapparates im allgemeinen, zur Kultur in ihrer breitestmöglichen Entfaltung geleistet haben, absolut unentbehrlich zu sein. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts besuchten die Studenten der Fürstentümer ziemlich beflissen ausländische Universitäten, wobei die Fakultäten der Rechtswissenschaften bevorzugt wurden. Im Jahre 1803 zum Beispiel studierte der aus der Moldau gebürtige Bogdan in Paris Rechtswissenschaften. Ungefähr fünfzehn Jahre später, im Jahre 1817, findet man noch immer Rumänen wie Gheorghe Bibescu und Barbu §tirbei, die dort Rechtswissenschaften studierten; beide wurden später dazu berufen, die Regierungsgeschäfte zu übernehmen. Der erste Doktor der Rechte von Paris war jedoch der Walache Petru Manega, der im Jahre 1820 zum Doktor der Rechtswissenschaften promoviert worden war. Er war einer der ersten Ausländer, der dieses Diplom in Paris erwarb; vor ihm waren nur vier Schweizer und ein Piemonteser30). Dieser Jurist leistete einen wesentlichen Beitrag, indem er die damals gängige Theorie von der Latinität des rumänischen Rechts entscheidend erhellte. Diese Theorie erklärte ihrerseits die massive Entlehnung vor allem aus der französischen Gesetzgebung und in zweiter Linie aus der italienischen, belgischen und schweizerischen Legislatur — ein Erbe, das sich während der gesamten Dauer des letzten Jahrhunderts im rumänischen positiven Recht bemerkbar machte. Im Jahre 1820 sollte Manega dem Kapodistrias vorgestellt werden, den er so beeindruckte, daß er auf der Stelle einen Brief an General a9)
A. Orescu: Le discours de . . ., Grigore Luis. Bucurejti 1889. S. 7 f. S. C. C. Angelescu: Cei dintii doctori in drept de la Paris (Die ersten Doktoren der Rechte von Paris). In: Dreptul 56. 1928. 28. S. 217 f. 30 )
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Inzov schrieb, um ihm unter anderem zu sagen: „Kann sein, daß seine Kenntnis der rumänischen Sprache und das systematische Studium der Gesetze nicht ohne Vorteil für die Kommission seien, die das Gesetzbuch der lokalen Gesetze Bessarabiens auszuarbeiten hat" 31 ). Nachdem Manega die Aufgabe übernommen hatte, einen Bericht über die Lage der Gesetzgebung in dieser Provinz vorzulegen, verfaßte er auf Französisch das Werk „Observations preliminaires sur l'etat de la legislation en Bessarabie", in dem er behauptet, daß „die römischen Gesetze die einzigen seien, die in der Moldau und in der Walachei eingeführt sind" 32 ). Im Jahre 1825 erstellte er in vier Bänden einen „Entwurf des bürgerlichen Gesetzbuches in Bessarabien"; diesem Werk, das in großem Ausmaß vom ähnlichen Werk des berühmten Portalis Anleihe nimmt, geht ein „Vorwort" voraus. Der „Entwurf" schlug in den meisten Fällen Gesetzesartikel aus dem Code Napoleon vor und machte so bisweilen dem Code Callimachi, der zu dieser Zeit in der Moldau in Kraft war, Konkurrenz 33 ). Wenn dieser Entwurf Gesetz geworden wäre, hätte man die erste Anwendung des Code Napoleon in Osteuropa erlebt; sie wäre um ungefähr vierzig Jahre der Initiative des Fürsten Cuza und seiner Mitarbeiter vorausgegangen. Ein zweiter Doktor der Rechte von Paris war Dumitru Gr. Filipescu, der, nachdem er nach Erhalt seines Diploms im Jahre 1833 wieder in seine Heimat zurückgekehrt war, seinen ersten „Waffendienst" in der Verwaltung machte. Enttäuscht über die Politik des Fürsten und beeinflußt von Gedankenströmungen aus Paris schmiedete er jedoch im Jahre 1840 mit Einverständnis von N. Bälcescu, Vaillant und Eftimie Murgu, den zukünftigen Führern der Revolution des Jahres 1848, ein Komplott. Neben der Verbesserung der Lage der Bauern schlugen die Verschwörer die Einberufung „einer gesetzgeberischen Körperschaft zur Ausarbeitung der Gesetze des Landes nach den drei Grundregeln, nämlich Befreiung, Gleichheit der Gesetze und Macht" 34 ) vor. Filipescu wurde gefangengenommen und starb 1843, kurz nach seiner Befreiung. Am 2. Jänner 1840 wandte sich Nesselrode an den Konsul Titov in Ia§i und teilte ihm mit, „daß letzten Sommer mehrere Moldauer in Paris angekommen seien und sich mit einigen Demagogen aus der Walachei in Verbindung gesetzt hätten; unter den Moldauern werden ein gewisser Mavrocordat, Guenadino und ein Philitis als Verfechter der Prinzipien der Demokratie in seiner eigentlichsten Form besonders hervorgehoben. Alle diese Einzelpersonen unterhalten aktive Beziehungen nach Ia§i und Bukarest". Einen Monat später antwortete Fürst Mihail Sturdza der Forderung des russischen Konsuls mit 31) L. S. Kasso: Petru Manega — un codificator uitat al Basarabiei (Petru Manega — ein vergessener Rechtsgelehrter aus Bessarabien). Übersetzt aus dem Russischen von S. Berechet. Bucurejti 1923. S. 11. 32 ) Ebenda, S. 16. 33) Ebenda, S. 18—23. 34) Angelescu, Cei dintü doctori, S. 226.
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folgenden Worten: „Sowie ich über die Verwirrung des jungen Maurocordato, der sich zur Zeit in Paris befindet, benachrichtigt wurde, habe ich seinen Vater durch strengste Ermahnung dazu veranlaßt, dem skandalösen Benehmen seines Sohnes Einhalt zu gebieten" 35 ). Es ist auch interessant zu bemerken, daß der Fürst in demselben Brief die Ausbreitung der unionistischen Propaganda in den Fürstentümern und die immer mehr Unterstützung findende Verbreitung „anarchistischer Ideen" bedauerte. Was den jungen Mavrocordat betrifft, so erhielt er 1847 seinen Doktortitel, heiratete die Tochter des Bojaren Alexander Bal§ und ließ sich in Griechenland nieder, wo er eine glänzende Karriere machte: zuerst war er Professor der Rechtswissenschaften in Athen, dann Richter und schließlich Unterrichts- (1855), Außen- (1863) und Kultusminister (1872)36). Nachdem der Walache Georges Costaforu sein Studium am St. Sava Kollegium in Bukarest begonnen hatte, wurde er 1845 nach Paris geschickt; er stand im Genuß eines Stipendiums. Im Jahre 1847 erhielt er seine Lizentiatenwürde und zwei Jahre später seinen Doktortitel. 1851 finden wir ihn als Professor des Bürgerlichen Rechts am St. Sava Kollegium wieder. Seine Eröffnungsvorlesung enthielt eine innige Lobrede an seinen Vorgänger C. Moroiu und sodann den Ausdruck seiner Dankbarkeit gegenüber seinen Lehrern in Paris: „Groß ist auch meine Anerkennung gegenüber der Pariser Schule, meiner zweiten Mutter, wo sich mein Herz geformt hatte und wo ich mit meiner ganzen Kraft versucht habe, die Fähigkeit zu erlangen, meinem Heimatland zu dienen. Gelobt seien die Namen meiner Lehrmeister, vor allem der hervorragende Ducorua, Udo, Vunle, Valet, Ortolan, Duranton . . ." Im Jahre 1852 wurde er gleichzeitig zum Professor des Strafrechts, der Zivilprozeßordnung und der Strafprozeßordnung ernannt. Er war der erste Rektor der Universität Bukarest, der zweite Dekan der Fakultät für Rechtswissenschaften und entfaltete gleichzeitig dazu eine reichhaltige politische Tätigkeit 37 ). Constantin Bozianu war ebenfalls Stipendiat und einer der hervorragendsten rumänischen Studenten in Paris, der bei seinen Prüfungen großes Lob erntete, übrigens auch für seine Dissertation im Jahre 1851. Er war im Zeitraum von 1859—1872 der erste Dekan der juridischen Fakultät von Bukarest. Vizepräsident des Staatsrates unter Cuza, wurde er später Präsident des Ministerrates und Senatspräsident38). Im Jahre 1857 machte ein anderer Vertreter der studierenden Jugend Rumäniens auf glänzende Art sein Doktorat in Paris. Es handelt sich um Vasile Boerescu, dessen Dissertation — für die damalige Zeit mit 385 Seiten 35) Hurmuzaki: Documente privitoare la istoria Romaniei (Dokumente zur Geschichte Rumäniens). S. I, Bd. 6, S. 175 f. und 189 f. 3e) Angelescu, Cei dintii doctori, S. 226. 3') Ebenda, S. 226 f. 38) Ebenda, S. 227.
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von außergewöhnlichem Umfang — den Titel „Traite comparatif des delits et des peines au point de vue philosophique et juridique" trug. Sie rief bei Demangeat, wie es aus seiner Rezension in der Zeitschrift „Revue de droit fran5ais" (IV, 1857) hervorgeht, eine äußerst positive Reaktion hervor. Ein Jahr später veröffentlichte Vasile Boerescu das Werk „Rumänien nach dem Pariser Vertrag vom 30. März 1856", mit einem bedeutenden Vorwort von Royer-Gollard. Als Professor des Handelsrechts, Rektor der Universität Bukarest, Dekan der juridischen Fakultät, Minister in mehreren Kabinetten und Vizepräsident des Staatsrats sollte er eine wesentliche Rolle bei der Vereinheitlichung der Gesetzgebung, die in den Jahren 1864/1865 vorgenommen wurde, spielen. Sein Lehrer Ortolan sprach im berühmten Strafrechtskurs, den er damals hielt, über die Beweggründe für den Gesetzentwurf, den er zur Abschaffung der Todesstrafe ausgearbeitet hatte39). Man könnte diese Aufzählung noch lange weiterbetreiben, denn die meisten berühmten rumänischen Professoren, Richter, Anwälte und Politiker dieser Zeit waren Doktoren der Rechtswissenschaften, die ihr Studium meist in Paris absolviert hatten. Zwischen 1850 und 1894 haben nicht weniger als 96 Rumänen den Doktortitel der Rechtswissenschaften erhalten; in den zehn darauffolgenden Jahren (1895—1906) stieg diese Zahl auf 71 an, das heißt insgesamt 170 in einem runden halben Jahrhundert 40 ). Auch die deutschen Universitäten wurden von jungen Rumänen besucht, wobei wiederum das Rechtsstudium einen bedeutenden Platz unter den Studien einnahm. Im Zeitraum von 1810—1881 haben zum Beispiel 56 rumänische Studenten Vorlesungen der juridischen Fakultät in Berlin besucht; acht haben auch ihr Diplom erworben 41 ). Während der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts haben acht Rumänen über mehr als drei Semester die Vorlesungen der juridischen Fakultät in Leipzig gehört 42 ). Daraus geht hervor, daß im Jahre 1905 von ca. 120 Richtern auf Lebenszeit — gemäß den damals gültigen Gesetzen — sich ungefähr 50 mit akademischen Titeln schmückten, die sie im Ausland erworben hatten. Was nun die ungefähr 2200 Anwälte angeht, die bei einem Amtsgericht zugelassen wurden, waren ca. 400 Lizentiaten und Doktoren ausländischer Universitäten. Die Universitäten romanischer Länder waren bei weitem die bestbesuchten: Paris, Brüssel, Lüttich, Neapel, Gent und Genf. Die Abgänger der juridischen Fakultäten Deutschlands spielten jedoch, auch wenn sie deutlich in der Minderzahl waren, im politischen und kulturellen Leben des Landes eine nicht weniger bedeu3») Ebenda, S. 227 f. 40 ) S. G. Bengesco: Bibliographie franco-roumaine. 2Paris 1907. 41) D. C. Am^är: Studenfii romäni in sträinätate (Universitatea din Berlin) (Rumänische Studenten im Ausland — die Universität Berlin). Bucure$ti 1941. S. 237—240. 42) D. C. Am%är: Studenfii romäni la Universitatea din Leipzig (Die rumänischen Studenten an der Universität Leipzig). Bucurejti 1943.
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tende Rolle. Dies traf zum Beispiel auf die Begründer des Junimea-Kreises zu, dessen politische und kulturelle Tragweite heute noch übereinstimmend anerkannt wird: Titu Maiorescu 43 ) machte seinen Doktor der Philosophie in Berlin, erhielt sein Lizentiat aus Rechtswissenschaften in Paris und wurde in der Folge Minister und Premierminister; Th. Rosetti erwarb den Doktor Juris in Berlin und war der spätere Präsident des Bundesgerichtshofes (Kassationshofes) ; P. P. Carp machte seinen Doktor Juris in Bonn, war später Parteichef, Minister und Premierminister; Iacob Negruzzi — Doktor Juris in Heidelberg und Professor an der juridischen Fakultät in Iasi. Zu der Plejade der Junimea zählte nur einer, der seinen Doktor Juris in Paris gemacht hatte: V. Pogor. Die Bedeutung, die dem Besuch der juridischen Fakultäten Europas im 19. Jahrhundert durch die rumänische Jugend zukommt, ist leicht zu begreifen, wenn man die Gesetzgebung des Landes zu dieser Zeit näher betrachtet. Tatsächlich zeigt das rumänische positive Recht starke französische, belgische, italienische und Genfer Einwirkungen. Diese Einflüsse 44 ) sind nach dem Staatsstreich vom 2. Mai 1864, durch den Fürst Cuza infolge von Schwierigkeiten im Zusammenhang mit der Durchführung der Agrarreform und der Vereinheitlichung der Gesetzgebung geschwächt wurde, besonders augenscheinlich. Was das Privatrecht im zivilen Bereich betrifft, wurden das Gesetzbuch Callimachi und das Gesetzbuch Caragea, nachdem sie weitgehend veraltet waren, durch ein Bürgerliches Gesetzbuch ersetzt, das zum Großteil — mit mehr oder weniger wichtigen Änderungen — dem Code Napoleon nachgemacht war. Man fügte noch das belgische Hypothekengesetz hinzu und einige Dutzend Artikel aus dem italienischen bürgerlichen Gesetzbuch an und behielt auch mehrere Normen des ursprünglichen rumänischen Rechts völlig bei. Im Handelsbereich wurde das französische Gesetzbuch bereits seit dem Jahr 1840 in der Walachei angewendet; nun ging es darum, dieses Gesetzbuch auch in Moldau anzuwenden. Im Jahre 1887 übernahm man das italienische Handelsgesetzbuch mit einigen unumgänglichen Änderungen. Für die Zivilprozeßordnung galt, daß die ursprünglichen Verfügungen, die allenthalben vom französischen Prozeßordnungerecht beeinflußt waren, einem Gesetzbuch zu weichen hatten, das sich weithin an der im Kanton Genf gültige Prozeßordnung orientierte. Uber den Bereich des öffentlichen Rechts schrieb einer der größten rumänischen Rechtshistoriker zur Verfassung vom Jahr 1866: „Ihr Vorbild war die belgische, ohne davon eine Abschrift zu sein — wie man oft behauptet — denn sie beinhaltete eigenständige Teile . . ." 45 ) In den 4S) C. G. Torna: Titu Maiorescu, om de drept (Titu Maiorescu, ein Mann des Rechts). „Presa Junä", Ia$i 1940. S. 14. 4 4 ) Dazu siehe auch die Arbeit von Λ. Räduhscu: Privire asupra dezvoltärii juridice a Romäniei de la 1864 pinä astäzi (Betrachtungen über die Rechtsentwicklung in Rumänien von 1864 bis heute). Bucurejti 1934. 45) Ebenda, S. 10.
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Jahren 1 8 6 4 / 1 8 6 5 arbeitete man auch das Strafgesetzbuch und die Strafprozeßordnung aus, da nunmehr der gesamte Staat auf neuen Grundlagen aufgebaut war. Diese weitgehende gesetzgeberische Tätigkeit wurde wiederholt und von verschiedenen Seiten vehement kritisiert. Es sei erlaubt, in Form einer abschließenden Feststellung, den Standpunkt jenes großen Historikers des rumänischen Rechts, Andrei Rädulescu, wiederzugeben, der schrieb: „Rumänien hatte — so wie jedes andere Land auch zu bestimmten Zeitpunkten — wohl das Recht, in großen Sprüngen vorwärts zu streben, den normalen Entwicklungsgang zu beschleunigen und aufzuholen, was eine nachteilige Vergangenheit zu verwirklichen verhindert hat. Je genauer man im übrigen die eingeführten Gesetze studiert, desto mehr wird man feststellen, daß es sich nicht um bloße Kopien handelt. Außerdem waren viele dieser Gesetze der Vergangenheit und Natur unseres Volkes nicht ganz so fremd, entsprangen sie doch dem romanischen Recht und der lateinischen Geisteswelt. Es waren Gesetze, die auf den römischen Prinzipien der romanischen Völker beruhen, mit einigen Schwierigkeiten, die allen Veränderungen einmal eigen sind, haben sie sich mit verhältnismäßiger Leichtigkeit unserem gegenwärtigen Stand der Dinge angeglichen. Wir schätzen unser altes Recht sehr, aber wir würden nicht sagen, daß es für den Wohlstand des rumänischen Volkes besser gewesen wäre, die ursprünglichen gesetzlichen Namen beizubehalten. Übertreiben wir nicht; was man in den Jahren 1 8 6 4 / 1 8 6 5 eingeführt hat, ist nicht schlechter als das vorher vorhandene; außerdem stimmt das, was damals gemacht wurde, genau mit dem überein, was bereits gegen 1830 begonnen wurde, nämlich mit dem Einfließen westlicher Formen 46 ). D A S RECHTSSCHULWESEN UND DAS JURIDISCHE GEDANKENGUT IN RUMÄNIEN AM ENDE DES 1 9 . UND A N F A N G DES 2 0 . JAHRHUNDERTS
Nach dem historischen Augenblick der Vereinigung der Fürstentümer ging das Rechtsschulwesen über sein heroisches, romantisches Stadium hinaus: Nach Form und Inhalt nahm es unwandelbar einen institutionellen Charakter mit allen daraus resultierenden Konsequenzen an. Das Rechtswesen wurde zu einer Wissenschaft im heutigen Sinne des Wortes, wobei es in allen Bereichen eine schnelle Entwicklung verzeichnete. Die Zahl der Jusstudenten an rumänischen Universitäten gewann immer mehr an Bedeutung, und das Unterrichtsniveau verbesserte sich in dem Maße, daß es nach unserer Meinung am Vorabend des Ersten Weltkrieges den angesehenen westlichen Rechtsschulen ebenbürtig war. Die Absolventen der juridischen Fakultäten Rumäniens und des Auslands wurden sehr schnell in die Strukturen eines aufstrebenden Staates integriert. Diesbezüglich stellen wir auch fest, daß die Fakultäten von Bukarest und Ia§i unaufhörlich ihr Aufnahmevermögen erhöhten, was durch die 4«) Ebenda, S. 6.
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dynamisch ansteigende Anzahl der Inskribierten und Diplomierten bezeugt wird. So wurden zum Beispiel im Zeitraum von 1864 bis 1892/1893 die Vorlesungen an der Fakultät in Bukarest von mehr als 2000 Studenten besucht, von denen ca. 700 ihr Lizentiat aus Recht gemacht haben. Im selben Zeitabschnitt, das heißt von 1857—1894/1895, zählte die juridische Fakultät in Ia§i an die 1000 Inskribierte, von denen mehr als 200 ihr Lizentiat erwarben47). Im letzten Jahrzehnt des vorigen und zu Beginn des 20. Jahrhunderts sank die Zahl derer, die diese Fakultäten besucht hatten, derart spektakulär, daß sogar einige negative Aspekte auftraten, wie die Tabellen zeigen. Fakultät in Bukarest: Studienjahr
Gesamtzahl alter und neuer Inskriptionen
1892/93 1893/94 1895/96 1896/97 1897/98 1899/1900 1900/1901 1901/1902
492 469 687 815 840 2343 2634 1540
Fakultät in Ia§i: Studienjahr
Gesamtzahl alter und neuer Inskriptionen
1895/96 1896/97 1898/99 1899/1900 1900/1901 1901/1902
118 112 202 245 290 166
Diese, übrigens unvollständigen, Angaben geben Auskunft über die Studenten, die zu einem bestimmten Zeitpunkt eine der beiden Fakultäten besucht haben. Will man diese Zahlen interpretieren, so muß man wohl beachten, daß zum ersten der Großteil der inskribierten Studenten ihr Studium nicht beendete, und daß zum zweiten ein bedeutender Teil der jungen Leute auf Kosten des Staates oder auf ihre eigenen Kosten im Ausland studierte48). Jedenfalls war aber die Entwicklung des Unterrichtswesens sehr lebhaft, wenn man be47)
Pangrati, Ce-au fäcut, S. 51. 48) Ebenda, S. 52.
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denkt, daß zum Beispiel die Fakultät in Bukarest im 1. Dezennium ihres Bestehens 55 Lizentiat-Diplome verliehen hat, dann 336 Diplome im folgenden Jahrzehnt und 169 in den letzten fünf fraglichen Jahren 49 ). Als natürliche Folge der Entwicklung der Rechtswissenschaften in den Fürstentümern handelten die Dissertationen, die sowohl an rumänischen als auch an ausländischen Fakultäten vergeben worden waren, von den modernen juridischen Disziplinen und lieferten oft interessante Vergleiche zwischen ausländischen Rechtsgebungen und den damals gültigen rumänischen Gesetzen. Die fortschrittliche Tradition der rumänischen Rechtsschule, die unter so vielen Opfern geschaffen und im Gesamtprozeß der nationalen Wiedergeburt geformt wurde, diese um so wertvollere Tradition wurde im Laufe der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von sachkundigen, oft glänzenden Lehrmeistern, die als Inhaber der Lehrstühle in Bukarest und Ia§i eben diese berühmt machten, fortgesetzt und bereichert. Es ist allgemein bekannt, daß die juridischen Fakultäten in Rumänien nach dem Vorbild der französischen Rechtsschule konzipiert waren, welche den praktischen Wesenszug aufwies, der durch die Gesetze des 11. Floreal (Blütenmonats) des Jahres X und des 22. Ventose (Windmonats) des Jahres XII geprägt war 50 ). In dieser Gedankenfolge erscheint uns erwähnenswert, daß „die Professoren unserer Fakultäten in den meisten Fällen diese Lücke durch die Unterrichtsmethode zu füllen wußten" 51 ). Die rumänische Rechtspädagogik zeigte sehr bald ein besonderes Interesse an einer gediegenen theoretischen Ausbildung der Studenten; die Früchte dieses besonderen Interesses sind bemerkenswert. Zudem darf der Beitrag, den die großen Lehrmeister dieser zwei Rechtsfakultäten zur bereits erwähnten befriedigenden Angleichung an legislative Anleihen aus Frankreich leisteten, nicht unerwähnt bleiben. Genauso wenig wird man ihre Mitarbeit an der Entwicklung der rumänischen Gesetzgebung und des rumänischen Rechtsdenkens, das eine eigene Linie verfolgt, nicht leugnen dürfen. Diese großen Meister werden wir bei der Entstehung der umfangreichen und wertvollen nationalen Rechtsliteratur wiederfinden. Deshalb glauben wir, daß es nützlich sein wird, hier einige dieser hervorragenden Persönlichkeiten zu erwähnen: In IA?I52) Dimitrie Alexandrescu (1850—1925), Professor des Bürgerlichen Rechts, Verfasser eines wertvollen Kommentars des Bürgerlichen Gesetzbuches in 49) 50)
Orescu, Discours, S. 14. M. Djuvara: Filozofia
dreptului $i inväjämmtul nostru juridic (Die Rechtsphilosophie und unser juristischer Unterricht). Bucure§ti 1942. S. 3 ; D. Gäläsescu-Pyk: Rolul Facultätilor de Drept (Die Rolle der Rechtsfakultäten). Bucurejti 1942. S. 4. 51) Djuvara, Filozofia dreptului, S. 3. 5 2 ) Siehe T. Ionascu: Stiinfe Juridice (Die juristischen Disziplinen). Hg. von der Academia R. S. Romania. Bucurejti 1975. S. 27—32.
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11 Bänden, mit Hinweisen auf das alte rumänische Recht und auf interessante Elemente des Vergleichsrechts. Er hat in verschiedenen französischen Fachzeitschriften Bemerkungen zur Jurisprudenz veröffentlicht und hat einen Rohentwurf des Bürgerlichen Gesetzbuches im Hinblick auf die legislative Vereinheitlichung nach dem Ersten Weltkrieg ausgearbeitet. Μ atei Cantacu^ino (1854—1925), Experte des Bürgerlichen Rechts. Eines seiner Werke über die „Grundlagen des bürgerlichen Rechts" stellt eine wertvolle Synthese des rumänischen Zivilrechts dar. Als junger Richter zeichnete er sich durch Würde und Mut aus. In französischen Rechtszeitschriften veröffentlichte er zahlreiche Studien. loan Tanoviceanu (1856—1916) hat einen bemerkenswerten Beitrag zur Entwicklung des Strafrechts geleistet, durch den er sich auf diesem Gebiet als Anhänger der positivistischen Schule und Verfechter des damals noch wenig verbreiteten Prinzips der Strafrechtsindividualisierung nach Schwere des Verbrechens und sozialer Gefahr, die der Verbrecher darstellte, erwies. Zuerst lehrte er in Ia§i und dann in Bukarest. Vasile Conta (1845—1882). Obwohl er wegen seiner philosophischen Werke, die das rumänische Rechtsdenken im 19. Jahrhundert geprägt haben, besser bekannt ist, wird man seiner Laufbahn als Professor des Bürgerlichen Rechts Beachtung schenken müssen. Constantin Stere (1865—1936) hat zur Entwicklung des Verfassungsrechts beigetragen. IN
BUKAREST
§tefan Longinescu (1865—1931) war einer der hervorragendsten rumänischen Professoren des Römischen Rechts; Verfasser eines bedeutenden dreibändigen Kurses und verschiedener Studien, die auch im Ausland bekannt wurden. Unter anderem hat er auch die Geschichte des rumänischen Rechts untersucht. Aristide Pascal (1827—1900). Er lehrte Bürgerliches Recht, war einer der berühmtesten rumänischen Juristen seiner Zeit und schrieb eine bedeutende Anzahl von Werken, von denen uns die „Überlegungen zur Reform des Richteramts" besonders erwähnenswert zu sein scheinen. Er war der Gründer der Zeitschrift „Gazeta Tribunalelor" und hat daneben lange Zeit die Zeitschrift „Dreptul" geleitet. Constantin Nacu (1844—1920). Als Professor des Bürgerlichen Rechts leistete er auch einen bedeutenden Beitrag zur Ausarbeitung des Handelsgesetzbuches von 1887. Ihm verdanken wir auch den „Vergleich zwischen dem Rumänischen Bürgerlichen Gesetzbuch und dem Code Napoleon" sowie auch ein Werk über „Das Rumänische Bürgerliche Recht". Er war auch Richter und wiederholt Regierungsmitglied. George Danielopol (1837—1913) war eine überragende Persönlichkeit des rumänischen Rechts, Autor des ersten Kurses über Staatsrecht sowie eines sehr
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interessanten Kurses über Verfassungsrecht, in dem er die für unsere moderne Zeit geeigneten Organisationsprin2ipien aufzeigte. Als hervorragender Anwalt, Rechtsberater von weltweitem Ruf, Justizminister und Verfasser mehrerer auch im Ausland hochgeschätzter Werke wurde er anläßlich der Hundertjahrfeier des Code Napoleon eingeladen, eine Studie zu verfassen, die diesem Rechtsdenkmal gewidmet war und zusammen mit Beiträgen der angesehensten französischen Juristen veröffendicht wurde. Diese internationale Anerkennung der bedeutenden rumänischen Rechtslehre war umso wertvoller, da sie von der berühmtesten europäischen Rechtsschule ausging, an der Generationen von rumänischen Juristen ausgebildet worden waren. Denn insbesondere die Plejade der Professoren der juridischen Fakultät in Bukarest ist, allgemein gesagt, aus dieser Pariser Rechtsschule hervorgegangen. Schließlich werden noch zwei weitere rumänische Professoren und Juristen der rumänischen Rechtsschule zu Ansehen verhelfen, wobei sie dem ihnen in Europa reichlich zuteil gewordenen Ruhm noch mehr Glanz verleihen werden. Es handelt sich um Nicolae Titulescu, wahrer Held des Friedens und der Sicherheit unseres Kontinents, und um Vespasian V. Pella, der heute zu den Begründern des internationalen Strafrechts zählt.
GERALD STOURZH
DIE
FRANZ-JOSEPHS-UNIVERSITÄT I N C Z E R N O W I T Z , 1875—1918 I . Z U R GRÜNDUNGSGESCHICHTE
Die Universität Czernowitz stellt die einzige Universitätsgründung der Franzisko-josephinischen Ära in den nicht-ungarischen Ländern der Donaumonarchie dar, wenn man von der Teilung der Prager Universität 1882 absieht. Projekte zur Gründung von Universitäten in Triest, Brünn und Laibach wurden bekanntlich nicht verwirklicht. Die beiden anderen franzisko-josephinischen Universitätsneugründungen—in Ländern der Stephanskrone — waren die Gründung der Universität Klausenburg (1872) und jene der Agramer Franz-Josephs-Universität (1869). Die Gründung der Universität Czernowitz wurde einerseits von den Vertretungskörperschaften der Bukowina — Landtag, Gemeindevertretungen — andererseits von der (deutschliberalen) Regierung in Wien betrieben. Im Motivationshorizont der Neugründung spielt die vorangegangene Polonisierung der Universitäten Krakau und vor allem Lemberg eine bedeutende Rolle. Der wichtigste Vorkämpfer für die Neugründung war der bukowinische Reichsratsabgeordnete Dr. Konstantin Tomaszczuk (1840—1889). Tomaszczuk, österreichischer Rumäne teils ruthenischer Herkunft, im Reichsrat den Liberalen angehörend, bekannte sich bei seinem Plädoyer für die Errichtung einer Universität in Czernowitz ausdrücklich zur Existenz einer politischen österreichischen Nation: Der „gemeinsame Bildungsgang" der höheren Lehranstalten, die Verwandtschaft des Ideenganges, habe nach und nach eine eigene politische Nationalität, „die politische Nationalität des Österreichertums" begründet. Diese politische Nationalität brauche nicht auf einer Sprache zu beruhen (Sten. Prot. d. Abgeordnetenhauses des Reichsrates, 8. Session, 42. Sitzung, 26. März 1874, S. 1455). Mehrfach wurden allerdings auch Parallelen zur Gründung der deutschen Universität Straßburg 1872 gezogen und von „Bollwerken der deutschen Kultur" im Westen bzw. im Osten gesprochen. Der Rektor der Universität Straßburg, Gustav v. Schmoller, nahm auf ausdrücklichen Wunsch Bismarcks an den Gründungsfeierlichkeiten in Czernowitz teil.
Die Franz-Josephs-Universität in Czernowitz
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Von selten der Regierung in Wien wurden 2ugunsten des Standortes Czernowitz in Betracht gezogen: das Vorhandensein der höheren griechischorientalischen theologischen Lehranstalt in Czernowitz sowie der beträchtlichen finanziellen Mittel des griechisch-orientalischen Religionsfonds der Bukowina, der Wegfall deutschsprachiger Universitäten im Osten der Monarchie nach der Polonisierung der Universitäten Galiziens, und wohl auch der Gedanke an Einflußmöglichkeiten im benachbarten Ausland. Es gab auch manche Gegenstimmen im Wiener Reichsrat: Eduard Suess kritisierte, daß politische, nicht wissenschaftliche Überlegungen für die Gründung ausschlaggebend seien, Franz von Miklosich befürwortete die Förderung der großen anstatt die Neugründung kleiner Universitäten. Π . Z U R STRUKTUR DER PROFESSORENSCHAFT
Aufgrund der minuziösen Forschungen von Erich Prokopowitsch (vgl. die bibliographischen Hinweise unter V) ergeben sich interessante Aufschlüsse über die Rekrutierung der Professorenschaft der Universität Czernowitz. Von den insgesamt 127 Universitätsprofessoren, die zwischen 1875 und 1918 in Czernowitz tätig waren, waren die Großzahl vor ihrer Berufung Privatdozenten, d. h. es handelte sich bei der Berufung nach Czernowitz um Erstberufungen. Dies ist charakteristisch für junge und in größerer Distanz zu den älteren Zentren wissenschafdicher Lehre und Forschung entstehende Universitäten. 86 Privatdozenten — überwiegend aus Wien, weiters u. a. aus Czernowitz, Graz, Prag und Innsbruck — wurden zu Professoren in Czernowitz ernannt, hingegen bloß sechs Ordinarien anderer Universitäten (je zwei aus Heidelberg und Lemberg, je einer aus Basel und Fribourg). Hinzu kam die Berufung von zwölf Extraordinarien anderer Universitäten sowie von Professoren an Lehranstalten verschiedenen Typs (insbesondere Übernahme der Professoren der griech.-orientalischen theol. Lehranstalt, ferner Rechtsakademie Hermannstadt, Polytechnikum Riga) und von Persönlichkeiten aus dem öffendichen Berufsleben. Ihrer nationalen Zugehörigkeit nach werden von Prokopowitsch 87 Deutsche, 20 Rumänen, 12 Juden, 5 Ruthenen, 2 Slowenen und ein Tscheche genannt. Rumänische Professoren waren an der griechisch-orientalischen theologischen Fakultät, der einzigen der Donaumonarchie mit einem weiten Ausstrahlungsgebiet in Südosteuropa, dominierend. Jüdische Gelehrte wurden mehrfach in das Amt des Rektors gewählt, so der Ordinarius für Lateinische Philologie Isidor Hilberg, der Ordinarius für Zivil-, Handels- und Wechselrecht Karl Adler und einer der originellsten und international bedeutendsten Rechtslehrer des frühen 20. Jahrhunderts, der Ordinarius für Römisches Recht und Rechtssoziologe Eugen Ehrlich. Der Ordinarius für Anglistik Leon Kellner war ein bedeutender Vorkämpfer der nationaljüdischen Erneuerungsbewegung in der Bukowina nach 1900.
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GERALD STOURZH
Der besonderen Lage der Universität Czernowitz trug Rechnung die Errichtung einer eigenen Professur für Vergleichende Philologie der slawischen Sprachen (1875), für Ruthenische Sprache und Literatur (1877), für Rumänische Sprache und Literatur (1881), für Osteuropäische Geschichte (1895) und für Südosteuropäische Geschichte (1912 mit dem bekannten rumänischen Historiker Johann Nistor, Absolvent des Instituts für österreichische Geschichtsforschung und Privatdozent der Universität Wien, besetzt). Auch die Statistik der Weiterberufungen aus Czernowitz ist von Interesse, 15 Professoren der Universität Czernowitz wurden nach Innsbruck berufen, je 14 nach Graz und Prag, drei nach Wien, zwei nach Bonn, acht Professoren an acht weitere Universitäten des Deutschen Reiches, der Donaumonarchie und der Schweiz. Zu den bekanntesten zeitweise in Czernowitz tätigen Gelehrten zählt der Nationalökonom Josef A. Schumpeter, 1909—1911 in Czernowitz tätig und von dort nach Graz berufen. I I I . Z U R STRUKTUR DER STUDENTENSCHAFT
In den Anfangsjahren der Universität rechnete die Hochschulverwaltung in Wien mit einer Zahl von rund 400 Studierenden; man nahm an, daß sich die Studierenden aus den Absolventen der beiden damals in der Bukowina bestehenden Gymnasien in Czernowitz und Suczawa (Suceava), der deutschsprachigen Gymnasien in Lemberg und Brody im benachbarten Galizien sowie aus ruthenischen Studenten aus Ostgalizien rekrutieren würden. Auch ein gewisser Zuzug aus den nichtösterreichischen Nachbarländern (Rumänien, Rußland) wurde erhofft. Letztere Erwartung ging nicht in Erfüllung; studentischer Zuzug aus dem Königreich Rumänien war sehr gering, wobei die Existenz der seit 1860 bestehenden Universität Jassy und der seit 1864 bestehenden Universität Bukarest in Rechnung zu stellen ist; Studenten aus Rußland gab es nur ganz vereinzelt (genaue Angaben bei Norst, tabell. Anhang für den Zeitraum 1875—1900). Die Gesamtfrequenz stieg langsamer als zunächst erwartet. Erst nach 25 Jahren, im Sommersemester 1900, wurde die erhoffte Zahl von 400 Hörern annähernd (392) erreicht. Allerdings ist ein sprunghaftes Ansteigen der Hörerzahl von der Jahrhundertwende bis Ausbruch des Ersten Weltkrieges festzustellen. Im Wintersemester 1909/10 wurde erstmals die Grenze von 1000 Hörern überschritten, in den Folgejahren bewegten sich die Hörerzahlen um 1200. Dies hängt mit der rapiden Vermehrung der Gymnasien in der Bukowina ab 1900 zusammen, Ergebnis der nationalitätenpolitischen Verteilungs- und Proporzpolitik der Wiener Regierungen. 1910/11 gab es in der Bukowina zehn öffentliche Gymnasien, während gleichzeitig in Oberösterreich bloß acht, in Kärnten drei, in Salzburg nur zwei Gymnasien bestanden! Obgleich ein wirtschaftlich und sozial unterentwickeltes Kronland, stand die Bukowina vor dem
Die Franz-Josephs-Universität in Czernowitz
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Ersten Weltkrieg im Spitzenfeld der Kronländer (mit Niederösterreich einschließlich Wiens und Mähren) mit dem höchsten Anteil von Hochschülern pro Gesamtbevölkerung. Hierbei dominierte in der Bukowina eindeutig das Jusstudium — das Tor zur Laufbahn im höheren Staats- oder Landesdienst (1913/14: 49% aller Hörer an der Jur. Fak. inskribiert, 35,14% an der Phil. Fak., 15,86% an der Theol. Fakultät). Im gleichen akademischen Jahr 1913/14 gaben 37,98% aller Hörer das griechisch-orientalische Religionsbekenntnis an, 35,98% das mosaische Religionsbekenntnis, der Rest verteilte sich auf das röm.-kathol., griechisch-kathol. (unierte), evangelisch-augsburgische und armenisch-unierte Bekenntnis. I V . VERSUCH EINER B I L A N Z
Vor allem in den ersten Jahren hatte die Universität mit schwierigen äußeren Verhältnissen zu kämpfen. 1884 initiierte der Professor für Romanistik Alexander Budinszky sogar Petitionen für eine Verlegung der Universität nach Brünn, stieß allerdings zumal in der juristischen Fakultät und im Senat auf Widerstand und verließ alsbald Czernowitz. Demgegenüber ist auf den Aufschwung der Universität etwa ab der Jahrhundertwende und auf die hohe wissenschaftliche Qualität zahlreicher Mitglieder des Lehrkörpers zu verweisen (vgl. die Materialien bei R. Wagner: Alma mater francisco-josephina). Die Universität konnte sich ebensowenig wie andere Universitäten der Donaumonarchie dem Nationalitätenkonflikt entziehen. In Hinblick auf die gesetzlich festgelegte deutsche Unterrichtssprache, aber auch auf das volkstumspolitische Engagement bestimmter Universitätslehrer wie etwa Raimund Friedrich Kaindls richtete sich manche Kritik (so jene des rumänischen Historikers und Staatsmannes Nicolae Iorga) gegen den als zu „deutsch" empfundenen Charakter der Universität. Andererseits ist jedoch auf die im Abschnitt „Zur Struktur der Professorenschaft" bereits genannte Schaffung spezifischer, den Sprachen und Völkern der Bukowina Rechnung tragender philologischer und historischer Lehrstühle hinzuweisen, ebenso auf die führende Rolle rumänischer Theologen in der Theologischen Fakultät (was allerdings zu Kritik von ruthenischer Seite führte). Auch die national jüdische Renaissance in der Bukowina ist mit Persönlichkeiten der Universität (Leon Kellner) und Errichtung jüdischer Studentenverbindungen verknüpft. Ein sozialgeschichtliches Problem ist in der Tatsache zu sehen, daß am Vorabend des Ersten Weltkrieges die große Zahl der Gymnasien und die Zahl der Studierenden der juristischen und philosophischen Fächer nicht dem sozialen Substrat entsprach; es mangelte hingegen an Bürgerschulen, Fachschulen und Realschulen zur Ausbildung für wirtschaftliche Berufe. Eugen Ehrlich beklagte, daß in der Bukowina wie in den meisten wirtschaftlich wenig entwickelten Ländern die Jugend eine auffallende Neigung für humanistische Studien und gelehrte Berufe zeige.
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GERALD STOURZH
Dem Prüfungsstandard und den wissenschaftlichen Leistungen des Lehrkörpers der Universität Czernowitz ist von bedeutenden Gelehrten wie Ehrlich und Schumpeter eine sehr positive Bewertung zuteil geworden. Im Rückblick auf eine abgeschlossene Epoche ist die Weite des Einzugsgebietes des Lehrkörpers der Universität besonders hervorzuheben. Hausberufungen (und die damit verknüpfte Gefahr der Provinzialisierung) waren sehr selten; am stärksten war die Eigenrekrutierung im Bereich der griechischorientalischen Theologischen Fakultät ausgeprägt. Von 44 Professoren der Juristischen Fakultät waren lediglich vier Hausberufungen, von 68 Professoren der Philosophischen Fakultät nur drei. Viele der von weither berufenen Professoren waren, in Schumpeters Worten, „Leute in jungen Jahren, erfüllt von ihren Ideen, von Forschungslust und Lehreifer". Ihrerseits wurde die Universität Czernowitz, in den Worten des österreichischen Unterrichtsministers Wilhelm von Härtel, „die große Nährmutter der anderen österreichischen Universitäten". In der Verbindung des überwiegend von Universitäten außerhalb der Bukowina kommenden Lehrkörpers mit einer Studentenschaft von großer nationaler und sprachlicher Vielfalt liegt das historische Spezifikum der FranzJosephs-Universität der Jahre 1875 bis 1918 begründet. V . Z U R BIBLIOGRAPHIE
Umfassende bibliographische Hinweise (auch zu Veröffentlichungen in rumänischer und ukrainischer Sprache) in dem Sammelwerk: R. Wagner (Hg.): Alma mater francisco josephina. Die deutschsprachige Nationalitäten-Universität in Czernowitz. Festschrift zum 100. Jahrestag ihrer Eröffnung 1875, 2 München 1979. Diese Festschrift hat auch Materialien aus älteren Veröffentlichungen übernommen. Von diesen ist am wichtigsten, mit wertvollen statistischen Angaben: E. Prokopowitsch: Gründung, Entwicklung und Ende der Franz-Josephs-Universität in Czernowitz. Clausthal-Zellerfeld 1955. Von großem Interesse, insbesondere wegen einer detaillierten statistischen Aufgliederung der Hörerschaft und einer Namensliste aller absolvierten Hörer zwischen 1875 und 1900, ist: A. Norst: Alma mater Francisco-Josephina. Festschrift zu deren 25jährigem Bestände. Czernowitz 1900. Zu den Erwägungen und Motivationen zur Gründungszeit der Universität sind aufschlußreich die Debatten im österreichischen Reichsrat, insbesondere die Debatten im Abgeordnetenhaus am 26. März 1874 und am 13. März 1875 (Sten. Prot. d. 8. Session, 42. bzw. 129. Sitzung). Zum Standpunkt der Regierung vgl. das Werk des an der Errichtung der Universität maßgeblich beteiligten Sektionschefs K. v. he may er: Die Verwaltung der österreichischen Hochschulen von 1868—1877. Wien 1878. Zur statistischen Einordnung der Gymnasien und der Universität in der Bukowina in den Gesamtzusammenhang des cisleithanisch-österreichischen
Die Franz-Josephs-Universität in Czernowitz
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Mittelschul- und Hochschulwesens vgl. vor allem: Statistik der Unterrichtsanstalten in den im Reichsrate vertretenen Königreichen und Ländern für das Jahr 1910/11, bearbeitet vom Bureau der k. k. Statistischen Zentralkommission ( = österreichische Statistik, hrsg. v. d. k. k. Statist. Zentralkommission, Neue Folge, 8/2, Wien 1914). Vgl. ferner: G. Otruba: Die Universitäten in der Hochschulorganisation der Donaumonarchie. Nationale Erziehungsstätten im Vielvölkerreich 1850 bis 1914. In: Student und Hochschule im 19. Jahrhundert — Studien und Materialien, mit Beiträgen von Karsten Bahnson u. a. ( = Studien zum Wandel von Gesellschaft und Bildung im Neunzehnten Jahrhundert, hrsg. v. O. Neuloh u. W. Räegg, Bd. 12.) Göttingen 1975, S. 74—155. Zur Bedeutung der Universität Czernowitz für das Leben der jüdischen Bevölkerung der Bukowina sind mehrere Beiträge in dem Sammelwerk: H. Gold (Hg.): Geschichte der Juden in der Bukowina. Bd. I. Tel Aviv 1958, von Interesse. Zur Bedeutung Eugen Ehrlichs in der Jurisprudenz des 20. Jahrhunderts vgl. das Kapitel über Ehrlich in: H. Sin^heimer: Jüdische Klassiker der deutschen Rechtswissenschaft. Frankfurt/Main 1953. S. 187—206. Während des Ersten Weltkrieges kam es in verschiedenen österreichischen Zeitungen zu Debatten über die Universität Czernowitz und die Frage ihrer allfälligen Verlegung in den Westen Österreichs, nach Salzburg oder Brünn. Von besonderem Interesse sind folgende Beiträge: M. Rosenberg: Die Czernowitzer Universität in Krieg und Frieden. In: Neue Freie Presse Nr. 18606 v. 9. Juni 1916; P. Leder: Die Universität Czernowitz und der Friede im Osten. In: Neue Freie Presse Nr. 19209 v. 15. und 16. Februar 1918. Der als Beilage zur Prager Zeitung Bohemia erscheinende Bukowiner Bote brachte von Jänner bis März 1917 unter dem Titel „Der Kampf gegen die Czernowitzer Universität" eine Reihe bemerkenswerter Stellungnahmen. Die oben im Abschnitt „Versuch einer Bilanz" zitierten Äußerungen Eugen Ehrlichs (mit dem Hinweis auf Härtel) und Josef Schumpeters finden sich in: Bukowiner Bote, Nr. 16, Beilage zur Bohemia, Nr. 22 v. 24. Jänner 1917.
ANDOR TARNAI DIE UNIVERSITÄTSDRUCKEREI VON BUDA U M D I E W E N D E D E S 18. Z U M 19. J A H R H U N D E R T
Die heutige Universitätsdruckerei von Budapest, nach der 1561 gegründeten städtischen Typographie von Debrecen die Zweitälteste typographische Werkstatt Ungarns, feierte 1977 die 400. Wiederkehr ihres Gründungsjahres. Das Datum läßt berechtigte Fragen aufkommen: Erstens, wie ist es möglich, daß die Druckerei der im Jahre 1635 in Nagyszombat gegründeten Universität vor der Institution bestand, der sie eingegliedert war, und zweitens: Warum kann von einer Vierhundertjahrfeier gesprochen werden, gehört doch die Druckerei seit 1948 nicht mehr zur Universität? Die zweite in diesem Zusammenhang weniger wichtige Frage läßt sich dahingehend beantworten, daß die Umorganisation der ungarischen Druckindustrie zwar ein wichtiges Ereignis in der Geschichte der Werkstatt darstellt, jedoch die Kontinuität ihrer Betriebstätigkeit nicht beeinflußt hat. Die erste Frage kann damit beantwortet werden, daß die Druckerei tatsächlich vor der Gründung der Universität existierte: im Jahre 1577 kaufte nämlich der Bischof Miklös Telegdi, Administrator des Erzbistums von Esztergom, die Einrichtung der 1559 gegründeten Wiener Jesuitendruckerei, und von diesem Zeitpunkt an gilt die Tätigkeit des Betriebes als ununterbrochen. Der erste einschneidende Wandel in der Geschichte der Typographie fällt in das Jahr 1648, als sie in den Besitz der unter jesuitischer Leitung stehenden Universität überging, der zweite Wandel erfolgte im Jahre 1777, als Maria Theresia die in Nagyszombat angesiedelte Universität samt ihrer Druckerei nach Buda verlegen ließ. Die Druckerei wurde damals eine staatliche Institution und erhielt das Privileg (Privilegium exclusivum), Lehrbücher in Ungarn herauszugeben. Da die ebenfalls im Jahre 1777 erlassene Ratio educationis besagt, daß es sieben Hauptnationen in Ungarn gibt, die alle ihre eigene Sprache sprechen (qui ornnes propriis utuntur Unguis) ; und da in den Nationalschulen der Unterricht in der jeweiligen Nationalsprache erfolgte, in den Lateinschulen wiederum Latein mit Hilfe der lingua vulgaris unterrichtet wurde, liegt es auf der Hand, daß in der privilegierten Druckerei Bücher in zahlreichen Sprachen erscheinen mußten. Zwischen 1578 und 1609 wurden allein in ungarischer und lateinischer
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Sprache insgesamt 67 Bücher publiziert, doch auch von diesen nur 13 in lateinischer Sprache. Unter den Jesuiten tendierte das Unternehmen zur Mehrsprachigkeit : Neben lateinischen wurden ungarische, slowakische und deutsche Bücher veröffentlicht, im Jahre 1694 erfolgte die Herausgabe des ersten kroatischen, 1696 des ersten serbischen und rumänischen, 1698 des ersten karpato-ukrainischen Buches. Die kyrillischen Typen beschafften sich die Jesuiten wahrscheinlich aus Krakau; sie wurden jedoch nach 1727 nach Kolozsvär gebracht, damit von dort aus die Union der rumänischen Griechisch-Orthodoxen mit Druckschriften unterstützt werden konnte. Die Produkte der Druckerei waren in jener Zeit überwiegend lateinisch. Neben 4055 lateinischen Druckwerken erschienen insgesamt nur 434 ungarische, 228 slowakische, 120 deutsche, 3 serbische, 14 kroatische, 2 rumänische, 3 karpato-ukrainische, 9 französische Werke sowie eines in griechischer Sprache. 83% der Gesamtproduktion sind lateinische Druckwerke und nur ungefähr 9% ungarische, 4,7% slowakische und 2,5% deutsche. Das Zahlenverhältnis der lateinischen Publikationen kann teils mit der Alleinherrschaft des Lateinischen im Universitätsunterricht, teils damit erklärt werden, daß auch die nicht unmittelbar für den Schulbetrieb gedruckten Werke der Jesuiten für den Klerus oder für ein Publikum publiziert wurden, welches nach Absolvieren der Schulen des Ordens in der Mehrzahl lateinisch las. Die geringe Anzahl der deutschen Druckschriften hingegen kann damit begründet werden, daß die Katholiken mit deutscher Muttersprache ihren Buchbedarf aus dem Ausland deckten. In sprachlicher Hinsicht besteht der Unterschied zwischen den Verhältnissen des 17. und denen des 18. Jahrhunderts darin, daß früher (bis 1711) 73,5%, zwischen 1712 und 1777 85,5% der Bücher lateinisch waren, das heißt, die Latinisierung ist offensichdich. Gleichzeitig kann man feststellen, daß sich die Zahl der ungarischen Publikationen um das Anderthalbfache, die der slowakischen um mehr als das Vierfache (4,3), die der deutschen fast um das Fünffache, die der lateinischen um mehr als das Fünffache (5,5) erhöhte, während die Gesamtproduktion der Druckerei auf das Fünffache anstieg. Diese Daten aus dem 18. Jahrhundert lassen sich so verstehen, daß der ungarische Leserkreis — bereits in früheren Zeiten besser versorgt — nicht in dem Ausmaß zunahm wie der slowakische und der deutsche; und zudem wurden die Bücher billiger. Der Preisrückgang war damals durch die sinkenden Papierpreise und durch höhere Auflagen bedingt. Es war ein wichtiger Faktor für das weitere Schicksal der in staatlichen Besitz übergegangenen Druckerei, daß der Betrieb mit Gewinn arbeiten mußte. Jeder private Auftrag wurde gerne angenommen, da die amdichen Publikationen und die wissenschafdichen Arbeiten ein Verlustgeschäft waren; diesem Umstand ist es zuzuschreiben, daß die Druckerei bei Aufrechterhaltung ihrer alten Verpflichtungen immer häufiger als selbständiger Unternehmer
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auf dem Markt auftritt und in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, als das Niveau der Universität einen Tiefpunkt erreichte, ihre Druckerei eine immer wichtigere Rolle im kulturellen Leben einzunehmen begann. Hinsichtlich des technischen Teils des Prozesses ist zu sagen, daß die Druckerei die Einrichtung der Wiener Kurzböck-(später Novakovic-)Drukkerei kaufte und gleichzeitig das Privileg zur Publikation von Büchern in „östlichen Sprachen" (mit kyrillischen Buchstaben) erhielt. Zu diesem Privileg kam es, weil die Regierung dem Buchimport aus Moskau und Kiev entgegenzuwirken suchte. Der Handel erwies sich letztlich in geschäftlicher Hinsicht als nützlich, und die Publikationen spielten ein halbes Jahrhundert lang eine Rolle in der Entwicklung der südosteuropäischen Literaturen. Die zweite technische Neuerung bestand darin, daß die Gießerei weiter entwickelt wurde; im Zuge dieser Entwicklung nahm die Statthalterei einen hervorragenden Schriftschneider in der Person von Samuel Falka Bikfalvi (1789—1826) unter Vertrag. Er ermöglichte es, daß die Typographie der Universität einige Druckereien in Ungarn (Eger, Esztergom, Debrecen) und im Ausland mit Schriftmaterial versorgte. Ein zusammenfassendes Bild seiner Tätigkeit liefert das 1824 herausgegebene Musterbuch der Druckerei („Proben aus der Schriftgiesserej der königlichen ungarischen Universitäts-Buchdruckerey"); seine Buchstaben verraten unverkennbar den klassizisierenden Geschmack. Um diese Zeit wurde Ferenc Säghy (1795—1838) Verwalter der Druckerei. Er organisierte den Betrieb um und führte ihn mit gutem Geschäftssinn weiter. Säghy begann als ungarischer Schriftsteller und unterhielt zeitlebens gute Beziehungen zu ungarischen Dichterkreisen. Zugleich erhielt er den Posten als Vertrauensmann der Statthalterei, und da dieses Amt zur Zeit der Zuspitzung nationaler Gegensätze und Streitigkeiten die parallele Entwicklung aller in Ungarn gesprochenen Sprachen förderte, tat auch der Verwalter der Typographie dasselbe. Nichts ist kennzeichnender für die Verhältnisse als die Tatsache, daß die Druckerei zwischen 1804 und 1824 257 deutsche, 241 serbische, 236 ungarische und 167 rumänische Druckschriften veröffentlichte. Der Beginn der Tendenz zum Ungarischen fällt nach dem Ausweis der Buchproduktion genau zwischen 1830 und 1836. Im Jahre 1830 stimmt die Anzahl der ungarischen und serbischen Bücher überein (20), wie auch die der deutschen und rumänischen Werke (11), doch übertrifft die Zahl der lateinischen Publikationen die jeder einzelnen Nationalsprache (51). Nach 1830 steigt die Zahl der rumänischen Druckschriften nie über zehn, nach 1832 ist die Zahl der ungarischen Druckwerke stets höher als die der serbischen. Ab 1836 übertreffen die ungarischen Publikationen zum ersten Mal die lateinischen, und vom gleichen Jahr an übersteigt die Anzahl deutscher Bücher immer die der serbischen. Der Umschwung geht offensichtlich unabhängig von der Leitung der Typographie vor sich, steht jedoch in engem Zusammenhang mit der Tat-
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sache, daß Pest und Buda immer mehr zum ungarischen Kulturzentrum wurden, aber auch mit der Veränderung der gesamten ökonomischen und sozialen Struktur sowie der herrschenden ideologischen Strömungen im alten Ungarn. Dieser komplizierte Prozeß zeigt sich eigentlich in der sprachlichen Verteilung der Druckwerke. An einem Ende dieses über ein halbes Jahrhundert andauernden Prozesses steht der traditionelle Gebrauch des Lateinischen, am anderen kann das Übergewicht ungarischer Publikationen beobachtet werden. Dazwischen liegt jene Periode, in der sich die Druckerei wirklich sehr um die Förderung und Pflege der Sprachen aller in Ungarn lebenden Nationen verdient machte; sie war ferner an der Herausbildung der bulgarischen Literatursprache beteiligt. Die Vergabe von Korrektor- und Zensorenstellen sicherte manchem Schriftsteller den Lebensunterhalt. Im folgenden werde ich versuchen, mit einigen Daten anhand der bisher noch immer vollständigsten Materialsammlung von Istvän Käfer den Wandlungsprozeß der typographischen Produkte zu veranschaulichen: den Wandel jenes Zeitabschnittes also, in dem die lateinische Druckerei in erster Linie zu einer ungarischen wurde und mit ihrer Tätigkeit in dieser Zeitspanne einen wirksamen Beitrag zur Entfaltung der Sprachen aller in Ungarn lebenden Völker — unter Leitung der Universität und der Statthalterei — leistete. Eine Veränderung in der sprachlichen Verteilung der Publikationen macht sich zum ersten Mal unter Joseph II. bemerkbar, und zwar durch den Anstieg der Zahl der deutschen Druckschriften. Während diese vor 1777 jährlich nie mehr als fünf ausgemacht hatten, rückten sie ab 1780 dermaßen in den Vordergrund, daß ihre Zahl 1787 die der lateinischen Werke übertraf und sie im Jahre 1788 62% aller anderssprachigen (lateinischen, ungarischen, slowakischen) Publikationen ausmachte. Im Jahre 1790, dem Todesjahr des Kaisers, gelangten den allgemeinen innenpolitischen Verhältnissen entsprechend die lateinischsprachigen Schriftwerke (57%) an die erste Stelle, die Zahl der ungarischen Werke versechsfachte sich, die Zahl der deutschsprachigen Publikationen verringerte sich verglichen mit dem früheren Stand um zwei Drittel. Die Jahre nach dem Tode des Kaisers spiegeln wahrscheinlich den realen Bedarf wider: Die Hälfte aller Druckwerke (262) erschien in lateinischer (133), ein Fünftel in deutscher (57), ein Achtel in ungarischer (35) Sprache. Ab 1796 kann ein vermehrtes Erscheinen der serbischen Bücher registriert werden: Sie überholten in den folgenden zehn Jahren sowohl die ungarischen als auch die deutschen Ausgaben. Vermutlich ist es dem Vordringen der serbischen Sprache zuzuschreiben, daß das Verhältnis der lateinischen Bücher im Vergleich mit den anderen Werken damals unter 40% sank; das Lateinische verlor gleichzeitig endgültig seine Vormachtstellung. Der zahlenmäßige Zuwachs der rumänischsprachigen Druckwerke setzt mit dem Jahr 1804 ein; ein gewisser Rückschlag kann erst ab 1820 beobachtet werden. In diesen Jahren erschienen in Buda 142 rumänische Druckschrif-
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ten; dies war ein großer Fortschritt, wenn man bedenkt, daß zwischen 1778 und 1803 sich ihre Zahl nur auf 21 belief; es gab eine Zeitspanne von fünf Jahren, in der die rumänischen Druckwerke die serbischen zahlenmäßig sogar übertrafen (1815—1820). Jene Epoche der ehemaligen Druckerei der heutigen Budapester Universität, in der sie durch ihre Drucktätigkeit Sprache und Literatur aller in Ungarn lebenden Völker förderte, umfaßt genaugenommen einen Zeitabschnitt von vierzig Jahren: von 1796 bis 1836. Die Grenze dieser Periode steht in engem Zusammenhang mit der altbekannten Tatsache, daß zwei Jahrzehnte zuvor Wien das Zentrum der ungarischen Literatur war, ferner mit jener anderen allgemein bekannten Tatsache, daß die Hauptstadt des Habsburgerreiches damals auch den Literaturen anderer Völker als Heimstätte diente. Aufgrund von Käfers Angaben ist bekannt, daß die Universitätsdruckerei zwischen 1833 und 1848 neben ungarischen Werken (713) hauptsächlich deutsche (210) druckte. Der weitere Bestand des deutschen Buchdruckes ist unter den Verhältnissen der Monarchie völlig verständlich. Es stellt sich jedoch die Frage, inwieweit Pest und Buda zwischen 1796 und 1836 als eine Art Klein-Wien oder als Erben Wiens ausgesehen werden können, und ob es der Regel entspricht, daß nach der Hauptstadt des österreichischen Vielvölkerstaates in der obengenannten Periode die Hauptstadt des ebenfalls einen Vielvölkerstaat darstellenden Ungarn eine ähnliche Rolle spielte, und ob sich ähnliche Phänomene vielleicht auch heute finden lassen. Ich glaube, daß man, um diese Frage erschöpfend beantworten zu können, vor allem die Kulturgeschichte der alten Monarchie mit komparatistischer Methode schreiben müßte, wobei man von österreichischer wie von ungarischer Seite an dieses gemeinsame (vielleicht sogar internationale) Problem herangehen müßte. Literatur I. Käfer: Az Egyetemi Nyomda 400 eve (400 Jahre Universitätsdruckerei). Budapest 1977. B. Ivänyi und A. Gärdonyi: Α Kirälyi Magyar Egyetemi Nyomda törtinete (Die Geschichte der Königlich-Ungarischen Universitätsdruckerei). Budapest 1927.
ANTAL MÄDL DIE UNIVERSITÄT BUDAPEST UND IHRE BEZIEHUNGEN ZUM ÖSTERREICHISCHEN UND D E U T S C H E N G E I S T E S L E B E N I M 19. J A H R H U N D E R T
Zur ersten Universitätsgründung auf ungarischem Boden kam es im 14. Jahrhundert. Drei Jahre nach der Universität Krakau (1364) und zwei Jahre nach der Wiener Universität (1365) wird in Südungarn, in Pees (Fünfkirchen), von Ludwig dem Großen die erste ungarische Universität gegründet. Mit den unmittelbaren organisatorischen Aufgaben beauftragte der König einen Professor der Universität Padua. Diese Universität bestand aus zwei Fakultäten, aus einer juristischen und einer philosophischen. Mit ihrer Gründung wurden wissenschaftliche und kultur- bzw. machtpolitische Ziele verfolgt. Sie sollte ähnlich der Wiener und der Krakauer Universität ein Gegengewicht zur kaiserlichen Gründung in Prag (1347) bieten. Zwei Jahrzehnte später, 1389, gründete der ungarische König und spätere römisch-deutsche Kaiser Sigismund im einstigen Altofen eine Universität, die von Papst Bonifatius IX. bestätigt wurde. Zum Rektor ernannte er den Propst der Sankt-Peters-Kirche zu Altofen, für die Gehälter der Professoren hatte der kirchliche Grundbesitz der Dompfarrer aufzukommen. Diese — ihrem Charakter nach wahrscheinlich nur — theologische Hochschule dürfte ihre Tätigkeit bald eingestellt haben, denn eine päpstliche Bulle von 1410 berechtigte König Sigismund von neuem, in Buda eine Universität mit vier Fakultäten zu gründen, die laut päpstlicher Bulle „alle Privilegien erhalten soll, die die Hochschulen von Paris, Oxford und Bologna besitzen" 1 ). Von einer vorübergehenden Blütezeit dieser Universität auf internationaler Ebene zeugt, daß mehrere ihrer Professoren an der Seite des Kaisers am Konzil von Konstanz teilnahmen. Den Tod des Kaisers dürfte sie aber kaum überlebt haben, denn Matthias Corvinus wandte sich bereits 1465 an Papst Paul II. um eine neue Genehmigung; er wollte nämlich in Preßburg eine Universität gründen, denn „Ungarn, obwohl es groß und produktiv ist, besitzt keine Universität" 2 ). A. Hehler: A Budapest! Päzmänyegyetem sorskerd6sei (Schicksalsfragen der Budapester Päzmany-Universität). Budapest 1931. S. 7 f. 2) Ebenda, S. 8.
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Zehn Jahre später erfahren wir von einem weiteren Plan dieses RenaissanceKönigs: im Rahmen der Städteplanung von Buda (Ofen) soll auch eine Universität gebaut werden. „Zum Rektor rief er auf Vorschlag von Antonius de Jadra, dem Beichtvater der Königin Beatrice, den Dominikaner Petrus Niger nach Buda." 3 ) Diese Hochschule mit zwei Fakultäten reichte dem König aber nicht aus, so daß es in seinen letzten Jahren zu einem dritten Versuch kam. Große Bauunternehmungen in der königlichen Burg, beachtliche Bücherankäufe im Auftrage des Königs in Italien beweisen das Ausmaß dieses Vorhabens, das aber von seinem plötzlichen Tod unterbrochen wurde. In der nachfolgenden Zeit war die königliche Macht nicht in der Lage, die Universität aufrechtzuerhalten, und übergab sie den Dominikanern. Von 1495 an verfügte der Orden der Dominikaner von Rom aus über das weitere Schicksal der Universität, die sich in eine theologische Hochschule umwandelte und als solche bis zur ersten Belagerung Ofens durch die Türken, bis zum Jahre 1541 bestand. Rund hundert Jahre mußten vergehen, bis es auf dem Boden des einstigen ungarischen Königreiches wieder zu einer Universitätsgründung kommen konnte. Die türkische Besetzung des Großteils Ungarns und die Auswirkungen der Reformation und ihr folgend der Gegenreformation warfen das Land, das sich einst mit seinen ersten Universitäten noch um den unmittelbaren Anschluß an den Westen bemühte, wesentlich zurück. Ohne zentrale Universität versuchten sich im weiteren die einzelnen Kirchen selbst zu helfen; hier gingen die reformierten Kirchen durch eigene Hochschulgründung beispielgebend voraus. Eine Reihe von Hochschulen entstand im 16. und 17. Jahrhundert (Papa, Sarospatak, Debrecen u. a.), die zu wichtigen Bildungsstätten der reformierten Jugend wurden und bis zum 20. Jahrhundert eine entscheidende Rolle spielten. Diese Hochschulen sowie die Entsendung ungarischer Studenten an ausländische, vor allem an deutsche Universitäten, sicherten den Nachwuchs der reformierten Kirchen in Ungarn bis in das 19. Jahrhundert hinein. Besonders Halle, Jena, Göttingen sind in dieser Beziehung bekannt. Zur eigentlichen Universitätsgründung brachte es allein die katholische Kirche in ihrer gegenreformatorischen Tätigkeit, unterstützt vom Kaiserhof und vorangetrieben vom Jesuitenorden. Peter Pazmäny, die führende Gestalt der ungarischen Gegenreformation, wurde so zum Gründer der Universität in Nagyszombat (Tyrnau, Trnava) im Jahre 1635. Die Atmosphäre, in der diese jesuitische Gründung ihre Tätigkeit als Universität aufnahm, wurde anfangs durch die Türkengefahr, durch die Auswirkungen des Dreißigjährigen Krieges und die konfessionellen Streitigkeiten, später aber auch durch die Aufstände der Kurutzen gegen die Habsburger bestimmt. Pazmäny betrachtete die Gründung der Tyrnauer Universität als ein Mittel zur Zurückdrängung der 3) Ebenda, S. 9.
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Reformation 4 ). Die Universität begann die Arbeit mit zwei Fakultäten, mit der theologischen und der philosophischen. Die Eröffnung der juristischen und der medizinischen Fakultät folgte erst wesentlich später, womit auch jene Tatsache zu erklären ist, daß die päpstliche Genehmigung sehr lange auf sich warten ließ. Im Gegensatz zu den mittelalterlichen Gründungen war die Universität von Nagyszombat keine weltliche, d. h. königliche Gründung, sondern eine kirchliche Einrichtung. Als Jesuiten-Universität war sie selbstverständlich der Prager, der Grazer, der Innsbrucker, und vor allem der Wiener Universität in jeder Hinsicht ähnlich, denn der Einfluß der Gesellschaft Jesu machte sich überall auf gleiche Weise bemerkbar. Päzmäny wollte sofort zur Wiener Universität einen engen Kontakt herstellen, der sich auf sämdiche Gebiete der Tätigkeit hätte erstrecken sollen, er wich aber dann von diesem Vorhaben ab. Die enge Verbindung mit den österreichischen Universitäten, vor allem mit der Grazer, wird bereits aus einer Eintragung in das Tagebuch des JesuitenCollegiums vom 29. März 1636 offensichtlich. Hier heißt es: „Ich erhielt aus Graz, vom Rektor, dem Pater Johann Rumer, das handschriftliche akademische Buch, in dem die akademischen Studien nach ihrer inneren und äußeren Struktur enthalten sind." 5 ) Die enge Anknüpfung an die von den Jesuiten beeinflußten österreichischen und anderen westeuropäischen Universitäten war für diese Neugründung eine gewisse Garantie, denn sie mußte sich in Umfang und Gliederung des Unterrichtsmaterials nach diesen richten und vermittelte dadurch denselben Bildungsstoff wie die meisten damaligen europäischen Universitäten. Dies erwies sich jedoch recht bald auch als ein Nachteil. Bereits 1649 beschäftigte sich die oberdeutsche Congregation der Jesuiten mit den Unzulänglichkeiten im philosophischen und theologischen Unterricht. Ihre Entscheidung war aber damals und eigentlich bis zur Aufhebung des Ordens gegen sämtliche neuen philosophischen Lehren gerichtet. Betrachtet man diese ungarische Universität, so fällt auf, daß sie als katholische Einrichtung alle anderen Konfessionen ausschloß und sich weitgehend auf die hocharistokratischen Kreise beschränkte. Außer den Mitgliedern des eigenen Ordens oder gelegentlich anderer katholischer Orden finden wir auf der Liste der Studierenden in der Tyrnauer Zeit zum Beispiel 26 mal den Namen Esterhazy, ebenfalls 26 mal den Namen Graf und Baron Revai, dann Namen wie Zichy, Batthyäny, Forgäch, Kohary, Berenyi u. a. 6 ). Sowohl im österreichischen Hochschulwesen, als auch an der Universität Nagyszombat setzte mit der Thronbesteigung Maria Theresias eine neue 4 ) V g l . I. Ss-entpetery: Α bölcseszettudomänyi kar törtenete 1 6 3 5 — 1 9 3 5 (Geschichte der Philosophischen Fakultät 1635—1935). Budapest 1935. S. 4. 5 ) Zitiert nach S^entpetery, ebenda, S. 8. 6) Ebenda, S. 2 4 und 127.
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Epoche ein. Die Auflösung des Jesuitenordens, die Übersiedlung der Universität nach Ofen (1777) und zehn Jahre später (1786) nach Pest eröffneten eine neue Epoche in der Geschichte der Universität. Bereits 1752 erfolgte eine Regelung des Studiums an den theologischen und philosophischen Fakultäten Österreichs; ein Jahr später wurde der Erzbischof von Esztergom, Miklos Csaky, von der Kaiserin verpflichtet, dieselbe auch an der ungarischen Universität durchzuführen. Die Begründung wirkt sehr rationell: für jene, die nach Rom oder nach Wien gehen, um dort zu studieren, muß die Anschlußmöglichkeit dadurch gesichert werden, daß sich das Studium nach diesen Universitäten richtet: „Auch wäre es nicht erwünscht, daß der Unterricht der ungarischen Universität von dem allgemeinen abweiche, was zur Geringschätzung der Ungarn im Ausland führen könnte und besonders das Wissen des ungarischen Klerus nachteilig treffen würde." 7 ) Der Prozeß, der für die Wiener Universität einfach den Übergang des Universitätswesens von kirchlicher Hand zu einer Staatsuniversität, zu „einer öffentlichen Anstalt" 8 ) bedeutete, führte bei der ungarischen Universität, besonders nach deren Ubersiedlung in die Hauptstadt, in steigendem Maße zu Schwierigkeiten, die vorläufig in milder Form auf das nationale Recht anspielten und eine nationale Selbständigkeit auch in diesem Bereich bewahren wollten, später aber auch in der Frage des Sprachgebrauchs heftige Auseinandersetzungen auslösten. Auf Grund einer Verordnung von Maria Theresia kam es noch 1765 unter dem Vorsitz des Grafen Miklos Pälffy zur Gründung einer „studiorum commissio", die neue Reformvorschläge unterbreiten sollte. Wahrscheinlich hielt man aber die Arbeit der Kommission nicht für besonders erfolgreich, denn 1767 wurde dem Rektor vom Hof einfach mitgeteilt, er habe samt seiner Professoren sich in allem nach den Studienordnungen zu richten, die für die Wiener Universität bereits gültig sind. Ein Jahr später beschäftigte sich der Hofrat und der Staatsrat wieder mit der ungarischen Universität und erklärte, die Studienordnungen der Wiener und der Prager Universität sind als verpflichtende Grundregeln zu betrachten. Im Protokoll des Staatsrates wurde folgende Begründung vermerkt: „Damit die Einrichtung des studii und der Universität zu Tyrnau, soviel es thunlich ist, auf gleichen Fuß mit den übrigen erbländischen Universitäten eingerichtet werden möge." 9 ) Erst danach, am 17. Juli 1769, folgte der Entschluß der Kaiserin, die Universität von Tyrnau unter den Schutz der Verwaltung ihrer selbst und ihrer Nachfolger zu stellen. Mit der Norma Studiorum im Oktober 1770 setzte dann ein langer Reformierungsprozeß ein, der besonders in der ersten Zeit, durch die schrittweise Befreiung der Universität von den Jesuiten, ') Ebenda, S. 27. R. Kink: Geschichte der kaiserlichen Universität zu Wien. Bd. 1. Wien 1854. S. 476. ») Vgl. Staatsrat, 1768, Nr. 983.
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eine weitwirkende Lehr- und Lernfreiheit erwirkte, und, was für Ungarn von entscheidender Wichtigkeit war, auch den Vertretern anderer Konfessionen den Weg zum Studium öffnete. Der Kaiserin schwebte für die Universität Tyrnau bzw. Buda eine Lösung vor, wie sie in Erfurt praktiziert wurde: sie sollte neben der katholischen auch eine reformierte theologische Fakultät erhalten. Die Protestanten waren aber nicht bereit, ihre eigenen Hochschulen dafür einzutauschen, so daß man den Plan fallen ließ. Dies war jedoch der Weg, auf dem sich die Universität langsam zu einer staatlichen Universität entwickelte, deren Anziehungskraft in dieser Zeit bedeutend anstieg 10 ). Mit der Öffnung ihrer Pforten für alle Studierenden, unabhängig welcher Konfession sie angehören, erweiterte sich die Möglichkeit, daß zu den Professoren, außer den Jesuiten, die weiterhin die philosophischen und theologischen Studien vermittelten, auch andere Zutritt erhielten. 1787 wies der Merkur von Ungarn auf den ausdrücklichen Beschluß der Kaiserin hin, der es der Universität zur Pflicht machte, daß außer den Jesuiten auch „andere dafür geeignete Personen, die sich um die Professur bewerben, nicht ausgeschlossen werden dürfen" ii). Die Krönung und Zusammenfasssung des Reformwerkes des Unterrichts von Maria Theresia, die Ratio Educationis (1777), bestimmte auch den weiteren Weg der Universität 22 ). Das Toleranzedikt von Joseph II. (1781) eröffnete weitere Möglichkeiten für Protestanten und Israeliten an der Universität! 3 ). Als Folge der Berichte, die sofort 1780 von allen Universitäten über deren wirtschaftliche Lage eingeholt wurden, trat eine wesentliche finanzielle Verbesserung auch an der Pester Universität ein. Aber auch das Zeremoniell bei der Verleihung der Promotion — noch ein Überrest aus der Jesuitenzeit — wurde kurzer Hand entfernt. Auf Grund der praktischen Brauchbarkeit hat man auch das Universitätsstudium in Pest umorganisiert: Die philosophische Fakultät wurde wesentlich eingeschränkt, das Studium auf drei Jahre begrenzt, gleichzeitig wurde das Jus- und Theologiestudium von fünf auf vier Jahre reduziert. Dagegen erweiterte man das Medizinstudium von dreieinhalb auf vier Jahre, während die Ingenieurausbildung am Institutus Geometricus eingeführt wurde 14 ). Das puritanisch Rationelle des Josefinismus rief im Universitätsbetrieb einen starken Widerwillen hervor, der an der ungarischen Universität in Pest 1 0 ) Vgl. Unnepi beszedek 1929—1932. — A budapesti Kirälyi Magyar Päzmäny P6ter Tudomänyegyetem rectorai (Feierreden 1929—1932. — Rektoren der Budapester Königlichen Ungarischen Päzmäny Peter Universität). Aus der Antrittsrede des Rektors Gideon Petz. Budapest 1932. S. 29. " ) Merkur von Ungarn. 1787. 48—49. 12) S^entpetery, ebenda, S. 37. 1 3 ) Ünnepi beszedek . . S. 33. 1 4 ) A 325 6ves Budapesti Eötvös Loränd Tudomänyegyetem rövid törtenete (Kurze Geschichte der 325jährigen Budapester Eötvös Loränd Universität). Budapest 1960. S. 13.
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durch die Frage der Unterrichtssprache noch wesentlich verstärkt wurde. Bestimmte Tendenzen, die sich vorher in Richtung der ungarischen Sprache beim Unterricht bemerkbar gemacht hatten, wurden durch die Einführung der deutschen Sprache als Amtsprache zunichte gemacht. Die Anpassung an die Wiener Universität — nur mit Widerwillen durchgeführt — sollte sich jetzt auch im sprachlichen Bereich vollkommen realisieren. Um dies zu fördern, wurde 1784 der Unterricht der deutschen Sprache und Literatur durch eine eigene Lehrkanzel eingeführt. Die Begründung dazu im StaatsratProtokoll heißt: „Zu mehrerer Fortpflanzung der deutschen Sprache in Hungarn." 15 ) Die Folge davon war, daß bei der ersten Vakanz der Lehrkanzel, bereits nach dem Tod Josephs II., auf deren Kosten 1791 zuerst eine ungarische Lehrkanzel errichtet und die deutsche erst einige Jahre später wieder neu belebt wurde. Noch unter Leopold II. wird anstelle des Deutschen von neuem das Lateinische als Unterrichtssprache eingeführt. Nachdem im Jahre 1830 das Ungarische als Amtssprache und 1844 auch in der Gesetzgebung und im Grund- und Mittelschulunterricht eingeführt wurde, trat an der Pester Universität die Frage des Unterrichts in der Muttersprache wieder auf. 1839—1840 bemühte sich bereits der Landtag darum, daß ungarische Sprachkenntnisse bei den Professoren der Pester Universität als Forderung gestellt werden sollen. So machte man zum Beispiel ein Jahr später dem Professor für italienische Sprache, Johann Fletzer, den Vorwurf, er spreche zwar sieben Sprachen, aber das Ungarische ist nicht darunter. Er wurde auch aufgefordert, sich die ungarische Sprache anzueignen. Diese Jahre standen dann bis zur Revolution 1848 im Zeichen des Kampfes für den Unterricht in der Muttersprache. Die juristische Fakultät setzte den ungarischsprachigen Unterricht bereits 1842 durch, die anderen Fakultäten aber noch nicht. Die Vorkämpfer waren freilich die Professoren an der philosophischen Fakultät, vor allem die für ungarische Literatur und Ästhetik. Der Professor für Geschichte, Reisinger, erklärte sich bereit, ab 1842/43 seine Vorlesungen über ungarische Geschichte ungarisch zu halten. Bedenken gegen eine übereilte Einführung der ungarischen Sprache wurden aber vor allem von den Vertretern der Naturwissenschaften ausgesprochen, so vom Professor für Physik, Anyos Jedlik, vom Professor für Mathematik, Degen, die darauf bestanden, den sukzessiven Weg einzuhalten, das heißt auf jene Jahrgänge zu warten, die bereits vom Elementarunterricht an diese Gegenstände in ungarischer Sprache gelernt haben 16 ). Diese ausschließliche Konzentrierung auf die Sprache ließ gelegentlich auch nützliche und vorwärtsweisende Bestrebungen außer acht. So mußte zum Beispiel der Philosophie-Unterricht, den Joseph II. einmal schon auf drei 15) 16)
Staatsrat, 1784, Nr. 4 4 4 2 ; zitiert nach S^entpetery, ebenda, S. 302. V g l . Szentpetery, ebenda, S. 1 8 9 f.
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Jahre festgelegt hat, der aber nachher auf zwei Jahre reduziert wurde, 1816 vom Hof wieder auf drei Jahre erweitert werden. Freilich war das doch eine Ausnahme. Im allgemeinen machte sich die neue Ratio Educationis von 1806 an dadurch, daß sie über den Mittelschulunterricht hinaus auch die Universitäten der staatlichen Kontrolle unterstellte und von 1816 an die Funktion des Dekans — ähnlich wie in Wien und Prag — einem vom Hof delegierten Direktor übertrug, weitgehend geltend 17 ). Diese Kontrolle legte letzten Endes der wissenschaftlichen Ausbildung Fesseln an. Die Professoren waren verpflichtet, sich in ihren Vorlesungen an vorher festgelegte Themenkreise zu halten, und durften auch nur die Anschauungen von ebenfalls vorher bestimmten Wissenschaftlern vertreten. Die Bemühung des Hofes, die Pester Universität der Wiener wieder einmal anzupassen, brachte so eine Reihe von neuen Ähnlichkeiten mit sich, die aber weder in Wien noch in Pest zum Vorteil der Wissenschaft und der Bildung gereichten. Der Entschluß des Kaisers Franz vom 13. September 1793: „Nachdem meine Absicht dahin gehet, die Pester Universität nach dem Muster der hiesigen Universität, insoweit es thunlich ist, zu organisieren . . .0Λ οΛοΛ
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Warschau war damals das größte und wichtigste Zentrum des kulturellen und wirtschaftlichen Lebens in Kongreßpolen; andere, wie z. B. Wilna, das einst am stärksten auf dem Gebiete der Bildung und Wissenschaft hervorgetreten war, hatte in den Jahren 1865—1905 gar keine Möglichkeiten, sein wissenschafdiches Wirken weiterzuentwickeln 5 ). Die russische Regierung Schloß 1865 die seit 1855 in Wilna existierende Archäologische Kommission; hinter diesem einfachen Namen verbarg sie ihre wirkungsvollen historischen Forschungen. Seit 1899 war in Wilna die illegale Gesellschaft der Freunde des Altertums und der Ethnographie tätig, die eine kleine Gruppe der Intelligenz vereinigte. Dort fanden Versammlungen mit Vorträgen im engsten geheimen Kreis statt, außerdem sammelten die Mitglieder historische, archäologische und ethnographische Gegenstände. Die Gesellschaft besaß auch eine kleine, aber wertvolle wissenschaftliche Bibliothek. Erst die Revolution des Jahres 1905 schuf eine vollkommen veränderte Situation in diesem Land, da eine sehr große Anzahl von Arbeitern zu streiken begann. Die Kraft dieses Phänomens verblüffte selbst die Streikenden, ebenso wie die Behörden, denen es zum ersten Mal klarwurde, welche Ausmaße die Arbeiterbewegung annehmen könnte. Die allgemeine Streikbewegung im Jänner und Februar im ganzen Land — sie wiederholte sich im Oktober und im November 1905 — hatte ihre Ursache in den Forderungen nach politischen und wirtschaftlichen Rechten. Der Streik war das Hauptelement im Kampf um den Sturz des Zarentums, um Demokratisierung der Gesellschaftsordnung und um nationale Freiheit6). Gerade dieser politische Charakter des Streiks bewirkte, daß ihn die nichtproletarischen Schichten unterstützten, d. h. ein Teil der Intelligenz sowie breite Kreise des Bürgertums und auch der Bauern. Die Streikbewegung, vor allem die allgemeinen Streiks, erwiesen sich angesichts des Mangels politischer Freiheiten im zaristischen Rußland als das wirkungsvollste Mittel, das die anderen Gesellschaftsgruppen mobilisierte und sie zur politischen Betätigung aufrief. Neben den Arbeitern nahmen weite Bereiche zum Wissen. Erinnerungen einer der ersten Krakauer Studentinnen des 19. Jahrhunderts). W r o c l a w 1961. S. 1 4 3 — 1 6 1 ; K. Nagirska: Ze Szczawinskich Jadwiga D a w i d o w a ( 1 8 5 6 — 1 9 1 0 ) : „Niepodleglosc" („Unabhängigkeit"). Bd. 6. 1932. S. 2 0 5 f . ; S. Michalski: Autobiografie i dzialalnosc oswiatowa (Autobiographie und Bildungstätigkeit). W r o c l a w 1967. S. 9 9 — 1 4 6 , 270—275. 5 ) Zarys stanu i dzialalnoäci Towarzystwa Przyjaciöl Nauk w Wilnie oraz Sprawozdanie za rok 1931 (25 rok istnienia) (Abriß der Lage und der Tätigkeit der Gesellschaft der Freunde der Wissenschaften in Wilna sowie Rechenschaftsbericht f ü r das Jahr 1931 [25. Jahr des Bestehens]). Wilna 1932. S. 132 f . ; M. Brens^tajn: Towarzystwo Przyjaciöl Nauk w Wilnie (Gesellschaft der Freunde der Wissenschaften in Wilna). In: W i l n o i Ziemia wilenska. Zarys monograficzny. Bd. 2. W i l n o 1937. S. 1 3 1 £ 6) S. Kalabmski, F. Tych: Czwarte powstanie czy pierwsza rewolucja. Lata 1 9 0 5 — 1 9 0 7 na ziemiach polskich (Der vierte Aufstand oder die erste Revolution. Die Jahre 1 9 0 5 — 1 9 0 7 auf polnischem Gebiet). 2. Auflage. Warszawa 1976. S. 1 1 8 — 1 2 2 .
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der Intelligenz, unter ihnen die Lehrer, an den Streiks teil. Man muß unterstreichen, daß am 28. Jänner 1905 die Universitätsjugend — ebenso wie die Gymnasialschüler in Warschau — einen Streik begann. Vom Februar bis zum Beginn der Ferien des Jahres 1905 dehnte sich der Schulstreik auf ganz Kongreßpolen aus. Hauptzweck des Streiks war die Wiedereinführung des Polnischen als Unterrichtssprache, die Wiederanstellung ausgewiesener polnischer Lehrer sowie die Abschaffung des Polizeicharakters der Schulen. Den Streiks und den Boykotts der russischen Schulen in Kongreßpolen folgten Repressionen der Behörden gegenüber der Jugend. Die Hoch- und Mittelschulen wurden geschlossen und viele Studenten verhaftet oder von der Hochschule relegiert. Als Resultat des Streiks entwickelte sich das in Privatwohnungen betriebene illegale Schulwesen in einem zuvor nie gekannten Ausmaß. Die streikenden Lehrer unterrichteten. Ein anderes Ergebnis des Schulstreiks war die Massenemigration der Jugend aus Kongreßpolen nach Galizien oder ins Ausland zu den dortigen Hochschulen. Der Zustrom der Jugend aus Kongreßpolen nach Galizien hatte großen Einfluß auf die Intensivierung und Radikalisierung des sozial-politischen Lebens der dortigen Jugend 7 ). Ebenso zahlreich war die Emigration der Studenten aus Kongreßpolen ins Ausland: nach Österreich, Deutschland, Belgien, Frankreich und in die Schweiz8). In all diesen Ländern betrug ihre Zahl mehr als die Hälfte der im Ausland studierenden Polen. Die gewaltige Erschütterung, die das Zarentum infolge der Revolution von 1905 erlitt, sowie die gleichzeitigen Mißerfolge Rußlands im Krieg mit Japan veranlaßten die Regierung zu Zugeständnissen, u. a. zum Erlaß der „vorläufigen Verordnungen über Vereinigungen und Verbände" vom 17. März 1906, der eine Anzahl polnischer wissenschaftlicher Organisationen legalisierte; infolge der unveränderten Situation an den russifizierten Hochschulen Kongreßpolens ermöglichten die Organisation in dieser Form wenigstens eine 7) / . Hulewicxζ: Studia wyzsze mlodziezy z zaboru rosyjskiego w uczelniach galicyjskich w latach 1905—1914 (Höhere Studien der Jugend aus den russisch besetzten Gebieten an den galizischen Lehranstalten in den Jahren 1905—1914). In: Zeszyty Naukowe Uniwersytetu Jagiellonskiego Nr 16, Historia. 1958/3. S. 234—255. 8) H. Barycz·' Ζ dziejöw polskich w^dröwek naukowych za granic§ (Aus der Geschichte der polnischen wissenschaftlichen Reisen ins Ausland). Wroclaw 1969. S. 162 ff.; Z. Tornkowski: Ζ dziejöw polskich stowarzyszed akademickich w Austrii w drugiej polowie X I X wieku i na pocz^tku X X wieku (Aus der Geschichte der polnischen Studentenvereinigungen in Österreich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und zu Anfang des 20. Jahrhunderts). In: Zeszyty Naukowe Uniwersytetu Jagiellonskiego. Nr. 455. Prace Polonijne. 1976/2. S. 135 f . ; / . Hukmcz·' Studia Polaköw w uniwersytetach obcych w latach 1880—1914 (Studien von Polen an ausländischen Universitäten in den Jahren 1880—1914). In: Sprawozdania z Czynnoäci i Posiedzen Polskiej Akademii Umiej^tnoÄci. Bd. 40/1935. S. 328—331; ders.: Les dtudes des Polonais dans les universites suisses 1864—1918. Varsovie 1938. S. 5—15; ders.: Studia Polaköw w Uniwersytecie w Liege w latach 1880—1914 (Studien von Polen an der Universität von Liege in den Jahren 1880—1914). Kraköw 1969. S. 11—21.
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Kultivierung der Wissenschaft. In den Jahren 1906—1915 wurden in Warschau 20 neue wissenschaftliche Vereinigungen und Organisationen gegründet; an ihrer Spitze stand dank der Initiative der Warschauer Gelehrten die Warschauer Wissenschaftliche Gesellschaft; einige dieser Gelehrten waren Mitglieder der Krakauer Akademie der Wissenschaften9). Die Generalversammlung wählte am 25. November 1907 den Ausschuß der Gesellschaft und den Historiker A. Jablonowski als ihren Vorsitzenden. Die Mitglieder des Ausschusses waren zugleich Vertreter aller oben genannten Institutionen in Warschau. Obwohl die Warschauer Wissenschaftliche Gesellschaft in einer Zeit sichtbarer Zugeständnisse der russischen Regierung entstand und das polnische Volk größere politische und kulturelle Freiheiten forderte, erstellte sie ein sehr mäßig formuliertes Programm 10 ). Zwar wurde die Existenz in Verbindung zwischen den Wissenschaften und den Lebenserfordernissen des Volkes hervorgehoben, gleichzeitig aber vermied man deutliche politische Illusionen und Tendenzen zur Einschränkung der wissenschaftlichen Forschungen, die nur der Befriedigung der sofortigen aktuellen Bedürfnisse dienten. Dieser Gesellschaft gehörten im Jahre 1907 84 Gelehrte an, 1914 waren es schon 113 in allen drei Ausschüssen, d.h. in den Sprach- und Literaturwissenschaften, in der Anthropologie und den Sozialwissenschaften mit Geschichte und Philosophie sowie in der Mathematik und den Naturwissenschaften; dies ermöglichte bereits die Entwicklung der Wissenschaften, vor allem im russischen Teilungsgebiet. Nach Absicht der Gründer sollte diese Gesellschaft eine koordinierende Institution für wissenschaftliche Betätigung in ganz Polen werden. Leider behinderte der Mangel an Finanzen und an einem eigenen Lokal die Realisierung der ehrgeizigen Pläne beträchtlich, da die Gesellschaft außer den Mitgliedsbeiträgen nur auf private Spenden angewiesen war und keine staatlichen Subsidien erhielt. Dank der großen Opferbereitschaft an Spenden, Stiftungen und Vermächtnissen, wie ζ. B. von den Warschauer Ärzten Prof. I. Baranowski und J. Pawmski oder vom Aristokraten J. Potocki und auch auf Grund der Hilfe seitens der Mianowski-Kasse, verfügte die Gesellschaft bereits 1911 über bedeutende Geldsummen und ein eigenes Lokal. Auf Grund dieser materiell günstigen Lage konnte die Gesellschaft ihr Statut ändern und ihre Tätigkeit erweitern. Das neue Statut von 1911 9 ) Towarzystwo Naukowe Warszawskie. Materiaiy do jego dziejöw w latach 1907—1950. Na podstawie archiwum oprac. B. Nawroczynski (Warschauer Wissenschaftliche Gesellschaft. Materialien zu ihrer Geschichte in den Jahren 1907—1950. Bearbeitet von B. Nawroczynski auf Archivgrundlage). Warszawa 1950. S. 13 f.; J. Hulemcz·' Akademia Umiej§tnoäci w Krakowie 1873—1918. Zarys dziejöw (Die Akademie der Wissenschaften in Krakau 1873—1918. Abriß der Geschichte). Wroclaw 1958. S. 118, 143 ff. 10 ) Towarzystwo Naukowe Warszawskie . . . (Warschauer Wissenschaftliche Gesellschaft . . .)· S. 18 f.
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legte Nachdruck auf die Organisation und Durchführung von Forschungen in Gruppen und Laboratorien. In den Jahren 1908—1913 wurden während der Sitzungen 396 Referate gehalten, 285 allein im Mathematisch-Biologischen Ausschuß, die dann in den „Berichten der Sitzungen" gedruckt wurden. Die Verlagstätigkeit umfaßte zwei Serien: „Dissertationes" und „Ausgaben" auf verschiedenen Gebieten, die 41 Bände und historische Editionen ausmachten, zusammen ca. 500 Druckbögen. Außer der Vortragstätigkeit in den einzelnen Ausschüssen fiel das Hauptgewicht der Forschungsarbeiten in den Jahren 1911—1914 den Laboratorien der Gesellschaft zu, von denen vier, wie das Anthropologische, Neurologische, Mineralogische und Serologische, vom Industrie- und Landwirtschaftsmuseum übernommen wurden; die Gesellschaft betrieb selbst acht weitere, von denen sieben den exakten und Naturwissenschaften und die achte der Herausgabe der historischen Quellen gewidmet waren. Das Programm eines der Laboratorien, des Radiologischen, wurde 1913 von M. Curie-Sklodowska ausgearbeitet; ihre Schüler und Assistenten J. Danysz und L. Wertenstein realisierten es. All diese Laboratorien hatten 40 ständige Mitarbeiter, zu denen noch etwa weitere 60 nichtständige kamen n ) . In dieser Zeit entstanden außerdem noch zwei Spezialkommissionen innerhalb des ersten Ausschusses: die Linguistische und eine weitere zur Erforschung der Bildung und Literatur in Polen. Aus dem zweiten Ausschuß wurde die Historische Kommission und aus dem dritten in ähnlicher Form die Meteorologisch-Astronomisch-Geographische Kommission gebildet. Schon vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges entwickelte sich die Warschauer Wissenschaftliche Gesellschaft. Sie hatte den größten Einfluß auf das ganze wissenschaftliche Leben in Kongreßpolen und gewann auch große Anerkennung in ganz Polen, so daß sie stets materiell sehr unterstützt wurde, auch von Seiten der russischen fachkundigen Kreise und sogar seitens der staatlichen Behörden. Auch der Austausch der herausgegebenen Schriften mit anderen wissenschafdichen Anstalten im In- und Ausland wuchs an: von 60 im Jahre 1912 stieg er auf 142 im Jahre 1913. „Die Gesellschaft der Freunde der Geschichte" in Warschau, etwas früher entstanden, war personell mit der Warschauer Wissenschaftlichen Gesellschaft verbunden. Das Statut dieser „Gesellschaft" wurde am 28. September 1906 genehmigt, am 17. November erfolgte bereits die Wahl des Vorstandes. Alle Mitglieder des Vorstandes waren zugleich leitende Mitglieder der Warschauer Wissenschafdichen Gesellschaft. „Die Gesellschaft der Freunde der Geschichte" setzte sich die Entwicklung der historischen Wissenschaften, vor allem der polnischen, und ihre Verbreitung in der Bevölkerung mit Hilfe von u ) Ebenda, S. 26—31; B. und E. Ols^ewscy: Rozwöj organizacji nauki w Warszawie w pocz£(,tkach X X wieku (Entwicklung der Organisation der Wissenschaft in Warschau in den Anfängen des 20. Jahrhunderts). In: Dzieja Srödmieäcia. Warszawa 1975. S. 356 ff.
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Vorträgen, Schriften, Abhandlungen und Gründung von Bibliotheken usw. zum Ziel; gleichzeitig entlastete und unterstützte sie die Warschauer Wissenschaftliche Gesellschaft durch ihre Forschungen zur Geschichte Warschaus. Die Hauptrichtungen der „Gesellschaft" stellten ihre Spezialkommissionen dar, wie die Methodologische, die für Literaturgeschichte und Bildung, für Numismatik usw. Die „Gesellschaft" wurde von den Warschauern wie auch durch die Mianowski-Kasse sehr unterstützt. So konnte die „Gesellschaft" bereits 1913 das sogenannte Haus der Fürsten von Masovien, ein altes historisches Baudenkmal, als ihren Sitz erwerben und auch die Spezialbibliothek unterbringen, so daß es möglich war, die Forschungen über die Geschichte von Warschau an Ort und Stelle zu betreiben. Der Verlag der „Historischen Revue" brachte zwischen 1906 und 1915 19 Bände heraus, 14 Bände als Serie der Geschichte Warschaus und eine Sammelpublikation zur Bibliothekswissenschaft; die systematisch organisierten Vorträge zogen viele Zuhörer an, 1913 waren es mehr als 5000 Interessenten. Die Bedeutung dieser „Gesellschaft" lag nicht an der Zahl ihrer Mitglieder, um 400, sondern war in der wissenschaftlichen Fähigkeit der ihr angehörenden Historiker und in der Herausgabe von Publikationen auf hohem Niveau zu suchen. Auf diese Weise ermöglichte sie die aktive Teilnahme der Warschauer Historiker an den wissenschaftlichen Arbeiten und die Mitarbeit am Verlagswesen der Krakauer Akademie der Wissenschaften 12 ). Wiederholt wurde von der Mianowski-Kasse gesprochen, die ihre Tätigkeit seit 1904, besonders dank großer finanzieller Spenden und hauptsächlich des Vermächtnisses von Ing. W. Zglenicki durch Pachtung der Erdölgebiete im Kaukasus, enorm entwickelte. Zwar war es ihr nach dem Statut nicht erlaubt, direkt Forschungen wissenschaftlicher Institutionen zu finanzieren; es konnten nur einzelne Gelehrte unterstützt werden. Den Ausweg fand man in der persönlichen Subventionierung der Leiter der wissenschaftlichen Ausschüsse, die diese Gelder dann für Institutionen verbrauchten. Der konservative Charakter des Ausschusses und seine übertriebene Vorsicht, vor allem die einiger Mitglieder, war ein großer Nachteil für die Tätigkeit dieser so nützlichen Einrichtung. Das kam dann bei der Auswahl jener zum Ausdruck, die unterstützt werden sollten. Es sei hier erwähnt, daß Versuche der MianowskiKasse, selbst im Jahre 1907 diese Vorschriften zu ändern, scheiterten 13 ). Erst 1914 gelang dem Komitee eine Änderung auf Grund eines Personalwechsels. Eine neue Sektion wurde gegründet, in der S. Michalski, Redakteur der „Anleitung für Autodidakten" sowie vorzüglicher Organisator wissenschaftlicher Arbeiten, die Hauptrolle übernahm. Er vertrat die Meinung, daß die 12 )
Vgl. Anm. 9. Z. S^weykowski: Zarys historii Kasy im. Mianowskiego (Abriß der Geschichte der ,Mianowski-Kasse"). In: Nauka Polska 15. 1932. S. 136 ff. 13)
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Komiteemitglieder unabhängig von den an sie herangetragenen Initiativen selbst mit einem Programm und einer Planung für neue Forschungen hervortreten sollten. Zu den Aufgaben dieser Sektion gehörte daher vor allem die Festlegung aller Erfordernisse der polnischen Wissenschaften auf allen Gebieten und dann die Unterstützung bei ihrer Realisierung. Die konsequente Einführung dieser Absichten sowie die radikale Änderung des Statuts erfolgten erst später, aber das gehört nicht mehr zum Thema des Beitrags. Dank dieser wichtigen Rolle, die die Mianowski-Kasse spielte, kann man sie nicht anders als ein „Ministerium der polnischen Wissenschaften" bezeichnen, was ihr die Gelehrten im 19. Jahrhundert auch zuerkannten 14 ). Infolge der toleranter werdenden Haltung russischer Behörden gegenüber den polnischen wissenschaftlichen und kulturellen Initiativen und auf Grund der Revolution von 1905 konnte die „Wandernde Universität" am 9. November 1906 in die Gesellschaft der Höheren Wissenschaftlichen Kurse umgewandelt werden 15 ). Zu ihren Gründern gehörten u. a. Henryk Sienkiewicz, A. Jablonowski, den wir schon als Vorsitzenden der Warschauer Wissenschaftlichen Gesellschaft kennengelernt haben, und der Bankier L. J. Kronenberg. Die Anzahl dieser Gründer sollte einen eventuellen Widerstand der Staatsbehörden überwinden. Die Gesellschaft der Höheren Kurse richtete vier Fakultäten ein: die Mathematisch-Naturwissenschaftliche, die Humanistische, die Technische und die Pädagogische. In den Jahren 1906—1918 hatten die Höheren Kurse ca. 25.000 Hörer, darunter über 15.000 Frauen, so daß sie in Wirklichkeit als Hochschule diente. Bekanntlich wurden die Universität Warschau und die Technische Hochschule zu Warschau erst am 15. November 1915 polnisch. Auch die Zahl der Vortragenden war sehr angewachsen; zu jenen, die an der „Wandernden Universität" gelehrt hatten, kamen noch viele hervorragende dazu. Die Gesellschaft der Höheren Wissenschaftlichen Kurse wurde schon 1918 im unabhängigen Polen zur Freien Polnischen Schule nach dem Muster der französischen ficole Libre, die sehr sozial, radikal und fortschrittlich war. Eine wissenschaftlich bildende Institution ähnlichen Charakters war die in Warschau von Mitgliedern und Sympathisanten der Polnischen Sozialistischen Partei (PPS) gegründete „Universität für Alle". Um deren Legalisierung bemühten sich schon 1905 L. Krzywicki und andere einflußreiche Mitglieder der PPS, aber wegen des Ausnahmezustandes in Kongreßpolen konnte sie nicht ins Leben gerufen werden. Erst am 17. Oktober 1906 erhielt sie die Erlaubnis der Behörden. Das Entstehen einer sozialistischen, wissenschaftlichen Institution auf so hohem Niveau war eine der bedeutendsten Errungenschaften der Revolution von 1905. 14) 15)
Krzfwicki: Wspomnienia (Erinnerungen). Bd. 2. Warszawa 1958. S. 339—348. Kalabmski, Tych, Czwarte powstanie . . S. 457—458.
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Zu den Aufgaben dieser Universität gehörten die Organisation systematischer Vortragskurse sowie Vorträge aus allen Gebieten der Wissenschaften und Künste, Einrichtungen von Leseräumen, Bibliotheken und Laboratorien, wissenschaftliche Exkursionen und Bildungskonferenzen, Beratung in Fragen der Pädagogik, die Verlegung wissenschaftlicher und künstlerischer Arbeiten bzw. die Mitwirkung bei der Herausgabe und Verbreitung solcher Werke. Mit der wissenschaftlichen Leitung der Universität wurde ein Komitee betraut, das ein Programm der Vorträge und Vorlesungen ausarbeiten sollte und mit der Auswahl der Vortragenden sowie der Literatur und der wissenschaftlichen Hilfsmittel zu den einzelnen Themen betraut wurde. Dieses Komitee bestand aus 15 Mitgliedern, an deren Spitze L. Krzywicki und als Sekretär T. Rechniewski standen. Das Komitee wurde in 5 Sektionen unterteilt: für die Naturwissenschaften, die Sozial-, Historisch-Geographischen, Philosophischen und Technischen Wissenschaften 16 ). Die „Universität für Alle" war die einzige Bildungsstätte in Polen, die eine so große Anzahl von Hörern umfaßte. Innerhalb von 2 Jahren organisierte sie in Warschau selbst 97 Vorlesungsgruppen für 37.271 Studierende sowie 560 Vorträge für 127.657 Hörer. Eine so große Aktivität entging den Behörden natürlich nicht. Schon 1908 folgten die ersten Verhaftungen, ein Chef der Geheimpolizei in Warschau, P. Zawarzin, meldete dem Gouverneur Skalon, die Universität sei für die Staatsordnung besonders gefährlich. Die Angelegenheit wurde von den Petersburger Behörden übernommen, die ihr Schicksal endgültig besiegelten. Die „Universität für Alle" wurde als eine die „Sicherheit gefährdende" Gesellschaft bezeichnet und nach Verhaftungen vieler Mitglieder des Komitees am 25. Oktober 1908 geschlossen. Einige der verhafteten Mitglieder des Lehrkörpers bemühten sich, ihre Tätigkeit in den Jahren 1908—1913 im Rahmen der Gesellschaft der polnischen Kultur weiterzuführen. Diese Gesellschaft stand unter dem Einfluß der liberalen Intelligenz, trotzdem wurde sie vom gleichen Schicksal betroffen und am 24. Februar 1913 aufgelöst. Wie man daraus ersehen kann, hatten wissenschaftliche oder Bildungsinitiativen von ausgesprochen sozialistischem Charakter damals keine Chance zu überleben. Das beweist die unveränderte Haltung der zaristischen Behörden gegenüber den Gruppen der polnischen Linken, die ähnlich scharf bekämpft wurden wie einst und je. Die Chance zu überleben hatten nur solche Institutionen, die weniger dezidierten Charakter aufwiesen, wie die Warschauer Wissenschaftliche Gesellschaft, die MianowskiKasse, bis zu einem gewissen Grad auch die Gesellschaft der Höheren Wissenschaftlichen Kurse. Außerhalb Warschaus nahmen noch zwei Zentren in Kongreßpolen die Gelegenheit wahr, die günstigeren Verhältnisse nach der Revolution von 1905 16) J. Miqso: Uniwersytet dla Wszystkich (Universität für alle). Warszawa 1960. S. 31—36, 71, 101—114, 117 f., 121—161.
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auszunützen und 1907 wissenschaftliche Gesellschaften zu gründen. Das waren Plock und Wilna, die wieder an ihre alte Tradition anknüpften: in Plock an die bis 1830 erlaubte Wissenschaftliche Gesellschaft, in Wilna an die bis 1865 wirkende Archäologische Kommission; diese beiden Institutionen waren von den russischen Behörden während der Repressionen nach den Aufständen von 1830 und 1863 geschlossen worden. Die Wiederaufnahme der Tätigkeit dieser Gesellschaften hatte einen enormen Einfluß auf die Umgebung und ermöglichte es, auch wissenschaftliche Arbeit zu pflegen und auch ähnlich wie in Plock Bildung zu fördern. In beiden Städten ermöglichten die Opferbereitschaft und das Verständnis der Bevölkerung für die Bedürfnisse der Wissenschaften die Existenz dieser Gesellschaften. Schon nach zwei Jahren ihres Bestandes verfügte die Gesellschaft in Plock über ein eigenes Gebäude, wo schon die wertvolle Bibliothek mit 20.000 Werken, gespendet von G. und J. Zielinski, zwei äußerst gebildeten Gutsbesitzern, zugleich Bibliophilen und freigebigen Freunden der Künste und Wissenschaft, untergebracht wurde 17 ). A. Maciesza, ein Arzt und Bibliophile, der an Bildungsfragen sehr interessiert war, wurde der erste Vorsitzende auf Lebenszeit dieser Gesellschaft; er machte sich um sie sehr verdient. In dem Gebäude wurde ein paläontologisches, mineralogisches, archäologisches und historisches Museum gegründet. 1908 übernahm die Gesellschaft 27 Kulturzentren und Volksbibliotheken, das Eigentum einer polnischen Bildungsvereinigung, um sie vor Vernichtung während der damaligen Repressionen zu retten. Die Wissenschaftliche Gesellschaft in Plock konnte erst in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen an großangelegte wissenschaftliche Verlagstätigkeit herangehen. Zwischen 1907 und 1914 gelangen nur die Schaffung eines Organisationsrahmens und die Einrichtung einer Basis. Anders entwickelte sich die Gesellschaft der Freunde der Wissenschaften in Wilna 18 ). Die schon erwähnte Archäologische Kommission sollte 1862 in eine wissenschaftliche Gesellschaft umgewandelt werden, aber die politischen Ereignisse und die Liquidation der Kommission verhinderten dies. Bereits in veränderter, günstigerer Situation nahm die dortige polnische Intelligenz, Gutsbesitzer und Aristokraten, den Gedanken wieder auf. Dank ihrer Initiative fand am 22. Oktober 1906 die Gründungsversammlung statt, um ein Statut festzulegen. Nach dessen Genehmigung am 29. Jänner 1907 wurde am 23. März des gleichen Jahres die erste Generalversammlung, verbunden mit der Wahl, einberufen. An die Spitze der Gesellschaft wurde der Kirchenhistoriker J. Kurczewski gewählt. Die Wahl des Vorstandes, in dem fast kein bedeutender 17) M. K i e f f e r : Zarys dziejow Towarzystwa Naukowego Plockiego (Abriß der Geschichte der Wissenschaftlichen Gesellschaft in Plock). In: Towarzystwo Naukowe Plockie 1820—1830—1907—1957. Szkice i materialy. Plock 1957. S. 25—33. 18 ) Ustawa Towarzystwa Przyjaciöl Nauk w Wilnie (Statut der Gesellschaft der Freunde der Wissenschaften in Wilna). Wilno 1907. S. 3 f.; vgl. auch Anm. 5.
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Gelehrter vertreten, war, fand unter den Bedingungen der damaligen Verhältnisse in Wilna statt, da sich diese Stadt infolge der Repressionen auf kulturellem und wissenschaftlichem Gebiete im polnischen Geiste nicht entwickeln konnte. Daher wurde ein Teil des Vorstandes mehr unter dem Aspekt moralischer Werte gewählt, wie ζ. B. Prälat Kurczewski. Außerdem waren einige jüngere Leute darunter, die sich erst später in wissenschaftlicher Hinsicht verdient machten. Im Bewußtsein dieses Umstandes ist es nicht beabsichtigt, zwischen den wissenschaftlichen Tätigkeiten und Errungenschaften des Warschauer und des Wilnaer Zentrums Vergleiche anzustellen. Das wäre nicht zielführend. Aber im Hinblick auf die zumindest 40 unfruchtbaren, um nicht zu sagen toten Jahre im wissenschaftlichen Leben der Stadt war die Gründung der Gesellschaft ein Faktum von enormer Bedeutung. Ähnlich wie die Wissenschaftlichen Gesellschaften in Warschau und Plock appellierte die Wilnaer Gesellschaft an die polnische Bevölkerung, materielle Hilfe zu leisten. Auch hier blieb der Aufruf nicht ohne Widerhall; Wilna selbst und die Umgebung, aber auch Warschau und Lemberg, schickten große Spenden. Schon im März 1907 erhielt die Gesellschaft als Geschenk die Bibliothek der im geheimen tätigen Gesellschaft der Freunde des Altertums und Ethnographie, außerdem ein kleines Palais und eine größere Summe Geldes; auch von Erben vieler bekannter Leute wurden wertvolle Bibliotheken, Archive und Kunstsammlungen übergeben, so daß schon nach zwei Jahren das Palais zu klein war, um alles zu beherbergen. Die Büchersammlungen wuchsen von 4229 Werken im Jahre 1907 auf 13.589 im Jahre 1909 an 19 ). 1910 erhielt die Gesellschaft ein eigenes Besitztum mit einer größeren Summe Geldes für den Bau eines neuen Gebäudes. Die Kosten in der Höhe von 50.000 Rubel wurden zur Gänze durch Spenden gedeckt. Am 4. November 1913 fand die Generalversammlung bereits im neuen Gebäude statt. Da sich die Gesellschaft einer gesicherten Existenz erfreute, konnte sie ihre Vortrage- und Verlagstätigkeit entwickeln: Fünf Bände des „Jahrbuches der Gesellschaftsfreunde in Wilna" erschienen. In den humanistischen Wissenschaften dominierten die historisch-juristischen, archäologischen sowie ethnographischen Themen, in den naturwissenschaftlichen Disziplinen wurden hauptsächlich botanische, anthropologische und paläontologische Dissertationen verfaßt; die exakten Wissenschaften fanden ihre Vertretung nur in der Chemie. Von Anbeginn bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges gab es keine Ausschüsse, es wurden nur zwei spezielle Organisationszellen einberufen: die Bibliothekskommission im Jahre 1907 sowie die Biologisch-Medizinische seit 1911. Als aber das Museum für Kunst und Wissenschaft mit der Gesellschaft vereint 1β) M. Bremzlajn: Biblioteka Towarzystwa Przyjaciöl Nauk w Wilnie 1907—1931 (Die Bibliothek der Gesellschaft der Freunde der Wissenschaften in Wilna 1907—1931). Wilno 1932. S. 1—7.
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wurde, erhielt sie aus privaten Sammlungen Kunstwerke, wie ζ. B . die Tyszkiewicz-Sammlung. Die Gesellschaft hatte großen Einfluß auf das geistige Leben in Litauen; weitere Tätigkeiten waren durch die Ingerenz der russischen Behörden behindert, so daß ζ. B. das Publikum keinen Zutritt zu den Museen oder den Bibliotheken hatte, da dies nur für Mitglieder gestattet war; die Amtssprache war das Russische. Die Polizei überwachte stets die Sitzungen usw. Trotz dieser Schwierigkeiten gelang es der Gesellschaft, während der ersten acht Jahre eine bedeutende Tätigkeit zu entfalten. Dieser Zeitabschnitt gab Gelegenheit, die Basis für die spätere viel reichere und vielseitigere Entwicklung im dann bereits unabhängigen Polen zu bilden. In Galizien, das schon ab 1868 über größere autonome Freiheiten verfügte, verfolgte man mit großem Interesse die Lage in Kongreßpolen. Seit Anfang des 20. Jahrhunderts weilten in Kleinpolen die wichtigsten Mitglieder der polnischen Linken, welche aus Kongreßpolen sowie der Emigration kamen. In Krakau fanden schon Anfang Februar 1905 die ersten Demonstrationen und dann Streiks statt. Sie sollten ihre Solidarität mit den um ihre Rechte kämpfenden Arbeitern beweisen, und zugleich waren sie ein Symptom im Kampf um die Wahlreform und das allgemeine Wahlrecht. Die Demonstrationen und Streiks erfaßten neben Krakau auch Lemberg und andere Städte sowie das Land, was in Wirklichkeit die Vorbereitung für den am 18. November vorgesehenen Generalstreik war. An diesem Streik nahmen auch die Bauern teil sowie die Intelligenz, hauptsächlich Lehrer. Die Nachricht vom Schulstreik in Kongreßpolen wurde mit großer Sympathie und Unterstützung von selten der Studenten und der Schuljugend aufgenommen, da sie sozial, radikal und freiheitlich gesinnt waren. Eine gleiche Haltung zeigten manche Professoren der Jagiellonischen Universität 20 ). In der Unterstützung dieser Gesinnung spielte die Jugend aus Kongreßpolen eine große Rolle, aber auch die Gelehrten, die sich in Galizien niedergelassen hatten. Das Bildungswesen erregte schon lange das Interesse der politischen Parteien in Galizien. Die sozialistische und die Bauernbewegung sowie das demokratische Bürgertum oder die Nationaldemokratie verlangten Änderungen des Schulsystems und der Programme. Sie suchen auch nach neuen Möglichkeiten und Mitteln, um auf die Erwachsenen einzuwirken. Der Kampf um die Gleichberechtigung der Frauen an Hochschulen war symptomatisch für das Ende des 19. Jahrhunderts in Galizien. Ein Hindernis waren die konservativen Verordnungen und der Mangel an entsprechenden Qualifikationen, d. h. die Matura bei einigen Kandidatinnen. Dieses Streben der Frauen wurde von den Linken unterstützt. 20) /. Busyko: Spoleczno-polityczne oblicze Universytetu Jagiellonskiego w dobie autonomii galicyjskiej (1869—1914) (Das sozial-politische Gesicht der Jagiellonen-Universität in der Zeit der galizischen Autonomie [1869—1914]). Warszawa 1969. S. 224 f.
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Eine der interessantesten wissenschaftlich-didaktischen Initiativen entstand dank der Inspiration der Sozialisten unter dem Namen der Gesellschaft Höherer Kurse „Polnische Wissenschaft". Zu den Initiatoren gehörte K. Kelles-Krauz, einer der Haupttheoretiker der Polnischen Sozialistischen Partei (PPS) 21 ). Er war Politiker und zugleich Forscher der Gestalt und des Wesens des Soziallebens. Er absolvierte die ficole Libre des Sciences Politiques in Paris, war Vortragender der Soziologie im Pariser College Libre des Sciences Sociales sowie an der Neuen Universität zu Brüssel. Da er diese Hochschulen, die einen äußerst fortschrittlichen, unabhängigen Charakter hatten, sehr bewunderte, wollte er sie in Polen einführen und wählte Krakau als Sitz der Organisation und Zakopane, das so gerne von allen besucht wurde, als Ort der Tätigkeit. Er selbst war in Wien als Vorsitzender der Filiale der Gesellschaft A. Mickiewicz-Volksuniversität tätig. Kelles-Krauz gewann als Mithelfer in Krakau W. Feldman, den Schriftsteller, Literaturhistoriker und Redakteur der literarisch-sozialen Monatsschrift „Kritik", sowie O. Bujwid, den Vorsitzenden des Generalausschusses der Gesellschaft A. Mickiewicz. Die Gesellschaft der Höheren Kurse entstand offiziell am 4. Jänner 1904 mit dem Sitz in Krakau und zählte 543 Mitglieder. An der Spitze stand Bujwid, Feldman war sein Vertreter und Kelles-Krauz sowie I. Wasserberg waren Sekretäre; Vorstandsmitglieder wurden Z. DaszyAska-GoLmska, eine hochbegabte Wirtschaftshistorikerin, sowie ihr Bruder L. Rajchman, der sich mit Bildungs- und Genossenschaftsproblemen befaßte, und der Soziologe K. Krzeczkowski. Die statutengemäße Aufgabe der Gesellschaft war es, „jedes Jahr auf verschiedenen Gebieten der Wissenschaften Ferienkurse in polnischer Sprache durchzuführen" 22 ). Diese Kurse ergänzten die wichtige Tätigkeit der „Einleitung für Autodidakten", sie ermöglichten den Hörern aus verschiedenem gesellschaftlichen Milieu ihr Wissen ohne formelle Einschränkung zu erweitern. Die finanzielle Basis bestand aus Beiträgen, Einschreibgebühren, außerdem aus freiwilligen Spenden, Vermächtnissen und Einnahmen für Vorträge und Veranstaltungen. Die Kurse hatten Universitätsniveau, und man achtete besonders auf die Methodologie der einzelnen Wissenschaften und ihre Rolle im allgemeinen Prozeß der Erkenntnis. Es war nicht so sehr Aufgabe dieser Kurse, den Hörern eine bestimmte Summe von Informationen zu geben, 21) W. Bienkowski: Kazimierz Kelles-Krauz. 2ycie i dzielo (Kazimierz Kelles-Krauz. Leben und Werk). Wroclaw 1969. S. 289—295; ders.: Udzial dzialaczy socjalistycznych w pracy kulturalno-äowiatowej w Galicji na przelomie XIX w. (Anteil der sozialistischen Aktivisten an der Kultur-Bildungsarbeit in Galizien um die Jahrhundertwende des 19./ 20. Jahrhunderts). In: Studia ζ dziejöw oäwiaty i kultury umyslowej w Polsce XVIII—XX w. Ksigga ofiarowana Janowi Hulewiczowi. Red. Komitee R. Dutkowa, J. Dybiec, L. Hajdukiewicz. Wroclaw 1977. S. 240—241. 22 ) Statut Towarzystwa Wyzszych Kursow Wakacyjnych „Polska Nauka" w Krakowie (Statut der Gesellschaft für Höhere Ferienkurse „Polnische Wissenschaft" in Krakau). Krakow 1904. S. 3.
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als eine allgemeine Weltanschauung und außerdem neue Disziplinen darzustellen, welche an den offiziellen Universitäten nicht vorgetragen wurden, so ζ. B. die Soziologie. Für Hörer aus Kongreßpolen waren Vorträge aus polnischer Sprache,· Geschichte, Literatur und Geographie ganz Polens von großer Bedeutung. Der Zweck der Kurse war vielseitig: Kontakt zwischen den polnischen Gelehrten aus allen getrennten Teilen Polens und auch aus dem Ausland herzustellen, nicht nur untereinander, sondern auch zwischen allen Hörern; weiters Material und Ratschläge zur Ermöglichung weiterer wissenschaftlicher Arbeiten zu verschaffen und einigen hervorragenden Forschern die Möglichkeit zum Unterricht zu bieten. Die Liste der Vortragenden in Zakopane enthielt 1904/05 eine ganze Reihe von berühmten Namen, hauptsächlich aus Warschau, wie Baudouin de Courtenay, Krzywicki, Radlmski usw. 1904 gab es 456 Hörer, davon 245 Frauen. Die meisten waren Lehrer, auch Studenten oder sogar Schuljugend aus älteren Gymnasialklassen. 1904 kamen 77% aus Kongreßpolen, 13% aus Galizien, der Rest aus dem Ausland; das preußische Teilungsgebiet war überhaupt nicht vertreten 23 ). 1905 sank die Zahl der Studierenden wegen der politischen Ereignisse bis auf 371 Hörer. Die Zakopaner Ferien-Universität übte trotz der kurzen Dauer ihrer Tätigkeit einen großen Einfluß auf die Hörer aus, da diese oft das erste Mal auf wissenschaftliche Art mit den Prinzipien des Sozialismus bekannt gemacht wurden. Die zweite in Galizien weitverzweigte Bildungsorganisation entstand dank der Initiative der radikalen Intelligenz sowie sozialistischer Politiker in Lemberg; in Krakau gab es dagegen schon 1898/99 die Gesellschaft der A. Mickiewicz-Volksuniversität. Seit 1903 war Krakau der Sitz des Generalvorstandes, welcher aus Gelehrten und Politikern aus Kongreßpolen zusammengesetzt war, u. a. H. Orsza-Radlmska. Diese Organisation entwickelte sich sehr schnell, die Zahl der Mitglieder wuchs von 384 Personen im Jahre 1899 auf 582 im Jahre 1909. Während in den Anfangsjahren (1899—1904) 860 allgemeine Vorlesungen und 256 Vorlesungen für Arbeitervereinigungen — insgesamt also 1116 Vorlesungen für 177.043 Hörer — gehalten wurden, so waren es in den Jahren 1905—1913 bereits 1203 allgemeine Vorlesungen und 1116 für Arbeitervereinigungen, insgesamt 2319 Vorlesungen für 204.389 Hörer 24 ). Der Krakauer Bereich war viel lebhafter als die anderen galizischen 23 ) Sprawozdanie Zarzqdu Towarzystwa Wyzszych Kursöw Wakacyjnych ζ czynnoäci od 1 pazdziernika 1903 do 30 sierpnia 1904 (Rechenschaftsbericht der Verwaltung der Gesellschaft für Höhere Ferienkurse über die Tätigkeit vom 1. Oktober 1903 bis 30. August 1904). Krakow 1904. S. 7—10; Bimkomki, Kazimierz Kelles-Krauz, S. 294 f.; H. BaUcha-Ko^lomka: Konstanty Krzeczkowski — badacz zycia spoiecznego (Konstanty Krzeczkowski — der Sozialforscher). Warszawa 1966. S. 70—71. 24 ) Uniwersytet ludowy im. Adama Michiewicza. Sprawozdanie ζ dzialalnolci Oddzialu Krakowskiego za rok . . . 1899/1900—1912/1913 (Die „Adam Mickiewicz"-Volksuniversität.
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Filialen. Man muß unterstreichen, daß als Vortragende hauptsächlich Universitätsprofessoren und -hilfskräfte wirkten, außerdem noch viele sozialistische Politiker. Im für die Aktivität der Volksuniversität entscheidenden Jahr 1905 wurden ihre Dienste bedeutend erweitert, da sie eine allgemeine Bibliothek mit Leseraum für Zeitschriften eröffnete und dadurch ein sozialpolitisches Archiv schuf, das einzige in Polen, das Quellen aus dem zeitgenössischen Leben und den politischen Bewegungen sammelte und die Initiative zur Herausgabe von eigenen Arbeiten ergriff, u. a. eines Handbuches für Erwachsenenbildung. Während sich die Volksuniversität vor allem der allgemeinen Bildung und der Popularisierung der Wissenschaften — mit besonderer Berücksichtigung der Naturwissenschaft — widmete, setzte sich die Krakauer „Gesellschaft zur Förderung der Polnischen Agrikultur" (gegründet am 18. Juni 1902) die Entwicklung der Bodenkultur in allen drei Teilungsgebieten mit Hilfe von Forschungen und Veröffentlichungen wissenschafdicher Arbeiten zum Ziel. Zwar existierte schon in Lemberg seit 26. März 1901 dank der Initiative des prominenten Rechtshistorikers O. Balzer eine Gesellschaft zur Förderung der polnischen Wissenschaften, aber sie war hauptsächlich den humanistischen Fächern zugewandt und befaßte sich nicht viel mit mathematisch-naturwissenschaftlichen Disziplinen und noch weniger mit der angewandten Agrikultur. Zu ihren Hauptaufgaben gehörte die Herausgabe einer wissenschaftlichen Fachzeitschrift sowie von Werken aus dem Bereiche der Landwirtschaft, ferner aktivierte sie allgemeine Bildung und organisierte auch wissenschaftliche Konferenzen. Der Vorsitzende E. Godlewski sen. war Professor der Landwirtschaftlichen Botanik und Chemie, Direktor des Landwirtschaftlichen Studiums der Jagiellonischen Universität und Mitglied der Krakauer Akademie der Wissenschaften. 1905 änderte die Gesellschaft ihr Statut, um die Arbeit zu vereinfachen. Die Kontakte wurden mit der Landwirtschaftlichen Zentralgesellschaft in Warschau erweitert, und die Anzahl der Mitglieder nahm zu: 1902 waren es 105, 1905 268 und 1911 407 M i t g l i e d e r ) . Zwischen 1907 und 1914 wurden acht Bände „Jahrbücher der Landwirtschaftswissenschaften", weiters akademische Handbücher aus dem Bereiche der Rechenschaftsbericht über die Tätigkeit der Krakauer Abteilung für das Jahr . . . 1899/1900 bis 1912/1913). Krakow 1900—1913; Dziesi^ciolecie Uniwersytetu ludowego im. A. Mickiewicza w Krakowie w latach 1899—1909 (Ein Dezennium der „A. Mickiewicz"-Volksuniversität in Krakau in den Jahren 1899—1909). Kraköw 1909. S. 3—8; Uniwersytet Ludowy im. A. Mickiewicza. Statystyka i zamiary (Die „A. Mickiewicz"-Volksuniversität. Statistik und Pläne). Krakow 1913. S. 4; vgl. auch B. Drobner: Bezustanna walka. Wspomnienia 1883—1918 (Fortwährender Kampf. Erinnerungen 1883—1918). Warszawa 1962. S. 214 bis 230. 25 ) Z. Kosiek: Zarys dziejöw Towarzystwa dla Popierania Polskiej Nauki Rolnictwa (Abriß der Geschichte der Gesellschaft zur Förderung der Polnischen Agrarwissenschaft). In: Studia i Materialy ζ Dziejöw Nauki Polskiej. Serie B. 1972. 3. S. 141—161.
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Tierzucht und Ernährung herausgegeben. In den „Jahrbüchern" wurden einige Dutzend oft sehr ausführliche Arbeiten über Chemie und Physiologie der Pflanzen, Ackerbau sowie Anbau und Züchtung von Pflanzen und Mechanisierung der Feldarbeit veröffentlicht. Der damaligen Situation der Landwirtschaftswissenschaften entsprechend war verhältnismäßig wenig die Rede von Zucht, Physiologie und Ernährungsfragen der Tiere; am wenigsten befaßte man sich mit der Landwirtschaftsökonomie, Landwirtschaftsorganisation, der Technologie des Pflanzenbaues, der Bodenkunde und dem Gartenbau. Andere Arbeiten der Gesellschaften beschäftigten sich mit der Beurteilung des Universitätsniveaus und der Ausbildungsart der Landwirte (1905) sowie mit der Organisation eines allgemeinen polnischen Landwirtschaftskongresses, der aber durch den Ausbruch des Weltkrieges nicht mehr zustande kam. Will man die Situation in Galizien in der Zeit von 1905 bis 1914 und die Veränderungen im wissenschaftlichen Leben charakterisieren, so kann man die Krakauer Akademie der Wissenschaften nicht übergehen, die bedeutendste wissenschaftliche Einrichtung, die auf ganz Polen ihre Wirkung hatte. In jener Zeit erlebte sie ihre größte Entfaltung. 1872 gegründet, mied sie alle politischen Erklärungen und wurde lange Zeit von bedeutenden Mitgliedern des konservativen Lagers wie J. Szujski (1872—1883 als Generalsekretär) oder S. Tarnowski (1883—1917, davon seit 1890 als Vorsitzender) geleitet; sie betrachtete sich immer als die Hauptinstitution aller polnischen Gelehrten ohne Unterschied ihres Wohnortes, Status oder Staatsangehörigkeit, und sie spielte eine bedeutende Rolle im Prozeß der Integration des polnischen wissenschaftlichen Lebens. B. Ulanowski, Generalsekretär in den Jahren 1903—1919, als Rechtshistoriker ein bedeutender Wissenschafter und zugleich vorzüglicher Wissenschaftsorganisator, frei von politischen Vorurteilen, unabhängig gegenüber der regierenden konservativen Partei Galiziens, nahm an den Arbeiten der A. Mickiewicz-Volksuniversität teil. Er vermittelte der begabten Jugend aus den radikalen Kreisen Beschäftigung und unterstützte sie dabei. Bekannt ist, daß sich Kelles-Krauz bei Ulanowski um die Unterstützung für die Höheren Ferien-Kurse in Zakopane bemühte 26 ). Zu Ulanowskis Zeiten unterstrich die Akademie die enge Verbindung mit den Warschauer Gelehrten, u. a. wirkte sie bei der Entstehung der Warschauer Wissenschaftlichen Gesellschaft mit. 1905 wurde die Konferenz der Literaturhistoriker M. Rej gewidmet und auf das nächste Jahr verlegt, um allen Wissenschaftern aus Kongreßpolen die Teilnahme zu ermöglichen. Die Akademie unterstützte auch die polnischen wissenschaftlichen Zentren im von Preußen annektierten Land, in Posen und Thorn, und unternahm wissenschaftliche Forschungen im Ausland (ägyptologische Forschungen zwischen 1906 und 26)
Bienkowski,
Kazimiefz Kelles-Krauz, S. 291.
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1908, Suche nach Polonica in Schweden und Ungarn zwischen 1911 und 1913)27). Die Akademie bewies ihre modernen Anschauungen auch durch die Aufnahme von Frauen als Mitarbeiter in wissenschafdichen Kommissionen (1904) und sogar durch Aufnahme von Mitgliedern wie Maria Curie-Skiodowska (1908); ähnlich war es auch bei der organisatorischen Umgestaltung, wie ζ. B. die 1905/06 erfolgte Einsetzung eines Komitees zur Edition von Quellender Geschichte Polens nach den Teilungen, dessen ganz modernen Arbeitsplan S. Askenazy erarbeitete, sowie die Bildung einer speziellen Sektion für Ethnographie im Rahmen der Akademie im Jahre 1914 beweisen28). Der großartige Plan von Askenazy unterschied sich sehr von der traditionellen und einseitigen Historiographie, da er vielseitig die Archivquellen verschiedener Gebiete der polnischen Geschichte berücksichtigte, außer den politischen auch die sozialökonomischen, kulturellen und militärischen von den Teilungen bis 1867, d. h. fast bis zur zeitgenössischen Epoche. Askenazy, ein Warschauer Gelehrter, seit 1897 in Galizien lebend, seit 1906 Mitglied der Krakauer Akademie sowie o. Professor der Lemberger Universität, aber auch als schlagfertiger Publizist in Broschüren und Presseartikeln tätig, der die russische Kulturpolitik in Kongreßpolen verurteilte, schrieb u. a. über die degradierte Warschauer Universität und den Schulstreik. Es muß unterstrichen werden, daß die Tätigkeit der Akademie sich auch voller Unterstützung seitens der polnischen Bevölkerung erfreute; es gelang ihr nämlich, den vorhandenen Unwillen gegen den konservativen Charakter ihres Ausschusses zu überwinden. Das war auch die allgemeine Meinung in allen Teilungsgebieten und wurde am besten durch die große Opferbereitschaft und die Spenden bewiesen, die von allen Seiten kamen und die eine ausgedehnte Tätigkeit ermöglichten. Ebenso erlebte die Jagiellonische Universität zwischen 1905 und 1914 Veränderungen. Der Zustrom der akademischen Jugend aus Kongreßpolen und auch aus dem Ausland verwandelte die Universität von einer galizischen Hochschule in eine allgemein polnische. Die politische Aktivierung der akademischen Jugend schritt bedeutend voran, was man an der Solidarität mit den Streikenden und deren Unterstützung ersehen kann. Allerdings konnte man die akademische Jugend nicht bewegen, am allgemeinen Streik teilzunehmen. Hingegen protestierte sie am 1. Februar 1911 mit einem allgemeinen Universitätsstreik gegen die Bildung eines Lehrstuhls für Soziologie an der Theologi27)
Hulewic^, Akademia UmiejetnoSci w Krakowie 1873—1918, S. 143 ff. H. Barycz- Na przelomie dwöch stuleci. Ζ dziejow polskiej humanistyki w dobie Mlodej Polski (An der Wende zweier Jahrhunderte. Aus der Geschichte der polnischen Humanistik in der Zeit des Jungen Polen). Wroclaw 1977. S. 293—305; W. Bienkowski: Etnografia. In: Polska Akademia Umiej^tnoäci 1872—1952. Naukihumanistyczne i spoleczne. Materialy sesji jubileuszowej. Red. Komitee E. Rostworowski u. a. Wroclaw 1974. S. 138 f. 28)
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sehen Fakultät und gegen die Berufung von Pater K. Zimmermann als Professor, welcher wegen seiner antisozialistischen Haltung bekannt war. Der Studentenstreik, genannt „Zimmermanniade", ging auch teilweise auf die Lemberger Hochschule über und fand auch Widerhall an anderen Hochschulen der Monarchie29). Es gab auch unter den Professoren verschiedene Meinungen. Ein Teil war für die Unterstützung der Streikenden in Kongreßpolen und nahm — wie schon oben erwähnt — auch an der Tätigkeit der A. MickiewiczVolksuniversität teil; er setzte sich auch für die Reform des galizischen Schulwesens zur Umwandlung in ein demokratisches und laizistisches ein, wie ζ. B. K. Nitsch, O. Bujwid u. a. Trotz teilweiser Zugeständnisse gelang es nicht, eine vollkommene Zulassung der Frauen zu den Universitätslehrstühlen zu erwirken, da eine Verordnung des Senats gegen die Habilitation der Frauen bestand30). Auch in den Forschungen machten sich die geänderten Anschauungen bemerkbar. Als Beispiel kann hier die neue historische Schule herangezogen werden, welche an die Tradition von J. Lelewel und an die neue Richtung der literarisch-historischen Forschungen von I. Chrzanowski anknüpfte. Anders als in Galizien aber ähnlich wie in Kongreßpolen angesichts der Schwierigkeiten, die die Regierungsbehörden bereiteten, bildeten sich die Verhältnisse der polnischen wissenschaftlichen Einrichtungen im Posener Gebiet und in Pommern aus. Dort war die schwierige politische und wirtschaftliche Lage eine Folge des Kampfes der preußischen Regierung um das Besitztum der Ländereien sowie eine Germanisierung der Bevölkerung seit 1886 und die nachfolgende sogenannte Hebungspolitik, die folgerichtig wieder zum Bündnis der besitzenden Klassen und der Intelligenz mit den Gutsbesitzern und dem Klerus führte 31 ). Diese Allianz sollte den Widerstand der polnischen Bevölkerung gegen die Steigerung der nationalen Unterdrückung stärken und erleichtern. Die politische Situation der polnischen Bevölkerung 29) Bus^ko, Spoieczno-polityczne oblicze Universytetu Jagiellonskiego . . . S. 84—86; S. Konarski: „Zimmermanniada" w Uniwersytecie Jagiellonskim (1910—1911) („Zimmermanniada" in der Jagiellonen-Universität [1910—1911]). In: H. Dobrorvolski, AI. Frande, S. Konarski: Post^powe tradycje mlodziezy akademickiej w Krakowie (H. Dobrorvolski, M. FranSic, S. Konarski: Progressive Traditionen der akademischen Jugend in Krakau). Krakow 1962. S. 135—204. 30) Bus^ko, Spoieczno-polityczne oblicze Uniwersytetu Jagiellonskiego . . . S. 50—51, 66—68; /. Buszko, H. Dobrorvolski: Udzial Galicji w rewolueji 1905—1907 (Anteil Galiziens an der Revolution 1905—1907). Krakow 1975. S. 127—138. 31) W. Jaköbczyk: Wst§p (Einleitung). In: Wielkopolska (1851—1914). Wybor zrödel. Wroclaw 1954. S. XVI—XIX; J. Sercgyk: Towarzystwo Naukowe w Toruniu. Krotki zarys dzialalnosci (Die Wissenschaftliche Gesellschaft in Thorn. Kurzer Abriß der Tätigkeit). Warszawa 1974. S. 11 ff.; vgl. auch S. Potocki: Op0r Pomotza Gdadskiego przeciw germanizaeji w koneu XIX i na pocZEfetku X X w. (Widerstand des Danziger Pommerns gegen die Germanisierung am Ende des 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts). In: Pomorze pod zaborem pruskim. Gdansk 1973. S. 113—135.
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erschwerte auch die Entwicklung des kulturellen und wissenschaftlichen Lebens im Posener Gebiet am Ende des 19. Jahrhunderts. In Ermangelung einer polnischen Universität wirkte dort seit dem Februar 1857 nur die Posener Gesellschaft der Freunde der Wissenschaften, die Schlesien und Pommern in ihren Bereich mit einbezog. Die Arbeiten der Gesellschaft erlitten in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts eine ausgesprochene Entwicklungshemmung, deren sichtbarer Beweis die Liquidation des Technischen Ausschusses und schwächere Aktivitäten des Historisch-Literarischen (seit 1883), Archäologischen (seit 1887) sowie Juristisch-Ökonomischen Ausschusses (seit 1893) war; intensive Forschungen wurden nur im Medizinischen und Naturwissenschaftlichen Ausschuß weiterbetrieben (1897—1907)32). Diese Beeinträchtigung der oben erwähnten Ausschüsse wurde sehr kritisiert, daher verlangte die öffentliche Meinung effektive Schritte zu ihrer Überwindung und auch die Einführung moderner Formen in der Popularisierung der Wissenschaften. Die Jahre 1908 bis 1914 brachten einen Aufschwung, obwohl die Ereignisse von 1905 bis 1907 (wirtschaftliche Streiks und Schulstreik) keine günstigeren Veränderungen in der politischen Situation brachten. Im Gegenteil: ein Enteignungsgesetz sowie die Verordnung, bei allen öffentlichen und politischen Versammlungen in Gebieten mit nach behördlicher Schätzung überwiegend deutscher Bevölkerung nur die deutsche Sprache zu gebrauchen (1908), wurden erlassen. So wurde die allgemeine Bildungstätigkeit wieder belebt, besonders die seit 1905 reorganisierte Gesellschaft der Volksbibliotheken oder die Gesellschaft zur wissenschafdichen Unterstützung der ärmeren Jugend namens K. Marcinkowski, die von 1841 bis 1891 fünftausend Gymnasiasten und Studenten finanzielle Hilfe zuerkannte; es entstanden auch kulturelle Vereinigungen wie im Jahre 1909 die Gesellschaft der Journalisten und Schriftsteller, 1910 die Gesellschaft der Freunde der Schönen Künste und 1913 die Ethnographische Gesellschaft33). 1907 leitete der Posener Bischof E. Likowski (geboren 1836), zugleich Kirchenhistoriker, die Gesellschaft der Freunde der Wissenschaften; stellvertretender Vorsitzender wurde H. Öwi^cicki, ein hervorragender Gelehrter und Mediziner, der 1918 erster Rektor der Posener Universität wurde. Die Redaktion der „Jahrbücher" der Gesellschaft wurde dem Pater I. Warminski, einem Kulturhistoriker, anvertraut. Zweifellos machte sich der Vorsitzende, obwohl er Loyalist war, trotz seines hohen Alters sehr verdient um die Ent32 ) A. Wojtkowski: Towarzystwo Przyjaciöl Nauk w Poznaniu w latach 1857—1927 (Die Gesellschaft der Freunde der Wissenschaften in Posen in den Jahren 1857—1927). Ρ ο ζ ^ ή 1928. S. 337—351; ders.: Stulecie Poznanskiego Towarzystwa Przyjaciöl Nauk (Ein Jahrhundert Posener Gesellschaft der Freunde der Wissenschaften). I n : Roczniki Historyczne 23. 1957. S. 311—348. 3») Jakdbczfk, Wst§p (Einleitung), S. L I X — L X I I .
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wicklung der Gesellschaft; er garantierte einen gewissen Schutz gegen die preußischen Behörden. Das hohe Niveau der wissenschaftlichen Arbeiten der Posener war H. Öwigcickis Verdienst. Die Gesellschaft erhielt dank der allgemeinen Opferbereitschaft eine Spende in der Höhe von einer halben Million Mark. Mit diesen Mitteln konnte sie 1908 einen neuen Sitz erwerben, wo die reiche Bibliothek mit über 50.000 Manuskripten und Büchern, eine Bildergalerie und auch archäologische und naturwissenschaftliche Sammlungen Unterkunft fanden. Es wurde auch ein neuer (6.) Ausschuß für Ökonomie und Statistik im Jahre 1908 eingerichtet, dessen Vorsitzender Pater P. Wawrzyniak ein großer Organisator des kooperativen Bauernkredits war. Die fünf älteren Ausschüsse, der Historisch-Literarische, Archäologische, Medizinische, Naturwissenschaftliche und Technische, arbeiteten viel effektiver34). 1912 beschloß der Vorstand der Gesellschaft, Frauen mit Doktortitel aufzunehmen; von Männern wurde das nicht verlangt. Die Gesellschaft hatte 500 Mitglieder; während dieser Zeit wurden zehn Bände der „Jahrbücher" (1905—1914) herausgegeben, außerdem eine Anzahl von Monographien sowie Ausgaben von historischen Quellen und seit 1889 die Monatsschrift „Ärztliche Nachrichten". Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs garantierte die Posener Gesellschaft der Freunde der Wissenschaften ein sehr hohes Niveau ihrer Arbeiten; sie bildete die Basis für das wissenschaftliche Leben, das sich dann im unabhängigen Polen vorzüglich entwickeln konnte. Unzweifelhaft waren die Bedingungen zur Entwicklung der Wissenschaften in Pommern viel schlechter als in Posen. In Pommern fehlten eine Basis und breitere Kreise der Fachintelligenz sowie eine fortsetzende Tradition eines polnischen wissenschaftlichen Lebens, die durch die Teilungen unterbrochen war. So konnte sich die am 6. Dezember 1875 entstandene wissenschaftliche Gesellschaft in Thorn nur auf die Opferbereitschaft der Bevölkerung und privater Personen stützen. Die Mitglieder rekrutierten sich vor allem aus den Gutsbesitzern und aus dem Klerus 35 ). Z. Dzialowski, ein vielgereister Gutsbesitzer und Sammler, Mitglied der Posener Gesellschaft der Freunde der Wissenschaften, wurde durch Einberufung der Gesellschaft initiativ; der erste Vorsitzende, der polnische Abgeordnete im Berliner Reichstag I. Lyskowski, war ebenfalls ein an Bildungsfragen und an Ökonomie interessierter Gutsbesitzer. Die Gründung dieser Gesellschaft hatte eine wichtige kulturelle und politische Folge: dadurch wurden das nationale Empfinden der polnischen Bevölkerung Pommerns und das Recht auf Selbstbestimmung bekräftigt 36 ). 34) Vgl. Anm. 32. ) Streek, Towarzystwo Naukowe . . ., S. 11 ff. 36 ) Ebenda, S. 19 f.; (K. Görski): Towarzystwo Naukowe w Toruniu (Die Wissenschaftliche Gesellschaft in Thorn). In: Przegl^d Zachodni 8. 1952. 3. S. 235 ff. 35
Die polnischen wissenschaftlichen Institutionen
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Die Gesellschaft hatte drei Ausschüsse: den Historisch-Archäologischen, Theologischen und Medizinisch-Naturwissenschaftlichen. Zu ihren Mitgliedern zählte sie eher Freunde der Wissenschaft, besonders der Geschichte, als Gelehrte. Als eine der Hauptaufgaben bezeichnete die Gesellschaft das Sammeln von Andenken und Gegenständen aus der Vergangenheit usw. Ähnlich wie in Posen erlebte sie zwischen 1884 und 1894 eine ausgesprochene Krise; es bestand sogar eine Tendenz die Gesellschaft zu liquidieren 37 ). Ab 1897 jedoch entwickelte sich die Gesellschaft bis zum Ersten Weltkrieg wieder weiter. Als Beweis mag das trotz der Einschränkungen im Vergleich zu den ursprünglichen Plänen konsequent realisierte Arbeitsprogramm, hauptsächlich hinsichtlich der Geschichte Pommerns, gelten; Vorsitzender war der berühmte Historiker Pater S. Kujot; auch die finanzielle Stabilisierung, die Verlagstätigkeit, die Aufnahme von neuen oder Wiederaufnahme von unterbrochenen ethnographischen und archäologischen Forschungen beweisen dies38). Das Wiederaufleben der Tätigkeit verdankte die Gesellschaft dem Klerus; von den 582 Mitgliedern des Jahres 1910 waren 340 Angehörige des Priesterstandes. Die Entwicklung der Thorner Gesellschaft, übrigens auch der Posener, basierte ausschließlich auf der Opferbereitschaft der Bevölkerung in Form von Stiftungen, Spenden und Vermächtnissen. Im Jahre 1914 wurde diese Gesellschaft als politisch eingestuft und sollte daher aufgelöst werden. Zum Glück jedoch bannten die Kriegsereignisse diese Gefahr39). So überlebte sie und ist auch heute noch tätig. 37) IVojtktmskt, Towarzystwo Przyjaciöl Nauk w Poznaniu w latach 1857—1927 . .., S. 337 f.; Serczyk, Towarzystwo Naukowe . . S. 23—26. 38) Serczyk, Towarzystwo Naukowe . . ., S. 35—27. s») Ebenda, S. 37 ff.
ERICH DONNERT WISSENSCHAFTSLEHRE UND BILDUNG AM GYMNASIUM ACADEMICUM ZU MITAU 1775 B I S 1806 EIN BEITRAG ZU DEN ANFÄNGEN DES HOCHSCHULWESENS IM BALTIKUM
Einen wichtigen Platz in der Geschichte der baltischen Länder nimmt die Entwicklung des Schul- und Bildungswesens, vornehmlich der höheren Lehranstalten ein. In diesem Zusammenhang kommt der Wirksamkeit der 1622 eingerichteten Universität Dorpat (Tartu) und des 1775 als Academia Petrina gegründeten Gymnasiums Academicum zu Mitau (Jelgava) besondere Bedeutung zu. Während die nur im 17. Jahrhundert mit langen Unterbrechungen wirkende hohe Schule zu Dorpat vor ihrer Neugründung im Jahre 1802 nie richtig Wurzeln schlug und keine echte Lebensfähigkeit entwickelte, stand es in dieser Hinsicht bei jenen höheren Lehranstalten, die eine Mittelstellung zwischen Gymnasium und Universität einnahmen, anders. Solche gab es sowohl in Estland als auch in Lettland, so in Gestalt der Rigaer Domschule und des Revaler (Tallinner) Gymnasiums. Nach unserem heutigen Wissenschaftsund Bildungsverständnis stellten diese schulischen Einrichtungen Vorstudienanstalten dar, in denen die Zöglinge unmittelbar auf das Universitätsstudium vorbereitet wurden. Dies bedeutete, daß die baltischen Studenten ihre Ausbildung bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts fast ausschließlich an ausländischen, vor allem an deutschen Universitäten erhielten. Zu diesen zählten vorrangig die hohen Schulen zu Königsberg, Kiel, Rostock, Wittenberg, Leipzig, Halle und Jena. Was das Herzogtum Kurland und Semgallen mit seiner Hauptstadt Mitau betraf, so reichten die Pläne zur Gründung einer höheren Lehranstalt bis in dessen Anfänge zurück. Jedoch gelangten diese weder im 16. noch im 17. Jahrhundert zur Ausführung. Erst die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts sollte in dieser Beziehung den Durchbruch bringen und Mitau am Ausgang der Herzogszeit zu einem geistigen und literarischen Mittelpunkt des Baltikums werden lassen. Bereits die Zeitgenossen haben auf die Kontraste aufmerksam gemacht, die die sozialen Zustände in den osteuropäischen Ländern im Zeitalter der Auf-
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klärung kennzeichneten. So schrieb der Münchner Jurist Johann Friedrich Heinrich Liebeskind bei der Schilderung seiner Reise, die ihn auch durch Kurland geführt hatte, in seinem im Jahre 1795 erschienenen Werk drastisch: „In Rußland, Liefland, Kurland und Polen fallen vorzüglich die Extreme der äußersten Macht und Unmacht dem fremden Beobachter in die Augen. In diesen Ländern ist es dem adligen Gutsherrn noch immer erlaubt, seine leibeigenen Menschen wie sein leibeigenes Vieh zu behandeln und die Kinder der ersteren wie die Jungen des letzteren nach Gutdünken zu veräußern." 1 ) Gleichzeitig wies derselbe Liebeskind im Gegensatz zu diesen seinen Feststellungen auf die freiheitlich-geistige Atmosphäre hin, die in Mitau vorherrschte: „Zu meinem beständigen Aufenthalt würde ich Mitau lieber wählen als Riga, weil man hier freier atmet und zwangloser lebt als dort. Vielleicht gibt es keine polizierte Stadt in der Welt, wo die bürgerliche Freiheit. . . in dem Grade zu finden ist wie in Mitau. Wer nur keine groben Verbrechen begeht, kann hier tun, was er will." 2 ) Liebeskinds Urteil wird auch von dem Mitauer Philosophieprofessor Johann August Starck betätigt, der im Jahre 1779 an Karl Friedrich Bahrdt schrieb: „Die Gastfreiheit in diesen Landen kennt fast keine Grenzen. Das ganze Land ist offen, und jedermann kann einund ausgehen, wie er will. Gänzliche Freiheit zu denken, reden, schreiben, drucken lassen, haben Sie hier wie an keinem Ort in der Welt. Hier ist kein Göze, Semler, und aller Ketzermachergeist ist so verabscheut, daß man sich nur damit zeigen dürfte, um gesteinigt zu werden." 3 ) Freilich, das Herzogtum Kurland mit seiner Hauptstadt Mitau war keineswegs ein Schlaraffenland und eine windgeschützte Zone, sondern ein Staatswesen, das deutlich die Kennzeichen einer spätfeudalen Gesellschaftsordnung trug und von scharfen ökonomischen, sozialen und politischen Gegensätzen erfüllt war. Diese spitzten sich unter dem Einfluß der Ideen der Französischen Revolution in besonders scharfem Maße zu, und im Dezember 1792 kam es in Mitau zu einem Volksaufstand. In die politischen Kämpfe, die zwischen der Herzogsmacht und der Ritterschaft, der Feudalität und dem Bürgertum sowie den kleinbürgerlichen Handwerkerschichten und den niederen Volksklassen auf der einen und dem Landesfürsten, dem Adel und dem besitzenden Bürgertum auf der anderen Seite vor sich gingen, wurden auch die Gelehrten Mitaus hineingezogen. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts betrug die Gesamtbevölkerungszahl in
1) J. F. H. Liebeskind: Rückerinnerungen von einer Reise durch einen Teil von Deutschland, Preußen, Kurland und Liefland während des Aufenthalts der Franzosen in Mainz und der Unruhen in Polen. Straßburg 1795. S. 3. Vgl. ebenda, S. 3 ff., 248 ff. 2 ) Ebenda, S. 359. 3 ) C. F. Bahrdts Beziehungen zu Kurland, in: Baltische Montasschrift, 21 (N. F. 3). 1872. S. 565.
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Kurland 406.970 Personen4). Davon waren 339.035 leibeigene Bauern. Den Rest von etwa 70.000 Personen repräsentierten die unteren Volksschichten, die Handwerker und die Kaufleute, der Adel, die Beamten und der Stand der Gelehrten sowie die Angehörigen der freien Berufe. Die Zahl der Ritter, Beamten, Kaufleute, Händler, Gelehrten und Angehörigen der freien Berufe belief sich lediglich auf 7863 Personen. Diese lebten verstreut über ein Gebiet von 23.000 Werst. Mitau war mit 9395 Einwohnern der größte Ort des Landes. Unter diesen befanden sich lediglich 144 Gelehrte. Von ihnen gingen jedoch starke Impulse auf das kulturelle und wissenschaftliche Leben des Landes aus, das insgesamt gesehen, wie die angeführten Zahlen verdeutlichen, jedoch in bescheidenem Rahmen verblieb, so daß die dem kleinen und armen Herzogtum gezogenen Grenzen nicht gesprengt werden konnten. Um so erstaunlicher waren die Leistungen, die auf dem Gebiet von Bildung und Gelehrsamkeit erzielt wurden. Ein bedeutendes Verdienst kam hierbei der Mitauer Akademie mitsamt ihren Professoren, Lehrern und Studenten zu. Die Gründung der Academia Petrina 5 ) geht auf Friedrich Wilhelm v. Raison zurück, der seit 1770 als Kanzleirat des kurländischen Herzogs Peter Biron wirkte. Raison, 1726 in Koburg als Sohn eines französischen Refugies geboren, Professor für Logik und Metaphysik am dortigen Gymnasium, hatte in Jena studiert und war 1760 nach Kurland gekommen. Hier trat er in herzogliche Dienste und avancierte rasch. Aufgrund seiner Verdienste sowohl in der inneren Verwaltung als auch auf dem Gebiet der auswärtigen Politik wurde er im Jahre 1787 vom preußischen König Friedrich Wilhelm II. zum Geheimrat ernannt und in den Adelsstand erhoben. Peter Biron selbst hatte Raison nicht zu nobilitieren vermocht, da hierfür die Zustimmung der einheimischen Ritterschaft erforderlich war, die er jedoch nicht erhielt. Raison war nicht nur ein befähigter Beamter und Politiker, sondern eine ebenso hochgebildete, für Wissenschaft und Kunst aufgeschlossene Persönlichkeit. Er nutzte das Repräsentationsbedürfnis des Herzogs zur Durchführung von Maßnahmen, die auf die Einrichtung einer kurländischen Landesuniversität hinausliefen. Diese sollte alle vier Fakultäten umfassen. Da das Herzogtum 4 ) Vgl. die Zahlenangaben bei Ε. v. Derschau und P. v. Keyserling: Beschreibung der Provinz Kurland. Mitau 1805. S. 206 ff. Schon H. Ischreyt: Mitau und die Berliner Aufklärung. In: Jahrbuch des baltischen Deutschtums 22. 1975. S. 65 f. 5 ) Vgl. jetzt J. Stradins und H. Sirods: Jelgavas Petera akademija. Riga 1975. Die Anfänge sind behandelt in der 1921 verfaßten Königsberger Dissertation von W. Meyer: Die Gründungsgeschichte der Academia Petrina in Mitau. Ein Beitrag zur Geschichte der Aufklärungszeit in Kurland. Gedruckt in: Sitzungsberichte der Kurländischen Gesellschaft für Literatur und Kunst und Jahresberichte des Kurländischen Provinzialmuseums in Jelgava aus den Jahren 1935/1936. Riga 1937. S. 35—168. Von den älteren Arbeiten nenne ich nur das grundlegende Quellenwerk von K. Dannenberg: Zur Geschichte und Statistik des Gymnasiums zu Mitau. Mitau 1875.
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Kurland und Semgallen staatsrechtlich zum Königreich Polen gehörte, standen einem solchen Vorhaben erhebliche Schwierigkeiten im Wege, und es bestand wenig Aussicht, die notwendige Zustimmung des Königs und des Papstes zur Einrichtung einer Fakultät für protestantische Theologie zu erlangen. Deshalb sahen sich Raison und der Herzog genötigt, an die Gründung einer Halbuniversität zu schreiten, die in Anlehnung an bereits bestehende höhere Lehrund Bildungsinstitutionen zwar den Status einer Hochschule erhalten, jedoch im Sinne zeitgenössischer Akademien nur zwei Klassen umfassen und kein Promotionsrecht besitzen sollte. Die neue Wissenschafts- und Bildungsanstalt, um die es Raison ging, sollte jedoch auch in der reduzierten Form keineswegs eine einfache Nachbildung der zahlreichen mittelalterlichen Ritterakademien und akademischen Gymnasien sein, sondern den Anforderungen des modernen Zeitalters Rechnung tragen. Um dieses Konzept zu verwirklichen, war es notwendig, ein Wissenschaftsund Bildungsprogramm zu entwerfen, das auf der Höhe der Zeit stand. Dies bedeutete, einen befähigten Gelehrten und Pädagogen zu finden, der über die Qualifikation verfügte, die erforderlichen Richtlinien zur Einrichtung der neuen Lehranstalt zu entwerfen. Für diese Aufgabe faßte Raison zwei berühmte Schulmänner der damaligen Zeit, Johann Bernhard Basedow und Johann Georg Sulzer, ins Auge. Da Basedows Entwurf, den dieser dem kurländischen Herzog einreichte, aus ungeklärten Gründen nicht zur Ausführung gelangte, übernahm anstelle des bekannten Dessauer Philanthropisten der an der Berliner Akademie der Wissenschaften wirkende Schweizer Philosoph, Ästhetiker und Pädagoge Johann Georg Sulzer die Ausarbeitung des Bildungs- und Erziehungsplans für die zu gründende Mitauer Hochschule. Johann Georg Sulzer wurde am 16. Oktober 1720 in Winterthur im Kanton Zürich geboren. Nach dem Studium der Theologie, Philosophie, Mathematik und Botanik bei Bodmer und Breitinger wurde er 1741 Vikar, 1743 Hauslehrer und auf Empfehlung Leonhard Eulers und Pierre Louis Moreau de Maupertuis' 1747 Professor für Mathematik am Joachimsthaler Gymnasium in Berlin. 1750 berief ihn die Berliner Akademie der Wissenschaften zu ihrem ordentlichen Mitglied. Gleichzeitig übernahm Sulzer eine Professur an der Berliner Ritterakademie. Seit 1775 übte er zudem das Direktorat der Klasse für Philosophie an der Akademie der Wissenschaften aus. Er starb am 27. Februar 1779 in Berlin. Sulzer zählte zum Zeitpunkt seiner Beschäftigung mit dem Lehrplan für die künftige Akademie zu Mitau durch sein Wirken als Schulvisitator und Schulreformer sowie durch seine theoretischen Werke auf den Gebieten der Ästhetik und der Pädagogik zu den hervorragenden Persönlichkeiten der Berliner Geisteswelt. Als Philosoph folgte er den Spuren Christian Wolffs. Sulzers Gesamtwerk ist in der Wissenschaftsgeschichte ungeachtet der vorliegenden älteren Arbeiten bislang nur ungenügend erforscht und nach wie vor um-
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stritten. Neuere Arbeiten fehlen ganz. An dieser Stelle soll lediglich auf Sulzers Wirken 6 ) im Zusammenhang mit der Gründung und dem Wirken der Mitauer Akademie eingegangen werden. Über die näheren Umstände seiner Beschäftigung mit dem Mitauer Akademieprojekt äußert sich Sulzer in seiner Autobiographie. So heißt es nach der Schilderung seines Lungenleidens, von dem Sulzer bereits im Frühjahr 1772 befallen worden war: „Kaum hatte ich mich etwas erholt, als ich von dem Herzog von Kurland ein Schreiben erhielt, darin er mir eröffnete, er sei Vorhabens, ein akademisches Gymnasium in Mitau zu stiften, und daß er wünschte, einen Plan von mir zu dessen Einrichtung zu bekommen. Nach einigen näheren Erläuterungen, welche die Absicht dieser Stiftung näher bestimmen sollten, entwarf ich einen solchen Plan und schickte ihn, doch nur als einen Entwurf, den ich, nach darüber eingegangenen Anmerkungen genauer auszuarbeiten vorhatte, an den Herzog. Zu meiner Verwunderung und Bestürzung aber erhielt ich einige Zeit danach anstatt der erwarteten Erinnerungen meinen Plan gedruckt und schon in der völligen Formalität eines Gesetzes für diese Stiftung." 7 ) Obwohl Sulzer keine nähere Zeitangabe macht, kann angenommen werden, daß er im Sommer 1772 vom Herzog zur Abfassung des genannten Entwurfs aufgefordert worden ist, der dann wohl unmittelbar vor dem 6. Oktober 1773, dem Zusammentritt des Kurländischen Landtags, erstmalig im Druck erschien. Sulzers handschriftlicher Entwurf stellte einen kleinen Folianten im Umfang von 71 Seiten dar. Er trug den Titel: „Entwurf der Einrichtung des von Sr. Hochfürstl. Durchlaucht, dem Herzoge von Kurland, in Mitau neugestifteten Gymnasii Academici." 8 ) Als Vorbild soll das Reglement des akademischen Gymnasiums zu Mainz gedient haben. Sulzers Lehrprogramm für das Mitauer Gymnasium war modern konzipiert. Es atmete deutlich den Geist bürgerlicher Wissenschafts- und Bildungstheorien und gliederte sich in sechs Hauptabschnitte. In ihnen wurde „von dem Zweck und der allgemeinen Beschaffenheit", den „verschiedenen Lehrämtern", den „Lehrern überhaupt", von „näherer Anweisung für jeden Lehrer, insbesondere in Absicht auf die ,Lehrart'", von der „Bestimmung und Austeilung der Lektionen" und von dem „Concilio Professorum" gehandelt. Das Ausbildungsziel der neuen Lehranstalt sollte darin bestehen, die „kurländische Jugend, adelichen und bürgerlichen Standes, bei welcher, entweder zuhause oder auf Schulen, bereits ein guter Grund zum ferneren Unterricht und zur Ausbildung des Gemüts geleget worden, in allen ihr künftig nötigen Kennt6)
A u f Johann G e o r g Sulzer komme ich demnächst ausführlicher zurück. J. G. Suiter: Lebensbeschreibung. Hrsg. v o n J . B. Merian und F. Nicolai. Berlin, Stettin 1809. S. 57. 8 ) Mehrmals gedruckt. Ich zitiere nach dem A b d r u c k bei Dannenberg: Geschichte und Statistik, S. 2 2 9 — 2 5 6 ( = Stüter, E n t w u r f ) . 7)
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nissen gründlich zu unterrichten, ihr sowohl den Geist als auch das Gemüt so zu bilden, wie es der gegenwärtige Zustand der gelehrten und gesitteten Welt erfordert" 9 ). Der Lehrplan sah vor, den künftigen Gelehrten die notwendige wissenschaftliche Bildung für ihren Beruf zu vermitteln, und zwar dergestalt, daß die Theologen, die Zivilbeamten und Militärs ihre Studien an der Akademie abschließen konnten, während die Mediziner, Juristen und Philologen „noch auf die Universität gehen" mußten. Weiter weist Sulzer bei der Formulierung des Ausbildungsziels des akademischen Gymnasiums zu Mitau darauf hin, daß bei aller Bedeutung der klassischen Sprachen man auch, „ohne etwas von den alten Sprachen zu verstehen, es in den allgemeinen, zur Bildung der Menschlichkeit gehörigen Wissenschaften, weit bringen" könne. Ausgehend davon sah das Lehrprogramm vor, „daß diejenigen, welche die neuen europäischen gelehrten Sprachen, das Französische, Italienische und Englische, im gleichen die zur Ausbildung des Körpers dienenden Übungen, als Tanzen, Fechten und Reiten, zu lernen Lust haben, hier die nötigen Veranstaltungen dazu finden" ι»). Nach Sulzers Lehrplanentwurf gliederte sich das Mitauer Gymnasium in zwei Klassen: in die „Klasse der Literatur oder die untere Klasse" und in die „Klasse der Wissenschaften oder die obere Klasse" u ) . „Die Klasse der Literatur ist zum Unterricht in der deutschen, lateinischen und griechischen Sprache", die „Klasse der Wissenschaften. Darin werden gelehret: die Mathematik, die Physik, die Naturgeschichte, die Geschichte der Völker, die Philosophie, das Recht der Natur und die Beredsamkeit." Die künftigen Geistlichen waren gehalten, sich mit der Theologie und den orientalischen Sprachen abzugeben; die angehenden Juristen mit den römischen Antiquitäten, dem römischen Recht; die nachmaligen Mediziner mit der Arzneiwissenschaft, der Naturhistorie und der Chemie. Lehre, Ausbildung und Erziehung wurden neun Professoren übertragen, die folgende Fächer vertraten: Theologie, Rechtsgelehrsamkeit, Philosophie, Physik, Mathematik, Geschichte, Beredsamkeit, lateinische Sprache und griechische Sprache. Neben den Professoren wirkten „Lehrer der heutigen Sprachen, ein Schreibmeister, im gleichen die verschiedenen Exerzitienmeister" 12 ). Das Hauptanliegen des Professors und Lehrers mußte nach Sulzers Lehrprogramm darin bestehen, „nicht bloß Gelehrte in seinem Fache, sondern verständige Menschen und gute Bürger zu ziehen" 13 ). Auch zahlreiche andere Grundsätze der bürgerlichen Pädagogik des Aufklärungszeitalters legte Sulzer 9)
Sulzer, Entwurf, S. 229. Ebenda, S. 230. 11) Ebenda, S. 230 f. 12) Ebenda, S. 231. 13) Ebenda, S. 232. 10 )
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dar, so im dritten Hauptabschnitt seines Lehrplanentwurfs, dem er die Überschrift gab: „Allgemeine Anweisung für sämtliche Lehrer überhaupt, wie dieselben ihr Lehramt verwalten sollen." 14 ) Nach Sulzers Darlegungen soll der Schwerpunkt nicht auf die mechanische Aneignung von möglichst viel Kenntnissen, sondern auf die selbständige Verarbeitung des Stoffes durch den Studierenden gelegt werden. Sulzer fordert einen „verständigen Lehrer", der seine Lektionen im Stile einer „freundschaftlichen vertraulichen Unterredung" vorträgt, der die mittelalterliche „kahle Schulmethode" verabscheut und seine Lektionen nicht in die Feder diktiert. Zudem solle sich kein Professor und Lehrer einbilden, er könne die Gesamtheit seiner Wissenschaft vortragen. Worauf es ankomme, sei der „eigene Fleiß, das Nachdenken und Nachforschen". In einer „näheren Anweisung für jeden Lehrer, insbesondere in Absicht auf die Lehrart" 15 ), erläutert Sulzer anschließend ausführlich die speziellen Methoden bei der Lehre der einzelnen Fächer. Er beginnt mit dem Unterricht in der lateinischen und in der griechischen Sprache. Dabei wird verdeutlicht, daß es nicht darum zu tun sei, auf diesem Gebiet „ausgemachte Meister der alten Literatur oder vollkommene Critici" heranzubilden, sondern es vielmehr darum ginge, diejenigen, die Jura oder Medizin studieren wollten, auf das bevorstehende Universitätsstudium vorzubereiten. Freilich, der Professor selbst sei gehalten, seine Lektionen in lateinischer bzw. in griechischer Sprache vorzutragen und darauf bedacht zu sein, daß die Zuhörer richtige Antworten geben. Eine ähnliche Bedeutung wie den alten Sprachen kam in der wissenschaftlichen Grundausbildung nach Sulzers Meinung dem Fach Beredsamkeit zu, das ebenfalls von einem hierfür berufenen Professor vertreten werden sollte. Diesem war aufgetragen, „seine Zuhörer mit den besten Mustern der Beredsamkeit bekanntzumachen" 16 ). Auch den anderen Fachprofessoren weiß Sulzer wichtige methodische Hinweise zur Vermittlung ihrer Wissenschaften zu geben. So legt er dem Professor für Geschichte ans Herz, ja eifrig den Gebrauch der Landkarten zu üben, wie er überhaupt auf die Wichtigkeit geographischer Kenntnisse bei der Vermittlung der Historie aufmerksam macht. Außerdem empfiehlt er dem Geschichtsprofessor, sich von vornherein bei der StofFauswahl Beschränkungen aufzulegen : „In Ansehung der Historie muß sich der Lehrer weit engere Schranken setzen. Denn zur Historie aller großen Völker wäre ein Kursus von zehn Jahren nicht hinlänglich." Sulzer versteht unter der Geschichte vor allem die Geschichte der Völker: „Das wahre Studium der Geschichte eines Volkes ist im Grunde nichts anderes als eine psychologische und politische Untersuchung W) Ebenda, S. 231—235. 15) Ebenda, S. 236—252. 16) Ebenda, S. 238.
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der Ursachen und der Veranlassungen, der mit diesem Volke sich zugetragenen Veränderungen." 17 ) Methodologische Grundeinsichten vermittelt Sulzer im Hinblick auf die naturwissenschafdichen Fächer, die er selbst studiert hatte und in denen er sich gut auskannte. Dies betraf vor allem die Mathematik und die Physik 18 ). Von der Physik sagt er, daß diese „das wahre Fundament der wichtigsten Künste, des Landbaus und aller Manufakturen" darstelle und an „Wichtigkeit die meisten anderen Wissenschaften" 19 ) übertreffe. Besonders am Herzen lag dem Direktor der Klasse für Philosophie an der Berliner Akademie der Wissenschaften verständlicherweise das Fach Philosophie, für das an der Mitauer Akademie ebenfalls ein Professor vorgesehen war. In dieser Hinsicht erwies sich der Schweizer Gelehrte und Berliner Philosoph als besonders engagiert, und er polemisierte heftig gegen die an den Universitäten üblichen Gepflogenheiten, das vom jeweiligen Philosophieprofessor vertretene System als das beste auszugeben: „Auf Universitäten hat sich fast durchgehends die schädliche Methode eingeschlichen, daß der Professor seinen Zuhörern ein von ihm angenommenes System der Philosophie mit solcher Zuversicht vordogmatisiert, als wenn darin alles auf das genaueste erwiesen und keine Zweifel gegen irgendeinen Satz mehr übrig wären. Eine solche Methode soll auf diesem Academischen Gymnasio verbannet sein. Der Professor der Philosophie hat seine Hauptsorge darauf zu richten, daß er seinen Zuhörern über die wichtigsten Materien, die Lehren und Meinungen der berühmtesten Philosophen alter und neuer Zeiten in ihrem wahren Licht und mit den Gründen, womit die Urheber sie unterstützet haben, deutlich vortrage." Der Philosophieprofessor solle „in den philosophischen Lektionen mehr eine wahre kritische Geschichte der Philosophie als ein philosophisches System" 20 ) vortragen. Ein solches Verfahren habe den Vorteil, daß die Studierenden nicht blindlings für ein System eingenommen und zu vorschnellen Urteilen veranlaßt würden: „Wer nach dieser Methode in der Philosophie unterrichtet worden ist, wird einsehen lernen, daß auch große Männer über wichtige Dinge verschiedener Meinung sein können, weil sie die Sache aus verschiedenen Gesichtspunkten ansehen, und daß man nicht gleich eine Meinung, die nicht mit unseren Begriffen übereinkommt, für ungereimt halten soll." 21 ) Dabei verbarg der kämpferische Wolffianer Johann Georg Sulzer nicht seine Vorliebe für die Ansichten seines großen Meisters: „Weil von allen Philosophen Wolff der einzige ist, der nach dem ausgedehntesten Begriff von der Philosophie ein vollständiges und in gar vielen Stücken sehr gründliches System aller Teile derselben geschrieben hat, ") ι») i») 2») 21)
Ebenda, Ebenda, Ebenda, Ebenda, Ebenda,
S. S. S. S. S.
242 f. 243 ff. 245. 247. 247.
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so ist es der Mühe wert, daß der Lehrer gegen Ende des Kurses sich am längsten bei diesem Philosophen verweile. A b e r auch hier soll er nicht dogmatisieren, sondern bloß er2ählen, und durch wohlausgesuchte Proben deudich zeigen, was dieser Philosoph hautpsächlich in jedem Teile der Weltweisheit getan hat." 2 2 ) A u f diese Weise, so hoffte Sulzer, würde es gelingen, den Studierenden „einen Geschmack an philosophischen Untersuchungen zu geben und sie mit dem Geist der Philosophie bekanntzumachen". A u c h in der juristischen Grundausbildung, die die künftigen Rechtsgelehrten an der Mitauer Akademie erhalten sollten, konnten nach Sulzers Meinung die Werke Christian Wolffs gute Dienste leisten. So könne der Professor der Rechtsgelehrsamkeit „entweder einen A u s z u g aus Wolffens kleinerem Jure Naturä machen oder das Compendium des Doctor Nettelbladt bei dieser Lektion zugrunde legen" 2 3 ). Abgeschlossen wird Sulzers Entwurf zur Einrichtung eines akademischen Gymnasiums in Mitau mit dem Vorschlag zu einem Ordnungsreglement, das die Überschrift trägt: „ V o n dem Concilio Professorum, der von demselben auszuübenden Disziplin und andern zur guten Ordnung abzielenden Geschäften." 24 ) A u c h diese Richtlinien Sulzers muten recht modern an: D i e Professoren sind „alle einander gleich". Sie „machen ein Kollegium aus, durch dessen Vorsorge und Autorität die Polizei und gute Ordnung dieses Gymnasii erhalten und was zur allgemeinen Disziplin gehört besorget wird". Das Professorenkollegium versammelt sich wöchentlich zu einem Konzil: „In diesem Concilio hat allemal der Professor, der das Rektorat verwaltet, den Vorsitz, das Rektorat aber wird abwechselnd von allen Professoren verwaltet, v o n jedem ein Jahr lang. V o n den übrigen Mitgliedern vertritt der Jüngste im A m t e die Stelle des Sekretärs." Über alle wichtigen Beschlüsse des Konzils wird ein Protokoll angefertigt. Die Immatrikulation der Studierenden erfolgt jeweils durch den Rektor, „der jeden neu Ankommenden mit den nötigen Vorstellungen und Ermahnungen, sich fleißig und ordentlich zu halten, nach seinem ganzen Namen, Herkunft und mit Ausdrückung des Studii, dem er sich vorzüglich widmet, einschreibt". Danach übernehmen die Professoren und übrigen Lehrer die Aufsicht über die Zöglinge. Sie haben darauf zu achten, „daß die, die ihre Eltern nicht in Mitau haben, in guten Pensionen stehen, daß es ordentlich bei ihnen aussehe" 25 ) usw. Sulzers Lehrplanentwurf und die bevorstehende Einrichtung des akademischen Gymnasiums zu Mitau mußten eine Berufung an die neue Hochschule des Herzogtums Kurland als recht reizvoll erscheinen lassen. A u c h mit dieser Aufgabe hatte Peter Biron den Berliner Akademiker Sulzer beauftragt: „ N u n ) 23) 24) 25) 22
Ebenda, Ebenda, Ebenda, Ebenda,
S. S. S. S.
248. 249. 254—256. 254.
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mußte ich auch die Lehrer des Gymnasiums zusammensuchen und dahin schicken usf. Dieses verursachte mir viel Arbeit und nachher auch nicht wenig Verdruß; indem kaum einer, nachdem er da angekommen, mit seiner Lage zufrieden war, so, daß mir zuletzt die ganze Sache zur Last wurde. Nachdem die Professoren alle da angekommen waren, bekam ich selbst eine Einladung vom Herzog, dahin zu kommen und die Direktion der Sache über mich zu nehmen. Es wurde mir dabei ein Gehalt von 900 Dukaten, ein eigenes Haus und, so oft ich wollte, freie Tafel am Hofe angetragen. Ich lehnte die Sache, so gut ich konnte, ab. Wäre ich auch völlig gesund gewesen, so würde ich dennoch die Stelle nicht angenommen haben, weil ich mit meiner jetzigen Lage völlig zufrieden bin und dafür halte, daß man einen Stand, darin man zufrieden ist, nie gegen einen obgleich vorteilhafter scheinenden, den man nicht genau kennt, vertauschen sollte. Da mich ohnehin diese Stelle in Verbindung mit dem Hofe würde gebracht haben, und ich vor allem Hofleben, an großen oder kleinen Höfen, einen Abscheu habe, so war die Versuchung, sie anzunehmen, desto geringer." 26 ) Sulzer selbst ging also nicht nach Mitau, wohl aber nahmen die meisten der von ihm vermittelten Professoren den Weg dorthin. Neun Professoren und acht Lehrer erhielten die Aufgabe, die notwendige Bildung zu vermitteln. Es war dies ein kleiner Lehrkörper; jedoch auch manch europäische Volluniversität verfügte zum selben Zeitpunkt kaum über mehr Professoren. So nennt der „Akademische Addreßkalender" von 1769 und 1770 für Kiel 13, für Lund 15 und für Moskau 10 Professoren27). Die meisten Professoren, die auf Empfehlung Sulzers an das Mitauer Gymnasium berufen wurden, waren noch recht jung. Sie zählten in den meisten Fällen erst an die dreißig Jahre. Jedoch handelte es sich, wie Liebeskind bemerkte, um akademische Lehrer, die „einer jeden anderen Universität Ehre" machten und „auch größtenteils, jeder in seinem Fach, im Auslande rühmlichst bekannt" 28 ) seien. Es war in hohem Maße Sulzers Lehrprogramm, das diese Gelehrten veranlaßte, nach Kurland zu gehen. So waren denn auch die zeitgenössischen wissenschaftlichen Zeitschriften im Hinblick auf die neue Bildungsanstalt zu Mitau voll des Lobes. Ein Beispiel hierfür bildet die Stellungnahme des Kieler Professors Martin Ehlers, der sich durch mehrere Schriften und als praktischer Organisator des preußischen Schulwesens einen Namen gemacht hatte. Er schrieb in der „Allgemeinen Deutschen Bibliothek" folgendes: „Dieser Entwurf wird immer ein bessres Denkmal des Ruhms für den Stifter des Gymnasiums sein, als es eine Bildsäule oder Lobrede sein könnte. Zwar wollen wir hoffen, daß noch einmal die Zeiten kommen, da man die ernstliche Sorge für 2e )
Sulzer, Lebensbeschreibung, S. 57 f. Vgl. schon Ischreyt, Mitau und die Berliner Aufklärung, S. 69. 2S) Liebeskind, Rückerinnerungen von einer Reise, S. 361 f. 27 )
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eine weise Einrichtung der Erziehungsanstalt nicht mehr zu den seltenen Regententugenden rechnen wird; allein diese Tugend ist noch leider so etwas Seltenes, daß man es jedem Fürsten sehr zum Ruhm anrechnen muß, wenn er Sorgen dieser Art zu einem seiner wichtigsten Regierungsanliegen macht. Und welch ein Glück für das Mitausche Gymnasium, daß einem so einsichtsvollen und weisen Manne, als wir in dem Verfasser dieses Entwurfes kennenlernen, das Geschäft aufgetragen ist, den Plan zu der Errichtung derselben zu entwerfen!'^) Um den Lehrbetrieb an der Mitauer Akademie aufnehmen zu können, war es notwendig, Sulzers Programmentwurf die staatliche Sanktionierung zu verleihen. Ebenso mußten die materiellen Voraussetzungen in Gestalt eines geeigneten Gebäudes und anderer Einrichtungen geschaffen werden. So wie die Dinge in Kurland lagen, konnte die Bestätigung des herzoglichen Projekts eines akademischen Gymnasiums für Mitau allein durch einen Beschluß des Kurländischen Landtags herbeigeführt werden. Es blieb abzuwarten, wie sich der einheimische Adel zu der von Sulzer vorgeschlagenen Erteilung von akademischen Privilegien und Freiheiten an die Professorenschaft des Mitauer Gymnasiums stellen würde. Dem Herzog, der die Ritterschaft in der Frage der Einrichtung des akademischen Gymnasiums vor vollendete Tatsachen zu stellen suchte, war es darum zu tun, vor allem die Zustimmung Warschaus zu erlangen, was sich als weniger schwierig herausstellte. Peter Biron gelang es, sich in seinen Verhandlungen mit dem Adel und dem polnischen Suzerän freie Hand zu verschaffen und von beiden Seiten die Zustimmung zur herzoglichen Stiftungsurkunde zu erhalten. Diese erschien am 8. Juni 1775 zu Mitau im Druck unter dem Titel: „Fundation des akademischen Gymnasiums in Mitau" 30 ). Sie bestand aus insgesamt neununddreißig Punkten. Eingangs wurde darauf hingewiesen, daß das Hauptziel der neuen Einrichtung darin bestehe, Kurland endlich die bislang fehlende wissenschaftliche Bildungsanstalt zu geben, „wodurch die Jugend in allen ihren nötigen Kenntnissen im Lande unterrichtet und zu rechtschaffenen und edlen sittlichen Gesinnungen ausgebildet werden könnte". Mit Genehmigung des königlichen Oberherrn in Polen stifte er, Herzog Peter Biron von Kurland, „in Unserer Residenzstadt Mitau ein Gymnasium Academicum, welchem wir als Stifter den Namen Petrinum beilegen, mit nachfolgenden Einrichtungen, Immunitäten, Freiheiten und Privilegien", wie sie bereits in Sulzers erstmalig 1773 gedruckten Entwurf vorgesehen waren. Der Herzog betonte in der Fundationsakte von 1775 mit Nachdruck die akademischen Privilegien des seinen Namen tragenden Mitauer Gymnasiums. Ausdrücklich wird gesagt: „Dieses akademische Konzilium soll nicht nur die akademische Disziplin und alle an den die 29 )
Allgemeine Deutsche Bibliothek. 26. Berlin, Stettin 1775. S. 249. Gedruckt bei Dannenberg, Geschichte und Statistik, S. 219—227 (weiterhin: Fundationsakte). 30 )
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Unterhaltung guter Ordnung angehenden Geschäfte getreulich verwalten, sondern auch überhaupt Recht und Gerechtigkeit allen Rechtssuchenden handhaben. Zu dem Ende geben und verleihen Wir demselben aus landesherrlicher Macht und Gewalt die eigene Jurisdiktion in Zivilsachen und leichten Vergehungen." 31 ) Zu den akademischen Vorrechten gehörte auch, daß die Staatsgewalt alle Lehrer der Academia Petrina unter landesherrlichen Schutz stellte: „Anfänglich nehmen Wir alle Lehrer bei diesem Gymnasio in Unserm besondern landesherrlichen Schutz und gebieten allen und jedem bei Unserer Höchsten Ungnade, sich an deren Keinen noch den Ihrigen mit Worten und Werken auf irgendeine Art zu vergreifen, widrigenfalls Wir denselben nicht nur nach der Schwere des Verbrechens alle Schärfe der Gesetze fühlen lassen werden." 32 ) Die gleichen Vorzüge werden den Studierenden zugestanden: „Auch versichern Wir den Studierenden auf diesem Unserm akademischen Gymnasio Unsern Gnädigsten landesherrlichen Schutz und gebieten nicht nur Unserm Concilio, wann jemand derselben von einem andern akademischen Mitbürger wider Recht und mit irgendeiner Gewalt angegriffen und injuriiert würde, ihm gehörige Genugtuung zu verschaffen."33) Die den Professoren und Lehrern des akademischen Gymnasiums eingeräumten Vorrechte standen auch deren Angehörigen, so den „Ehegattinen, Witwen, die ihren Witwenstuhl nicht verrücket haben", und den „Kindern, die noch in väterlicher Gewalt stehen"34), zu. Zu den akademischen Privilegien gehörte ebenso die Freiheit von allen Abgaben, Akzisen, Einquartierungen und anderen Bedrückungen: „Von allen bürgerlichen Unpflichten und Abgaben, Akzisen, Einquartierungen und dergleichen sollen die Professoren und die übrigen Lehrer und Verwandten dieses akademischen Gymnasii gänzlich befreit sein." 35 ) Schließlich kam noch die Zensurfreiheit hinzu, von der es heißt: „Hiernächst gönnen wir auch Unsern Lehrern des Gymnasii, daß, was bei ihnen zu drucken vorfiele, sie entweder bei Unserm Hofbuchdrucker in Druck geben oder sich auch selbst einen akademischen Buchdrucker bestellen mögen, und was sie schreiben oder drucken lassen wollen, soll bloß das Konzilium oder der Professor, dem es von diesem aufgetragen wird, zur Zensur erhalten." 36 ) Mit der Zensurfreiheit verknüpft war das dem Gymnasium zugestandene „Zeitungs- und Kalenderprivilegium" 37 ). Dieses hatte der Herzog bereits in 31) 32) 33) 34 ) 35 ) 3β) 37 )
Fundationsakte, S. 221. Ebenda, S. 222. Ebenda, S. 223. Ebenda, S. 224. Ebenda. Ebenda, S. 226. Gedruckt bei Dannenberg, Geschichte und Statistik, S. 256—257.
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einer gesonderten Urkunde vom 10. April 1775 erteilt. Dort hieß es: „Solchemnach nun geben und verleihen Wir dem Collegio Professorum Unseres akademischen Gymnasiums für jetzt und auf immerwährende Zeiten nach der uns zuständigen landesherrlichen Macht und Hoheit nachfolgende Privilegia, Rechte und Freiheiten. 1. Gönnen und geben Wir gedachtem Unserem Collegio Professorum für jetzt und auf alle künftigen Zeiten als ein demselben allein zuständiges Recht, den zum Gebrauch Unserer Herzogtümer erforderlichen Kalender jährlich anzufertigen, solchen zum Druck zu bringen und die aus dem Verlag desselben fließenden Vorteile zur Bestreitung verschiedener bei der Akademie erforderlichen Ausgaben anzuwenden. Desgleichen verordnen und setzen Wir auch hiemittelst fest, daß 2. Unser Akademisches Kollegium von nun ab und in Zukunft die ausschließende Berechtigung haben solle, nicht nur die hiesigen Mitauschen Zeitungen, sondern auch neben denselben noch ein nach dem Beispiel anderer Länder eingerichtetes Intelligenzblatt zu schreiben und die Einkünfte davon gleichfalls zum Besten der Akademie einzuziehen. Es wird aber auch unsere Akademie sich jeder Zeit bestens angelegen sein lassen, diesen Zeitungs- und Intelligenzblättern solche Einrichtung und Vollkommenheit zu geben, daß selbige nicht nur dem hiesigen Publico nützlich werden, sondern auch andern Ländern sich empfehlen mögen . . . Als geben und verleihen Wir dem Collegio Professorum Unserer Akademie 3. Die völlige Zensurfreiheit hiemittelst und kraft dieses dergestalt in Gnaden, daß alle akademischen Schriften, Kalender, Zeitungen und Intelligenzblätter, wie auch gelehrte Abhandlungen und Werke, welche Professores oder auch andere zur Akademie gehörige Glieder drucken lassen wollen, von dem Collegio Professorum zensurieret und nach solcher erfolgten Zensur, wovon jedoch Uns als Rektoren Unserer Akademie zuvor die gebührende Anzeige unterleget werden muß, unter dem Imprimatur Unseres akademischen Prorectoris dem Druck übergeben werden sollen, alle andere Schriften aber, die entweder Landessachen angehen oder sonst von irgendeinigen Gelehrten im Lande zum Druck befördert werden wollten, bleiben nach wie vor der Zensur Unseres Wohlgeborenen Kanzlers und Oberrates unterworfen." 38 ) Bereits zwölf Tage später, am 20. Juni 1775, erfolgte die Konfirmation der Fundationsurkunde Herzog Peter Birons durch König Stanislaw August Poniatowski von Polen39). Damit waren die staatsrechtlichen Grundlagen zur Aufnahme des akademischen Unterrichts gegeben. Der Adel hatte in fast merkwürdiger Weise bislang Stille gehalten, so daß der Herzog von Kurland, dem ebenso wie dem König von Polen keineswegs ein absolutistisches Regiment nachgesagt werden kann, in seiner Eigenschaft als Stifter der Mitauer Akademie gleichsam in der Pose eines aufgeklärt-absolutistischen Herrschers auf38 ) 39 )
Ebenda. Gedruckt bei Dannenberg,
Geschichte und Statistik, S. 227—228.
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treten konnte. Stanislaw Poniatowski bestätigte in allen Teilen Peter Birons Stiftungsakte und sicherte der Mitauer Akademie den zusätzlichen Schutz der Krone Polens zu. Nun war es wirklich so weit. Die Anstalt konnte eröffnet werden. Der 29. Juni 1775, der Namenstag des Landesfürsten, bot eine günstige Gelegenheit hierfür. Diese galt es zu nutzen. So konnte denn am Peter-Pauls-Tag die fesdiche Inauguration der Mitauer Akademie mit großem Pomp vollzogen werden. Das für ganz Mitau großartige Ereignis ist in mehreren zeitgenössischen Berichten ausführlich festgehalten. Danach verkündeten am frühen Morgen des 29. Juni 1775 Kanonenschüsse vom Schloß herab den Beginn der Feierlichkeiten. Der Festzug bewegte sich unter Pauken- und Trompetenschall der Wohnung des Prorektors zu, wo sich die Professoren versammelten. Von da an zog man in feierlicher Prozession zum Schloß, wo der Herzog mitsamt dem Hofstaat Aufstellung genommen hatte und die Eidesleistung der Professoren entgegennahm. Danach erfolgte in streng geordnetem Zug die Auffahrt der Festversammlung zum akademischen Gebäude in der Palaisstraße, wo Grenadiere und Musketiere Spalier bildeten und das Gewehr präsentierten. Im festlich geschmückten großen Hörsaal angekommen, proklamierte nach einem musikalischen Vortrag im Beisein des Landesfürsten Kanzler Johann Ernst v. Klopmann vom Katheder herab die Inauguration der Academia Petrina. Daraufhin bestieg Prorektor Johann Melchior Gottlieb Beseke40) das Pult, um dem Herzog den Dank der eben ins Leben gerufenen Akademie abzustatten. Mit dem aufrüttelndem Festvortrag des Professors der Beredsamkeit Johann Nikolaus Tiling 41 ) klang die Inaugurierungsfeier in Hochstimmung aus. Im Anschluß daran kamen die Professoren beim Fürsten zu einem Festessen zusammen, und am Abend fand ein Maskenball statt, der mit einem riesigen Feuerwerk verbunden war. Auch an den folgenden Tagen wurde gefeiert, und ein Studentenball löste den anderen ab. Mehrere Beteiligte versuchten sich sogar mit Gedichten, in denen die Einrichtung der Academia Petrina in überschwenglichen Worten gepriesen wurde. Die Erreichung des von Johann Georg Sulzer vorgezeichneten Ausbildungsziels an der Mitauer Akademie hing primär von den Professoren und Lehrern ab, die an der Anstalt wirkten. Auf Sulzers Empfehlung waren sechs ausländische Gelehrte dem an sie ergangenen Ruf des kurländischen Herzogs gefolgt und nach Mitau gekommen 42 ). Unter ihnen befanden sich solch hervorragende Gelehrte wie der Linne-Schüler und schwedische Naturforscher, Mineraloge, 40
) Vgl. M. G. Beseke: Einladung zur Feier des 29. Junius des 1775. Jahres als des Einweihungstages des . . . zu Mitau gestifteten Akademischen Gymnasiums. Mitau 1775. 41 ) / . N. Tiling: Rede am Tage der Einweihung des . . . in Mitau gestifteten Gymnasiums, den 29. Junius 1775 gehalten. Mitau 1775. 42 ) Vgl. die Verzeichnisse der Professoren und Lehrkräfte bei Damenberg, Geschichte und Statistik, S. 3 ff., 57 ff.
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Montanist und Mitbegründer der modernen Geognosie, Johann Jakob Ferber (1743—1790)43), der aus dem Magdeburgischen stammende Jurist Johann Melchior Beseke (1746—1802), der auch Werke auf dem Gebiet der Chemie, Biologie, Geschichte und Philosophie veröffentlichte, und der schwäbische Mathematiker Wilhelm Gottlieb Friedrich Beitier (1745—1811). Der Berufung nach Mitau waren auch der Württemberger Dichter Gottlob David Hartmann (1752—1775) gefolgt, der die Professur für Philosophie übernahm, nachdem Immanuel Kant abgelehnt hatte. Nach Hartmanns frühem Tod im November 1775 wurde erneut der Versuch gemacht, den Königsberger Philosophen zu gewinnen, jedoch wiederum ohne Erfolg. So wurde 1777 als Hartmanns Nachfolger der aus Schwerin gebürtige Johann August Starck (1741—1816) berufen. Ihm folgte 1784 Professor Christian Wilhelm Schwenkner (1741 bis 1815). Die Professur für griechische Sprache und Literatur wurde dem Westpreußen Johann Benjamin Koppe (1750—1791) übertragen. Er, ebenfalls ein Kandidat Sulzers, war der Sohn eines Tuchmachers, der in Mitau mit großem Erfolg wirkte. Leider verließ er auf Veranlassung seines Lehrers Christian Gottlob Heyne bereits im Dezember 1775 wieder Kurland und übernahm in Göttingen eine vakant gewordene Professur für Theologie. Sein Amtsnachfolger wurde Karl August Kütner (1749—1800). Nur wenig wissen wir von dem ersten Historiker an der Academia Petrina, dem Professor Heinrich Friedrich Jäger (1747—1811). Gleich Hartmann und Beitier kam auch er aus Schwaben und hatte in Tübingen studiert. Dort wurde er auch zum Doktor der Rechte promoviert. Danach war er als Advokat in Stuttgart tätig. Er hatte die Mitauer Professur für Geschichte bis 1789 inne, trat jedoch wenig in Erscheinung, wie er auch kaum etwas veröffentlichte. Nach seinem Weggang von Mitau wirkte er wieder in Württemberg. Sein Nachfolger wurde 1790 der Magdeburger Joachim Christian Friedrich Schulz (1762—1798). Nach ihm übernahm die Geschichtsprofessur der bekannte Historiker der kurländischen Geschichte, Karl Friedrich Cruse (1765—1834). Im Jahre 1776 wurde auf Betreiben des Herzogs zusätzlich ein Professor für Ökonomie bestellt. Es war dies der bekannte livländische Pastor und Leibeigenschaftskritiker Johann Georg Eisen 44 ), der jedoch bereits im darauffolgenden Jahr seine Professur wieder niederlegen mußte, ohne jemals Vorlesungen gehalten zu haben. Indes, unter den ersten Professoren der Mitauer Akademie befanden sich nicht nur ausländische Wissenschafter, sondern auch Gelehrte, die seit längerer Zeit in Kurland ansässig waren und sich hier durch ihre Tätigkeit bereits einen Namen gemacht hatten. Zu ihnen gehörte der Professor für lateinische Sprache 43 ) Vgl. jetzt /. /. Ferber: Briefe an Friedrich Nicolai aus Mitau und St. Petersburg. Hrsg. von H. Ischreyt. Eingeleitet von A. Timm. Herford, Berlin 1974; H. Ischrejt: Ich bliebe aber gerne in Deutschland. In: Deutsche Studien, 46. 1974. S. 116—126. 44) E. Donnert: Johann Georg Eisen (1717—1779). Vorkämpfer der Bauernbefreiung in Rußland. Leipzig 1978.
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und Literatur Matthias Friedrich Watson (1733—1805), dessen Vorfahren aus Schottland stammten. Er war ein bekannter Schulmann, der neben seiner Tätigkeit an der Akademie auch an der Mitauer Stadtschule wirkte. Gleichzeitig betätigte er sich lange Jahre als Redakteur der Mitauschen Zeitung. Eine ähnliche Doppelfunktion hatte der Professor für Beredsamkeit Johann Nikolaus Tiling (1739—1798) inne, der aus Bremen gebürtig war. Er, der sein bisheriges Amt als Pastor beibehielt und auch eifrig in Freimaurerlogen verkehrte, wurde durch seine Reden eine in ganz Mitau bekannte Persönlichkeit. Gleichzeitig beteiligte er sich aktiv an den gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen, die unter den Einwirkungen der Ideen der Französischen Revolution verstärkt vor sich gingen, und verfaßte mehrere Streitschriften. In ihnen bezog er eine scharfe Frontstellung gegen die Französische Revolution und die Kurländische Bürgerunion. Gleichzeitig betätigte er sich als Wortführer der Mitauer Handwerkeropposition. Durch sein widerspruchsvolles Auftreten kam es an der Academia Petrina zu turbulenten Auseinandersetzungen, die die zeitweilige Amtsentsetzung des Professors der Beredsamkeit zur Folge hatten. Tiling 45 ) erscheint als eine schillernde Persönlichkeit, deren Wollen und Bedeutung von der Forschung bislang nur ungenügend geklärt sind. Schwierigkeiten hatte die Mitauer Akademie vor allem bei der Berufung von Lehrkräften für das Fach Theologie. Bekannt ist, daß als erster Theologieprofessor am akademischen Mitauer Gymnasium Johann Gottfried Herder gewonnen werden sollte. Seine Berufung scheiterte an Sulzers Einspruch. An Herders Stelle übernahm der kurländische Pastor Johann Gabriel Schwemschuch (1733—1803), der aus Ostpreußen stammte, die Mitauer Professur für Theologie. Er blieb bis zu seinem Tode im Jahre 1803 im Amt. Sulzer selbst verfolgte von Berlin aus mit wacher Anteilnahme das Wirken der neuen Anstalt, die er mit Recht auch als seine eigene betrachtete. Durch seinen frühen Tod am 25. Februar 1779 vermochte er jedoch lediglich die ersten Gehversuche der Academia Petrina mitzuerleben. Die Mitauer Professoren, die ihm hohe Wertschätzung entgegenbrachten, würdigten Sulzers Verdienste in einer am 5. September 1779 veranstalteten Feier, auf der Professor Johann Nikolaus Tiling im Beisein des Landesfürsten mit einer großen Laudatio 46 ) auftrat. Peter Biron ließ zu Ehren Sulzers von diesem eine Marmorbüste anfertigen, die er der Akademie zum Geschenk darbrachte. Neben Raison und Sulzer machte sich bei der Einrichtung der Academia Petrina auch noch ein dritter Mann besonders verdient. Es war dies der herzogliche Hofarchitekt Severin Jensen (1723—1809). Er war ein geborener Däne und wirkte vor seiner Mitauer Tätigkeit in Italien, wo er sich an den unter Aufsicht Luigi Vanivellis im Königreich Neapel durchgeführten Bauten beteiligte. 45 )
Über Johann Nikolaus Tiling bereite ich eine größere Arbeit vor. J. N. Tiling: Gedächtnisrede auf weiland Herrn Johann Georg Sulzer . . tember 1779 gehalten. Mitau 1779. 46)
am 5. Sep-
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1766 trat er in die Dienste des Herzogs von Kurland, wo er nach dem Tode Bartolomeo Rastrellis im Jahre 1771 als herzoglicher Hofbaumeister eine umfangreiche Wirksamkeit entfaltete47). Nach 1795 trat Jensen als kurländischer Gouvernementsbaumeister in russische Dienste. Jensens Hauptverdienst im Zusammenhang mit der Mitauer Akademie bestand im Bau des Hauptgebäudes dieser Einrichtung. Das neue Gebäude, mit dem bereits 1773 begonnen wurde, entstand anstelle des alten herzoglichen Palais, das Peter Biron der Akademie zur Verfügung gestellt hatte. Die Arbeiten gingen zügig voran. Zur Durchführung der Stukkaturarbeiten wurden mehrere Künstler aus dem Ausland herbeigerufen, die im Frühjahr und Sommer 1775 die abschließende Ausschmückung der Innenräume und der reichverzierten Hauptfassade des akademischen Gebäudes in Mitau ausführten. Im Juni 1775 war es so weit. Jensen hatte seine Bauarbeiten im wesentlichen abgeschlossen, und das Gebäude konnte seiner Bestimmung übergeben werden, auch wenn noch nicht alle Teile gänzlich fertig waren. Das neue Gebäude der Academia Petrina ist von mehreren Zeitgenossen anschaulich beschrieben worden. Zu ihnen gehört auch der Schweizer Mathematiker und Berliner Akademiker Johann Bernoulli, der Jensens Werk am 11. Juni 1778 unter der Führung von Professor Johann Jakob Ferber besichtigt hat. Bernoullis Beschreibung ist schon deshalb bedeutungsvoll, weil es sich hierbei um die ältesten Nachrichten über das Gebäude handelt und nur ausgehend davon die späteren Umbauten und baulichen Veränderungen bestimmt werden können. Nach einer recht ausführlichen Schilderung der Lebenschicksale der am Mitauer Gymnasium wirkenden Professoren entwirft Bernoulli folgendes Bild von Jensens akademischem Bauwerk: „Das Gebäude, in welchem diese sämtlichen Professoren ihren Unterricht halten und welches zu diesem Behuf ganz neu errichtet worden, nimmt sich in Ansehung der Bauart sehr gut aus. Nur hat es vielleicht allzu viel architektonische Zierarten; besonders sind die Frontons über den Fenstern sehr stark. Es ist ein langes Viereck, das an den beiden längeren Seiten einen mit sechs korinthischen Säulen verzierten Vorsprung hat. Über demselben erhebt sich ein zuerst viereckiger, hernach achteckiger Turm, der zu einer Sternwarte bestimmt ist, und wo ich mich an der angenehmsten Aussicht über die Stadt und die schöne umliegende Gegend vergnügte. Instrumente waren hier noch keine zu sehen, weil der Turm auch nicht verschlossen werden konnte, auch nicht alles zu der Bequemlichkeit eines Beobachters fertig war . . . Das akademische Gebäude hat lauter gewölbte Zimmer, zwei Auditoria, einen schönen großen Konferenzsaal mit dem Portrait des vortrefflichen Stifters und einen Büchersaal, in wel47 ) Vgl. W. Neumann: Aus alter Zeit. Kunst- und kulturgeschichtliche Miszellen aus Liv-, Est- und Kurland. Riga 1913; Α. E. Müller-Eschebach: Kurländischer Spätbarock. Die Bautätigkeit der Herzöge von Kurland im 18. Jahrhundert. Phil. Diss. Königsberg. Borna, Leipzig 1939.
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chem allein die zierlich gearbeiteten hölzernen Bücherschäfte 400 Dukaten gekostet haben." 48 ) Bernoullis Beschreibung von 1778 wird ergänzt durch die Schilderung des kurländischen Dichters Ulrich v. Schlippenbach, die aus dem Jahre 1806 stammt. In ihr heißt es: „Unstreitig ist dies Gebäude eines der schönsten in Kurland und eine wahre Zierde der Stadt. Die prächtige, 170 Fuß lange Fassade schmückt ein von sechs römischen Säulen getragenes Fronton, auf welchem die Kolossalstatuen des Apoll und der Minerva stehen. In der Mitte des unter dem schwarzen Fronton laufenden Frieses liest man aus einer schwarzen Platte mit goldenen Buchstaben die Inschrift: Sapientiae et musis sacrum Petrus Curlandiae et Semgalliae Dux pos. MDCCLXXV. Über dem Fronton erhebt sich ein viereckiger, auf jeder Seite mit korinthischen Säulen und einem schönen Gebälke geschmückter Turm, auf dessen Platteform eine achteckige, mit Glastüren, aus denen man heraustritt, versehene Laterne steht, die von einer Kuppel, welche eine zweite kleine Laterne trägt, geschlossen wird. Eine bequeme, erst neuerlich angelegte Wendeltreppe führt einwendig bis zur äußersten Spitze, von wo aus man nach allen Seiten hin, weit über die Stadt weg, die herrlichste Aussicht genießt. Das obere Geschoß des Gebäudes enthält das Auditorium maximum zu den Festlichkeiten, zwei kleine Hörsäle zu den Vorlesungen und die Bibliothek. Unten ist der Tanz- und Fechtboden, die Konzilienstube, einige Zimmer, worinnen die mancherlei Sammlungen aufbewahrt werden, die Wohnung des Pedells und das Karzer. Das Observatorium ist auf der Südseite unter dem Dache angebracht und wohl auch etwas unbequem, hat aber viele treffliche Instrumente und einen noch trefflicheren Observator, Herrn Hofrat und Professor Beitier . . ," 49 ) Schlippenbachs Schilderung zeigt, daß seit 1778, als Bernoulli in Mitau war, am Akademiegebäude weitere Veränderungen vorgenommen worden waren. Zu einer neuerlichen Umgestaltung des architektonischen Gesamtbildes kam es dann in russischer Zeit, in den Jahren 1841 bis 1844, die auf Weisung des Petersburger Volksbildungsministeriums durchgeführt wurde. Auch die am 22. August 1844 erfolgte Neueinweihung des umgebauten Gymnasialgebäudes wurde von den Zeitgenossen gehörig gefeiert und durch eine wissenschaftliche Festschrift geehrt. Von Jensens Bauwerk aus dem Jahre 1775 freilich war kaum noch etwas Übriggeb lieben. Während Severin Jensen und seine Gehilfen noch am Werke waren, begann sich das akademische Leben am Mitauer Gymnasium langsam zu entfalten. Der Lehrbetrieb nahm seinen Anfang. Bereits Ende 1774 war das vorgesehene 48) J. Bernoulli: Reisen durch Brandenburg, Pommern, Kurland, Rußland und Polen in den Jahren 1777 und 1778. Bd. 3. Leipzig 1779. S. 239—241. 4e) U. Freiherr v. Schlippenbach: Fragmente aus einer Reise durch Kurland. In: Wöchentliche Unterhaltungen für Liebhaber deutscher Lektüre in Rußland. Hg. von J. F. Recke, Bd. 4. Mitau 1806. S. 3 9 9 - 4 0 0 ; schon Meyer, Academia Petrina, S. 115—116.
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Professorenkollegium fast vollständig in Mitau versammelt. Es fehlte nur noch der Professor für Theologie Schwemschuch. Wie auch Bernoulli bezeugt, handelte es sich bei den Lehrkräften der Academia Petrina um „lauter Gelehrte von wahren Verdiensten", die „einen bewährten Nutzen zu stiften vermögen" 50 ). Es galt nun, rasch auch die noch offenen Fragen der Administration und der Leitung der Akademie zu klären. Hierher gehörte die Wahl des Rektors, die auf den fürstlichen Landesherrn gefallen war. Dieser akzeptierte das Votum des Professorenkollegiums auf Übernahme des Amts des Rector Magnificentissimus perpetuus, das er freilich als Ehrenfunktion auffaßte. Daher schlug er der Akademie vor, die wirkliche Leitung in die Hände eines Prorektors zu legen, der, wie es Sulzers Entwurf vorsah, jährlich neu gewählt werden sollte. Das Kollegium folgte dem Anliegen des Fürsten. Damit trat an die Stelle des ursprünglich in Aussicht genommenen Rektorats als Leitungsorgan ein Prorektorat. Demgemäß wurde die Academia Petrina in den Jahren 1775 bis 1806 von Prorektoren geleitet. In der Zeit danach stand dem Mitauer Gymnasium ein Direktor vor. Aus den Sitzungsprotokollen des Professorenkollegiums wird der Elan deudich, der die ersten Schritte des akademischen Gymnasiums begleitete. Wichtiges und weniger Wichtiges wechselten in bunter Folge. Die Professoren berieten über die zu haltenden Vorlesungen und deren Themen, stimmten sich untereinander ab, einigten sich über den Anteil an den Kollegiengeldern, teilten die Studiengebühren unter sich auf und nahmen die Neuimmatrikulierten in Augenschein. Am 13. Februar 1775 mußten sich die ersten sechzehn von ihnen einer Prüfung unterziehen, und am 20. des gleichen Monats fanden die ersten Vorlesungen statt. Aus den Anschlägen der Professoren war ersichtlich, um welche Kollegs es sich handelte. Dabei stellte sich heraus, daß außer den theologischen Kollegs auch noch die Veranstaltungen fehlten, die die Sprachlehrer und Exerzitienmeister abhalten sollten. Diese waren jedoch noch nicht vollzählig in Mitau eingetroffen. Der erste Sprachlehrer, der seine Tätigkeit aufnahm, war Johann Baptist Corsi. Er trug Italienisch vor, mußte jedoch die Anstalt auf Grund seines anstößigen lockeren Lebenswandels bald wieder verlassen. Wohl erst im 2. Semester nahm auch der Lehrer für englische Sprache seine Tätigkeit auf. Es war dies der Holzhändlersohn Patker Richard Proctor aus Preston in der Grafschaft Lancaster, ein ehemaliger Oxforder Student, nach dem Examen als Lektor für englische Sprache an der Universität Halle tätig. Proctor blieb bis zu seinem Tode im Jahre 1797 an der Mitauer Akademie. Als Nachfolger wurde sein Sohn Heinrich Proctor berufen, der bis 1823 wirkte. Nachrichten liegen auch über den Lehrer für Französisch, den Kölner Stephan Brandt, vor, der 5°)
Bernoulli, Reisen, S. 230.
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sein Amt 1777 antrat und bis zu seinem Tode im Jahre 1813 ausübte. Vor seiner Berufung nach Mitau hatte sich Brandt als Redakteur von Bonner und Frankfurter Zeitungen betätigt. Was das Italienische anging, so wurde nach der Absetzung Corsis im Jahre 1777 ein neuer Lehrer für das gleiche Fach berufen. Von ihm ist kaum mehr als der Name, der Giuliani lautete, bekannt. Giuliani versah sein Amt von 1779 bis 1795, d. h. bis zur Streichung der Planstelle für Italienisch. Anstelle des Lehrers für italienische Sprache wirkte seit diesem Zeitpunkt ein Lehrer für Russisch. Es war dies ein Mann namens Anderson, der 1799 seine Arbeit aufnahm, jedoch 1806 wieder entlassen wurde. Unter den Lehrern der Künste war vor allem dem Lehrer der Zeichenkunst Samuel Gottlieb Kütner, dem Bruder des an der gleichen Anstalt wirkenden Professors für griechische und lateinische Sprache Karl August Kütner, großer Erfolg beschieden. 1750 wahrscheinlich wie sein Bruder in Görlitz geboren, wirkte Samuel Gottlob Kütner fast fünfzig Jahre, d. h. bis 1824, an der Mitauer Akademie. Er starb im Jahre 1828 in Mitau. Von diesem bedeutenden Künstler, dem zahlreiche Ehrungen zuteil wurden, stammen bekannte Porträtstiche, so von Leonhard Euler, Herzog Peter Biron u. a. Im 3. Semester richtete man auch den Posten eines Lehrers für Arithmetik und Kalligraphie ein, der in Sulzers Entwurf nicht vorgesehen war. Er wurde mit Wirkung vom 15. Februar 1776 mit dem Schreib- und Rechenmeister George Carl Wegener besetzt, der vordem an der Stadtschule Libau (Liepäja) tätig war. Er hat am Petrinum bis 1791 gewirkt. Wegener war nach dem Zeugnis der Jenaer Allgemeinen Literaturzeitung eine Persönlichkeit, die sich um die Entwicklung ihres Faches in Kurland große Verdienste erworben hat. Als Lehrer für Fechtkunst betätigte sich seit 1777 bis zu seinem Tode im Jahre 1811 der aus Jena gebürtige Georg Christian Hochhausen. In seinen letzten Lebensjahren vertrat Hochhausen, der von Krankheit gezeichnet war, dessen Schwiegersohn Friedrich Ernst Uckermann; dieser nahm nach 1811 dann bis zum Jahre 1843 auch offiziell die Planstelle wahr. Blieben noch die Lehrer für Reitkunst und Tanzkunst. Als erster Lehrer der Reitkunst wurde der herzogliche Stallmeister Christoph Eimke bekannt, der die Ausbildung in diesem Fach bis zu seinem Tode im Jahre 1800 durchführte. Ihm folgte als neuer Reitlehrer Röhsen, der jedoch 1803 wieder endassen wurde. Als Tanzlehrer betätigte sich bis 1783 der Franzose Louis Francois Chevalier. Ihm folgte in diesem Amt der Mitauer Ballettmeister Peter Vogt, der zuletzt in Berlin gastiert hatte. Vogt übte seine Tätigkeit bis 1809 aus. Der Lehrbetrieb lief also, und die Arbeiten gingen voran. In der Fundationsakte des akademischen Gymnasiums vom 8. Juni 1775 war auch die Frage der Besoldung der Professoren und der anderen Lehrkräfte geregelt worden, jedoch nur in der Form, daß als jährliche Pauschale dem Petrinum eine Summe von 8720 Reichstalern in Albertus zur Verfügung gestellt wurde, die „alle Quartal, und zwar die Besoldungen der Professoren und anderer
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Lehrer an jeden derselben gegen seine Quittung, der zu den Besoldungen der Unterbedienten und anderen Ausgaben bestimmte Rest hingegen an den jedesmaligen Rektor gegen seine Quittung prompt und bar aus der Rentei bezahlt werden soll" 51 ). Von dieser Summe sollte jeder der neun Professoren 600, jeder der acht Lehrer 300 Reichstaler erhalten. Jedoch die Verteilung der Gelder an die Lehrkräfte ging, wie allerorts, so auch an der Mitauer Akademie, nicht ohne Schwierigkeiten vor sich. Dies ergab sich vor allem durch die Abweichungen vom ursprünglich vorgesehenen Reglement. Einigen Professoren wurde ungeachtet der in Sulzers Lehrplan proklamierten Gleichheit ein höheres Gehalt verabfolgt, anderen maß man niedrigere Sätze zu. So erhielten die Professoren Ferber, Starck und Groschke 800 Reichstaler, Beseke und Beitier hingegen nur 200 Dukaten, was 600 bis 620 Reichstaler ausmachte. Andere Professoren, so Watson, Tiling und Schwemschuch, bekamen 500 Reichstaler, da sie noch über zusätzliche Einnahmen als Prediger verfügten. Die Sprachlehrer und Exerzitienmeister bezogen im Durchschnitt ein Gehalt von 250—300 Reichstaler. Die Gehälter der Professoren wurden jedoch durch ein sogenanntes jährliches Deputatstück aufgebessert, das in 25 Löf Roggen, 25 Löf Hafer, 12 Löf Gerste und 3 Löf Weizen bestand 52 ). Hinzu kamen für jeden Professor der Anteil an den Immatrikulationsgebühren und 20 Reichstaler Kollegiengelder. Die Lehrer für Sprachen und Künste erhielten weder ein Deputat noch hatten sie Anteil an den genannten Geldern. Erkrankte ein akademischer Lehrer, so erhielt er nach zehnjähriger erfolgreicher Tätigkeit ein Jahr lang seine volle Besoldung. Der Prorektor bezog zusätzlich zu seinem Gehalt als Professor aus der akademischen Kasse 50 Taler für seine Onera und 15 Taler für Kanzleiausgaben, der Bibliothekar 60 Taler, der Astronom 150 Taler. Die akademische Kasse bestritt auch die Kosten der Redaktion der Mitauschen Zeitung, die von Professor Tiling besorgt wurde. Sie betrugen 150 Taler. Professor Beseke hingegen bezog als Herausgeber des Mitauer Intelligenzblattes nur 50 Taler zusätzlich zu seinem Gehalt. Die Reisekosten für Professoren, die aus dem Ausland berufen wurden, trug der Fiskus. In der Zeit von 1795 bis 1806, d. h. in den ersten Jahren nach der Inkorporierung Kurlands in den Bestand des Russischen Reiches, blieb der Etat des Mitauer Gymnasiums im wesentlichen unverändert bestehen. In den Jahren 1775 bis 1806 waren 407 Studierende an der Mitauer Academia Petrina immatrikuliert. Aus dieser Zahl geht bereits hervor, daß die studentische Frequenz während der ersten zweiunddreißig Jahre der Wirksamkeit der Anstalt äußerst gering gewesen ist. Es haben sich jährlich im Durchschnitt etwa 12 bis 13 Studenten immatrikulieren lassen, im Semester also 6 bis 7. So 51)
Vgl. auch die Materialien bei Dannenberg, Geschichte und Statistik, S. 204 ff. Vgl. den „Befehl des Herzogs an verschiedene herzogliche Ökonomien wegen der Deputatstücke" vom 12. Dezember 1774 bei Dannenberg, Geschichte und Statistik, S. 256. 52 )
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blieb nicht aus, was wir zur Genüge auch von anderen hohen Schulen her wissen, daß zeitweilig die Zahl der Lehrkräfte höher lag als die der Studierenden. Leider sind die Studentenverzeichnisse nicht fortlaufend erhalten, da die Prorektoren es verabsäumt haben, im akademischen Album ständig, so wie es sich gehörte, die notwendigen Eintragungen vorzunehmen. Nach den Zahlen, die Karl Dannenberg 53 ) im Jahre 1875 zusammengestellt hat, ergibt sich folgende Frequenztabelle: Anzahl der Studierenden 1775 1775 1776 1776 1777 1782 1785 1790 1793 1794
im im im im im im im im im im
1. 2. 1. 2. 1. 2. 1. 1. 2. 2.
Semester Semester Semester Semester Semester Semester Semester Semester Semester Semester
17 28 36 40 38 16 22 19 17 12
1795 im 1795 im 1799 im 1801 im 1803 im 1804 im 1805 im 1805 im 1806 im 1806 im
1. 2. 1. 1. 1. 1. 1. 2. 1. 2.
Semester 20 Semester 19 Semester 19 Semester 41 Semester 25 Semester 31 Semester 33 Semester 38 Semester 31 Semester 28
Nach dem Lehrprogramm und der Fundationsakte, die bis 1806 Gültigkeit hatten, stand nicht nur den Söhnen von Adligen, sondern auch den Angehörigen des bürgerlichen Standes Kurlands der Besuch der Academia Petrina offen. Der Lehrkörper des Mitauer Gymnasiums bestand in dem betrachteten Zeitraum ausschließlich aus Gelehrten, die aus dem Bürgertum und anderen niederen Volksschichten kamen. Von den 17 Studierenden des 1. Semesters 1775 waren die meisten bürgerlicher Herkunft. Auch die nachfolgend immatrikulierten Studentenkontingente wiesen die gleiche soziale Zusammensetzung auf. Das Gros der Studierenden der Mitauer Akademie bestand zwischen 1775 und 1806 aus Söhnen von Kaufleuten, Händlern, Handwerkern, Ärzten, Predigern und Beamten. Nicht selten heißt es in den Eintragungen lakonisch „Sohn eines Mitauer Bürgers". Als Nummer 2 in der von Prorektor Professor Johann Melchior Gottlieb Beseke geführten Matrikel des 1. Semesters 1775 findet sich unter dem 25. Februar der Eintrag von Ernst Johannes Bienemann 54 ), geboren am 16. 1. 1753 zu Mitau, Sohn eines lettischen leibeigenen Kochs namens Ehrmannis, der später vom russischen Minister v. Buttlar freigelassen wurde. Bienemann, der sich für Theologie einschreiben ließ, beschäftigte sich auf der Mitauer Akademie jedoch vorwiegend mit Mathematik. 1779 begab er sich mit herzoglicher M) Ebenda, S. 193 ff., 68 ff. Ebenda, S. 68.
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Unterstützung nach London. Nach seiner Rückkehr erhielt er 1781 den Posten eines akademischen Mechanikus, schied jedoch 1788 bereits wieder aus dem Amt. Seit 1789 wirkte er als Kantor und Organist an der Mitauer Stadtschule, 1779 wurde er Aufseher in einer Knopffabrik zu Petrozavodsk, 1801 Privatlehrer in St. Petersburg und schließlich Lehrer an der Stadtschule zu Gateina. Er starb im Jahre 1806. Das Beispiel des Mitauer Studenten Bienemann zeigt, daß nicht nur Söhne von Kaufleuten, Händlern und Handwerkern, sondern auch bereits von Leibeigenen nach höherer Bildung drängten. Es war dies eine Erscheinung, wie wir sie auch aus dem polnischen und russischen Bereich her kennen. Im übrigen sorgten die an der Academia Petrina wirkenden Lehrkräfte selbst nach Kräften dafür, daß die Studierenden mit den bürgerlichen Freiheitsparolen bekannt gemacht wurden. So beteiligte sich, wie bereits bemerkt, das Kollegium der Mitauer Akademie in engagierter Weise an den sozialen und politischen Auseinandersetzungen der Zeit. Die meisten Mitauer Professoren waren Anhänger der Französischen Revolution und unterstützten die kurländische Bürgerunion, die einen scharfen Kampf mit der Adelsklasse um die gleichberechtigte Mitwirkung an den Angelegenheiten von Gesellschaft und Staat führte. An der Academia Petrina gab es eine Gruppe von Professoren, die von ihren Gegnern geradezu als verkappte Jakobiner diffamiert wurden. Zu ihnen gehörte der schon genannte, aus Magdeburg gebürtige Schnapsbrennersohn und Professor für Geschichte, Joachim Christian Friedrich Schulz, der im Jahre 1790 als Nachfolger von Professor Jäger sein Amt antrat, das er bis zu seinem Tode im Jahre 1798 innehatte. Der 1762 geborene Schulz hatte vor Aufnahme seiner Tätigkeit in Mitau bereits ein recht bewegtes Leben hinter sich. Als Pariser Augenzeuge der Revolution von 1789 verfaßte er sofort eine „Geschichte der großen Revolution in Frankreich" 55 ), die noch im selben Jahr im Druck erschien. In ihr gab er eine eingehende Würdigung des großen Ereignisses. In Mitau stellte sich Professor Schulz sofort auf die Seite der kurländischen Bürgerunion, die die Ideen der Französischen Revolution propagierte, und agitierte in Wort und Schrift gegen die Ritterschaft, die seine Entfernung von der Akademie forderte, was jedoch nicht gelang. Das Wirken dieses Mannes, von dem wir neben zahlreichen Romanen und anderen Schriften auch eine mehrbändige gehaltvolle Beschreibung seiner ausgedehnten Reisen besitzen, ist von der Forschung bislang kaum behandelt worden 56 ). Ähnliche Ansichten wie der Historiker Professor Schulz vertraten der Jurist Professor Beseke und der Philosoph Professor Starck, die bereits in den 55 ) Ich benutze im Augenblick die Ausgabe F. Schuld: Geschichte der großen Revolution in Frankreich. 2. Aufl., Berlin 1790 (Exemplar der Universitäts- und Landesbibliothek Halle, Signatur No. 2975*). 56 ) Auch auf Friedrich Schulz gehe ich demnächst näher ein. Gegenwärtig wird auch eine Diplomarbeit vorbereitet.
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siebziger Jahren einem Mann wie Karl Friedrich Bahrdt zu einer Professur in Mitau verhelfen wollten, was jedoch scheiterte57). Auf die Frage nach der politischen Stellung der Academia Petrina in den sozialen Kämpfen und Auseinandersetzungen am Ausgang der Herzogszeit gehe ich näher in meinem demnächst erscheinenden Buch „Kurland im Ideenbereich der Französischen Revolution" ein. Die von ihrer Größenordnung und studentischen Frequenz her bescheidene Academia Petrina zu Mitau spielte im geistigen und gesellschaftspolitischen Leben Kurlands eine hervorragende Rolle. Große Bedeutung kam hierbei der Ausstattung des akademischen Gymnasiums mit wissenschaftlichen Arbeitsmitteln zu. Zu ihnen zählte an erster Stelle die akademische Bibliothek. Ihre Anfänge reichen in das Jahr 1773 zurück. Zu diesem Zeitpunkt erwarb die verwitwete Herzoginmutter Benigna Gottlieb die wertvolle Büchersammlung des Hofrats Christoph Anton Tottien in Mitau und schenkte sie ihrem Sohn Herzog Peter. Durch diesen Bücherankauf wurde der Grundstock zur Gymnasialbibliothek gelegt. Dem Fürsten selbst gelang es durch größere Bücherankäufe den in Mitau befindlichen Fundus um ein Beträchtliches zu vermehren. Nach der Einrichtung des Bibliotheksaals konnte die Bibliothek am 15. Oktober 1776 vom Herzog feierlich eröffnet werden. Die akademische Bibliothek zählte zu diesem Zeitpunkt bereits an die 15000 Bände. Sie war von Anfang an als öffentliche Bibliothek gedacht, die nicht nur den Lehrkräften und Studierenden des Gymnasiums, sondern auch allen anderen Bürgern Mitaus offenstand. Bernoulli hat bei seinem Besuch der Akademie im Jahre 1778 auch die Bibliothek und die anderen wissenschaftlichen Einrichtungen besichtigt. Von der Bibliothek sagt er, daß sie bereits mit zahlreichen Büchern ausgestattet war: „Klassische Autoren und juristische Werke waren bisher die zahlreichsten, und die mehresten kamen aus der Badenhauptischen und der Germershausischen Auktion in Berlin. In der Mathematik und der Naturgeschichte war der Vorrat noch gering." 58 ) Der erste Bibliothekar scheint der Professor der Theologie Johann Gabriel Schwemschuch gewesen zu sein. Von ihm wurden zusätzlich Bücher aus der „Tilingschen Auktion" erworben. Schwemschuch überließ auch seine eigene Bibliothek dem Gymnasium. Um die Verwaltung der Bibliothek haben sich offenbar nach Schwemschuch auch die Professoren Beitier, Kütner und Schwenkner gekümmert. In engem Zusammenhang mit der akademischen Bibliothek zu Mitau standen auch andere Kultureinrichtungen, so die beiden Bibliotheken, die Buchhandlungen und die Verlage von Jacob Friedrich Hinz, Francois Theo57 ) Vgl. die bereits in Anm. 3 angeführte anonyme Abhandlung: C. F. Bahrdts Beziehungen zu Kurland. 58) Bernoulli, Reisen, S. 241—242.
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dore Lagarde und Johann Daniel Friedrich 59 ), die Astronomisch-Physikalische Sammlung und das Naturhistorische Kabinett. Auch die meisten dieser Sehenswürdigkeiten hatte Bernoulli bei seiner Führung durch Mitau in Augenschein genommen. Professor Ferber, der ihn geleitete, führte den Berliner Besucher „zu dem Buchhändler Herrn Hinz, der mir viel Sehenswertes zeigen konnte, indem seine Wohnung mit den Zimmern und dem Büchersaale der Freimaurergesellschaft verbunden ist. In jenen sah ich verschiedene gemalte Potraite von Gelehrten, unter anderen der Karschin, ingleichen viele von Bause gestochene Bildnisse. In dem kleinen Vorsaal zu der Bibliothek ist eine schon ziemliche Anlage zu einem Naturalienkabinett vorhanden, aus welchem ich aber nur ein in der Waldau gefundenes Stück gediegenes Gold anführen kann. Der Büchersaal ist sehr niedrig ausgeziert, und die Bücher stehen in Nischen, wie in der Paulinerbibliothek zu Leipzig. Man sagte mir von etwa 16000 Bänden, die hier befindlich sein; die ersten 1500 wurden von einem Major Fink von Finkenstein geschenkt, dessen marmornes, schön gearbeitetes Brustbild am Ende des Saales aufgestellt worden ist. Dieses ist von Peterson, einem sehr guten Künstler von Braunschweig, verfertigt, der daselbst Hofbildhauer gewesen und bei Herrn Hinz gestorben ist. Auch sehr schöne Gipsabgüsse sah ich hier, die ein ehemals bei der Akademie der Künste zu Petersburg gestandener Bildhauer namens Poussin verfertigt hat." Bernoulli weist dann auf einige Einzelwerke hin, um fortzufahren: „Es sind überhaupt aus allen Wissensgebieten schöne Werke in dieser Sammlung, welche der hier sehr blühenden Gesellschaft der Freimaurer zum besonderen Ruhme gereichet. Man zeigte mir auch eine große Erdkugel, die ein Kurländer aus eigenem Genie verfertigt hat, wie auch eine große Karte von Kurland, die ein kurländischer Priester aufgenommen und nach welcher Herr Hinz vor wenigen Jahren eine saubere und genaue kleine Karte durch Schleuen in Berlin hat stechen lassen." 60 ) Auch bei Professor Beitier traf Bernoulli eine „schöne mathematische Bibliothek" 61 ) an. Jedoch nicht nur die Akademie, der Herzog, die Buchhändler Hinz, Lagarde und Friedrich sowie die Akademieprofessoren verfügten über wertvolle Büchersammlungen, sondern auch der Hofrat Sigismund Georg Schwander und sein Freund, der Hofgerichtsadvokat Tetsch, nannten zahlreiche Bücher ihr eigen. Auch davon hat Bernoulli einiges zu Gesicht bekommen. 5e ) Wichtig die neuesten Studien von Heinz Ischreyt. Vgl. in unserem Zusammenhang besonders H. Ischreyt: Zwischen Paris und Mitau. Die Geschichte der Verlagsbuchhandlung Lagarde und Friedrich. In: Deutsche Studien 10. 1972. 39. S. 319—336; ders.: Studien zum kurländischen Buch- und Verlagswesen in der zweiten Hälfte des 18. Jh. In: Baltic History. Ohio 1974. S. 105—111; ders.: Jakob Friedrich Hinz, ein vergessener Buchhändler und Verlegerin Mitau. In: Nordost-Archiv, 1972. 22, 23. S. 3—14; ders.: Mitau und die Berliner Aufklärung. In: Jahrbuch des baltischen Deutschtums 22. 1975. S. 65—75. e°) Bernoulli, Reisen, S. 242—244. ei) Ebenda, S. 245.
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Höchstes Interesse bezeugte der Berliner Akademiker auch der herzoglichen Bildersammlung in Schwethof. Von den Künstlern lernte er den am Gymnasium als Zeichenlehrer tätigen, bereits genannten Kupferstecher Samuel Gottlob Kütner kennen, der ein Schüler des berühmten Bause in Leipzig war. Kütner war, wie Bernoulli mitteilte, zu diesem Zeitpunkt „vermutlich mit dem Bildnis des großen Euler beschäftigt . . .; denn er hat es in Petersburg von einem geschickten Maler, um es zu stechen, nach Herrn Euler selbst, den ich davon habe sitzen sehen, malen lassen". 62 ) Die Academia Petrina mitsamt ihren wissenschaftlichen und kulturellen Einrichtungen stellte zweifelsohne den Mittelpunkt des geistigen Lebens Mitaus dar. Bedeutungsvoll in diesem Zusammenhang wurde das Wirken der Freimaurerloge „Zu den drei gekrönten Schwertern", der nicht nur die Akademieprofessoren, sondern auch die meisten Hofbeamten, unter ihnen Herr v. Raison, die Advokaten und zahlreiche Adlige angehörten. Der Herzog selbst war nicht Mitglied. Die Zusammenkünfte der Freimaurer fanden sowohl öffentlich als auch in geheimen Logensitzungen statt. Ihre Mitglieder gehörten verschiedenen Klassen und Volksschichten an. Nach der Schließung der Mitauer Freimaurerloge im Jahre 1796 durch Kaiserin Katharina II. wurde deren große und wertvolle Büchersammlung der Bibliothek des akademischen Gymnasiums einverleibt, wodurch diese eine beträchtliche Erweiterung erfuhr. Neben der Bibliothek erfreute sich die Academia Petrina von den ersten Jahren ihres Bestehens an auch zahlreicher wissenschaftlicher Sammlungen, die zumeist aus astronomischen und physikalischen Geräten bestanden. Darauf ist bereits hingewiesen worden. Auch dafür hatte Bernoulli bei seinem Besuch im Jahre 1778 besonderes Interesse gezeigt. Die meisten Stücke davon waren schon 1773 angeschafft worden. Sie stammten aus England, so Pendeluhren, Fernrohre, Weltkugeln, Wasserwaagen, Teleskope u.a.m. Das meiste davon war in der Wohnung von Professor Beitier aufgestellt. 1778 folgte eine bedeutende Anzahl neuester mathematischer und physikalischer Instrumente. Sie kamen ebenfalls aus England und wurden dem Gymnasium von Herzog Peter Biron geschenkt. Die ausländischen Besucher des Gymnasiums waren vom Reichtum der dortigen astronomischen, mathematischen und physikalischen Sammlungen angetan. So schrieb der preußische Kammerherr Graf Lehndorff, der am 10. August 1780 eine Besichtigung vornahm, daß die Academia Petrina „ganz vorzügliche astronomische und mathematische Instrumente" 63 ) besitze. Zwei Jahre später führte Professor Beitier unter Assistenz eines seiner Zöglinge, des uns bekannten Mechanikus und ehemaligen Leibeigenen Ernst Johann Bienemann, im neuerbauten Observato62 )
Ebenda. Ε. Α. H. Reichsgraf 1921. S. 149. 63)
Lehndorff:
Tagebücher. Hg. von Κ. E. Schmidt. Bd. 1. Gotha
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rium in Anwesenheit des Herzogs neuartige Experimente mit Luftpumpen vor, die das Erstaunen der Anwesenden hervorriefen. Das als Academia Petrina im Jahre 1775 zu Mitau gegründete Gymnasium stellt die erste wissenschaftliche Lehr- und Bildungsanstalt mit Hochschulcharakter auf dem Territorium Lettlands dar. Die Zeitgenossen des 18. Jahrhunderts haben das Wirken der hohen Schule zu Mitau mit großem Lob bedacht. Freilich fehlten auch kritische Stimmen nicht. Die Einwände richteten sich vornehmlich gegen den Charakter der Academia Petrina als Mittelding zwischen Universität und Gymnasium. Die Kritiker wünschten sich für Kurland eine wohlausgestattete Schule, wo den Zöglingen eine gründliche Ausbildung zuteil werden sollte. Eine eigene Landesuniversität hielten sie offensichtlich für weniger erforderlich. In diesem Sinne argumentiert der aus Bayreuth gebürtige, in Livland zum Hofmeister avancierte, zuletzt als Lehrer an der Oberpfarrschule zu St. Martin in Danzig tätige Karl Feyerabend in seinen in den Jahren 1795 bis 1798 unternommenen „Kosmopolitischen Wanderungen". Dort heißt es: „Diese Anstalt (die Academia Petrina — E. D.) könnte für Kurland einen weit größeren Nutzen haben, wenn sie einen besseren und zweckmäßigeren Zuschnitt erhielte. Aber leider herrscht auch hier noch derselbe Fehler, den man gemeinhin bei allen Anstalten der Art antrifft, daß man daselbst Wissenschaften lehrt, die erst für die Universität bestimmt sind, dagegen aber die eigentlichen Schulkenntnisse vernachlässigt. Da es nun in ganz Kurland, und so auch in Mitau, an zweckmäßigen Schulanstalten mangelt, so wäre es sehr vorteilhaft, wenn die Jünglinge hier für die höheren Wissenschaften gebildet und empfänglich gemacht würden. So aber vernachlässigt man das Schulstudium, lehrt die Jünglinge fliegen, ehe sie Federn dazu haben, und bildet gewöhnlich nur Menschen, die zwar oberflächliche Kenntnisse besitzen, in keiner Wissenschaft aber einen gehörigen Grund gelegt haben." 64 ) Dasselbe hatte schon der eingangs zitierte Konsulent und spätere Oberappellationsrat zu München, Johann Heinrich Liebeskind, in seinen „Rückerinnerungen von einer Reise", die bereits 1795 erschienen waren, bemerkt: „Vor allen Dingen aber müßte sie (die Mitauer Akademie — E. D.) ihren akademischen Zuschnitt verlieren und mehr die Einrichtung eines Gymnasiums bekommen, weil es gänzlich an einer Schule in Mitau fehlt, auf welcher die Jünglinge gehörig zum akademischen Unterricht vorbereitet werden könnten." 65 ) An der Kritik Feyerabends und Liebeskinds war sicherlich vieles berechtigt, vor allem was die Nöte des Volks- und Grundschulwesens in Kurland anging. Nichtdestoweniger stellte die Mitauer Akademie im 18. Jahrhundert das wich64) K. Feyerabend: Kosmopolitische Wanderungen durch Preußen, Kurland, Liefland, Litauen, Wolhynien, Podolien, Galizien und Schlesien in den Jahren 1795 bis 1798. Bd. 3. Germanien 1801. S. 251. 65) Liebeskind, Rückerinnerungen von einer Reise, S. 361.
Wissenschaftslehre und Bildung am Gymnasium Academicum zu Mitau
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tigste Bildungszentrum für das Baltikum dar. Nach der Eingliederung des Herzogtums Kurland in das Russische Kaiserreich wurde die Akademie zu Mitau im Jahre 1800 für kurze Zeit in den Rang einer Universität erhoben. Jedoch bereits 1806 übernahm anstelle der Mitauer Akademie die 1802 neugegründete Universität Dorpat die Funktion der Universität in den Ostseeprovinzen des Russischen Reiches. Das Gymnasium Academicum zu Mitau wurde in Gymnasium illustre umbenannt und verlor seine akademischen Privilegien. Die nach 1806 als Mitauer Gymnasium weiterwirkende Anstalt vermochte in Verbindung mit der 1815 eingerichteten Kurländischen Gesellschaft für Literatur und Kunst während des gesamten 19. Jahrhunderts und Anfang des 20. Jahrhunderts jedoch eine bedeutungsvolle Lehr- und Bildungsarbeit zu entfalten, die in engem Zusammenwirken mit der Kaiserlichen Russischen Akademie der Wissenschaften zu St. Petersburg vor sich ging. Aus dem Kreise der Mitauer Gymnasiasten gingen nachmals berühmt gewordene Gelehrte hervor, die an der Petersburger Akademie und an anderen Akademien und Universitäten des In- und Auslands wirkten.
Α. Ε. COHEN DAS UNIVERSITÄTSWESEN IN D E N U M 1780 B I S 1880
NIEDERLANDEN
Die Republik der Vereinigten Niederlande war im neuzeitlichen Europa eine Sonderbildung; sie war kein Stadtstaat wie Venedig, Genua und das von den Türken „geschützte" Ragusa; auch wahrte sie nicht ein striktes Gleichgewicht zwischen den Religionen wie die ebenfalls föderativ konstituierte schweizerische Eidgenossenschaft. Die Republik war entstanden aus einem Aufstand in den siebzehn Herzogtümern und Grafschaften im Nordwesten des deutschen Reiches, die anfänglich die Burgunderdynastie, später die Habsburger Kaiser Karl V. und den spanischen König Philipp II. als gemeinsame Landesherren hatten. Diese Fürsten erstrebten einen Zusammenschluß zu einer modern regierten politischen Einheit mit einem einheitlichen Besteuerungssystem; zudem bekämpften sie den sich allmählich ausbreitenden Protestantismus. Nach Jahren anschwellender Gärung, insbesondere unter dem niederen Adel und den fanatischen Kalvinisten, entflammte ein Aufstand, der von einem spanischen Heer nur zum Teil niedergeschlagen werden konnte. Der südliche Teil der Provinzen blieb katholisch und wurde weiter von spanischen Statthaltern regiert; im 18. Jahrhundert kam er unter österreichische Herrschaft, wurde aber schnell dem revolutionär gewordenen Frankreich einverleibt. Manche Protestanten aus den südlichen Provinzen hatten sich in die unabhängig werdenden nördlichen Provinzen begeben; dort bildete sich die als typisch bürgerlich betrachtete Republik der Vereinigten Niederlande. Sie bestand aus ungleichen Teilen. Weitaus den größten Einfluß hatten die drei Seeprovinzen, insbesondere Holland mit den großen Handels- und Industriestädten Amsterdam und Leiden; von hier aus wurden die Meere besegelt und eroberte man in Ost- und Westindien Gebiete, die Kolonialprodukte lieferten. Weniger mächtig waren die vier Landprovinzen; in ihnen hatte der Adel, der die Offiziere des Heeres lieferte, Einfluß, während in Holland, Zeeland und zum Teil auch in Friesland die Macht bei der städtischen Bürgeraristokratie lag. Katholiken gab es noch ziemlich viele; sie waren von den öffentlichen Ämtern ausgeschlossen und waren vielfach im Kleinhandel und Gewerbe tätig.
Das Universitätswesen in den Niederlanden
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Die sieben Provinzen waren selbständige Länder mit einer gemeinsamen Außen- und Verteidigungspolitik, die vom reichen Holland entscheidend beeinflußt wurde. In der Verwaltung spielte die Oranierdynastie eine wichtige Rolle, weil die Funktion der Statthalter der ehemaligen Landesherren weiterhin bestehen blieb; politisch war manchmal eine aus Landadel und kalvinistischen Pfarrern zusammengesetzte Oranierpartei tätig, die die tolerante Bürgeraristokratie bekämpfte. Einen dritten Bestandteil der Republik bildeten im Süden des Landes die sogenannten Generalitätsländer, die im 17. Jahrhundert erobert worden waren; begreiflicherweise fand man dort unter der alteingesessenen Bevölkerung, obwohl sie nicht hart regiert wurde, keine Liebe für die Holländer. In den letzten Jahrhunderten des Mittelalters hatten die Niederländer ihre höheren Studien an verschiedenen europäischen Universitäten absolviert, wie Paris, Orleans und Köln, besonders aber seit der 1425 erfolgten Gründung einer Universität im brabantischen Löwen. Desiderius Erasmus von Rotterdam ist ein repräsentatives Beispiel. Das Gelingen des Aufstandes im strategisch geschützten Gebiet nördlich der Flüsse Rhein, Maas und Scheide isolierte die Bevölkerung in geographischer Hinsicht; dazu kam das Bedürfnis nach Ausbildung protestantischer Geistlicher. Es war der Führer des Aufstandes, Wilhelm von Oranien, der den richtigen Augenblick und den guten Sitz für eine eigene Universität für den noch ungefestigten Staat ins Auge faßte. Es war die Stadt Leiden in Holland, die gerade eine schwere Belagerung überstanden hatte. Am 8. Februar 1575, nur vier Monate nach Abzug des spanischen Heeres, wurde die Universität als erste in den nördlichen Niederlanden eröffnet; ihr Wahlspruch wurde „Libertatis praesidium", Stütze der Freiheit. Nach der Festigung des Föderativstaates folgten mehrere Universitäten. Der höhere Unterricht war ein Monopol der selbständigen Provinzen, und so entstanden Universitäten in den Städten Franeker (1585), Groningen (1614), Utrecht (1636) und Harderwijk (1647), während es in den Provinzen Zeeland, das eng an Holland angeschlossen war, und Overijssel, wo gerade in Deventer eine angesehene höhere Schule bestand, keine gab. Weil Leiden die ganze Provinz Holland versorgte, war es dem großen Amsterdam nicht gestattet, eine eigene Universität einzurichten; die Stadtregierung errichtete aber ein „Atheneum" für propädeutische Studien, an das man ausgezeichnete Wissenschafter berufen konnte. Außerdem gab es zeitweilig in Breda und Maastricht in den Generalitätsländern höhere Anstalten, die besonders für die Ausbildung protestantischer Pfarrer in katholischer Umgebung tätig waren. Über die Machtstruktur in der Universitätsverwaltung entschied derjenige, der in den autonomen Provinzen die Macht hatte. Die Kirche und die Oranier hatten weder Einfluß auf die Universitätsverwaltung noch auf die Ernennung der Professoren. Die Macht der im Senat vereinten Professoren, von denen
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Α . Ε . COHEN
besonders am Anfang mancher von Geburt Ausländer war, blieb beschränkt auf Angelegenheiten, die Wissenschaft und Unterricht betrafen; auch hatte jeder individuelle Professor viel Freiheit bei der Regelung seines Unterrichts 1 ). Die Fakultäten waren klein; es gab nur einen beschränkten Verwaltungsapparat. Die wirkliche Macht der autonomen Universitäten befand sich in den Händen der von den provinziellen und städtischen Obrigkeiten delegierten Kuratorien, zusammengesetzt aus meist freisinnig denkenden Patriziern, wie es auch die Mitglieder dieser Regierungen waren. Sie konnten, nachdem sie die Stellungnahme des Senats vernommen hatten, selbständig oder zusammen mit den Bürgermeistern der Stadt ihre Entscheidungen treffen2). Als im 17. und 18. Jahrhundert die lateinische Sprache im Unterricht noch vorherrschend war, waren insbesondere Leiden und Utrecht beliebte Universitäten für Ausländer 3 ), auch aus Ost- und Südosteuropa, vor allem für Protestanten aus Ungarn. Boerhaaves fähigster Schüler, der katholische van Swieten, wurde der Hofarzt der Kaiserin Maria Theresia. Die Niederlande verloren aber sowohl ihre politische wie ihre wissenschaftliche prominente Rolle und fielen in beider Hinsicht auf eine Kleinmacht zurück. Der Aufstand der Niederlande war sozusagen eine konservative Revolution gewesen: die innere Kräftigung des Staates, die sich vor allem in Frankreich und später in den anderen europäischen Monarchien vollzog, hat hier gefehlt. Kriege wurden nicht mehr gewonnen, die Kolonialgewinne wurden geringer. Wie in Frankreich vor der großen Revolution entstand in der Republik der Vereinigten Niederlande eine demokratische Erneuerungsbewegung, die aber anfänglich mit preußischer Hilfe niedergeworfen wurde. Als dann im Jahre 1795 ein französisches Revolutionsheer die geflüchteten niederländischen Patrioten, wie sie sich nannten, zurückbrachte, wurden diese in ihrer straff zentralisierten batavischen Republik bald die Gefangenen der französischen Diplomaten mit Amtssitz in Den Haag. Zwischen 1795 und 1810 folgten einander drei verschiedene Arten der von Paris dominierten Republik sowie das Königreich Holland unter Napoleons Bruder Louis; dann wurde dieses dem Empire einverleibt. Die niederländische Öffentlichkeit wurde weniger von diesen politischen Umwälzungen beeinflußt als von der wirtschaftlichen Depression und Armut infolge des ständigen Kriegszustandes zwischen Napoleon und England. Die Universitäten verfielen weiter, blieben aber, von vorübergehenden personellen Säuberungen abgesehen, in ihrer alten Lage. Versuche, innere Erneuerungen durchΕ. M. Meyers: De universiteit als zelfstandig lichaam (Die Universität als selbständige Körperschaft). In: Pallas Leidensis MCMXXV. Leiden 1925. S. 47—50. 2) Ebenda, S. 41—47. 3) J. Huizinga: Verzamelde werken (Gesammelte Werke). Bd. 2. Haarlem 1948. S. 297, 312.
Das Universitätswesen in den Niederlanden
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zuführen, hatten keinen Erfolg. Erst die relativ späte Einverleibung des Königreichs Holland in das französische Kaiserreich im Jahre 1810 führte innerhalb von zwei Jahren zu einer einschneidenden institutionellen Umgestaltung. Zwei Delegierte der „Universite imperiale", darunter der bekannte Zoologe Cuvier, inventarisierten die Institutionen und die Qualität des ganzen niederländischen Unterrichtswesens und empfahlen eine Neuordnung, wie sie in Frankreich bestand; diese kam im kaiserlichen Dekret vom 22. Oktober 18114) zustande. Aus patriotischen und traditionellen Gründen folgten die meisten Professoren nur unwillig, obwohl gerade Leiden und Groningen zugestanden wurde, als „academies de l'universite imperiale" weiter zu existieren, und die Kuratorien durch einen „conseil academique" ersetzt wurden, der mit dem Rektor aus zehn Professoren bestand, wobei jede der fünf Fakultäten vertreten war. Diese Fakultäten wurden autonom, der Senat verschwand 5 ). Vieles blieb aber noch in der Schwebe; insbesondere kam die Herabsetzung der Utrechter Universität zu einer „ecole secondaire" nicht zustande, bevor Napoleons Niederlage bei Leipzig die Lage in den Niederlanden zu ändern anfing. Im November 1813 wurden die französisch gehaltenen Vorlesungen durch lateinisch gelesene ersetzt; am Ende dieses Monats landete der Sohn des letzten Statthalters, aus England kommend, in Scheveningen und übernahm vorläufig die ihm angebotene Regierung. Während mehr als zwanzig Jahren ist dieser Wilhelm von Oranien in den Niederlanden das wirkliche Staatsoberhaupt gewesen. Als 22 jähriger flüchtete er mit seinen Eltern nach England, aber die Hoffnung auf bessere Zeiten konnte den ehrgeizigen und tüchtigen jungen Mann nicht befriedigen; in einem durch den Reichsdeputationshauptschluß umgeordneten Deutschland verwaltete er mit Napoleons Zustimmung zeitweilig als Protestant das neu geschaffene, von einer katholischen Bevölkerung bewohnte Fürstentum Fulda. Als Sohn und Gatte preußischer Prinzessinen folgte er der preußischen Politik in anfangs schlechten, später besseren Jahren. Mehr Verwalter als Staatsmann ließ er sich von Napoleon, Stein und Hardenberg inspirieren; ein solcher Mann war er, als die Niederländer ihm die Souveränität übertrugen. Das stark verarmte Volk sehnte sich nach Einheit unter gediegenem Schutz; alte religiöse und politische Gegensätze schienen auf immer ihren Sinn und ihre Kraft verloren zu haben. Die wenigen freisinnigen Stimmen wurden überhört. Die Verwaltung im neuen Einheitsstaat wurde als zielbewußte, amtlich sorgfältig vorbereitete Gesetzgebung in modernem Sinne gestaltet, die aber in ihren Formen möglichst viel Anlehnung an die alte republikanische Periode suchte. König wurde der souveräne Fürst unter dem Namen Wilhelm I., als ihm die Groß4 ) Bronnen tot de geschiedenis der Leidsche universiteit (Quellen zur Geschichte der Universität Leiden). Hg. P. C. Molhuysen. Bd. 7. 's-Gravenhage 1924. S. 97*. 5) HmZinga, Bd. 8. Haarlem 1951. S. 44.
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mächte bei Abschluß des hier in Wien abgehaltenen Kongresses die Vereinigung der nördlichen mit den von Frankreich abgetrennten, ehemals spanischen und österreichischen Niederlanden zugesagt hatten. Unter der Verfassung des vergrößerten Einheitsstaates war der Einfluß des Parlaments, mit dem alten Namen der Generalstaaten versehen, nur gering. Es war Juni 1815, als das Königreich der Niederlande zustande kam. In diesem Augenblick gab es noch keine Regelung für den universitären Unterricht. Schon im Januar 1814 hatte sich eine aus Nordniederländern bestehende Kommission an die vorbereitende Arbeit gemacht und Ende Mai hatte sie Bericht erstattet6). Dennoch blieb die notwendige Anordnung aus, weil der Fürst die von ihm ersehnte Vereinigung der getrennten Niederlande abwarten wollte, damit er für sein ganzes Volk eine einheitliche Regelung zustande bringen konnte. An den Universitäten im Norden behielt man vorläufig die durch das napoleonische Gesetz geschaffene Lage bei, allerdings ohne typisch französische Einrichtungen; die offiziell abgeschaffte Utrechter Universität wurde wieder belebt. Als aber endlich im Juni 1815 die Wiedervereinigung realisiert wurde, war es klar, daß es schwer sein würde, Einrichtungen, die zum Teil auf der Tradition im vorwiegend bürgerlichen Norden fußten, im großenteils bäuerlich gebliebenen Süden einzuführen, da sich dort eine völlig unterschiedliche Lage entwickelt hatte. Dort war die alte Universität Löwen schon im Jahre 1797 aufgehoben worden, und man hatte sich stark an Paris orientiert. Der Zustand im Süden, insbesondere die Haltung der Bischöfe der katholischen Kirche, bereitete dem König Sorgen; die jakobinische, republikanisch gesinnte Schicht im Süden war auch stärker geblieben als im Norden. Im Jahre 1816 entschloß sich der König, den Süden wie den Norden mit drei Universitäten zu versehen: Löwen kam, und zwar als Staatsuniversität, zurück, Gent und Lüttich wurden neu errichtet7). Das im Jahre 1814 für die nördlichen Niederlande ausgearbeitete Universitätsstatut wurde auch für die südlichen Provinzen angewandt. Dieses Statut für die Universitäten, das als Datum den 2. August 1815 trägt 8 ), war, wie zu erwarten, sowohl materiell vom neuen Verwaltungsgeist wie formell von der nordniederländischen Tradition beeinflußt 9 ). Von den alten Universitäten blieben drei, aber von jetzt ab als Staatsuniversitäten erhalten; es waren Leiden, Utrecht und Groningen. Sie besaßen keine Autonomie. Franeker und Harderwijk fristeten noch als staatliche „Athenea" ein kurzfristiges Dasein. Amsterdam und Deventer wurden städtische „Athenea", bis bei der Neuregelung im Jahre 1876 Amsterdam eine städtische Universität und 6) Ebenda, S. 49—56. De universiteit Leuven (Die Universität Löwen) 1425—1975. Leuven 1975. S. 184 bis 185. 8) Staatsblad (Gesetzblatt) van 1815. 's-Gtavenhage 1815. S. 95—102. 9) Hui^inga, Bd. 2. S. 535. 7)
Das Universitätswesen in den Niederlanden
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Deventer aufgehoben wurde. Die Professoren wurden Landesbeamte. Im Rat des Königs wurde darüber gestritten, ob es richtig wäre, aus den zwei verbliebenen napoleonischen Einrichtungen drei Staatsuniversitäten zu machen; wäre das nicht allzu teuer? Eine einzige Universität hätte im neuen Staat im Norden genügt. Der König kam aber den traditionsbewußten Niederländern in diesem noch in Provinzen aufgeteilten Einheitsstaat entgegen 10 ): er traf auch seine Entscheidung, weil eine verhältnismäßig große Zahl von fünfzehnhundert Studenten in nur einer Universitätsstadt allzu gefährlich werden könnte u ) . Man betrachtet heutzutage die Periode von 1815 bis zum Jahre 1848, als die Niederlande ihre liberale Verfassung erhielten, als eine Zeit des Niedergangs und der intellektuellen Armut, in der die allgegenwärtige königliche Macht die aktivste Komponente war. Jedenfalls haben die Universitäten, an denen Latein wieder Unterrichtsprache wurde, mit der allgemeinen Entwicklung der Wissenschaften, insbesondere die der Natur und der Technik 12 ), nicht gleichen Schritt halten können. Die Professoren hatten weniger Freiheit als unter der Republik, sie wurden ziemlich schlecht bezahlt; der Eifer der Studenten wurde vom altmodischen Unterricht, insbesondere in der Propädeutik, wenig erweckt. Eine Autonomie wie während der Republik gab es für die Universitäten nicht mehr. Das Innenministerium im Regierungssitz Den Haag wurde für alle drei zuständig. Zwar wurden Kuratorien neu instituiert, aber diese waren den alten nur dem Namen nach gleich 13 ). Sie fungierten künftig als ein selbständiges Bindeglied zwischen dem Ministerium und dem Senat sowie den einzelnen Professoren. Sie hatten zwar die Aufgabe, die Befehle und Wünsche des Königs durchzuführen, aber weil sie aus der regionalen und städtischen Aristokratie stammten, fühlten sie sich dem Oranierkönig, dem Statthaltersohn, nicht allzu unterlegen und wurden, mehr auf Grund eigener Auffassungen und Eindrücke denn als Anwälte der Professoren, eifrige Förderer der Wissenschaft an ihrer eigenen Universität im Wettbewerb mit den zwei übrigen. Wenn auch nicht in allen Dingen jeder mit jedem und allem zufrieden war, so gab es dennoch sogar im Revolutions jähr 1848 weder unter den Professoren noch unter den Studenten eine revolutionäre Stimmung, geschweige denn kam es zu gewaltsamen Umwälzungen. Nach jenem Jahr wurde manches in den Niederlanden erneuert, auch in der Wissenschaft und an den Universitäten, obwohl es noch bis 1876 gedauert hat, 10) Η. T. Colenbrander: Willem I koning der Nederlanden (Wilhelm I. König der Niederlande). Bd. 1. Amsterdam 1931. S. 244. n ) Gedenkschriften van (Denkwürdigkeiten von) A. R. Falck. Hg. Η. T. Colenbrander. 's-Gravenhage 1913. S. 221. 12) Huizinga, Bd. 2. S. 319. 13) Huizinga, Bd. 8. S. 318.
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bevor ein neues Gesetz zustande kam. Der große und weitsichtige Erneuerer des niederländischen Staatslebens und Förderer des mittleren Unterrichts, Thorbecke, war, ehe er dreimal an die Spitze einer freisinnigen Regierung trat, Professor an der Universität Leiden. Am 2. Juni 1978 wurde er anläßlich der Hundertjahrfeier der zu seinem Gedächtnis gegründeten Stiftung im großen Hörsaal der Universität Leiden neu geehrt. Zum Schluß noch dieses: eine Autonomie des universitären Lehrkörpers, des „corpus docentium", oder eine selbständige und unabhängige „universitas magistrorum et scholarium" hat in den Niederlanden niemals bestanden; ersehnt wurde sie vor allem in unserem Jahrhundert. Auch die sogenannte demokratisierte Universität verfügt über keine Autonomie. Vor einigen Jahren hörte ich unseren damaligen Staatssekretär für Wissenschaftsangelegenheiten sagen: „Autonomie habt ihr, soweit ihr selber das Geld dafür habt." Eigenes Vermögen besitzen die niederländischen Universitäten seit der Zeit der alten Republik nicht mehr; sie sind dem Steuerzahler Untertan. In den Niederlanden hatte man sich schon im 16. Jahrhundert die Freiheit erobert; erst im 19. und 20. bekam man den starken Staat.
ANTONIE Μ. LUYENDIJK-ELSHOUT D I E U N I V E R S I T Ä T L E I D E N , 1850—1875: WISSENSCHAFT, PROFESSOREN, GEBÄUDE
Die Universität Leiden machte zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine Epoche großer Sehnsucht nach ihrer ruhmreichen Vergangenheit durch. Namen wie Hermann Boerhaave, Institute wie die Schule der Experimentalphysik und die gefeierten anatomischen und zoologischen Sammlungen verliehen der Universität einen ehreinflößenden Glorienschein, der die Auszehrung des Lehrangebotes und die allgemeine Verarmung der Universität verschleierte. Als im Jahre 1815 König Wilhelm I. von Oranien der erste konstitutionelle Regent der Niederlande wurde, sah sich die Universität Leiden einer starken Persönlichkeit gegenüber, die der Überzeugung war, daß die Wissenschaft zur Vorantreibung des Wohlstandes der 1813 vereinigten Völker der Niederlande und Belgiens eingesetzt werden sollte. Dem König lag in erster Linie daran, Handel und Industrie zu fördern; er erwarb sich auf diese Weise den Beinamen „King-Merchant". Nach seiner Meinung mußte die Wissenschaft zum unmittelbaren Nutzen des Landes verwendbar sein: Mathematik für den Wasserbau (ζ. B. zur Errichtung von Deichen), Astronomie für die Handelsmarine, angewandte Chemie für die Landwirtschaft. Angehende Geistliche mußten landwirtschaftliche Kenntnisse besitzen, um als Berater in ländlichen Gebieten fungieren zu können. Die Mitglieder des Universitätskuratoriums blieben dagegen völlig dem klassischen Konzept der Universität als Mittelpunkt höherer Studien mit besonderer Berücksichtigung der Kultur des Altertums verhaftet. Daher genossen die Philologen die größte Hochachtung und die höchsten Gehälter 1 )! Die Kuratoriumsmitglieder profitierten von dieser Geisteshaltung, als im Jahre 1815 große Teile der Sammlungen des Statthalters Wilhelm V., die von den Franzosen konfisziert worden waren, den Niederlanden zurückgegeben wurden. Diese wurden nämlich der Universität geschenkt, was im Jahre 1818 zur Gründung des Museums des Altertums führte, dessen erster Direktor C. J. C. Reuvens (1793—1833) war. J. J. Wolter: D e Leidse Universiteit in verleden en heden (Die Leidener Universität in Vergangenheit und Gegenwart). Leiden 1965. S. 56.
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Im Jahre 1826 wurde Reuvens zum Professor der Archäologie ernannt; in seiner Eröffnungsrede unterstrich er wiederum die Bedeutung der klassischen Fächer für die Erziehung der Studenten: Diese könnten dann dem griechischen und römischen Beispiel folgen, wenn sie Staatsbeamte würden 2 ). Diese Verehrung der klassischen Schule beherrschte die Universität, sehr zum Nachteil der naturwissenschaftlichen und der medizinischen Fakultät. Die eiserne Beibehaltung des Lateinischen als Wissenschaftssprache war einer der Gründe dafür, daß die Universität Leiden nicht zu einem europäischen Zentrum der Gelehrsamkeit in den beiden ersten Jahrzehnten nach 1813 wurde. Sie blieb vielmehr ein Abklatsch einer Tradition, die im 18. Jahrhundert vorherrschte. Man blickte auf die Studenten, die sich dort für einen Beruf, sei es in Theologie, Medizin oder Recht, ausbilden ließen, herab. In den Jahren von 1814 bis 1830 verzeichnete die Universität 2267 eingetragene Studenten, von denen nur 229 aus anderen Ländern stammten. Diese Zahl sollte in den kommenden Jahrzehnten noch weiter abnehmen und erst zu Ende des Jahrhunderts wieder ansteigen3). Daher kann man schwerlich behaupten, daß wechselseitige kulturelle Beziehungen im 19. Jahrhundert von Ausländern ausgingen, die sich studienhalber in Leiden aufhielten, wie es im 17. und 18. Jahrhundert der Fall gewesen war, als zwei Drittel der Studenten Ausländer waren. Für den oben genannten Zeitraum muß man die wechselseitigen Kulturbeziehungen auf einer höheren Ebene suchen, nämlich in den internationalen Kontakten unter Professoren und in der Einflußnahme ausländischer Schulen auf die Wissenschaft der Niederlande. Bis 1850 spielte sich dies alles in einem ziemlich bescheidenen Rahmen ab. Während dieser Zeit hegte und pflegte die Universität Leiden nur ihren reichen Besitz. Neben dem Museum des Altertums erwarb sie im Jahre 1820 ein Museum der Naturgeschichte, das wieder aus Sammlungen, die im späten 18. Jahrhundert dem Statthalter und auch Privatsammlern gehört hatten, bestand. Das Museum der Naturgeschichte besaß eine Geologiesammlung, die zum Kernstück eines eigenen, zur Universität gehörigen Museums wurde. Im Jahre 1837 kam die Japanische Sammlung Philip Franz von Sieboldts (1796 bis 1866) an die Universität. Bereits 1830 hatte Wilhelm I. beschlossen, diese Sammlung für die Universität zu erwerben; die Übergabe wurde jedoch bis 1838 durch die Belgische Revolution verzögert, die den König zwang, ein teures Heer zu unterhalten4).
2) C. J. C. Reuvens: Oratio de Archeologiae cum Artibus recentioribus conjunctione. Leiden 1826. (Niederländische Übersetzung von P. O. van der Chijs. Amsterdam 1827.) 3) Η. T. Colenbrander: De herkomst der Leidse Studenten (Die Herkunft der Leidener Studenten). In: Pallas Leidensis 1925. S. 275—303. 4) A. Klasens: Universiteit, Universitaire Collecties, Musea (Universität, Sammlungen der Universität, Museen). Leiden 1970.
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Nach dem Jahr 1814 setzte ein stetiger Zugang an botanischem und zoologischem Material aus dem Indonesischen Archipel ein; dieser war am Wiener Kongreß den Niederlanden zurückgegeben worden. Einer der ersten Schritte bestand darin, den deutschen Wissenschafter C. G. C. Reinwardt (1773—1854) nach Java zu schicken, der dort Forschungsaufbauarbeit leisten sollte. Reinwardt gelang es, bis zum Jahre 1817 einen botanischen Garten in Buitenzorg (Bogor) zu errichten; er nahm eine große Anzahl vorwiegend aus Deutschland stammender Botaniker mit. Sie alle sammelten Pflanzen, die nach Leiden geschickt wurden 5 ) und den Grundstock des 1830 gegründeten Herbariums bildeten. Sein erster Direktor war C. L. Blume (1796—1862), der im Jahre 1829 von Java zurückgekehrt war. Diese Sammlungen veranlaßten niederländische Botaniker, sich in der tropischen Flora und in der ihres eigenen Landes zu spezialisieren. Sie sind auch daran schuld, daß sich die Schule von Leiden, die im 19. Jahrhundert ihre Blütezeit erreichte, auf systematische Forschung konzentrierte und der Pflanzenphysiologie wenig Augenmerk schenkte. Die verfügbare Zeit und der vorhandene Raum wurden hauptsächlich der Erhaltung der Sammlung gewidmet; es gab keine Einrichtungen für die experimentelle Forschung. Dasselbe galt für die Zoologie. Das Museum der Naturgeschichte besaß Tierskelette, Fossilien und Mineralien, die physiologische Sammlung war aber im Anatomiekabinett an der medizinischen Fakultät untergebracht. Jan van der Hoeven (1801—1868) versuchte vergeblich, dieses Material zum Unterricht und zur Forschung in der vergleichenden Anatomie heranzuziehen; die Regierung vereitelte jedoch jede Absicht, dieses Fach in die wissenschaftliche Arbeit des Museums einzubauen. Sie forcierte dagegen die museale Rolle, was zu ernsten Konflikten zwischen dem Direktor Hermann Schlegel (1809—1884) und dem scharfsinnigen Professor van der Hoeven führte 6 ). So ging es während der ersten 50 Jahre des Wiederaufstieges der Universität Leiden vor allem darum, die Sammlungen in Museen oder Kabinetten unterzubringen, ob es sich nun um Kunst oder „Naturwunder" handelte. Es erhebt sich nun die Frage, wie es um die Wissenschaften stand, die mit Anorganischem zu tun haben: Chemie, Physik und Astronomie. Hier genügen wenige Worte, denn die Einrichtungen für Chemie und Physik waren völlig ungeeignet. Diese Fächer wurden in einem Laboratorium gelehrt, das einmal eine Torfhütte eines mittelalterlichen Krankenhauses war, das viele Jahre zuvor anderen Zwecken gedient hatte. Das Laboratorium wurde hauptsächlich von der Niederländischen Gesellschaft für Wissenschaften finanziert und war für den 5) P. Smit: Uber den Einfluß einiger deutscher Botaniker auf die Entwicklung der niederländischen Botanik im 19. Jahrhundert. I n : Janus 58. 1972. S. 268—277. 6) C. J. van der Klaauw: Het hooger onderwijs in de Zoologie en zijne hulpmiddelen te Leiden (Der Hochschulunterricht in der Zoologie und seine Hilfsmittel in Leiden). Leiden 1926.
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Unterricht der technischen Chemie vorgesehen. Der finanzielle Beitrag^der Universität belief sich zwischen 1826 und 1852 auf eine Gesamtsumme^.von 600 Gulden. Das Äußerste, das die Studenten in dem Laboratorium leisten konnten, waren einige Mengenbestimmungen 7 ). Zwar wurde die Astronomie vom König begünstigt, doch kamen auch hier die begrenzten Möglichkeiten eines kleinen Landes zum Tragen. 1822 wurde auf Drängen Cornells Ekemas (1773—1826), eines aus der Provinz Friesland gebürtigen Professors der Mathematik und Astronomie, ein Fernrohr angeschafft, das von einem friesischen Bauern namens Rienks gebaut worden war, ein unzulängliches Gerät von 6 Zoll Weite und mit unbrauchbaren Linsen. Ein zweites, wiederum von Rienks hergestelltes Fernrohr war für das neue Observatorium in Brüssel vorgesehen, das von Quetelet errichtet worden war. Nach dem Abfall Belgiens erfuhr man, daß dieses Fernrohr wahrscheinlich nie seinen Bestimmungsort erreicht hatte, sondern daß es 1840 nach Utrecht kam, wo es auseinandergenommen wurde 8 ). Der Preis, der für diese beiden schadhaften Geräte bezahlt worden war, war in der Tat astronomisch, belief er sich doch auf 25000 Gulden! Im Jahre 1822 war dann kein Geld mehr für ein neues Observatorium vorhanden, welches die 1633 auf dem Universitätshauptgebäude errichtete Sternwarte ersetzen sollte. So polierte man eben das alte Gebäude auf. Auf das hartnäckige Ersuchen Frederik Kaisers (1808—1872) hin verstärkte man die Grundmauern und stattete die Türme mit drehbaren Dächern aus. Es war sicherlich ein bezauberndes Observatorium für Amateurastronomen, doch erfüllte es keineswegs die Anforderungen dessen, was man damals unter einem modernen akademischen Institut verstand. Frederik Kaiser verfolgte das selbstgesteckte Ziel, die Astronomie in den Niederlanden wiederzubeleben 9 ). Abgesehen von seiner Hingabe an die Astronomie und seiner Prägung durch astronomische Kenntnisse hatte Kaiser auch die Gabe, bei vielen Leuten aus verschiedenen sozialen Klassen des Landes Interesse für diese Wissenschaft zu wecken. Eine solche Methode war, häufig in volkstümlichen Zeitschriften wie im „Album der Natuur" (Album der Natur) und „Lectuur voor de Huiskamer" (Lektüre 7) W. P. Jorissen: Het chemisch (thans anorganisch chemisch) Laboratorium der Universiteit te Leiden yan 1 8 5 9 — 1 9 0 9 en de chemische laboratoria dier universiteit v o o r dat tijdvak en zij, die erin doceerden (Das chemische [jetzt anorganisch-chemische] L a b o r der Leidener Universität in der Zeit v o n 1 8 5 9 — 1 9 0 9 und die chemischen Labors dieser Universität v o r diesem Zeitraum nebst denjenigen, die dort lehrten). Leiden 1909. S. 63. 8) /. van der Bilt: D e grote spiegelkijker v a n Roelofs en Rienks. Een episode uit de geschiedenis der Leidse en Utrechtse sterrewachten ( 1 8 2 1 — 1 8 4 6 ) (Das große Spiegelteleskop v o n Roelofs und Rienks. Eine Episode aus der Geschichte der Sternwarte zu Leiden und Utrecht [1821—1846]). Leiden 1 9 5 1 . 9) H. G. van der Sande Bakhuy^en: Frederik Kaiser en de b o u w der nieuwe sterrewacht te Leiden (1860) (Frederik Kaiser und der Bau der neuen Sternwarte zu Leiden [I860]). In: Leidsch Jaarboek 1 9 1 1 . S. 1—27.
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für zu Hause) zu schreiben. Es ist anzumerken, daß die letztgenannte Zeitschrift einen Artikel enthielt, der die Grundlage für das neue Leidener Observatorium bilden sollte, welches 1861 eröffnet wurde. Dieser Artikel gibt auch guten Aufschluß über die damals von Prof. Kaiser international geknüpften Kontakte. In diesem Artikel gab er auch seiner tiefempfundenen Unzufriedenheit über die im wahrsten Sinne des Wortes wackelige Lage auf dem Dach eines Klosters Ausdruck, das im Jahre 1581 in eines der ersten Universitätsgebäude umgewandelt worden war: „Der Wind beeinträchtigt die Beobachtungen im Observatorium Leiden verhältnismäßig wenig verglichen mit den Wagen, die den ganzen Abend lang über die Rapenburg rollen, wenn ein Konzert, Spielveranstaltung, Ball oder eine Theatervorstellung stattfinden. Wenn ein Wagen nun vorbeifährt, vibriert die Rapenburg mit dem gesamten Universitätsgebäude, was eine so starke Unruhe im Fernrohr verursacht, daß die eben durchgeführte Beobachtung aufgegeben werden muß." 10 ) Wenn es nicht die Kutscher waren, die Kaiser störten, war es ein anderer Feind, nämlich die beiden Glocken im Turm, die jede halbe Stunde die Zeit einläuteten und dabei das Gebäude erschütterten. Es überrascht daher kaum, daß Kaiser daranging ein Observatorium zu entwerfen, das den Anforderungen der modernen Astronomie, wie sie William Herschel zu Ende des 18. Jahrhunderts mit besonderer Bedachtnahme auf Doppelsterne und andere außerstellare Formationen definierte, entsprechen würde. Kaiser wandte sich nach Rußland, das zu dieser Zeit ein Leitstern für alle Astronomen war. Zum Musterbeispiel eines idealen Observatoriums nahm er sich Frederik Willem Struves Beschreibung einer Sternwarte, die sich auf dem Hügel namens Pulkova nahe bei Sankt Petersburg, jetzt Leningrad, befand. Struves im Jahre 1846 in Sankt Petersburg veröffentlichte „Description de l'observatoire astronomique de Poulkova" verfügte auch über einen Atlas von 40 Tafeln, der sowohl das Gebäude als auch die Instrumente sehr detailliert darstellte 11 ). Kaiser hatte in Deutschland die führenden Observatorien besucht, es gelang ihm aber nicht Pulkova zu besichtigen, obwohl Struve ihn wiederholt eingeladen hatte: Struve unterstützte ihn, indem er ihm die gesamte notwendige Information zur Verfügung stellte. Aus dem oben erwähnten Artikel von Kaiser geht klar hervor, daß das von Struve beschriebene Observatorium von Pulkova für den Entwurf des Leidener Universitätsobservatoriums als Vorbild herangezogen wurde. Das Projekt wurde schließlich im Jahre 1858 von der Regierung gebilligt und von 10) F. Kaiser: Inrigting der Sterrewachten. Beschreven naar de sterrewacht op den heuvel Pulkowa en het ontwerp eener sterrewacht voor de hoogeschool te Leiden (Einrichtung der Sternwarten. Beschreibung der Sternwarte auf dem Hügel Pulkova und Entwurf einer Sternwarte für die Hochschule zu Leiden). Leiden 1854. Nachdruck in: Periodical for the Home. u ) Ebenda, Einleitung, S. VI.
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W. J. Camps, dem königlichen Architekten, ausgeführt 12 ). Kaiser vereinfachte den ursprünglichen Entwurf beträchtlich, um Kosten einzusparen. Erwähnenswert erscheint in diesem Zusammenhang, daß ein großer Teil der Gelder für das neue Observatorium von Privatpersonen, einschließlich der Mitglieder von wissenschaftlichen Gesellschaften, von Studenten und ausländischen Wissenschaftern aufgebracht wurde. Während dieser Zeit begann sich die Wirtschaft der Niederlande nach der Trennung von Belgien (1839) wieder zu erholen, so daß zwischen 1850 und 1875 ein neuer Anlauf zur Modernisierung der Universität genommen werden konnte. Nach langen Beratungen entschied man, das Observatorium auf einem Platz zu bauen, der einmal Teil der alten Stadtmauer gewesen war und dann zum Botanischen Garten gehörte. Wie wohl jeder seiner Vorgänger und Nachfolger verfahren wäre, tat auch der Direktor des Botanischen Gartens alles — allerdings vergeblich —, diesen in seiner ganzen Ausdehnung zu erhalten. Im frühen 19. Jahrhundert hatte man den Garten erheblich erweitert und ihm den Charakter eines englischen Landschaftsgartens verliehen, wo die Besucher bummeln oder die wegen der tropischen Orchideen berühmten Gewächshäuser besuchen konnten. Nachdem W. F. R. Suringar (1832—1898) im Jahre 1862 zum Professor der Botanik ernannt worden war, konnte man dort auch Kricket spielen 13 ). Suringars Professur fiel zeitlich mit einem wichtigen Abschnitt in der Schulreform zusammen: Im Jahre 1863 wurde eine neue Art der Sekundärschule eingeführt, die als Vorbereitung für das Universitätsstudium gedacht war. Diese Schulen, für die natürlich auch Lehrer ausgebildet werden mußten, boten den Studenten an der mathematischen und naturwissenschaftlichen Fakultät einen festbezahlten Beruf. Im Jahre 1850 hatte die Universität den absoluten Tiefpunkt mit nur 456 Studenten, von denen wiederum nur 15 an der naturwissenschaftlichen Fakultät inskribiert waren 14 ). Den ersten Studenten des Studienfaches Botanik gab es im Jahre 1866, als Suringar den Lehrstuhl bereits seit neun Jahren bekleidet hatte 15 ). Dieser Student war Hugo de Vries (1848—1935), der 1870 unter Suringar seine Doktorwürde mit einer Dissertation erwarb, die den Ein12) Λ. Montagne: De stad Leiden. Album, bevattende eenige afbeeldingen der voornaamste hoofdgebouwen en fraaiste gezigten in en nabij de stad Leiden (Die Stadt Leiden. Album, einige Abbildungen der wichtigsten Gebäude und schönsten Ansichten in und um die Stadt Leiden enthaltend). Leiden 1859—1863. Neudruck Leiden 1975. 13) H. Veendorp und L. M. G. Baas Becking: 1587—1937. Hortus Academicus Lugduno Batavus, the development of the gardens of the Leyden University. Haarlem 1937. S. 138. 14) C.J. van der Klaamv: De studentenbevolking van de faculteiten der geneeskunde en der wis- en natuurkunde sinds 1818 in het bijzonder te Leiden (Die Studentenschaft der Fakultäten der Medizin, der Mathematik und Physik seit 1818, insbesondere zu Leiden). In: Nederlandsch Tijdschrift voor Geneeskunde 75. 1931. 18. S. 2381—2390. 15) Veendorp und Baas Becking, 1587—1937, S. 170.
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fluß der Temperatur auf die Lebenserscheinungen in wachsenden Pflanzen untersuchte. Paradoxerweise befaßte sich diese Dissertation des ersten Doktoraspiranten Professor Suringars mit einem Fachgebiet, für das sich Suringar überhaupt nicht interessierte, nämlich der experimentellen Pflanzenphysiologie. Suringars eigentliches Arbeitsgebiet war vor allem die Klassifikation und die regionale Flora; er stand dem Darwinismus entschieden ablehnend gegenüber. Hugo de Vries konnte seine Experimente nicht in Suringars Laboratorium durchführen und mußte für sein Vorhaben den Dachboden des Elternhauses benützen 16 ). Daher verließ er Leiden so bald wie möglich, um seine Studien auf dem Gebiet der Zellphysiologie unter W. F. Hofmeister (1824 bis 1877) in Heidelberg fortzusetzen, wo er auch die Vorlesungen der Professoren R. W. Bunsen (1811—1899) und H. L. F. von Helmholtz (1821—1894) hörte. Ein Jahr später ging er nach Würzburg, um beim bekannten deutschen Pflanzenphysiologen Julius Sachs (1832—1897) zu studieren. Es war der Verdienst von Hugo de Vries, daß die niederländische Botanik sich von der systematischen Beschreibung der Flora der Pflanzenphysiologie zuwandte. Die Naturwissenschaften der Niederlande kamen zunehmend sowohl auf dem Gebiet der Botanik als auch der Zoologie unter deutschen Einfluß. Jan van der Hoeven war ein ausgezeichneter Leidener Zoologe, der große Gelehrsamkeit mit einer wachen, kritischen Einschätzung der Naturgeschichte verband. Er unterhielt eine umfangreiche Korrespondenz mit den führenden Biologen anderer Länder, unter anderem mit George Cuvier, Richard Owen und J. L. R. Agassiz. Van der Hoeven wurde wegen seines Handbuches für Zoologie bekannt, das auf Deutsch, Englisch und in weitere Sprachen übersetzt wurde. Er stützte sich vorwiegend auf die französische Schule Cuviers; seine Arbeit war hauptsächlich makroskopisch. Er hielt seine Vorlesungen weiterhin in lateinischer Sprache, obwohl diese Praxis bereits um das Jahr 1857 im Aussterben war 17 ). Sein Nachfolger, Emil Selenka (1842—1902), war auf Anraten Schlegels und Suringars aus Deutschland mit der Hoffnung geholt worden, Leiden im antidarwinistischen Lager zu halten 18 ); innerhalb kurzer Zeit erwies sich jedoch der energische neue Professor als überzeugter Anhänger der neuen Lehrmeinung. Selenka drohte, die immer größer werdende Anzahl der Studenten an der Universität Leiden nach Deutschland zu schicken, wenn man ihm nicht die Mittel für ein Lehr- und Forschungslaboratorium zur Verfügung stellte. Schließlich wurde ein zoologisches Laboratorium eingerichtet, das 1876 16) P. Smit: De situatie in de Nederlandse biologie rond 1875 (Die Situation der niederländischen Biologie um das Jahr 1875). In: Scientiarum Historia 1. 1973. S. 39—48. 17) van der Klaaua>, Het hoger onderwijs, S. 20. 18) P. Smit, De situatie in de Nederlandse biologie. S. 46.
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fertiggestellt wurde und ziemlich eigenständig neben dem Museum für Naturgeschichte bestand. Lange vor dieser Zeit war Selenka schon nach Erlangen gegangen, wo er einen Lehrstuhl übernommen hatte. Trotzdem war es ihm gelungen, der zoologischen Forschung in den Niederlanden neue Impulse zu geben, unter anderem durch die Gründung der Niederländischen Zoologischen Gesellschaft und einer Zeitschrift mit Namen „Niederländisches Archiv für Zoologie". In der von Stadtmauern umgebenen mittelalterlichen Stadt, die Leiden am Anfang des Jahrhunderts noch war, gab es keinen Platz für neue Gebäude; im Jahre 1807 jedoch zerstörte die Explosion eines Schiffes mit Pulverladung ein großes Stadtgebiet. Der auf diese Weise freigewordene Raum wurde zum Zankapfel eines jahrzehntelangen Streites zwischen der Stadt und Universität, da beide den Grund für sich beanspruchten. Man arbeitete Pläne aus und veränderte diese wiederum, aus welcher Richtung gerade der politische Wind wehte. Das erste Gebäude, das entstehen sollte, war ein Teil des neuen Museums für Naturgeschichte, das im Jahre 1827 vollendet wurde. Im Jahre 1856 begann man einen neuen Gebäudekomplex für die Abteilungen Chemie, Physik und Anatomie zu bauen. Im Gegensatz zu den Wissenschaften, die sich mit der organischen Natur beschäftigen, haben die anderen Wissenschaften den Problemen, die für die Gesellschaft unmittelbar von Wert sind, große Aufmerksamkeit gewidmet. Genau das hatte König Wilhelm I. von der gesamten Universität gefordert. Der Leidener Professor Anthony Hendrik van der Boon Mesch (1804—1874) stellte gleich nach seiner Ernennung klar, daß er Chemie vorrangig in der Landwirtschaft und in der Industrie einsetzen wolle. Diese Einstellung führte zu zahlreichen Ämtern in der Verwaltung, ζ. B. in der Niederländischen Gesellschaft für Landwirtschaft (gegründet 1847) und in der im Jahre 1777 entstandenen Gesellschaft für Industrie. Für die letztgenannte gründete er eine Zeitschrift, die er zwischen 1833 und 1872 herausgab 19 ). Alle Artikel, die er in großer Zahl in dieser Zeitschrift publizierte, befaßten sich mit angewandter Chemie, ζ. B. der Färbung von Nahrungsmitteln, der Erzeugung von Farbstoffen, der Reinheit von Chemikalien und der Qualität von Papier. Wie nutzbringend diese Beiträge auch gewesen sein mögen, so stellen sie doch kaum das internationale Niveau dar, dessen sich ein Universitätsforscher befleißigen sollte. In dieser Hinsicht wurde Leiden von der Universität Utrecht übertroffen, an der die Forschung vom Chemiker Gerrit Jan Mulder (1802—1880) geleitet 19) A. Vrolik: Levensschets Dr. Α. H. van der Boon Mesch. Levensberichten van de Maatschappij der Nederlandsche Letterkunde te Leiden 1875—1876 (Lebensskizze des Dr. Α. H. van der Boon Mesch. Biographien seitens der „Maatschappij der Nederlandsche Letterkunde" (Niederländische Literaturgesellschaft) zu Leiden in den Jahren 1875—1876). Leiden 1875.
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wurde, welcher internationale Kontakte mit Wissenschaftern wie Justus von Liebig und J. J. Berzelius bezüglich seiner Arbeit über Proteinchemie pflegte. Mulder beschäftigte sich aber zu häufig — oft übrigens auf Ersuchen der Königlichen Akademie der Wissenschaften — mit praxisorientierten Problemen, unter anderem der Selbstentzündung von Schiffsladungen und der Landgewinnung aus Seen und Meeresarmen in den Niederlanden. Schließlich noch ein paar Worte zur medizinischen Fakultät der Universität Leiden, bei der wir denselben Übergang von Kabinettsammlungen zu experimenteller Forschung feststellen. Lehrstühle für Histologie und Physiologie traten neben den der Anatomie, zum Teil als Folge dieses Wandels. Den klinischen Forschern ging es hauptsächlich darum, ein neues Krankenhaus zu bekommen; auch sie trachteten, einen Teil des durch die Explosion frei gewordenen Areals zu erhalten. Nach einem äußerst unerfreulichen und langwierigen Streit zwischen der Regierung, den Kuratoriumsmitgliedern der Universität und den Gemeindebehörden wurde schließlich ein Universitätskrankenhaus auf einem Platz gebaut, der zuvor von der Stadtmauer eingenommen worden war. Dieses im Jahre 1873 eröffnete Gebäude war nicht nur zu klein, sondern auch zu anspruchslos entworfen; es war völlig unbrauchbar20). Die Patienten mußten durch den Warteraum transportiert werden, um in den Saal zu gelangen, und dasselbe in umgekehrter Reihenfolge nach der Operation. Der Operationssaal war nach der althergebrachten Art eines anatomischen Hörsaales mit einer Galerie für Stehplätze für Studenten gebaut wie der als historisches Denkmal im Guys-Krankenhaus in London erhaltene Operationssaal21). Die hygienischen Bedingungen waren derart schlecht, daß die vom Kindbettfieber in der Geburtshilfestation verursachte Sterblichkeitsrate äußerst hoch war. Das führte zu heftigen Protesten von Professor Α. E. Simon Thomas (1820—1866), der auf die Arbeit von Ignaz Semmelweis hinwies. Mitglieder des Universitätskuratoriums ließen darauf diesen Teil des Gebäudes umbauen, um bessere hygienische Voraussetzungen im Geburtshilferaum zu gewährleisten 22 ). Die Verbreitung medizinischer Kenntnisse nahm sprunghaft zu. Besonders schätzte man Rudolf Virchow in den Niederlanden. Den Übergang von der Lehre, daß Krankheiten von den Körperflüssigkeiten bedingt würden, zur Zellularpathologie kann man deutlich in den Aufsätzen verfolgen, die in der 1857 gegründeten Nederlandsch Tydschrift voor Geneeskunde (Nieder20) M. W. Jongsma: 325 jaar Academisch Ziekenhuis Leiden (325 Jahre Akademisches Krankenhaus zu Leiden). Lochern 1964. 21) J. Αχη. van Iterson: De nieuwe operatiekamer in het Rijksziekenhuis te Leiden (Der neue Operationssaal im Reichskrankenhaus zu Leiden). Leiden 1893. S. 6. 22) P. H. Simon Thomas: Het onderwijs in de verloskunde aan de Leidsche Hoogeschool gedurende het tijdvak 1891—1900 (Der Unterricht in der Entbindungslehre an der Leidener Hochschule in der Periode von 1891 bis 1900). Leiden 1909.
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ländische Medizinische Zeitschrift) veröffentlicht wurden. Häufig nahm man auf deutsche Forschungsergebnisse in dieser Zeitschrift Bezug oder man veröffentlichte deren Übersetzung. Im Jahre 1872 wurde Sigmund Rosenstein (1832—1906), ein Schüler Virchows, Professor an der medizinischen Fakultät. Der wissenschaftliche Wiederaufstieg, den in diesem Zeitraum die Universität Leiden erfuhr, wurde durch die Jahrhundertfeier im Jahre 1875 verdeutlicht. An dieser Feier nahmen 150 ausländische Professoren aus allen Ländern Europas teil. Unter den Wissenschaftern, denen das Ehrendoktorat verliehen wurde, befanden sich Charles Darwin und Henri Milne-Edwards, der Gegner der Evolutionstheorie 23 ). Die Universität Leiden befand sich auf der Schwelle zu einer ruhmreichen Zeit, in der wissenschaftliche Arbeit, die internationaler Anerkennung würdig war, geleistet werden sollte. 23
) L. Knappert: De Eeuw en Halve-Eeuwfeesten (Die 100- und 50-Jahr-Feierlichkeiten). In: Pallas Leidensis 1925. S. 339—365.
II. DIE WECHSELSEITIGEN GEISTIG-WISSENSCHAFTLICHEN BEZIEHUNGEN
STANISLAUS HAFNER DIE ÖSTERREICHISCHE SLAWISTIK UND DIE NATIONALKULTUREN DER SÜDSLAWEN
Wenn man die begreiflicherweise immer umfangreichere österreichische und internationale historische und kulturgeschichtliche Literatur über die österreichisch-ungarische Monarchie im 19. Jahrhundert sichtet, so fällt einem bald auf, daß den Fragen der Entwicklung dieses Staates als Ganzes und als Kulturgeschichte betrachtet, heute wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird, eigentlich weniger als man es von der modernen Geschichtsforschung erwarten würde 1 ). Einige deutschsprachige Werke erwecken überhaupt den Eindruck, der Zerfall der Monarchie, bzw. ihr politisches Versagen als übernationales Staatsgebilde hätten die Historiker der Republik des zweifellos schwierigen Geschäftes enthoben, gesamtösterreichische Geschichte zu betreiben und dabei multinationalen Gesichtspunkten gerecht zu werden, wie es dem Wesen des Forschungsobjektes entspräche2). Aber auch den Völkern in den Nachfolgestaaten der Monarchie fällt es aus verschiedenen Gründen, auf die ich hier nicht eingehen kann, noch immer schwer, ihren eigenen Anteil an der politischen und kulturellen Geschichte dieses Vielvölkerstaates im 19. Jahrhundert zu erkennen und darzustellen. Man wird ferner feststellen können, daß in der Erforschung und Deutung des österreichischen neunzehnten Jahrhunderts das Interesse für politische Geschichte durchwegs überwiegt, während vor allem bei uns kulturwissenschaftliche Aspekte unberücksichtigt bleiben. So ist es auch leicht verständlich, daß die Österreichische Kultur- und Geistesgeschichte, die in so qualifizierter Form William M. Johnston 1972 bzw. 1974 geschrieben hat, bei uns als !) Die heutige Geschichtsforschung steht der typologischen Betrachtungsweise und vergleichenden Untersuchungen weit offener gegenüber als jene zur Zeit der Hochblüte des Historismus. 2 ) Größere, die multinationale Problematik der Monarchie berücksichtigende Werke sind in letzter Zeit außerhalb Österreichs entstanden, wie ζ. B.: R. A. Kann: The multinational Empire, Bde 1, 2. New York 1950 bzw. deutsch: Das Nationalitätenproblem der Habsburgermonarchie, Bde 1, 2. 2 Graz 1964; F. Zwitter: Nacionalni problemi ν habsburski monarhiji (. . .) Ljubljana 1962 bzw. Les problemes nationaux dans la Monarchie des Habsbourg. Beograd 1960; H. Kohn: Pan-Slavism. Its History and Ideology. Notre Dame 1953; E. Lemberg: Nationalismus, Bde 1, 2., Reinbek b. Hamburg 1964 u. a.
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amerikanische Entdeckung eines Kontinents, eben des Geisteskontinents Österreich, gefeiert werden konnte. Kultur ist, wie die moderne Kulturwissenschaft lehrt, stets Kommunikation, und alle Aspekte der Kultur, d. h. auch die Geistesgeschichte, können als Inhalte dieser Kommunikation aufgefaßt werden. Und Kultur als Kommunikation vollzieht sich stets innerhalb bestimmter Kommunikationsräume, die historischen, kulturellen oder nationalen Faktoren ihr Dasein verdanken. Deshalb können solche kulturellen Kommunikationsräume nationalen oder übernationalen Charakter tragen, besser gesagt, sie können nationale oder übernationale kommunikative Sinneinheiten bilden. Dabei ist davon auszugehen, daß man von „reinen und isolierten Nationalkulturen" überhaupt nicht sprechen kann, da bekanntlich jede Nationalkultur auf irgendeine Weise in das System der polyphon organisierten Weltkultur integriert ist 3 ). Die Österreichisch-ungarische Monarchie, als ein übernationaler kultureller Kommunikationsraum gesehen, bietet im 19. Jh. für kulturtypologische Arbeiten ein ergiebiges Feld wissenschaftlicher Fragestellungen. Angefangen von der grundlegenden Frage, ob dieses übernationale Staatsgebilde als kultureller Kommunikationsraum überhaupt funktionierte und in welchem Maße sich interkulturelle Informationsmechanismen entfalten konnten, über die komplizierten Probleme gegenseitiger Vorbildwirkung und der daraus entspringenden Anpassungsprozesse der einzelnen nationalkulturellen Modelle, bis zu den Fragen der Abgrenzung der Systeme typologischer Eigenschaften einer Nationalkultur von den universalen Merkmalen der allgemeinen Struktur der Menschheitskultur u. a. m. Für eine synchronisch-vergleichende Betrachtung der Dinge ist zunächst die Feststellung von Bedeutung, daß prinzipiell alle in der Monarchie lebenden Völker von den für diesen Staat typischen kulturellen Kommunikationsprozessen erfaßt wurden, der nationalkulturell führende deutschsprachige Teil genauso wie die Gruppe der sogenannten „geschichtlosen" Völker 4 ), wenn ich diesen weitgehend unbefriedigenden aber doch gebräuchlichen Ausdruck hier verwenden darf. Ein bereits vorhandenes eigenes Staatsbewußtsein, unterschiedliche soziale Profile bei den einzelnen Völkern und auch die kulturgeographische Lage hatten allerdings zur Folge, daß es in diesem Staate von vornherein nationalkulturell entwickelte bzw. weniger entwicklungsfähige Völker gab, daß die kulturellen Kommunikationsprozesse nicht homogen verlaufen konnten und daß die im 19. Jahrhundert stärker einsetzenden sozialen Ausgleichsprozesse diese Unterschiede auch nie ganz zu beseitigen imstande waren. Nur der allmähliche Ausbau eines sprachlich differenzierteren 3) Vgl. N. S. Trubeckoj: Vavilonskaja basnja i smesenie jazykov (. . .) (Der Babylonische Turm und die Verwirrung der Sprachen). In: Evrazijskij Vremennik. 3.1923. S. 119. 4 ) Vgl. F. Zwitter: Nationale Probleme und gesellschaftliche Struktur in der Habsburgermonarchie. In: österreichische Osthefte 19. 1977. 3. S. 147—160.
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Bildungswesens, die sich daran knüpfende Entfaltung des kulturellen und literarischen Lebens, der Ausbau der Verwaltung, die fortschreitende Demokratisierung des politischen Lebens, alles das bot den Völkern in der Monarchie erst die Möglichkeiten, ihre sozialen Profile zu vervollständigen und ein aufnahmefähiges Publikum für die nationalkulturelle Kommunikation zu schaffen. Es ist dabei schwer, generell zu sagen, ob wir diese Grundlegung der Nationalkulturen der kleineren Völker der Monarchie nur jenen Kräften, die von unten nach oben wirkten, zu verdanken haben; wie so oft bei kulturellen Phänomenen haben wir es auch beim Aufbau der Nationalkulturen in der Monarchie im 19. Jahrhundert in jedem einzelnen Fall mit komplexen Vorgängen zu tun, die vom Zusammenwirken verschiedener dynamischer und energetischer Kräfte abhängig sind. Schon die kultursoziologischen Bedingungen allein sind vielschichtig: So waren ζ. B., um nur die kultursoziologische Funktion der Städte zu charakterisieren, die großen Städte der Monarchie nationalkultureller Aufbauarbeit der Völker gegenüber weitaus toleranter eingestellt als die kleineren Städte. In den großen Städten, ich meine hier Wien, Budapest, Prag, Graz u. a., war auch die Gesellschaft dank dem herrschenden Liberalismus und dem Universalismus des Denkens sozial toleranter, so daß hier als bewegende Kraft des gesellschaftlichen Aufstieges das Ethos der Leistung wirksam sein konnte und daß auch schon Leistung und Kenntnisse allein zur gesellschaftlichen Legitimierung ausreichten. So treffen wir namentlich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den Städten der Monarchie in allen Bereichen des staatlichen, kulturellen und wissenschaftlichen Lebens Männer nichtdeutscher Herkunft, die im Staate und bei ihren eigenen Völkern zu Ansehen und Geltung gelangten. Die Elite dieser national bunten emporstrebenden Schichte bildete im Staate eine Art zweites, kulturelles Österreich konservativer oder liberaler Prägung 5 ). Nach dem Vorbild kulturell entwickelter europäischer Völker schufen Mitglieder dieser Elite in Anwendung nationalkultureller Modelle des 19. Jahrhunderts für ihre Völker auch die nationalkulturellen Bildungswerte, die nationaltypischen Elemente der „Sprachen ihrer Kulturen" 6 ), und konfrontierten dieses hauptsächlich ideologisch und kulturgeschichtlich gewonnene nationale Weltbild mit dem überlieferten übernationalen Staatsdenken7). Das nationalkulturelle Wirken der intellektuellen Gruppe der slawischen Völker und Volksgruppen in der Monarchie als Ganzes gesehen entzieht sich jedoch sowohl genetisch als auch evolutiv einer einheitlichen Charakterisie5 ) Vgl. S. Hafner: Über Miklosichs Weltbild und das Verhältnis zum Deutschtum. In: Ostdeutsche Wissenschaft. 9. 1962. S. 229 ff. e ) Der Begriff „Sprache" hier in der spezifischen Bedeutung, die ihm die moderne semiotische Forschung verleiht. 7 ) Vgl. S. Hafner: Das geistige Leben Österreichs und die Nationalkulturen Mittel- und Südosteuropas. In: österreichische Osthefte 6. 1964. 1. S. 1—18.
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rung, die Vielfalt der historischen und kulturellen Situationen und auch die Art der Herausforderung von Volk zu Volk waren zu mannigfaltig, aber auch ihre Bewältigung durch einzelne schöpferische Persönlichkeiten in der Zeit der starken Individualitäten war zu verschieden. Will man aber trotzdem eine für das systematische Erkennen notwendige Gliederung anstreben, so empfiehlt es sich, das herauszugreifen, was diesen nationalkulturellen Bestrebungen und Programmen gemeinsam war: Das ist einerseits das Bewußtwerden der Notwendigkeit einer neuen Fragestellung nach den Begriffen Sprache und Volkstum, anderseits das Bewußtsein der Problematik des Verhältnisses dieser Begriffe ^einander und zur historisch gegebenen Staatlichkeit8). Jene Völker der Monarchie, die sich auf kein eigenes Staatsbewußtsein stützen konnten und auch sozial benachteiligt waren — und dies war in erster Linie bei den südslawischen Völkern der Monarchie der Fall —, diese Völker stellten ihre Sprache, gemeint ist ihre angestrebte Kultursprache, an die Spitze der Skala der nationalen Bildungswerte eines neuen, nach Sprache und Kultur orientierten und auch durch nichtstaatliche Bindekräfte integrierbaren Volkstums. Damit wurde ein völlig neuer Volkstumsbegriff der Sprach- und Kulturnation als Größe sui generis aufgestellt und kultursoziologisch ein eigener sprachlich-kulturell orientierter Typus der Gesellschaft angestrebt. Dieser neue VolkstumsbegrifF, provenienzmäßig eine Frucht der europäischen romantischen Bewegung 9 ), sollte es in der Folge den neuen Gesellschaftsschichten auch ermöglichen, unabhängig von überlieferten Herrschaftsformen und zum Teil gegen sie, in der nationalen Revolution neue Herrschaftsformen zu entwickeln, d. h. den Aufstieg vom Sprachvolk zu einem Nationalstaat zu vollziehen. Bei den Slowenen, Kroaten und bei einem Teil der Serben läßt sich die nationalkulturelle Aktivität der intellektuellen Schichten ungeachtet ihres intellektuell abgestuften Profils im wesentlichen in zwei Hälften teilen, die ich aber nur als äußerste Markierungspunkte verstehen möchte. Zu der ersten Gruppe zähle ich jene schöpferischen Persönlichkeiten, die sich die Verwirklichung ihrer Ideale nur durch eine politisch-revolutionäre Haltung dem übernationalen Staatsdenken gegenüber vorstellen konnten. Die nationalistisch orientierte Geistes- und Kulturgeschichte hat die kulturhistorische Bedeutung dieser Gruppe weitgehend ins rechte Licht gesetzt und auch entsprechend gewürdigt. Weit weniger Beachtung schenkte aber die internationale Forschung einer zahlenmäßig stärkeren und sozial differenzierteren Gruppe südslawischer Intellektueller, die als Südslawen nationale Zeitströmungen mit dem Reichsdenken zu einer Synthese auf übernationaler Ebene zu verbinden 8 ) Siehe S. Hafner: Sprache und Volkstum bei den Slawen im Vormärz. In: SüdostForschungen. 24. 1965. S. 140, 148, 150 und öfter. 9) H. Sundhaußen: Der Einfluß der Herderschen Ideen auf die Nationsbildung bei den Völkern der Habsburger Monarchie. München 1973. S. 48 ff. bzw. 98 ff.; siehe Hafner, Das geistige Leben Österreichs, S. 1—18.
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und ihr nationales Gruppeninteresse den Bedürfnissen der historischen Staatlichkeit, der gegenüber sie sich durchwegs loyal verhielten, anzupassen versuchten. Sie nützten die Möglichkeiten, die ihnen der übernationale kulturelle Kommunikationsraum der Monarchie und ihre eigene soziale Stellung im Staate boten, um ihre, meist auf hohem intellektuellem Niveau stehenden Vorstellungen einer nationalkulturellen Entwicklung ihrer Völker zu verwirklichen. Ihr nationales Weltmodell stellte eine Synthese zwischen dem rationalen und dem romatischen Strukturmodell des Nationalismus dar. Die moderne Kulturwissenschaft, die die national isolierte Betrachtung kultureller Phänomene überwunden hat, vermag den Beitrag dieser Gruppe zum Aufbau der nationalkulturellen Systeme besser in überregionale Zusammenhänge zu stellen und vergleichend zu beurteilen, sie kann heute auch schon leichter jene geistigen und kulturellen Werte erkennen, die nur den besonderen kulturellen Kommunikationsbedingungen und den intraslawischen Kontakten, wie es diese im alten Österreich gab, ihr Dasein verdankten und nur aus den Gegebenheiten altösterreichischer Kultur- und Bildungswelt entspringen konnten")). Die Versprachlichung der Kultur, ein Grundelement der romantischen kulturhistorischen Struktur, rückte auch bei den Slowenen, Kroaten und Serben Fragen einer polyvalenten Kultursprache ihrer Völker in den Mittelpunkt des nationalen Interesses. Und jene Wissenschaft, die sozusagen in höchster Instanz für diese Probleme zuständig ist, war die Philologie, oder konkret gesprochen, die Slawistik des 19. Jahrhunderts und wegen ihrer bildungspolitischen Vorrangstellung und infolge ihres Prestigecharakters natürlich in erster Linie die Slawistik der Wiener und später auch der Grazer Universität 11 ). Die Namen Bartholomäus Kopitar, Franz Miklosich, Vatroslav Jagic, Matthias Murko, um nur die bedeutendsten Vertreter dieses Faches zu nennen, sind heute in der europäischen Wissenschaftsgeschichte genügend bekannt, auch ungeachtet dessen, daß sie, um nur ein Beispiel zu nennen, in einer so repräsentativen und bei uns so gut aufgenommenen Darstellung der österreichischen Kulturgeschichte, wie es die von William M. Johnston ist, nicht genannt werden 12 ). Es läßt sich überhaupt in diesem Werk nur ein recht geringes Interesse für die Problematik des Anteiles der Südslawen an der österreichischen Kulturgeschichte und für die Fragen übernationaler Kulturmorphologie feststellen. Mir geht es in meinen Ausführungen allerdings nicht darum, die typisch österreichischen Merkmale des Wirkens dieser Gelehrten 10 )
Siehe Hafner, Sprache und Volkstum, S. 162. ) Siehe S. Hafner: Die kulturgeschichtliche Bedeutung und wissenschaftliche Leistung der österr. Slawistik. In: Jahresbericht des Bundesgymnasiums für Slowenen in Klagenfurt 10. 1966/67. S. 91—103 mit weiterer Literatur. 12) W. M. fohnston: Österreichische Kultur- und Geistesgeschichte. Graz 1974; ders.: The Austrian Mind. University of California Press 1972. u
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festzustellen oder ihre ohnehin bekannte wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung mit neuen Fakten zu bekräftigen, sondern vielmehr darum, die Bedeutung ihres wissenschaftlichen Wirkens für den Aufbau der kulturtjpologisch für ihre Völker relevanten nationalkulturellen Bildungswerte aufzuzeigen, und zwar so, daß bei ihrer Beurteilung die Konnexität mit den Gegebenheiten des übernationalen kulturellen Kommunikationsraumes, wie sie die Habsburgermonarchie bot, gewahrt bleibt. Ich sehe aufgrund meiner Beschäftigung mit den Dingen nämlich keine Veranlassung, von vornherein anzunehmen, daß die nationalkulturellen Leistungen dieser Slawisten nur aus Konfliktsituationen zur übernationalen Staatlichkeit entstanden wären. Ebensowenig kann die vergleichende Kulturwissenschaft a priori die Existenz einer durch staatliche Grenzen festgelegten übernationalen kulturellen Bildungseinheit für die in Rede stehenden im 19. Jahrhundert ausschließen. Die kulturtypologischen Merkmale und Gemeinsamkeiten aus dieser Zeit sind bei allen beteiligten Völkern noch heute präsent. Man braucht diese Merkmale nur provenienzmäßig in ihre Zeit und in ihre Umgebung zu stellen und kulturelle Situationsanalysen durchführen, welche die Handlungen der genannten slawischen Wissenschafter als situationsangemessen erkennen lassen. Bartholomäus Kopitar, Slowene seiner Herkunft nach, gilt in der europäischen Wissenschaftsgeschichte mit Recht als der Begründer der österreichischen Slawistik und Balkanologie 13 ). Noch unter dem Einfluß der europäischen Aufklärung stehend, die für die Kulturentwicklung eines Volkes praktischen staatlichen Aktionen den Vorrang gab, als ein Mann, der mehr auf Staatsdenken als auf nationales Gruppenbewußtsein etwas gab und Institutionen und nicht Menschen als Träger eines politischen Bewußtseins ansah, schmiedete dieser slowenische Slawist, der übrigens in Wien an einem informations- und kommunikationsmäßig äußerst günstigen Platze in der Hofbibliothek saß, seine austroslawischen Konzepte. Sie trugen Merkmale der österreichischen Spätaufklärung und des europäischen romantischen Weltbildes und bewegten sich in übernationalen kulturellen Räumen. Seine wissenschaftliche Grundausbildung war eigentlich die juristische, wie dies auch bei anderen berühmten Sprachwissenschaftern der Romantik der Fall war; aktuelle didaktische Bedürfnisse führten ihn zur slowenischen Sprachwissenschaft und die Kooperation mit den Begründern der europäischen vergleichenden Sprachwissenschaft des 19. Jahrhunderts im Zeichen der Philologie machte aus ihm schließlich einen bedeutenden Sprachwissenschafter 14 ). 1 3 ) Die biographische Basisinformation in: Slovenski Biografski Leksikon. Ljubljana 1925—32. S. 496—513, bzw. in: Österreichisches Biographisches Lexikon 1815—1950. Bd. 4. Wien 1969. S. 116 f. 1 4 ) Siehe die neueste Biographie: /. Pogacnik: Jernej Kopitar. Ljubljana 1977; bzw. erw. deutsche Fassung/. Pogacnik: Bartholomäus Kopitar, Leben und Werk. München 1978 und S. Bonanza: Bartholomäus Kopitar, Italien und der Vatikan ( = Geschichte, Kultur und Geisteswelt der Slowenen, Bde. 15 u. 16). München 1980.
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Wenn man die kulturpolitische Charakteristik liest, die Robert Kann in seiner bekannten Darstellung des Nationalitätenproblems der Habsburgermonarchie im Kapitel: Der groß-kroatische Gedanke und der Begriff des Trialismus, von Kopitar gab, wo Kann feststellt, daß der großkroatische Gedanke, das dritte große Konzept des kroatischen Nationalismus, wie es dort genannt wird, mit dem Werk des Slowenen Bartholomäus Kopitar verbunden wäre 15 ), so kann man diesem Urteil nicht zustimmen, da auf diese Weise die Schwerpunkte im kulturpolitischen Wirken Kopitars verschoben werden. Vom Standpunkt einer über längere Zeit sich erstreckenden Wirkung eines kulturellen Phänomens und vom Gesichtspunkt der Kulturtypologie aus gesehen, bietet sich uns, glaube ich, eine andere Größenordnung an, in der bei Kopitar ein „groß-kroatischer" Gedanke nur eine recht untergeordnete Rolle spielt. In einer Aufstellung der nationalkulturellen Leistungen Kopitars würde ich ζ. B. seine, für den romantischen Volkstumsbegriff so wichtige, kulturhistorische Verankerung der slowenischen sprachlichen Eigenständigkeit in der slowenischen Reformation als bedeutsamer 16 ), und die Rolle seiner ersten wissenschaftlichen Grammatik des Slowenischen auf vergleichender kirchenslawischer Basis für die slowenische schriftsprachliche Integration, bzw. für die schriftsprachliche Emanzipation des Slowenischen vom kroatisch-slowenischen Sprachkonzept des Illyrismus als viel wesendicher ansehen. Bartholomäus Kopitar ist in der österreichischen Kultur- und Geistesgeschichte in erster Linie durch sein sogenanntes austroslawisches kulturpolitisches Konzept bekannt geworden. Und gerade dieser Umstand hat bewirkt, daß er in bezug auf seine Rolle beim Aufbau der nationalkulturellen Systeme der Südslawen heute in einem nicht ganz richtigen Lichte erscheint: Kopitar vertrat die Ansicht, Österreich, das über Slawen aller Dialekte herrsche, käme es, wie er in einem Nachruf 1810 schrieb, vornehmlich zu, in „seinem Mittelpunkt Wien der bei so viel in- und extensiver Kraft zu Riesenschritten bestimmten Literatur einen Vereinigungspunkt anzuweisen" 17 ). Seiner Meinung nach hätten nur die Serben, so lesen wir es in seinen Patriotischen Phantasien eines Slawen, die Sprache der kirchenslawischen Tradition, die Kopitar als eine „einheimische österreichische Angelegenheit" betrachtet, rein erhalten können, wären ihnen gelehrte Schulen und Druckereien zur Verfügung gestanden. Ebenso sei auch nur die serbische Literatur in der Lage, 1 5 ) Siehe R. A. Kann: Das Nationalitätenproblem der Habsburgermonarchie. Bd. 1. Graz, Köln 1964. S. 254—257. 1 6 ) Der reiche slowenische Protestantica-Bestand der Wiener Hofbibliothek diente Kopitar als wissenschaftliche Basis; siehe i". Hafner: Südslawische Rara und Rarissima in der Österreichischen Nationalbibliothek. In: Festschrift Josef Stummvoll. Bd. 1. Wien 1970. S. 164—176. 1 7 ) Kopitar im Nachruf auf Faustin Prohazka und Josef Zlobicky in den Vaterländischen Blättern 1910, bzw. B. Kopitars Kleinere Schriften, hg. v. F. Miklosich. Bd. 1. Wien 1857. S. 60.
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einst „eine gefährliche Nebenbuhlerin der russischen" zu werden, denn der „südliche Himmel" und die „altslawische Kirchensprache" wären Vorteile, die man nicht übersehen könne 18 ). In der weiteren Folge gipfelten Kopitars Überlegungen in einem großangelegten Plan einer Erwerbung altkirchenslawischer und kirchenslawischer Handschriften in den Athosklöstern für die Hofbibliothek in Wien. Seine diesbezügliche, im März 1827 verfaßte offizielle Begründung lautete: „Durch den Besitz auch dieser materiellen Rechtsmittel (gemeint sind die Handschriften) gegen alle russischen Schikanen gedeckt, könnte dann der südslawische Patriot (damit meinte Kopitar sich selbst) durch sukzessive philologisch-kritische Herausgabe des echten altslawischen Kirchentextes, der bei allem Altertum doch der heutigen illyrischen Sprache (gemeint ist die serbische Sprache) noch viel näher käme, als der eingeschlichene jetzt übliche russisierte, den in jedes Menschen Brust unzerstörbar lebenden und daher leicht erregbaren Sinn für das Alte, Echte und Einheimische in Anspruch nehmen, und so stufenweise die Südslawen um einen vaterländischen, Österreich günstigen Mittelpunkt sammeln, und sie dadurch aus Anhängern und Bewunderern des Nordens zu ihm geistig überlegenen Verächtern und eventuell zu dessen bittersten Feinden machen". Kopitars bibliothekarische Wünsche blieben zum größten Teil unerfüllt und mit ihnen auch die ehrgeizigen patriotischen und kulturpolitischen Pläne, die er an die Erwerbung slawischer Handschriften knüpfte 19 ). Die eigentlichen Nutznießer dieser Kopitarschen Ideologie waren aber weniger der Gedanke des Austroslawismus und eine westlich orientierte kirchenslawische Renaissance als vielmehr die nach dem Modell des 19. Jahrhunderts sich formenden Nationalkulturen der Serben und Slowenen : Es ist heute wissenschaftlich erwiesen, daß wir als kulturpolitisch und nationalkulturell bedeutsames Ergebnis des Wirkens Kopitars in Wien das von ihm geistig geführte und wissenschaftlich betreute kulturell-reformatorische Lebenswerk von Vuk Stefanovic Karadzic bei den Serben ansehen müssen20). Und Kopitars Pannonische Theorie, die dem austroslawischen kulturpolitischen Programm zugrunde lag, trug wesentlich zur Verankerung des slowenischen nationalen Gruppenbewußtseins in der slawischen Kulturgeschichte als Ersatz für ein fehlendes eigenständiges historisches Staatsbewußtsein bei und legte außerdem den Grund für eine Slawisierungswelle in der Geschichte der slowenischen Literatursprache. Zu Kopitars großen Verdiensten zählt aber auch, daß er aus dem slowenischen Philosophen und Juristen Franz Miklosich (Miklosic) in Wien einen Slawisten machte: 18) Ebenda, S. 67. 19) S. Hafner: B. Kopitar und die slawischen Handschriften der Athosklöster. In: Südost-Forschungen. 18. 1959. S. 106 f. 20 ) Ich verweise hier nur auf den weniger bekannten und aufschlußreichen Aufsatz von E. Tkalac: Vuk Stephanovic Karadzic und seine Stellung in der serbischen Literatur. In: Ost und West. Wien 1864. 16. S. 643 ff. und 17. S. 695 ff.; u. /. Pogalnik, B. Kopitar, S. 104 ff.
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Der bedeutende slowenische Slawist Rajko Nahtigal, ein Schüler der Grazer Slawistik vor dem Ersten Weltkrieg, schrieb in einem Beitrag zur Charakteristik von Franz Miklosich die einleitenden Sätze: „Im allgemeinen meine ich, daß man jede Persönlichkeit unter dem Gesichtswinkel ihrer Zeit zu betrachten habe, und man müsse sie aus ihrer Zeit heraus auch beurteilen, was und wieviel sie auf irgendeinem kulturellen Gebiet zum Fortschritt beigetragen hat, ebenso habe man Anachronismen und subjektiven Gefühlsäußerungen auszuweichen . . ," 21 ) Diese programmatische Feststellung halte ich noch heute bei der Beurteilung des Beitrages, den Miklosich zu der nationalkulturellen Aufbauarbeit bei den Südslawen geleistet hat, für angebracht. Sicher, Miklosich ist in der europäischen Wissenschaftsgeschichte zu einer feststehenden und festumrissenen Größe geworden, wir können sein Bild durch Einzelforschungen nur noch ergänzen. Doch seinen Teil an dem, was man heute als typische Strukturelemente der Nationalkulturen der Südslawen bezeichnen kann, beginnen wir erst allmählich zu erkennen. Auch in diesem Fall scheinen die nationale Isolierung kultureller Phänomene wie auch eine gewisse Voreingenommenheit gegen das Funktionieren typologisch geprägter übernationaler kultureller Sinneinheiten eine gewisse hemmende Wirkung auszuüben. Das slawische Weltbild des jungen Miklosich prägten bekanntlich die südslawische Romantik der slowenischen, kroatischen und serbischen Studenten der Universität in Graz in den dreißiger Jahren des 19. Jhs. und auch die Geisteshaltung des polnischen nationalen Widerstands berühmter polnischer Emigranten, die 1831 in Graz Zuflucht fanden, mit dem Grafen Wladyslaw Tomasz Ostrowski, dem letzten Reichsmarschall von Polen an der Spitze, bei dem Miklosich in Graz als Hofmeister tätig war 22 ). In Wien als Nachfolger Kopitars in den Dienst der Hofbibliothek getreten, machte sich Miklosich die slawistischen Interessen seines Vorgängers zu eigen: Grundfragen der altkirchenslawischen Tradition, die philologisch-kritische Arbeit an ihrer Überlieferung und die Integration der slawischen Philologie in die europäische historisch-vergleichende Sprachwissenschaft. Die liberale geistige Atmosphäre der Hofbibliothek, der Umgang mit Kollegen, die als Wissenschafter bereits einen Namen hatten, und schließlich die Kontakte mit der europäischen Gelehrtenwelt, denen die Hofbibliothek als Quellenfundort diente, das alles trug dazu bei, daß Miklosich, wie kein anderer sonst, in Wien in der Lage war, die 1848 an der Wiener Universität gegründete Lehrkanzel für Slavische Philologie als 35 jähriger Amanuensis der Hofbibliothek zu besetzen. Vergleicht man nun die Tätigkeit Miklosichs mit der Kopitars, so gilt es, allgemein festzuhalten, daß wir es bei Miklosich in allen Bereichen seiner Akti21) R. Nahtigal: Trdina ο Miklosicu (. . .) (Trdina über Miklosich). In: Slavisticna Revija. Ljubljana 3. 1950.S. 1 8 9 — 2 0 2 . 2 2 ) Siehe M. Murko: Miklosichs Jugend- und Lehrjahre. In: Forschungen zur neueren Literaturgeschichte, Festgabe f ü r R. Heinzel. Weimar 1898. S. 495—567.
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vität mit ungleich größeren Breiten- und Höhendimensionen zu tun haben, in der Wissenschaft, im öffentlichen Wirken und im persönlichen Lebensstil. Es waren aber auch die Möglichkeiten, die ihm seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das differenziertere, politisch profiliertere und auch zum Teil demokratisierte Leben der Monarchie bot, günstiger und vielfältiger. Miklosich nahm sie fast alle mit dem gewissen Vorbehalt eines dem Staat zwar konservativ ergebenen, im Denken aber liberal gesinnten Weltbürgers wahr: Miklosich war dreimal, 1851, 1856 und 1865, Dekan der Philosophischen Fakultät und 1854 Rektor der Wiener Universität. Von 1854 bis 1879 war er als Vorsitzender der Staatlichen Prüfungskommission für Mittelschullehrer tätig, und dem Unterrichtsrat, dessen Statuten er entworfen hatte, gehörte er zeit seines Bestehens, von 1864 bis 1867, an. Mit der Berufung ins Herrenhaus 1862 schied er aus dem Dienst der Hofbibliothek. Im Unterrichtsministerium bekleidete er mehrmals die Stelle des Referenten für Universitätsangelegenheiten und im Herrenhaus des Österreichischen Reichstages war er meist in der Budget- und Unterrichtskommission zu Wort gekommen. Nach außen hin trat er politisch meist am gemäßigten Flügel der liberalen Verfassungspartei in Erscheinung. Miklosich wurde 1864 in den erblichen Ritterstand des österreichischen Adels erhoben. Als Universitätsprofessor trat er 1885 in den Ruhestand, er blieb aber bis zu seinem Tode 1891 wissenschaftlich tätig 23 ). Dank der besonderen, zentralen Stellung und Funktion der Wiener Universität in einem übernationalen kulturellen Kommunikationsraum konnte das Wirken Miklosichs auf dem Hochschulboden auf das gesamte Reichsgebiet ausstrahlen und beispielgebend wirken. Das große Reservoir an Talenten der Völker der Monarchie ermöglichten es ihm, sich geeignete Schüler heranzubilden, die seine wissenschaftlichen Theorien und Methoden weiter ausbauten und in den Bildungsstätten des Reiches verbreiteten 24 ). Die intraslawischen Kontakte innerhalb der Habsburgermonarchie boten ihm ein unerschöpfliches Forschungsmaterial und ein schier unbegrenztes jungfräuliches Forschungsterrain, und Miklosich war ein Wissenschafter, der sich auch auf Technik und Ökonomie organisierter wissenschaftlicher Arbeit verstand. Wie sein Briefnachlaß es beweist, war Miklosich auch in das Leben und Treiben der damaligen Wiener Gesellschaft voll integriert, Spannungen einer unbewältigten Akkulturation waren ihm fremd. Das Weltbild und die Werke dieses im übernationalen Österreichertum 23 ) Siehe S. Hafner: Franz Miklosichs Stellung und Leistung in der europäischen Wissenschaft. In: Die Welt der Slaven. 8. 1963. S. 301 ff. 24 ) Zu Miklosichs Schülern zählten bedeutende Slawisten wie: Vatroslav Jagic, Alexander Brückner, Vaclav Vondräk, Matthias Murko, Djura Danicic, Frantisek Pastrnek, Gregor Krek, Karel Strekelj, Anton Janezic, Balthasar Bogisic, St. Smal-Stockij, Anton Semenovic, Emil Kaluzniacki u. a.; siehe S. Hafner: Uber die Bedeutung der Autographensammlung der österreichischen Nationalbibliothek für das Studium der Geschichte der Slavistik. In: Wiener Slavistisches Jahrbuch 8. 1960. S. 182—189.
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verankerten Mitglieds der damaligen Wiener Gelehrtenwelt und dieses bürgerlichen Slawen machen heute auf uns den Eindruck eines in sich geschlossenen intellektuellen Systems. Um so verlockender und auch lohnender ist es, heute nach seinem Verhältnis zur nationalen Revolution der Südslawen und nach seiner eigenen nationalkulturellen Wertskala zu fragen: Man kann dem kroatischen Grammatiker Tomo Maretic beipflichten, wenn er sagt, hätte man nur Miklosichs Bücher und Abhandlungen vor sich liegen, wäre man nicht in der Lage, sich nur das verschwommenste Bild davon zu machen, welchem Lager Miklosich seinem religiösen und politischen Denken nach angehört haben mag 25 ). Ohne Zweifel, Nüchternheit, Wirklichkeitsgebundenheit, eine stets dem wissenschafdichen Gegenstand zugewandte, möglichst alles Subjektive ausschaltende Haltung und auch eine gewisse weltbürgerliche Reserviertheit sind jene Züge, die für Miklosich als Menschen und Gelehrten charakteristisch sind 26 ). In der Zeit der beginnenden Auseinandersetzungen zwischen den sich entfaltenden völkischen Individualitäten und der historischen übernationalen Staatlichkeit in Österreich wich Miklosich Streitfragen politisch-nationalen Charakters prinzipiell aus und hielt sie für einen frivolen Sport der Nationalitätenhetze27). Einen gegen den übernationalen Staatsorganismus gerichteten, auf Nationalstaaten der kleineren mittel- und südosteuropäischen Völker zielenden Nationalismus lehnte Miklosich ab, wobei er das Slawentum als einen integrierenden Bestandteil des österreichischen kulturellen Bewußtseins ansah. Ein solches Nationalbewußtsein mag auch mit der konkreten äußeren und inneren Situation seines eigenen, ohne eigene staatliche Tradition ausgestatteten Volkes im Zusammenhang stehen. Man kann nämlich nirgends nachweisen, daß sich Miklosich jemals nicht als Angehöriger des slowenischen Volkes gefühlt habe. Die Menschheitskultur stellte sich Miklosich prinzipiell als eine „Frucht der Arbeit vieler Völker v o r , . . . die allerdings nicht in gleich hervorragender Weise daran sich beteiligen können" 28 ). Hier ist das dynamische Moment immerhin bemerkenswert, wenn man diesen Standpunkt mit dem statischen, staatsrechtlichen vergleicht. Das nationalkulturelle Prinzip, das uns hier in erster Linie bei Miklosich interessiert, ist aber grundsätzlich sprachlich orientiert. Die Sprache war für Miklosich „eine der größten, wenn nicht die größte Schöpfung des menschlichen Geistes"29), ihr gilt auch in der Wertskala der typischen Elemente des nationalkulturellen Systems der erste Platz. Eine solche Einstellung stand zumindest für die Zeit des Ministeramtes Leo Thuns (1849—1860) im Einklang mit der 26)
T. Maretic. In: Rad Jugosl. A k a d . znanosti i umjetnosti. 1 1 2 . 1892. S. 144. Siehe S. Hafner: Uber Miklosichs Weltbild und das Verhältnis zum Deutschtum. In: Ostdeutsche Wissenschaft 9. 1962. S. 2 3 1 . 2 ' ) Stenographische Protokolle über die Sitzungen des Herrenhauses des Österreichischen Reichsrates v o n 9. 2. 1882. 2 8 ) Siehe Hafner, Über Miklosichs Weltbild . . S. 244. 2 ») Ebenda, S. 253. 26)
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offiziellen Kulturpolitik: „Die tiefere Einsicht um die unverwüstliche Naturkraft, die jeder lebenden Sprache innewohnt, und die Erkenntnis des steigenden inneren Wertes der Erzeugnisse der heimischen Literatur" würde, so lesen wir in einer programmatischen Erklärung Leo Thuns, den „Gemütern jene Beruhigung gewähren, die erforderlich ist, damit verschiedene Sprachen friedlich nebeneinander bestehen"30). Ob Miklosich diesen auf Sprachkultur begründeten Optimismus seines Ministers voll teilte, läßt sich schwer eindeutig sagen. Seine Aktivität auf dem Gebiete der Sprachkultur und der didaktischen Förderung der Sprachkenntnisse des Serbokroatischen und Slowenischen in den Mittelschulen im Rahmen der pragmatischen Phase der Romantik der Südslawen, d. h. nach 1850, läßt sich jedenfalls gut in dieses kulturpolitische Programm einfügen. Als Sprachforscher sah er seine Hauptaufgabe darin, die Philologien der slawischen Sprachen auf das damalige europäische Niveau der vergleichend-historischen Philologien der großen westeuropäischen Sprachen zu heben, um sie als die genuinste Basis für den Aufbau der Nationalkulturen der Südslawen bereitzustellen. Seine weitere Sorge im Sinne dieses nationalkulturellen Programms galt dem wissenschaftlichen Erkennen der eigenständigen Werte der heimischen Literatur, gemäß den literarischen Normen der Romantik und in unserem Falle, der Volksdichtung der Serben, Kroaten und Slowenen. Der beachtenswerte Anteil Miklosichs an der Organisation der serbokroatischen und slowenischen Schriftsprache wird allerdings erst in letzter Zeit besser erkannt, da man sich erst jetzt mit den Funktionsgesetzen und den Normierungsfragen der Standardsprachen intensiver zu beschäftigen beginnt und sich auch näher mit dem Wirken des Mitarbeiterkreises Miklosichs auf dem Gebiete der Normierung der juristischen und wissenschafdichen Terminologie befaßt 31 ). Es ist vielleicht nicht zufällig, daß die einzigen slowenischen Texte aus der Feder von Miklosich mehrere Beiträge für slowenische Gymnasiallehrbücher sind, und in mehrfacher Hinsicht ist auch bezeichnend, daß ein solcher Beitrag — übrigens ein klassischer Text der neu normierten slowenischen Schriftsprache — das Lebenswerk des römischen Staatsmannes und Philosophen aus dem 6. Jahrhundert, Anicius Manlius Boethius, zum Gegenstand hat, eines Mannes, der den jungen Völkern des beginnenden europäischen Mittelalters den Geist der Antike und die Verbindung von religio und ratio vermittelte 32 ). Und was die Literaturwissenschaft betrifft, so hat den wahren Wert der 30) Ebenda, S. 254. 31 ) Siehe M. Groden: Miklosicev prispevek k oblikovanju slovenskega knjizevnega jezika (. . .) (Der Beitrag Miklosic' zur Bildung der slowenischen Schriftsprache). In: 8. Seminar slovenskega jezika, literature in kulture, 3—15. julija 1972. Ljubljana 1972. S. 216—236; S. Hafner: Djura Danicic kao ucenik Frana Miklosica (. . .) (D. D. als Schüler F. Miklosic'). In: Naucni Sastanak Slavista u Vukove dane. 5.1975. Beograd 1976. S. 473—482. 32 ) Slovensko berilo za 5. gimnazijalni razred 1853. S. 127—130. (Slowenisches Lesebuch für die 5. Gymnasialklasse).
Die österreichische Slawistik und die Nationalkulturen der Südslawen
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Arbeiten Miklosichs über die Volksdichtung der Serben und Kroaten, vor allem des Aufsatzes: Die Darstellung im slavischen Volksepos, erst unsere Zeit richtig erkennen können 33 ). Auch die Tätigkeit Miklosichs im Herrenhause des Österreichischen Reichsrates fügt sich nahdos in sein wissenschaftliches Weltbild ein, das, wie wir sahen, eine originelle Synthese eines nationalen Bewußtseins, das den konkreten historischen und kulturellen Situationen der Südslawen Rechnung trug, und eines Denkens war, das in übernationalen Traditionen, in liberaler Gesinnung und in der Tatsachenforschung des 19. Jahrhunderts verankert ist: Miklosich hat als Mitglied des Herrenhauses nicht oft das Wort ergriffen, um so schwerer wogen seine Auftritte: Zwei verdienen in unserem Zusammenhang besondere Beachtung: Der erste ist eine Stellungnahme zur Frage der Katholizität der Wiener Universität (Sitzung vom 28.1. 1873), wo er sich eloquent für die Freiheit der Wissenschaft und des Unterrichts an den österreichischen Universitäten einsetzte und die Freiheit als „kostbare Errungenschaft der Neuzeit, welche wir durch die Grundrechte erhalten haben", nannte. In dieser berühmten Rede über die Freiheit der Wissenschaft an der Universität heißt es ferner: „. . . Man meint, daß aus den Hörsälen einer nicht konfessionellen Universität eine ganze Rotte von Sozialdemokraten und ähnlichen, für furchtbar geltenden Leuten hervorgehen werde. Ich glaube, daß das durchaus nicht zu besorgen ist. Die Universität hat die Mission, durch wissenschaftliche Arbeit zur Selbständigkeit des Denkens und Handelns zu bilden. Das ist ihre hohe Bestimmung. Was nun aus den auf diese Weise selbständig gewordenen Männern wird, das ist ihnen überlassen. Es werden aus der Universität Leute jeder Schattierung, jeder Farbe hervorgehen, Absolutisten ebenso gut wie Radikale, Konservative wie Liberale. Mögen sie dann wirken nach ihrem besten Wissen und Gewissen, und der Partei dienen, die sie für die rechte halten; es ist gut, daß alle Parteien vertreten seien, und wehe dem Staate, in dem nur eine Partei herrscht. . ." 34 ) Diese Aussagen erhalten aber noch größere Bedeutung, wenn man in Betracht zieht, daß zu Miklosichs engstem Freundeskreis Männer wie Franz Brentano, Ernst Wilhelm Brücke, Ottokar Lorenz, Theodor Gomperz zählten, die in der österreichischen Geistesgeschichte einen hervorragenden Platz einnehmen und heute auch entsprechend gewürdigt werden 35 ). Eine zweite große Rede im Herrenhaus hielt Miklosich, als es um die Errichtung der tschechischen Universität in Prag ging: Der Text ist großösterreichisch-patriotisch und gleichzeitig den tschechischen Wünschen gegenüber positiv eingestellt. Als Verfechter einer funktionierenden internationalen 33) Vgl. S. Hafner, Franz Miklosichs Stellung, S. 315. 34 ) Siehe Stenographische Protokolle über die Sitzungen des Herrenhauses des österreichischen Reichsrates vom 28. 1. 1873, S. 284 ff. 35 ) Siehe dazu u. a. Johnston, Österreichische Kultur- und Geistesgeschichte.
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wissenschaftlichen Kommunikation gab Miklosich allerdings zu bedenken, daß die sprachlichen Voraussetzungen für eine tschechische Universität vorläufig noch nicht gegeben seien, da es in der tschechischen Sprache noch keine ausgebaute wissenschaftliche Terminologie gäbe und da anderseits das wissenschaftliche Leben nur von drei oder vier Sprachen getragen werde 36 ). Ein nicht unwesentlicher Faktor in der Entwicklung der österreichischen Slawistik, auch wenn man die Dinge nur von der national-kulturellen Seite aus betrachtet, ist das in der europäischen Wissenschaftsgeschichte in dieser Qualität einmalige Vorhandensein der festen, inneren Kontinuität einer wissenschaftlichen Evolution. Drei Generationen, vertreten durch Kopitar, Miklosich und Jagic, bildeten eine geschlossene Entwicklungslinie, die auf solche Weise, daß jeder auf den Grundlagen seines Vorgängers organisch aufbaute, zu jener breiten und hohen Qualität emporstieg, wie sie im Wirken von Vatroslav Jagic feststellbar ist. Auch die Tatsache, daß jeder der drei Wiener Slawisten seinen richtigen Nachfolger gefunden hat, besser gesagt, finden konnte und durfte, mag das Seine zu diesem Aufstieg beigetragen haben. Der kroatische Romanist Petar Skok hat 1949 festgestellt, daß der Umstand, daß Jagic die damalige Provinzstadt Zagreb verließ, wo er bereits als Mittelschullehrer und junger Wissenschafter erfolgreich wirkte, eigentlich als ein glückliches Ereignis zu bewerten sei, da es Jagic ermöglichte, die Transformation der Slawistik von einer regionalen in eine internationale und intraslawische Wissenschaft durchzuführen 37 ). Damit hat Petar Skok für das Lebenswerk von Jagic eine knappe, aber treffende Formulierung gefunden. Vatroslav Jagic verließ Zagreb, um in Odessa von 1871—74 als Professor für Komparativistik und Sanskrit zu lehren. Von Odessa folgte er einem Ruf an die Berliner Universität, wo er bis zu seiner Berufung nach Petersburg 1880 blieb. Als Nachfolger Sreznevskijs in Petersburg wirkte er bis 1886. Dann rief ihn Miklosich nach Wien. So kehrte er am Gipfelpunkt einer glänzenden Gelehrtenlaufbahn zu seinem Lehrer zurück und brachte sein 1875 in Berlin begründetes Archiv für Slavische Philologie mit, das mittlerweile eine europäische slawistische Zeitschrift geworden war. Eine Zeitschrift, die durch fünf Jahrzehnte die europäische Slawistik in sich vereinigte und als ein echtes slawistisches Zentralorgan der Forschung eine einheitliche Orientierung gab und für ihr Niveau sorgte38). Schon das äußere Bild dieses Lebens zeigt nicht mehr österreichische, sondern europäische Dimensionen. Mit wissenschaftlichen und kulturellen Erfahrungswerten ausgestattet, wie vor ihm noch niemand, nahm, um bei den s«) Siehe Stenographische Protokolle vom 9. 2. 1882. S. 770 ff. Siehe P. Skok: Jagic u Hrvatskoj ( . . . ) (Jagic in Kroatien). In: Rad Jugoslavenske Akad. znanosti i umjetnosti. 278. 1949. S. 33. 38 ) Siehe ebenda, S. 6; R. Jagoditsch: Die Lehrkanzel für Slavische Philologie an der Universität Wien, 1849—1949. In: Wiener Slavistisches Jahrbuch. 1. 1950. S. 25 ff. mit weiterer Literatur. 37 )
Die österreichische Slawistik und die Nationalkulturen der Südslawen
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südslawischen Nationalkulturen zu bleiben, Jagic in Wien auch die wissenschaftliche Ausbildung seiner südslawischen Landsleute in die Hand, einer Slawistengeneration, die sich in den komplizierten Vollendungsprozessen junger Nationalkulturen bewähren sollte 39 ): Ein vom Liberalismus geschaffenes, kulturell verhältnismäßig tolerantes geistiges Klima im Vielvölkerstaat bot Ende des 19. Jahrhunderts den Integrierungsmechanismen der nationalkulturellen Kommunikation und Rezeption freie Räume der kulturellen Entfaltung. Auf diese Weise konnten auch die wissenschaftlichen Leistungen der österreichischen Slawistik bildungspolitisch besser in die Breite wirken und zur nationalen Gruppenbewußtseinsbildung beitragen. Und auch das wissenschaftliche Profil der slawischen Philologie als Kulturwissenschaft bot eine geeignete Basis für die Intensivierung und Objektivierung der Erforschung der national-typischen Elemente der slawischen Kulturen der Monarchie 40 ). Auf diese Weise konnte die österreichische Slawistik die Grundlagen für die südslawischen nationalen Kulturen im Sinne eigenständiger kultureller Systeme schaffen. Die Demokratisierung und Intellektualisierung des nationalsprachlichen Bildungswesens in Österreich und soziale Umschichtungsprozesse haben inzwischen auch bei den Südslawen die aktive Publikumsbasis verbreitert und den Kreis individueller schöpferischer Kräfte vermehrt. So entstanden einigermaßen vollständige Profile der nationalkulturellen Modelle der Slowenen, Kroaten und Serben, und sie wurden als Einheiten subjektiviert. Der Slawistik in Wien und in Graz 4 1 ) fiel auf diese Weise auch die kulturpolitische Aufgabe zu, einerseits die wissenschaftliche Fundierung dieses differenzierten und potentierten nationalkulturellen Gruppenbewußtseins zu besorgen, und andererseits aber auch die kulturhistorisch eiforderliche gesamtslawische Basis und das slawische Solidaritätsbewußtsein — beide Elemente waren noch ein Vermächtnis der slawischen Romantik —, wissenschaftlich zu kultivieren 42 ). So glaube ich nicht fehlzugehen, wenn ich die national3 9 ) Unter V. Jagic habilitierten sich: Karel Strekelj (1886); Frantisek Pastrnek (1889); A. Kolessa (1892); Vaclav Vondräk (1893); Milan Resetar (1895); Matthias Murko (1897). Zu Schülern von Jagic zählten der geniale Lieblingsschüler Vatroslav Oblak, der 1896 früh verstarb, Ion Bogdan, Rajko Nahtigal, Ivan Grafenauer, France Kidric, Ivan Prijatelj, N . Speranskij, I. Karäsek, D. Matov u. a. 4 0 ) Siehe die breite Definition des Begriffes Slawische Philologie bei V. Jagic, in seiner Istorija slavjanskoj filologii (. . .) (Geschichte der slawischen Philologie). Sanktpeterburg 1910. S. 1. 4 1 ) Siehe S. Hafner: Die Slawistik an der Universität in Graz bis 1918. In: Anzeiger für Slavische Philologie. 6. 1972. S. 4 ff. mit weiterer Literatur. 4 2 ) So haben ζ. B . die Slawisten der Universitäten Wien und Graz, alle Schüler von Miklosich und Jagic, die wissenschaftliche Slowenistik begründet und sie nach 1918 nach Ljubljana übertragen. — Eine besondere Rolle innerhalb der Grazer Slawistik in den Jahren 1891—1918 fällt der Tätigkeit eines Begründers der slawischen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Jan Peisker, zu.
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kulturelle Seite der Aktivität des berühmten Jagic-Seminars an der Wiener Universität als einen dynamischen Prozeß des Zusammenwirkens polarer Kräfte der südslawischen kulturellen Desintegration und Integration charakterisiere. Es wird aber noch vieler Arbeit bedürfen, bis wir in der Lage sein werden, die typologischen Gemeinsamkeiten der Funktion der letzten Etappe der österreichischen Slawistik in der Monarchie vollständig zu erkennen. Die zentrale bildungspolitische Position der Wiener slawistischen Ausbildungsstätte mit Vatroslav Jagic an der Spitze ist im alten Österreich für eine ganze Generation der Slawisten unbestritten. Ein Netz von Wiener Schülern verband damals die gesamte slawische Bildungswelt der Monarchie zu einer Einheit und machte sie zu einem kulturellen Faktor, dessen Bedeutung erst in der Zwischenkriegszeit, als die einzelnen Jagic-Schüler bei ihren mittlerweile selbständig gewordenen Völkern kulturelle Spitzenpositionen erreichten, zum Vorschein kam. Die solide sprachwissenschaftliche Ausbildung befähigte die Jagic-Generation, es waren fast ausschließlich Slawen ihrer Herkunft nach 43 ), auch die Ausbauprozesse ihrer Nationalsprachen im Einklang mit der zeitgenössischen Wissenschaft und der gesamtslawischen Basis zu lenken 44 ), das stürmisch sich entfaltende literarische Leben bei den einzelnen Völkern, ich meine hier vor allem die Südslawen, literaturhistorisch zu integrieren 45 ), und auch den Ubergang von der gesamtslawischen Kultur und Sprachwissenschaft zu den Slawistiken der einzelnen Nationalsprachen und Nationalkulturen in richtigen Dimensionen zu halten und so diese einzelnen Slawistikstränge zu nationalen Wissenschaften zu machen46). Ich habe versucht, von einer Eigengesetzlichkeit der Dynamik der nationalkulturellen Entwicklung der Slawen in der Habsburgermonarchie auszugehen und in dieser Entwicklung die Rolle der österreichischen Slawistik skizzenhaft aufzuzeigen, soweit dies die Slowenen, Kroaten und Serben betrifft. Es ging mir ferner darum, die Aufmerksamkeit auf den südslawischen Beitrag zu einer übernationalen historischen relativen Einheit der österreichischen Kultur- und Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts zu lenken, vor allem deswegen, weil ich sehe, daß eine solche Fragestellung heute meines Erachtens in der europäischen übernationalen Kulturwissenschaft eine gewisse Aktualität besitzt. 4 3 ) V o n 74 Dissertanten, die in der Zeit v o n V . Jagic in Wien in Slawischer Philologie als Hauptfach promoviert wurden, waren nur drei bis vier Nichtslaven. Siehe DissertationsVerzeichnis der Philosophischen Fakultät der Universität Wien. Bd. 2. Wien 1936. S. 232 bis238. 4 4 ) A u f dem Gebiete der Slowenistik und der Normierung der slowenischen Standardsprache arbeiteten besonders die Lehrer und Schüler der Grazer Slawistik, wie G r e g o r K r e k , Karel Strekelj, Stanislav Skrabec, A n t o n Breznik und J a k o b Sket. 4 5 ) Hier sei besonders erwähnt die Tätigkeit der Jagic-Schüler France Kidric und Ivan Prijatelj im Bereich der slowenischen Literatur. 4 6 ) Zur Problematik der A u f l ö s u n g der österreichischen Gesamtslawistik in die Philologien der einzelnen slawischen Sprachen siehe R. Nahtigah U v o d ν slovansko filologijo (. . .) (Einführung in die slawische Philologie). Ljubljana 1949. S. 26 ff.
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DIE R O L L E DER UNIVERSITÄT MÜNCHEN IM G E I S T I G E N A U S T A U S C H M I T DEN L Ä N D E R N S Ü D O S T E U R O P A S Z W I S C H E N 1826 U N D 1914 Die nachfolgenden Ausführungen stellen kein abgeschlossenes Forschungsergebnis dar, sondern sie skizzieren den Rahmen und erste, vorläufige Beobachtungen eines umfassenden Forschungsvorhabens. Sie sollen zu ähnlichen Untersuchungen der anderen deutschen höheren Bildungseinrichtungen anregen, weil nur durch die Erfassung der Südostbeziehungen aller Hochschulen ein tragfähiges Gesamtbild des wechselseitigen Austauschs auf dem Felde der höheren Bildung gezeichnet werden kann. Dabei muß die Tatsache im Auge behalten werden, daß überindividuelle kulturelle Beziehungen nicht von dem Hintergrund der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse gelöst werden können. In dieser Hinsicht hat der altbairische Staat vor dem Zeitalter der Französischen Revolution nur vergleichsweise spärliche Berührungen mit dem südöstlichen Teil des europäischen Kontinents gehabt. Zu denken wäre etwa an die Beteiligung bayerischer Truppenkontingente an den Türkenkriegen des 17. Jahrhunderts, an die Handelsverbindungen von Städten wie Augsburg, die auf später bayerischem Territorium lagen, aber auch daran, daß es an der Landesuniversität Ingolstadt im 16. und 17. Jahrhundert Theologen und Philologen gab, die sich eindringlich mit byzantinischen Texten befaßten 1 ). Die Konjunktur der territorialen Revolution Mitteleuropas durch Napoleon I. ausnützend, stieg Bayern zum Königreich mit einem fast verdoppelten Umfang auf. Weil es aber im Vergleich zu den damaligen europäischen Großmächten noch immer nur ein Staat mittleren Gewichts war, konnte es einen Prinzen auf den Thron des vom Reiche des Sultans abgetrennten Neu-Griechenlands bringen. Auf diese Weise wurden über fast eine Generation (1830 bis 1862) lebhafte und vielfältige dynastische, diplomatische und wirtschaftliche Verbindungen zu einem südosteuropäischen Lande unterhalten, die sich 1 ) Vgl. H.-G. Beck: Die byzantinischen Studien in Deutschland vor Karl Krumbacher. In: Chalikes. Festgabe für die Teilnehmer am XI. Internationalen Byzantinisten-Kongreß München 1 5 . - 2 0 . September 1958, hrsg. von H.-G. Beck. München 1958. S. 66—119, besonders S. 83 ff.
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auch auf den Bereich der kulturellen Kontakte fördernd auswirkten. Gegen Ende des Jahrhunderts ist die Organisation von Forschung und Lehre der Byzantinistik an der Universität München durch ihren Begründer Karl Krumbacher mit der philhellenischen Hochflut der zwanziger Jahre verknüpft 2 ). Der gerade erst auf den Thron gekommene König Ludwig I. verlegte 1826 die alte Ingolstädter Landesuniversität von Landshut nach München und leitete damit ihr äußeres und inneres Wachstum ein, das sie bald die anderen bayerischen Universitäten Erlangen und Würzburg an Rang und Ansehen überholen ließ und sie im letzten Jahrhundertdrittel nach Berlin und (vielleicht neben Leipzig) an die zweite Stelle unter den deutschen Universitäten führte. Die Geschichte der „Alma mater Monacensis" ist von der Forschung noch nicht befriedigend aufgearbeitet worden. Noch immer durch ihren Materialreichtum (einschließlich der im zweiten Band abgedruckten Quellen) grundlegend ist die Gesamtdarstellung von Carl Prantl, die zum 400. Jubiläum der Gründung erschien3). Wenigstens einen Überblick, mit der notwendigen Ergänzung für das fünfte Jahrhundert des Bestehens, brachte das Jubiläumsjahr 19724). Wenn auch in den letzten zehn Jahren wichtige Quellenveröffentlichungen und monographische Darstellungen publiziert wurden 5 ), so bleibt noch genug zu tun sowohl auf dem Felde der allgemeinen Entwicklung der Universität wie auf dem ihrer Fakultäten und Mitglieder. Sehr wenige Studien liegen bisher über die Außenbeziehungen dieser Hochschule, insbesondere über ihre außerbayerischen Studenten vor, ganz im Gegensatz zu anderen deutschen Universitäten wie Berlin, Göttingen, Halle, Heidelberg, Jena, Leipzig, Tübingen und Wittenberg 6 ). Lediglich für die alte Ingolstädter Universität liegt eine Darstellung ihrer polnischen Schüler vor, wobei soweit wie möglich auch deren weiterer Lebensgang nach dem Studienabschluß geschildert wird 7 ). 2)
/. B. Aufhauser: Karl Krumbacher. Erinnerungen, ebenda, S. 165. C. Prantl: Geschichte der Ludwig-Maximilians-Universität in Ingolstadt, Landshut, München. 2 Bde. München 1872. 4) L. Boehm, J. Spörl (Hg): Ludwig-Maximilians-Universität Ingolstadt, Landshut, München 1 4 7 2 — 1 9 7 2 . Berlin, München 1972. Dazu die wertvolle Ergänzung durch dieselben Herausgeber: Die Ludwig-Maximilians-Universität in ihren Fakultäten. Bd. 1. Berlin, M ü n chen 1972. s ) V o r allem in der wiederum v o n L . Boehm und J . Spörl herausgegebenen Reihe „Ludovico-Maximilianea". Forschungen und Quellen. Berlin, München 1971 ff. 6 ) V g l . die verschiedenen Titel i n : F. Valjavec: Geschichte der deutschen Kulturbeziehungen zu Südosteuropa. Bd. 5. München 1970. S. 8 — 1 1 0 . ( = Südosteuropäische Arbeiten, Bd. 45.) Die meisten dieser Studien befassen sich indessen jeweils nur mit einer nationalen G r u p p e v o n Studenten. 7) Ks. P. Cyßplewski: Polacy na studyach w Ingolsztacie, ζ r§kopisöw uniwersytetu Monachijskiego (Polen zum Studium in Ingolstadt nach A k t e n der Münchener Universität). Poznan 1914. Für das erste Jahrhundert der Universitätsgeschichte liefert eine Gesamtanalyse L. Bu^as: Die Herkunft der Studenten der Universität Ingolstadt v o n der G r ü n d u n g der Universität bis zur Gründung des Jesuitenkollegs (1472—1556). In: Sammelblatt des historischen Vereins Ingolstadt 72. 1963. S. 1 — 6 8 . 3)
Die Rolle der Universität München
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Wenn daran die Forschung bisher nicht anknüpfte, so dürfte eine der Ursachen in dem teilweisen Verlust der Matrikelbücher in den letzten Kriegstagen sein 8 ). Eine Darstellung der Südostbeziehungen der Münchner Hochschule kann nur auf wenigen Gebieten auf Vorarbeiten zurückgreifen. So gibt es einige Beiträge zur Entfaltung der byzantinischen Studien 9 ). Es empfiehlt sich daher, zunächst mit einer eingeschränkteren Zielsetzung ans Werk zu gehen. Die Studenten aus den Ländern des Donauraums und der Balkan-Halbinsel haben sicherlich einen wesentlichen Anteil an der Entfaltung jener geistigen Verbindungen. Da für das 19. Jahrhundert jedoch die Matrikeln nicht gedruckt werden konnten — die gedruckten Verzeichnisse der Hörer, im Anschluß an die Verzeichnisse des Lehrpersonals, können diese Quellenlücke nur teilweise schließen —, mußte eine weitere Verengung der Fragestellung vorläufig in Kauf genommen werden. Es sollen also zunächst nur die Promotionen südosteuropäischer Studenten in München untersucht werden. Einerseits stellt die Auszeichnung mit dem Doktor-Grad für die Mehrzahl der Universitätsbesucher den End- und Höhepunkt ihrer Ausbildung dar, andererseits bestand zumindest im 19. Jahrhundert die bindende Verpflichtung, eine Doktorarbeit im Druck vorzulegen 10 ). Dem gegenüber sind die verschiedenen Staatsexamina für die Kommilitonen aus dem europäischen Südosten weniger wichtig 11 ). Noch wurde nicht definiert, was in diesem Zusammenhang unter dem „europäischen Südosten" zu verstehen ist. Ohne mich in den Streit um das zu verschiedenen Zeiten in unterschiedlicher Weise gelöste begriffliche Problem einzulassen, begreife ich unter Südosteuropa: das Osmanische Reich (bis zur heutigen Südgrenze der türkischen Republik, aber einschließlich der Insel Cypem), die von der Herrschaft des Sultans sich lösenden neuen Staaten Rumänien, Bulgarien, Griechenland, Serbien, Montenegro und Albanien und von dem Kaisertum Österreich bzw. der österreichisch-ungarischen Monarchie die Bukowina, die Slowakei sowie die ungarischen und südslawischen Landesteile. Diese Grenzlinie wird in einer Reihe von Fällen überschritten, 8 ) Veröffentlicht wurden drei Bände, die Jahre 1472—1750 umfassend, durch Götz Freiherrn von Pölnitz, München 1937—1941 ff. Bd. 3, 2 (1979), Bd. 4 (1981) [—1800, alphabetisches Register]. 9 ) Vgl. den in Anm. 1 genannten Sammelband, der fünf einschlägige Studien enthält. Ferner den allgemeinen Abriß von E. Turczynski: München und Südosteuropa. In: Wirtschaft und Gesellschaft Südosteuropas. Gedenkschrift für Wilhelm Gülich. ( = Südosteuropa. Schriften der Südosteuropa-Gesellschaft. Bd. 2.) München 1961. S. 321—413. 10 ) Diese Doktorarbeiten mußten ursprünglich vor der mündlichen und schriftlichen Doktorprüfung gedruckt eingereicht werden. Wann diese Bestimmung geändert wurde, kann ich noch nicht sagen. 1 1 ) Um die der Promotion vorgeschaltete ärztliche Approbationsprüfung kamen indessen die künftigen Ärzte nicht herum.
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wenn es sich um Studenten einer südosteuropäischen Nationalität (Griechen, Rumänen) handelt, die auf dem Boden des Zarenreiches, insbesondere in Bessarabien, geboren wurden. Die zeitliche Eingrenzung rechtfertigt sich einmal damit, daß vor 1826 — soweit bis jetzt zu erkennen — keine nennenswerte Zahl von Studenten aus Siidosteuropa nach München kamen, zum anderen mit dem tiefgreifenden Einschnitt des Ersten Weltkrieges, der sowohl die materielle wie die Bildungssituation im Deutschen Reich wie im Südosten nachhaltig veränderte 12 ). Daß freilich die im 19. Jahrhundert angeknüpften Bildungskontakte nach Deutschlands Zusammenbruch teilweise erstaunlich schnell wiederaufgenommen wurden, soll nicht übersehen werden 13 ). Mit der bibliographischen Erfassung aller an der Universität Ingolstadt Landshut - München jemals verfaßten Doktorarbeiten (bis 1970) wurde der Forschung eine vorzügliche Grundlage geschaffen 14 ). Die Bearbeiter haben sowohl die umfangreiche, wenn auch nicht ganz vollständige Sammlung der gedruckten Promotionsurkunden (im Universitätsarchiv) als auch eine ungedruckte handschriftliche Bibliographie für die Jahre 1826—188515), aufgrund der Dekanatsverzeichnisse 1941—1943 entstanden, sowie verschiedene universitätsgeschichtliche gedruckte Unterlagen herangezogen. Leider ist ein Teil der hier nachgewiesenen Doktorschriften infolge der Kriegsverluste bei der Münchner Universitäts- und der Bayerischen Staatsbibliothek zunächst nicht zugänglich 16 ). Diese Dissertationen stellen eine wichtige Erkenntnisquelle für die Frage der geistigen Beziehungen dar. Vielfach enthält schon das Titelblatt einen Hinweis auf die Herkunft des Verfassers, wenn der Name selbst diese nicht verrät 17 ). Meist auf die Rückseite des Titelblattes steht der Name des Referenten (Doktorvaters), in späterer Zeit auch der des zweiten Referenten 18 ). Allerdings sind anscheinend bis über die Jahrhundertmitte hinaus die Dissertatio12 ) Bei den Promotionen erfasse ich alle, die bis zum Jahre 1918 einschließlich erfolgten, weil man annehmen darf, daß die Absolventen der Jahre 1915—1918 ihr Studium in München vor 1914 begonnen haben. 13 ) Diese Kontinuität weiterzuverfolgen wird Aufgabe eines späteren Arbeitsabschnittes sein. 14) L. Resci, L. Bu^as: Verzeichnis der Doktoren und Dissertationen der Universität Ingolstadt, Landshut, München 1472—1970, Bd. 1—9. München 1975—1979. 16 ) Mit diesem Jahr beginnt die laufende Berichterstattung im Jahresverzeichnis der deutschen Hochschulschriften. 16 ) Manche werden wohl noch von anderen bayerischen und deutschen Universitätsbibliotheken zu beschaffen sein. Die in den Akten des Universitätsarchivs enthaltenen Exemplare sind zumeist an die Bibliothek abgegeben worden. 17 ) Zum Beispiel bei Siebenbürger Sachsen. Allerdings wird manchmal der Geburtsort, in anderen Fällen der Wohnort angegeben, ohne daß hierfür eine Regel erkennbar ist. 18 ) Fehlt diese Angabe, kann sie öfters aus Einleitung oder Schlußbemerkungen des Textes entnommen oder wenigstens mit hoher Wahrscheinlichkeit vermutet werden.
Die Rolle der Universität München
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nen in München bei der Beurteilung nicht vorwiegend von einem einzelnen Hochschullehrer verantwortet worden 19 ). Häufig enthalten diese akademischen PrüfungsSchriften eine Widmung, aus deren Form und Inhalt sich mit Vorsicht Rückschlüsse auf den Verfasser und seine Situation ziehen lassen. Besonders wichtig sind die den Dissertationen in der Regel am Ende angefügten Lebensläufe. Das erste Exemplar einer Doktorarbeit mit Lebenslauf stammt aus dem Jahr 1886. Leider fehlen aber auch nach diesem Zeitpunkt nicht selten die „Curricula vitae", entweder weil die einzelnen Fakultäten unterschiedliche Bestimmungen erlassen hatten oder weil die Einhaltung der Vorschrift nicht überwacht worden war. Inhaltlich sind diese Lebenszeugnisse fast durchwegs sehr karg 20 ). Bei den Geburtsdaten von Studenten, in deren Heimat noch nach dem Gregorianischen Kalender gezählt wurde, ist meist nicht sicher, ob sie nach altem oder neuem Stil ihren Geburtstag bestimmen. Nicht immer werden beide Eltern mit Namen genannt, die Angabe des väterlichen Berufs fehlt ungefähr ebensooft, wie sie erwähnt wird. Der Bildungsgang ist dagegen meist sehr genau geschildert, dagegen vermißt man eine Begründung, weshalb gerade die Universität München gewählt wurde. Gelegentlich findet sich noch ein Hinweis im Lebenslauf (oder auf dem Titelblatt) über die berufliche Stellung des Autors zur Zeit seiner Promotion. Alle diese Angaben sind nicht ohne weiteres verwertbar, weil die Doktoranden nicht nur die Bildungseinrichtungen ihrer Heimatländer mit Begriffen aus ihrer deutschen Umwelt bezeichneten, sondern auch ihre Vornamen eindeutschten. Die Transkription der in nichtlateinischen Schriften belegten Familien- und Ortsnamen erfolgte offenbar nach den individuellen linguistischen Fähigkeiten der Verfasser und ist demgemäß wenig einheitlich. Schließlich bietet der Inhalt der Arbeiten noch Aufschlüsse über ihre Urheber, wobei freilich das Zeittypische in vielen Fällen das Individuelle zurückdrängt. Man darf unterstellen, daß in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle das Thema nicht vom Kandidaten vorgeschlagen, sondern von einem akademischen Lehrer 21 ) angeregt wurde. Über die gedruckten Dissertationen hinaus führen dann die erhaltenen Promotionsakten. Hier finden sich das Reifezeugnis mit deutscher Ubersetzung, manchmal das „Meldungsbuch" (Studienbuch), die gedruckten Thesen für die öffentliche Disputation mit der Angabe des Opponenten, der Bericht des Referenten über die eingereichte Dissertation und das Prüfungsprotokoll. Leider sind diese Aktenbestände im Einzelfalle nicht immer komplett und, was schlimmer ist, sie fehlen vollständig, vor allem in der ersten Jahrhunderthälfte, ohne daß man die Ursache hierfür kann1 9 ) Die Promotionsordnungen, die vor dem Ende des 19. Jahrhunderts galten, habe ich noch nicht einsehen können. a0 ) Das dürfte Absicht gewesen sein; denn die handschriftlichen Lebensläufe in den Akten sind, nach Stichproben zu urteilen, ausführlicher. 2 1 ) Der häufig gerade bei den Medizinern nicht mit dem Referenten identisch ist.
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te 22 ). Immerhin kann schon jetzt gesagt werden, daß in vielen Fällen, wo ein gedruckter Lebenslauf nicht vorhanden ist, die Lücke durch handschriftliches Material geschlossen werden kann 23 ). Zwischen 1826 und 1918 promovierten 244 Studenten und zwei Studentinnen aus Südosteuropa an der Universität München 24 ). Den Reigen eröffneten der bekannte bulgarische Aufklärer Dr. Peter Beron und ein gewisser Joseph Johann Nepomuk Attomyr aus Diakovar (Djakovo) im Jahre 1831. Solange die Gesamtzahl noch nicht als gesichert gelten kann, ist es nicht sinnvoll, sie in Beziehung zu setzen zu der Zahl der übrigen ausländischen Studenten an der Ludwig-Maximilians-Universität oder zu der ganzen Studentenschaft. So viel kann aber schon jetzt gesagt werden, daß die „Südosteuropäer" etwa im Vergleich zu den „Osteuropäern" (Polen, Russen) oder gar den „Westeuropäern" (Franzosen, Engländer, Schweizer) die weitaus stärkste Gruppe nichtdeutscher Studenten darstellten. Der Zustrom südosteuropäischer Studenten nach München (wobei in diesem Arbeitsabschnitt die Technische Hochschule, die Akademie der bildenden Künste und die Musikhochschule außer Betracht bleiben) verlief in den folgenden Jahrzehnten zwar kontinuierlich, aber nicht gleichmäßig. Legt man der Berechnung jeweils ein Jahrfünft zugrunde, wodurch die Zufälligkeiten einzelner Jahre in etwa ausgeglichen werden, dann waren es zwischen 1831 und 1848 je Lustrum zwischen acht und zehn Promotionen, zwischen 1849 und 1864 stieg die Zahl auf elf bis 15 an, um dann zwischen 1865 und 1875 auf drei bis fünf abzusinken. Von 1876 an liegen die Wachstumszahlen alle fünf Jahre deutlich höher: 1876—1880 : 1881—1886: 1887—1892: 1893—1898:
9 15 15 17
1899—1904: 23 1905—1910: 38 1911—1915: 46
Die hier skizzierte Wachstumskurve kann erst dann schlüssig interpretiert werden, wenn auch die entsprechenden Bewegungen der Promotionen anderer deutscher und ausländischer Universitäten vorliegen. Wie waren nun die einzelnen südosteuropäischen Staaten an der Gesamtzahl der Studenten beteiligt? Bei der Beantwortung wurde jeweils der territoriale Zustand bei der Geburt 25 ) des einzelnen Studenten zugrunde gelegt. Auf diese Weise ergab sich folgende Tabelle: 22 ) Vermutlich ist das Verfahren der Fakultäten damals viel weniger formalisiert und schriftlich gewesen. 23 ) Die Durcharbeitung der Akten steht erst am Anfang. 24 ) Diese und alle folgenden Zahlen unter dem Vorbehalt später notwendig werdender Korrekturen nach vollständiger Auswertung der Akten. 25 ) Fehlten die Lebensläufe, wurde ein Zeitpunkt Promotionsjahr minus 24 Jahre als Annäherungswert gewählt.
Die Rolle der Universität München
Türkisches Reich Griechenland Österreich(-Ungarn) Rumänien Serbien Bulgarien
70 46 42 28 21 20
Rußland (Bessarabien und Ukraine) England (Ionische Inseln) Deutschland (Sohn eines Diplomaten) 26 )
245 8 4 1
Ein zutreffenderes Bild der Bedeutung der ein2elnen Münchner Studenten für den Herkunftsstaat würde sich ergeben, rechnete man diese Zahlen auf die jeweilige Einwohnerschaft bzw. die Gesamtzahl der im Ausland studierenden Landeskinder um. Das erstere wird später versucht werden, das letztere bedarf wiederum der von anderen Forschern zu erarbeitenden Unterlagen. Die besondere Bildungsdynamik der Einwohner des griechischen Staates springt in die Augen, auch wenn man berücksichtigt, daß das Königreich Hellas gegenüber den anderen balkanischen Kleinstaaten am längsten die staatliche Unabhängigkeit genoß. Noch deutlicher tritt der Bildungswille der Griechen hervor, wenn man einer Statistik nicht die Staatszugehörigkeit, sondern die Muttersprache zugrunde legt, die mit einiger Sicherheit aus den Namensformen zu erschließen ist. Es ergibt sich dann folgende Tabelle: Griechen 106 Rumänen 30 Deutsche aus den südosteuropäischen Volksgruppen 28 Serben 27 ) 24 Bulgaren 20 Juden 28 ) 12 Kroaten 5
Ungarn Slowenen Ukrainer Aromunen Armenier Slowaken Italiener (aus Kreta) Reichsdeutsche
5 3 2
Bei sechs weiteren jungen Doctores war die nationale Zuordnung noch nicht möglich. Daß diese Tabelle allein noch wenig über das jeweilige Studium südosteuropäischer Studenten außerhalb der heimischen Universitäten aussagt, läßt sich an der geringen Zahl der magyarischen Studenten in München ablesen. Die meisten ungarischen Akademiker besuchten wenn nicht die Budapester Hochschule, dann Wien. Verteilt man die 246 Dissertationen 26 ) In sechs Fällen konnte die Einreihung mangels verfügbarer Daten noch nicht vorgenommen werden. 27 ) Die Unterscheidung von Kroaten ist nicht in jedem Falle gesichert. 28 ) Hier ist die Abgrenzung gegenüber Deutschen aus den südöstlichen Volksgruppen nicht in jedem Falle zweifelsfrei.
246
GERHARD G R I M M
nach ihrem Inhalt auf die einzelnen Wissenschaftsdisziplinen, entsteht folgende Reihung: Medizin Volkswirtschaft Byzantinistik Jura Zoologie Philosophie Chemie Forstwissenschaft Archäologie Klassische Philologie Alte Geschichte Germanistik Geologie Mineralogie
140 22 13 11 8 7 6 4 4 3 2 2 2 2
Geographie Slawistik Musikwissenschaft Psychologie Mathematik Physik Kriminalstatistik Anthropologie Theologie Ethnologie Botanik Romanistik Kunstgeschichte Orientalistik
2 2 2 2 2 2 1 1 1 1 1 1 1 1
Dazu kommen noch zwei Promotionen, bei denen der Titel der Arbeit nicht ermittelt werden konnte. Die klassischen Fakultäten der älteren Universität (Medizin, Jura, Staatswissenschaften) sind überdurchschnittlich vertreten; wenn die Theologie fast völlig fehlt, so deshalb, weil München weder den orthodoxen noch den protestantischen Studenten damals ein Lehrprogramm anzubieten hatte, während die katholischen Studenten in Südosteuropa recht gut mit höheren Bildungsstätten versorgt waren. Der übergroße Anteil promovierter Mediziner (etwa drei Fünftel) spiegelt einerseits den bis heute besonders hohen Prozentsatz medizinischer Studienabschlüsse wider, läßt andererseits sich daraus erklären, daß entweder die neuen Universitäten des Südostens über medizinische Fakultäten noch nicht verfügten oder Wert darauf legten, daß ihre Schüler sich einen Teil ihrer wissenschaftlichen Ausbildung im Ausland verschafften. Eine nähere Untersuchung der einzelnen medizinischen Doktorarbeiten läßt eine deutliche Bevorzugung praktischer Zweige der Medizin (wie Gynäkologie, Chirurgie und Kinderheilkunde) erkennen, gegenüber den mehr theoretischen Fächern wie Anatomie und Physiologie. Unter den nicht unmittelbar in einen praktischen Beruf führenden Fächern ragt der Anteil der Byzantinistik heraus (hier zusammengefaßt mit neugriechischer Philologie), der sich nicht nur Griechen, sondern auch Rumänen, Serben und andere widmeten in der richtigen Erkenntnis, wie bedeutungsvoll die etwa eintausendjährige Geschichte des Byzantinischen Reiches für die Entwicklung der nationalen Historie der kleineren Völker im Umkreis von Konstantinopel war. Um die Reihenfolge der Beliebtheit der einzelnen Studienrichtungen sachgemäß zu deuten, muß man sich erinnern,
Die Rolle der Universität München
247
daß viele Disziplinen erst im Laufe des 19. Jahrhunderts in München einen Lehrstuhl erhielten oder wie Anthropologie, Romanistik und Psychologie überhaupt erst als Wissenschaft begründet wurden. Gruppiert man die Dissertationen unter Überschreitung der alten Fakultätsgrenzen 29 ) nach größeren Einheiten, so zeigt sich, daß neben der unverändert dominierenden Medizin drei etwa gleich große Gruppen für die Sprach- und Kulturwissenschaften, für die Nationalökonomie und für die Naturwissenschaften entstehen, während für Jura einerseits, Philosophie und Theologie andererseits zwei knapp halb so große Gruppen übrigbleiben. Das heißt, daß die Schüler der Alma mater Monacensis aus dem europäischen Südosten doch zu einem beträchtlichen Prozentsatz über die Berufsausbildung hinaus ein theoretisch-wissenschaftliches Interesse mitbrachten oder entwickelten. Sehr schwierig zu beantworten ist die Frage nach der wissenschaftlichen Qualität dieser Dissertationen. Welcher Forscher traut sich heute schon ein Urteil über Leistungen auf den verschiedensten Wissenschaftsgebieten zu und dann noch im Rückblick auf die früheren Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts? Aber auch ohne sich selbst ein Urteil zu bilden, verfügt man über Anhaltspunkte zu einer Einschätzung. In einem Falle ist eine solche Doktorarbeit als Ergebnis aus einem akademischen Preisausschreiben hervorgegangen, was sicherlich nicht gegen ihren Wert spricht. In einer größeren Anzahl liegen die Dissertationen nicht als von den Verfassern bezahlte Eigendrucke, sondern als Separatabdrucke von Zeitschriften, als Glieder wissenschaftlicher Reihen oder sogar als selbständige Monographien eines Verlages vor. Selbst wenn die Autoren dabei noch zu Druckkostenzuschüssen veranlaßt wurden, ist diese Veröffentlichungsform ein Beweis für überdurchschnittliche Qualität. Diese Tatsache zu vergleichen mit den entsprechenden Verhältnissen der deutschen Kommilitonen ist eine spätere Aufgabe. Schließlich sind in den Akten auch die Beurteilungen der Arbeiten durch die Doktorväter und Korreferenten erhalten, die zumindest in ihrer Masse eine einigermaßen objektive Einschätzung ermöglichen werden. Daß dabei manche „Rosine" zu entdecken sein wird, ist sicher. Ich zitiere jenes sehr pauschale Diktum Karl Krumbachers über die Arbeit eines seiner kroatischen Schüler: (Nach einer ausführlichen und günstigen Bewertung) „In der Beschreibung des Tatsächlichen stört zuweilen die echt slavische (ζ. B. in russischen Publikationen geradezu epidemische) Neigung zur abstrakten Haarspalterei an Stelle nüchtern konkreter Darlegung."^) Man darf als sicher unterstellen, daß die deutschen Professoren im persönlichen Umgang manches von ihren südosteuropäischen Schülern gelernt 2 9 ) Erst seit 1865 bildeten die naturwissenschaftlichen Disziplinen eine eigene (II.) Sektion der philosophischen Fakultät, die formale Trennung erfolgte dann erst 1937. 3 0 ) Universitätsarchiv München, Ο II 1 c P.
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GERHARD G R I M M
haben. Geprüft kann werden, inwieweit ihr wissenschaftliches Weltbild durch ihnen bisher unbekannte Aspekte Südosteuropas erweitert und vertieft wurde. Auch hierfür sind die vorliegenden Dissertationen ein Anhaltspunkt. Freilich nur 42 von den 246 befassen sich thematisch mit Südosteuropa. Dabei nehmen die Studien zur byzantinischen und neugriechischen Philologie mit Abstand den ersten Platz ein. Allerdings sind fast ausnahmslos diese Doktorarbeiten aufgrund gedruckten oder in Deutschland vorhandenen handschriftlichen Materials entstanden. Ähnliches gilt für die vier archäologischen Dissertationen. Während nun Männer wie Karl Krumbacher und sein Nachfolger August Heisenberg oder Adolf Furtwängler Land und Sprache der Griechen sehr genau kannten, gilt das sicher nicht für jene Professoren der Volkswirtschaft, der Forstwissenschaft und Jurisprudenz, die durch ihre Schüler einschlägige Studien über Serbien, Rumänien oder Griechenland anfertigen ließen. Freilich wird es einer genauen Durchsicht der Bücher und Aufsätze jener Doktorväter bedürfen, um erkennen zu können, ob sie tatsächlich das von ihren Studenten erschlossene Material in weitere Zusammenhänge einordneten. Auf den ersten Blick überrascht, daß die Slawistik nicht mehr von dem Zulauf serbischer, kroatischer und bulgarischer Studenten profitierte, aber man muß daran denken, daß der Lehrstuhl für Erich Berneker erst 1911 errichtet wurde. Eine Analyse der sozialen Herkunft der südosteuropäischen Studenten wird erst möglich sein, wenn alle ungedruckt erhaltenen Lebensläufe ausgewertet sind, wobei zu befürchten ist, daß für die Zeit vor 1860 nur wenige Unterlagen vorhanden sind. Gelegentlich lassen sich aus den Widmungen mehr oder weniger gesicherte Vermutungen über finanzielle Unterstützung beim Studium durch Verwandte oder Freunde ableiten. Die biographische Erforschung von Studenten, die später eine wissenschaftliche oder politische Karriere zurückgelegt haben, kann einiges bringen, wird uns aber für die Masse der Fälle im Stich lassen. Die Verfolgung des Studienganges der einzelnen Doctores an Hand der Lebensläufe kann vielleicht auch etwas über die Attraktivität der Münchner Universität zumindest in einzelnen Fächern aussagen. Ein nicht zu kleiner Teil der 246 Studenten, die in München promovierten, hatte zuerst an einer heimatlichen oder einer anderen österreichischen bzw. deutschen Hochschule studiert, manche sogar bereits einen praktischen Beruf ausgeübt und dann aufgrund einer Beurlaubung ihre Ausbildung in München abgerundet. Keiner scheint indessen nach dem Studienabschluß in München geblieben zu sein, was angesichts der scharfen Konkurrenz unter dem wissenschaftlichen Nachwuchs und des Bedarfs der Heimadänder an qualifizierten Kräften verständlich wäre. Die Masse der in München ausgebildeten Ärzte aus südöstlichen Ländern hat sich offenbar der gesundheitlichen Versorgung der Bevölkerung gewidmet. Daß sich hierdurch das Niveau der medizinischen Betreuung hob, kann als sicher gelten, aber ansonsten ist die Wirkung des
Die Rolle der Universität München
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Kulturaustausche in diesen Fällen kaum zu messen. Dagegen sind einzelne besonders tüchtige Vertreter aus fast allen Wissenschaftszweigen Professoren an ihren Heimatuniversitäten, Direktoren von Museen und Forschungsstellen, erfolgreiche wissenschaftliche Publizisten und einige auch Politiker geworden. In diesen Funktionen hatten sie begreiflicherweise viel mehr Möglichkeiten, die einstmals empfangenen Anregungen weiterzugeben und neue Verbindungen anzuknüpfen. Es genügt in diesem Zusammenhang, vorläufig nur ein paar Namen anzugeben, etwa den des Mediziners Alexander Stanisev, promoviert in München 1910, 1940/41 Rektor der Universität Sofija, oder den des Byzantinisten Themistokles Bolides, promoviert 1903, später Leiter der Handschriftenabteilung der griechischen Nationalbibliothek, dann der Leiter der Patriarchatsbibliothek in Alexandria. In diese Reihe gehören auch ζ. B. Leonida Colescu, promovierter Münchner Volkswirt des Jahres 1897 und später Leiter des rumänischen statistischen Büros, und Edwin Fels, als Sohn einer auslandsdeutschen Familie auf Korfu geboren, von Erich v. Drygalski 1913 promoviert und ein Leben lang mit der geographischen Erforschung seines Geburtslandes verbunden. Es wird auch in einer späteren Phase zu untersuchen sein, inwieweit Kinder und Schüler der einstigen Münchner Absolventen von diesen veranlaßt wurden, ihrerseits ihre Ausbildung in München oder wenigstens in Deutschland zu vervollständigen. Es ist zu hoffen, daß in mehrjähriger Arbeit das Geflecht der Beziehungen zwischen der Münchner Universität und den Ländern des europäischen Südostens in einem auch statistisch tragfähigen Umfang aufgedeckt werden kann, so daß die Einordnung des Ergebnisses in die Geschichte der zwischeneuropäischen geistigen Begegnungen möglich wird.
ZACHARIAS Ν . TSIRPANLES
DIE AUSBILDUNG DER GRIECHEN AN EUROPÄISCHEN UNIVERSITÄTEN UND D E R E N ROLLE IM U N I V E R S I T Ä T S L E B E N DES MODERNEN GRIECHENLAND
(1800—1850)
Dieser Beitrag will in großen Zügen das Interesse der Griechen aufzeigen, das an deren Ausbildung an den Universitäten Europas deutlich wird. Mit wenigen Worten wird die Zeit von 1453 bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, die Epoche nach der Französischen Revolution, die Verbreitung der liberalen Ideen und das allmähliche Entstehen einer handeltreibenden Bürgerschicht beschrieben. DIE SITUATION BIS ENDE DES 1 8 . JAHRHUNDERTS
Nach dem Fall Konstantinopels fanden die meisten griechischen Studenten an den Universitäten Italiens freundliche Aufnahme. In den griechischen Ländern selbst, die von den Osmanen erobert waren, finden wir höhere Schulen 1 ), wie zum Beispiel die Patriarchische Akademie von Konstantinopel (seit 1691)2), die Schule von Patmos (1713)3) und die Akademie vom Berg Athos (1748)4), während auf den Ionischen Inseln die Akademie (1807) und die Universität (1823,1824) 5 ) ziemlich gehobene öffentliche Schuleinrichtungen x ) Vgl. die kurze Studie von K. Papadopulos: Peri tön meta ten halösin tes Könstantinupoleös Hellenikön Akademion (Über die griechischen Akademien nach dem Fall Konstantinopels). In: Praktika tes Akademias Athenön. 2. 1927. S. 200—206. Bezüglich genauerer Angaben siehe bei M. Gedeön: He pneumatike kinesis tu Genus kata ton 18° kai 19° aiöna (Das Geistesleben bei den Griechen im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts). Athen 1976. S. 1—21, 2 3 - 4 7 . 2) Τ. A. Gritsopulos: Patriarchike Megale tu Genus Schole (Die Große Patriarchenschule von Konstantinopel). Bd. 1 und 2. Athen 1966 und 1971 (bes. Bd. 2. S. 41 f.). 3) Μ. E. Malandrakes: He Patmias Schole (Die Schule von Patmos). Athen 1911. 4) A. Angela: To Chroniko tes Athöniadas (Die Chronik der Schule von Athos). In: Nea Hestia. Weihnachten 1963. S. 84—105. 5) A. Papadopulo-Vreto: Notizie biografiche-storiche su Federico conte di Guilford, pari d'Inghilterra, e sulla da Lui fondata Universitä Ionia, con note critiche-storiche su vari
Die Ausbildung der Griechen an europäischen Universitäten
251
waren. Dennoch konnten diese Schulen mit Ausnahme der Ionischen Universität die allgemeinen Rahmenbedingungen und die Ansprüche eines Universitätslehrprogramms nicht erfüllen, dem in Europa nach Ende des Mittelalters Genüge getan wurde. Auch die Jugend Griechenlands strebte an die Universitäten des nächstgelegenen Landes, das heißt Italiens, w o ihnen die Höheren Studien hohes Ansehen garantierten. Darüber hinaus gelten die langanhaltende venezianische Herrschaft im Ägäischen Meer (auf Zypern bis 1570/71, auf Kreta bis 1669, auf Tinos bis 1 7 1 5 , auf den Sieben Inseln bis 1797), die blühenden griechischen Gemeinden in Italien (in Venedig, Livorno, Triest usw.), das Ansehen und die Ausbreitung der Geisteswissenschaften in der Renaissance und weiters die fast traditionellen Beziehungen zwischen Byzanz und Italien als die Hauptmotive, die damals die Griechen veranlaßten, an die italienischen Universitäten zu strömen. Man findet besonders an der in den Jahren 1218/1222 gegründeten venezianischen Universität in Padua das griechische Element sehr stark vertreten. Über die Anwesenheit v o n Griechen, die v o m 15. bis zum 18. Jahrhundert dort in beeindruckender Weise zunahm, und über ihre Studien liegen beachtenswerte Forschungsarbeiten vor 6 ). Über die griechischen Studenten, die andere ita-
personaggi e su vari avvenimenti (Biographisch-historische Daten über Friedrich, Graf von Guilford, Peer von England, und die von ihm gegründete Jonische Universität mit kritisch geschichtlichen Anmerkungen über verschiedene Persönlichkeiten und Ereignisse). Athen 1846; Κ. A. Diamant es: He Ionios Akademia tu komitos Gylford; kata cheirographon tes Sylloges Gianne Blachogianne (Die Jonische Akademie des Grafen Guilford; nach einer Handschrift der Sammlung von Gianne Blachogianne). In: Hellenike Demiurgia. 2. Bd. 3. (15. Mai) 1949. 31. S. 725—741; G. Salbanos: Peri tes Ioniu Akademias kai tu hidrytu autes Phreideriku North, komitos Gylford (Uber die Jonische Akademie und ihren Gründer, Frederick North, Graf von Guilford); ebenda, S. 763—801; B. Salbanu: Apo ten zöen kai ten drasin tön spudastön tes Ioniu Akademias (Über das Leben und die Leistungen der Studenten der Jonischen Akademie); ebenda, S. 802—812, G. Salbanos: Bibliografikon semeiöma peri tes Ioniu Akademias kai tu hidrytu autes (Kurzer Lebensabriß über die Jonische Akademie und ihren Gründer); ebenda, S. 813 f.; N. Konomos: He Ionios Akademia (Die Jonische Akademie). Athen 1965. 6) M. Gedeön: Patriarchikai Ephemerides. Eideseis ek tes hemeteras ekklesiastikes historias, 1500—1912 (Patriarchische Zeitungen. Auskünfte aus unserer Kirchengeschichte, 1500—1912). Athen 1936—1938. S. 206 ff.; K. D. Merinos: Palaioi Hellenes phoitetai eis to Panepistemion tes Padues. Kai alios katalogos Hellenön phoitetön tu Panepistemiu Padues (Ehemalige griechische Studenten an der Universität Padua. Eine weitere Liste griechischer Studenten an der Universität Padua). In: Epeirötike Hestia. 8. 1959. S. 553—554 für die Jahre 1701 und 1708; ders.: Hellenes phoitetai eis to Panepistemion Padues kata to 1725 (Griechische Studenten an der Universität Padua im Jahr 1725); ebenda, 9. 1960. S. 892; Α. P. Stergelles: Ta demosieumata tön Hellenön spudastön tu Panepistemiu tes Padobas ton 17° kai 18° ai. (Die Veröffentlichungen der griechischen Studenten an der Universität Padua während des 18. und 19. Jahrhunderts). Athen 1970; G. S. Plumides: Hai praxeis engraphes tön Hellenön spudastön tu Panepistemiu tes Padues. Meros A', Artisti 1634—1782 (Die In-
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Z A C H A R I A S Ν . TSIRPANLES
lienische Universitäten wie Bologna 7 ), Pisa 8 ), Neapel usw. besuchten, besitzen wir noch keine einschlägigen Untersuchungen. Zu den Institutionen des Höheren Schulwesens in Italien muß noch das berühmte griechische Kollegium v o n Sankt Athanasios in Rom gezählt werden, das seit seiner Gründung
skriptionsakten der griechischen Studenten an der Universität Padua. Erster Teil, Artisti 1634—1782). In: Epeteris Hetaireias Byzantinön Spudön. 37. 1969—1970. S. 260—336; ders.: Meros B', Legisti 1591—1809. Epimetron. Meros A', Artisti (Zweiter Teil, Legisti 1591—1809. Ergänzung zum Ersten Teil, Artisti); ebenda, 38. 1971. S. 84—206. ders.: Hai; praxeis engraphes tön Hellenön spudastön tes Padues. Meros A', Artisti. Sympleröma. ete 1674—1701 (Die Inskriptionsakten der griechischen Studenten von Padua. Erster Teil. Ergänzung zu den Jahren 1674—1701). In: Thesaurismata. 8. 1971. S. 188—204; ders.: Gli Scolari „Oltramarini" a Padova nei secoli XVI e XVII (Die „ultramarinen" Studenten in Padua im 16. und 17. Jahrhundert). In: Revue des Etudes Sud-Est Europeennes. 10. 1972. S. 257—270; ders.: Gli Scolari Greci nello Studio di Padova (Die griechischen Studenten im Studienbetrieb in Padua). In: Quaderni per la storia dell'Universitä di Padova. 4. 1971. S. 127—141; I. G. Typaldos-Laskaratos und P. D. Kangelaris: Hoi Kephalonites spudastes tu Panepistemiu tes Padobas kai ta oikosema tus apo ton anekdoto ködika 482 tu Archivio Antico (Die an der Universität Padua eingeschriebenen kephalonischen Studenten und ihre im unveröffentlichten Codex 482 des Archivio Antico vorhandenen Wappen). In: Kephalleniaka chronika. 2. 1977. S. 83—110; Was die Inskription griechischer Studenten an der Universität Padua im Laufe des 15. und 16. Jahrhunderts angeht, befindet sich interessantes, wenn auch bisher nicht verwendetes Material in den Veröffentlichungen des „Istituto per la Storia dell'Universitä di Padova", und zwar unter dem Titel: Acta Graduum Academicorum Gymnasii Patavini ab anno 1406 ad annum 1450, Bd. 1 (1406—1434), Bd. 2 (1435—1450), Bd. 3 (Namenverzeichnis), unter der Leitung von Gaspare Zonta und Iohanne Brotto. Padua 1970 (Neuauflage der Ausgabe von 1922); im Bd. 2, S. 335—351 ist der Anhang des Werkes von Andrea Gloria: Monument! dell' Universitä di Padova (Denkmäler der Universität Padua) angefügt, betreffend die Studienabsolventen zwischen 1367 und 1405. In der gleichen Sammlung wurden die drei Bände veröffentlicht: Bd. 1 von 1501 bis 1525, Padua 1969; Bd. 2 von 1526 bis 1537, Padua 1970 und Bd. 3 von 1538 bis 1550, Padua 1971; alle Bände unter Leitung von Elda Martellozzo Forin. Daneben konnten die griechischen Studenten in Venedig dank dem Kollegium von Thomas Phlangines (1661 /1665) Kurse zur Vorbereitung auf die Universität besuchen: Λ. E. Karathanasses: He Phlangineios Schole tes Benetias (Die Schule von Phlangines in Venedig). Thessaloniki 1975. 7 ) Hinsichtlich dieser zum Vatikanstaat gehörigen Universität und der Probleme, die von vornehmlich aus den Jonischen Inseln stammenden und von im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts studierenden Griechen verursacht wurden, sei auf ein interessantes Dokument hingewiesen: G. Th. Zoras: Heptanesiakai Meletai. 2. Pronoia peri tön en Italia Hellenön spudastön kata ton parelthonta aiöna. Hena engraphon tes Papikes Kyberneseös sözomenon eis to Aporreton Archeion tu Batikanu (Jonische Studien. 2. Vorsorge für die im letzten Jahrhundert in Italien studierenden Griechen. Ein Schriftdokument der päpstlichen Verwaltung, im vatikanischen Geheimarchiv aufbewahrt). In: Parnassos. 15. 1973. S. 407—411. 8 ) Vgl. die interessanten Beiträge von Ν. B. Tömadakes : Epeirötai didaktores tu Panepistemiu tes Pises. 1821—1841 (Epirotische Doktoren von der Universität von Pisa. 1821—1841) im Band: Aphieröma eis ten Epeiron eis mnemen Christu Sule. 1892—1951. Athen 1956. S. 11—15; ders.: Symmeikta Neoellenika. I. Hellenes iatroi spudasantes eis Pisan. 1805 bis 1824 (Verschiedene neugriechische Schriften. I. Griechische Ärzte, die ihre Studien in Pisa machten. 1805—1824). In: Mnemosyne. 5. 1974/75. S. 395 ff. Siehe auch weiter unten.
Die Ausbildung det Griechen an europäischen Universitäten
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in den Jahren 1576/77 mehreren Griechen theologische und philosophische Studien auf Universitätsniveau erlaubte9). Im großen und ganzen betrafen die von Griechen an italienischen Universitäten absolvierten Studien die Bereiche Philosophie, Medizin, Theologie und Recht. Weiters finden wir auch schon vor dem 19. Jahrhundert griechische Studenten an den Universitäten Englands 10 ), Frankreichs, Spaniens 11 ), der Niederlande 12 ) und der deutschen Staaten 13 ); ihre Anzahl ist aber nicht be9 ) Vgl. Ζ. N. Tsirpanles: Hoi Makedones spudastes tu Helleniku Kollegiu Römes kai he drase tus sten Hellada kai sten Italia. 16° ai. — 1650. (Die mazedonischen Studenten des griechischen Kollegiums in Rom und ihre Tätigkeit in Griechenland und in Italien. 16. Jahrhundert bis 1650.) Thessaloniki 1971; ders.: Hoi mathetes tu Helleniku Kollegiu tes Römes. 1576—1700 (Die Schüler des Griechischen Kollegiums in Rom. 1576—1700). In: Dödöne 7. 1978. S. 23—42. 10 ) Man beachte auch die Bemühungen des Erzbischofs von Samos, Iöseph Geörgeirenes (letztes Viertel des 17. Jahrhunderts) um die Gründung des Griechischen Kollegiums in Oxford; siehe E. G. Stamatiades: Epistolimaia diatribe peri Iöseph Geörgeirenu archiepiskopu Samu. 1666—1671 (Ein Aufsatz in Form eines Briefes über Iöseph Geörgeirenes, Erzbischof von Samos. 1666—1671.) Samos 1892. S. 23—28. (Darin finden sich übrigens die Reaktionen der Katholiken gegenüber den Studien der Griechen in England.) Bezüglich der Statuten des Griechischen Kollegiums in Oxford vgl. Τ. P. Themeies: To hellenikon phrontisterion en Oxphorde (Das Griechische Kollegium in Oxford). In: Nea Siön. 5. 1907. S. 458—461. Vgl. auch E. D. Tappe: The Greek College at Oxford, 1699—1705. In: Oxoniensia. 19. 1954. S. 92—111; ders.: Alumni of the Greek College at Oxford, 1699—1705. In: Notes and Queries. 200. März 1955. S. 110—114. Über Studien und Lehre eines griechischen Gelehrten in Oxford zu Beginn des 17. Jahrhunderts siehe S. I. Makrymichalos: Christophoros Angelos, ho hellenodidaskalos tes Oxphordes (Christophoros Angelos, der Professor der griechischen Sprache in Oxford). In: Pelloponnesiaka. 2. 1957. S. 219—246. Hinsichtlich einiger Griechen, die an der Universität Oxford ihr Diplom erwarben, vgl. N. Vätämanu: Inväjafi Greci forma (i la Oxford $i la Halle ji legäturile lor cu Romänii la inceputul secolului al XVIII-lea. (In Oxford und Halle ausgebildete griechische Gelehrte und ihre Beziehungen zu den Rumänen zu Beginn des 18. Jahrhunderts). In: Contribujii la istoria inväfämintului romänesc (Beiträge zur Geschichte des rumänischen Unterrichtswesens). Bukarest 1970. S. 190 bis 205. G. O. Rabattes: Hellenes spudastai eis Anglian kata ten turkokratian (Griechische Studenten in England während der türkischen Herrschaft). In: Ekklesiastikos Pharos. 54. 1972. S. 322—327. n ) Griechische Gelehrte und ihre Studien in Spanien, siehe I. K. Chasiötes: Scheseis Hellenön kai Hispanön sta chronia tes turkokratias (Beziehungen zwischen Griechen und Spaniern während der türkischen Herrschaft). Thessaloniki 1969. S. 25 f. 12 ) Insbesondere an der Universität Leiden, wo im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts einige Griechen ihre Studien ablegten. Siehe B. J. Slot: Scheseis metaxy Hollandias kai Hellados apo ton 17° aiöna mechri ton Kapodistria (Beziehungen zwischen Holland und Griechenland vom 17. Jahrhundert bis Kapodistrias). In: Parnassos. 19. 1977. S. 273 f. 13 ) E. Turczfnski: Die deutsch-griechischen Kulturbeziehungen bis zur Berufung König Ottos. München 1959. S. 47—54., 75—79, 108—115, 123—132 (griechische Studenten an deutschen und österreichischen Universitäten). Statistische Angaben siehe F. Valjavec: Geschichte der deutschen Kulturbeziehungen in Südosteuropa. Bd. 4. Das 19. Jahrhundert. Aus dem Nachlaß herausgegeben von Felix v. Schröder. München 1965. S. 151—152.
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ZACHARIAS Ν . TSIRPANLES
merkenswert 14 ). Jedenfalls wurde bis jetzt noch keine ausgedehnte Untersuchung an den verschiedenen Universitätsarchiven 15 ) angestellt, um endgültig die Zahl griechischer Studenten und die von Griechen abgeschlossenen Studien genau festzustellen. Es handelt sich um ein schwieriges Problem, das nicht nur für die Jahrhunderte vor 1800, sondern auch für das 19. und 20. Jahrhundert gilt. Die diesbezüglichen Belege werden in erster Linie aus indirekten Quellen gewonnen, einem Material, das zwar veröffentlicht, aber in verschiedenen Werken und Artikeln verstreut ist. Die griechischen Archive können andererseits nur spärliche Auskunft geben. So kann man also nach diesen bekannten oder leidlich bekannten Informationen die Bedingungen bestimmen, die den Unterricht der Griechen an den europäischen Universitäten im Laufe der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts begünstigten, und die Folgen aufzeigen, die durch ihre kulturelle Prägung dem geistigen Leben ihres Landes entstanden. NEUE PERSPEKTIVEN VOM ENDE DES 1 8 . BIS BEGINN DES 1 9 . JAHRHUNDERTS
Der überwältigende Aufstieg der handeltreibenden Bürgerschicht Griechenlands nach dem Jahr 1774 (dank des Vertrages von Kütschük-Kainardsche), die Siege der Französischen Republik und der napoleonischen Armee und die rasche Verbreitung der liberalen Ideen haben das Bildungswesen in Griechenland tiefgehend beeinflußt. Der bekannte Gelehrte Adamantios Koraes ( 1 7 4 8 — 1 8 3 3 ) , selbst Doktor der Medizin der französischen Universität Montpellier, beschreibt in seinem „Gedächtnisprotokoll zum gegenwärtigen Stand der Zivilisation in Griechenland" 16 ), das am 6. Januar 1803 vor der Societe des Observateurs de Γ komme in Paris vorgetragen und im Jahre 1818 wiederaufgelegt wurde, in bewegten Farben die enge Ubereinstimmung zwischen der wirtschaftlichen Entwicklung der Griechen und ihrem leidenschaftlichen Streben nach Kultur. „Das Verlangen, sich zu bilden und ins Ausland zu gehen, hat sich der Seele der Jugend bemächtigt" schreibt Koraes 17 ) und betont, daß die Jugend mit Fleiß an die Erlernung von Fremdsprachen, vor allem des Italienischen und Französischen, herangeht, während „die Reichen Bücher 1 4 ) Andererseits verdient ein besonderer Fall Beachtung, in dem diese Studien im Westen von Griechen gegen die Mitte des 18. Jahrhunderts verurteilt wurden: K. Th. Demaras: Neoellenikos Diaphötismos (Die Epoche der Aufklärung im Modernen Griechenland). Athen 1977. S. 309. 1 5 ) Bezüglich der griechischen Studenten an amerikanischen Universitäten siehe die Studie von G. A. Kurbetares: Greek-American Professionals: 1820's—1970's. In: Balkan Studies. 18 2 . 1977. S. 285—323. 1 6 ) Memoire sur l'etat actuel de la civilisation dans la Grece, lu ä la Societe des Observateurs de l'homme, le 16 Nivöse, an X I (6 Janvier 1803), par Coray, Docteur en M6decine et membre de la dite Soci6t6. [ 4 + ] 66 S. ι?) Ebenda, S. 19.
D i e A u s b i l d u n g der Griechen an europäischen Universitäten
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drucken lassen, die aus dem Italienischen, Französischen, Deutschen und Englischen übersetzt wurden" und dazu „auf eigene Kosten die lernwütige Jugend nach Europa schicken" 18 ). Mit den Worten Koraes' „erwarte man die Rückkehr (nämlich nach Griechenland) zahlreicher Jugendlicher, die gegenwärtig in Frankreich, Deutschland, Italien und England studieren, um überall Kollegien einzurichten, wo die örtlichen und anderen Umstände es erlauben" 19 ). Im übrigen glaubten die Griechen, daß die Erfolge der französischen Armeen auf die günstigen Folgen der Aufklärung zurückzuführen seien. Auch „haben sie ihrem gewöhnlichen Handel dem der Wissenschaften hinzugefügt. Von ganz Europa, und ganz besonders von Frankreich führen sie Bücher und anderes Aufklärungsgut ein, während sie Leintücher, verarbeitete Metallwaren und andere Produkte der europäischen Industrie ausführen" 20 ). Deutschland nahm zu der Zeit, als Koraes schrieb, eine große Zahl griechischer Studenten auf, die sich zusätzlich mit der Übersetzung bedeutender Werke ins Griechische befaßten. Andererseits arbeitete in Frankreich und insbesondere in Paris ein Großteil griechischer Geistlicher und Pfarrer an ihrer eigenen Ausbildung, um schließlich nach ihrer Rückkehr dann ihre Landsleute zu erziehen21). „Dieser Bildungseifer breitete sich überall mit allen Symptomen einer Epidemie aus." 22 ) Ein gutes Beispiel für diese Begeisterung für Bildung und gleichzeitig für die Befreiung ihres Landes hatte man in den Gesichtern der griechischen Studenten bemerken können, die sich der Heiligen Legion anschlossen und sich im Jahre 1821 um Alexandros Hypsilantes bei Drägä§ani selbst hinopferten23). D I E W E C H S E L W I R K U N G VON N A T I O N A L E R R E V O L U T I O N , A U F B A U EINES U N A B H Ä N G I G E N G R I E C H E N L A N D S UND D E R G R Ü N D U N G D E R E R S T E N U N I V E R S I T Ä T IN A T H E N
Tatsächlich kehrten beinahe alle Studenten oder Absolventen der europäischen Universitäten in ihr Heimatland zurück, als im März 1821 die Revolu18) E b e n d a , S. 34.
« ) E b e n d a , S. 41.
2°) E b e n d a , S. 61 f.
) E b e n d a , S. 42. V g l . dazu eine Gesellschaft, die a m 1. J ä n n e r 1817 in Wien v o n reichen Griechen g e g r ü n d e t u n d eingerichtet w u r d e u n d eine wirtschaftliche Unterstützung der studierenden Griechen an deutschen u n d europäischen Universitäten i m allgemeinen anstrebte. Gedeön, D a s Geistesleben, S. 127—128. 22) Coray, Memoire, S. 41—42. 23) I. Philemon: D o k i m i o n historikon peri tes hellenikes E p a n a s t a s e ö s (Historisches E s s a y über die griechische Revolution). B d . 2, Athen 1859. S. 87 ff., 92 f., 182 f . ; Κ. N. Rodas: H o H i e r o s L o c h o s kai he en D r a g a t s a n i ö mache ( D i e Heilige L e g i o n u n d die Schlacht bei D r ä g ä s a n i ) . A t h e n 1919. S. 17 f. Siehe auch die A n g a b e n u n d Feststellungen v o n Α. E. Bakalopulos: H o i Hellenes S p u d a s t e s sta 1821 ( D i e griechischen Studenten i m J a h r 1821). Thessaloniki 1978. S. 41—47. 21
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tion auf der Peloponnes ausbrach, und boten ihren Dienst als einfache Soldaten oder als Beamte in der Militär- oder Politstruktur des neuen griechischen Staates an. Ich führe nur den bekannten Alexandros Maurokordatos (1791—1865) an, einen geschickten Politiker in der Zeit der Revolution und nach der Gründung des neuen Staates, der Vorlesungen über die Befestigungs- und Belagerungskunst, Medizin und politische Wissenschaften an der Universität Pisa besucht hatte, während er im Laufe seines langen Aufenthaltes in Paris in entscheidender Weise von der französischen Geisteshaltung geprägt worden zu sein scheint 24 ). Die Beteiligung so vieler aus den europäischen Universitäten hervorgegangener Absolventen in der Verwaltung des neuen Staates überraschte den Rechtsgelehrten und das Mitglied der bayerischen Regentschaft in Athen, Georg Ludwig von Maurer 25 ). In seinem interessanten Buch mit dem Titel „Das griechische Volk" (Heidelberg 1835) erwähnt er Geörgios Glarakes (1789 bis 1885), Doktor der Medizin der preußischen Universität Göttingen, Iöannes Kölettes (1774—1847), Mitglieder der großen Familie der Zographu, Iöannes Kapodistrias (1776—1831), alle Doktoren der Medizin italienischer Universitäten, die sich während des nationalen Befreiungskampfes und hernach in der Politik des griechischen Staates auszeichneten26). Es muß betont werden, daß die hippokratische Wissenschaft gesellschaftliches Ansehen genoß und genau wie heute die politische Laufbahn begünstigte und hohe Ämter, ζ. B. das eines Ministers oder des Premierministers, sowie andere Positionen ermöglichte. Im übrigen garantierte der Beruf des Arztes sowohl in den griechischen Gebieten unter osmanischer oder venezianischer Herrschaft als auch im freien griechischen Staat eine günstige wirtschaftliche 24
) E. Prötopsaltes: Ho Alexandros Maurokordatos kai to ergon tu kata ten epanastasin tu 1821 (Alexandros Maurokordatos und sein Werk während der Revolution von 1821). Im Band: Aphieröma eis ta 150 chronia apo tes Epanastaseös tu 1821. Thessaloniki 1971. S. 157 bis 201. 25 ) Bezüglich seines gesetzgeberischen Werkes siehe N. J. Panta%opulos, G. Ludwig von Maurer: He pros euröpaika protypa holoklerötike strophe tes neoellenikes nomothesias (Die vollständige Hinwendung der modernen griechischen Gesetzgebung zu europäischen Vorbildern). In: Epistemonike Epeteris Scholes Nomikön kai Oikonomikön Epistemön (der Universität Thessaloniki). 13. 1968. S. 1345—1506. 26 ) G. Ludwig von Maurer: Das griechische Volk. Bd. 1. Heidelberg 1835 (ungeordnete Neuauflage. Osnabrück 1968) S. 439. Hinsichtlich der Studien von Kapodistrias an der Medizinischen Fakultät der Universität Padua siehe G. Daphnes: Iöannes A. Kapodistrias. He genese tu helleniku kratus (Iöannes A. Kapodistrias. Die Entstehung des griechischen Staates). Athen 1976. S. 87 ff.; ebenda, S. 86, was Peter Zögraphos und Johann Zögraphos, Professoren derselben Fakultät an der obgenannten Universität zu Ende des 18. Jahrhunderts, angeht. Bezüglich Kolettes, Doktor der Medizin an der Universität Pisa, siehe Α. N. Gudas: Bioi paralleloi tön epi tes anagenneseös tes Hellados diaprepsantön andrön (Vergleichende Biographien griechischer Staatsmänner zur Zeit der Erneuerung). Bd. 6. Athen 1874. S. 243—288. Zu G. Glarakis siehe Bakalopulos, Die griechischen Studenten im Jahr 1821. S. 32 f., 50.
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Lage. So wird verständlich, daß der Großteil der zum Beispiel im 18. Jahrhundert an der Universität Padua inskribierten griechischen Studenten die V o r lesungen der philosophisch-medizinischen Fakultät besuchte 27 ). Diese Tradition setzte sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts fort. Eine große Anzahl von Griechen traf sich damals am berühmten „Athenaeum Pisanum", der Universität Pisa. In den Jahren zwischen 1779 und 1841 erhielten mehr als 300 Griechen von dieser Universität das Diplom für Recht und Philosophie-Medizin 28 ). Im einzelnen sind im Zeitraum von 1805 bis 1824 die Namen von 24 Doktoren der Philosophie-Medizin bekannt, die aus verschiedenen Gegenden Griechenlands kamen, wobei die Studenten der Ionischen Inseln nicht gerechnet sind; v o r allem weiß man von zahlreichen Kephalonikern 29 ). Die bis jetzt angestellten Forschungen konnten dennoch nicht die genaue Zahl griechischer Studenten an dieser berühmten Einrichtung der Toskana liefern. Jedenfalls kennen wir die 23 Studenten in Pisa, die ein 1817/18 datiertes Schriftstück unterzeichneten, um die Ideen von Koraes zu unterstützen 30 ). Der Letztgenannte gab seinerseits im Jahre 1820 seiner Freude Ausdruck, daß junge Griechen in großer Zahl zur Ausbildung in diese Stadt strömten 3 1 ); er forderte dazu noch die angesehensten Bürger der Insel Idra auf, weitere junge Leute zum Universitätsstudium nach Pisa zu schicken 32 ). Zur gleichen Zeit, nämlich im Jahre 1820, verlangte Kapodistrias, daß die griechischen Studenten der Universität Göttingen in Pisa zusammenkommen sollen 33 ). 27 ) 28)
Siehe Giorgio Plumidis: Gli Scolari Greci nello Studio di Padova. S. 131. N. Tömadakes: Epirotische Doktoren, S. 11—15, mit einschlägiger Lebensbeschrei-
bung. 29) Tömadakes, Verschiedene neugriechische Schriften. S. 395—397. Besonders bezüglich der aus Kephalonien stammenden Studenten siehe ders.: Hoi metaxy tön etön 1789 — 1809 kai 1818—1841 Kephallenes didaktores Iatrikes kai Nomikes tu en Pise tes Italias Panepistemiu (Aus Kephalonien kommende Doktoren der Medizin und des Rechtes an der Universität Pisa während der Jahre 1789—1809 und 1818—1841). In: Kephalleniaka Chronika. 2. 1977. S. 164—175 (hier finden sich die Namen der 95 Doktoren der beiden erwähnten Fakultäten). 30) Tömadakes, Epirotische Doktoren, S. 13. Anm. 1. 31) Brief von Koraes (Paris, den 24. Mai 1820) an K. Kokkinakes (Wien); siehe G. Baletas: Koraes. Hapanta ta prötotypa erga. Hoi epistoles. 1815—1833 (Koraes. Alle Originalwerke. Die Briefe. 1815—1833). Bd. 22. Athen 1965. S. 232. 32 ) Brief von Koraes, undatiert (ungefähr 14. Juni 1820) an die Honoratioren der Insel Idra. Siehe Baletas, Koraes, S. 235. 33 ) Kapodistrias bezieht sich auf die jungen Griechen, die ihre Studien auf Kosten der Gesellschaft der Musenfreunde machten (Philomusos Hetaireia); siehe E. G. Prötopsaltes: Ignatios metropolites Hungroblachias. 1766—1828, I. Biographia (Ignatios, Metropolit der Walachei. 1766—1828, I. Biographie). Athen 1959. S. 152, 161. Siehe auch einen interessanten Brief von K. Liberios (Göttingen, den 21. Juni 1820) bei J". B. Kugeas: He pröte neoellenike metaphrasis tes Iphigeneias tu Goethe, ho metaphrastes kai hoi parakinetai autes (Die erste Übersetzung von Goethes „Iphigenie" ins Neugriechische, ihr Übersetzer
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Warum dieses starke und besondere Interesse an dieser Stadt? Es gibt unter anderen zwei Hauptgründe, die die Vorliebe der griechischen Studenten f ü r die Universität Pisa rechtfertigen: Einmal weil die blühende griechische Gemeinde der Nachbarstadt Livorno 3 4 ) arme Studenten aus Griechenland an dieser Universität finanziell unterstützte und zum anderen, weil sich in dieser Stadt der ehemalige Metropolit von Arta und dann der Walachei, Ignatios (1815—1828), niederließ, eine starke Persönlichkeit, die sich leidenschaftlich für die Bildung der jungen Griechen einsetzte 35 ). Hier ist anzumerken, daß Koraes die Entsendung der Studenten nach Pisa befürwortete, weil sie dort bei Ignatios Schutz und Unterstützung fanden 36 ). Es würde zuviel Platz beanspruchen, alle Studenten anzuführen, die sich nach Abschluß ihrer Studien an der Universität Pisa nach Griechenland zurückbegaben und sich als Politiker, Schriftsteller, Prälaten, Rechtsgelehrte, Literaten und Professoren an der Universität Athen auszeichneten. und ihre Verbreiter). In: Hellenika. 5. 1932. S. 379 f. In dieser Studie (S. 361—383) findet man auch interessante Aufschlüsse über griechische Studenten in Österreich und Deutschland im Laufe des zweiten Jahrzehnts des 19. Jahrhunderts. Zu den Angaben über die Stipendiatsstudenten der Gesellschaft der Musenfreunde siehe Η. E. Kukkos: Ho Kapodistrias kai he Paideia. 1803—1822. A. He Philomusos Hetaireia tes Biennes (Kapodistrias und das Unterrichtswesen. 1803—1822. A. Die Gesellschaft der Musenfreunde in Wien). Athen 1958. S. 50, 62—79, 87—109, 123—134, 137—143. Was insbesondere die von dieser Gesellschaft mit einem Stipendium bedachten Studenten betrifft, die ihre Studien an den Universitäten Jena und Weimar ablegten, sowie die Unterstützung, die ihnen von Roxandra Stourdza-Edling, der großen Freundin Kapodistrias, nach 1812 zuteil wurde, vgl. Η. E. Kukkos: La Comtesse Roxandra Stourdza-Edling et sa contribution ä l'education des etudiants Hellenes en Europe. In: Symposium. L'epoque Phanariote. Thessaloniki 1974. S. 181 ff. 34) Tömadakes: Epirotische Doktoren, S. 12. Anm. 1 der Seite 11. Vgl. auch die Entscheidung der griechischen Gemeinde von Livorno im Jahre 1816 betreffend die Bereitstellung dreier Studienstipendien an junge Griechen, die an europäischen Universitäten die Schönen Künste oder andere Wissenschaften (außer Medizin) studierten: Gedeön, Das Geistesleben, S. 130, 274 (hier findet sich der Nachweis, daß Kaufleute in Wien, die aus Iöannina stammten, einen jungen Mann zu Studienzwecken an die Universität Pisa schickten). 35 ) Hinsichtlich des Aufenthalts von Ignatios in Pisa und seiner dort geleisteten Erziehungsarbeit siehe Protopsaltes, Ignatios, S. 150—164. 36) Baletas, Koraes, S. 235. Im übrigen muß noch vermerkt werden, daß Kapodistrias wünschte, daß alle Stipendiaten der Gesellschaft der Musenfreunde, die an deutschen Universitäten studierten, nach Pisa überwechseln sollten. Der Grund dafür waren die revolutionären Kundgebungen an den Universitäten Jena und Göttingen und das dort in der Folge herrschende Durcheinander. Siehe: G. Psillas: Apomnemoneumata tu biu mu (Erinnerungen an mein Leben). Mit einem Vorwort von Ν. K. Luros, herausgegeben und kommentiert von E. G. Prebelakes. Veröffentlicht von der Athener Akademie. S. 37 ff. (Zeugnisse eines griechischen Studenten an deutschen Universitäten während der fraglichen Jahre). Auch wirtschaftliche Überlegungen legten den Entschluß Kapodistrias nahe, die Stipendiatsstudenten von Deutschland nach Italien zu verlegen, wo die Lebenskosten weniger hoch lagen: Kukkos, Kapodistrias und das Unterrichtswesen, Bd. 1. S. 93.
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Georg Ludwig von Maurer verurteilte vehement diesen Strom griechischer Studenten an die europäischen Universitäten. In seinem oben erwähnten Buch berichtet er, daß in den Jahren der nationalen Revolution ebenso wie nach der Gründung des griechischen Staates die Neigung der Jugend, sich europäische Bildung anzueignen und in der Folge die Spitzenleistungen des aufgeklärten Europa in ihr Land zu verpflanzen, politischen und gesellschaftlichen Stellenwert angenommen hat. Koraes errege als Persönlichkeit, fährt derselbe Autor fort, die Bewunderung der jungen Leute, so daß sie es ebenfalls vorzögen, in Frankreich und noch lieber in Paris zu studieren. Dort machten sie sich außer mit ihren Studienfächern auch mit den Theorien über die Menschenrechte vertraut; sie freundeten sich mit den revolutionären Ideen an, sie informierten sich über die verfassungsmäßigen Freiheiten der Völker und bereiteten sich darauf vor, die rechtmäßige Herrschaft zu bekämpfen. Diese Ideen wurden von Maurer nicht gutgeheißen, war er doch ein Bürger, der der Restauration in Europa geistig verhaftet war; er tadelt die in Europa ausgebildeten Griechen, „die Revolutionäre sind, voll von Überheblichkeit, und die glauben, daß sie allein nur das liberale Gedankengut verkündeten" 37 ). Indes unterließ es Maurer nicht anzumerken, daß die griechische Revolution auch zum Teil ihren glücklichen Ausgang den gebildeten Griechen im Ausland verdanke 38 ). Man muß andererseits aber das schwierige soziale Problem hervorheben, das durch die zahlreichen aus dem Westen nach Griechenland heimgekehrten Universitätsabsolventen verursacht wurde. Diese überschwemmten nämlich den neuen griechischen Staat; sie nahmen hohe Ämter in der Verwaltung ein, sie verdrängten einheimische Analphabeten, welche die größten Lasten des Kampfes für die Unabhängigkeit auf sich genommen hatten. So entstand eine deutliche soziale Kluft: Auf der einen Seite standen die Gebildeten, die vom Ausland in ihre Heimat zurückgekehrt waren, oder — allgemein ausgedrückt — diejenigen, die eine höhere Bildung besaßen; das waren die bekannten Fanarioten oder die nach dem Namen der damaligen Zeitepoche benannten „Heterochthonen". Diesen standen die armen Einheimischen gegenüber, die über eine mindere Bildung verfügten und unter der Bezeichnung „Autochthone" bekannt sind. Die Unterschiede und Intrigen dieser beiden sozialen Schichten haben lange Zeit den neuen griechischen Staat erheblich belastet39). Es stimmt allerdings, daß die Griechen mit europäischer Ausbildung für den Neuaufbau des Landes unersetzlich, für die Verwaltung sehr nützlich, zugleich jedoch gefährlich, überheblich und übertrieben ehrgeizig waren, soweit es die höchsten Staatsbeamten wie Ministerstellen oder ähnliche Positionen betraf. Ihre An37) Maurer, Das griechische V o l k , Bd. 2. S. 33 f. 38) Ebenda, Bd. 1. S. 440. 3 9 ) V g l . die diesbezüglichen Debatten der Nationalversammlung v o m J a h r 1 8 4 4 bei Ε. K. Kyriakides: Historia tu synchronu Hellenismu (Geschichte des zeitgenössischen Hellenismus). Bd. 1. A t h e n 1892. S. 487—506.
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Wesenheit brachte in den ersten J a h r e n des unabhängigen griechischen Staates gewaltige Unterschiede im K u l t u r n i v e a u der B e v ö l k e r u n g mit sich; es ergab sich in diesem Staat eine Situation, w i e sie kein anderes L a n d a u f w i e s 4 0 ) . Jedenfalls sind die B e m ü h u n g e n u n d die Pläne zur G r ü n d u n g einer Universität in den griechischen Gebieten L e u t e n zu v e r d a n k e n , die als G e l e h r t e in E u r o p a lebten, w a s w e i t e r nicht überraschend ist. Es ist bekannt, daß zu B e g i n n des 1 9 . Jahrhunderts gebildete u n d reiche Epiroten, die sich in E u r o p a , in den D o n a u f ü r s t e n t ü m e r n und in Rußland niedergelassen hatten, die G r ü n d u n g eines unabhängigen Fürstentums im Zagori-Gebiet und zugleich die E r richtung v o n Universitätsfakultäten planten, die im J o h a n n e s - K l o s t e r in R o n k o bos den Betrieb a u f n e h m e n sollten. Dieselben Patrioten versuchten im J a h r e 1 8 2 0 A l i Pascha v o n Janina zu überreden, f ü r sie eine medizinische Fakultät einzurichten 4 1 ). D a r ü b e r hinaus legten die gebildeten Griechen in den schwierigen J a h r e n des Unabhängigkeitskampfes, und z w a r im J a h r e 1 8 2 4 , der R e v o l u t i o n s r e g i e r u n g einen Plan zur Errichtung einer Universität mit v i e r Fakultäten (der Theologie, Philosophie, des Rechts u n d der Medizin) v o r 4 2 ) . Diese schönen T r ä u m e w u r d e n v o m ersten K ö n i g der Griechen, dem B a y e r n O t t o , mit den v o m 1 4 . und 22. A p r i l 1 8 3 7 datierten königlichen E r lässen v e r w i r k l i c h t 4 3 ) . D o c h hatten die V o r a r b e i t e n schon zu B e g i n n der 40) Maurer, Das griechische Volk, Bd. 2, S. 35 ff. Vgl. auch die große Zahl griechischer Gelehrter aus dem Ausland, die im Jahre 1828 auf die Insel Ägina kamen: Ν. K. Kasomules: Enthymemata stratiötika tes Epanastaseös tön Hellenön. 1821—1833 (Militärische Erinnerungen an die Revolution der Griechen. 1821—1833). Bd. 3. Athen 1942. S. 67 f. 41) N. Tsigaras: Epeirötika (Epirotika). In: Attikon Hemerologion. 20. 1886. S. 323 — 341; Ph. I. Kakrides :~5,pe,\töt\]iO A. (Epirotikon Α.). In: ToBema. Ausgabe vom 22. 12. 1977. 42) N. Dragumes: Historikai Anamneseis (Historische Erinnerungen). Bd. l. 2 Athen 1879. S. 207. Vgl. auch den ersten Plan des Unterrichtswesens im Jahr 1824 bei A, B. Daskalakes: Keimena-Pegai tes historias tes Hellenikes Epanastaseös. Seira Trite. Ta peri Paideias (Quellentexte der Geschichte der Griechischen Revolution. Serie 3. Uber das Unterrichtswesen). Erster Teil. Athen 1968. S. 47—53. Vgl. auch den Plan vom Jahre 1824 zur Gründung einer Akademie mit wissenschaftlicher und nationaler Zielsetzung; als Vorbild diente die gleiche Einrichtung der „Savante France": J". Kugeas: Peri tes kata ten Epanastasin schediastheises Akademias (Über die Gründung einer Akademie während der Revolution). In: Praktika Akademias Athenön. 9. 1934. S. 14—22 (Dritter Teil, Rede). 4 3 ) Diese Erlässe enthalten das vorläufige Statut der Einrichtung und die einschlägige Begründung: /. Pantazides: Chronikon tes prötes pentekontaetias tu helleniku Penepistemiu (Chronik der ersten fünfzig Jahre der Griechischen Universität). Athen 1889. S. 5 ff. Die Erlässe sind veröffentlicht in: Α. K. Skarpale^os: Apo ten historian tu Panepistemiu Athenön (Über die Geschichte der Universität von Athen). Athen 1964. S. 110—126. Hinsichtlich einer Analyse des Erlasses vom 14./26. April 1837 sowie auch der übrigen Einzelheiten siehe M. D. Stasinopulos: He Paideia kata ten epanastasin kai kata ta pröta met' aute eten. Ta kata ten hidrysin tu Panepistemiu (Das Unterrichtswesen während der Revolution und der ersten Jahre danach. Uber die Gründung der Universität). In: Parnassos. 12. 1970. S. 610 — 624; ders.: He organösis tu Panepistemiu Athenön kata ten hidrysin tu kai hoi prötoi kathegetai tu (Die Organisation der Universität Athen nach seiner Gründung sowie ihre ersten Professoren). In: Parnassos. 13. 1971. S. 53—89. Diese detaillierten Artikel wurden vom sei-
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bayerischen Regentschaft begonnen, zumal Maurer ab dem Jahr 1834 die Entwürfe der Erlässe für das Höhere Schulwesen ausarbeitete44). Die erste, nunmehr Nationale Universität der Griechen wurde im Jahre 1837 in Athen errichtet. Ihre Gründung hat allenthalben Zufriedenheit hervorgerufen; es hat wohl an negativen Reaktionen nicht gefehlt 45 ); man glaubte sozusagen, daß diese Universität etwas früh aus der Taufe gehoben worden sei, und zwar auf Grund „der Lehrwut" der gebildeten Griechen und wegen „des zwar gelehrten, aber unrealistischen Klassizismus" der Bayern 46 ). KULTURELLE TENDENZEN AN DER UNIVERSITÄT ATHEN
Wie dem auch immer sei, die Universität nahm ihren Lauf 47 ). In der ersten Zeit ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit mußte sie ernste Schwierigkeiten überwinden. Darüber hinaus ist hier für uns von Interesse, die europäisch beeinflußten Forschungs- und Lehrtendenzen aufzuzeigen, die ihre Spuren in der Entwicklung des wissenschaftlichen Lebens dieser Anstalt hinterließen. Der deutsche Einfluß Es steht vor allem fest, daß die oben erwähnten grundlegenden Erlässe aus dem Jahr 1837, die die „provisorische Regelung" der Universität enthielten und billigten, die Universitätseinrichtungen Deutschlands widerspiegelten. Die Universität Athen wurde als getreues Abbild deutscher Universitäten errichtet48). Das war übrigens ein verständlicher Schritt, wenn man die bayerische Mentalität bedenkt, die in allen Bereichen des politischen Lebens zu beobachten war. Zum Beispiel wurde das im Jahre 1842 gegründete „Philosophische Seminar" nach den Erfahrungen an deutschen Universitäten zusätzlich eingeführt, um die Studenten der philosophischen Fakultät zu schulen und ihre spätere Lehrtätigkeit zu fördern49). Auch die Institution des Privatdozenten sei, von gewissen Unterschieden abgesehen, von Deutschland übernommen ben A u t o r veröffentlicht: das Buch trägt den Titel: Selides apo ten politike historia tu neöteru Hellenismu (Blätter zur politischen Geschichte des modernen Hellenismus). Athen 1978. S. 2 1 5 — 2 2 0 , 2 2 1 — 2 6 4 . (In der Folge beziehen sich die Verweise auf dieses Buch). 44) Maurer, Das griechische V o l k , B d . 2, S. 2 1 5 f. Z u r K r i t i k der Maurerischen Bemühungen siehe M. Stasinopulos, Selides (Blätter), S. 2 1 6 . 45) Stasinopulos, Blätter, S. 2 1 8 (Auskünfte der zeitgenössischen Presse). 4β) I. Blachogiannes: T o helleniko Panepistemio. Skenes zöntanes apo ten historia tu (Die griechische Universität. Lebendige Bilder ihrer Geschichte). I n : Nea Hestia. 22. 1937. S. 1 7 9 9 — 1 8 1 8 , bes. S. 1 7 9 9 . 4 7 ) V g l . W. Barth: Z u r Geschichte der Athener Universität. I n : Hellas-Jahrbuch. Hamburg 1 9 3 7 . S. 2 5 — 4 0 (ohne bibliographische Angaben). 48) Pantarides, Chronik, S. 5 ff. 4 9 ) Ebenda, S. 1 2 0 f.
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worden, wie der 1872 bis 1873 amtierende Rektor K. Paparregopulos in seiner Eröffnungsrede berichtet50). Einen weiteren, wirklich typischen Aspekt deutscher Einflußnahme auf den Universitätsbereich findet man in den wörtlich aus dem Deutschen übersetzten Bezeichnungen für Universitätslehrstühle. So wird „Literaturgeschichte" von den ersten Professoren, dem Griechen Geörgios Gennadios und dem Deutschen Heinrich Ulrichs, als „Geschichte der Literatur" (griechische und römische Literatur) wiedergegeben; die „Archäologie der Kunst" wurde zur „Archäologie der Künste" oder der „darstellenden Künste"; die „Antiquitäten" zu „Altertümlichkeiten" oder eben „Antiquitäten" (griechische und römische). Später wechselte man diese Fachausdrücke aus, da man auf die Erfahrungen und Bedürfnisse der Studenten und Professoren Rücksicht nahm 51 ). Bisweilen führte diese getreue Nachahmung deutscher Vorbilder zu komischen Situationen. Zum Beispiel ist der Fall Theodöros Manuses erwähnenswert, der zum „Professor der Kultur" ernannt wurde; er äußerte den Wunsch zurückzutreten, „weil er nicht dahinterkommen konnte, was man hier lehren sollte". Die zeitgenössische Presse wollte wissen, ob die anderen Professoren „Professoren der Unwissenheit" wären; sie protestierten ganz allgemein gegen den Umstand, daß die Bayern das Sprachgefühl der Griechen auf dem Gebiet der Universitätsterminologie verletzten. Weiters wurde die Einteilung der Professoren in ordentliche, außerordentliche und Honorar-Professoren von Deutschland übernommen 52 ). Einer ebenfalls deutschen Sitte folgend hielten sich die Gehälter der Professoren nicht an ein allgemeines Schema, sondern man legte sie jedes Mal im königlichen Ernennungsdekret eines jeden Professors fest 53 ). In gleicher Weise wollte der erste Rektor, Könstantinos D. Schinas, folgende deutsche Einrichtung übernehmen, daß nämlich jeder Professor eine wissenschaftliche Dissertation vor Aufnahme seiner Vorlesungen abfassen und vorlegen mußte. So hätten die Professoren die Möglichkeit gehabt, ihre Forschungsergebnisse zu veröffentlichen; zugleich wäre dadurch den Studenten die Gelegenheit geboten worden, ein Spezialgebiet zusätzlich zu den gewöhnlichen Vorlesungen kennenzulernen. Abgesehen von zwei Fällen hat indes diese Einrichtung keinen Widerhall und keine Nachfolger gefunden 54 ). so) Ebenda, S. 202 f. si) Ebenda, S. 109 f.; vgl. auch S. 41 und die Zeitschrift: Nea Hestia 22. 1937. S. 1815. 52) Stasinopulos, Blätter, S. 239. Zu Theodor Manoussis siehe D. Chat^is: Theodöros Manuses, ho prötos kathegetes tes historias en tö Ethnikö Panepistemio (Theodöros Manuses, der erste Professor der Geschichte an der Nationalen Universität). In: Piaton. 10. 1958. S. 301—320. 5S) Panta^idcs, Chronik, S. 39. 54 ) Ebenda, S. 45 f. Im Pinax von 1837 (Jahresfestschrift von 1837) findet sich eine dieser beiden Dissertationen: L. Roß: Archaiologia tes nesu Sikinu (Archäologie der Insel Sikinos).
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Hier ist noch der deutsche und englische Einfluß im politischen Verhalten der ersten Professoren anzumerken; sie verlangten nach der Revolution des 3. September 1843, daß die Universität von einem eigenen Abgeordneten (aus den Reihen der Professoren oder universitätsfremder Männer) in der Nationalversammlung vertreten wird. Diesem Ersuchen wurde im Jahre 1844 stattgegeben 55 ). Der starke deutsche Einfluß, unter dem die erste griechische Universität gegründet wurde, war nicht nur auf die bayerische Herrschaft zurückzuführen. Gewiß haben die bayerischen Machthaber die Gesetze aufgezwungen, aber es waren griechische Professoren, die ihre Studien meist an deutschen Universitäten abgeschlossen hatten und nun mit Vehemenz die Übernahme deutscher Institutionsstrukturen auf dem Gebiet der Forschung und des Unterrichts betrieben und verteidigten. Im übrigen ist bekannt, daß sich ein beträchtlicher Teil der griechischen Studenten im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts zum Universitätsstudium nach Deutschland begab. Grund dafür war die bessere Struktur deutscher Universitäten. Nach der Meinung Maurers begann selbst Frankreich, seine Schuleinrichtungen nach den deutschen Vorbildern umzugestalten 56 ), ein weiterer Grund, daß der deutsche Einfluß an der Universität Athen mindestens in den ersten Jahren ihres Bestehens vorherrschte. Man darf natürlich auch nicht übersehen, daß unter den ersten Professoren der Athener Universität deutsche Gelehrte vertreten waren, deren zwar begrenzter Einfluß nicht vernachlässigt werden darf. An der juridischen Fakultät begegnen wir zweien: Godefroy Feder aus Bayern und Emil Herzog aus Preußen; an der medizinischen Fakultät einem: Heinrich Treiber aus Meiningen. An der philosophischen Fakultät gab es vier deutsche Professoren: Ludwig Roß aus Holstein, Heinrich Ulrichs aus Bremen, Karl Nikolaus Fraas und Xaver Landerer aus München 57 ). Alle wurden jedoch unter dem Druck der Ereignisse während der Revolution vom 3. September 1834 von der Universität entfernt58). Jedenfalls blieb das deutsche Übergewicht vor und nach der Revolution des Jahres 1843 besonders wegen der griechischen Professoren, die ihr Studium in Deutschland absolviert hatten, weiterbestehen59). Die deudichsten Spuren 55) Pantaxides, Chronik, S. 57. S. 304 ff. 56) Maurer, Das griechische Volk, Bd. 2, S. 34. 57) Panta^ides, Chronik, Tafel C (Ernennungen der Professoren der philosophischen, juridischen und medizinischen Fakultäten). Vgl. Valjavec, Geschichte, Bd. 4, S. 145 f. S. Mackroth: Das Deutschtum in Griechenland. Stuttgart 1930. S. 40 ff. 58) Panta^ides, Chronik, S. 41. N. A. Bees: Synoptike historia tön panepistemiakön scholön. B. Philosophike Schole (Historischer Abriß der universitären Fakultäten. B. Philosophische Fakultät). In: Nea Hestia. 22. 1937. S. 1774, 1776. 59 ) Der orthodoxe Theologe Apostolos Makrakes (1831—1905) greift die in Deutschland ausgebildeten griechischen Professoren hart an; er selbst ist der Autor eines Statuts:
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dieses Einflusses sind an der theologischen Fakultät zu finden. Es ist auf eine eindrucksvolle Feststellung besonders hinzuweisen, daß nämlich im Laufe von hundert Jahren (1837—1937) 27 von 33 Professoren an dieser Fakultät ihre Ausbildung in Deutschland erfuhren; von den übrigen hatten fünf theologische Akademien in Rußland besucht, wobei zwei von ihnen noch nach Deutschland gingen, um ihr Studium fortzuführen 60 ). Bis zum Zweiten Weltkrieg war Deutschland für junge Theologen das beinahe einzige Land, in dem man glänzende höhere oder gründliche Studien machen konnte, um den Doktorgrad zu erwerben. Im angesprochenen Zeitraum waren im besonderen die ersten Professoren — insgesamt drei, nämlich Misael Apostolides, Theokletos Pharmakides und Könstantinos Kontogones (ein weiterer wurde 1852 berufen) — an deutschen Universitäten ausgebildet worden: der erste an der Universität München, der zweite in Göttingen und der dritte in München und Leipzig 61 ). Die deutsche Wissenschaftsmethodik, wie sie für die Theologie angewandt wurde, war auf einmal an der Universität ebenso wie in der öffentlichen Meinung spürbar geworden 62 ). Man weiß von bedeutungsvollen Reaktionen gegen die protestantophile Geisteshaltung der griechisch-orthodoxen Professoren dieser Fakultät. Es soll genügen, nur einige Professoren anzuführen, die als „falsche Theologen, aus Deutschland kommende Häretiker" oder als „Teufeisschürer" beschuldigt wurden 63 ). An der philosophischen Fakultät, mit der bis zum Jahr 1904 die Fakultät der Naturwissenschaften und Mathematik vereinigt war, kann man keinen einseitigen Einfluß beobachten. Die Professoren unterschieden sich nach ihren Methoden und in wissenschaftlichen Arbeiten. So sah sich der Professor für
Peri hidryseös Christ. Panepistemiu en Athenais pros katargesin tu hyphistamenu sataniku Panskotisteriu ( V o n der Gründung einer Orthodoxen Universität in A t h e n und der Unterdrückung der bestehenden, die auf eine teuflische Weise und ohne erzieherischen Anspruch arbeitet). A t h e n (ohne Datum). eo) D. S. Mpalanos: Ethnikon kai Kapodistriakon Panepistemion Athenön. Hekatontaeteris 1 8 3 7 — 1 9 3 7 . A . Historia tes Theologikes Scholes (Die Nationale und Kapodistrische Universität Athen. Hundertjahrfeier. 1 8 3 7 — 1 9 3 7 . A . Geschichte der Theologischen Fakultät). A t h e n 1937. S. 19. V g l . ders.: Synoptike historia tön panepistemiakön scholön. A . Theologike Schole (Historischer A b r i ß der universitären Fakultäten. A . Theologische Fakultät). I n : Nea Hestia. 22. 1937. S. 1770. 61) D. A. Demetriades: Apanthisma biographikon tön apo tes systaseös tu helleniku Panepistemiu eklipontön ton bion kathegetön autu. 1 8 3 7 — 1 9 1 6 (Sammlung biographischer Daten der bereits verstorbenen Professoren der Griechischen Universität. 1 8 3 7 — 1 9 1 6 ) . A t h e n 1 9 1 6 . S. 9—25. 6 2 ) Z u den bis heute heiklen Folgen siehe Ch. Giannaras: Orthodoxia kai Dyse. He Theologia sten Hellada semera (Orthodoxie und der Westen. Die Theologie im Griechenland v o n heute). A t h e n 1972. S. 33, 56 f., 81 f. 63) Mpalanos, Theologische Fakultät. S. 1 7 7 1 .
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Geschichte, Könstantinos Schinas64), Doktor der Philosophie der Universität Berlin und Schwiegersohn des Rechtsgelehrten Fr. Karl Savigny, der Kritik der Presse ausgesetzt, die ihn 2u „einem eifrigen Verteidiger der deutschen Lehre" stempelte65). Ganz im Gegenteil dazu zollte man Neophytos Bambas, Professor der Philosophie und Rhetorik, dem ehemaligen Assistenten und Mitarbeiter von Koraes in Paris, wo er sieben Jahre verbracht hatte und von der französischen Kultur beeinflußt worden war 66 ), wärmsten Beifall, weil er nicht die „deutsche Philosophie" lehrte 67 ). Von den übrigen ersten Professoren an derselben Fakultät zwischen 1837 und 1850 haben die folgenden ihr Studium an deutschen Universitäten abgelegt oder auch abgeschlossen: Theodoros Manuses (in Leipzig und Göttingen)68), Geörgios Gennadios (in Leipzig, wenn auch nicht durchgehend dort) 69 ), Iöannes Benthylos (in Berlin) und Philippos Iöannou (in München) 70 ) — alle beide wurden als „Söhne der deutschen Wissenschaft" bezeichnet71) —, Κδηstantinos Asöpios (in Berlin), der trotz seiner Studien vorerst in Neapel, später in Paris und London von seinem deutschen Lehrmeister, dem berühmten F. A. Wolf 72 ), stark beeinflußt wurde, Alexandros Rizos Rankabes an der militärischen Schule in München — er besaß aber vielmehr eine hohe Bildung, die nicht deutschen Wissenschaftsleistungen verpflichtet war 73 ); Stephanos Α. Kumanudes 74 ) in München und Berlin bei den berühmten Professoren Fr. Thiersch und A. Böckh, und Nikolaos Kotzias 75 ). Phrankiskos Pylarinos 64 ) Was ihn angeht siehe I. Blachogiannes: Historika rapismata (Historische Ohrfeigen). Athen 1937. S. 102—108.1. Kalitsunakes: He anabiosis tön klassikön spudon en Helladi apo tes apeleutheröseös kai enteuthen (Die Erneuerung der klassischen Studien im Griechenland des Freiheitskampfes und danach). In: Epistemonike Epeteris tes Philosophikes Scholes tu Panepistemiu Athenön. 8. 1957—1958. Zweite Serie. S. 348. es) Stasinopulos, Blätter, S. 258 f. Vgl. auch S. 245—248, 250 ff. 66 ) Kalitsunakes, Die Erneuerung, S. 352 ff., hier die Bibliographie über Vamvas. Über seinen Charakter vgl. Demaras, Die Aufklärung im Modernen Griechenland, S. 371—374. 67 ) Stasinopulos, Blätter, S. 258. 68 ) Siehe seine biographische Angabe in der Megale Hellenike Enkyklopaideia (Große Griechische Enzyklopädie), hg. v. Pyrsos; in der Folge als MEE. Es ist darauf hinzuweisen, daß Manuses — gemäß seinem Vermächtnis — wünschte, daß zwei junge Griechen ihre Studien in Deutschland ablegten. 69 ) Zu den Daten aus seinem Leben siehe A. Gudas: Vergleichende Biographien. Bd. 2. Athen 1870. S. 309—338. Kalitsunakes, Die Erneuerung, S. 352. Was seine Tätigkeit in Bukarest angeht siehe A. Bakalopulos, Die griechischen Studenten, S. 20 ff. 70 ) Kalitsunakes, Die Erneuerung, S. 366—367. D. A. Tsirimpas: H o Philippos Iöannu (Philippos Iöannu). In: Piatön. 7. 1955. 2. S. 335—341. 71 ) Bees, Philosophische Fakultät, In: Nea Hestia. 22. 1937. S. 1774. 72 ) Kalitsunakes, Die Erneuerung, S. 355—358. 73 ) Siehe seine biographische Angabe in MEE. Vgl. Kalitsunakes, Die Erneuerung, S. 360 f. 74 ) Kalitsunakes, Die Erneuerung, S. 377—380 (hier auch die einschlägige Bibliographie). 75 ) Seine biographische Eintragung in MEE.
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hatte wiederum wie Neophytos Bambas seine Studien in Frankreich abgelegt™). Nach den uns bekannten Quellen belief sich die Zahl der Professoren an der philosophischen Fakultät (ausgenommen die der Naturwissenschaften und Mathematik), die zwischen den Jahren 1837 und 1850 ernannt wurden, auf vierzehn 77 ); von denen waren drei Ausländer, nämlich L. Roß, H. Ulrichs und E. Masson, die übrigen waren Griechen. Von den letztgenannten hatten zwei ihr Studium lediglich an französischen Universitäten absolviert, während die anderen neun an deutschen Universitäten studiert hatten oder mindestens einige Vorlesungen in Deutschland gehört hatten. Neben anderen oben zitierten Gründen war die Überlegenheit der deutschen Kultur auch der Ausstrahlung glänzender Professoren zu danken, die sich der Erforschung der Kultur des griechischen und römischen Altertums gewidmet haben 78 ). Daraus erklärt sich der Umstand, daß die Universität Athen selbst im Jahre 1855 die ersten Doktoren der Philosophie als Stipendiaten nach Deutschland zur Weiterbildung schickte, namentlich Demetrios Maurophrydes und Aristides Kyprianos 79 ). Die deutsche Wissenschaftsmethodik war in der Abteilung „Klassische Literatur" noch spürbarer, während man im Inhalt und Unterricht der Geschichtswissenschaften sowohl deutsche wie auch französische Tendenzen entdecken kann. Nach der Mitte des 19. Jahrhunders wird die ausgeglichene Orientierung deutlich 80 ). Wir müssen noch auf die zehn Professoren der Naturwissenschaften und Mathematik eingehen, die zusammen mit den obigen das Professorenkollegium der philosophischen Fakultäten ausmachten. Wir finden unter ihnen zwei Deutsche (nämlich Karl Nikolaus Fraas und Xaver Landerer) und acht Griechen. Von den letzteren waren nur zwei an deutschen Universitäten ausgebildet worden: Alexandros Benizelos (in Leipzig, Berlin und Heidelberg) und Herakles Mitsopulos; vier von ihnen in Paris: Könstantinos Negres, Kyriakos Domnandos, Demetrios Strumpos (er setzte seine Studien in Genf fort) und Theodöros G. Orphanides; Geörgios Bures hatte als einziger die Universität Wien 76
) Ebenda, der biographische Artikel. " ) Vgl. die Tafel C (D. Geisteswissenschaftliche Fakultät, w o die Namen und das Datum der Berufungen der Professoren angegeben sind.) In: Panta^ides, Chronik, zu Ende des Buches. 78 ) Wie Wolf und sein Schüler Boeckh, Christian Gottlob Heyne, G. Hermann, I. Bekker und andere. Siehe I. Kalitsunakes: Hai metallagai tu skopu tes hellenikes Philologias kata ten teleutaian hekatontaeterida (Die Zweckveränderungen der Alten Griechischen Literatur während der letzten hundert Jahre). Athen 1926 (Auszug des ersten Bandes der wissenschaftlichen Jahresfestschrift der philosophischen Fakultät). S. 11—21, 35—37. 7β ) Panta^ides, Chronik, S. 81. Bezüglich biographischer Hinweise auf die beiden siehe Kalitsunakes, Die Erneuerung, S. 363 f. 8 °) Bees, Philosophische Fakultät, S. 1776.
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besucht 81 ); in einem Fall schließlich, bei Iöannes Papadakes, konnte ich für die Studien keine Anhaltspunkte ausfindig machen. Man kann daraus sehen, daß die Mehrheit dieser Professoren französische Universitäten besucht hatten; dennoch fällt es mir schwer, ein Beispiel des französischen Einflusses auf ihre Unterrichts- und Forschungsmethoden näher zu beschreiben. An der medizinischen Fakultät wurden im fraglichen Zeitraum dreizehn Professoren ernannt. Ich werde mich weder mit dem Deutschen H. Treiber noch mit zwei Griechen, nämlich Demetrios A. Maurokordatos und Damianos Geörgiu, über die ich keine biographischen Hinweise fand, befassen. Sechs der übrigen zehn Professoren hatten ihr Studium an deutschen Universitäten abgelegt, und zwar: Iöannes Olympios in Heidelberg und Berlin, Nikolaos Kostes in Heidelberg, Iöannes Büros in Wien, Halle und Berlin ebenso wie in Paris, wo er von Koraes unterstützt wurde, A. G. Leukias in Wien, Dissertation an der Universität Jena und schließlich in Paris, wo er zwei Jahre blieb; Leukias galt als der Professor, der sich mit den Usancen Europas und vor allem mit den deutschen Verhältnissen vertraut gemacht hatte 82 ); Geörgios A. Makkas (Dissertation in München, hernach in Leipzig, Paris und Wien); Nikolaos Petsales in Paris, Dissertation jedoch in München. Nur zwei scheinen ihre Studien in Paris gemacht zu haben: Iöannes Nikolaides Lebadeus und Könstantinos Maurogiannes; zwei weitere besuchten italienische Universitäten: Alexandros Palles in Pisa und Geörgios Prinares in Neapel 83 ). Der zahlenmäßige Überhang an Professoren, die von deutschen Universitäten kamen, steht außer Streit: entsprechend war auch der Einfluß, den sie auf ihre Studenten ausübten. Ein Fall, der in die Sitzungsprotokolle der Universitätssenatssitzung vom 14. Februar 1844 Eingang fand, zeigt den unumschränkten Einfluß des deutschen Lehrsystems auf die medizinische Fakultät mit aller Deutlichkeit. Im vorliegenden Fall machten die Studenten der besagten Fakultät eine Eingabe an das Ministerium für das öffentliche Schulwesen, in der sie sich beklagten, daß der (am 7. Oktober 1843 berufene) neue Professor des klinischen Lehrstuhles, Könstantinos Maurogiannes, nach dem französischen System lehre; deshalb könnten sie ihn nicht verstehen, da sie an die Vorlesungen der anderen Professoren gewöhnt waren, die sich an das deutsche System hielten. Über Vermittlung der Professoren Damianos Geörgiu und Nikolaos Kostes nahm es der Universitätssenat auf sich, Maurogiannes zu überreden, seinen Unterricht nach dem deutschen Unterrichtsmodell zu leiten, um sich bei den Studenten besser verständlich zu machen 84 ). 81 )
Zu all denen siehe die biographischen Angaben in MEE. Siehe seine Charakterbeschreibung, wie sie von seinem Kollegen Ludwig Ross gegeben wurde in: Nea Hestia. 22. 1937. S. 1814. 83 ) Für diese alle zog ich die in MEE veröffentlichten biographischen Daten heran. 84) Pantaydes, Chronik, S. 87. 82 )
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Es wäre sicherlich nützlich, noch weiter Informationen zu diesem Thema zu sammeln. Das oben angeführte Beweismaterial belegt mit Sicherheit das große Ausmaß des medizinischen Einflusses Deutschlands auf den Lehrbetrieb an der Universität Athen. Der französische Einfluß Die einzige Insel im weiten Meer der deutschen Geisteshaltung, die sich in den ersten Jahren an der Universität Athen ausbreitete, war die juridische Fakultät. Hier findet man die überaus typischen Merkmale der französischen Rechtsschule. Sicherlich hat dieser Einfluß seine Gründe und seine Tradition. Es genügt hier, die Übersetzung der Verfassung der Französischen Republik (1793) ins Griechische durch Regas Belestinles anzuführen (1797) 85 ), ferner die vor dem Jahr 1821 angefertigten Übersetzungen (1817, 1820) des französischen Handelsgesetzbuches 86 ); das Gesetzeswerk, das die Phanarioten unter französischem Einfluß in den Donaufürstentümern schufen; die Übersetzung des berühmten „Traktates über Verbrechen und Strafen" des italienischen Philosophen und Kriminalwissenschafters Cesare di Beccaria; dieses Werk, das das französische Rechtsdenken zur Zeit der Aufklärung widerspiegelt, wurde von Koraes 87 ) ins Griechische übertragen (1802,1823); schließlich die griechischen Verfassungen der Nationalen Revolution des Jahres 1821, die sehr viele den französischen Verfassungen entnommene liberale Ideen enthalten88). 85
) L. Branusses: Regas. Athen 1953. Ausgabe Basike Bibliotheke, Nr. 10. S. 94—97, 371—388. Α. B. Daskalakes: To politeuma tes Hellenikes Demokratias tu Rega Belestinle meta tu keimenu tu politeumatos kai tön antistoichön tes Gallikes Epanastaseös (Die Verfassung der griechischen Republik, verfaßt von Rigas Velestinlis, mit dem Text der Verfassung und den anderen Rechtfertigungsschriften der Französischen Revolution). Athen 1962. S. 74—111. N. Panta^opulos: Regas Belestinles. He politike ideologia tu Hellenismu proangelos tes Epanastaseös (Rigas Velestinlis. Die politische Ideologie des Hellenismus vor der Revolution). Thessaloniki 1964. S. 18—22; ders.: Hellenikai katabolai kai xenikai epidraseis eis to ergon tu Belestinle (Griechische Wurzeln und ausländische Einflüsse im Werk von Rigas Velestinlis). Thessaloniki 1974. S. 29, 34f.; ders.: To dia tes Epanastaseös tu 1821 thespisthen dikaion kai hoi Hellenes nomikoi (Das durch die Revolution vom Jahre 1821 geschaffene Recht und die griechischen Juristen). Thessaloniki 1972. S. 26. 86 ) Siehe eine reichhaltige Dokumentation in: Pantar^opulos, Georg Ludwig von Maurer, S. 1461 f. Vgl. ders.: Apo tes „logias" paradoseös eis ton Astikon Ködika (Über die „literarische" Tradition im Code Civil). Athen 1947. S. 132, 140 f., 156 f., 163. 87 ) Vgl. G. Baletas: Koraes. Hapanta ta prötotypa erga (Korais. Alle Originalwerke). Bd. Ii. Athen 1964. S. 87—132. 88 ) Ch. Phrankistas: To demokratikon kai phileleutheron pneuma tön politeumatön tu Agönos (Der demokratische und liberale Geist der Verfassungen des Unabhängigkeitskampfes). Thessaloniki 1953. Rede. S. 7, 20 f.; hier auch die einschlägige Bibliographie. Vgl. ders.: Hai baseis tön politeumatön tu Agönos (Die Grundlagen der Verfassungen des Befreiungskampfes). In: Aphieröma eis ta 150 chronia tes Epanastaseös tu 1821. Thessaloniki 1971. S. 27 ff.; Panta^opulos, Georg Ludwig von Maurer, S. 1462, 1487.
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Die Rechtsfakultät der Universität Paris erregte während der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts das allgemeine Interesse der europäischen Jugend 89 ). Gerade an dieser Fakultät studierten die meisten Professoren des Rechts an der Universität Athen, wie zum Beispiel Geörgios A. Ralles, Geörgios Maurokordatos, Perikles Argyropulos, Stephanos Galates (nach seinen Studien in Philadelphia, USA) und Nikolaos Saripolos. Dazu finden wir an der Universität Genf, die im unmittelbaren Einzugsbereich französischen Geisteslebens stand, Iöannes Sutsos, der sodann in Paris weiterstudierte, und Spyridön Pelikas; auch Petros Strumpos genoß eine französische Ausbildung 90 ). Im ganzen gab es vierzehn Professoren, die im fraglichen Zeitraum (zwischen 1837 und 1850) berufen wurden, von denen acht, wie oben angeführt, in Frankreich ausgebildet worden waren; zwei waren Deutsche, nämlich die nach der Revolution von 1843 entfernten G. Feder und E. Herzog; die übrigen vier waren diplomierte Absolventen deutscher Universitäten: Paulos P. Kalligas in München, Berlin und Heidelberg, Petros Paparregopulos in München und Heidelberg,Basilios Oikonomides in München,KönstantinosPhrearitesinBonn und Heidelberg 91 ). Bemerkenswert ist, daß die Anwesenheit zweier deutscher Professoren (1837—1843) keine Orientierung auf die deutsche Wissenschaft im Bereich der Forschungs- und Lehrmethoden herbeiführte, so daß der französische „esprit" seine Vorrangstellung behaupten konnte 92 ). Dieser französische Einfluß blieb bis zum Jahr 1843 aufrecht; erst dann gab er allmählich seine Stellung an die „minuziöse, in Hinsicht auf seine Methode vollkommene, aber zugleich sehr schwerfällige deutsche Rechtswissenschaft" ab, dank der Persönlichkeit von Paulos Kalligas 93 ), der an den Universitäten des gelehrten Deutschland ausgebildet worden war. Die Lehrtätigkeit dieses hervorragenden Professors wurde wegen seiner Dienstentlassung im Jahre 1845 unterbrochen. Kalligas wurde im Jahre 1854 wieder zum Honorarprofessor und im Jahre 1862 zum ordentlichen Professor ernannt 94 ). Ein 89
) P. Zepos: Nomike Schole (Juridische Fakultät). In: Nea Hestia. 22. 1937, S. 1784. ) D. A. Demetriades, Sammlung biographischer Daten, S. 73—80 (Ralles), S. 87—92 (Maurokordatos), S. 93—98 (Argyropulos), S. 107 f. (Galates), S. 131—138 (Saripolos), S. 81—86 (Sutsos), S. 103—106 (Pelikas), S. 109 f. (Strumpos). Hinsichtlich des Unterrichts des französischen Rechts durch Maurokordatos siehe Panta^opulos, Georg Ludwig von Maurer, S. 1464 f. 91 ) D. A. Demetriades, Sammlung biographischer Daten, S. 99 f. (Feder), S. 101 f. (Herzog), S. 111—118 (Kalligas), S. 119—124 (Paparregopulos), S. 125—130 (Oikonomides), S. 139—146 (Phrearites). ea ) Zepos, Juridische Fakultät, S. 1785. 93 ) Ebenda, S. 1786 f. Bezüglich der Bemühungen von Kalligas zur Einführung des deutschen Rechts in Griechenland siehe Panta^opulos, Georg Ludwig von Maurer, S. 1471 bis 1474. 94 ) Zu den Berufungsdaten vgl. Panta^ides, Chronik, Tafel c. (D. Philosophische Fakultät. Ohne Seitenangabe). 90
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vorübergehendes Wiederaufleben der französischen Methode ist gegen das Jahr 1846 feststellbar, als Nikolaos Saripolos zum Professor berufen wurde 95 ). Im allgemeinen liefert die Einrichtung einer Professorenstelle für französisches Recht, die 1837 von G. Maurokordatos und 1855 von Markos Renieres 96 ) besetzt wurde, den sicheren Beweis des Einflusses, der Nützlichkeit und der Faszination, die vom Studium der französischen Gesetzgebung ausgingen. D E R E I N F L U S S DER U N I V E R S I T Ä T A T H E N A U F DIE M I G R A T I O N GRIECHISCHER STUDENTEN
Eine Frage muß hier noch gestellt werden: Nahm die Universität Athen nach 1837 alle griechischen Studenten auf, ob sie nun aus dem Gebiet des freien griechischen Staates, aus den nicht befreiten Gegenden oder den griechischen Gemeinden im Westen stammten? Gab es noch griechische Studenten, die an europäischen Universitäten inskribiert waren, oder nahm ihre Zahl wenigstens ab? Das Problem zeigt einige besondere Aspekte. Vorerst mußte verständlicherweise eine neue Universität im kleinen griechischen Staat — in seinen ersten Jahren, wenn nicht auch noch später — beachtliche Schwierigkeiten überstehen, um ein geeignetes und begabtes Wissenschafts- und Verwaltungspersonal zu finden, Bibliotheken und Laboratorien zu schaffen, ihre Gebäude zu errichten usw. Vor allem haben die wirtschaftlichen Schwierigkeiten aussichtslose Situationen im Universitätsbetrieb hervorgerufen 97 ). Andererseits führten die Studenten Klage und stellten Forderungen, um eine Verbesserung ihrer Studien zu erreichen. Im Jahre 1849 veröffentlichten sie eine Broschüre, die uns ein Beweisstück liefert und dessen Bedeutung nichts an Aktualität im Universitätsbereich verloren hat. Nach diesem Schriftstück zeige die Regierung kein Interesse, ein Gesetzesprojekt für das Universitätsstatut zu billigen: Die Vorlesungen finden nicht in aufeinanderfolgenden Stunden statt; deshalb verliert man wertvolle Zeit; bisweilen kollidieren die Vorlesungsveranstaltungen zeitlich; die am Ende des vierten Jahres nur einmal abgelegten Prüfungen sind wertlos; sie schlagen vor, am Ende jedes Universitätsjahres Prüfungen anzusetzen; die Vorlesungen der Professoren werden nicht publiziert, so daß die Studenten Aufzeichnungen machen müssen, die in der Regel ungenau sind; die Medizin- und Rechts Studenten müssen viele Philologievorlesungen besuchen: es liegt eine unannehmbare Situation vor, 95)
Zepos, Juridische Fakultät, S. 1787. Man weiß jedoch, daß Renieris ab dem Jahr 1837 selbst mittels seiner Arbeit und Übersetzungen versuchte, das französische Recht auszuschalten; siehe einige interessante Details bei Panta%opulos, Georg Ludwig von Maurer, S. 1468 ff. 97) P. Bakas: To ktirion tu Panepistemiu (Das Universitätspalais). In: Hemerologion Megales Hellados. 1934. S. 481—510. I. Blachogiannes: To Helleniko Panepistemio (Die Griechische Universität). In: Nea Hestia. 22. 1937. S. 1802—1814. 96 )
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wie man sie in keinem anderen Land in ähnlicher Weise vorfindet; dazu macht eine ähnliche Anforderung die Doktoratsexamen für die genannten Studenten unmöglich; weiters lehrt man nicht die notwendigen Fächer an der juridischen (wie zum Beispiel die Rechtsenzyklopädie und das Naturrecht) und medizinischen Fakultät (wie die Pathologie und die klinische Wissenschaft); man soll weitere Professoren berufen 98 ). Diese Mißstände waren besonders an der medizinischen Fakultät zu spüren. Es gab keine ausreichende Zahl von Laboratorien; die Ausbildung beschränkte sich nur auf die Theorie"). Und die zeitgenössische Presse fragte sich mit Recht: „Wo ist der botanische Garten in Griechenland? Wo das anatomische Museum? Wo der chirurgische Hörsaal? Wo die Klinik? Wo die Geburtshilfeklinik? Wo sind die medizinischen Geräte? Wo die Krankenhäuser?" 100 ) Man sah ein, daß sich die Studenten, die sich in der ärztlichen Kunst gut ausbilden lassen wollten und denen es ihre finanzielle Lage erlaubte, eher das Ansehen einer fremden Universität suchen mußten. Jedenfalls kann man tatsächlich eine beträchtliche Zunahme der Studenten an der Universität Athen feststellen. Man vergegenwärtige sich, daß im ersten Universitätsjahr (1837/1838) kaum 52 Studenten inskribiert waren; im Schuljahr 1849/1850 stieg die Zahl auf 134 101 ). Besuchten in diesen Jahren die Griechen weiterhin die europäischen Universitäten und, wenn ja, wie viele waren es ? Ich kehre damit wieder zur Frage zurück, die weiter oben gestellt wurde. Systematische Untersuchungen in den Archiven europäischer Universitäten zur genauen numerischen Bestimmung der Griechen, die diese besucht haben, wurden nicht angestellt. Auf Umwegen wissen wir, daß es im Jahr 1843 mehr als 50 Griechen gab, die aus dem freien griechischen Staat stammten und ihre Studien nur an deutschen Universitäten ablegten; eine weitere Quelle bestätigt, daß sich im Jahre 1892 die Zahl der griechischen Studenten im Ausland auf 13.503 belief 102 ), wobei diese Zahl mehr oder weniger hoch gegriffen ist. Offensichtlich haben die Griechen sogar nach der Gründung der Universität Athen ihre Studien weiterhin an den höheren Schuleinrichtungen Europas betrieben. Diese Behauptung erhärtet sich, wenn man die Leute einbezieht, die 98 ) Siehe die Broschüre mit dem Titel: Peri tes katastaseös tu Panepistemiu tes Hellados, hypo tinön phoitetön (Über die Situation der Universität von Griechenland, verfaßt von einigen Studenten). Athen (29. Jänner) 1849. S. 1—16. ") Ν. A. Petsalis: Iatrike Schole (Medizinische Fakultät). In: Nea Hestia. 22. 1937. S. 1781. 10°) Blachogiannes: Die Griechische Universität. In: Nea Hestia. 22. 1937. S. 1816 mit einem Auszug der Zeitung Ho Söter (Der Retter) vom 24. 2. 1838. 1 0 1 ) Vgl. A. Skarpalezos, Uber die Geschichte der Athener Universität, S. 181. 102) K. Tsukalas: Exartese kai anaparagöge. Ho koinönikos rolos tön ekpaideutikön mechanismön sten Hellada 1830—1922 (Abhängigkeit und Nachahmung. Die soziale Rolle der Schuleinrichtungen in Griechenland 1830—1922). Athen 1977. S. 434.
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in ihrer Wissenschaft weiterarbeiten und eine Dissertation vorbereiten wollten; dabei handelt es sich um eine Tradition, die bis heute anhält, zumal man in Griechenland keine höheren Studien nach dem gewöhnlichen Universitätsabschluß eingerichtet hat. In gleicher Weise zogen es die gut situierten Studenten oder solche, die ein Stipendium oder irgendeine andere Unterstützung erhalten konnten, ebenso wie die Hörer aus griechischen Gemeinden im Westen vor, sich sogleich an einer ausländischen Universität einzuschreiben. Außerdem hält sich bis heute noch der — vielleicht schon abgeschwächte — Eindruck, daß der Absolvent oder Doktor einer ausländischen Universität besser ausgebildet ist. Zu dieser Auffassung haben sicherlich eine jahrhundertlange Tradition, die bessere Organisation der Studien an europäischen Universitäten, andererseits die Unzulänglichkeiten der Universität Athen in ihren ersten Jahren, wie wir gesehen haben, ebenso beigetragen wie das volkstümliche Vertrauen zum und der allgemeine Respekt vor dem Griechen, der in der „Hesperia", im Westen, ausgebildet wurde.
TRIANT. Τ. TRIANTAFYLLU GRIECHISCHE
BILDUNGSSYSTEME
EIN HISTORISCHER ABRISS
Einleitung Man ist allgemein der Meinung, daß die Geschichte der Menschheit ein kontinuierlicher Vorgang ist. Daher müssen wir, bevor wir irgendeine Epoche mit den Methoden der Geschichtswissenschaft untersuchen, diese in die richtigen historischen Zusammenhänge stellen, indem wir einige der bedeutsamsten Ereignisse vor und nach der zu erörternden Epoche betrachten. Es ist hinlänglich bekannt, daß die Zivilisation, wie wir sie kennen und schätzen, hauptsächlich aus drei Ursprüngen zu uns gelangte: Griechen, Römer und das Christentum legten das Fundament, das bei der Ausbildung der modernen Zivilisation entscheidend beteiligt war. Die Griechen und im besonderen die Athener verkörperten den neuen Geist in der Welt. Sie entwickelten eine Art Zivilisation, die von individueller Freiheit, Philologie, Philosophie, Kunst und Bildung gekennzeichnet ist. Dafür wird die Welt dem kleinen, aber energischen und schöpferischen Volk der Griechen immer dankbar sein. Die Römer wiederum dachten mehr praktisch und spezifisch. Auf Gebieten, wo Rom tüchtig war, war Griechenland schwach und umgekehrt; Griechenland tat sich in Bereichen hervor, in denen Rom Schwächen zeigte. Wir können daher sagen, daß Rom und Griechenland sich bei der Grundsteinlegung unserer Zivilisation ergänzten. Schließlich diente das Christentum als Verbindungsbrücke zwischen der Zivilisation des Altertums und der modernen Zeit. Die klassische Epoche 1. Wenn wir vom Beginn der griechischen Bildung oder auch des gesamten klassischen Altertums sprechen, können wir uns an Homer (8. Jahrhundert v. Chr.) halten, da wir über diese Zeit schriftliche Informationen besitzen. Homers Schriften stellen die ersten Aufzeichnungen dar, die uns bereits ein Bild der klassischen griechischen Bildung vermitteln.
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Homer war der wahre Lehrmeister Griechenlands; seine beiden Epen wurden die zwei Hauptquellen jeglichen kulturellen Einflusses in Griechenland. Auch noch in späterer Zeit sind die Werke, die auf Homer Bezug nehmen, mehr als zahlreich. Das Ideal, dem Homer in seinen Epen huldigt, ist die Tugend in seiner heroischen Bedeutung. Eng verbunden mit dieser Auffassung von Tugend (αριστεία) ist die der Ehre und des Ruhmes. Die ideale Verkörperung homerischer Bildung und Erziehung ist der „vollkommene Mensch". Die homerische Erziehung war für jeden Einzelmenschen eigens zugeschnitten und war nur für eine Minderheit bestimmt. 2. Die Erziehung in Sparta zielte darauf ab, die jungen Leute zu tapferen Kriegern und ergebenen Bürgern zu machen. Die Erziehung in Athen wiederum, auch wenn sie einseitig war, verband die Idee mit dem Ideal der VortrefHichkeit im Charakter, nämlich Wille (Ethik), Körperbau (Körper) und Geist (Verstand). Das ergab die erste Bedeutung des Terminus „Humanismus". Nach der Meinung eines Humanisten konnte jedes menschliche Wesen zur Vortrefflichkeit an Körper, Verstand und Charakter erzogen werden. Epiktet sagte über die alten Athener, daß sie „unter allen anderen die einzigen waren, die nicht große Häuser, sondern lieber große Seelen bauten". 3. Die höhere Bildung begann im Altertum mit den Sophisten, die auch ihre ersten Lehrer stellten. Daneben waren die Sophisten auch die ersten, die die Vorstellung allgemeiner Erziehung und Bildung verbreiteten. Im besonderen boten die Werke der Sophisten folgendes auf den jeweiligen Gebieten: a) in den Bereichen Geometrie, Astronomie, Arithmetik und Musik, das Quadrivium der mittelalterlichen Schulen, b) im Bereich der Philosophie den Ausgangspunkt für die Geschichtswissenschaft, c) auf dem Gebiet der kritischen Beurteilung der Dichter das Rüstzeug zum Studium der Beziehungen zwischen Denken und Sprache, was die Sophisten zum Aufstellen von Sprachgesetzen veranlaßte. Sie legten den Grundstein für die wissenschaftliche Grammatik. 4. Sokrates (470—399) wird als Prediger der Tugend in ihrem absoluten ethischen Sinn angesehen. Er betonte in seinen Lehren den Vorrang der Wahrheit, mittels der der Mensch Tugend und geistige Vollkommenheit erreichen kann; diese ist nach seiner Meinung das Endziel der Erziehung. 5. Die großen Lehrmeister zu Beginn des 4. Jahrhunderts v. Chr. bestimmten klar und eindeutig den allgemeinen Rahmen der geistigen Kultur der klassischen Epoche und ebenso der Erziehung. Es gibt zwei Strömungen in dieser Kultur: Eine ist wissenschaftlich und philosophisch ausgerichtet und hat Piaton als Hauptvertreter, die andere ist philosophisch orientiert und besitzt in Isokrates den führenden Lehrmeister. Piaton (427—347 v. Chr.) errichtete die Akademie, in der er die dialektische Methode verwendete. Damit wurde er zum Vorläufer der aktiven Methoden im Unterricht und in der
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Forschung. Sein Denken sollte nicht nur das alte Griechenland, sondern auch alle folgenden Generationen beeinflussen. Viele seiner pädagogischen Vorstellungen wie Auswahl der Lehrer aus der Stadtbevölkerung, Chancengleichheit in der Erziehung (für Knaben und Mädchen), Pflichtschulerziehung wurden zu Zielvorstellungen, die die folgende Generation in die Praxis umsetzte. Isokrates (435—338) war der größte Lehrmeister der Rhetorik. Seiner Meinung nach ist der λόγος (Sprache) das Merkmal, das den Menschen vom Tier unterscheidet. Die Sprache ist die unerläßliche Voraussetzung für jeglichen Fortschritt, ob es sich nun um Recht, Kunst oder Erfindungen handelt. 6. Aristoteles (384—322) verbindet in seinen Vorstellungen von Bildung und Erziehung die Ansichten Piatons und Isokrates', was seine scharfsinnigen pädagogischen Vorstellungen noch unterstreicht. Nach Aristoteles sollten Kinder bis zum Alter von sechs Jahren hauptsächlich spielen. Wirkliche Erziehung sollte ab sieben Jahren mit der Unterweisung in Lesen, Schreiben, körperlicher Ertüchtigung, Musik und Zeichnen einsetzen. Für das höhere Schulwesen schlug er die Fächer Rhetorik, Literatur, Geschichte, Naturwissenschaften und Philosophie vor. Er betonte auch den Wert von Wahrnehmung und Erfahrung: er hielt sie für die Hauptquellen wissenschaftlicher Kenntnisse und für den Weg zur Forschung und zum Studium. Er glaubte an den induktiven und deduktiven Prozeß des Denkens und betonte folgende Grundsätze: a) von den bekannten Dingen zu unbekannten, b) die Angleichung des Lehrvorganges an die Bedürfnisse jedes Schülers, c) Achtung vor dem Wesen des Kindes. Aristoteles gründete in Athen das „Lyceum", wo er eine reichhaltige Bibliothek und Sammlungen audivisuellen Materials anlegte. Der Beitrag Aristoteles' zur Erziehung kann vielleicht in zwei Hauptkategorien eingeteilt werden: die eine befaßt sich mit der Beschaffenheit des Wissens und deren Erwerbung, die andere hat mit Gesellschaft und Politik zu tun. Die hellenistische Epoche In der hellenistischen Epoche erreicht die Erziehung ihre endgültige Form. Erziehungsangelegenheiten werden systematisiert; man verfährt auf Grund der von den Gelehrten der klassischen Epoche dargelegten Leidinien. Das Konzept der Persönlichkeit und das Ideal des vollkommenen Menschen werden in dieser Zeit stärker betont; später änderte man es in ein Konzept des „Humanismus" ab. Griechische Erziehung war daher die Einführung in die griechische Lebensart. Erziehung beginnt mit der Grundschule (Elementarschule) zwischen 7 und 14 Jahren, geht über in das Sekundarschulwesen, zwischen 14 und 17 Jahren, und endet mit der Heranbildung guter Bürger und Krieger zwischen 18 und 20 Jahren.
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Die Universitäten, die während dieser Epoche in Athen (200 v. Chr.), Alexandria, Pergamon und Antiochia errichtet wurden, waren bedeutsame Institutionen. Sie erfüllten ihre Rolle bis zum 6. Jahrhundert, als Justinian (529 η. Chr.) die Philosophenschule in Athen mit dem Schlagwort „Kein Athener soll in der Philosophie unterrichtet werden" Schloß. Die christliche Epoche
Die Grundeigenschaft der Erziehung in der klassischen Epoche war, wie erwähnt, die Erziehung des ganzen Menschen ohne jegliche Spezialisierung oder Ausbildung auf einen bestimmten Beruf hin. Die Berufsausbildung fand außerhalb der Schule statt, nämlich beim Handwerksmeister, bei dem der Student den Beruf erlernte (τέχνη). Das Erziehungssystem, das sich in der hellenistischen Epoche herausgebildet hatte, blieb während der römischen und byzantinischen Zeit unverändert. Die Ausbreitung des Christentums tat dem Fortbestand der klassischen παιδεία keinen Abbruch. Die christliche Epoche übernahm das Konzept des hellenistischen Humanismus, wonach der Mensch den Wert darstellt, der über jeder Spezialisierung steht. Klassische Erziehung ist andererseits auch die beste Voraussetzung für das Verständnis und die Anerkennung der göttlichen Gnade. Die vollständige Harmonisierung der klassischen Tradition mit den christlichen Lehren wurde von den drei Kirchenlehrern Johannes, Basilius und Gregor gefördert, die als die Gründer der griechisch-christlichen Erziehungslehre (παιδεία) gelten. Sie empfahlen, einige ausgewählte klassische Werke zu lehren, die den Zielvorstellungen des damaligen Erziehungsprogramms zu entsprechen schienen. Die byzantinische Epoche
In der byzantinischen Epoche orientierte man sich auch nach den beiden Zielen Hellenismus und Christentum. Die Tradition der hellenistischen Schule blieb neben den christlichen Lehren während der ganzen byzantinischen Epoche fortbestehen. Die Grundschule ist die Grammatikschule mit Lesen, Schreiben, Rechnen und der Religion als Hauptfächer. Die Sekundärschule war dem Unterricht der Klassiker gewidmet. (Wir möchten hier als Beispiel den Studenten Michael Psellos erwähnen, der die ganze Ilias auswendig vortragen konnte.) Das höhere Schulwesen ist für diese Zeit das typischere Merkmal: Die Universität Konstantinopel, im Jahr 425 n. Chr. von Theodosius dem Großen gegründet, blieb bis 1453 das internationale Zentrum für höhere Studien. Von Ost und West kamen Studenten an diese Universität, um in die Philosophie, das Recht und in die Schätze der klassischen Tradition eingeführt zu werden. Es gab an dieser Universität 31 Lehrstühle: 15 für grie-
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chische Sprache und Rhetorik, 13 für Latein, zwei für Recht und einen für Philosophie. Das Bildungswesen in Griechenland in der Zeit von 1453 bis 1917 Die Bildungssituation während dieser Zeit ist gut bekannt. Um die Mitte des 15. Jahrhunderts verließen die meisten griechischen Gelehrten das Land in Richtung Westen, wo sie zu den Stützen und Förderern der Renaissance wurden. Der Kirche, von den Eroberern mit Privilegien ausgestattet, gelang es, der geistige und nationale Mittelpunkt zu werden. So war zu dieser Zeit die orthodoxe Kirche die Arche, die den nationalen Charakter während dieser unendlich langen Besatzungszeit bewahrte. Die berühmte „Geheime Schule" blieb die größte geistige Macht, die den Hellenismus in diesen Jahren aufrechterhielt. Das Bildungswesen wurde im 17. Jahrhundert qualitativ verbessert. Von den neuerrichteten griechischen Erziehungszentren wollen wir die Akademie von Konstantinopel erwähnen, die zum Leuchtturm des griechischen Bildungswesens wurde. Das 18. Jahrhundert zeigt ein weiteres Ansteigen dieser geistigen Bewegung. Die den Phanarioten (1709—1821) verliehene Verwaltungsbefugnis half auch ungeheuer bei der Ausbreitung des modernen Bildungswesens. (Errichtung der Akademien in Bukarest und Jassy.) Das Hauptmerkmal des griechischen Erziehungswesens war im 18. Jahrhundert wiederum die Anpassung an die klassische Tradition. Allmählich nahmen jedoch die Mathematik und Naturwissenschaften einen erheblichen Teil im Lehrplan ein. Adamantios Koraes (1748—1833) wurde in dieser Zeit zum bekanntesten Förderer der geistigen Errungenschaften der Vorfahren. Seiner Auffassung nach war die Heranbildung der moralischen Persönlichkeit das Ziel der Erziehung. In dieser Art Erziehung „müßte der Mensch seine Leidenschaften beherrschen". Als großer Anhänger der Ideen der Französischen Revolution betont Koraes das Prinzip der „Isonomie", nach der alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind. Erzieher und Gelehrte erreichten durch ihre Lehren die Einheit von Nation und Religion; sie bereiteten den nationalen Aufstand geistig vor. Die Revolution des Jahres 1821 unterbrach die Bildungsbewegung des Volkes. Erst 1824 wurde ein Fünfmannkomitee eingesetzt, das den Aufbau des Erziehungswesens zu untersuchen begann. Sie arbeiteten ein Erziehungssystem aus, das aus Grund-, Sekundär- und Höheren Schulen bestand. Unglücklicherweise verschlimmerte sich die Kriegslage, und daher wurden die Empfehlungen dieses Komitees niemals verwirklicht. Den ersten ernst zu nehmenden Versuch einer Neugestaltung des Erziehungsbereiches unternahm Iöannes Kapodistrias, der Gouverneur Griechen-
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lands in der Zeit von 1828 bis 1831. Seiner Meinung nach sollte die Erziehung nicht allein auf das Training des Verstandes, sondern auch auf die Heranbildung der Seele abzielen. „Wer nur das Materielle erforscht und meistert, ohne seine Seele heranzubilden, ist schlimmer als jeder Verbrecher, denn er hat gelernt, das Verbrechen gekonnter auszuführen." Kapodistrias schlug als erster vor, in verschiedenen griechischen Provinzen Universitäten einzurichten; im Jahr 1823 gelang es ihm, in Korfu die Ionische Akademie mit vier Abteilungen (Theologie, Medizin, Recht und Philosophie) zu gründen. Diese Akademie existierte bis zum Jahr 1864. In den Jahren 1834 und 1836 traten zwei sehr wichtige Gesetzeswerke für das Grund- und Sekundarschulwesen in Kraft. Damit wurden folgende Schultypen etabliert: 1. eine Volksschule (Grundschule) mit vier Stufen, 2. eine hellenische Schule mit drei Stufen und 3. das Gymnasium mit vier Stufen. Diese Art Schulorganisation blieb bis zum Jahr 1929 aufrecht, als eine sechsjährige Grundschule und eine sechsjährige Sekundärschule eingerichtet wurde. Im Jahr 1837 wurde die Universität gegründet; sie blieb bis 1925 die einzige Hochschuleinrichtung für den hellenischen Raum. Diese Universität war im 19. Jahrhundert das alleinige wissenschaftliche Institut im Osten. Zur gleichen Zeit errichtete man ein College zur Lehrerausbildung; 1876 wurde sie in eine normale, dreijährige Lehrerbildungsanstalt in Saloniki umgewandelt. Im Jahr 1895 wurde ein sehr wichtiges Gesetz beschlossen, das die Organisation des griechischen Schulwesens und die Grundschulerziehung im besonderen betraf. Dieses Gesetz machte die Lehrer der Grundschulen zu Staatsbeamten, zugleich sah es auch die Ernennung von Inspektoren für die Grundschulen vor. Der erste panhellenische Erziehungskongreß, der im Jahr 1904 in Athen abgehalten wurde, gilt als besonders wichtig: folgende Themen wurden besprochen: 1. Verbesserung der Lehrpläne, 2. die Notwendigkeit von Inspektoren über die Superintendenten für die Entwicklung des Lehrplanes am allgemeinen Sekundarschulwesen, 3. Einsetzung des Rates für das Sekundarschulwesen, 4. Einrichtung der Bewerbung an experimentiellen Schulen, 5. Errichtung der Abteilung für Pädagogik an der Universität und des Institutes für Fortbildung der bereits berufstätigen Lehrer. Die Zeit zwischen 1895 und 1916 ist von einer Reihe von Konflikten gekennzeichnet, die den Frieden in einigen Mittelmeer- und Balkanstaaten beeinträchtigten. In der Politik war Benizelos die beherrschende Erscheinung, während die Gesellschaft durch die Verstädterung umgeformt wurde. Der Erste Weltkrieg schuf im Jahr 1914 neue Probleme. Im Erziehungsbereich gewann die Volkssprache immer mehr Anhänger; fortan dominiert das Sprachenproblem alle Erziehungsbelange. Ein neuer Anlauf zu einer Schulreform wurde im Jahr 1914 genommen,
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doch die einzige gesetzliche Verordnung, die vom Parlament verabschiedet wurde, war die Einsetzung eines zwölf Mitglieder umfassenden Schulrates beim Unterrichtsministerium. Damit wurde die Verwaltung und Kontrolle des Erziehungswesens auf höchster Ebene im Unterrichtsministerium vereinigt. Dieses Gesetz blieb Jahre hindurch unverändert. Im Jahr 1914 stellte man die Nationale Metsoveion Polytechnische Universität, die seit dem Jahr 1843 die Funktion einer Kunstgewerbeschule erfüllte, auf wissenschaftlichen Betrieb um. Eine Gruppe sehr fortschrittlicher Lehrer, die nichts mit den Schulbehörden zu tun hatte, gründete die Gesellschaft für Unterricht unter dem Namen έκπαιδεύτικος δμιλος. Das Ziel dieser Gesellschaft war, die Öffentlichkeit über ihre Ansichten in Schulbelangen zu unterrichten. Diese Ansichten waren vom Studium der realen Verhältnisse in Griechenland und von ihren eigenen Studien im Ausland geprägt, wo die pädagogische Wissenschaft gerade beachtliche Fortschritte machte. Im Jahr 1912 hatte diese Gesellschaft 650 Mitglieder. Die folgenden politischen Veränderungen führten zur Spaltung und im Jahr 1936 schließlich zur Auflösung dieser Vereinigung von Lehrern. Sie war aber trotz aller Schwierigkeiten, mit denen sie konfrontiert war, für Griechenland sehr nutzbringend. Im Jahr 1915 wurde eine reguläre Schule zur Ausbildung von technischen Lehrern gegründet, die die niederen technischen Schulen mit Lehrern versorgen sollte. Wegen der anschließenden politischen Ereignisse war die Schule nicht lange in Betrieb. 1917—1928 Nach dem Ersten Weltkrieg bekundeten alle zuständigen Stellen großes Interesse, das Problem des griechischen Schulwesens zu lösen. In der Gesetzgebung des Jahres 1917 findet man bereits einen Reformversuch. Die Gesetze führten die Volkssprache für alle Gegenstände in der Grundschule als Unterrichtssprache ein. Dieser Reformversuch rief viele und verschiedene Reaktionen unter den Erziehern hervor. In der Folge waren die Pädagogen und die Intellektuellen im allgemeinen in zwei gegnerische Lager geteilt. Trotz aller Reibungen und Streitpunkte war jedoch die Bedeutung der Volkssprache, zumindest für die Grundschulen, allgemein anerkannt. Andererseits beeinflußten folgende zu der Zeit ablaufende Ereignisse die Erziehungsvorhaben: die Ausrufung der Demokratie mit der Volksbefragung des Jahres 1924, die neue Verfassung nach 1927 und die Sicherstellung einer stabilen Regierung unter der Führung Benizelos'. In diesem Zeitraum gründete man zwei Institutionen des höheren Schulwesens: die Hochschule für Landwirtschaft in Athen (1920) und die Universität Saloniki (1925).
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Während dieser Zeit traten neue Gesetze in Kraft, die die erste vollständige Schulreform im modernen Griechenland darstellten. Durch das Gesetz 4390/1929 wurden die griechischen Schulen in Kindergärten für 4- bis 6jährige, Grundschulen für 6- bis 12jährige und Gymnasien für 12- bis 18jährige (also jeweils sechs Jahre für Grundschule und Sekundärschule) eingeteilt. Im Jahr 1933 wurden alle regulären Schultypen, die Grundschullehrer ausbildeten, abgeschafft und durch Pädagogische Akademien (Lehrer-Colleges) ersetzt. Das Studium an diesen Akademien dauerte zwei Jahre nach Abgang von einem Gymnasium. Der Lehrkörper für die Sekundärschulen wurde und wird noch an den Universitäten, der Nationalen Akademie für Leibeserziehung, der Hochschule für Hauswirtschaftslehre usw. ausgebildet. Zum beruflich-technischen Erziehungswesen ist zu sagen, daß das erste Gesetz, das die Grundlagen für diesen Schultyp schuf, im Jahr 1931 (Gesetz 5187) in Kraft trat. Es regelte vor allem den Aufbau der Handelsschulen. Im Jahr 1937 wurde die Panteios-Hochschule für Politische Wissenschaften gegründet; sie galt gleichrangig mit der Universität, der Hochschule für Handel und der Abteilung der Politischen Wissenschaften der universitären Rechtshochschule. Im Jahr 1939 regelte man die Unterbringung der Studenten neu. Später beherbergten diese Gebäude Kriegswaisen. Der Zweite Weltkrieg, die darauffolgende Besetzung und der Widerstandskampf unseres Volkes verhinderten, daß viele der vorgeschlagenen Schulreformen durchgeführt wurden. Der Zweite Weltkrieg brachte auch die drei größten Probleme unseres Jahrhunderts klar zutage: es schien unbedingt notwendig, a) Wissenschaft und Technik und dadurch auch die Verbesserung der Lebensbedingungen des Volkes voranzutreiben, b) die demokratischen Ideen klarzustellen und in Theorie und Praxis zu verbreiten, c) internationale Verständigung und Zusammenarbeit zu erreichen. Die Grundvoraussetzungen, diese Forderungen erfüllen zu können, glaubte man im Schulwesen vorzufinden. 1951—1963 Zu Beginn dieses Zeitraumes war unser Land bestrebt, die Mittel für den Wiederaufbau sicherzustellen. Folgende Fakten und Ereignisse geben Aufschluß über die Orientierung und sogar über die politische Entwicklung unseres Landes in der Nachkriegszeit: die Eingliederung Griechenlands in den Europarat und in die NATO (1952) sowie die vorweggenommene Mitgliedschaft in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Im Jahr 1957 wurde eine Kommission eingesetzt, die von allen politischen Parteien beschickt wurde und έπιτροπή παιδεία (Schulkommission) hieß.
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Im folgenden Jahr legte sie der Regierung die Ergebnisse ihrer Untersuchung vor. Die Hauptthemen dieser Kommission waren: 1. In Schulangelegenheiten sollten klare Prioritäten gesetzt werden, 2. das Interesse des Staates am Schulwesen sollte in Taten und nicht in Theorien seinen Ausdruck finden, 3. die Lehrpläne sollten neu überarbeitet werden, 4. das griechische Schulwesen sollte humanistisch ausgerichtet bleiben, 5. die Volkssprache als auch die Schriftsprache (καθαρεύουσα γλώσσα) sollten den Studenten gelehrt werden, 6. das berufsbildende und technische Schulwesen sollte ausgebaut werden, 7. Stipendien für bedürftige Studenten sollten derart ausgeweitet werden, daß diese ihre Studien nach ihren Neigungen weiterführen können, 8. die Schulpolitik sollte von allen politischen Parteien getragen werden. Wenn auch diese Vorschläge der Kommission nicht zur Gänze angenommen wurden, begann die Regierung die neue Schulreform mit der „Organisation der technischen und berufsbildenden Schulen und der Verwaltung des Schulwesens" (Gesetz 3971/1959) und fuhr mit der „Vereinheitlichung und Koordinierung des technischen Berufsschulwesens" fort (Gesetz 3973/1959). Die ersten Gesetzesmaßnahmen, die sich auf die Verwaltung des technischen Berufsschulwesens bezogen, waren: a) Einsetzung eines allgemeinen Direktoriums für technische Berufsschulen beim Unterrichtsministerium, b) Bestellung von Schulinspektoren und allgemeinen Inspektoren für das technische Berufsschulwesen, c) Einsetzung eines Zentralen Rates für das technische Berufsschulwesen beim Unterrichtsministerium. Dasselbe Gesetz teilte das Gymnasium in zwei Typen; der zweite Schloß auch klassische, wirtschaftliche, technische usw. Richtungen ein. Die Technischen Schulen (Grund- und Sekundarstufe) und die Schulen für technische Assistenten ebenso wie die Schule für Lehrer im technischen Berufsschulwesen wurden durch diesen Gesetzeserlaß geregelt. Das Angebot der letztgenannten Schule umfaßte: 1. pädagogische Grund- und Wiederholungskurse für Aufsichtsunterricht und für den im Workshop tätigen Berufsschullehrkörper, 2. pädagogische und fachtechnische Ausbildung für den Unterricht für im Workshop beschäftigte Berufsschullehrer, 3. Wiederholungskurse für Aufsichts-, Lehr- und Workshop-Personal, das bereits im Berufsschulwesen tätig ist. Mit dem zweiten Erlaß wurden die technischen Berufsschulen, die der Kompetenz anderer Ministerien unterstanden, in die Kontrolle des Unterrichtsministeriums überführt. Ein weiteres wichtiges für diese Zeit erwähnenswertes Ereignis ist die Errichtung einer staatlichen Stipendienstiftung (Gesetz 1825/1951), die sich mit jeder Art von Stipendien (im In- und Ausland) befaßt. 1964—1974 Im Jahr 1964 trat ein neues Gesetz in Kraft, das die „Organisation und Verwaltung des allgemeinen Schulwesens, Grund- und Sekundarstufe"
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(Gesetz 4379/1964) betraf. Hauptziele dieses Gesetzes waren: 1. neun Jahre Schulpflicht, 2. liberale Erziehung, 3. neue Bestimmungen für Aufnahmsprüfungen an Universitäten und Hochschulen (άκαδημαϊκον άπολυτήριον = Bakkalaureat), 4. Einteilung der Sekundärschulen — Gymnasien in zwei Stufen, Untere und Obere Sekundärschule (Lyceum), 5. die Errichtung eines Pädagogischen Institutes, das an die Stelle des höheren Schulrates trat. Neben seinen anderen Aufgaben war dieses Institut für Forschung und Lehrerfortbildung zuständig, 6. die Studiendauer an den Pädagogischen Akademien (Lehrerbildungsanstalten) wurde von zwei auf drei Jahre erhöht. Ein weiteres Gesetz (Nummer 4417/1964) regelte die Gründung einer Schule für Philosophie an der Universität Iöannina, und ein anderes Gesetz (Nummer 4425/1964) die Errichtung einer neuen Universität in Patras. Von 1967 bis 1974—der Zeit der Militärdiktatur — wurde jeglicher Fortschritt im griechischen Schulwesen aufgehalten und rückgängig gemacht. 1974 bis heute Mit der Wiederkehr der Demokratie in ihr Ursprungsland wurden intensive Reformbestrebungen in allen Lebensbereichen und besonders auch im Schulwesen unternommen. Man ergriff neue Maßnahmen und plante eine neue Schulgesetzgebung. Die moderne griechische Schulpolitik im allgemeinen und die technische Berufsschulbildung im besonderen werden einen bedeutsamen Markstein in der geistigen und gesellschaftlichen Geschichte dieses Landes darstellen. Nachfolgend die Hauptpunkte dieser neuen Schulpolitik in Griechenland: a) Gesetzliche Lösung des sogenannten Sprachenproblems. b) Unterricht der alten klassischen Texte nach neugriechischen Übersetzungen. c) Errichtung eines Zentrums für Schulforschung und Lehrerfortbildung. d) Auswertung der Pflichtschulerziehung von sechs auf neun Jahre und Neuaufbau des Sekundarschulwesens. e) Reorganisation und Ausweitung des technischen Berufsschulwesens. f ) Neuordnung der Pädagogischen Akademien (Lehrerbildungsanstalten) und Verlängerung ihrer Studiendauer von zwei auf drei Jahre. g) Organisation von Intensivkursen für Lehrpersonal. Viele Jahre hindurch war wohl die Sprachenfrage eines der schwierigsten Probleme, besonders wegen der negativen Folgen, die es auf die Studenten hatte. Die Diskrepanz der Sprache zwischen Schule und nichtschulischem Leben hatte das intellektuelle Gleichgewicht der Lehrer ebenso wie die geistige Entwicklung der Kinder beeinträchtigt. In der Schule mußten sie die „Geläuterte Sprache" (καθαρεύουσα) lernen (sowohl lesen als auch schreiben), während
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sie im wirklichen Leben eine andere Sprache benützten. Das verwirrte die Studenten derart, daß sie unter — wie es die Psychologie nennt — „experimenteller Neurose" litten. Eine weitere Folge war, daß sie nicht in der Lage waren, eine Arbeit konsequent in einer der beiden Sprachen zu schreiben. Das Sprachenproblem, das das griechische Volk 150 Jahre lang beschäftigt hat, fand jetzt seine endgültige Lösung. Daß diese Reform fast von allen intellektuellen Politikern unseres Landes gebilligt wurde, ist ein ermutigendes Anzeichen. Bei zwei Treffen im Unterrichtsministerium unter Vorsitz des Premierministers wurde definitiv entschieden, daß die Volkssprache auf allen Stufen des Schulwesens verwendet wird. Der Unterricht der Klassiker im Originaltext stand mit dem Sprachenproblem in enger Verbindung. Bis heute beherrschte dieser Gegenstand die Lehrpläne der Sekundärschulen. Die Studenten mußten diesem Fach mehr Zeit und Energie widmen als jedem anderen Gegenstand. Daraus folgte eine Art grammatische und syntaktische Nekropsie der Klassiker. Die Studenten waren nur sehr selten in der Lage, den Inhalt dieser klassischen Texte zu verstehen. So war, allgemein gesagt, ihr Erfolg vom pädagogischen Standpunkt negativ. Durch die neuen Maßnahmen wurden im Schuljahr 1976/77 die klassischen Texte zum ersten Mal aus neugriechischen Übersetzungen unterrichtet. Das Zentrum für Schulforschung und Lehrerfortbildung veranstaltete eigene Seminare, die den Lehrern helfen sollten, ihre Lehrmethode der oben beschriebenen Umstellung anzupassen. Dieses Zentrum (KEME), das mit dem Gesetz 186/1975 geschaffen wurde, ist eine unabhängige Dienststelle, die direkt dem Unterrichtsminister verantwortlich ist. Die wichtigsten Zielsetzungen dieses Zentrums sind: Schulpolitik und Schulplanung zur Verbesserung aller Schulstufen mit Ausnahme des Hochschulbereiches (Grund-, Sekundär- und Höhere Schulen, Allgemeinbildende und Berufsschulen) sowie der Unterricht griechischer Kinder im Ausland. Das Hauptmerkmal des obigen Zentrums besteht darin, daß seine Mitglieder keine Verwaltungsaufgaben zu erfüllen haben. Das Zentrum setzt sich aus sieben Räten A', zwanzig Räten B' und elf Forschungsassistenten und natürlich dem notwendigen Dienstpersonal zusammen. Das Gesetz 309/76 ist ebenso bedeutend, da es die Richdinien für die Neuordnung des Allgemeinen Schulwesens (Grund- und Sekundarstufen) liefert. Die Pflichtschulzeit wird von sechs auf neun Jahre erweitert. Dies wird erwartungsgemäß die soziale und wirtschaftliche Lage des Landes beeinflussen. Verständlicherweise wird diese Maßnahme erst nach vier Jahren vollständig ausgeführt sein. Sie wird große Geldbeträge für den beträchtlichen Mehrbedarf an Schulräumen und für die Einstellung zusätzlicher Lehrer erfordern, zumal durch diese Maßnahmen die Gesamtschülerzahl um wenigstens 18—20% erhöht wird.
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Das allgemein bildende Sekundarschulwesen wird in zwei Typen geteilt: Gymnasium und Lyceum. Neue Gegenstände sind in die Lehrpläne der ersten Stufe der Sekundärschulen mit der Absicht aufgenommen worden, die Schüler die soziale und wirtschaftliche Struktur unseres Landes zu lehren; namentlich Berufsberatung und technischer Grundkurs. Die Reorganisation der technischen Berufsschulbildung ist durch das Gesetz 577/77 geregelt. Dieses Gesetz befaßt sich mit Sekundär- und höheren nicht-universitären technischen Berufsschulen. Im Sekundarschulbereich wurden zwei Arten von Schulen eingerichtet. Die erste ist das technische Berufslyceum mit einem Dreijahresprogramm und vielen Sonderlehrgängen, die den nationalen Bedürfnissen nach dem jeweils letzten wirtschaftlichen Entwicklungsplan entsprechen. Die zweite Art sind die technischen Berufsschulen (Sekundarstufe), die zu einem höheren Grad an Spezialisierung mit praxisorientierten Kursen führen und deren Programme — im Gegensatz zu den Lyceen — ein und zwei Jahre dauern. Gegenwärtig werden für diese beiden Schultypen neue Lehrpläne erstellt. Zusätzlich wurden die Höheren (nicht-universitären) technischen Zentren im Rahmen der neuen Schulpolitik reorganisiert. Diese neue Schulpolitik berücksichtigt auch die neuen Trends in der modernen Padagogik, da sie es als notwendig erachtet, die Schulerziehung als Dienst an der Gesellschaft zu betrachten, diese stärker mit der übrigen Politik zu koordinieren und insgesamt in die Entwicklungsstrategie einzubauen. Schließlich wird die Grundschulbildung als eine ganz wesentliche Vorbedingung nicht nur für die Ausweitung des höheren Schulwesens, sondern weiters und in noch bedeutenderem Ausmaß für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung insgesamt erachtet. Pädagogische Akademien, die Grundschul-, Kindergarten- und Sonderschullehrer ausbilden, werden auch nach modernen Grundsätzen errichtet. Das diesbezügliche Gesetz ist noch im Begutachtungsverfahren. Es verlängert die Studienzeit der Grundschullehrer von zwei auf drei Jahre. Die Verwirklichung der neuen Schulmaßnahmen, die man als umfassende Schulreform bezeichnen kann, wird sukzessive verwirklicht werden. Zu diesem Zeitpunkt werden die Aufnahmsprüfungen für die Universität abgeschafft sein und neue, moderne Auswahlkriterien angelegt werden. Die im Jahr 1975 in Genf abgehaltene Internationale Konferenz unterstrich in der Empfehlung, die den Unterrichtsministerien der UNESCO-Mitgliedstaaten übermittelt wurde, neben anderen Dingen folgendes: „Wie immer die Veränderungen im Schulsystem sind oder sein werden, das Lehrer-SchülerVerhältnis wird weiterhin im Mittelpunkt des Bildungsprozesses stehen. Daher stellt die bessere Ausbildung des Lehrkörpers einen der bedeutendsten Faktoren der Schulentwicklung und eine wichtige Voraussetzung für jegliche Schulreform dar."
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Falls die Schule die Erfordernisse unserer Zeit und der kommenden Jahrzehnte erfüllen soll, müssen Organisation, Bildungsinhalte und Methoden der Lehrerausbildung dauernd verbessert werden. In Sonderfällen müssen neue Bildungsstrategien und Schulkonzepte gefunden werden, die die besonderen sozialen und kulturellen Bedingungen berücksichtigen, unter welchen die Lehrer ihren grundlegenden Lehraufgaben nachkommen. Die Weiterbildung sollte fester Bestandteil des Lehrerausbildungsprozesses sein und daher regelmäßig für alle Kategorien von Lehrern veranstaltet werden. Man sollte dabei so flexibel wie möglich vorgehen und den persönlichen Bedürfnissen der Lehrer und den besonderen Eigenheiten jedes Landesteiles entgegenkommen, wobei der Fortschritt in den verschiedenen Sonderbereichen und der ständige Zuwachs an Wissen berücksichtigt werden sollten. Unsere Schulpolitik lenkt die Aufmerksamkeit der zuständigen Behörden in diese Richtung. Um die sich wandelnden Bedürfnisse der Lehrer und Studenten zu erfüllen, hat KEME für Sekundarschullehrer Seminare veranstaltet, an denen pädagogische und andere Kurse angeboten werden. Bevor ich meinen Beitrag abschließe, muß ich zugeben, daß sicherlich noch viele Probleme vernachlässigt oder kaum angeschnitten wurden. Heutzutage machen alle Länder eine sprunghafte Entwicklung durch. In den sogenannten entwickelten Staaten gehen diese Veränderungen sehr rasch vor sich und stellen Reaktionen auf neue, bedeutungsvolle Probleme dar. Das Recht auf Bildung ist schon einen weiten Weg von seiner Proklamation in Richtung Verwirklichung gegangen. Die ersten Schritte sind immer schwer. Vom Stadium der gesetzlichen Verankerung bis zu seiner vollständigen Befolgung ist es noch weit. Ohne jeden Zweifel wird es aber jetzt leichter sein, das zu erreichen. Werfen wir noch einen wirklichkeitsnäheren Blick auf die Empfehlungen der Internationalen Konferenz. Im einzelnen hält eine Empfehlung fest, daß „die Schulbildung auf allen Ebenen zur internationalen Verständigung beitragen solle". „Die Schulbildung", fährt die Empfehlung fort, „sollte die Achtung der Menschenrechte und ihre Anwendung im täglichen Leben fördern. Sie sollte die Vorstellung, daß alle Menschen gleich sind, und den Geist der Gerechtigkeit, der in der weltweiten Menschenrechtsdeklaration zum Ausdruck kommt, hervorheben und zugleich darauf hinweisen, daß dies gleiche Achtung vor allen Menschen ohne Rücksicht auf Unterschiede wie Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politische Richtung oder andere Überzeugung, nationale oder soziale Herkunft, Besitz, Geburt oder anderen Status bedeutet."
HARALD HEPPNER DIE
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UNIVERSITÄT A U S
B E D E U T U N G
FÜR
DIE
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G R A Z E R
S T U D E N T E N S C H A F T
S Ü D O S T E U R O P A
1867—1914
Das Studium über geistige Wechselbeziehungen zwischen bestimmten Wissenschaftszentren und geographischen Räumen führt fast immer auf bestimmte Fächer hin, die im Rahmen einer Universität erblühten und daher die Wechselbeziehungen befruchteten. Wenn man aber die Rolle und Bedeutung einer Universität und nicht die eines oder mehrerer Fächer beleuchten will, ist es unerläßlich, auch den funktionalen Aspekten zwischen einem bestimmten Wissenschaftszentrum und dem Wirkungsraum das Augenmerk zu schenken. Deshalb setzte sich dieser Beitrag zum Ziel, besonders die Funktion und Wertigkeit der Universität Graz für jene Studentenschaft aufzuzeigen, die aus dem südosteuropäischen Bereich im Zeitraum von 1867—1914 nach Graz kam und ganz oder teilweise dort ihre Ausbildung empfing 1 ). Um dem komplizierten nationalen und sozialen Gefüge des südosteuropäischen Raumes gerecht zu werden, scheint es notwendig, den Begriff „Südosteuropa" ziemlich weit zu fassen und außer den engeren Balkanländern den Donau- und Adriaraum der ehemaligen Habsburgermonarchie sowie Rumänien einzuschließen. Diese Begriffsdeutung wurde vor allem deshalb vorgenommen, um die Gesamtheit der südslawischen Studenten erfassen zu können, weshalb innerhalb des habsburgischen Territoriums die östliche Reichshälfte und der Großteil der innerösterreichischen Länder der westlichen Reichshälfte2) sowie Dalmatien in die Betrachtung eingeschlossen werden. Die Stadt Graz, die im Grenzbereich zwischen Mittel- und Südosteuropa liegt, hat neben ihrer historischen Funktion als innerösterreichisches Zentrum u. a. auch als Universitätsstadt Geschichte gemacht. 1585 wurde hier eine von Da die geistigen Leistungen einzelner Fächer der Universität Graz im 19. Jahrhundert der Fachwelt weitgehend schon bekannt sind, ging es dem Autor darum, eine neue Fragestellung um die Rolle und Bedeutung der Universität Graz aufzuwerfen. 2 ) Bei den innerösterreichischen Ländern wurden nicht einbezogen: der deutsche Teil des Herzogtums Steiermark, der vom gemischtsprachigen Südteil (Untersteiermark) relativ klar unterscheidbar ist; das Herzogtum Kärnten zur Gänze trotz seiner gemischtsprachigen Zone, da hierüber auch heute noch offene Fragen bestehen.
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dem Jesuitenorden geleitete Universität gegründet, die als einer der Grundsteine zur gegenreformatorischen Bewegung in den habsburgischen Ländern gedacht war. Nach rund 44jähriger Unterbrechung des Hochschulstatus erstand sie 1827 in erneuerter Form wieder und erreichte 1863 mit der Schaffung der medizinischen Fakultät den Rang einer Volluniversität 3 ). Sie konnte sich naturgemäß in der Größe und Bedeutung mit den berühmten mitteleuropäischen Hochschulen nicht messen, doch besaß auch sie Traditionen wie ζ. B. ein Nahverhältnis zum Südosten Europas, und zwar seit ihrer Gründung im 16. Jahrhundert 4 ). Neben dem Ausreifen der seit 1848 in Arbeit stehenden gesetzlich-administrativen Reformen des Unterrichtswesens schuf das Jahr 1867 mit den verfassungsmäßigen Neuerungen und mit der außenpolitischen Umorientierung der Doppelmonarchie jene Bedingungen, die die österreichischen Universitäten zu jenen Bildungsvehikeln des Fortschritts machten, als die jene akademischen Stätten in die Geschichte bis zum ersten Weltkrieg eingegangen sind5). Der Aufschwung dieser Hochschulen ist unter anderem daraus ersichtlich, daß trotz des Bestehens und Entstehens landeseigener Universitäten und ähnlicher Bildungsinstitutionen im engeren Südosteuropa viele Studenten von dort an einer der österreichischen Universitäten studierten. Das Beispiel von Graz soll diese Entwicklung verdeutlichen. Um die Rolle und Bedeutung der Grazer Universität als Ausbildungsstätte und Wissenschaftszentrum für den südosteuropäischen Bereich zu veranschaulichen, sollen folgende Fragen zur Sprache kommen? 1. Wer waren national und sozial die Studenten aus Südosteuropa? 2. Um welche Größenordnung handelt es sich bei dieser Studentenschaft? 3. Aus welchen Gründen bzw. mit welchen Ausbildungszielen kamen diese Studenten nach Graz? 4. Welche Auswirkungen hatten diese Studien auf den südosteuropäischen Bereich. Leider bestehen keine einheitlichen Quellengrundlagen über die Studenten und ihre Frequenz in Graz. Einerseits liegen Statistiken über die Perzentualanteile der Hörer nach der nationalen Zugehörigkeit vor 6 ), andererseits 3)
F. v. Kranes: Geschichte der Karl-Franzens-Universität in Graz. Graz 1886. S. 4 ff. F. Hauptmann: Die Universität Graz und Südosteuropa. In: Österreichische Hochschulzeitung 28. 1976. 4. Sonderbeilage;/. Math Die Bedeutung der Universität Graz für die kulturelle Entwicklung des europäischen Ostens. In: Festschrift zur Feier des 350jährigen Bestandes der Karl-Franzens-Universität. Graz 1936. S. 187—226; ders.: Die Universität Graz und der Südosten. In: Ostdeutsche Wissenschaft Bd. IX, München 1962. S. 256—274. 5) H. F. Schmid: Die Bedeutung des österreichischen Bildungswesens für Ost- und Südosteuropa. In: 200 Jahre österreichische Unterrichtsverwaltung 1760—1960. Wien 1960. 5. 30—48. 6) E. Pliwa: Österreichs Universitäten 1863/64—1902/03. Statistisch-graphische Studie nach amtlichen Quellen bearbeitet. Wien 1908. 4)
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basieren die weiteren Angaben auf den Immatrikulationslisten, auf Grund derer die Studenten nur nach der ländermäßigen Herkunft differenzierbar sind7). Zur ersten Frage: Die Verteilung der für Südosteuropa relevanten Nationalitäten an der Grazer Universität zeigt ζ. B. 1873/74, daß auf die Slowenen und Serbokroaten zusammen 22,8% aller Hörer entfielen, auf die Magyaren 1,9%, wogegen die habsburgischen Rumänen und die ausländischen Nationalitäten nicht einmal je 1 % ausmachten. Der Anteil der deutschen Hörer, zu denen ja auch Südosteuropäer gehörten, belief sich im gleichen Jahr auf 55%. 29 Jahre später (1902/03) entfielen auf die Südslawen des Doppelstaates 18% der Grazer Hörer, die Magyaren, Rumänen und Ausländer blieben je unter 1%. Der deutsche Anteil hingegen war auf 65,7% aller Hörer angestiegen8). Hinsichtlich der sozialen Herkunft der südosteuropäischen Studenten zeigt sich, daß 1867 aus schon fast allen sozialen Schichten, die an den Berufsgruppen der Väter ermessen wurden, Studenten hervorgingen, allerdings bestehen je nach den Herkunftsregionen starke Differenzen. Als dominante Trägerschichten erweisen sich das Beamten- und Grundbesitzertum sowie die Intelligenz, wogegen andere soziale Schichten zunächst noch weniger zum Tragen kamen. Je weiter herauf gegen das Jahr 1914 die soziale Herkunft verfolgt wird, desto stärker nahmen außer den genannten Gruppen die Wirtschaftstreibenden und Lehrer als studentische Trägerschicht zu. Daneben traten in steigendem Maße aber auch Studenten aus den Handwerker-, Arbeiter- und Angestelltenkreisen auf, der Anteil der Bauernschaft ging jedoch immer mehr zurück. Einen beruflich-sozialen Sonderfall stellen in diesem Zusammenhang die Siebenbürger dar, denn hier entstammte ein ansehnlicher Teil der Studenten geistlichen Kreisen (Pastoren), die sonst so gut wie keine Rolle bei der sozialen Herkunft spielten. Für die aus dem südosteuropäischen Ausland, also ζ. B. aus Serbien, Bulgarien, Rumänien oder Griechenland Kommenden lag das Hauptgewicht der sozialen Zugehörigkeit bei den Wirtschafts- und Intelligenzberufen9). Zur %weiten Frage: Da die Hörerstatistik wohl die nationalen Anteile wiedergibt, aber nicht, auf welche Personenzahl sich die Angaben beziehen, muß bei der Frage der studentischen Quantität auf die Immatrikulationslisten verwiesen werden. Das 7 ) Der Autor arbeitete die Matrikelbücher der Grazer Universität für den Zeitraum 1867—1914 durch und erstellte neue Quellenmaterialien. Eine Auswertung in einer detaillierten Studie ist vorgesehen. 8) Plitva, Österreichs Universitäten, S. 24. ») Siehe Anm. 7.
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aus dieser Quelle resultierende Bild verzerrt aber die Fluktuationsrate in der Studentenschaft, die oft die Fakultät oder die Universität wechselte. Nach vorsichtiger Schätzung durch Stichproben dürfte die Fluktuation ca. 10—15% der Immatrikulierten betreffen. Für den Zeitraum 1867—1914 sind in den Grazer Matrikelbüchern der Universität 8952 Immatrikulationen verzeichnet, die dem südosteuropäischen Bereich als Herkunftsrichtung zuzuordnen sind 10 ). Der jährliche Anteil der Immatrikulanten an der Gesamtsumme der in Graz registrierten Studienanfänger oder -fortsetzer variiert, betrug aber im Durchschnitt etwa 45%, d. h., fast die Hälfte der Studienantritte bzw. -Wiederantritte entfällt auf die Studenten Südosteuropas. In diesem Zusammenhang sei daraufhingewiesen, daß ζ. B. 1873/74 Graz fast die Hälfte aller an österreichischen Universitäten studierenden südslawischen Hörer (!) (=45,7%) beherbergte, aber nur 10,7% der Rumänen Ungarns und nur 4,4% der magyarischen Hörer. Bis 1902/03 verdichtete sich der südslawische Prozentsatz sogar auf 58,1 %, wogegen die übrigen deutlich zurückgingen, was sich auch daraus erklären läßt, daß inzwischen das universitäre Netz in Südosteuropa ausgebaut worden war 11 ). Die Gegenüberstellung der Herkunftsländer ergibt, daß in der genannten Untersuchungsperiode auf den Anteil der der westlichen Reichshälfte Österreich-Ungarns zuzuordnenden südosteuropäischen Länder 6168 Immatrikulationen entfielen, das sind 69% der Gesamtsumme innerhalb der südosteuropäischen Länder, auf die östliche Reichshälfte 2381 Immatrikulationen (26,5%), und auf das Ausland nur 403 Immatrikulationen, das sind 4,5% 12 ). Zur dritten Frage : Was die Motive zur Wahl von Graz als Studienort betrifft, können keine allgemein verbindlichen Normen für alle Betroffenen aufgestellt werden, doch lassen die Quellen gewisse Schlüsse zu. Ein naheliegendes Motiv in vielen Fällen ist ohne Zweifel die geographische und verkehrsbedingte Beziehung zwischen Herkunfts- und Studienort. Für die innerösterreichischen Länder etwa bot sich die Universität Graz naturgemäß als nächstliegende Hochschule an. Weiters hat manchmal auch nationales Interesse als mögliche Ursache für die Entscheidung, in Graz zu studieren, eine Rolle gespielt. Die Deutschstämmigen des Donau- und Karpatenraumes ζ. B. wählten offensichtlich lieber eine der nächsten deutschen Universitäten, u. a. auch Graz, als die geographisch nächstgelegene. Daneben spielen auch sachliche Gründe mit, Graz zum Studienort auszusuchen. Die Erklärung, warum ζ. B. so viele Dalmatiner Kroaten 1») Ebenda. n) Pliwa, Österreichs Universitäten, S. 25. 1 2 ) Siehe Anm. 7.
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an der juridischen Fakultät Graz festgestellt werden konnten, liegt wohl darin, daß in den beiden Reichshälften der Doppelmonarchie verschiedene Rechtsvoraussetzungen bestanden, so daß die Studien wechselweise nicht automatisch anwendbar waren. Dalmatien gehörte der westlichen Reichshälfte an, den Kroaten der Adriaküste hätte national und auch geographisch aber die Agramer Universität näher erscheinen müssen. Mitunter mögen auch wirtschaftlichfinanzielle Motive eine Rolle gespielt haben, Graz anderen österreichischen Universitätsstädten vorzuziehen. Für viele Studenten Südosteuropas dürften die Anreise kostenmäßig, die Lebenshaltungskosten in Graz, aber auch die Ablenkung vom Studium geringer gewesen sein als etwa in der Metropole des Vielvölkerstaates Wien. Nicht zuletzt müssen auch die individuellen Gründe für Graz als gewählter Studienort aus der Fülle der Möglichkeiten erwähnt werden. Wie man sieht, bestand mitunter eine feste Tradition, zumindest u. a. in Graz zu studieren, wenn man aus Richtung Südosteuropa kam: Selbst im Abstand von Generationen kann man die gleichen Familiennamen aus demselben Herkunftsort feststellen. Entsprechend der Frequenzverteilung nach Fakultäten bei den südosteuropäischen Studenten zeigt sich, daß die überwiegende Mehrzahl juristische Fächer belegte. Als zweitstärkste Fakultät erweist sich die medizinische, wogegen die philosophische bereits deutlich abfällt. Das Theologiestudium in Graz fiel für die genannte Studentenschaft überhaupt nicht ins Gewicht. Der Grund für dieses Verteilungsbild wird wohl im Bedarf und in den beruflichen Möglichkeiten zu suchen sein. Somit entsteht der Eindruck, der Schwerpunkt der beruflichen Interessen wäre im juridischen und medizinischen Fach zu suchen. Hier zeigen sich ζ. T. aber große Unterschiede, je nachdem aus welchen Herkunftsbereichen der jeweilige Student stammte13). Zur vierten Frage : Wenn man von den unmittelbaren Auswirkungen der Studien auf die Studierenden und ihren weiteren Werdegang absieht, die im einzelnen nicht erfaßbar sind, lassen sich doch einige quantitative und qualitative Ergebnisse aufstellen, die den Wirkungsgrad der Universität Graz für den südosteuropäischen Raum erkennen lassen. Legt man der personellen Erfassung der südosteuropäischen Studenten in Graz die Matrikelaufzeichnungen zugrunde und nimmt an, daß von den in dem 47 jährigen Untersuchungszeitraum erfaßbaren Personen vielleicht zwei Drittel ihr Studium beendet haben würden, bedeutete dies, daß sich die Summe fertiger Akademiker aus dem Südostraum auf rund 6000 Personen beliefe, die ihre Ausbildung in oder auch in Graz betrieben. Nach den Anteilen der Ländergruppen entfielen demnach rund 4150 Akademiker 13)
Ebenda.
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auf die südosteuropäischen Länder der westlichen Reichshälfte, rund 1600 auf die der östlichen Reichshälfte und rund 250 Akademiker auf das Ausland. Diese zwar fiktiven, aber nicht unlogischen Zahlen sind natürlich in den Zusammenhang mit der Größe, den Sozial- und Bildungsstrukturen der jeweiligen südosteuropäischen Länder zu stellen, wodurch sie erst das gebührende Gewicht verliehen bekommen. Demzufolge wäre ζ. B. das Herzogtum Krain von der Universität Graz in dem angegebenen Zeitraum mit rund 380 fertigen Juristen, rund 120 fertigen Akademikern der philosophischen Fakultät, rund 110 fertigen Medizinern und 14 Theologen „versorgt" worden. Es muß dabei aber in Rechnung gestellt werden, daß dieses Kronland 1890 nicht einmal 500.000 Einwohner besaß, wovon mehr als die Hälfte (=56,5%) nicht einmal lesen und schreiben konnte. Um die Auswirkungen der Grazer Studien und damit die Übertragung der Wissensgüter in den südosteuropäischen Bereich an einem konkreten Beispiel vor Augen zu führen, wurden aus dem Kreis der südosteuropäischen Länder jene als Modellfall ausgesucht, aus denen der stärkste Zuzug nach Graz festzustellen ist: aus den slowenischen und kroatischen. Für diese zwei Bereiche konnte eine Summe von rund 270 Personen ausfindig gemacht werden, die zwischen 1867 und 1914 in Graz studierten und die durch ihre weitere Laufbahn soviel Bedeutung im öffentlichen Leben Sloweniens oder Kroatiens, ζ. T. auch Serbiens, erlangten, daß sie in biographischer Form Niederschlag gefunden hat 14 ). Die Liste dieser Persönlichkeiten, die keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, brachte äußerst interessante Ergebnisse. Es konnten herausgefunden werden: 48 Politiker und Verwaltungsfachleute (darunter Anton Korosec, Matko Laginja, die beiden Trinajstic, Ante Trumbic, Lujo Vojnovic, die beiden Tartaglia, Lazar Tomanovic oder Fedor Nikolic); 45 im literarisch-publizistischen Sektor Tätige (ζ. B. Vladimir Nazor, Niko Bartulovic, Joze Glonar, Igo Kas, Branislav Nusic, Jovan Grdjic); 32 Juristen im engeren Sinne (etwa Ivan 2olger, Bogomil Vosnjak, Gregor Krek;) 34 Persönlichkeiten des historischen Fachs (ζ. B. Cankar, Stegensek, Laszowski, Rabar, Hauptmann, Ljubsa, Levec, Thim, Desnica, oder der Archäologe Bersa); 25 Mediziner (darunter Karaman, Kosirnik, Mandic, Spindler, Ambrozic); 23 bekannte Philologen (ζ. B. Ramovs, Resetar, Baric, Ostir, Sercer, Kotnik); 25 Pädagogen (u. a. Bucar, Magdic, Sram, Brezovnik u.v.a.); 14 naturwissenschafdiche Gelehrte (Hrambovic-Cvetasin, Marek, Plivelic, Bujas, Pajnic, 14) Matl, Die Bedeutung . . ., S. 224 ft; ders.: Die Universität . . ., S. 269 f.; Slovenski biografski leksikon, hrsg. v. I. Cankar u. F. Ks. Lukman u. a. Bd. 1 (A—L), Ljubljana 1925—1932, Bd. 2 (M—Q), Ljubljana 1933—1952, fortges. hg. v. Slovenska akademija znanosti in umetnosti Heft 9—11, Ljubljana 1960—1971; Biographisches Lexikon zur Geschichte Südosteuropas, hg. v. M. Bernath u. F. v. Schroetter, Lieferung 1 ff., ( = Südosteuropäische Arbeiten Bd. 75) München 1972; Znameniti i zasluzni Hrvati 925—1925. (Berühmte und verdiente Kroaten 925—1925.) Zagreb 1925.
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Kosuh etc.); 13 aus dem Wirtschafts- und Finanzwesen hervorgegangene Persönlichkeiten (ζ. B. Lunacek, Brezigar, Eller, Senekovic u. a.); 9 Philosophen und Theologen (der bekannteste darunter Franz Veber, ein Meinong-Schüler) und einige musische Künstler. Wenn man sich die Summe der Lebensbilder der herausgesuchten Persönlichkeiten vor Augen führt, zeigt sich, daß das Jusstudium in jener Zeit bei den Slowenen und Kroaten in vielen Fällen zur politischen Laufbahn führte, daß das literarische Feld großen Anreiz bot, daß die Mediziner offensichtlich mehr im Versorgungsbereich aufgingen, als sie bahnbrechend hervortraten, und daß die ehemaligen Studenten der philosophischen Fakultät Graz besonders das national-kulturelle Erbe erforschten und weiterpflegten. *
Verbindet man diese Resultate mit der Frage, welchen Stellenwert die Universität Graz für die Entwicklung der sozio-kulturellen Strukturen in Südosteuropa einnimmt, kann man folgende Schlüsse ziehen: Quantitativ betrachtet, belegte die Grazer Hochschule einen wichtigen Platz innerhalb der für Südosteuropa nächstgelegenen und interessanten mitteleuropäischen Universitäten. Der studentische Zuzug nahm aber naturgemäß mit dem Grad der Entfernung zwischen Graz und dem Herkunftsort ab. Deshalb dürfte die Grazer Universität große Bedeutung besessen haben — für die Slowenen, da sie einer eigenen Universität damals noch entbehrten und Graz sicher als eine der nationalen Heimstätten für die eigenständige Geistesentfaltung angesehen werden kann, — für die Kroaten, die aber immerhin eine eigene Universität und eine Akademie der Wissenschaften besaßen. Für die übrigen Studenten Südosteuropas besaß, zumindest in geistig-kultureller Hinsicht, die Universität Graz naturgemäß nicht jene Funktion und Attraktion wie ζ. B. andere mitteleuropäische Hochschulen. Hinsichtlich der Wissens- und Bildungssubstanzen zeigen sich große Unterschiede zwischen den einzelnen nationalen Gruppen und Ländern — Unterschiede, die wohl davon abhingen, welche landeseigenen sozialen und bildungsmäßigen Voraussetzungen, welcher Bedarf und welche berufsmäßigen Möglichkeiten bestanden. Daraus zwei Beispiele: Aus dem Modellfall ist ersichtlich, daß für die Slowenen und Kroaten den juridischen und philosophischen Studien das Hauptinteresse in Graz galt, da der größte Teil der genannten Koryphäen den Aufstieg auf politisch-juridischem oder auf künstlerischgeisteswissenschaftlichem Gebiet erreichten. Im Vergleich dazu frequentierten als Beispiele anderer politischer, sozialer und kultureller Bedingungen die Studenten aus Siebenbürgen und aus dem Fürstentum bzw. Königreich Serbien im überwiegenden Maße das Medizinstudium in Graz. Durch die Grenzlage war Graz mit seiner Universität von jeher prädestiniert, eine Mittlerrolle zwischen Mittel- und Südosteuropa zu spielen. Die
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Grazer Universität als wissenschaftliches Zentrum unterhielt daher mit ihren südosteuropäischen Nachbarn einen engen Kontakt ununterbrochen seit dem 16. Jahrhundert. Innerhalb der hier besprochenen Periode (1867—1914) steigerte sich die Vermittlung verschiedenster Kenntnisse vor allem durch die stärkere Frequenz auf den Hochschulen. Diese Kenntnisse kamen — wie gezeigt wurde — dem wissenschaftlich-kulturellen, aber auch politischen und sozialen Aufstieg der Nachbarländer im nationalen Rahmen zugute. Die Rolle und Bedeutung dieser akademischen Stätte lag somit in der Abgabe von BildungsInhalten, aus der sich wiederum eine die Universität auch selbst befruchtende Zusammenarbeit mit dem Südosten Europas entwickelte. Darum leistete die Grazer Universität in der Reihe der übrigen mitteleuropäischen Universitäten, die von Studenten aus Südosteuropa besucht wurden, durchaus einen nicht zu unterschätzenden Beitrag besonders zur Entwicklung der Sozialund Bildungsstrukturen jenes europäischen Teiles, dem durch seinen geschichtlichen Werdegang und durch seine besonderen Formen nicht immer die günstigsten Entwicklungsmöglichkeiten vergönnt waren.
HORST HASELSTEINER DIE BEDEUTUNG WIENS ALS UNIVERSITÄTSSTADT I N D E R Z W E I T E N H Ä L F T E D E S 19. J A H R H U N D E R T S AM MODELL DER SLOVENISCHEN STUDENTEN
Zunächst sei auf eine kleine Schwierigkeit bezüglich der quantitativen Analyse der slovenischen Studenten in Wien hingewiesen: Die zur Verfügung stehenden statistisch auswertbaren Unterlagen (wie zum Beispiel die Matrikel usw.) sind so verschiedenartig in ihrem Aufbau und in ihrem Aussagegehalt, daß sich präzise Zahlenangaben im Hinblick auf die nationale Zusammensetzung nur schwer und mit Vorbehalt herausarbeiten lassen. Auf ein Problem sei hier nur kurz verwiesen: Die Matrikelangaben enthalten häufig nur die regionale Herkunft der immatrikulierten Hörer, nicht aber deren Nationalität, d. h. es wird ζ. B. ausgeworfen, daß der Student aus dem Herzogtum Krain kommt, nicht aber, ob er Slovene oder Deutscher ist. Jedenfalls bleibt vorwegnehmend für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts festzuhalten, daß der überwiegende Teil der slovenischen Intelligenz seine Studien in Wien absolviert hat. Im Studienjahr 1847/48 ζ. B. waren an der Universität Wien 49 Hörer aus dem Herzogtum Krain immatrikuliert, davon 45 an der Juridischen und vier an der Medizinischen Fakultät. Kein einziger Hörer belegte an der Philosophischen Fakultät, die ja erst im Jahre 1849 den übrigen Fakultäten gleichgestellt wurde 1 ). Im Zeitraum 1850 bis 1860 studierten insgesamt 142 Studenten aus dem Herzogtum Krain an der Wiener Universität. Bemerkenswert erscheint das zahlenmäßig starke Aufholen der Philosophischen Fakultät gegenüber der Juridischen. Durch die Thunsche Reform mit der Gleichstellung der Philosophischen Fakultät stieg gleichzeitig die Bedeutung des Lehramtsstudiums, insbesondere die naturwissenschaftEine wesentliche Grundlage des vorliegenden Beitrages ist die im Jahre 1972 von Richard Georg Plaschka approbierte Wiener Dissertation von W. Petritsch: Die slovenischen Studenten an der Universität Wien (1848—1890). Phil. Diss. Wien 1972. Vgl. zu den Zahlenangaben: Matrikel der kais. kön. Universitaet zu Wien über die Studierenden, welche an derselben in die theologischen, juridisch-politischen, medizinisch-chirurgisch-thierärztlichen und philosophischen Studien, dann an den k. k. Gymnasien der Universitaet, bei den Schotten und in der Josephsstadt in die Gymnasialstudien eingetreten sind. Studienjahr 1847/49. — Archiv der Universität Wien.
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liehen Fächer wurden stark frequentiert. Neben den Naturwissenschaften stand selbstverständlich auch die Slavistik im Vordergrund des Interesses der slovenischen Studenten, nicht zuletzt auf die Attraktivität des akademischen Lehrers Franz Miklosic zurückzuführen 2 ). Die Zahl der Inskribenten aus Krain war in diesem Jahrzehnt ziemlich konstant und bewegte sich im Schnitt um 15 Hörer 3 ) pro Studienjahr. In den Jahren von 1860 bis 1873 studierten 267 krainische Hochschüler an der Wiener Universität. Anschaulich ist der Vergleich zu den fünfziger Jahren: 1850—1860 haben 142 Studenten die Universität frequentiert, das Jahrzehnt darauf waren es immerhin schon 203 Hörer. Die Jusstudenten konnten ihre führende Position behaupten, eine Hinwendung zum Lehramtsstudium auf der Philosophischen Fakultät war aber nicht zu übersehen. Hervorzuheben ist vor allem aber auch die Steigerung bei den Medizinern, die ihren Anteil auf mehr als das Dreifache hinaufsetzen konnten 4 ). Nun kurz noch ein Blick auf die Entwicklung nach dem Jahre 1873. Ab diesem Zeitpunkt waren die Zahlenangaben über die nationale Herkunft durchschaubarer. So waren im Studienjahr 1873/74 6,4% der Studenten Südslaven an der Wiener Universität, die Slovenen wurden noch nicht getrennt ausgeworfen, sondern mit Serben und Kroaten als Südslaven geführt. Erst im Jahre 1883/84 sind die Slovenen als eigene Nation ausgewiesen. Ihr Anteil betrug — genauso wie zehn Jahre später — 2,2 Prozent. Wesentlich steigern konnten sie ihren Prozentanteil dann nach der Jahrhundertwende: Für das Studienjahr 1902/03 stehen sie bereits mit 3,6 Prozent zu Buche 5 ). Diese Entwicklungslinie kommt selbstverständlich auch in den absoluten Zahlen zum Ausdruck: Von 125 Hörern im Jahre 1878 über 126 Hörer im Jahre 1893 — dazwischen war allerdings ein Absinken zu konstatieren6) — stieg ihr Anteil auf 255 slovenische Hörer im Studienjahr 1902/037). Abschließend sei als Indikator der quantitativen Analyse der Bedeutung Wiens als Universitätsstadt für die Studenten aus dem Herzogtum Krain und damit indirekt auch für die slovenischen Studenten der Donaumonarchie im allgemeinen festgehalten, daß in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im 2 ) Siehe Tab. 1 im Anhang. Vgl. zu Miklosic: R. G. Plaschka, H. Haselsteiner, A. Suppan: Der Beitrag Österreichs zur slavischen Balkanforschung. In: Slavianskie kul'tury i Balkany 2, XVIII—XIX w . Sofija 1978. S. 9—15, insbesondere S. 10. 3) Petritsch, Studenten, S. 91 f. und S. 202 f. 4 ) Siehe Tab. 2 im Anhang. 5) E. Pliwa: Österreichs Universitäten 1863/64—1902/03. Statistisch-graphische Studie. Wien 1908. S. 2 0 - 4 0 ; Petritsch, Studenten, S. 202 f. 6) J. Apih: Statisticna crtica dijastva avstrijskih visokih sol. (Statistische Skizze der Studenten an Österreichs Hochschulen). In: Ljubljanski Zvon 1890, S. 570; Petritsch, Studenten, S. 250 f. 7) Pliwa, Österreichs Universitäten, S. 24; Petritsch, Studenten, S. 251. 8) Pliwa, Österreichs Universitäten, S. 21; Petritsch, Studenten, S. 3.
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Durchschnitt 65 Prozent aller Universitätshörer aus Krain in Wien studierten»). Damit sei aber gleichzeitig auch übergeleitet zur Frage nach den anderen gewählten Hochschulorten der Slovenen. Hier läßt sich zusammenfassend feststellen, daß mit weitem Abstand vor allen anderen Universitätsstädten Graz nach Wien an zweiter Stelle liegt 9 ). Prag, vor allem die tschechische Universität, hatte erst nach der Badeni-Krise und damit erst um die Jahrhundertwende verstärkten Zulauf krainischer bzw. slovenischer Studenten zu verzeichnen 10 ). Um im Bereiche der Doppelmonarchie zu bleiben, verdient hervorgehoben zu werden, daß überraschend wenig Slovenen an der Universität Zagreb studiert haben, ja daß die Zahl slovenischer Hörer am Ende des 19. Jahrhunderts an der Universität Innsbruck jene in der kroatischen Hauptstadt übertroffen hat 11 ). Vergleichsweise gering war die Gesamtzahl jener Slovenen, die an ungarischen, italienischen, französischen und an deutschen Universitäten studiert haben 12 ). Zur sozialen Herkunft der Studenten sind trotz des spärlichen und lückenhaften Materials doch einige skizzenhafte Aussagen möglich 13 ). Die Berufe der Väter sind zwar in den Matrikeln nur unvollkommen und keineswegs in gleicher Dichte übermittelt, dennoch läßt sich ζ. B. für das Revolutions jähr 1848 ein ungefähres Bild der Sozialstruktur der Studenten aus Krain nachzeichnen. Demnach war rund die Hälfte der Väter in manuellen Berufen tätig, rund 40 Prozent gingen geistigen Tätigkeiten nach und rund ein Zehntel waren Adelige oder Angehörige des Militärs 14 ). Das sozio-strukturelle Bild der slovenischen Studenten wird sich wohl — abweichend von diesen Prozentangaben — eher in Richtung des deutlichen Überwiegens der kleingewerblichbäuerlichen Herkunft korrigieren lassen müssen. Da bei einem Großteil der Studierenden auf Grund der beschränkten finanziellen Möglichkeiten der Eltern das Studium auch zu einem pekuniären Problem wurde, erlangten bei den slovenischen Studenten in Wien die von verschiedenen Stiftungen ausgeschütteten Stipendien hervorragende Bedeutung. Unter diesen Stiftungen verdient in erster Linie die von dem katholischen Geistlichen Lukas Knaffl im 9) Apih, Statisticna, S. 505 f., 569—572, 695—699, 753—759: hier auch Übersicht über die cisleithanischen Universitäten. Pliwa, Österreichs Universitäten, S. 41; Petritsch, Studenten, S. 3—7. 10) Pliwa, Österreichs Universitäten, S. 43; Petritsch, Studenten, S. 8 ff. n ) Slovenski Narod vom 22. Oktober 1874 (Nr. 241) und vom 24. Oktober 1874 (Nr. 243); Slovenec vom 9. April 1890 (Nr. 80) und vom 11. April 1893 (Nr. 83); Pliwa, Österreichs Universitäten, S. 42; Petritsch, Studenten, S. 10 f. 12 ) Slovenski Glasnik vom 1. Februar 1866, S. 78; Omladina 4. 1906. S. 57; Petritsch, Studenten, S. 11. 13 ) Das Hauptmanko in den Matrikeln: Manchmal fehlen detailliertere Personaldaten bzw. die Angaben über die Eltern und Unterlagen über die Taxenabrechnung. 14) Petritsch, Studenten, S. 12—15.
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Jahre 1676 begründete Knaffl-Stiftung Erwähnung 15 ). Die Stipendiaten entstammten fast durchwegs dem Arbeiter- und Bauernstand. Bei Analyse der regionalen Aufgliederung der krainischen Studenten springen einige Charakteristika ins Auge. Für die Mitte des 19. Jahrhunderts fällt die große Zahl der Städter im Kreise der Universitätshörer auf. Diese Dominanz beginnt sich dann im Laufe der Jahre zu verschieben. Während noch im Studienjahr 1851/52 das Stadt-Land-Verhältnis beinahe ausgeglichen ist, kam 1869/70 von 20 Neuinskribenten nur noch ein einziger aus Ljubljana (Laibach)"). Eine Reihe von subjektiven Gründen war in wechselnder Intensität für einen Großteil der slovenischen Studenten maßgebend, warum sie gerade Wien als Studienort gewählt hatten. Zunächst ist wohl die Attraktivität und Anziehungskraft der Reichs- und Residenzstadt in Rechnung zu stellen. Hinzu kam oft der Ruf eines bestimmten Professors — hier sei vor allem an Franz Miklosic erinnert. Aber auch finanzielle Gründe spielten eine Rolle. Die Knaffl-Stiftung, die ja auf Wien beschränkt war, und die erhofften besseren Nebenverdienstmöglichkeiten in der Hauptstadt ließen ein Studium in Wien leichter bewältigbar erscheinen. Schließlich sei noch ein traditioneller Zug erwähnt: Nach dem Verhaltensmuster von Freunden, die bereits in Wien studiert hatten oder noch studierten, ging man in die Residenzstadt mit der Hoffnung, dadurch auch gleich geistigen und gesellschaftlichen Anschluß zu finden"). Im Zusammenhang mit den bisher skizzierten Fragen böte sich — keineswegs auf die slovenischen Studenten und auf die Wiener Universität beschränkt — der Versuch an, das statistische Basismaterial zu untersuchen und auf den möglichen Aussagegehalt zu überprüfen. Als weiteren Schritt könnte man — regional und national breit gefächert und differenziert — nach gemeinsam-generell festgelegten Kriterien zu einer vergleichenden Analyse gelangen, was quantitative Aussage, Sozialstruktur, Motivation für die Wahl des Studienortes anbelangt. Dies wäre ein durchaus realisierbarer Ansatz für eine multinationale Kooperation. Wie bereits skizziert und festgehalten, studierte ein Großteil der slovenischen Intelligenz an der Wiener Universität. Hier in Wien lernten sie verstärkt die neuen philosophischen, geistesgeschichtlichen, literarischen, nationalpolitischen und politischen Ideen ihrer Zeit näher kennen, setzten sich mit diesem zum Teil aus Westeuropa stammenden Gedankengut auseinander. Ein geistiger Wandel im Verlaufe unseres Betrachtungszeitraumes ist nicht zu übersehen. Die Studentengeneration im Vormärz bzw. im Revolutionsjahr 15 ) Vgl. zur Knaffl-Stiftung vor allem: P. Vodopivec: Luka Knafelj in stipendisti njegove ustanove (Lukas Knaffl und die Stipendiaten seiner Stiftung). Ljubljana 1971. 16) Petritsch, Studenten, S. 204. 17 ) Ebenda, S. 3.
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1848/49 war durchaus noch überwiegend dem dynastie- und staatsloyalen, klerikalen, zum Teil jansenistisch orientierten Konservativismus verpflichtet. Ein allmählicher Wandel begann sich allerdings bereits im Laufe der Ereignisse von 1848/49 abzuzeichnen. Die Wiener slovenischen Studenten verließen in der geistigen und kulturellen Atmosphäre der Residenzstadt, bedingt auch dadurch, daß sie den gesellschaftspolitischen Veränderungen in Wien näher waren als die ältere Generation in der Heimat, Schritt für Schritt ihre ursprünglichen geistigen und weltanschaulichen Ausgangspositionen. Der anfänglich vorhandene Krainer Regionalismus ζ. B. wurde durch die Kontakte mit Slovenen aus anderen Kronländern und mit anderen Slaven durchbrochen und erweitert. Der Landespatriotismus begann seine Integrationswirkung zu verlieren, die eigene Sprache und die Verwandtschaft der slavischen Sprachen untereinander zeigten neue Wege in Richtung der Vereinigung aller Slovenen, aller Südslaven, der Pflege der eigenen Sprache und Literatur bzw. zu einem literarisch geprägten Panslavismus. Daraus resultiert auch das große Interesse und der eminente Beitrag, den gerade die junge Studentengeneration in Wien für das Slovenische als Literatursprache geleistet hat. In diesem Zusammenhang sei an die ζ. T. von Wien ausgehende Sprachdiskussion in den frühen fünfziger Jahren und an deren Träger Trdina, Jerisa und Svetec erinnert 18 ), sodann an den sogenannten „Vaje-Kreis" um Fran Erjavec Mitte der fünfziger Jahre 19 ). Der Bogen schließt sich über den zehn Jahre später von Jurcic und Stritar initiierten literarischen Verein „Mladika" 20 ), über die von Stritar 1870 herausgegebene, allerdings nur kurzlebige Literaturzeitschrift „Zvon" 21 ) bis zur Tätigkeit des vornehmlich von Strekelj getragenen „Slovenischen literarischen Vereins", der sich in Wien in der Zeit von 1878 bis 1883 der Pflege der slovenischen Literatur widmete 22 ). Nicht uninteressant für den Werdegang und den literarischen Geschmack der slovenischen Studenten ist eine Analyse ihrer bevorzugten Lektüre, ihrer Lesegewohnheiten. Soweit dies aus ihren Aufzeichnungen hervorgeht, kann man feststellen, daß gewisse Autoren und bestimmte Titel wiederholt erwähnt werden. Zum Teil beruht dies auf gleichgearteten Interessen, gleichartigem Geschmack, der literarischen Mode, aber sicher auch auf wechselseitiger Beeinflussung. Trdina, Svetec, Valjavec und Zepic lasen vor allem Voltaire, ι») Ebenda, S. 112—120. 19) A. Slodnjak: Slovensko slovstvo (Slowenische Literatur). Ljubljana 1968. S. 155 f.; Petritsch, Studenten, S. 112—120. 20) Ebenda, S. 159—163. 21 ) Stritars Mitarbeiter waren Levstik, Jurcic und Gregorcic, der Name der Zeitschrift wurde von Alexander Herzens „Kolokol" inspiriert. Ebenda, S. 242. 22 ) /· VencaJz: Spomenica ο petindvajstletnici akad. druätva „Slovenija" na Dunaji (Denkschrift zum 25jährigen Jubiläum der akademischen Vereinigung „Slovenija" in Wien). Ljubljana 1894. S. 132 f.; Petritsch, Studenten, S. 273—276.
Die Bedeutung Wiens als Universitätsstadt
299
Rousseau, Uhland und die deutschen Klassiker. Geschätzt wurden noch Stifter und Anastasius Grün, keineswegs aber Lenau, Freiligrath, Heine und das „Junge Deutschland". Von den russischen Dichtern werden nur Puskin, Gogol' und Karamzin erwähnt, von den Polen noch Adam Mickiewicz und Krasmski. Daß südslawische Autoren in dieser Aufzählung fehlen, kann keineswegs überraschen. Denn sie, die ihre literarischen Arbeiten meist in Zeitschriften publizierten, zu lesen war für die slovenischen Studenten selbstverständlich 23 ). Neben der versuchten nationalen Profilierung der slovenischen Studenten in Wien, neben ihrer hervorragenden Rolle für die slovenische Literatur des 19. Jahrhunderts sei noch ihr konstitutiver Beitrag zur Ausbildung des liberalen Lagers der Jungslovenen erwähnt. Ihre Lehrer an den Hohen Schulen waren vom Geiste des Liberalismus durchdrungen, durch die im Zuge der Thunschen Reform promulgierte neue Disziplinarordnung vom Oktober 1849 war auf akademischem Boden ein — wenn auch beschränkter — geistiger Freiraum entstanden. Die akademische, slovenische Jugend versuchte nun, durchdrungen vom absoluten Glauben an die Vernunft und an die Bildungsfähigkeit des Volkes, getragen von positivistischem Gedankengut, durch die Kritik am Althergebrachten Zugang zu neuen Werten zu finden. Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang auch ein Blick auf die bevorzugte historischpolitische Literatur der jungen Slovenen in den frühen sechziger Jahren, soweit dies aus ihren eigenen Aufzeichnungen und Autobiographien hervorgeht. Prädominant im Vordergrund steht die Lektüre des englischen Kulturhistorikers Henry Thomas Buckle, der eine naturwissenschafdiche positivistische Geschichtsauffassung vertrat. Neben Buckle seien noch Draper und der deutsche Staatsrechtler und Nationalökonom Lorenz von Stein erwähnt 24 ). Die auf liberalem Gedankengut beruhende, antiklerikale, durch Positivismus und Materialismus ergänzte liberale jungslovenische Position mußte dadurch in Gegensatz zur Auffassung der alteingesessenen und konservativ-klerikalen Führung in Krain geraten. Durch die schriftstellerische und journalistische Tätigkeit der Jungslovenen vertiefte sich diese ideologisch-politische Spannung noch. Wesentlich mitbeteiligt an der Ausformung der jungslovenischen liberalen Ideologie waren neben den literarischen Vereinen auch die Vereinigungen der slovenischen Studenten in Wien mit primär politisch-gesellschafdicher Zielrichtung. Die Konfrontation mit der ihnen fremden Großstadt bewog die slovenischen Hochschüler, sich in Gruppen zusammenzuschließen und durch die so geschaffene gewohnte und bekannte Umgebung die „Behüter-Funktion" 23) /. Trdina: Zbrano delo (Gesammelte Werke). Janez Logar (Hg.), Bd. 2. Teil 2. Ljubljana 1948; Petritsch, Studenten, S. 111 f. 24 ) Ebenda, S. 240 ff.
300
H O R S T HASELSTEINER
der soziologischen Primärgruppe zu etablieren. Gleichzeitig bildeten diese Zusammenkünfte ein Kommunikationsforum, wo man den eigenen geistigen und ideologischen Standpunkt auszuloten versuchte, einander wechselseitig inspirierte und zu geistigen Innovationen zu gelangen suchte. Als das wesentlichste Beispiel für das so geartete Vereinsleben der slovenischen Studenten in Wien sei die Wiener „Slovenija" angeführt, die trotz mehrfacher Stagnationsphasen und Auflösungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Sammelbecken für die junge slovenische Intelligenz in Wien darstellte. 1848 wurde die erste Slovenija gegründet, 1861 wurde der zweite Gründungsversuch unternommen und schließlich im Jahre 1869 die dritte Slovenija etabliert 25 ). Zum Abschluß sei noch gestattet, eine demonstrative Aufzählung jener führenden Persönlichkeiten zu präsentieren, die im 19. Jahrhundert in Wien studiert haben. Es sind dies in erster Linie — und dies ist wiederum sowohl für die geistige Atmosphäre in Wien als auch für Interesse, Neigung und Antrieb der slovenischen Intelligenz charakteristisch — Dichter und Schriftsteller. Aber auch Politiker und Wissenschafter der Slovenen haben Wien als ihren Studienort gewählt. Die Reihe beginnt — wenn der Rückgriff auf den Vormärz erlaubt ist — mit France Preseren (1800—1849) dem großen slovenischen Nationaldichter, der Philosophie und Jurisprudenz studierte. Janez Bleiweis (1808—1881) frequentierte die Veterinärmedizin, wurde nach seiner Rückkehr nach Krain durch seine Tätigkeit als Redakteur der „Novice", als Journalist und Schriftsteller und schließlich als Politiker einer der Führer des konservativ-klerikalen Lagers der Slovenen. Der Schriftsteller Luka Svetec (1826—1921) studierte Rechtswissenschaften, sein Schriftstellerkollege Janez Trdina (1830—1905) belegte Geschichte, Geographie und Slavistik, veröffentlichte eine Geschichte des slovenischen Volkes und war als Mittelschulprofessor tätig. Nach naturwissenschaftlichen Studien (Zoologie, Botanik, Mineralogie) übte der Erzähler und Schriftsteller Fran Erjavec (1834—1887), den wir als Initiator des Vaje-Kreises kennengelernt haben, gleichfalls den Beruf eines Lehrers an den Realschulen in Zagreb (Agram) und Gorica (Görz) aus. Auch der Schriftsteller Josip Stritar (1836—1923) ging nach dem Studium der klassischen Philologie als Mittelschulprofessor in Wien dem Lehrberuf nach. Literarisch tätig war auch Fran Celestin (1843—1895), der Slavistik und klassische Philologie studiert und 1869 das Doktorat erworben hatte. Er wurde Gymnasialprofessor in Zagreb, später Lektor an der Universität. Gleichfalls Slavistik und klassische Philologie belegte Josip Jurcic. Er war Dichter und Schriftsteller und als Redakteur des „Slovenski Narod" in Maribor (Marburg) tätig. Der 25 ) Zur Geschichte der Slovenija vgl. vor allem Vencaj£ und Petritsch, bis 48, 133—143, 214—239.
Studenten, S. 32
Die Bedeutung Wiens als Universitätsstadt
301
Literaturhistoriker und Kritiker Fran Levec (1846—1916) verdiente sich nach seinem Studium der Slavistik und der Geschichte als Professor an der Realschule, später als Direktor der Lehrerbildungsanstalt in Ljubljana (Laibach) seinen Lebensunterhalt. Geschichte und Geographie hatte Fran Suklje (1889—1935) belegt. Er trat als Mittelschulprofessor, als Historiker, als Landtagsabgeordneter und Politiker hervor. Im Bereiche der Wissenschaft etablierte sich Matija Murko (1861—1951). Nach seinen Studien in den Fächern Slavistik und Germanistik bei Miklosic, Heinzel und Schmidt habilitierte er in Wien und war als Universitätsprofessor, als Slavist, Literaturhistoriker und Ethnograph in Graz, Leip2ig und schließlich lange Jahre in Prag hervorragend tätig. Schließlich sei noch auf den Advokaten und Politiker Ivan Sustersic (1863 bis 1925) verwiesen, der seine juridischen Studien in Wien absolviert hatte. Der Bogen schließt sich mit Ende der achtziger und mit Beginn der neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts mit Janez Krek (1865—1917). Gleichzeitig beginnt sich mit ihm eine gewandelte geistig-ideologische Akzentsetzung abzuzeichnen, führt aber bereits über unseren Betrachtungszeitraum hinaus. Nach Empfang der Priesterweihe in Ljubljana (Laibach) im Jahre 1888 studierte Krek in Wien Theologie. Hier wurde er verstärkt mit sozialen Fragen konfrontiert, lernte die Ideen Karl von Vogelsangs kennen genauso wie die christlich-soziale Bewegung. Auf diesen Positionen aufbauend und entscheidend mitgeprägt durch die Sozialenzyklika Leos XIII. begann er nach seiner Rückkehr nach Ljubljana (Laibach) mit seiner tiefgreifenden Reformtätigkeit im politischen und vor allem auch wirtschafdich-sozialen Sinn. Hier seien nur beispielhaft seine tragende Rolle für die Formulierung der Programmatik der Katholischen Volkspartei (Katoliska narodna stranka) und für den Ausbau des Sparkassen- und Genossenschaftswesens bei den Slovenen angeführt. Aus dieser Aufzählung geht hervor, daß eine stattliche Zahl von im geistigen und politischen Leben führenden Persönlichkeiten der Slovenen in Wien ihre akademische Ausbildung absolviert, ihr geistiges Gepräge erworben hatte. Mit einigem Recht läßt sich feststellen, daß der Einfluß Wiens, daß jene Ideen, die hier rezipiert, verwertet und später weiterentwickelt wurden, vornehmlich auf geistig-literarischem und politischem Gebiet zum Tragen gekommen sind. Der wissenschaftliche Beitrag im Sinne der wechselseitigen Kommunikation und gegenseitige Befruchtung darf prononciert auf dem Felde der Slavistik hervorgehoben werden. Die in Wien studierenden Slovenen haben durch ihre Tätigkeit im öffentlichen Leben in ihrer Heimat, aber auch — wie wir gesehen haben — in Wien, ja auch in anderen Bereichen der Doppelmonarchie, die geistigen Wechselbeziehungen zu Wien, manchmal allerdings auch in offener Konfrontation, lebendig erhalten.
302
HORST HASELSTEINER
ANHANG
Tabelle 1. Aufgliederung der Fakultäten in den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts Studienjahr 1850/51 1851/52 1852/53 1853/54 1854/55 1855/56 1856/57 1857/58 1858/59 1859/60 1850—1860
Fakultät theol.
jur.
med. 3 3
—
13 5 7 6 5 4 8 8 12 11
3
79
1 — —
1 —
1 —
Quelle: Pelritsck,
phil.
gesamt
—
2 9 5 7 11 7 5 3 2
16 11 16 13 13 15 15 15 15 13
9
51
142
—
2 — — —
1 —
Studenten, S. 91 f.
Tabelle 2. Aufgliederung der Fakultäten in den sechziger und siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts Studienjahr
Fakultät theol.
jur.
med. 2 4 6 4 2 2 1 4 2 2 1 1
1860/61 1861/62 1862/63 1863/64 1864/65 1865/66 1866/67 1867/68 1868/69 1869/70 1870/71 1871/72 1872/73
1 2
—
12 8 12 11 15 7 10 4 12 6 17 15 5
1860—1873
6
134
1 — —
1 —
! —
Quelle: Petritsch,
Studenten, S. 250 f.
phil.
gesamt
—
8 6 2 4 4 8 13 5 10 12 7 9 8
23 20 20 19 22 17 24 14 24 20 26 25 13
31
96
267
A R N O L D SUPPAN B I L D U N G S P O L I T I S C H E U N D
G E S E L L S C H A F T L I C H E
E M A N Z I P A T I O N M O D E R N I S I E R U N G
D I E SÜDSLAVISCHEN STUDENTEN AN DER TSCHECHISCHEN UNIVERSITÄT P R A G UM DIE JAHRHUNDERTWENDE UND DER EINFLUSS PROFESSOR M A S A R Y K S
Die Verbindungslinien der südslavischen Studentengeneration im Jahrzehnt zwischen 1895 und 1905 zur tschechischen Universität Prag (Praha) und an dieser besonders zu Professor Masaryk sind in der tschechischen und südslavischen Literatur bereits mehrmals abgehandelt 1 ). Abgesehen vom Fehlen einer entsprechenden Darstellung in deutscher Sprache, lohnt es sich, diese Verbindung als Modell gleichartiger Phänomene in Vergangenheit und Gegenwart zu betrachten und sich dabei auch einer Fülle durchaus aktueller Zusammenhänge und Problemstellungen bewußt zu werden, wie etwa: — der Bedeutung eines auswärtigen Studiums sowohl für das Gastland als auch für das Herkunftsland der Studenten in politischer, ökonomischer, sozialer und kultureller Hinsicht; !) V, V. Vilder: Masaryk prema nama (Masaryk gegenüber uns). In: Jugoslovenska obnova — njiva 5. Zagreb 1920. S. 84—87; D. Prohaska: T. G. Masarik i jugoslavenstvo (T. G. Masaryk und das Jugoslaventum). In: Jugoslavenska njiva 9. Zagreb 1925. S. 185 bis 191; D. Prohaska: Utjecaj T. G. Masaryka na modernu jugoslovensku kulturu (Der Einfluß T. G. Masaryks auf die moderne jugoslawische Kultur). In: Zbornik — T. G. Masaryk. Beograd, Praha 1927. S. 126 ff.; I. Esih: Tomas G. Masaryk. Zagreb 1930; A. Cerny: Masaryk a jizni Slovane do välky svetove (Masaryk und die Südslaven bis zum Weltkrieg). In: Slovansky pfehled 22. Praha 1930. S. 127—140; M. Paulovä: Masaryk a Jihoslovane (Masaryk und die Jugoslaven). In: Sbornik prednäsek ο Τ. G. Masarykovi. V Praze 1931. S. 177—200; M. Paulovä: Tomas G. Masaryk a Jihoslovane (Thomas G. Masaryk und die Jugoslaven). In: Ceskoslovensko-jihoslovanskä revue 7. Praha 1937. S. 241—287; V. Burian: Slovinci na universite Karlove (Slovenen an der Karls-Universität). In: Slovansky prehled 34. Praha 1948. S. 140—151; F. Hlaväcek: Jihoslovanski pokrokovä generace ζ konce minuleho a pocätku tohoto stoleti a jeji vztahy k cesko-slovenskemu kulturnim a politickemu zivotu (Die jugoslavische Fortschritts-Generation zu Ende des vergangenen und zu Beginn dieses Jahrhunderts und ihre Beziehungen zum tschecho-slovakischen kulturellen und politischen Leben). In: Pfehled 4. Daruvar 1965/66. S. 1—28; F. Jordan: Cesi a Slovinci ν 19. a na zacätku 20. stoleti (Tschechen und Slovenen im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts). In: Otäzky dejin stfedni a vychodni Evropy. Brno 1971. S. 263—292; VI. St'astny: Stjepan Radic a ceski pokrokovi hnuti (Stjepan Radiä und die tschechische Fortschrittsbewegung). In: Slovansky pfehled 58. Praha 1972. S. 244—256.
304
A R N O L D SUPPAN
— der gesellschaftspolitischen und psychologischen Implikationen bei Übernahme von Anregungen aus fremden Kultur- und Zivilisationskreisen; — der möglichen Diskrepanzen zwischen der Aufnahme von technisch-ökonomischen Innovationen und der von Ideen und Verhaltensmustern der anderen Gesellschaft 2 ).
Zur Ausgangslage: Anteil und Distribution der südslavischen Studenten an den Universitäten und Hochschulen der Donaumonarchie Ausbildung und Entwicklung einer akademischen Intelligenz bei den Südslaven der Donaumonarchie waren v o r der Wende v o m 19. zum 20. Jahrhundert sowohl durch allgemeine gesellschaftspolitische Imponderabilien als auch durch mangelnde bildungspolitische Institutionen erschwert gewesen. Soziale Mobilisierung und ökonomischer Fortschritt hatten noch keineswegs ein Niveau erreicht, das den Zugang breiterer Bevölkerungsschichten zu höherer Bildung möglich gemacht hätte 3 ). Um 1890 studierten an den Universitäten der Donaumonarchie erst gut 900 Slovenen, Kroaten und Serben. Damit erreichte ihr Studentenanteil erst ca. 3 5 % ihres Bevölkerungsanteils. Diese bildungsmäßige Rückständigkeit teilten sie mit Ruthenen, Rumänen und Slovaken. Bis 1910 verzeichneten die Südslaven zwar einen starken Aufholprozeß — ihre Steigerungsrate lag in der Gesamtmonarchie hinter der polnischen an der Spitze, in Österreich an dritter Stelle, in Ungarn an erster —, erreichten mit ihrer Studentenquote dennoch erst die· Hälfte ihres Bevölkerungsanteils. Immerhin zählte man 1910 bereits knapp 2500 südslavische UniversitätsStudenten 4 ). 2 ) Diese Fragenkomplexe scheinen mir in der bisherigen Nationalismus- und Modernisierungs-Diskussion etwas zu kurz gekommen zu sein. Lediglich Karl W. Deutsch unterstrich auch die Rolle der Universitäten in der Frage der Übernahme westlicher Methoden und Praktiken in Wirtschaft und Verwaltung Osteuropas. — K. W. Deutsch: Nationenbildung-Nationalstaat-Integration. Düsseldorf 1972. S. 117 ff.; einen guten Einblick in die Bedeutung von „institutional heritage", „political culture", „scientific and technological revolution", „economic development" und „social mobilization" gibt der Sammelband von Charles Gati: The Politics of Modernization in Eastern Europe. Testing the Soviet Model. 2New York, Washington, London 1976 (vor allem der Beitrag von C. E. Black, S. 22—39). 3 ) Vgl. besonders: J. Sidak, M. Gross, I. Karaman, D. Sepie: Povijest hrvatskog naroda g. 1860—1914 (Geschichte des kroatischen Volkes, 1860—1914). Zagreb 1968; Zgodovina Slovencev (Geschichte der Slovenen). Ljubljana 1979. S. 468—526; Die Habsburgermonarchie 1848—1918. 3. Bd.: Die Völker des Reiches. Wien 1980 (Beiträge von J. Pleterski zu den Slovenen, A. Suppan zu den Kroaten und D. Djordjevii zu den Serben); Istorija Jugoslavije. Beograd 21973 (3. Teil von M. Ekmecid, S. 199—330). 4) G. Otruha: Die Universitäten in der Hochschulorganisation der Donaumonarchie. Nationale Erziehungsstätten im Vielvölkerreich 1850 bis 1914. In: Student und Hochschule im 19. Jahrhundert. Studien und Materialien. Göttingen 1975. S. 138, Tab. 8a; R. A. Kann: Das Nationalitätenproblem der Habsburgermonarchie. 2. Bd.: Ideen und Pläne zur Reichsreform. Graz, Köln 1964. S. 387—394.
Bildungspolitische Emanzipation und gesellschaftliche Modernisierung
305
Die Ursachen des Mißverhältnisses zwischen Bevölkerungsanteil und Studentenanteil lagen — abgesehen von der stark agrarischen Struktur der südslavischen Bevölkerung — einerseits im Mangel an nationalen Hochschulen (Ausnahme Zagreb mit drei Fakultäten) und in der zum Teil beträchtlichen räumlichen Entfernung von den österreichischen und ungarischen Hochschulen — vgl. vor allem die schwierigen Verkehrsverbindungen für Dalmatiner ( ! ) —, andererseits in der Problematik der Unterrichtssprache an den Universitäten und Hochschulen sowie dem weitgehenden Fehlen sprachlicher Konzessionen und Erleichterungen. Abgesehen vom langsamen Aufbau einer nationalen Landesuniversität in Zagreb ist daher im österreichisch-ungarischen Hochschulwesen für die Südslaven eine deutliche Benachteiligung zu konstatieren5). Die mit Abstand wichtigsten Universitäten für die Südslaven der Donaumonarchie waren 1890 Wien, Zagreb und Graz, mit großem Abstand folgte Budapest. Bis 1914 überholte die Universität Zagreb die Wiener, die Grazer Universität betreute bereits weniger als die Hälfte der Wiener Südslaven, und in einer ebenso großen Abstufung gegenüber Graz folgten die tschechische Universität Prag sowie Budapest und Innsbruck. Besonders die österreichischen Südslaven zeigten eine starke Präferenz für Wien und Graz: Von 100 slovenischen Universitätsstudenten studierten im Studienjahr 1902/03 fast 60 an der Universität Wien, über 31 in Graz und nur fünf an der tschechischen Universität Prag; von 100 „serbo-kroatischen" Universitätsstudenten im selben Jahr sogar 62,7 in Wien, 26,7 in Graz, 4,6 in Innsbruck und 2,9 an der tschechischen Universität. Zum Vergleich: Von 100 Studenten aus KroatienSlavonien an cisleithanischen Universitäten waren 1902/03 62,5 in Wien inskribiert, 19,3 in Graz, 7,2 in Innsbruck, 6,4 an der tschechischen und 3 an der deutschen Universität in Prag 6 ). Wien galt auch für die Südslaven als Mekka der Mediziner; allerdings ging die Attraktivität der Wiener Medizin gegen Ende des 19. Jahrhunderts deutlich zurück. Nach dem Ausbau der Mittelschulen und der Einführung strenger Lehramtsprüfungen nahmen hingegen die Philosophiestudenten merklich zu, so daß vor allem die Slovenen unter diesen einen überdurchschnittlichen Anteil erreichten. An der Spitze der Studienrichtungen der slovenischen Studenten stand aber in Wien, Graz wie Prag das Jusstudium, während die Theologiestudenten stärker in Innsbruck anzutreffen waren. Im Studienjahr 1910/11 studierte daher in Österreich jeder zweite slovenische Student Rechtswissenschaft, nur 13,5% Technik, 11,9% Medizin, jeder zehnte Philosophie, 5,8% Bodenkultur, 3,5% Montanistik, 1,6% Theologie und 1,4% Veterinärmedizin. Bei 5) G. Otruba: Universitäten, S. 91 ff.; vgl. H. Frh. v. Haan: Streiflichter zur österreichischen Hochschulfrequenz. In: Statistische Monatsschrift, Wien 1917. 6) G. Otruba: Universitäten, Tab. IIa, IIb, 12a, 1 2 b ; vgl. E. Pliwa: österreichische Universitäten 1863/64—1902/03. Wien 1908.
306
A R N O L D SUPPAN
den Kroaten und Serben aus der Donaumonarchie standen noch die Medizinstudenten mit 30% an der Spitze, gefolgt von Jus und Technik mit je knapp 20%, Philosophie mit 17,2%, Bodenkultur mit 5,6% Montanistik mit 5,1% Veterinärmedizin mit 1,6% und Theologie mit einem Prozent7). Bei den Slovenen fällt gemäß diesen statistischen Angaben der über dem Bevölkerungsanteil liegende Prozentsatz an Theologiestudenten auf, andererseits die relativ geringe Technikerfrequenz, obwohl ihnen mit Graz und Leoben zwei durchaus nahe Technische Hochschulen zur Verfügung gestanden wären und der krainische Bergbau entsprechende Anregungen hätte vermuten lassen. Vergleichsweise große Bedeutung bei allen Südslaven nahmen die agrarischen Studienrichtungen an der Wiener Hochschule für Bodenkultur ein, korrespondierend die Wiener Veterinärmedizin. Das starke Medizinerkontingent bei den Kroaten und Serben ist jedoch vor allem auf die fehlende medizinische Fakultät in Zagreb zurückzuführen8). An der Universität in Zagreb waren 1874 lediglich drei Fakultäten eingerichtet worden — Philosophie, Theologie, Rechtswissenschaft —, wobei die juridischen Staatsprüfungen bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts in der österreichischen Reichshälfte — also auch in Dalmatien, Istrien und Krain — nicht voll anerkannt wurden. Daher studierten etwa 1893 nur vier slovenische Studenten in Zagreb. Die Ausbildung der südslavischen Jugend in medizinischen, technischen und ökonomischen Fachrichtungen mußte völlig außer Landes erfolgen — meist in Wien, Graz, Budapest und Prag, aber auch an deutschen und schweizerischen Universitäten und Hochschulen (Berlin, Leipzig, München, Zürich)9). So studierte im Studienjahr 1905/06 noch mehr als ein Drittel der Studenten aus Kroatien-Slavonien an fremden Universitäten und Hochschulen, davon in der Donaumonarchie: Wien
7)
Universität Technische Hochschule Hochschule für Bodenkultur Veterinärmedizinische Hochschule Akademie für bildende Künste
134 51 11 20 4
220
Österreichische Statistik. Neue Folge, 8. Bd., 2. Heft: Statistik der Unterrichtsanstalten für das Jahr 1910/11. Wien 1914; G. Otruba: Universitäten, Tab. 4d, 15. 8) G. Otruba: Universitäten, S. 89—92; H. Haan: Streiflichter, wies im Zusammenhang mit der fachlichen Ausrichtung der Hochschulstudenten auf eine Phasenentwicklung hin: Das Hochschulleben einer Nation beginne meist mit dem Universitätsstudium, gehe in der zweiten Phase zum Teil auf Technik und andere Fachhochschulzweige über und wende sich schließlich kommerziellen Studien zu. 9) J. Sidak: Sveuciliste do kraja Prvoga svjetskog rata (Die Universität bis zum Ende des Ersten Weltkrieges). In: Spomenici u povodu proslave 300-godisnjice sveuciliäta u Zagrebu I (Erinnerungen aus Anlaß der 300-Jahr-Feier der Universität in Zagreb I). Zagreb 1969. S. 91—123; vgl. N. Klaic: Sveuciliste u Zagrebu. Ο postanku zagrebackog sveucilista (Die Universität in Zagreb. Uber die Entstehung der Zagreber Universität). Zagreb 1969.
Bildungspolitische Emanzipation und gesellschaftliche Modernisierung Budapest Prag (Praha)
Graz
Universität Polytechnikum
28 31
59
tschechische Universität deutsche Universität Technische Hochschule (tschechische) Technische Hochschule (deutsche) Akademie für bildende Künste
20 4 21 6 3
54
Universität
24 19
43
Technische Hochschule
307
19
Innsbruck
Universität
Brünn (Brno)
Technische Hochschule (tschechische) Technische Hochschule (deutsche)
8 3
Leoben
Montanistische Hochschule
3
Lemberg (L'viv)
Universität
6
Klausenburg (Cluj)
Universität
8 insgesamt
423 Studenten
Leider sind diese Zahlen nicht nach Nationalitäten zu differenzieren, da als kroatisch-slavonische Studenten jedenfalls Kroaten, Serben, Deutsche und Magyaren in diesem Kronland gelten können 10 ). Erst im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts begann sich die Agramer Universität zu einem Universitätszentrum für die Südslaven der Donaumonarchie, darüber hinaus auch für Südslaven jenseits der Grenze zu entwickeln. Die Inskriptionszahlen aus dem Studienjahr 1910/11 mögen das verdeutlichen: 730 Studenten stammten aus Kroatien-Slavonien, 139 aus BosnienHercegovina, 34 aus Istrien, fünf aus Fiume (Rijeka), 1 1 9 aus anderen Gebieten — v o r allem aus Krain, Südungarn (Vojvodina) und Bulgarien 1 1 ). Auch die Bedeutungszunahme der tschechischen Universität Prag für die südslavischen Studenten der Donaumonarchie wird aus absoluten Zahlen deutlich: Studierten 1890 erst drei Südslaven an der tschechischen (fünf an der deutschen) Universität, so waren es 1 9 1 4 bereits 154 (28 an der deutschen). A n der tschechischen Universität Prag studierten somit unmittelbar v o r dem 10 ) Statisticki godisnjak Kraljevina Hrvatske i Slavonije (Statistisches Jahrbuch der Königreiche Kroatien und Slavonien). 1/1905. U Zagrebu 1913. = Publikacije kr. zemaljskoga statistickoga ureda u Zagrebu 59. u ) J. Sidak: Sveuciliste, S. 91—123; Die Universität Zagreb war die erste im gesamten südslavischen Bereich gewesen, erst 1889 folgte Sofia (Sofija), 1896/1905 Belgrad (Beograd). 1890 hatten in Zagreb allerdings erst sechs slovenische Studenten inskribiert. — W. Petritsch: Die slovenischen Studenten an der Universität Wien (1848—1890). Phil. Diss. Wien 1972. S. 7.
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A R N O L D SUPPAN
Weltkrieg bereits rund 10% aller südslavischen Universitätsstudenten, sieht man von der Universität Zagreb ab 12 ). Slavische Wechselseitigkeit und ihre Ansätze in der jungen Generation nach 1890
südslavischen
Die kulturell-ideologischen und — phasenverschoben — die politischsozialen Kontakte zwischen Tschechen und Slovaken einerseits sowie Slovenen, Kroaten und Serben andererseits erfuhren mit dem Einsetzen des modernen Nationalismus bei diesen Völkern seit dem Ende des 18. und dem Beginn des 19. Jahrhunderts eine in mehreren Schüben vor sich gehende Verdichtung ihrer Intensität. Der Konnex mit den Entwicklungsphasen der nationalen Emanzipation wird nicht zuletzt unter der Betrachtung offensichtlich, daß der Großteil der genannten Völker immerhin in einem bereits 1526/27 zusammengeschlossenen und 1699 bzw. 1718 erweiterten Länderkomplex zusammenlebte 13 ). Bereits im Anfangsstadium der nationalen Bewegungen, in der Phase der Gebildeten des aufklärerischen, zum Teil auch schon romantisierenden Typus werden die Verbindungslinien zwischen West- und Südslaven deutlich. Am Beginn stehen die wissenschaftlichen und persönlichen Kontakte des tschechischen Sprachforschers Josef Dobrovsky zum Hofbibliothekar in Wien, Jernej Kopitar, einem Slovenen aus Oberkrain, und Dobrovskys Unterstützung für Vuk KaradSic bei der Kodifizierung der neuen serbischen Schriftsprache. In den dreißiger und vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts verstärken die Arbeiten der führenden slovakischen Panslavisten die gemeinsamen Anliegen: Der Linguist Jan Kollär beeinflußt mit seiner Lehrtätigkeit in Pest Serben wie Kroaten — unter diesen vor allem den jungen Ljudevit Gaj —, der Altertumsforscher Pavol Safärik wirkt bei einem längeren Aufenthalt in Neusatz (Novi Sad) auf das serbische Kulturleben in Südungarn, der Schriftsteller L'udovit Stur unterrichtet in Preßburg (Bratislava) beinahe eine ganze Generation junger Serben, unter ihnen den künftigen Führer der Liberalen, Svetozar Miletic 14 ). 12 ) Österreichisches Statistisches Handbuch, 34. Jg., 1915. Wien 1917. Gab es im Studienjahr 1893/94 noch keinen slovenischen Hörer an der tschechischen Universität und nur einen an der deutschen, so waren es 1898/99 bereits 21 an der tschechischen und neun an der deutschen Universität Prag. — W. Petritsch: Die slovenischen Studenten, S. 8. 13 ) Vgl. als beste Zusammenfassungen: V. 2älek (Hg.): Cesi a Jihoslovane ν minulosti. Od nejstarsich dob do roku 1918 (Tschechen und Südslaven in der Vergangenheit. Von den ältesten Zeiten bis zum Jahre 1918). Praha 1975; J. Sidak: Ceskoslovacko-juznoslavenski odnosi (Tschechoslovakisch-südslavische Beziehungen). In: Enciklopedija Jugoslavije. 2. Bd. Zagreb 1956. S. 557—571. 14) V. Zäcek: Vytväfeni novodobych närodu — närodni obrozeni a prve zäpasy ο närodni emanzipaci (Die Bildung neuzeitlicher Völker — nationale Wiedergeburt und erste Kämpfe um die nationale Emanzipation). In: Cesi a Jihoslovane, S. 217—288; L'. Holotik
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Die Idee einer engen Zusammengehörigkeit der Tschechen und Südslaven wurde 1846 von Karel Havlicek, dem aktivsten journalistischen Träger der tschechischen Agitationsphase, auf eine neue programmatische Basis gestellt. In seinem Artikel „Slovan a Cech" (Slave und Tscheche) betonte er die Notwendigkeit des Vorhandenseins gegenseitigen Nutzens als Grundlage für die Freundschaft zwischen Völkern, wobei er eine solche Plattform vorerst nur in den Beziehungen zwischen Tschechen und Illyriern erblickte: „Die Tschechen und Illyrier können sich verbrüdern, sie können der Welt ein seltenes, ja bisher unbekanntes Beispiel der Freundschaft zweier Nationen zeigen." 15 ) Die Märzrevolution 1848 bedingte eine Transponierung des kulturellen Austroslavismus in den politischen Bereich, in dem zwar gemeinsam eine Politik der Umgestaltung des habsburgischen Kaiserstaates in einen „Bund gleichberechtigter Nationen" verfolgt wurde, die jedoch schon auf Grund der unterschiedlichen staatsrechtlichen Stellung der Kronländer und des ungleichen Grades der nationalpolitischen Reife der einzelnen Völker auf Komplikationen stieß. Zwar gab es den gemeinsamen Abwehrversuch der Tschechen und Slovenen gegen die Intentionen der Frankfurter Paulskirche und einen gut organisierten Slavenkongreß unter der Leitung Frantisek Palackys in Prag, die Teilnahme von Kroaten und Serben am Reichstag stieß jedoch auf vehementen Widerstand der ungarischen Regierung, und in Kremsier konnte sich Palacky mit dem Slovenen Kavcic keineswegs auf einen Föderationsplan einigen. Und Verfassungsoktroy und Neoabsolutismus unterbanden sehr rasch das Reifen der politischen Zusammenarbeit 16 ). Neue Akzente sollten erst wieder durch Ausweitung der Nationalbewegungen auf breitere Volksschichten gesetzt werden, wozu neue kultur- und sportpolitische Organisationen wesentliche Aufbauarbeit leisteten. Bei Tschechen und Slovaken, Serben, Kroaten und Slovenen begannen die Matice als die für die Volksbildung entscheidenden Foren in den Vordergrund zu treten: Matica srpska 1826, Matice ceskä 1831, Matica ilirska 1842 (Matica hrvatska 1874), Matice moravskä 1852, Matice slovenskä 1863, Slovenska matica 1864, Matica dalmatinska 1862 17 ). Die von den Tschechen 1862 ausgehende Sokol(Hg.): L'udovit Stur und die slawische Wechselseitigkeit. Gesamte Referate und die integrale Diskussion der wissenschaftlichen Tagung in Smolenice, 27.—29. Juni 1966. Bratislava, Wien, Köln, Graz 1969 (Referate von M. Pisüt, J. Tibensky und VI. Matula). Vgl. M. Hroch: Die Vorkämpfer der nationalen Bewegung bei den kleinen Völkern Europas. Praha 1968. lä) J. Koli: Der Austroslawismus und seine Rolle in der tschechischen Politik. In: L\ Holotik: L'udovit Stür, S. 111 ff. 1β) V. 2άlek: Za burzoazni revoluce roku 1848 a 1849 (Über die bürgerliche Revolution der Jahre 1848 und 1849). In: Cesi a Jihoslovani, S. 289—334; Piehled ceskoslovenskych dejin (Überblick der tschechoslovakischen Geschichte). Teil Π; 1848—1918, Band 1 : 1 8 4 8 bis 1900. Praha 1960 (Kapitel von V. Cejchan, S. 19—95); /. Sidak: Studije iz hrvatske povijesti X I X stoljeia (Studien aus der kroatischen Geschichte des 19. Jahrhunderts). Zagreb 1973. S. 14—19; Zgodovina Slovencev, S. 442—467 (Kapitel von F. Gestrin und V. Melik). 1 7 ) Enciklopedija Jugoslavije. 6. Bd. Zagreb 1965. S. 44—48.
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Bewegung fand bereits 1863 eine Nachfolgeorganisation in Laibach (Ljubljana), 1874 in Zagreb und weiters in anderen kroatischen Städten 18 ). Ende der 1860er Jahre organisierten die slovenischen Liberalen nach tschechischem Vorbild große „Tabori", die als erste Massenbewegungen mit dem Ziel der Vereinigung der slovenischen Länder zu werten sind. Zur gleichen Zeit aber bedeutete der vergebliche Kampf der Tschechen und Kroaten um ihr historisches Staatsrecht, die Einbindung der Kroaten in den ungarischkroatischen Ausgleich und die Ablehnung der böhmischen Fundamentalartikel 1871 die Verankerung des dualistischen Systems 19 ). Die alttschechische Politik entfernte sich in den folgenden zwei Jahrzehnten von der kroatischen Frage — vgl. Korrespondenz Rieger-Strossmayer und Kritik Rackis am Besuch Riegers in Budapest 1880 —, außerdem unterschätzte sie den zunehmenden Gegensatz zwischen Serben und Kroaten, vor allem um Bosnien, obwohl die Rechtspartei Starcevic' in ihrer Ideologie die Negation eines serbischen nationalen Lebens im „Dreieinigen" Königreich Kroatien, Slavonien und Dalmatien zum Ausdruck gebracht hatte. So unterstützten die Alttschechen zwar die Reformpläne Miletic' in Südungarn, wünschten aber gleichzeitig eine Vereinigung der Vojvodina mit dem Dreieinigen Königreich. Auch das tschechische Abwägen von politischen und ökonomischen Vorteilen in der Okkupationsfrage mißfiel den südungarischen Serben20). Besser gestalteten sich die politischen Beziehungen zu den Slovenen, und zwar über die gemeinsame Arbeit im Reichsrat; allerdings ergab sich hierbei der Gegensatz zwischen historischem Staatsrecht für die böhmischen Länder und der über mehrere Kronländer ausgreifenden Forderung nach einem vereinten Slovenien 21 ). Ungetrübter verliefen in diesen Jahrzehnten immerhin 1 8 ) Zgodovina Slovencev, S. 469; M. Sestäk: Cesi a Jihoslovane ν habsburske monarchii ν letech 1850—1890 (Tschechen und Südslaven in der Habsburgermonarchie in den Jahren 1850—1890). In: Cesi a Jihoslovane, S. 485. 19) J. Sidak: Die kroatische Politik in den sechziger Jahren des XIX. Jahrhunderts bis zum kroatisch-ungarischen Ausgleich (1868). In: Österreichische Osthefte 9. 1967. 3. S. 197 bis 212; /. Vofajak: Slovenski tabori (Slovenische Tabori). Maribor 1869; Z. Tobolka: Politicke dejiny ceskoslovenskeho näroda od r. 1848 az do dnesni doby (Politische Geschichte des tschechoslovakischen Volkes vom Jahre 1848 bis in die heutige Zeit). II. Praha 1933. S. 239 ff.; V. Krestic: Hrvatsko-ugarska nagodba 1868. godine (Der kroatisch-ungarische Ausgleich des Jahres 1868). Beograd 1969. 20) M. Sestäk: Cesi a Jihoslovane, S. 447—469; vgl. M. Gross: Povijest paravske ideologije (Die Geschichte der Rechtspartei-Ideologie). Zagreb 1973; F. Silic (Hg).: Korespondencija Racki - Strossmayer (Die Korrespondenz Racki - Strossmayer). 3. Buch. Zagreb 1930; N. Petrovic: Svetozar Miletii. Beograd 1958. 2 1 ) Vgl. F. Gestrin, V. Melik: Slovenska zgodovina od konca osemnajstega stoletja do 1918 (Slovenische Geschichte vom Ende des 18. Jahrhunderts bis 1918). Ljubljana 1966; F.Jordin: cesi a Slovinci ν 19. a na zacätku 20. stoleti (Tschechen und Slovenen im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts). In: F. Hejl (Hg.): Otäzky dejin Stfedni a Vfchodni Evropy. Brno 1971. S. 263—292.
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die kulturellen Kontakte: Von kroatischer Seite wurden sie vor allem vom Romancier August Senoa und vom führenden Historiker Vjekoslav Klaic gepflegt, noch enger zwischen Tschechen und Slovenen im Theater- und Musikleben der beiden Völker 22 ). In eine neue Phase tschechisch-südslavischer Zusammenarbeit führten nun die neunziger Jahre, und zwar auf politisch-ökonomischer wie auf kulturellideologischer Ebene. Für erstere zeichnete vor allem das jungtschechische Bürgertum verantwortlich, das nicht nur die Kooperation im Reichsrat verdichtete (Hohenwart-Klub, Slavische Koalition), sondern auch finanzpolitisch in den südslavischen Ländern aktiv zu werden begann — vgl. die Investitionen der Zivnostenskä banka 23 ). Die zweite Ebene wurde vor allem von der jungen Generation und in dieser wieder von Studenten gestaltet. Vom linken Flügel der Jungtschechen ausgehend, entwickelten sie die „Fortschrittsbewegung" (pokrokove hnuti) mit radikal-nationalistischen und demokratischen Ideen. Als sich 1893 auch antidynastische Strömungen bemerkbar machten, mußte sie jedoch im OmladinaProzeß einen deutlichen Rückschlag hinnehmen 24 ). Die Aktivität der tschechischen Studenten hatte aber Widerhall unter der jungen südslavischen Generation gefunden. Der „Casopis ceskeho studentstva" (Zeitschrift der tschechischen Studentenschaft) zirkulierte in Zagreb und Graz. Für Mai 1891 wurde eine Tagung der slavischen Studentenschaft in Prag angesetzt, auch die südslavischen Studentenzeitschriften — „Slovenija", „Zvonimir" (kroat.) und „Zora" (serb.) — agitierten für eine Teilnahme ihrer Kollegen aus Wien, Graz und Zagreb. Neben den Tschechen und Polen stellten Kroaten und Serben die stärkste Delegation, die Slovenen nahmen nur als Gäste teil. Neben einer allgemeinen Resolution für eine Föderalisierung der Monarchie forderten die Kroaten Unterstützung für die Erneuerung ihres Staatsrechtes, die Serben gleiches Recht wie die Kroaten in Ungarn. Getrennt wurde auch der Wunsch geäußert, daß es zwischen Serben und Kroaten „ehestens" zu einer Verständigung komme 25 ). 22) M. Sestäk: Cesi a Jihoslovane, S. 454 f., 4 8 7 ; vgl. I. Prijatelj: Slovenska kulturnopoliticna in slovstvena zgodovina (Slovenische kulturpolitische und literarische Geschichte). 5 Bde. Ljubljana 1 9 5 5 — 6 6 (6. Bd. mit Anmerkungen v o n D. Kermavner). 23) VI. St'astny: V e znameni tzv. p o k r o k o v e h o hnuti (Im Zeichen der sogenannten Fortschrittsbewegung). In: Cesi a Jihoslovane, S. 4 8 8 — 5 0 2 ; Pfehled ceskoslovenskych dejin, S. 5 3 1 — 5 3 6 ( K . Herman). Eine wichtige Rolle in diesen finanzpolitischen Beziehungen spielte bereits um 1 8 9 0 I. Hribar als Generalvertreter der tschechischen Bank „Slavia" in Laibach. — V g l . I. Hribar: Moji spomini (Meine Erinnerungen). 2 Bde. Ljubljana 1928. 2 4 ) Piehled ceskoslovenskych dejin, S. 6 5 2 ff. (Z. Solle); VI. St'astny: V e znameni, S. 509 i . J . Havränek: Die Studenten an der Schwelle des modernen tschechischen politischen Lebens. In: Acta Universitatis Carolinae — Philosophica et Historica 4. Praha 1969. S. 29—52. 25) VI. St'astnij: V e znameni, S. 5 1 0 f . ; J. Havränek, F. Kavka, K. Kucera: Strucne dejiny university K a r l o v y (Kurze Geschichte der Karlsuniversität). Praha 1964. S. 244 ff.
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Repräsentant der kroatischen Studenten war Antun Radic gewesen, der auch auf einer zweiten Sitzung im Juni 1892 in Wien auftrat und an einem Beschluß mitwirkte, unter den südslavischen Jugendlichen für die Verbreitung „fortschrittlicher Ideen" zu sorgen 26 ). Antun Radic war der ältere des kroatischen Brüderpaars, das auf Politik und gesellschaftliche Entwicklung seiner Heimat in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts noch bedeutenden Einfluß gewinnen sollte. Antun begann mit seinem Studium in Zagreb, wechselte 1891/92 zu Vatroslav Jagic ans Wiener Seminar für slavische Philologie, wo er sich besonders intensiv mit russischer Literatur beschäftigte. Von Tolstoj übernahm er dessen demokratische Haltung und Liebe zum Volk, von den Narodniki die Forderungen nach Schaffung einer nationalen Kultur und nach Eingehen der Intelligenz auf Fragen des Volkes. Die russische „obscina", die bäuerliche Selbstverwaltungsgemeinde, fand sich in Radic' Konzept der „landwirtschaftlichen Gemeinde" wieder. Beeinflußt wurde Antun Radic aber auch vom französischen Historiker Jules Michelet — „Le Peuple" (Paris 1846) —, vor allem von dessen Suche nach der „Volksseele" und der „Volkskultur", die im Gegensatz zu der in der Stadt existierenden fremdnationalen und daher national überschichtenden Zivilisation gefördert werden sollten. Immerhin gelang es Antun Radic mit seiner Zeitschrift „Dom" ab 1899 ein echtes Informationsblatt für die kroatischen Bauern herauszugeben, das mit 2603 Abonnenten im Jahr 1903 bereits beachtliche Breitenwirkung erzielte 27 ). Der politisch wirkungsvollere aber wurde trotz dieser Leistungen für die Volksbildung sein Bruder Stjepan. Stjepan Radic, Jahrgang 1871, seit 1891 Student an der Rechtsfakultät in Zagreb, stand bereits in jungen Jahren mit führenden kroatischen Politikern wie Strossmayer, Racki und Ante Starcevic in Verbindung. Als Vertreter der Zagreber Studenten bei der Dreihundertjahrfeier des Sieges bei Sisak über die Osmanen (1593) ließ er sich unter anderem zum Ausruf „Pereat Khuenl" hinreißen und wurde zu vier Monaten strengem Kerker in Petrinja verurteilt. Hier vervollständigte er seine tschechischen Sprachkenntnisse, ging nach seiner Entlassung als relegierter Student nach Prag und lernte seine spätere Frau, die tschechische Lehrerin Marija Dvofak, kennen. Die Teilnahme an einer Studentenversammlung im Herbst 1894 brachte ihm allerdings auch die Relegierung von der Universität Prag („pro omne tempus [sie!]") und sogar die Verbannung aus allen im Reichsrat vertretenen Königreichen und Ländern. Nach einem Studienaufenthalt in Budapest stand Radic bei der anläßlich des Kaiserbesuches 1895 in Zagreb durchgeführ26)
F. Hlavälek: Jihoslovanskä pokrokovä generace, S. 3. A. Moritsch: Antun Radid — Lehrer des kroatischen Volkes. In: Bereiche des Slavistik. Festschrift zu Ehren von Josip Hamm, Wien 1975. S. 193—201; A. Moritsch: Die Bauernparteien bei den Kroaten, Serben und Slowenen. In: H. Gollmt^er (Hg.): Europäische Bauernparteien im 20. Jahrhundert. Stuttgart, New York 1977. S. 359—402. 27)
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ten Studentendemonstration wieder an der Spitze, bei der vor den Augen des Herrschers auf dem Jelacic-Platz eine magyarische Fahne verbrannt wurde — unter den deklamatorischen Rufen: „Es lebe der kroatische König Franz Joseph I.! Ehre für Jelacic! Abzug der Magyaren!" Die strafrechtliche Verfolgung setzte umgehend ein: Radic wurde von allen 54 Angeklagten mit sechs Monaten strengem Kerker am schwersten bestraft und lernte nun im Gefängnis — Französisch. Dies öffnete ihm 1897 den Weg nach Paris — an die „Ecole libre des sciences politiques", an der er 1899 mit dem laureat abschloß28). Die Demonstration von 1895 hatte einen ersten Höhepunkt der Radikalisierung der kroatischen akademischen Jugend dargestellt, einen Ausbruch ihrer Kritik an der Herrschaft des Banus Khuen-Hederväry, die KroatienSlavonien in gesellschafts- wie in kulturpolitischer Hinsicht in eine Stagnation geführt hatte. Politischer Druck und Zensur lasteten auf dem intellektuellen Leben, der ökonomische Aufschwung der liberalen Ära war verflacht, schwere soziale Probleme — resultierend aus der Auflösung der bäuerlichen Zadruga, der Landflucht und der schwachen Industrialisierung — harrten einer Regelung 29 ). Die Unzufriedenheit der jungen Generation richtete sich aber auch gegen die Rivalitäten der kroatischen Parteien und gegen die nationalpolitische Konfrontation zwischen Kroaten und Serben. Die Studenten waren bereits 1893 für eine einheitliche Opposition gegen Khuen eingetreten, die Rechtspartei spaltete sich statt dessen in zwei Flügel, in die „Frankovci" (später konservativ-„großösterreichisch") und in die „Domovinasi" (zunehmend „jugoslavische" Orientierung); daneben wirkten die „Obzorasi" als ungebundene Nationalpartei weiter. Damit stürzte aber auch die alte RechtsparteiIdeologie eines großen, freien und unabhängigen Kroatiens mit dem historischen und natürlichen Recht der kroatischen Nation auf ihren eigenen Staat außerhalb der Monarchie und machte Platz für neue ideologische Systematisierungen auf neuen gesellschaftlichen Ebenen30). Die studentische Generation von 1895 sollte den Nucleus für eine Gruppierung darstellen, für die „Fortschrittliche Jugend" (napredna omladina). Vorerst aber hatte sie sich mit den politischen Folgen der Demonstration auseinanderzusetzen — mit Gefängnisstrafen und Relegierung von der Universität Zagreb. Hierbei stand sie jedoch nicht allein, denn eine spontan angelaufene Hilfsaktion unter Führung eines den „Obzorasi" nahestehenden Aus2β) B. Kri^mati (Hg.): Korespondencija Stjepana Radida (Die Korrespondenz Stjepan Radii'). I (1885—1918). Zagreb 1972. S. 25—70. (Biographie bis 1918) Der Abg. Kramif hatte gegen die Relegierung Radii' von der Prager Universität sogar im Reichsrat interpelliert. — VI. St'astny: Ve znameni, S. 516. 29 ) Vgl. I. Karaman: Privreda i druätvo Hrvatske u X I X stoljeöu (Wirtschaft und Gesellschaft Kroatiens im 19. Jahrhundert). Zagreb 1972; R. Lovrenlic: Geneza politike „Novog kursa" (Genesis der Politik des „Neuen Kurses"). Zagreb 1972. S. 21—37. 30) M. Gross: Povijest pravaske ideologije, S. 436 f.
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schusses verhalf auch den Söhnen weniger begüterter Eltern zu einem auswärtigen Studium. Zugleich unterstrich diese Solidaritätsaktion den Stellenwert der Demonstration für bedeutende Teile der bürgerlichen Opposition, und zwar bis nach Dalmatien 31 ). Nicht zuletzt auf Anregung und Vorschlag Stjepan Radic' kam nun im Winter 1895/96 eine Gruppe der relegierten Studenten nach Prag und inskribierte für das Sommersemester 1896 an der tschechischen Universität. Zur Gruppe gehörten Zivko Bertic, Milan Heimrl, Milan Saric, Franjo Poljak, Svetimir Korporic, Milivoj Dezman, Gedeon Knezevic, Ivan Dobianski, Stjepan Siletic, Dinko Fabris und Josip Belovic. Sie stießen auf eine politischideologisch reichlich heterogene Prager Szene: Zum Teil neigte die junge tschechische Intelligenz zum radikalen Flügel der Jungtschechen, zum Teil zum tschechischen Slavismus, noch mehr zum Realismus Masaryks. Der überwiegende Teil der kroatischen Studenten begann an der Rechtsfakultät zu studieren, an der sie auch Vorlesungen von Professor Masaryk aus „praktischer Philosophie" hörten. Hierbei sollten ihre Vorstellungen von Jugoslavismus, slavischer Solidarität und Kulturarbeit für das Volk sehr bald wesentliche Ergänzung und qualitative Veränderung erfahren 32 ). Der akademische Lehrer: TomaS Garrigue Masaryk Professor Masaryk war den südslavischen Studenten kein Unbekannter mehr: 1891 hatte er gemeinsam mit dem istrischen Reichsratsabgeordneten Vjekoslav Spincic am Bankett der slavischen Studententagung teilgenommen, 1892 an einer großen Versammlung der slavischen Studenten in Graz, und im selben Jahr hatte er sich in den Delegationen den Problemen Bosniens und der Hercegovina zugewandt und die Politik Kailays kritisiert 33 ). Tomas Masaryk stammte aus Südmähren, konnte trotz armer Herkunft Realschule und Gymnasium besuchen und studierte in der ersten Hälfte der siebziger Jahre an der Wiener Rudolfina. Hier stand er in Verbindung mit dem Professor für tschechische Sprache und Literatur Sembera, war Mitglied des tschechischen Studentenvereins „Akademicky spolek" und trat als Gründer mehrerer anderer Studentenklubs hervor. Seine philosophischen 31) 32)
R. Lovrenlic: Geneza politike, S. 41 f. R. Lovrenlic: Geneza politike, S. 40 ff. Bereits
1893 hatte der Redakteur F. Supilo — später der wichtigste kroatische Politiker des „Neuen Kurses" — in einem Brief an Stj. Radic die Bedeutung der Jungtschechen, vor allem aber der Realisten um Masaryk als „guten Impuls und guten Motor" hervorgehoben und bedauert, daß kaum ein Dalmatiner in Prag studiere. — Brief Supilo an Radid, Dubrovnik, 29. IX. 1893. In: B. Krimmern: Korespondeneija I, S. 93. 33) VI, St'as inj: Ve znameni, S. 511—513. Masaryk hatte bereits während seines Studiums in Wien Südslaven kennengelernt und Serbo-Kroatisch gelernt. — M. Paulovd: Masaryk a Jihoslovane, S. 243.
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Studien widmete er vor allem Plato, dessen ontologische Betrachtungen über die Seele schließlich zum Dissertationsthema wurden. Bereits zwei Jahre nach der Promotion legte Masaryk nach vorübergehenden Studien an der Leipziger Universität seine Habilitationsschrift „Der Selbstmord als soziale Massenerscheinung der Gegenwart" vor und erregte damit in Wien allgemeines Aufsehen. Doch der junge Wissenschafter suchte auch schon Anwendungsbereiche für sein philosophisches System und begann sich mit dem tschechischen Nationalismus zu beschäftigen. Parallel zum Erwerb der Dozentur veröffentlichte er eine Artikelserie unter dem Titel „Theorie und Praxis" (1878), in der er der Nationalitätenpolitik eine wissenschaftlich-historische Basis zu geben bemüht war 34 ). An der tschechischen Universität Prag war der junge Professor sogleich mit dem radikalen Nationalismus konfrontiert, der sich auf akademischer Ebene nicht zuletzt im äußerst heftig geführten Handschriftenstreit manifestierte, wobei Masaryks Zeitschrift „Athenäum" zum Sprachrohr der Handschriftenkritiker avancierte 35 ). Zu Beginn der neunziger Jahre war Masaryk auch der erste Sprung in die große Politik geglückt: Als Kandidat der Jungtschechen wirkte er eine halbe Legislaturperiode lang im Wiener Reichsrat, nahm jedoch bereits 1893 seinen vorläufigen Abschied. Der gesellschaftspolitisch engagierte Professor hatte sich schon durch unorthodoxes Verhalten in Forschung und Lehre manche Kritik eingeholt, die politische Plattform im Reichsrat bedingte zusätzliche Konfrontation. Dennoch und wohl zum Teil gerade deshalb stieg das Ansehen des akademischen Lehrers Masaryk bei seinen Studenten, vorerst bei Studenten tschechischer Nationalität, bald jedoch auch bei den nach Prag gekommenen südslavischen Studenten. Bevor wir uns jedoch diesem Wirken und seinem Vermächtnis an seine Hörer zuwenden, werden wir seine theoretischen Positionen in Geschichtsphilosophie und Soziologie kurz zu analysieren haben. Im Mittelpunkt seines wissenschaftlichen und politischen Interesses stand die menschliche Existenz, der „wahrhaftige Mensch", die „Wahrhaftigkeit des Lebens". Als kritischen Ansatzpunkt zur Analyse dieses Lebensproblems wählte er das Erlebnis der „Nichtidentität" des Menschen: das Gespaltensein zwischen innerer Uberzeugung und äußerer Handlung, das Verleugnen des eigenen Ich vor den Menschen. Und sofort vollzog er auch Übertragung und Anwendung auf den politischen Bereich: Masaryk verurteilte das Gespaltensein 34 ) Vgl. K. Capek: T. G. Masaryk erzählt sein Leben. Gespräche mit Karel Capek. Berlin o. J.; M. Machovec: Thomas G. Masaryk. Graz, Wien, Köln 1969. 35 ) Vgl. dazu die Zusammenfassung von M. Otruba (Hg.): Rukopisy krälovedvorsky a zelenohorsky, Dnesni stav ροζηίηί (Die Königinhofer und Grünberger Handschriften, gegenwärtiger Stand der Erkenntnis). 2 Bde. Praha 1969;/. Herben: T. G. Masaryk. Zivot a dilo presidenta Osvoboditele (Leben und Werk des Präsidenten und Befreiers). 5Praha 1946. S. 76—86.
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bei jenen Personen, die Autorität verkörpern und von denen man moralische Integrität erwarten könnte 36 ). Mitte der neunziger Jahre veröffentlichte Masaryk drei geschichtsphilosophische Schriften: „Ceska otäzka" (Die tschechische Frage), „Nase nynejsi krise" (Unsere gegenwärtige Krise) und „Jan Hus" 3 7 ). Auch im historischen Zusammenhang versucht Masaryk vor allem menschenwürdiges Verhalten und Handeln zu deuten. Daher stellen „Humanismus", „Reformation", „Realismus" und „Anthropismus" zentrale Begriffe seines Denkens dar. Aus der Beschäftigung mit Quellen und Protagonisten der tschechischen und slovakischen Wiedergeburt arbeitet er eine Reihe von Strukturen heraus: das humane Slaventum (Josef Dobrovsky), die Idee der Brüderlichkeit (Jan Kollär, Pavol Safärik, Frantisek Palacky, Karel Havlicek), die Humanität als Ziel und Programm der Nation (dieselben). Masaryks Geschichtsbetrachtung ist nicht Selbstzweck, sondern — nach seinen eigenen Worten — „Vorbereitung für die politische Tätigkeit", Anleitung zum politischen Handeln 38 ). Einer der intensivsten Masaryk-Forscher, Zdenek Nejedly, leitete aus dieser Position Masaryks sogar die sehr grundsätzliche These ab, dieser sei sich im klaren darüber gewesen, daß man als Politiker die Gesetze der Geschichte und die Gesetze der menschlichen Entwicklung kennen müsse. Dem hielt Milan Machovec mit Recht entgegen, daß Masaryk kein eigenes Denkschema aufgestellt, ja nicht einmal versucht habe, sozio-ökonomische Umwälzungen zu erklären. Masaryk hingegen habe vor allem Kritik gegen falsche Standpunkte — wie den Historismus oder die „Mystik in der Geschichte" — geübt und neue Betrachtungsmöglichkeiten vorgeschlagen: so die Aufspürung und Förderung des Humanitätsgedankens und die Aktivierung des gegenwärtigen Menschen zu kritikoffener Korrektur seines Geschichtsbildes und zur Erreichung eines „authentischen Geschichtsbewußtseins" 39 ).
36) M. Machovec: Masaryk, S. 92 f . ; v g l . / . Kral: Masaryk filosof a sociolog (Masaryk als Philosoph und Soziologe). I n : S b o m i k prcdnäsek ο Τ . G . Masarykovi. V Praze 1931 S. 3—24. 37) T. G. Masaryk: Ceskä otäzka. Snahy a tuzby närodniho obrozeni (Die tschechische Frage. Bestrebungen und Hoffnungen der nationalen Wiedergeburt). V Praze 1895; T. G. Masaryk: NaSe nynejsi krise. Pad strany staroceske a pocätkove smeru novych (Unsere neueste Krise. Der Fall der Partei der Alttschechen und A n f ä n g e neuer Richtungen). V Praze 1895; T. G. Masaryk: J a n Hus. N a s e obrozeni a reformace (Jan H u s . Unsere Wiedergeburt und Reformation). V Praze 1896. 38) T. G. Masaryk: N a s e nynejsi krise, S. 129. Masaryks Geschichtskonstruktionen — vor allem seine These v o n der unmittelbaren Verbindung zwischen Hussitismus und nationaler Wiedergeburt — hielten der wissenschaftlichen Kritik nicht stand. — / . Pekaf: Masarykova c e s k i filosofie (Masaryks tschechische Philosophie). Prag 1912; v g l . R. G. Plaschka: V o n Palacky bis Pekar. Geschichtswissenschaft und Nationalbewußtsein bei den Tschechen. G r a z , K ö l n 1955. S. 78 ff. 3β) Z. Nejedly: T . G . Masaryk. I. Teil, 2. Buch. Prag 1931. S. 226 f . ; M. Machovec: Masaryk, S. 135 f.
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Versuchen wir, Masaryks philosophisch-soziologische Grundpositionen noch zu konkretisieren: Er ist zu dieser Zeit Antipode eines typischen Nationalisten und Kritiker von Chauvinismus und Antisemitismus — überzeugt von der Sendungsidee eines demokratisierten und föderalisierten Donau- und Balkanraumes. Nur ein derart organisiertes Staatengebilde könnte Schutz bieten gegen soziale und rechtliche Unsicherheit, gegen imperialistische Großmachtaspirationen, gegen Privilegien und Kabinettspolitik, gegen Zensur und „relativen" Konstitutionalismus. Masaryk war unversöhnlicher Gegner von Despotismus, Unfreiheit und Gesinnungsterror, sein Programm hieß Demokratie und Freiheit40). Machovec definierte diesen Freiheitsbegriff so: „Freiheit auch für die Meinung des Gegners, Achtung vor der Opposition, Schutz des Rechtes auch einer Minderheit auf Existenz und volle Entfaltung . . ."«) Auch hinsichdich des Demokratiebegriffs blieb Masaryk nicht bei der in einigen westeuropäischen Ländern gewohnheitsrechtlich und verfassungsmäßig gegebenen Form des politischen Lebens stehen, sondern versuchte ihn auch als Problem des menschlichen Lebensinhaltes zu fassen. Er reduzierte das Problem der Demokratie im wesentlichen auf die Frage nach der „Wahrhaftigkeit des menschlichen Lebens", also auf metaphysische Grundlagen. Nur diese könnten ä la longue Diskussion und Kritik, freie Opposition und Dezentralisation, Individualität und Pluralismus sichern42). Masaryks Verkündung eines sozialen Aktivismus, sein kritisches Verhältnis zur Vergangenheit und sein Positivismus hinterließen einen tiefen Eindruck auf diese wie auch auf folgende südslavische Studentengenerationen. Masaryk führte die bisher stark auf den deutschen Kulturkreis bezogenen Studenten in die französische und russische Kultur ein und machte sie mit den modernen Sozial- und Politikwissenschaften vertraut. Den südslavischen Studenten wurde bewußtgemacht, welche Rolle der ökonomischen Macht im nationalpolitischen Kampf zukommt, ebenso einer entsprechenden sozialen Organisation, nicht zuletzt auch einer starken sozialistischen Bewegung. Wenn Masaryk auch den Marxismus als theoretische Grundlage ablehnte, so trat er dennoch für einen sozialen Reformismus in Anlehnung an die Sozialdemokratie ein und forderte ζ. B. die tägliche, evolutionäre Kleinarbeit unter den breiten Volksschichten, um ihre materiellen und kulturellen Bedürfnisse zu heben 43 ). 40 ) Vgl. Masaryks Eintreten im Polnaer Ritualmord-Prozeß, in der Affäre Hilsner, im Agramer Hochverratsprozeß und im Friedjung-Prozeß, in der Wahrmund-Affäre. 41 ) M. Machovec: Masaryk, S. 22. 42 ) M. Machovec: Masaryk, S. 23—29. Bedeutende erzieherische Wirkung auf das tschechische Volk erzielte Masaryk mit der Unterordnung des historischen Staatsrechtes unter das Naturrecht. — K. Krofta: Masaryk und unser politisches Programm. In: Masaryk — Staatsmann und Denker. Prag 1930. S. 25—50. 43 ) Vgl. T. G. Masaryk: D i e philosophischen und soziologischen Grundlagen des Marxismus. Wien 1899.
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Wesentlich für die Realität des kroatischen politischen Lebens war auch die Kritik Masaryks an der staatsrechtlichen Politik der Jungtschechen. Für die kroatischen Studenten bedeutete dies in der Anwendung das Abrücken vom kroatischen Staatsrecht und die Verbesserung der kroatisch-serbischen Beziehungen. Die politische Erfahrung des deutsch-tschechischen Antagonismus hatte ergänzende Wirkung: die junge südslavische Intelligenz begann sich der imperialistischen Gefahr eines „deutschen Dranges nach Südosten" bewußt zu werden, die sich vor allem für die Slovenen in der deutschnationalen Forderung nach Aufrechterhaltung einer „Brücke zur Adria" manifestierte. Als Gegengewicht wurde ihnen in Prag die Idee von der slavischen Solidarität präsentiert, die jeden Streit zwischen slavischen Völkern verhindern sollte 44 ). Der politisch-ideologische Einfluß Masaryks auf die Prager Gruppe südslavischer Studenten läßt sich daher nach den wesentlichsten Eindrücken zusammenfassen: — Zum Unterschied vom Großteil der kroatischen und slovenischen Intelligenz löste sich die Prager Gruppe vom dominierenden Einfluß der deutschen Kultur, da sie auch in die französischen und russischen Sozialund Politikwissenschaften eingeführt worden war. — Die südslavischen Studenten gerieten außerdem in die heftigen Auseinandersetzungen zwischen Tschechen- und Deutschtum in Böhmen vor der Jahrhundertwende und wurden sich des zunehmenden Einflusses des Deutschen Reiches in Österreich-Ungarn bewußt. — Die Prager Gruppe erfuhr die Bedeutung der Wirtschaftskraft einer Nation für den nationalpolitischen Kampf; dabei sah sie auch die Notwendigkeit der Schaffung gut entwickelter wirtschaftlicher und sozialer Organisationen. — Die Südslaven erkannten die Wichtigkeit festerer Verbindungen zwischen den politischen Parteien und breiteren Volksschichten, die Notwendigkeit der Verstärkung der sozialen und kulturellen Arbeit für diese, ohne jedoch die marxistischen Forderungen übernehmen zu müssen. — Sie hörten Masaryks Kritik am Klerikalismus und formierten eine von diesem losgelöste Haltung in der kroatischen Politik. — Sie lernten aber auch von Masaryks Kritik an der tschechischen Politik, vor allem am Festhalten der Jungtschechen am böhmischen Staatsrecht. — Die Einsicht in das Erfordernis einer Stärkung der Zusammenarbeit der Slaven — um der alldeutschen Bewegung zu widerstehen — führte bei der Prager Gruppe zur Überwindung des kroatischen Nationalismus 45 ). 44)
R. Lovrencic: Geneza politike, S. 43 f. « ) Ebenda, S. 43 ff.
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Die neue südslavische Intelligenz und ihre national- und Forderungen
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gesellschaftspolitischen
Unter dem Einfluß von Masaryks Vorlesungen und Büchern, aber auch der radikalen Fortschrittsvereinigung des Antonin Hajn und seiner Zeitschrift „Samostatnost" wurden die südslavischen Studenten in Prag sehr bald publizistisch tätig 46 ). Schon im Januar 1897 erschien in Prag die erste Nummer des Monatsblattes „Hrvatska misao. List za knjizevnost, politiku i pitanja socijalna" (Der kroatische Gedanke. Blatt für Literatur, Politik und soziale Fragen). Als Hauptredakteur fungierte anfangs Stjepan Radic, nach seiner Abreise nach Paris übernahm der Tscheche Frantisek Hlavacek die Redaktionsführung; in der Redaktionsarbeit wirkte außerdem noch ein Serbe aus dem Königreich, Milan Saric, mit. Die Zeitschrift brachte mit ihren Forderungen einen neuen Ton in die kroatisch-slavonische Politik: — Einheit von Kroaten und Serben; — Politik der sozialen Reformen; — Demokratisierung des politischen Lebens47). Die tschechische „Nase doba" (Unsere Zeit) lobte die „Hrvatska misao": Sie arbeite für die kulturelle Entwicklung der jüngeren Intelligenz, ihr Programm sei modern-fortschrittlich, dennoch volksverbunden. Stjepan Radic ließ als Service für die tschechischen Leser eine von ihm verfaßte serbo-kroatische Grammatik beilegen, Milan Heimrl schrieb eine Studie „Iz novije politicke povjesti ceskoga naroda" (Aus der neueren politischen Geschichte des tschechischen Volkes)48). Die „Hrvatska misao" schaltete sich auch in die Maturantenberatung ein, informierte über die Verhältnisse an den Universitäten und Hochschulen und riet vor einem Studium in Zagreb, Graz oder Wien ab, empfahl hingegen ein solches an der tschechischen Universität und an der tschechischen Technischen Hochschule in Prag. Für die neue Zeitschrift interessierten sich aber auch amtliche Institutionen, denn immerhin hatte sie eine Auflage von 2000 Stück. 10) VI. St'astny: Ve znameni, S. 513. Ebenda, S. 513 f.; R. Lovrenlic: Geneza politike, S. 45 f. In der ersten Nummer der „Hrvatska misao" formulierten die südslavischen Studenten ihr „Sto hoöemo" (Was wir wollen): Die ökonomischen, sozialen, kulturellen und politischen Kräfte der Südslaven seien noch schwach; daher gefährde ein nationaler Gegensatz nur die für das Land und die Bevölkerung erforderliche Entwicklung. Folgerichtig wurde der Historizismus beider Nationen (der Kroaten und Serben, Anm. d. Verf.) verurteilt — statt in toten Papieren sollte die Kraft der Nation im Volk gesucht werden. — Hrvatska misao, br. 1, Praha 1897. 48 ) Nase doba 4, Praha 1897. S. 378. Radic verfaßte für die südslavischen Studenten in Prag auch eine tschechische Grammatik mit Lesebuch und Wörterbuch. — VI. St'astny: Ve znameni, S. 518. 47 )
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So untersagte man den Posttransport nach Kroatien-Slavonien, um dort ihre Kolportage zu verhindern 49 ). Daher erschien der 2. Jahrgang 1898 unter dem Titel „Novo doba" (Neue Zeit) mit dem nationalpolitisch bereits sehr deutlichen Untertitel „List sjedinjene hrvatske, srpske i slovenacke omladine za politicka, socijalna i knjizevna pitanja" (Blatt der vereinigten kroatischen, serbischen und slovenischen Jugend für politische, soziale und literarische Fragen). Schon der neue Mitarbeiterstab unterstrich die programmatische Zielsetzung: Der DalmatinerKroate Vice Iljadica Grbesic übernahm von Hlaväcek die Redaktionsführung, die Slovenen Ivan Zmavc und Anton Dermota traten in die Prager Redaktion ein; weiters wirkten die kroatisch-slavonischen Serben Svetozar Pribicevic und Jovan Banjanin mit, aus dem Königreich Serbien Ivan Sajkovic und aus Bosnien Kosta Majkic. Im Einführungsartikel wurde als Programm die nationale Einheit der Kroaten und Serben und ihre kulturelle Einheit mit den Slovenen verkündet. Dieser Jahrgang war noch stärker vom tschechischen „Realismus" beeinflußt, widmete der sozialen Frage größere Aufmerksamkeit und nahm auch manche Gedanken aus der praktischen Politik der Sozialdemokratie auf 50 ). Die Zusammenarbeit der südslavischen Studenten in Prag konnte allerdings auch auf nationale Grenzen stoßen: Zwar verbreiterte die serbische Studentenvereinigung „Sumadija" ihre Basis, setzte den Slovenen Josip Germ an die Spitze ihres Ausschusses und nahm den Kroaten Milan Prelog als Mitglied auf. Als aber nach einem Vortrag von Ivan 2mavc — „Co se mame my ν Praze uciti" (Was wir in Prag gelernt haben) — Dragotin Loncar und Heimrl den Antrag stellten, die „Sumadija" zu einem Klub für alle südslavischen Studenten in Prag zu erweitern, protestierten nationalistische Serben bei der Prager Polizeidirektion gegen den Mißbrauch des Namens und verlangten polizeiliches Einschreiten51). Die Tätigkeit der ersten südslavischen Studentengeneration in Prag ging rasch zu Ende, als noch 1898 die meisten Mitarbeiter Prag verließen und in ihre Heimat zurückkehrten 52 ). In Zagreb hatte sich bereits 1896 anläßlich von ser4 9 ) Hrvatska misao 1, Praha 1897. S. 208—212: Abiturientima (Für Maturanten); B. Kri^man: Korrespondencija Radica, S. 30. 50) VI. St'astny: Ve znameni, S. 514 f. Inzwischen war es zu den Badeni-Unruhen gekommen, nach denen verstärkter Zulauf südslavischer Studenten nach Prag einsetzte. Denn im Verlauf der Auseinandersetzungen zwischen deutschen und slavischen Studenten in Wien und Graz war dort der Ruf laut geworden: „Fort aus Wien! Fort aus GrazI Zum Studium nach Prag!" — V. Burian: Slovinci na universite Karlove, S. 142. 51) VI. St'astny: V e znameni, S. 515. 5 2 ) Daher konnte auch das „Novo doba" in Prag nicht weiter erscheinen und fand noch 1899 in Wien unter dem Titel „Glas ujedinjene hrvatske, srpske i slovenacke omladine" (Stimme der vereinigten kroatischen, serbischen und slovenischen Jugend) seine Fortsetzung. Die Redaktion führten formal Stjepan Radic aus Paris und Svetozar Ptibicevic aus Zagreb. — VI. St'astny: Ve znameni, S. 515.
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bischen Gedenkfeiern für Svetozar Miletic die Möglichkeit der Zusammenarbeit zwischen kroatischer und serbischer akademischer Jugend abgezeichnet, noch im selben Jahr war eine „Vereinigte kroatische und serbische akademische Jugend" gebildet worden, und Mitte des Jahres 1897 erschien in deren Namen der Almanach „Narodna misao" (Der nationale Gedanke). Für seine Herausgabe zeichneten die Kroaten Ivan Lorkovic und Lav Mazzura sowie die Serben Jovan Banjanin, Svetozar Pribicevic und Dusan Mangjer verantwortlich, ab 1898 wirkte der Kroate Franjo Potocnjak als Hauptredakteur. Sowohl die Namen der Mitarbeiter als auch die Inhalte des Almanachs wiesen auf die Zusammenarbeit mit der Prager Gruppe hin 53 ). Die Gruppe vertrat — ebenso wie Stjepan Radic in der ersten Nummer der „Hrvatska misao" — die programmatische Ansicht, daß Kroaten und Serben Teile eines Volkes seien. Und Mangjer stellte in Anlehnung an die Prager Gruppe die im ersten Teil anzuzweifelnde These auf, daß der Zwist zwischen Kroaten und Serben dem „deutschen Drang nach Osten" helfe und zum ökonomischen und nationalen Verfall beider Volksteile führe. Allerdings bestanden auch in dieser Studenten- und Jugendzeitschrift Streitfragen zwischen Kroaten und Serben weiter. Denn während Pribicevic eine Lösung der Orientfrage und der damit zusammenhängenden gesamtsüdslavischen Frage über eine Stärkung Serbiens durch Zuordnung Bosniens und der Hercegovina anstrebte, sah Lorkovic das weitere Schicksal der Südslaven und des Balkans von einem starken Kroatien abhängig. Auch die jungen Akteure in der kroatischen und serbischen Politik waren also nicht frei von nationalen Abgrenzungsversuchen, immerhin sahen sie jedoch eine Reihe ihrer Interessen stark verbunden. Pribicevic etwa betonte die gemeinsamen wirtschaftlichen und kulturellen Interessen und wies auf die Trennungsversuche unter fremdem Einfluß hin 54 ). Die „Narodna misao" fand breites Echo in der politischen Öffentlichkeit Kroatien-Slavoniens: Die „Obzorasi" — unter ihnen Sime Mazzura und der Historiker Tade Smiciklas — befürworteten die Ideen einer kroatisch-serbischen Einheit, wollten sich allerdings nicht näher mit den politischen Ursachen des bestehenden Gegensatzes auseinandersetzen. Positive Stimmen kamen auch aus Südungarn — vom Führer der serbischen Liberalen, Mihailo PolitDesancic — und aus dem Königreich Serbien — so vom Historiker und Staatsmann Jovan Ristic und den Politikern Jovan Avakumovic und Miljenko Vesnic. Die Mehrheit der kroatischen „Domovinasi" und der Serbischen Selbständigen Partei in Kroatien-Slavonien enthielt sich allerdings einer Stellungnahme zur „Narodna misao" — somit stellt der Almanach auch nicht den Beginn der Periode kroatisch-serbischer Zusammenarbeit im politischen 53)
R. Lovrenlic: Geneza politike, S. 47. Narodna misao, br. 1, Zagreb 1897. S. 56—76, 192—202; R. Lovrenlic: politike, S. 47 f. 54)
Geneza
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Leben Kroatien-Slavoniens dar. Die junge Generation an der Universität Zagreb und um den Almanach, die „Napredna omladina" (Fortschrittliche Jugend), hatte erst das entsprechende Terrain zu bereiten55). Dennoch darf der zunehmende Einfluß der „Napredna omladina" nicht unterschätzt werden, und zwar nicht nur in ideologischer, sondern auch in gesellschaftspolitischer Hinsicht. Ihre Vertreter fanden Aufnahme in Zeitungsredaktionen („Obzor", „Narodna odbrana") und Parteisekretariaten (Stjepan Radic), in Schulen und Banken, und sie fanden über diese Institutionen mit ihren sozial-ökonomischen und kulturpolitischen Vorstellungen Resonanz. Sie förderten die Wirtschafts- und Gesellschaftswissenschaften, um den evolutionären Weg der Gesellschaftsreform zu gehen; sie sahen allerdings im nationalen Kampf Politik und Kultur durchaus als gleichberechtigt an. Daher verurteilten sie auch die kroatische Literatur, Kunst und Wissenschaft als veraltet und reaktionär und propagierten für die kroatische „Moderne" die Übernahme wissenschaftlicher, künstlerischer und literarischer Strömungen Westeuropas, vor allem Frankreichs. Gleichzeitig begannen sie eine Art „Kulturkampf" gegen den starken Einfluß des katholischen Klerus. Das Streben der „Fortschrittlichen Jugend" war also zweifellos danach gerichtet, eine führende Elite zu sein, die die breiten Volksschichten in den parlamentarischen nationalen Kampf führen sollte. Und bereits 1903 bzw. 1905 sollten sie mit einer nationalen Bewegung bzw. mit einem „Neuen Kurs" erste große politische Erfolge erzielen56). Die Rückkehr der ersten Prager Studentengeneration 1897/98 verstärkte aber auch den tschechischen Einfluß in Administration, Wirtschaft und Kultur. Tschechische Staats- und Gemeindebeamte, Lehrer und Priester, Ärzte und Techniker begannen verstärkt in Kroatien-Slavonien und Krain zu wirken. Und die 2ivnostenska banka errichtete nicht nur Filialen in Laibach (Ljubljana), Split, Sarajevo und Triest (Trieste), sondern erwarb auch die Majorität bei mehreren kroatisch-slavonischen Banken in Zagreb, Esseg (Osijek) und Brod. Für die Wahl des künftigen Studienortes sollte aber auch wesentlich sein, daß nun in Mittelschüler-Kreisen verstärkt damit begonnen wurde, Tschechisch zu lernen 57 ). Um die Jahrhundertwende kam nun eine zweite Generation südslavischer Studenten nach Prag, die bereits von ihrer Mittelschulzeit her mit dem tsche55) R. Lovrenlic: Geneza politike, S. 50 ff.; Pribi£evic und Mangjer waren bereits 1897 mit L e v Mazzura und Danilo Dimovic nach Serbien gefahren und hatten dort Gespräche mit führenden Politikern gefuhrt. — M. Paulovd: T. G . Masaryk a Jihoslovan6, S. 249. 56) M. Gross: Nacionalne ideje studentske omladine u Hrvatskoj uoci I svjetskog rata (Nationale Ideen der studentischen Jugend in Kroatien am Vorabend des 1. Weltkrieges). I n : Historijski zbornik 21/22. Zagreb 1968/69. S. 77 ff. 57) VI. St'astny: V e znameni, S. 527—534. In Zagreb w a r unter der Redaktion v o n Vladimir Jelovsek bereits 1897 eine Mittelschüler-Zeitschrift— „Nova nada" (Neue Hoffnung) — erschienen. — J. Sidak: Ceskoslovacko-juzno-slavenski odnosi, S. 562.
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chischen Kulturkreis Kontakt hatte, zum Teil auch die Arbeiten Masaryks kannte. Zu ihnen zählten aus Kroatien-Slavonien der spätere Historiker Milan Prelog, Milan Marjanovic, der noch vor dem Ersten Weltkrieg zum bedeutendsten Literaturkritiker werden sollte, Veceslav Vilder, der an der Prager Kunstakademie studierte, der spätere Dramatiker Fran Hrcic und der Journalist Felix Zindl. Aus Dalmatien kamen die später einflußreichen kroatischen Politiker Josip Smodlaka und Vjekoslav Stefanini, aus Bosnien die Serben Kosta Majkic und Vladimir Andric, schließlich die Slovenen Anton und Etbin Kristan und Josip Ferfolj 58 ). Hatten in der ersten Generation die Kroaten die bedeutendsten Vertreter gestellt, so waren es nun die Slovenen, später die slovenischen „Realisten" genannt. Bereits 1897 waren Loncar und Zmavc nach Prag gekommen. Wie die meisten ihrer Kollegen traten sie der akademischen Vereinigung „Slavia" bei, Unterstützung fanden sie beim Kustos des Nationalmuseums, Jan Lego, einem Promotor der tschechisch-slovenischen Zusammenarbeit, ein weiterer Treffjpunkt wurde der literarische Salon von Gabriela Preissovä. 2mavc' Weg nach Prag hatte über Rom und Graz geführt; hier hatte er Streitgespräche mit Masaryk über philosophische und theologische Fragen, später trat er in den Dienst der Prager Universitätsbibliothek. Loncar studierte bei den Professoren Niederle, Masaryk und Drtina Geschichte und Philosophie und promovierte 1902. Nach Laibach zurückgekehrt, wurde er Mittelschulprofessor, 1925—1931 Leiter der slovenischen Schulverwaltung 59 ). Zmavc und Dermota hatten schon an der „Novo doba" mitgearbeitet, die slovenische Öffentlichkeit mit tschechischen literarischen Arbeiten bekannt gemacht und auch über Masaryk informiert, Zmavc und Loncar veröffentlichten aber auch in Zeitschriften der tschechischen Realisten. 1901 traten die slovenischen Realisten mit einer eigenen Programmschrift hervor: „Kaj hocemo. Poslania slovinski mladini" (Was wir wollen. Botschaft der slovenischen Jugend). Darin kritisierten sie die rückständigen Verhältnisse in den slovenischen Ländern, damit zugleich die Politik der beiden dominierenden politischen Parteien — der klerikalen Volkspartei und der Liberalen Partei. Im Sinne Masaryks konzentrierten sie sich im wesentlichen auf zwei Aufgabenbereiche : — Schaffung einer „realen" Bewegung der Intelligenz, die einerseits nicht nur den Klerikalismus kritisieren, sondern auch positive politische Modelle entwickeln sollte, andererseits aber auch eine wirkliche Opposition gegen den Liberalismus darzustellen hatte; 5S) VI. St'astny: V e znameni, S. 5 2 0 ; K. Herman: Styky ν obdobi neoslavismu (Verbindungen in der Zeit des Neoslavismus). In: Cesi a Jihoslovane, S. 563. 59) V. Burian: Slovinci na universite K a r l o v e , S. 1 4 5 ff.; Zgodovina Slovencev, S. 580.
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— Betreibung einer praktischen Politik, im Sinne einer sozialen und kulturellen Arbeit im Volk zur Hebung seines kulturellen und materiellen Niveaus 60 ). Die slovenischen „Masarykovci" kündigten aber auch schon ihr Nahverhältnis zu den slovenischen Sozialisten an: „Die Mehrzahl der politischen und sozialen Forderungen der Sozialdemokraten sind gerecht, deswegen sehen wir die moralische Verpflichtung, sie nach Kräften zu unterstützen." Die Sozialisten begrüßten dieses Bekenntnis zum „Fortschritt", und gemeinsam wurde auf Initiative von Dermota und unter Mitarbeit von Albin Prepeluh als erste Kooperationsplattform die soziale Revue „Nasi zapiski" (Unsere Notizen) veröffentlicht. Loncar und die beiden Kristan traten auch bald der Sozialdemokratischen Partei bei 61 ). Den slovenischen „Realisten" war allerdings politisch kein besonderer Erfolg beschieden. Sie konnten weder unter der liberalen Intelligenz noch unter den slovenischen Studenten verstärkten Einfluß gewinnen. Die gesellschaftspolitische Kritik bewirkte zwar eine Hebung des politischen Bewußtseins, veranlaßte jedoch die Jugend zu keinem Standortwechsel. Unter den slovenischen Studenten und Mittelschülern formierte sich vielmehr eine radikal-nationale Bewegung 62 ). Zusammenfassend läßt sich daher sagen, daß der Modernisierungseinfluß der Prager Universität und Professor Masaryks auf die kroatischen und serbischen Studentengenerationen aus Kroatien-Slavonien zweifellos Erfolg zeitigte, und zwar in erster Linie politischen Erfolg: den Aufbau einer Kroatischserbischen Koalition im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, die sogar einen Wahlsieg erringen konnte und in einigen Vertretern auch die Lösung der südslavischen Frage im und nach dem Ersten Weltkrieg wesentlich mitbestimmte. Interessanterweise verhielt sich jedoch gerade der Promotor für ein Studium in Prag, Stjepan Radic, in der Verbreitung von Masaryks Ideen relativ zurückhaltend und entwickelte bald eine eigene politische Programmatik, die ihn bis zur politischen Gegnerschaft gegenüber seinen Studienkollegen 60) A. Prepeluh: Pripombe k nasi prevratni dobi (Bemerkungen zu unserer UmsturzZeit). Ljubljana 1938. S. 334 ff.; K. Herman: Styky ν obdobi neoslavismus, S. 566; A. Dermota: Masaryk a Slovinci (Masaryk und die Slovenen). In: T. G. Masarykovi k sedesdtym narozeninäm. Praha 1910. S. 37. β1) A. Prepeluh: Pripombe, 335—341; /. Sidak: Ceskoslovacko-juznoslavenski odnosi, S. 563; F. Jorddn: Cesi a Slovinci, S. 283; D. Lonlar: Politicno zivljenje Slovencev (Das politische Leben der Slovenen). Ljubljana 1921. 62) A. Prepeluh: Pripombe, 340 ff.; vgl. E. Kardelj: Razvoj slovenskega narodnega vprasanja (Entwicklung der slovenischen nationalen Frage2). Ljubljana 1958. Der Zustrom nach Prag verstärkte sich allerdings, und 1907 wurden bereits über 70 slovenische Studenten an den dortigen Hochschulen gezählt, unter ihnen der spätere Universitätsprofessor Mihajlo Rostohar und der spätere jugoslavische Minister Albert Kramer. — K. Herman: Styky ν obdobi neoslavismus, S. 567; F. Jorddn: Cesi a Slovinci, S. 283.
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führte. Hingegen blieben die slovenischen „Masarykovci" auf der Ebene einer Intellektuellengruppe stehen, die ihre Hauptaufgabe in der kritischen Analyse aller kulturellen und politischen Erscheinungen bei den Slovenen sahen 63 ).
Die Universitäts- und Hochschulausbildung der Südslaven in Prag hatte sowohl zur Übernahme vieler wissenschaftlicher und künstlerischer als auch politischer und sozial-ökonomischer Anregungen geführt, wobei die Beeinflussung gerade im akademischen Bereich durchaus nicht einseitig verlief. Zugleich erhielten die südslavischen Studenten aber auch neue Grundmuster von Forderungen und Erwartungen vermittelt, wie: — höheren Lebens- und Konsumationsstandard; — bessere Arbeitsbedingungen, Löhne und Sozialleistungen; — verbreiterte soziale Kooperation und politische Partizipation. Die Weitergabe dieser west- und mitteleuropäisch gestalteten Forderungen und Erwartungen konnte jedoch durch keine vergleichbare Ausbreitung ebendort geprägter Arbeitsgewohnheiten, Spar- und Investitionsmuster und Neigungen zu technologischen Innovationen kompensiert werden. Die in den wenigen größeren südslavischen Städten wirkenden Professoren und Richter, Ärzte und Techniker, Beamten und Bankangestellten hatten durch den Ausbau der Universitäten und die Mobilität neuer Studentengenerationen eine merkliche Aufstockung ihrer Berufsgruppen erfahren. Ihre Einflußnahme auf die breiten Bevölkerungsschichten der Bauern und Arbeiter blieb jedoch vorerst ziemlich beschränkt und sorgte zunächst weder für einen gesellschaftspolitisch zu verantwortenden Abbau des ländlichen Bevölkerungsüberschusses noch für die Beseitigung der Arbeitslosigkeit in den Städten und Industrieregionen. Und diese Diskrepanzen konnten gerade unter der jüngeren Intelligenz zu tiefen Frustrationserfahrungen führen, in politischer Hinsicht aber nicht selten auch in Radikalisierung ausufern. Im Vielvölkerstaat mit den Phänomenen politischer und sozial-ökonomischer Uberschichtung transponierte die junge akademische Generation diese gesellschaftlichen Konflikte auf die nationale Ebene. Ein eigener Staat, ein Nationalstaat, sollte die Befreiung aus der Rückständigkeit bringen, sollte auch für die eigene nationale Elite bessere Aufstiegsmöglichkeiten bringen. In diesen Zusammenhängen verdeutlicht sich aber nicht zuletzt die wesentliche Rolle der studentischen Intelligenz als Ferment gesellschaftlicher und nationalpolitischer Mobilisierung 64 ). 63 64
) V g l . / . Sidak: Ceskoslovacko-juznoslavenski odnosi, S. 562 f. ) Vgl. K. W. Deutsch: Nationenbildung - Nationalstaat - Integration, S. 118—121.
W E R N E R G . ZIMMERMANN
S Ü D S L A V I S C H E
S T U D E N T E N
IN
Z Ü R I C H
E I N B E I T R A G ZUR AUSWERTUNG LOKALEN QUELLENMATERIALS
Zürich ist seit 1833 Universitätsstadt und seit 1855 Sitz der Eidgenössischen Technischen Hochschule (bis 1911 Eidgenössische Polytechnische Schule, im folgenden: Polytechnikum). Beide Institutionen sind Werke des siegreichen demokratischen Liberalismus: die Universität auf der kantonalen Ebene im Nachhall der Julirevolution von 1830 in Frankreich und das Polytechnikum auf der nationalen Ebene als Frucht der Gründung des Bundesstaates von 1848 nach dem Sonderbundskrieg 1 ). Das „Gesetz, nach dem sie angetreten", d. h. die geistigen und politischen Voraussetzungen und die gesellschaftliche Atmosphäre, die beide Schöpfungen bestimmt und umgeben haben, widerspiegeln sich unter anderem auch in der starken Anziehungskraft, die sie auf die studierende Jugend Ost- und Südosteuropas ausübten. Allerdings tritt diese Anziehungskraft nicht von Anfang an zutage. Zwar immatrikulierte sich gleich im zweiten Semester ein Medizinstudent aus Russisch-Polen und kamen im dritten Semester zwei aus Janina gebürtige Griechen ebenfalls zum Medizinstudium nach Zürich, von denen der eine 1835 als erster Akademiker „aus dem Osten" in Zürich doktorierte; aber um 1840 herum versickerte diese Präsenz, um erst anfangs der 1850er Jahre wieder aufzuleben. Von 1857 an tritt als erste kontinuierlich faßbare Gruppe die der ungarischen Theologiestudenten in Erscheinung. Die übrigen vereinzelten Immatrikulationen ost- und südosteuropäischer Studenten in Zürich in den ersten dreißig Jahren nach der Eröffnung der Universität und in den ersten Jahren des Polytechnikums sind jedoch insofern nicht unwichtig, als sie uns schon einen ersten Einblick in den Motivhintergrund ermöglichen, der ost- und südosteuropäische Studenten immer wieder mit dazu bewogen haben dürfte, nach Zürich zu kommen. In den eben erwähnten ungarischen Studenten tritt uns in dieser Anlaufperiode die einzige Nation entgegen, mit der schon im alten, vorrevolutionären i) Vgl. E. Gagliardi, H. Nabholz, J• Sirohl: Die Universität Zürich 1833—1933 und ihre Vorläufer. Zürich 1938; G. Guggenbühl: Geschichte der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich. In: Eidgenössische Technische Hochschule 1855—1955. Zürich 1955.
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Zürich eine enge akademische Verbindung bestand. Sie beruhte geistig auf der Glaubensgemeinschaft der reformierten Ungarn mit der Zürcher evangelischreformierten Landeskirche in der Confessio Helvetica posterior von 1566 und materiell auf der Schaffung von Freiplätzen am Zürcher Carolinum, der theologisch-philosophischen Hochschule, die in ihren Bereichen der Universität voranging. Vom Ende des 17. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts studierten auf diese Weise 176 Ungarn in Zürich. Parallel dazu sind Ungarn in großer Zahl an der Universität Basel, an der Genfer Akademie und wohl auch in Bern festzustellen. Hier steht der ungarischen Forschung ein zweifellos bedeutendes Material zur Verfügung. Das zweite nationale Element, das auf Beziehungen hinweisen dürfte, die schon vor der Gründung der Universität bestanden, sind die Griechen. Zürich war ein Zentrum des europäischen Philhellenismus, der hier tief in den humanistischen und klassischen Traditionen verwurzelt war, aus denen sich im Laufe des 18. Jahrhunderts — im Zeitalter Johann Jakob Bodmers und Johann Heinrich Pestalozzis — die modernen gesellschafdichen und politischen Impulse ablösten, denen unter anderem auch die Universität Zürich ihre Existenz verdankt. „Agis", das erste gedruckte Werk des jungen Pestalozzi (1766), mag hier dafür stehen und mit der Erinnerung an die „Agis Tragediäja" (1772) von György Bessenyei, des gleichaltrigen Anführers der ungarischen Aufklärung verbunden werden. Wenn auch die Nationalität einer Person nur auf Grund ihres Namens nie sicher zu bestimmen ist, so läßt sich aus der Herkunft der ost- und südosteuropäischen Studenten an Universität und Polytechnikum bis anfangs der 1860er Jahre doch schon klar eine Kontur erkennen, die sich durch alle späteren Jahrzehnte hindurch scharf ausprägen wird: Attraktiv scheinen Universität und Polytechnikum zunächst vor allem für Minoritäten zu sein. Die Studenten aus Rußland kommen genau aus den Gebieten, die Lenin im Vorwort zur russischen Ausgabe seiner Schrift „Der Imperalismus als höchstes Stadium des Kapitalismus" erwähnt, wo er erklärt, er habe als Beispiel für die Schamlosigkeit und Heuchelei der Kapitalisten und chauvinistischen Sozialisten aus Zensurrücksichten das Beispiel Japan-Korea gewählt, in der Annahme, der „aufmerksame Leser werde mit Leichtigkeit an Stelle Japans — Rußland setzen und an Stelle Koreas — Finnland, Polen, Kurland, die Ukraine, China, Buchara, Estland und die anderen von Nicht-Großrussen besiedelten Gebiete". Die ersten Zürcher Studenten aus Osteuropa kamen aus Finnland, Polen, Kurland. Die Schicht ost- und südosteuropäischer Studenten aus unfreien historischpolitischen Einheiten (wie Finnland und Polen) und aus dem Schöße ethnischer und konfessioneller Minderheiten (wie Juden, Diasporadeutsche und reformierte Ungarn) wird sich bis ins 20. Jahrhundert hindurchziehen soweit und solange sie nicht daran gehindert werden oder sie nicht den Status der Minorität oder Abhängigkeit hinter sich gelassen haben.
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Diese Schicht wird von den 1860er Jahren an teilweise überlagert und enorm ausgeweitet durch Studenten, die zur radikalen und revolutionären Dissidenz ihrer Herkunftsländer gehören. Sie gipfelt 1872/73 in der Anwesenheit von rund 200 an Universität und Polytechnikum immatrikulierten Studenten aus Rußland und in einer russischen Kolonie in Zürich, die auf etwa 300 Personen geschätzt wird. Dieser kurze Höhepunkt ist als einziger Teil der Geschichte des Ausländerstudiums in Zürich wissenschaftlich erforscht2). Eine wichtige Voraussetzung für diese Entwicklung war die Zulassung von Frauen zum Studium an der Universität Zürich. Mit der Doktorpromotion der Nadesda Suslova aus Petersburg an der Medizinischen Fakultät am 14. Dezember 1867 Schloß „die erste Frau der Welt . . . an einer regulären, von Männern geleiteten, staatlich anerkannten Universität ein Studium erfolgreich ab" 3 ), es treten aber auch jene Frauen auf den Plan, in denen sich der für einen großen Teil der ost- und südosteuropäischen Studenten charakteristische Minoritätsstatus potenziert. Der berühmteste Fall ist sicher Rosa Luxemburg, die in Zürich studierte und promovierte. An ihr finden wir typische Minoritätseigenschaften in kaum zu überbietender Häufung: Sie ist Frau, Jüdin, Polin, Sozialistin, Revolutionärin und doppelte Emigrantin, die es nur nach dem Rösselsprung in eine Scheinehe wagen kann, aus der Schweiz in das Land ihrer ersten Emigration — Preußen-Deutschland — zurückzukehren, ohne eine Wiederausweisung zu riskieren 4 ). In derselben Periode, in der Frauen und Dissidenten zum Studium nach Zürich zu kommen beginnen, meldet sich ein weiteres neues Element in wachsender Frequenz: Studenten aus den jungen südosteuropäischen Nationalstaaten. Manche von ihnen werden sich während ihres Aufenthaltes in Zürich im Umkreis revolutionär gestimmter Gruppen bewegen, aber eben nicht als Angehörige irgendeiner Minderheit oder eines unfreien Landes, sondern als Bürger selbständiger Staaten. Die folgenden Ausführungen beruhen auf der Ermittlung der südslavischen, insbesondere der serbischen und bulgarischen Studenten von ihrem ersten Auftreten in Zürich bis 1914 aus den gedruckten Verzeichnissen und den Registern der Einwohnerkontrolle der Stadt Zürich. Der erste serbische Student ist Alexander Davidovic aus Belgrad, der sich im Wintersemester 1863/64 an der Juristischen Fakultät der Universität Zürich 2) J. M. Meijer: Knowledge and Revolution. The Russian Colony in Zurich (1870—1873). A Contribution to the Study of Russian Populism. Assen 1955; dazu für die südosteuropäischen Verbindungen noch Ja. Grosul: Rossijskie revolucionery y Jugo-Vostocnoj Evrope 1859—1874 gg. (Russische Revolutionäre in Südosteuropa in den Jahren 1859—1874). Kisinev 1973. 3) S. Woodtli: Gleichberechtigung. Der Kampf um die politischen Rechte der Frau in der Schweiz. Frauenfeld 1975. S. 79. 4 ) Vgl. dazu neuerdings: V. Stadler: Rosa Luxemburg an der Universität Zürich. 1889— 1897 ( = Schriften zur Zürcher Uriiversitäts-und Gelehrtengeschichte, Nr. 2). Zürich 1978.
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Südslavische Studenten in Zürich
einschreibt. Der erste aus Bulgarien kommende Student ist Panajot Selvili aus Ruse, der im Wintersemester 1868/69 sein Medizinstudium beginnt, um es 1876 mit dem Doktorat abzuschließen. Die Frequenz serbischer Studenten erreicht im 19. Jahrhundert ihren Höhepunkt um 1870, also zur selben Zeit wie die der Studenten aus Rußland; diejenige der bulgarischen Studenten erreicht eine Spitze um 1890. Kumulativ übernehmen die Bulgaren schon vor 1900 die Führung und bleiben bis zum Ende des Ersten Weltkrieges mit Abstand stärker vertreten als die Serben. Aus Montenegro kommen erst spät und nur vereinzelt Studenten nach Zürich (der erste im Wintersemester 1897/98). Die nachstehenden Listen enthalten die serbischen Studenten und Studentinnen in den ersten zehn Jahren ihrer Präsenz in Zürich (1863 — 1873) und die bulgarischen Studenten von 1868 bis 1891. Aufgenommen sind zu den einzelnen Namen das Semester der Immatrikulation, Fakultät bzw. Studienfach und das letzte in Zürich nachgewiesene Semester. Dabei gelten folgende Abkürzungen: W = Wintersemester, S = Sommersemester, U = Universität, Ρ = Polytechnikum, A = Abschluß des vollen Studiums am Polytechnikum (zu beachten ist, daß viele Studenten — so etwa Pasic — auf die Diplomprüfung verzichteten und sich mit dem Abschlußzeugnis begnügten). Bei den serbischen Studenten wird noch der biographische Nachweis in der Narodna Enciklopedija von St. Stanojevic hinzugefügt (=NE). Serbische Studenten in Zürich 1863—1873 W 1 8 6 3 U Jur S 1864 U Jur W 1 8 6 4 U Jur Jur Jur S 1865 U Phil W 1865 U Phil Ρ Arch Ρ Bauing S 1866 U Jur W 1 8 6 6 U Jur Jur Jur Ρ Bauing U Jur W 1867 U Phil Ρ Chem Arch Bauing Bauing Chem Masching
Davidovic, Aleksandar Mijatovic, Cedomil Avakumovic, Jovan Damjanovic, Milan Zujevic, Mihailo Nikolajevic, Svetomir Popovic, Stevan Katanic, Aleksandar Ljocic, Dorde Stefanovic, Jovan Matejic, Ljubomir Panic, Dorde Rajkovic, Sava Milkov, Pavle Zujovic, Zivojin Vuckovic, Atanas Bademlic, Jovan Jovanovic, Konstantin Knezevic, Aleksandar Velimirovic, Pera Vuckovic, Atanasije Zivkovic, Petar
Beograd Beograd Beograd Beograd Beograd Valjevo Sabac Beograd Beograd Milanovac Beograd Beograd Beograd Vrsac (Ung.) Beograd Svilajnac Beograd Beograd Sabac Sikolje Svilcinica Zajecar
NE II 895 NE I 101 bis W 1867 bis W 1865 NE III 95 bis S 1867 NE III 592 in Zürich gestorben A 1867/68
bis S 1867 A 69/70 bis W 1867 bis S 1868 A 69/70 A 69/70 A 70/71 A 70/71
Ne III 797? NE IV 1349
NE II 180 NE IV 1061
Α Math 70/71
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Serbische Studenten in Zürich 1863—1873 (Fortsetzung) S 1868 U Jur Jur Jur Phil Phil Ρ Bauing Bauing W 1869 Ρ Chem
S W
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S
Duri