Wege moderner Rhetorikforschung: Klassische Fundamente und interdisziplinäre Entwicklung 9783110309577, 9783110309287

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German Pages 872 [876] Year 2013

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Table of contents :
Anstatt einer Einleitung
I. KLASSISCHE RHETORIK UND PHILOSOPHIE
Überzeugen und Überreden. Über das Verhältnis von Philosophie und Rhetorik
Nichts entgeht der Rhetorik in der Menschen- Kommunikation. Aspekte einer rhetorisch negativen Rhetorik im Vergleich zu Adornos sozialtheoretisch negativer Rhetorik
Theodor W. Adornos ‚Negative Rhetorik‘. Versuch einer Annäherung an ein vergessenes Kapitel der Rhetorikgeschichte des 20. Jh
Warum Heideggers Interesse an der Rhetorik kein Glücksfall für die Rhetorik war
Polypersonalität. Das grand arcanum starker autoinvenienter Subjektivität
Gemeinsinn und Expressivität. Grundriss einer Theorie postmoderner Repräsentation
Bin ich jetzt gerecht?. Derridas Verzeitlichungsparadox der Legitimation aus rhetorischer Sicht
II. Literarische Rhetorik
„Master Tropes“ und „Master Narratives“. Zu den rhetorischen Implikationen literatur- und kulturtheoretischer Konzepte
Blitzen ohne Blitz. Überlegungen zur Kategorie des ‚Handelns‘ zwischen Figürlichkeitstheorie, Rhetorik und Erzähltextwissenschaft
Anschaulichkeit. Varianten eines Stilprinzips im Spannungsfeld zwischen Rhetorik und Erzähltheorie
Erzähler und persona. Rhetorik und Narratologie zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit
Affektenlehre heute. Ein Beitrag der Rhetorik zur literarischen Emotionsforschung
Die Rolle der enargeia in Texten der Phantastik
III. Ethik und Jurisprudenz
Zur Diskussion um die im ‚Archimedes-Palimpsest‘ neu gefundenen Texte aus zwei Reden des Hypereides
Argumentationshäufung. Eine forensische Strategie in philosophischem Kontext
Rhetorik als Element juristischer Entscheidungsfindung
Iudicium als Skandalon. Rechtsgefühl und Urteilsschelte
Rhetorik und Charakteristik im 18. und 19. Jahrhundert. Vom ‚moralischen Charakter‘ zu Karl Gutzkows Shelley
IV. Argumentation Und Kommunikation
Rhetorik Und Linguistik. Sprechen und Argumentieren mit Beispielen
Die Analogie Im Interkulturellen Lernen. Wie vertragen sich Rhetorik und Interkulturelle Kommunikation?
Aneinander Vorbeigeredet?. Zur Rolle von Dissens und polemischer Debatte in der pluralistischen Gesellschaft
Rhetorik: Antikes System Und Moderne Praxis. Aristoteles-Quintilian und das Format Jugend debattiert
Wissenstransfer In Der Gesundheitskommunikation. Ein Fachtext-Netzwerk zum Thema „Übergewicht und Ernährung“
Rhetorik Des Geldes – In Bild Und Schrift
Rhetorik Und Übersetzung
V. Bildung Und Kulturtheorie
Über Sprach-Feindschaft
Zugänglichkeit als Wirkungskategorie. Ein Beitrag zur Kanondiskussion
Rhetorische Exempla. Leere Worthülsen oder Chance für eine Elitekultur?
Rhetorisches Handeln als kulturelles Handeln
Zur Liaison von Ethnologie und Rhetorik. Eine Chronik
„Mit Herz und Verstand“. Zur Ubiquität und Rezeptionsgeschichte der Rhetorik am Beispiel Martin Luthers
Rhetorik als Organon der Deutungsmacht. Vom Nutzen und Nachteil der Rhetorik für die Religion
VI. Politische Rede
Zwangloser Zwang?. Zum Problem des Verhältnisses von Rhetorik und Gewalt
Freiheit Oder Tod. Zu einem Leitmotiv politischer Rhetorik innerhalb und außerhalb Europas
Sätze Für Das Kollektive Politische Gedächtnis. Rhetorische Form und Funktion
Rhetorik Und Deliberative Politik
Die Querala Pacis Des Erasmus Von Rotterdam
Rhetorik Und Gouvernementalität In Der Politischen Romantik
Politik Zwischen Gegenwart Und Zukunft. Das genus deliberativum in der Mediokratie
VII. Moderne Rhetoriktheorien
Dialogrhetorik
Antipersuasive Und Aristotelische Rhetorik
Rhetorik Und Globalisierung: Herausforderungen An Eine Leistungsdisziplin
Computerrhetorik. Ein Vorschlag zur Güte
Medienrhetorik, Wirkungsintentionalität, Affekttechniken. Zur Konzeption von ‚Design als Rhetorik‘ als notwendige Ergänzung der Kunstgeschichte
Rhetorik Der Werbung
Die Amplifizierte Rhetorik. Grenzen einer Summa rhetorica am Beispiel der „Rhetorik der Werbung“
Anstatt Eines Nachworts. Götteropfer
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Wege moderner Rhetorikforschung: Klassische Fundamente und interdisziplinäre Entwicklung
 9783110309577, 9783110309287

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RHETORIK-FORSCHUNGEN Herausgegeben von Joachim Dyck und Gert Ueding Begründet von Joachim Dyck, Walter Jens und Gert Ueding Band 21

Gert Ueding, Gregor Kalivoda (Hrsg.)

Wege moderner Rhetorikforschung Klassische Fundamente und interdisziplinäre Entwicklung

De Gruyter

Mitarbeiter der Redaktion: Filip Njezic

ISBN 978-3-11-030928-7 e-ISBN 978-3-11-030957-7 ISSN 0939-6462 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. 쑔 2014 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhaltsverzeichnis

Gert Ueding: Anstatt einer Einleitung .............................................................. 1 I.

KLASSISCHE RHETORIK UND PHILOSOPHIE

Anton Hügli: Überzeugen und Überreden. Über das Verhältnis von Philosophie und Rhetorik ........................................................................................ 11 Burghart Schmidt: Nichts entgeht der Rhetorik in der Menschenkommunikation. Aspekte einer rhetorisch negativen Rhetorik im Vergleich zu Adornos sozialtheoretisch negativer Rhetorik ........................... 31 Helmut Schanze: Theodor W. Adornos ‚Negative Rhetorik‘. Versuch einer Annäherung an ein vergessenes Kapitel der Rhetorikgeschichte des 20. Jh ... 49 Josef Kopperschmidt: Warum Heideggers Interesse an der Rhetorik kein Glücksfall für die Rhetorik war....................................................................... 59 Peter L. Oesterreich: Polypersonalität. Das grand arcanum starker autoinvenienter Subjektivität .......................................................................... 75 Gérard Raulet: Gemeinsinn und Expressivität. Grundriss einer Theorie postmoderner Repräsentation .......................................................................... 89 Temilo Van Zantwijk: Bin ich jetzt gerecht? Derridas Verzeitlichungsparadox der Legitimation aus rhetorischer Sicht ........................................... 101 II. LITERARISCHE RHETORIK Richard Nate: „Master Tropes“ und „Master Narratives“. Zu den rhetorischen Implikationen literatur- und kulturtheoretischer Konzepte ............... 113 Benjamin Biebuyck: Blitzen ohne Blitz. Überlegungen zur Kategorie des ‚Handelns‘ zwischen Figürlichkeitstheorie, Rhetorik und Erzähltextwissenschaft .................................................................................. 129 Bernhard Asmuth: Anschaulichkeit. Varianten eines Stilprinzips im Spannungsfeld zwischen Rhetorik und Erzähltheorie ................................... 147 Anita Traninger: Erzähler und persona. Rhetorik und Narratologie zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit ................................................... 185 Stefan Nienhaus: Affektenlehre heute. Ein Beitrag der Rhetorik zur literarischen Emotionsforschung. .................................................................. 211 Renate Lachmann: Die Rolle der enargeia in Texten der Phantastik ........... 223

VI

Inhaltsverzeichnis

III. ETHIK UND JURISPRUDENZ Johannes Engels: Zur Diskussion um die im ‚Archimedes-Palimpsest‘ neu gefundenen Texte aus zwei Reden des Hypereides ....................................... 237 Michael Erler: Argumentationshäufung. Eine forensische Strategie in philosophischem Kontext .............................................................................. 253 Stephan Meder: Rhetorik als Element juristischer Entscheidungsfindung.... 267 Gregor Kalivoda: Iudicium als Skandalon. Rechtsgefühl und Urteilsschelte ................................................................................................. 289 Lutz-Henning Pietsch: Rhetorik und Charakteristik im 18. und 19. Jahrhundert. Vom ‚moralischen Charakter‘ zu Karl Gutzkows Shelley .............. 305 IV. ARGUMENTATION UND KOMMUNIKATION Ekkehard Eggs: Rhetorik und Linguistik. Sprechen und Argumentieren mit Beispielen ............................................................................................... 319 Andreas Hettiger: Die Analogie im interkulturellen Lernen. Wie vertragen sich Rhetorik und Interkulturelle Kommunikation? ...................................... 339 Manfred Kraus: Aneinander vorbeigeredet? Zur Rolle von Dissens und polemischer Debatte in der pluralistischen Gesellschaft ............................... 353 Michael P. Schmude: Rhetorik – Antikes System und moderne Praxis. Aristoteles-Quintilian und das Format Jugend debattiert ............................. 373 Ernest W.B. Hess-Lüttich: Wissenstransfer in der Gesundheitskommunikation. Ein Fachtext-Netzwerk zum Thema „Übergewicht und Ernährung“ .... 389 Gottfried Gabriel: Rhetorik des Geldes – In Bild und Schrift ...................... 417 Jörn Albrecht: Rhetorik und Übersetzung..................................................... 425 V. BILDUNG UND KULTURTHEORIE Jürgen Trabant: Über Sprach-Feindschaft .................................................... 441 Julia Genz: Zugänglichkeit als Wirkungskategorie. Ein Beitrag zur Kanondiskussion ........................................................................................... 455 Volker Kapp: Rhetorische Exempla. Leere Worthülsen oder Chance für eine Elitekultur? ...................................................................................... 471 Franz-Hubert Robling: Rhetorisches Handeln als kulturelles Handeln ........ 485 Ivo Strecker: Zur Liaison von Ethnologie und Rhetorik. Eine Chronik ........ 503

Inhaltsverzeichnis

VII

Birgit Stolt: „Mit Herz und Verstand“. Zur Ubiquität und Rezeptionsgeschichte der Rhetorik am Beispiel Martin Luthers .................................... 529 Philipp Stoellger: Rhetorik als Organon der Deutungsmacht. Vom Nutzen und Nachteil der Rhetorik für die Religion ................................................... 547 VI. POLITISCHE REDE Thomas Zinsmaier: Zwangloser Zwang? Zum Problem des Verhältnisses von Rhetorik und Gewalt .............................................................................. 587 Manfred Kienpointner: Freiheit oder Tod. Zu einem Leitmotiv politischer Rhetorik innerhalb und außerhalb Europas ................................................... 595 Josef Klein: Sätze für das kollektive politische Gedächtnis. Rhetorische Form und Funktion........................................................................................ 617 Georg Zenkert: Rhetorik und deliberative Politik ......................................... 637 Francesca Vidal: Die Querela Pacis des Erasmus von Rotterdam ................ 651 Peter Schnyder: Rhetorik und Gouvernementalität in der politischen Romantik .................................................................................... 663 Olaf Kramer: Politik zwischen Gegenwart und Zukunft. Der genus deliberativum in der Mediokratie ................................................. 681 VII. MODERNE RHETORIKTHEORIEN Gert Ueding: Dialogrhetorik ......................................................................... 703 Tim Hagemann: Antipersuasive und Aristotelische Rhetorik ....................... 715 Hartwig Kalverkämper: Rhetorik und Globalisierung: Herausforderungen an eine Leistungsdisziplin ............................................................................. 725 Bernd Steinbrink: Rhetorik und Neue Medien .............................................. 775 Manfred Hinz: Computerrhetorik. Ein Vorschlag zur Güte .......................... 787 Arne Scheuermann: Medienrhetorik, Wirkungsintentionalität, Affekttechniken. Zur Konzeption von ‚Design als Rhetorik‘ als notwendige Ergänzung der Kunstgeschichte .................................................................... 807 Isabelle Lehn: Rhetorik der Werbung ........................................................... 821 Urs Meyer: Die amplifizierte Rhetorik. Grenzen einer Summa rhetorica am Beispiel der „Rhetorik der Werbung“ ..................................................... 851 Michael Erler: Anstatt eines Nachworts ....................................................... 863

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Anstatt einer Einleitung Festrede zum Symposium anlässlich der Vollendung des Historischen Wörterbuchs der Rhetorik, Blaubeuren 17.05.–19.05.2012. „Im Hinblick auf die Unmöglichkeit stelle ich folgendes fest: Bei allen Dingen, die für möglich und vortrefflich zu halten sind, sind diejenigen, die von diesem oder jenem vollbracht werden können, nicht allen vergönnt, und diejenigen, die von vielen zusammen vollbracht werden können, nicht einem einzigen, und diejenigen, die im Laufe der Jahrhunderte vollbracht werden können, nicht jedem Zeitalter, und diejenigen, die durch Sorge und Mühe vieler vollbracht werden können, gewiss nicht den Bemühungen und dem Fleiße einzelner.“

Das hört sich kompliziert an, und Diderot (er hat den Satz gedrechselt) schickt gleich im nächsten Satz eine vereinfachte Formulierung hinterher: „Wenn man den unermesslichen Stoff einer Enzyklopädie überblickt, erkennt man deutlich nur eins: nämlich dass sie keinesfalls das Werk eines einzigen Menschen sein kann.“ Die Sätze stehen im Artikel „Enzyklopädie“ des Riesenwerkes, das diesen Namen unsterblich gemacht hat, so dass man mit DER Enzyklopädie bis heute immer nur diese eine meint, diesen Gipfelpunkt oder nein: dieses Höhenmassiv der europäischen Aufklärung, das nicht nur das Wissen der Zeit präsentierte, sondern auch eine Waffe war des freien Denkens, der Vernunft und Kritik. Das sind längst nicht der rühmenden Worte genug, dass ich sie heute Abend zitiere, hat nicht mit eigener Ruhmsucht oder gar Größenwahn zu tun. Seit es DIE Enzyklopädie gibt (die ersten Pläne datieren von 1745/46; der 28. und damit letzte Band mit Bildtafeln wurde 1772 ausgeliefert), seit es sie gibt, steht jedes vergleichbare Unternehmen in ihrem Schatten. Aber, so könnte man mir sogleich zurufen, zeugt nicht schon die Absicht, unser Lexikon auch nur in den Schatten jenes, in jeder Hinsicht so unvergleichlichen Werkes zu stellen, von lächerlicher Hybris? Und es stimmt ja: was ist denn schon ein Fachlexikon wie das unsere gegen die Summe des „unermesslichen Stoffes“, von dem Diderot spricht, also gegen das „umfassende und wohldurchdachte Wörterbuch der Wissenschaften und Künste“, das er im Sinne hatte? Noch dazu das Wörterbuch eines Faches, das heute immer noch so ungesichert dasteht, wie das bei der Rhetorik der Fall ist? Und doch meine ich, dass wir uns ein wenig wie der Zwerg auf den Schultern des enzyklopädischen Riesen fühlen dürfen, den ich da anfänglich in den Blick genommen habe. Zumal ganz im Anfang, so erinnere ich mich, war die Enzyklopädie sogar ausdrücklich so etwas wie der weite Horizont, auf den wir uns bezogen. Das war kurz nach meiner Berufung nach Tübingen 1983, in einem Gespräch mit Walter Jens und Manfred Fuhrmann (ob Bernd Steinbrink schon dabei war,

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weiß ich nicht mehr), als die ersten Umrisse eines Rhetorik-Lexikons Gestalt annahmen. Es gab ja viele Zweifel, die gegen ein solches Projekt sprachen, und wo immer man sich im Kollegenkreise umgehört hatte, da überwogen die skeptischen Stimmen. Wo allein schon sollte man mit einem Stichwortverzeichnis ansetzen – für die Rhetorik gab es keinen „Eisler“ wie für die Philosophen, die an ihrem Historischen Wörterbuch schon seit Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts arbeiteten. Zudem hatte sich der Stoff, die rhetorische materia, seit dem Niedergang der Schul-Rhetorik im 18. Jahrhundert in andere Wissensgebiete ausgebreitet: in Pädagogik und Ästhetik, in Psychologie und die so genannten schönen Wissenschaften, später in Germanistik, Geschichts- und Sprachwissenschaften, um nur die wichtigsten zu nennen. Und schließlich: wo sollten die Autoren für ein solches Lexikon herkommen, denn dass auch dies nicht „das Werk eines einzigen Menschen sein“ könnte (Diderot) verstand sich von selber. Und wer sollte das dann noch finanzieren? Das waren schwerwiegende Fragen und als die Stimmung etwas gedrückt wurde, fiel das Wort zum ersten Mal: „ Wenn sich Diderot von solchen Zweifeln hätte beeindrucken lassen“, scherzte und munterte Walter Jens die Runde auf, „dann wäre die Enzyklopädie nie erschienen.“ Noch ein zweites Mal an dem hier erinnerten Abend inspirierte uns der Rückblick auf 220 Jahre Enzyklopädie-Geschichte: dass ein solches Lexikon nicht bloß totes Wissen präsentieren solle, sondern auch den Bezug zur aktuellen rhetorischen Praxis, zum rhetorischen Handeln nicht vernachlässigen dürfe, es also zum Beispiel darüber aufklären müsse, dass eine Demokratie ohne Redekunst verdorrt, dass Rhetorik nicht mit Manipulation verwechselt werden darf und dass im Lexikon eine Sprache geführt werden soll, die die rhetorischen Stiltugenden wenigstens nicht verleugnet: das waren Maximen, die mit denen Diderots, da der Name nun schon einmal gefallen war, wieder begründet werden konnten. Alles zusammengenommen scheint es mir nicht eine bloße Vermessenheit gewesen zu sein, wenn wir uns gelegentlich auch später, wie eine Blume an der Sonne, an dem Leitbild der Enzyklopädie aufrichtete, die gerade als Wertkategorie ja keineswegs überholt ist. Und was den unermesslichen Stoff betrifft, so machten wir, in unserem Aquarium, schon bald die Erfahrung, die Goethe in den „Wanderjahren“ so eindringlich am Beispiel Wilhelms schildert, der sich zum Wundarzt ausbilden möchte und schon beim Studium des menschlichen Körperbaus zu der Erkenntnis kommt, dass „alles, worein der Mensch sich ernstlich einlässt, […] ein Unendliches ist; nur durch wetteifernde Tätigkeit weiß er sich dagegen zu helfen […]“ Nun, ich will nichts weiter sagen; aber genau so sah der Ausweg aus, den wir einschlugen und Sie alle, die Sie hier versammelt sind, und die vielen hundert Kollegen, Mitarbeiter, Sympathisanten (denn auch die braucht es), die heute nicht hier sein können, haben uns diesen Ausweg eröffnet durch jene „wetteifernde Tätigkeit“. Einiges davon lässt sich in Zahlen ausdrücken: rund

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1200 Artikel finden Sie in unserem Lexikon, der umfangreichste (natürlich unter dem Stichwort „Rhetorik“) 210 Seiten, also 420 Spalten lang; an den großen Forschungs- und Sachartikeln haben in der Regel mehrere Autoren gearbeitet, weil die Intensität und der Umfang der Forschung für einen einzelnen in der zur Verfügung stehenden Zeit nicht zu bewältigen waren. Insgesamt haben für das Rhetorische Wörterbuch 1200 Kolleginnen und Kollegen geschrieben, viele davon kamen aus Frankreich, Italien und England, aus Osteuropa, den Vereinigten Staaten, einige auch aus Fernost. Es hätten noch mehr sein sollen, doch die langen Vermittlungs- und oftmals schwierigen Kommunikationswege hätten dann doch die zeitlichen Rahmenbedingungen, also die Erscheinungsfolge von etwa zwei Jahren, gefährdet. 19 Übersetzerinnen und Übersetzer haben die fremdsprachigen Beiträge ins Deutsche übertragen und damit einen Entschluss umgesetzt, der auch schon ganz im Anfang fiel: nämlich alle Artikel einheitlich in deutscher Sprache zu präsentieren, und damit deren Rang als Wissenschaftssprache zu bekräftigen. Dass solcher Usus der Verbreitung des Historischen Wörterbuchs der Rhetorik nicht geschadet hat, konnten wir einer elektronischen Kurzerhebung entnehmen, die Herr Kalivoda gemacht hat: die Bände stehen in allen bedeutenderen Universitäts- und Forschungsbibliotheken in aller Welt: ob Tokio oder Johannisburg, Los Angeles oder Toronto, von Europa und den USA ganz abgesehen, und es gibt inzwischen kaum noch eine rhetorikwissenschaftliche oder rhetorischtheoretisch einschlägige Veröffentlichung, die auf das Konsultieren des Lexikons hätte verzichten können. Dasselbe gilt in zunehmendem Maße für den Gebrauch in den Philologien, in Philosophie, Kunst- oder sogar Musikwissenschaft. Das hängt auch mit einer Grundsatzentscheidung zusammen, die hin und wieder zu einigen Diskussionen geführt hat: den Fachbegriff der Rhetorik nicht eng an schulrhetorischer Ausprägung zu orientieren, die historisch gesehen eine Schwundstufe der Rhetorik darstellt, sondern im Sinne von Aristoteles als eine Disziplin, die, wie er dekretierte, „das Glaubenerweckende, Überzeugende an jedem vorgegebenen Gegenstande“ als Untersuchungsfeld begreift und in diesem umfassenden Verständnis den wissenschaftlichen Diskurs mitbestimmte, gelegentlich sogar dominierte, wie das in den Künsten bis ins 18. Jahrhundert der Fall war. Heute brauche ich diese Unterscheidung nicht mehr zu verteidigen: der vielbesprochene „rhetoric turn“ macht inzwischen ja nicht einmal mehr vor den Naturwissenschaften halt – als habe auch sie schließlich jene „stumme Angst“ ergriffen, von der Michel Foucault sprach, die Angst nämlich „vor jenen Ereignissen, vor jener Masse von gesagten Dingen, vor dem Auftauchen all jener Aussagen, vor allem, was es da Gewalttätiges, Plötzliches, Kämpferisches, Ordnungsloses und Gefährliches gibt, vor jenem großen unaufhörlichen und ordnungslosen Rauschen des Diskurses.“ Zweifellos eine Angst, die jeden Lexikonmacher mindestens hin und wieder ergreift, wenn ihn die Unendlichkeit all der Faktoren zu überwältigen droht,

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die in Jahrhunderten erfunden, gefunden und zusammengetragen wurden. Borges, der große argentinische Schriftsteller hat dafür ein bei aller geometrisch-klaren Anlage doch düster-packendes Bild gefunden: „Das Universum (das andere die Bibliothek nennen) setzt sich aus einer unbegrenzten und vielleicht unendlichen Zahl sechseckiger Galerien zusammen, mit weiten Entlüftungsschächten in der Mitte, die mit sehr niedrigen Geländern eingefasst sind. Von jedem Sechseck aus kann man die unteren und oberen Stockwerke sehen: ohne ein Ende. Die Anordnung der Galerien ist unwandelbar dieselbe. Zwanzig Bücherregale, fünf breite Regale auf jeder Seite… ihre Höhe, die sich mit der Höhe des Stockwerks deckt, übertrifft nur wenig die Größe eines normalen Bibliothekars.“ Es gehört schon Mut, wenn nicht Übermut, dazu, sich in dieses endlose Labyrinth, das ein Labyrinth der darin aufbewahrten Wörter ist, einzulassen. Ohne Ariadnefaden, ohne Kompass also, wird es unmöglich sein, einen Kurs auch nur durch die rhetorische Abteilung der „Bibliothek von Babel“ zu halten, wie Borges seine Symbolschöpfung nannte. Ein Problem, das natürlich auch Diderot im programmatischen Artikel seiner Enzyklopädie diskutiert hat – und zwar bei Gelegenheit seiner Auseinandersetzung mit einem der wenigen in etwa vergleichbaren Vorgänger, dem zweibändigen Lexikon „Cyclopaedia“ des englischen Quäkers Ephraim Chambers, der von Hause aus (nicht ganz uninteressant) Kartenmacher war. Er hat sich also nicht etwa selber auf jenen unberechenbaren Meeren herumgetrieben, die Diderot befahren wollte, er hat sie kartographiert. „Warum“, fragt sich Diderot, „ist die enzyklopädische Ordnung so vollkommen und so wohl geregelt bei Chambers? weil er sich darauf beschränkt hat, unsere Wörterbücher zu kompilieren und eine kleine Anzahl von Werken zu analysieren; weil er nicht Neues erfunden, sondern sich geflissentlich an das Bekannte gehalten hat; weil ihm alles gleich interessant oder gleich belanglos erschien; weil er keine Vorliebe für irgendeinen Stoff hatte…“ Das alles kam für Diderot so nicht in Frage: zur „Aufklärung seines Zeitalters“, „damit mehr Menschen als bisher aufgeklärt werden“, hatte er die „Enzyklopädie“ entworfen. Das aber bedeutete wissenschaftliche Neugier und eigene Ausfahrt, bedeutete Kritik und Parteilichkeit, bedeutete zuletzt praktische Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit: „Der Gebildete kennt die Dinge, der Aufgeklärte versteht auch, sie entsprechend anzuwenden…“ Das Reich der Rhetorik, ich sagte es (wenn auch mit ein wenig stolzer Bescheidenheit), ist nur ein Teil im ganzen Universum der Enzyklopädie; doch ein Teil, der in sie gerade diese entscheidende Perspektive der Handlungsorientierung hineingebracht hat. Lange bevor Friedrich Engels das englische Sprichwort, dass das Essen der Beweis des Puddings sei, für seine Zwecke reklamierte, hat Diderot, haben die Enzyklopädisten das Interesse der Praxis für die eigene wissenschaftliche und schriftstellerische Tätigkeit zum Leitmotiv erhoben. Höchst erfolgreich, wir wissen es. 1751/52 sind die ersten beiden

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Bände der Enzyklopädie erschienen – und wurden sogleich verboten, alles Papier, das für die nächsten Bände schon erworben war, wurde beschlagnahmt. Die Reaktion zeigt, auch wenn das Verdikt zum Glück ein halbes Jahr später aufgehoben wurde, dass die Hauptgegner, nämlich die Zensur und die Jesuiten, wohl verstanden hatten, dass es hier nicht nur um eine neutrale lexikalische Bestandsaufnahme von totem Wissen ging. „Wenn sie nichts anderes mitzuteilen haben, als dass an den Ufern des Oxus und der Jaxarte ein Barbar dem anderen auf den Thron folgte, wozu sind sie dann dem Leser nütze?“ fragt Voltaire im Artikel „Geschichte“ und tatsächlich hat die Enzyklopädie auch unser Verständnis von dem verändert, was Geschichte heißen muss in einem ihr verpflichteten Lexikon wie dem Historischen Wörterbuch der Rhetorik. Gewiss wird im Frachtraum manches mitgeführt werden, das allein dem Verständnis von Texten gilt, die nur noch antiquarisches Interesse erregen. Aber nicht sie geben den Kurs an, sondern diejenigen Faktoren aus der Geschichte, die noch etwas (wenigstens etwas) zu denken und handeln geben, die also, wie die Redensart lautet, uns noch etwas zu sagen haben, so dass wir einiges für unsere Tage damit anfangen können. Dieses Aufzeigen zukünftiger Tendenzen in den Archivalien der Geschichte konnten wir gleichfalls von Diderot und den Seinen lernen, und wurden dabei von den Kollegen in der Redaktion des „Historischen Wörterbuchs der Philosophie“ kräftig mit Rat und Hilfe unterstützt – wir grüßen heute dankend zu ihnen hinüber: zu Karlfried Gründer und seinem Nachfolger Gottfried Gabriel, den wir heute unter uns begrüßen dürfen. Das aktuelle Interesse (sozusagen der Geschmack des Puddings) benötigt ja eine Scheidekunst oder Probierstein, womit man das, was der Erinnerung wert ist, von dem, was ruhig vergessen werden kann oder soll, unterscheidet. Damit sind komplizierte Fragen kultureller Erbschaft berührt, in die ich mich hier und heute Abend nicht vertiefen und verlieren möchte. Aby Warburg, der große Kunsthistoriker, der auch Kulturphilosoph war (und der Rhetorik übrigens manchen Gedanken abgehört hat), Warburg spricht einmal von „mnemischen Wellen“, zu denen sich die Schübe der Erinnerung formen, Diderot hatte das schon nicht anders gesehen und so beschrieben, dass die „Anschauungen veralten und verschwinden wie die Wörter; das Interesse, das man gewissen Erfindungen entgegengebracht hat, wird Tag zu Tag schwächer und erlischt schließlich ganz […], andere, die fortdauern, weil ihr Gehalt sie erhält, werden eine ganz neue Form annehmen. So wirkt der Fortschritt der Vernunft – ein Fortschritt der soundso viele Standbilder umstürzt und einige, die umgestürzt sind, wieder aufstellt.“ Wer soll sich durch dieses Auf und Ab der Wellenzüge, durch diesen ständigen Prozess des Veraltens und Erneuerns, des Abbrechens und Fortsetzens nur durchfinden? Diese Fragen lassen sich in historischer Arbeit nicht verdrängen, mögen sie auch in der täglichen Lexikonarbeit in den Hintergrund

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treten; was gar nicht anders sein kann, wenn man bedenkt, dass jeder meiner Kollegen in der Redaktion zwischen 15000 und 20000 Manuskriptseiten zu bearbeiten hatte, dass briefliche und elektronische Korrespondenzen dazu kamen, die Telefonkonferenzen mit unseren Autoren (die wöchentlichen stundenlangen Redaktions- und Projektsitzungen gar nicht gerechnet). Oftmals aufwendige Literaturrecherchen, die bibliographischen Prüfungen, die Übersicht über die wissenschaftlichen Neuerscheinungen gehörten auch dazu. Nicht zu vergessen die Besprechungen mit Druckerei und Verlag, die mit wachsender Bedeutung der elektronischen Datenverarbeitung immer wichtiger wurden. Das mag jetzt auch der richtige Augenblick sein, sich der gleichfalls grundlegenden Mitproduktivität der beteiligten Verlage dankbaren Sinnes zu erinnern. Unseres ersten Verlegers Robert Harsch-Niemeyer natürlich, auf den wir immer rechnen konnten mit unseren Termin- und Vertragsproblemen, in kleinen und größeren Krisen. Eine Verlässlichkeit, die uns auch nach dem Übergang zu de Gruyter nicht verloren ging und die über diesen Tag hinaus anhält. Denn einen endgültigen Schlusspunkt können wir heute ja noch gar nicht setzen: der Registerband ist noch auf dem Wege! Angesichts unserer täglichen Sisyphus-Erfahrung, sagte ich, traten die Probleme mit den „mnemischen Wellen“, und was damit alles zusammenhängt, öfter in den Hintergrund, sie waren aber stets anwesend, eichten die Maßstäbe und stellten sie zugleich in Frage. Eine Belastung waren sie immer, auch wenn man nicht ausdrücklich an sie dachte, jeder musste seine Weise finden, damit umzugehen. Das war schon gleich im Anfang so, als es um die ersten Lemmataverzeichnisse ging: Bernd Steinbrink kann ein Lied davon singen und auch er sei am heutigen Abend für die ersten Pionierarbeiten bedankt. Dass es uns gelungen ist, mit Herrn Kalivoda, Herrn Robling, Herrn Zinsmaier und Herrn Weit zusammen mit Frau Fröhlich und den vielen studentischen wissenschaftlichen Mitarbeitern über mehr als 25 Jahre so etwas wie eine eigene Rhetorische Akademie en miniature zu bilden, in harter und zugleich kollegialer Arbeit verbunden, mit manchen Aufheiterungen, manchen, aber viel zu seltenen geselligen Tafelrunden, ist neben hohem wissenschaftlichen Sachverstand gewiss einer Art kollektivem ethos zu verdanken, dem kairos, der uns zusammenführte, dem gegenseitige Respekt vor den Eigenarten, die wir alle in das gemeinsame Klassenzimmer einbrachten. Aber gleichfalls dem glücklichen Umstand, dass unsere loyale Gemeinschaft auch die Sache selber einbezieht. Die Rhetorik wurde derart zur eigenen, längst nicht erledigten oder abzuheftenden Sache für uns und das hieß vor allem, sie als kritische Theorie und Wissenschaft fortzuführen. Wie soll ich Ihnen dafür danken? Sie waren und sind eine wunderbare Mannschaft und gottlob haben Sie sich ja ihr eigenes Dankgeschenk geschaffen – 10 Lexikon-Bände groß. Wenn ich an dieser Stelle den Ton wechsle, sich auch Bitterkeit einmischt, so betrifft das den schnöden, ja skandalösen Undank, den die Universität in

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deren Namen und für deren Reputation Sie ein Wissenschaftler-Leben gearbeitet haben, Ihnen zur Vollendung des historischen Wörterbuchs der Rhetorik servierte. Das ist umso merkwürdiger, als die Eberhard-Karls-Universität, deren Leitmotto „Attempto“ wir auf unsere Weise beherzigten, uns über beinah 30 Jahre den festen und sicheren Rahmen für unsere Arbeit zur Verfügung gestellt hat. Nicht anders als das Rhetorische Seminar. Beide Institutionen haben in Person des Universitätspräsidenten Adolf Theis und des Kanzlers Georg Sandberger, sowie meiner Kollegen am Seminar unser Vorhaben nach Kräften gefördert und Ihnen die Weiterbeschäftigung über den Projektabschluss hinaus zugesichert – wir freuen uns, diesen immer zuverlässigen Förderern auch heute unseren Dank aussprechen zu können. Dass diese Institutionen (Universität und Seminar) sich an jene damaligen Zusagen nicht mehr gebunden fühlen und sie zu arbeitsrechtlichen Verfahren nötigen, halte ich für schändlich und für einen Anschlag auf das Ansehen und Gewicht der Universität. Aber ich bin abgeschweift, noch dazu in unerfreuliche Gegenden, die kaum zum Feiern einladen – oder besser: in denen das festliche Gepräge einen ernsten Hintergrund durchscheinen lässt. Auch das gehört zur Sache selber, für die wir heute stehen, nämlich zu einer Rhetorik, die aus der Kritik an scheinbar verbrieften Autoritäten, an Metaphysik und Mythos, entstanden ist, sich sogar zur Bürgertugend entwickelte und entweder als kritische Theorie weiterleben wird – oder sie wird nicht weiterleben: ganz unabhängig von dem Erfolg unseres Lexikons. Allzu zuversichtlich dürfen wir aber nicht sein, wenn wir die Gefahren nicht unterschätzen wollen. Sie kommen aus einem vom gesellschaftlichen Leben vielfach abgekoppelten Wissenschaftsbetrieb, aus dem Verfall der öffentlichen Rede, aus einer zur Betriebsführung geschrumpften Demokratie, die dem freien Bürger das Wort am liebsten abschaltet und auch vor seinen gewählten Vertretern im Parlament nicht halt macht. Das sind ein paar Stichworte zur rhetorischen Lage der Nation, ich will es dabei bewenden lassen. Und die Rhetorik selber? Sie, die in den 60iger Jahren ihre Aufbrüche erlebte, ihren Siegeszug durch die wissenschaftlichen und philologischen Diskurse begann – wie steht es mit ihr? Auf den ersten Blick so schlecht nicht. International: ausgiebige und lebendige Diskussionen an den Universitäten, wachsende Institutionalisierung in den skandinavischen Ländern, weltweite, für den einzelnen nicht mehr zu überblickende Forschungsaktivitäten – und schließlich: unser Lexikon – steht es nicht auch für die unaufhaltsame Etablierung des seit dem 18. Jahrhundert so viel gebeutelten Faches? Ja gewiss, und doch nur die halbe Wahrheit. Hegel hat das, was ich meine, in das dem schöne Gleichnis von der Eule der Minerva gekleidet, die erst in der Dämmerung ihren Flug beginnt, womit sie anzeigt, dass wieder eine Gestalt des Lebens alt geworden ist, eingegangen in das Pantheon wissenschaftli-

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Gert Ueding

cher Betrachtung und Reflexion. Der florierende rhetorische Trainingsmarkt taugt wenig zur Korrektur. Er kulminiert in schrankenloser Affirmation, ob als Managerschulung und Werbung, als politische Propaganda oder didaktische Trick-Kiste, die alle den Redner zur allmächtige Entscheidungsmacht stilisieren und neuerdings durch den erfolgsorientierten Kommunikator der InternetRhetorik noch Verstärkung erhalten. Kurz: in kaum einer anderen Wissenschaft ist die Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis derart groß wie in der Rhetorik. Sie, die sie heute hier versammelt sind, wissen, dass uns diese Diagnose nicht entmutigt hat, dass sie sogar ein Ansporn war. Ihnen und natürlich allen Kolleginnen und Kollegen, die wir als Autoren, als Fachberater gewinnen konnten, haben wir es zu verdanken, dass wir gegen alle Zweifel, die äußeren und die inneren, durchgehalten haben. Und natürlich die DFG nicht zu vergessen, die uns immer wieder grünes Licht gegeben und auch wieder diese Tagung ermöglicht hat, also die ökonomische Basis bereitete, so dass wir überhaupt mit Ihnen, unseren Autoren, ins Gespräch kommen konnten. Sie haben für das „Historische Wörterbuch der Rhetorik“ einen guten Teil Ihrer Forschungskapazität, Ihrer Lebenszeit eingesetzt, Sie haben geduldig unsere Wünsche angehört und in Ihre Arbeit einbezogen und auch dann nicht die Fassung verloren, wenn wir Ihre Manuskripte an das konzeptionelle Format des Lexikons anpassen und sogar wertvolle Teile kürzen mussten, um nicht die uns gesetzten Grenzen von Zeit und Umfang allzu stark zu strapazieren. 25 Jahre und manchmal sogar noch länger waren wir mit vielen von Ihnen in Diskussionen und Ratsuche verbunden, eine lange Zeit in einer WissenschaftlerBiographie, einem Forscherleben, einige von uns haben die Vollendung der Werks nicht mehr erlebt, wie Manfred Fuhrmann, wie Konrad Hoffmann, wie Egidius Schmalzriedt, ja, auch wie Walter Jens – wir haben, hoffe ich, mit ihren Gedanken, ihren Vorstellungen und Ratschlägen so gewuchert wie sie es erwartet haben. Und sie haben von uns auch erwartet, dass wir uns nicht in einer fahlen Erinnerung, die auf vergangene Zustände fixiert bleibt, erschöpfen. Das gilt für den Geschichtsbegriff, der dem Historischen Wörterbuch der Rhetorik von den ersten Planungen an zugrunde liegt, und der immer prospektiv gedacht war; das gilt für dieses Symposion, diesen Abend selber, wenngleich auf eine Art, die sich nicht von selbst versteht. Denn das Symposion hat die Reihe der Tagungen abgeschlossen, die wir im Zusammenhang mit der Lexikonarbeit geplant und durchgeführt haben, Tagungen kleinerer Art im Fachberater-Rahmen und drei große, mehrtägige Konferenzen hier in Blaubeuren. Einen Schlusspunkt, einen festlichen allerdings, setzt aber auch der heutige Abend, der ein Abend des Resümierens und Dankens ist, auch des Danks für das freundschaftliche Engagement der Personen und Einrichtungen, die uns die festliche Peroratio heute überhaupt erst möglich machten.

Anstatt einer Einleitung

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Ich spreche von einer Peroratio und weiß doch, dass jede Schlussrede, wenn sie etwas taugt, nur der Anlass zu einer neuen Rede ist, dass das Gespräch, in dem wir uns mit ihr ja gleichzeitig immer befinden, niemals aufhört, da es das Gewesene mit allem Künftigen verbindet. Das gilt auch für die Rede des Lexikons, in der recht betrachtet, Dämmerung und Morgenröte ineinander übergehen. Womit sich ein überraschendes Zusammentreffen scheinbar gegensätzlicher Sphären ereignet: nämlich von Kunst und Lexikographie. Friedrich Schlegel hat in dem berühmten Athenäumsfragment die romantische Dichtart als eine bestimmt, die „noch im Werden [ist]; ja das ist ihr eigentliches Wesen, dass sie ewig nur werden, nie vollendet sein kann.“ In diesem Sinne, dass nämlich die Idee eines Ganzen nur als regulatives Leitbild außerhalb des Werkes existiert, niemals in ihm selber verwirklicht werden kann, ist jedes Lexikon ein romantisches Unternehmen, seine Autoren blicken gebannt auf ein Ziel, das sie nie erreichen: im einzelnen Artikel nicht und nicht in seiner Gesamtheit. Die Bibliothek von Babel, dieser Himmel und diese Hölle jeder Lexikonarbeit, überschreitet eben alle Grenzen, und zwar nicht nur nach hinten, auf alle jemals geschriebenen Bücher bezogen, sondern ebenso nach vorne. In dem Augenblick, in dem es erscheint, haben sich neue Regalwände in den sechseckigen Stockwerken der Bibliothek gefüllt, von denen das Lexikon noch nichts weiß. Es bleibt deshalb notwendig Fragment (auch das ein Kernbegriff romantischer Ästhetik) und es bleibt es noch aus einem weiteren Grund, der ebenso wie ein Echo aus der Schlegel- und Novalisgegend kommt: ein Lexikon wird in dem Maße produktiv, ja schöpferisch im emphatischen Sinne, wie es derjenige ist, der damit umgeht. Mit launigen Worten hat das einmal Horst Günther formuliert: „Ein Taugenichts muss man sein, um überhaupt mit mehr als gewöhnlicher Aufmerksamkeit Enzyklopädien zu lesen. Denn es genügt ja nicht, eine Sache nachzuschlagen, die man wissen will. Gerade, was daneben steht, und wohin man von dort aus verwiesen wird, ist fruchtbar für die labyrinthischen Gänge eine Lektüre, die Enzyklopädien kennen lernen, kritisieren, und neue konzipieren will. Und noch wichtiger, was nicht da steht, aber vielleicht durch andere Artikel erschlossen werden kann. Den Punkt zu finden, wo ein fruchtbarer Begriff tausend Verbindungen schlägt und einen ganzen Wissensbereich erfassen lässt… Man muss sich schon über die Routine des hergebrachten Schlendrians hinwegsetzen, um Beziehungen zwischen den Fächern und über sie hinweg zu ahnen und auszuprobieren, Fährten aufzunehmen und zu verfolgen, ins Unbekannte vorzustoßen und das Vertraute mit anderen Augen zu sehen und neu zusammenzusetzen.“ Wenn das kein romantisches Projekt beschreibt, dann haben Schlegel und Novalis umsonst sich bemüht, auch unseren inneren Horizont zu öffnen. Nicht an einen Tagedieb, aber an einen Taugenichts von Eichendorffschem Format muss man dabei denken, der schließlich ein Träumer und ein Genie des Lebens und der Liebe war, gerade weil er mit allem Gewöhnlichen auf gespanntem

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Gert Ueding

Fuße stand. Solche Lektüre, solches Spurenlesen Kreuz und Quer, ist freilich nicht immer und überall und jedem möglich, immer ist ein Wagnis damit verbunden, eine Grenzüberschreitung der eigenen Routine. Sie erst macht auch unser Lexikon auf so geistreiche wie glänzende Weise beredt. Und so möchte ich zum Schluss eine Lektüre-Gebrauchsanweisung empfehlen, die ich in einem für den augenblicklichen Zusammenhang einschlägigen Buch gefunden habe, nämlich in Andreas Okopenkos „Lexikonroman“. Der österreichische Schriftsteller hatte sich damit ein offenes Kunstwerk vorgesetzt, Form und Methode der Lexikographie ergriffen, um diese Absicht zu verwirklichen: „In vorgeschriebener Reihenfolge“ (beginnt seine Gebrauchsanweisung für den Leser), „in vorgeschriebener Reihenfolge vorgeschriebene Blicke zu werfen ist…klassische Lektüre oder vortauwetterlicher Ost-Tourismus. Ich will Sie – versuchen wir es einmal – aus der Lektüre in die Welt befreien…Lesen Sie einmal dem Schiff nach (das ist der Spielort des Romans) und einmal dem Alphabet, einmal durcheinander und einmal Überschlagenes nachholend oder Städtchen tauschend. Vergleichen Sie Abfahrts- und Ankunftskater, Aussaat und Ernte, Milchblau und Schweinchenrosig. Legen Sie einmal den Helden beiseite und spielen sie ohne ihn mit den Ödstättenkindern, gehen Sie von Bord und machen Sie sich in der Au selbstständig. Blättern Sie später wahlund gedankenlos in dem Buch oder bemühen Sie das Würfelspiel Ihres Kindes. (‚Man überschlage drei Kapitel‘ oder ‚man kehre zum Ausgangspunkt zurück‘)“ Und die Moral von der Geschicht’ die auch die Moral eines jeden wahrhaft zünftig – unzünftigen Lexikons ist? – Okopenko hat uns auch sie nicht vorenthalten: „Überall geht alles weiter.“

Anton Hügli

Überzeugen und Überreden Über das Verhältnis von Philosophie und Rhetorik Die Gegenüberstellung von Überzeugen und Überreden ist, wie wir – mit diversen „Historischen Wörterbüchern“ hinter uns – nunmehr wissen, eine Erfindung des frühen 18. Jh. Der Sache nach ist es eine Reprise des Kampfes der antiken Philosophie gegen die Rhetorik der Sophisten: Wer Wahrheit sucht, kann keinen Geschmack finden an jenen, denen es nur um Erzeugung von Schein geht, oder die, schlimmer noch – denn eben dies macht die Rhetorik zu einer sophistischen Rhetorik1 –, von und mit der Behauptung leben, dass alles nur Schein2 resp. Überredung sei. Auf der Unterscheidung zu beharren zwischen Überreden und Überzeugen, ist das Markenzeichen des philosophischen Geistes der Antike ebenso wie desjenigen der Moderne, und eben dies unterscheidet den Philosophen vom Sophisten. Aber der Philosoph hat es damit zunehmend schwerer. Mit den zeitgenössischen Konstruktivisten, Postmodernisten und Subjektivisten wächst eine neue Sophistik heran, die der Unterscheidung zwischen Überreden und Überzeugen abgeschworen hat. Zu verstehen, was es mit dieser Unterscheidung auf sich hat, und zu begründen, warum wir sie nicht aufgeben können, ist das eine Ziel dieses Artikels. Das zweite, nicht weniger wichtige ist der Nachweis, dass gerade jene, die sich dem Überzeugen verschrieben haben, ohne ein gehöriges Stück Überredung keinen Schritt vorankämen. An Aktualität fehlt es einem Klärungsversuch in dieser Richtung zweifellos nicht, und auf eben diese Aktualität zielt dieser Artikel. Historisches ist dabei nur insofern von Interesse, als es dem Verstehen hilft.

1. Überreden und Überzeugen: Versuch einer begrifflichen Klärung Intuitiv scheint klar, worum es geht: um unsere Überzeugungen und die Art und Weise, wie wir zu unseren Überzeugungen kommen. Unter Überzeugungen verstehe ich begriffliche oder begrifflich gefasste Einstellungen gegenüber 1

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Als „der Überredung Meisterin“ wird (sophistische) Rhetorik in Platons Gorgias bezeichnet (453 a). Schein hervorzubringen, ist nach Platons Sophistes (vgl. etwa 234 c) das Kennzeichen der sophistischen Rhetorik.

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Anton Hügli

der Welt von der Sorte, dass wir etwas für wahr halten oder glauben, es wahr machen zu müssen. Dass es begrifflich gefasste Einstellungen sind, soll heißen, dass diese Einstellungen mit Hilfe von Begriffen ausgedrückt werden können und darum propositionalen Gehalt haben, einen Gehalt also, den man mit Hilfe von dass-Sätzen umschreiben kann: dass etwas so oder so ist oder so oder so sein soll. Im „begrifflich gefasst“ liegt aber auch, dass wir Überzeugungen nicht haben können ohne zugleich zu wissen, dass wir sie haben. Darin unterschieden sie sich u.a. von gefühlsmäßigen Einstellungen, die man haben kann, auch ohne sich ihrer bewusst zu sein. Überzeugungen haben es in sich, dass sie sich auf unangenehme Weise verfestigen können, aber uns andererseits auch immer wieder zu entgleiten drohen. Wo sie ins Wanken geraten, stellt sich zwangsläufig die Frage, wie und woran wir sie wieder festmachen können.3 Überzeugen und Überreden kennzeichnen zwei alternative Wege, wie es zu einer neuen Verfestigung von Überzeugungen kommt oder, genauer gesagt, gekommen sein kann. Genauer ist die zweite Formulierung darum, weil sowohl Überzeugen wie Überreden – dem Anschein zum Trotz – keine Wörter sind, die eine Tätigkeit oder einen Prozess, sondern die das Resultat eines Prozesses kennzeichnen. Es sind, gemäß der Unterscheidung von Gilbert Ryle, keine task- sondern achievementverbs.4 Ihre Paradigmen sind darum auch nicht Wörter wie „suchen“ oder „therapieren“, sondern deren Erfolg verkündender Gegenpart: die Wörter „finden“ und „heilen“. Überzeugt bin ich, wenn ich unter dem Gewicht der Gründe, welche für die Wahrheit der betreffenden Proposition zeugen, nicht anders kann als sie für wahr zu halten; überredet, wenn ich etwas für wahr zu halten beginne, was ich unter dem Eindruck von mir nicht durchsichtigen Einflüssen5 nunmehr für wahr zu halten geneigt bin oder für wahr zu halten mich ent-

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So die Metaphorik bei Platon: Nur wenn es uns gelinge, unsere immer wieder im Entweichen begriffenen „wahren Meinungen“ an die ursprünglichen Ideen als ihrem Grunde festzubinden, seien sie auch richtig befestigt und erhielten „die Kraft des Beharrens“ (Menon 97e/98a). Zu dieser Unterscheidung vgl. Gilbert Ryle: The Concept of Mind, London 1949, S. 149–153. Durchsichtigkeit ist darum – im Kontrast zum Überredet-Werden – das A und O des Überzeugens: ich muss – im Prinzip – den Weg selber gehen, d.h. jeden Schritt auf dem Weg kennen und jedem einzelnen Schritt zustimmen können, im Sinn des griech. Wortes „methodos“ (aus „meta“ und „hodos“), das einen Nachgang auf dem Weg zu einem Ziel in geregeltem Verfahren bezeichnet. Die undurchsichtigen, der Überredung geschuldeten Überzeugungen dagegen sind (in diesem Sinne) methodisch nicht nachvollziehbar, ihr Zustandekommen lässt sich höchstens psychologisch oder allenfalls anthropologisch erklären. Rhetorik als Theorie wirksamer Rede war darum immer schon „eine Theorie des Menschen und seiner Beeinflussbarkeit durch Rede“ (J. Kopperschmidt: Über den Nutzen der Rhetorik in der Pädagogik, in: B. Fuchs, Ch. Schönherr (Hgg.): Urteilskraft und Pädagogik,Würzburg 2007, S. 151)

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schlossen habe.6 Diese vorsichtige Formulierung trägt den Schwierigkeiten Rechnung, die einer genaueren Bestimmung des Begriffs der Überredung im Wege stehen.7 Obwohl überredet worden zu sein einen Zustand beschreibt, ist dieser Zustand nicht ohne Bezugnahme auf seine Genese zu fassen: etwas ist mit mir geschehen, ich wurde dazu gebracht – sei es durch das Zutun anderer oder durch eigenes Zutun, denn man kann sich schließlich auch selber etwas einreden oder ausreden –, etwas zu glauben, was ich – gemessen an dem, was bisher für mich galt und weiterhin gelten müsste – eigentlich nicht glauben dürfte. Aber inwiefern nicht glauben dürfte? Es ist, als wäre ich in einen Zustand verminderter Zurechnungsfähigkeit versetzt worden. Obwohl eine neue Überzeugung sich eingestellt hat, weiß ich nicht, warum ich ihr eigentlich folge, und es besteht keine Gewähr, dass ich ihr auch künftig folgen werde. Die situativen Gegebenheiten – der Umstand insbesondere, dass bestimmte Personen redend auf mich eingewirkt haben – scheint einen verderblichen Einfluss auf meine Urteilskraft gehabt zu haben, andere solche Einflüsse könnten mich leicht wieder umkippen lassen. Dies kommt drastisch zum Ausdruck in Platons Vergleich der Wirkungsweise der Rhetorik mit der einer Droge.8 Dennoch ist dieser Vergleich irreführend. Er lässt den Überredeten als willenloses Opfer einer rein kausalen, äußeren Einwirkung erscheinen. Aber ist er bloß Opfer? Zumindest muss er – sonst wäre das, was sich bei ihm einstellt, keine Überzeugung im Sinne eines propositionalen Fürwahrhaltens – ein Wissen darum haben, welche Überzeugung er nunmehr hat. Dieses Wissen aber müsste auch 6

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Nicht mit zu diesen Einflüssen gehören Zwangsmittel, wie sie nur bei einem Machtgefälle zwischen Personen möglich sind. Denn Rhetorik ist das Machtmittel, das nur „inter pares“, unter Freien und Gleichen anwendbar ist. Sie hat dieselbe Art von Wirkung, wie jede Art von Werbung sie zu erzeugen erstrebt. (vgl. dazu Kopperschmidt, 2007: S. 147). Eine grundsätzliche Schwierigkeit sei hier schon angemerkt: Vom Wortgebrauch her scheint es zweifelhaft, ob man überhaupt dazu überredet werden kann, eine bestimmte Überzeugung zu haben. Überredet werden kann ich streng genommen nur dazu, etwas zu tun oder zu unterlassen, aber nicht: etwas zu glauben, (wobei „tun“ natürlich auch einschließt, einen bestimmten Glauben in einer bestimmten Situation vor anderen zu vertreten). Mit einer gewissen Willkür soll darum in diesem Artikel „überreden“ jenen Fall mit einschließen, in dem ich auf undurchsichtige Weise (z.B. unter Ausnützung meiner mentalen und anderen Schwächen), d.h. auf eine Weise, die nicht auch von jedem andern methodisch nachvollzogen werden kann, dazu gebracht worden bin, bestimmte Überzeugungen zu hegen. Da auch Überredung in Überzeugung endet, müsste aber zumeist auch Täuschung mit im Spiel gewesen sein, denn Täuschung beruht auf Ausnützung meiner rationalen Fähigkeiten: es will mir etwas als Grund erscheinen, was (objektiv betrachtet) kein Grund ist. Zumindest der Anteil der Täuschung kann darum bei (sophistischen) Überredungen durchsichtig gemacht werden. Dies zu tun, ist eine der Funktionen der Eristik, der Lehre von den (logischen) Fehlschlüssen. Und der Sophist wird entsprechend charakterisiert als Zauberer und Wundermacher (Sophistes 234 c).

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seine Stellungnahme herausfordern: ob er der für wahr gehaltenen Proposition tatsächlich zustimmen will oder nicht. Stimmt er zu, obwohl er weiß, dass er eigentlich nicht zustimmen dürfte? Ganz ohne sein Zutun wäre er dann nicht in diesem Zustand. Er wäre zumindest Mittäter. Er hat sich überreden lassen. Die Zustimmung ist eine von ihm geschenkte (und keineswegs eine erzwungene). Man könnte allenfalls mildernde Umstände geltend machen, doch dies änderte nichts daran: der defiziente Zustand des Überredet-Seins ist selbstverschuldet. Umso rätselhafter aber ist es dann, wie man überhaupt in diesen Zustand gelangen und, noch rätselhafter, wie man in ihm verbleiben kann. Ist hier die so genannte Willensschwäche im Spiel: dass man wider besseres Wissen das Schlechtere wählt – schlechter in Bezug auf den Rechtfertigungsgrad der neuen Überzeugung? Doch was heißt hier überhaupt wissen? Ist es eine Überzeugung, von der die Person nicht nur weiß, dass sie sie hat, sondern tatsächlich auch, dass sie diese – eigentlich – nicht haben dürfte? Oder weiß sie dies letztere vielleicht doch nicht? Ist dies ein Wissen, das man nur aus objektiver Warte, aus der Warte eines Dritten haben könnte? Vielleicht gewinnen wir größere Klarheit darüber, wenn wir den angeblich entgegen gesetzten Zustand, den des Überzeugt-worden-Seins, näher betrachten. Überzeugt bin ich, so meine vorläufige Bestimmung, wenn ich unter dem Gewicht der Gründe, die für die Wahrheit der betreffenden Proposition zeugen, nicht anders kann als sie für wahr zu halten. Dies klingt nach Unfreiheit. Wie können mich Gründe zwingen? Der Prototyp dieses Zwangs ist derjenige, der mich dazu führt, B zu sagen, wenn ich einmal A gesagt habe. Der Zwang ergibt sich daraus, dass Überzeugungen nie allein stehen. Jede Überzeugung hat ihren Ort in einem System von weiteren Überzeugungen. Diese stehen zu einander in inferentiellen Beziehungen: Sie implizieren oder stützen einander oder schließen sich gegenseitig aus. Im strikten Sinn gezwungen bin ich, wo eine Implikation oder ein Kontradiktionsverhältnis vorliegt; wenn ich A zugestimmt habe, muss ich auch B resp. nicht-B zustimmen; eine Berechtigung zum Übergang von der Überzeugung A zu Überzeugung B habe ich, wenn A einen guten Grund für die Annahme von B nahe legt, einen Grund, den ich nicht leicht abweisen kann. Ob Gründe mich auf diese Weise von Überzeugung zu Überzeugung führen, hängt jedoch davon ab, ob ich tatsächlich schon irgendwelche Überzeugungen habe und mich auch von den in ihnen enthaltenen inferentiellen Beziehungen führen lassen will. Auch hier gilt darum, gleich wie beim Überreden, die Freiwilligkeit: gezwungen bin ich nur, wenn ich mich zwingen lasse.9 Und dennoch gibt es einen entscheidenden Unterschied zur

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Daher die von Rousseau über Kant bis zu Habermas gehende Formel vom „zwanglosen Zwang“ des Arguments (vgl. A. Hügli: Art. „Zwang“, in: HWPh, Bd. 12, Sp. 1478/79).

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Situation des Überredeten. Es ist ein Unterschied in der Art und Weise, wie wir zu uns selber stehen, zu unsern Überzeugungen und zu uns als Person. Überzeugt zu sein – jedenfalls in dem hier relevanten Sinn – hat nichts zu tun mit der Leidenschaft und dem Pathos des von seinen Überzeugungen Hingerissenen10. Es ist der Zustand, in dem nicht die Überzeugungen die Person beherrschen, sondern die Person ihre Überzeugungen. Sie hat – ernsthaft und redlich – die Möglichkeit wahrgenommen, die in jeder propositionellen Einstellung liegt: Stellung zu nehmen, sich prüfend zu fragen, ob es vernünftig, rational, moralisch und existentiell vertretbar oder wie auch immer sei, die Überzeugungen zu haben, die sie hat und die sich ihr aufdrängen. Überzeugt zu sein, mit einem Wort, ist der Zustand einer Person, die im vollen Sinn des Wortes Person sein will: ein vernünftiges resp. der Vernunft fähiges Wesen. Und vernünftig zu sein, heißt nichts anderes als seine Überzeugungen einer Rechtfertigungspraxis zu unterstellen, Gründe zu geben und Gründe zu verlangen für das, was wir glauben, und Gründe für das, was wir tun. Wenn wir überzeugt sind, dass etwas wahr ist, kann dies dann wiederum als Grund dafür dienen, etwas anderes als wahr anzunehmen oder etwas anderes zu tun. Und wenn wir handeln wollen, ist dies ein Grund dafür, etwas wahr werden zu lassen, was ohne unser Zutun nicht wahr würde. Der entscheidende Explikationsbegriff zur genaueren Bestimmung des Vernünftigseins ist der Begriff der Regel. Schon die Verwendung von Begriffen selbst – dies ist der entscheidende Gedanke Kants – ist geknüpft an die Verwendung von Regeln. Ein Begriff gibt vor, wie etwas gemäß einer Regel getan werden sollte, z. B. der Begriff »rot« die Regel, sich auf rote Dinge zu beziehen. Das Besondere am Urteilen und Tun, an Akten also mit Inhalten, für deren Wahrsein oder Wahrmachen man das Einfordern von Gründen anbringen kann, ist der Umstand, dass sie Regeln unterworfen sind: epistemischen Regeln, wenn es um das Wahrsein geht, moralischen oder ethischen, wenn es ums Wahrmachen geht. Wie aber sind diese Regeln für uns gegeben? Auch von den nichtmenschlichen Dingen nehmen wir an, dass sie sich nach Regeln verhalten; es ist gerade die Regelmäßigkeit ihres Verhaltens, dem wir – in wissenschaftlicher Einstellung – auf die Spur zu kommen versuchen. Einer Regel folgen ist jedoch etwas anderes als sich nach Regeln verhalten. Es bedeutet nicht, dass die Regel ungebrochen durch uns hindurchgeht und uns bestimmt, sondern vielmehr, dass wir uns durch die Regel bestimmen lassen, das heißt, kantisch gesprochen, dass wir uns nicht regelhaft, sondern aufgrund der von uns vorgestellten Regel verhalten. Regeln, die auf diese Weise unseren Willen bestimmen, haben Geltung für uns, aber Geltung haben sie nur insofern, als wir ihnen 10

Vgl. Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, KSA Bd. 2, 635.

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diese Geltung auch geben, das heißt uns selbst auf sie verpflichten. Ich bin meinen Überzeugungen gegenüber verpflichtet und mir gegenüber als rationaler Person. Verpflichtung ist darum das Schlüsselwort. Überzeugt worden sein heißt: sich im Einklang mit seinen Verpflichtungen (mit all ihren Voraussetzungen und all ihren Konsequenzen) zu wissen. Es bedeutet keineswegs, ein für allemal festgelegt zu sein auf die Überzeugungen, die man nun einmal hat – der Appell zur ständigen Prüfung allein schon würde dies verbieten –, aber es bedeutet immer: Keine Überzeugung sich zu eigen zu machen, ohne die Frage zu stellen: Verträgt sie sich mit den Überzeugungen, die ich schon habe, und bin ich auch in Zukunft bereit, zu ihr zu stehen – so lange jedenfalls, als sie sich nicht als unhaltbar erwiesen hat? Überzeugt werden kann nur, wer sich selber treu zu bleiben versucht.11 In diesem Punkt eröffnet sich erst der entscheidende Gegensatz zur Überredung: Überredet werden ist gleichbedeutend mit treulos sein gegenüber sich selbst: mich, ohne Rücksicht auf das, was für mich gegolten hat und was für mich (deshalb) in Zukunft zu gelten hat, den Verlockungen, Drohungen oder Versprechungen des Heute auszuliefern, dem für den Augenblick Erwünschten.12 Eben diese Unterwerfung unter die Zwänge des Jetzt macht denn auch die Sophisten zu Sophisten. Für sie hängt darum alles von der Fähigkeit ab, sich auf das Heute einzustellen und die Gunst der Stunde ergreifen zu können. Sie sind Augenblickskünstler, spezialisiert auf das Ergreifen des Kairos.13 Und weil sie an nichts gebunden sind, ist es für sie, als ob sie jeden Augenblick wieder neu beginnen könnten.

2. Warum es ohne Überredung nicht geht Falls diese Gegenüberstellung von Überreden und Überzeugen richtig ist, hätte dies entscheidende Konsequenzen in Bezug auf den alten Kampf zwischen Philosophie und Rhetorik. Die Alternative: Rhetorik statt Philosophie kann es schon darum nicht geben, weil sich die Wirkungsweise der Rhetorik, das Überreden – nur als defizienter Modus des Überzeugens beschreiben lässt, der allein vom Kontrast lebt: als der Zustand, der uns droht, wenn die redliche Treue gegenüber seinen Überzeugungen und das Ringen um Einsicht, um 11

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Darum braucht es auch Disziplin, „Zwang“ gegenüber sich selbst, um, wie Kant sagt, „dem beständigen Hang, von gewissen Regeln abzuweichen“, auf Dauer entgegen zu wirken (Kritik der reinen Vernunft, A 746/B 774). Rhetorik zielt darum immer auf Wechsel der Überzeugung, auf „opinion change“ (Vgl. Joachim Knape: Was ist Rhetorik?, Stuttgart 2012, S. 79). Diesen Aspekt der Sophistik schön herausgearbeitet hat Thomas Buchheim: Die Sophistik als Avantgarde normalen Lebens, Hamburg 1986.

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gerechtfertigte Überzeugungen fehlt. Doch Überzeugen hat nicht nur definitorisch den Vorrang vor dem Überreden – weil das zweite nicht ohne das erste bestimmt werden kann –, sondern auch normativ: Niemand, so unterstellen wir mal, wird sich überreden lassen wollen, wenn er den Weg des Überzeugens gehen kann. Niemand wird Rhetorik wollen, wenn er Philosophie haben kann. Dennoch bleibt ein Unbehagen. Dürfen wir Rhetorik so schnell verabschieden aus dem Gebiet der Philosophie? Gibt es nicht vielleicht Fälle, in denen auch der Philosoph der Rhetorik bedarf, weil er mit seiner Überzeugungsarbeit schlicht nicht mehr weiter kommt? Ich meine ja.14 Und der Grund dafür liegt darin, dass alle Begründungen früher oder später an ein Ende kommen, an den Punkt, an dem in unseren Überzeugungen eine Kluft sich öffnet und nur ein mutiger Sprung von der einen zur anderen Seite uns weiterhelfen kann. Was aber könnte uns zu einem solchen Sprung verhelfen, wenn nicht – ein Mut machendes und Vertrauen stiftendes Zureden resp. Überreden?15 Wenn wir auf diese unvermeidlichen Einbruchstellen des Überredens aufmerksam werden wollen, müssen wir darum auf die Sprünge achten, die uns im Zuge unserer Überzeugungsarbeit abgenötigt werden. Solche – durch keine Überzeugungsarbeit zu überwindenden – Bruchstellen zeigen sich auf verschiedensten Ebenen. Schon die Unterstellung selbst, dass keiner Rhetorik will, wenn er Philosophie haben kann, beruht auf einem solchen Sprung – auf der ersten, der elementarsten Ebene.16 Denn:

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Und werde damit im Umkreis der durch Blumenberg und Perelmann inaugurierten „Wiederkehr der Rhetorik“ sicher auf breite Zustimmung stoßen. Es liegt mir jedoch fern, diese These, wie Hans Blumenberg, anthropologisch begründen zu wollen, als das „Korrelat der Anthropologie eines Wesens, dem Wesentliches mangelt“ und das darum mit dem „Prinzip des unzureichenden Grundes“ Vorlieb nehmen und bei der Rhetorik Zuflucht suchen muss (Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik, in: H. Blumenberg: Wirklichkeiten in denen wir leben. Stuttgart 1981, S. 124). Mir geht es vielmehr darum, konkret die Stellen aufzuweisen, an denen wir im Prozess des uns gegenseitig Überzeugens – wenn überhaupt – nur mit (viel) Überredung weiter kommen – nicht weil die Gründe unzureichend sind (denn auch schwache Gründe sind noch Gründe), sondern weil die Gründe schlicht fehlen. Diese Art des Überredens wäre dann allerdings wohl zu unterscheiden von dem der Sophisten (zumindest insofern, als es Täuschung ausschließt). Es wäre ein dem Überzeugen dienliches oder dieses gar ermöglichendes Überreden. Die zu überspringende Kluft zeigt sich, wenn wir die Frage stellen: Warum eigentlich wollen wir Wahrheit und nicht Täuschung? Warum preisen wir intellektuelle Redlichkeit? Welche Schwierigkeiten mit dieser Frage verbunden sind, zeigen exemplarisch die immer wieder neuen Anläufe von Ernst Tugendhat, das Wesen der intellektuellen Redlichkeit und insbesondere die ihr zugrunde liegenden Motive näher zu bestimmen (so zuletzt: Retraktionen zur intellektuellen Redlichkeit, in: Anthropologie statt Metaphysik, München 2007, S. 85–113).

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2.1. Wie überzeugt man Überzeugungsverweigerer? Überzeugen kann ich nur eine Person – dies haben wir bereits festgestellt –, die überhaupt Überzeugungen haben und sich von ihnen leiten lassen will. Wie aber kommt eine Person, die sich auf nichts festlegen lassen will, zu dem Eingeständnis, dass sie sich festlegen sollte? Die Palette der Überzeugungsverweigerer ist groß. Der klassische Fall ist der Sophist, gegen den auch Sokrates vergeblich kämpfte. Er weigert sich, überhaupt zu reden. Und wenn er schon redet, weigert er sich, sich auf irgendeine Weise festzulegen. Insbesondere ist er nicht bereit, Begriffe so zu verwenden, wie Begriffe es verlangen: als normative Regeln, auf die er sich selbst verpflichtet, und die ihn dazu bringen könnten, Dinge rot zu nennen, wenn sie rot sind. – Der Überzeugungsverweigerer modernen Stils ist der von Harry Frankfurt beschriebene Typus des Bullshitters, zu dem wir alle mehr oder weniger gehören.17 Bullshit, so Frankfurts Analyse, produzieren wir immer dann, wenn wir uns um die Anstrengung foutieren, überhaupt festzustellen, ob das, was wir von uns geben, nun letztlich wahr oder falsch, brauchbar oder nicht brauchbar, Pfusch oder solide Arbeit ist. Man gibt irgendwelche Meinungen von sich, ohne auch nur einen Gedanken darauf zu verschwenden, ob diese auch haltbar und plausibel seien oder nicht, man redet, nur damit geredet ist. Während der notorische Lügner zumindest noch eine Verbeugung macht vor der Wahrheit, und seine Lügen sorgfältig darauf hin auswählt, ob sie in der Tat das Gegenteil des Wahren sind, hat der Bullshitter schlicht kein Interesse, irgendetwas feststellen oder auswählen zu wollen. Wichtig ist ihm nur, wie er mit dem, was er produziert, bei den andern ankommt. – Ein Überzeugungsverweigerer der gehobeneren Sorte ist der Universal-Skeptiker: Er weigert sich, in irgendeiner Hinsicht oder zumindest in wesentlicher Hinsicht irgendwelche Überzeugungen zu hegen, weil er schlicht keine Grundlage dafür sieht, Überzeugungen festmachen zu können. Für ihn ist die Wirklichkeit zu trügerisch, unsere Vernunft zu hinfällig, unsere Sprache zu täuschungsanfällig und unser Erkenntniswille zu korrupt, als dass wir je zu einer haltbaren Einsicht kommen könnten. Um nie zu irren, will er darum gar nicht erst mit dem Behaupten anfangen. Er kann für seine Zweifel selbstverständlich wiederum alle möglichen Gründe aufbieten, aber der entscheidende Punkt sind nicht die Gründe – die ja selber wiederum von zweifelhafter Natur sein müssten –, sondern das schlichte Faktum, dass er nicht das

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Harry G. Frankfurt: Bullshit, Frankfurt M. 2006.

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Seins-, Vernunft-, Sprach- und Selbstvertrauen aufbringen kann, ohne das Überzeugungsarbeit gar nicht erst beginnen kann.18 Unser erstes Fazit darum: Auf den Weg des Überzeugt-Werdens begeben kann sich nur, wer daran glaubt, dass die Wirklichkeit sich mit Hilfe unserer Vernunft erschließen lässt, und wer darauf vertraut, dass wir (wenn nicht allein, so doch gemeinsam) über die Kraft und die sprachlichen und methodischen Mittel verfügen, die Wirklichkeit tatsächlich auch erschließen zu können – immer vorausgesetzt, dass uns überhaupt etwas daran liegt, uns überzeugen zu lassen. Wo aber bleibt der Beweis, dass dieser Weg sich auch lohnt und wir auf ihm erfolgreich vorankommen könnten? Irgendwo im Unendlichen, wo keine Erfahrung je hinreicht.19 Kein Grund in der Welt kann uns darum dazu bewegen, dies alles zu glauben und zu wollen, es sei denn, wir würden uns – immer wieder neu – dazu überreden lassen. Doch auch mit dieser Fundamental-Überredung ist es nicht getan.

2.2. Wie sollen wir wissen, was wir meinen? Sehr bald ins Stocken gerät die Überzeugungsarbeit, sobald wir mit ihr ernst zu machen versuchen und das tun, was dafür erforderlich ist: uns unserer Vernunft zu bedienen. Vernunftgebrauch, so stellten wir fest, ist Regelgebrauch. Wer oder was aber sagt uns, ob wir unsere Regeln korrekt gebrauchen? Und wie sollen wir wissen, wie eine Regel zu gebrauchen ist in all jenen unendlich vielen Fällen, auf die wir sie nicht schon angewandt haben? Die Regel jedenfalls sagt es uns nicht, denn wenn wir sie nicht anzuwenden wissen, können wir auch nicht wissen, was uns die Regel sagt. Und eine neue Regel zur Anwendung der Regel hilft auch nichts, denn auch diese bedürfte, um anwendbar zu sein, einer weiteren Regel usw. ins Unendliche. Wir stecken hier mitten in dem Regelfolge-Problem des späten Wittgenstein, dessen Schwierigkeiten uns Saul Kripke eindringlich vor Augen geführt hat.20 Kripke bedient sich dabei der Figur eines Regelskeptikers, der als ein von außen hinzukommender Beobachter auf Grund der bisherigen Anwendung einer Regel herauszufinden ver18

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Auf diese Rolle des Vertrauens in der Philosophie hat Emil Angehrn in seiner Abschiedsvorlesung an der Universität Basel vom 13.12.2012 unter dem Titel „Vertrauen“ auf eindrückliche Weise hingewiesen. Nur wer sich, wie Hegel, am Ende der Geschichte glaubt, kann darauf hoffen, mit diesem Glauben an die Vernünftigkeit der Welt nicht nur beginnen, sondern ihn – durch „die Abhandlung der Weltgeschichte“ – auch als wahr erweisen zu können (vgl. G.W.F. Hegel: Die Vernunft in der Geschichte, Hamburg (5. Aufl.) 1955, S. 29). Saul, A. Kripke: Wittgenstein on Rules and Private Language, Oxford 1982 (dt. Wittgenstein über Regeln und Privatsprache. Eine elementare Darstellung, Frankfurt M. 1987).

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sucht, wie diese korrekterweise künftig anzuwenden ist. Der Regelskeptiker setzt bei dem Umstand an, dass wir immer nur mit einer endlichen Serie von Handlungen einer Person, einschließlich ihrer Sprechhandlungen, konfrontiert sind, dass aber jede endliche Serie unendlich vielen logischen Regeln genügt. Zur Veranschaulichung dient Kripke das Beispiel einer Person, die bisher nie über die Zahl 57 hinaus gerechnet hat. Auf Grund ihrer (endlichen) bisherigen Handlungen müsste angenommen werden, dass sie dabei der Regel der Addition gefolgt ist. Nun werden dieser Person die Zahlen 57 und 68 vorgelegt. Falls sie tatsächlich der Regel der Addition folgt, müsste die richtige Antwort 125 lauten. Denkbar wäre aber auch, dass die Person einer ganz andern Regel, nämlich der Regel der Quaddition gefolgt ist (mit dem ‚quus‘ statt ‚plus‘ zu lesenden Operationszeichen). Nach dieser Regel ist dann, wenn mindestens eine der beiden Zahlen 57 oder größer ist, die richtige Antwort immer 5. Das zu erwartende neue Resultat wäre darum – gemäß der Operation 57 quus 68 – 5. Das Problem, das sich hier stellt, lässt sich in zwei Unterprobleme unterteilen: 1. Das Infinitätsproblem: Wie ist es möglich, dass eine begrenzte Serie von Überzeugungen, Handlungen oder Beispielen nur eine anstatt unendlich viele Regeln zum Ausdruck bringt? 2. Das Normativitätsproblem: Wer oder was legt fest, welches die korrekte Weise ist, eine begrenzte Serie von Beispielen oder Handlungen so fortzusetzen, dass man von einer Person sagen kann, sie folge einer Regel und sie sei demzufolge auch im Stande, zwischen korrektem und inkorrektem Regelfolgen zu unterscheiden? Beide Probleme stellen in Frage, dass Personen überhaupt Überzeugungen mit einer bestimmten Bedeutung haben können: Wenn jede Serie von Überzeugungen einer Person mit unendlich vielen Regeln und damit mit unendlich vielen Begriffen im Einklang ist, dann haben diese Überzeugungen keine Bedeutung, und wenn jede Serie von Überzeugungen auf alle möglichen Weisen fortgesetzt werden kann, gibt es kein korrektes im Unterschied zu einem inkorrekten Regelfolgen und damit überhaupt kein Regelfolgen. Es stünden mithin überhaupt keine Begriffe zur Verfügung, mit deren Hilfe sich Überzeugungen bilden ließen. Kripke endet mit der skeptischen Bilanz, dass es weder innere noch äußere Anhaltspunkte geben kann, die das Problem des Regelfolgens lösen könnten. Ich kann nicht durch Erinnerung in Erfahrung bringen, welcher Regel ich folge oder zu folgen beabsichtige, denn alle mentalen Ereignisse sind ihrerseits endlich und darum selber wieder sowohl mit dem Infinitäts- wie mit dem Normativitätsproblem konfrontiert. Man kann aber auch nicht auf irgendwelche Verhaltensdispositionen zurückgreifen, da die Manifestationen dieser Dispositio-

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nen ebenfalls finit sind und der Rückschluss auf Dispositionen dieselben Probleme aufweist. Falls der Regelskeptizismus, wie bei Kripke, als letzte Auskunft hingenommen wird, müssen wir zu dem Eingeständnis kommen, dass unsere Überzeugungen im Grunde nie einen festen Halt haben. Dass dies nicht die letzte Antwort sein muss, zeigt sich jedoch, wenn wir darauf achten, wie diese Regelskepsis überhaupt zustande kommt. Der Regelskeptiker tritt als Beobachter auf den Plan, der von außen her zu verstehen versucht, wie sich die von ihm beobachteten Personen im Rahmen einer bestimmten sozialen Praxis verhalten. Ihm bleibt darum nichts anderes übrig, als Fakten festzustellen, Fakten von der Sorte, dass Personen dieser Sozietät in der beobachteten endlichen Zahl von Einzelfällen sich so und so verhalten haben. Doch alle diese Fakten zusammen, auch wenn wir sie vollständig kennen würden, sagen nichts darüber aus, wie sich die Personen in den unendlich vielen zukünftigen Fällen verhalten werden, und noch weniger, ob sie sich de facto auch korrekt, ihren Regeln gemäß verhalten haben. Ihr Verhalten ist wiederum im Prinzip durch unendlich viele Regeln erklärbar, und der Beobachter weiß nicht, welchen dieser Regeln sie folgen oder ob sie überhaupt irgendwelchen Regeln folgen. Ganz anders sieht es aus, wenn wir selber Teilnehmer einer solchen sozialen Praxis sind. Teilnehmer zu sein, heißt, sich selber an Regeln orientieren, die diese Praxis bestimmen, und sein eigenes Verhalten und das der anderen im Lichte dieser Regeln als korrekt oder inkorrekt beurteilen. Die Regeln, mit anderen Worten, haben für den Teilnehmenden präskriptive Kraft. Diese präskriptive Kraft, so haben wir bereits festgestellt, drückt sich darin aus, dass er mit einer Regel immer auch die mit ihr einhergehenden Rechte und Pflichten übernimmt. Dies aber geschieht immer im Rahmen der bestehenden sozialen Praxis – durch soziale Interaktion. Und soziale Interaktion – einhergehend mit der Selbstverpflichtung jedes Einzelnen – gewährleistet nun, was der Beobachter von außen nicht schafft: a) den Regeln die nötige Eindeutigkeit zu geben angesichts der unendlich vielen logisch möglichen Bedeutungen, die sie haben könnten, und b) die Unterscheidung zwischen korrektem und inkorrektem Regelfolgen zu ermöglichen. Wie aber soll dies möglich sein? Nicht anders als durch einen Prozess des sich wechselseitig Überredens, der sich etwa wie folgt rekonstruieren lässt: Angenommen – und dies dürfte kaum zu bestreiten sein – jede Person sei im Allgemeinen dazu disponiert, eine einmal begonnene begrenzte Serie von Beispielen oder Handlungen in einer bestimmten Weise fortzusetzen. Sofern dieses Tun im Rahmen einer sozialen Interaktion erfolgt, eines Dialogspiels zum Beispiel, werden die andern Personen auf die Handlungen der ersten Person reagieren, sei es mit Zustimmung, Duldung oder Ablehnung, je nach dem, ob diese Handlungen ihren Erwartungen entsprechen oder nicht. Diese

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Reaktionen können sich verbinden mit positiven oder negativen Sanktionen oder stellen selber schon Sanktionen dar. Durch die Sanktionen kommt ein externer Maßstab ins Spiel, der dem einzelnen die Unterscheidung zu machen erlaubt zwischen korrekten, das heißt zustimmungsfähigen, und inkorrekten, das heißt nicht-zustimmungsfähigen Handlungen. Dieser Maßstab gibt zugleich die Bedingungen vor, unter denen die interagierenden Personen miteinander übereinkommen können, wie eine Serie von Handlungen oder Beispielen fortgesetzt werden soll. Wo diese Übereinstimmung besteht, können die Sanktionen die Dispositionen der beteiligten Individuen nochmals verstärken. Falls keine Übereinstimmung besteht, lösen die weiteren Sanktionen einen Verhandlungs- und Abstimmungsprozess aus, der zu wechselseitiger Anpassung der Erwartungen und dadurch auch zu neuen Dispositionen führt. Je größer der Kooperationsdruck und die Notwendigkeit einer gemeinsamen Weltorientierung, desto eher wird dieser Prozess auf Konvergenz hin streben. Die Regel ist dann jene Handlungsfolge, in der die Bereitschaft von Personen, eine Serie von Beispielen oder Handlungen fortzusetzen, konvergiert. Dieser Prozess des sich gegenseitig auf die zu verwendenden Regeln Ausrichtens, der Voraussetzung ist für jede (regelgebundene) Überzeugungsarbeit, scheint in höchstem Masse kontingent, abhängig von den jeweiligen Interaktionspartnern und deren rhetorischen Potential. Mithin wäre auch jede Überzeugung, die sich unter diesen Bedingungen herausbildet, das von Rorty beschworene Produkt von Zeit und Zufall21 und ein entscheidender Beweis dafür, dass es letztlich nur Überredung gibt. Doch dies wäre ein Fehlschluss: Jede neue Festlegung auf eine Regel ist eine Festlegung mit entsprechender präskriptiver Kraft: mit ihr legen wir uns – als sich selbst verpflichtende Teilnehmer, die sich bereits haben überreden lassen, den Weg des Sich-gegenseitigÜberzeugens zu gehen – wiederum fest auf alles, was aus dieser Festlegung folgt: was sie uns an weiteren Schritten gebietet, was sie erlaubt und was sie an möglichen Schritten ausschließt.22 Die Kontrolle darüber, ob wir unsere Ver21 22

R. Rorty: Kontingenz, Ironie und Solidarität. Frankfurt M. 1989, S. 50. Dies ist die Pointe von Robert Brandoms Theorie des inferentiellen sozialen Holismus: den Inferentialismus zu verbinden mit einer solchen normativen Pragmatik. Die inferentiellen Beziehungen (Implikation, Induktion, Unvereinbarkeit) sind darum, gemäß Brandoms Vorschlag, in der Sprache einer normativen Pragmatik zu formulieren (vgl. Brandom, Robert, B.: Articulating Reasons. An Introduction to Inferentialism. Cambridge (Mass.) 2000 (dt. Begründen und Begreifen. Eine Einführung in den Inferentialismus. Frankfurt M. 2001), Kap. 3): 1. Festlegung (Commitment): Wer eine Überzeugung der Art P annimmt, legt sich darauf fest, auf entsprechende Anfrage hin eine Reihe weiterer Überzeugungen zu akzeptieren. Wer sich die Überzeugung zu eigen macht, dass die Tagung in Z stattfindet, hat sich auch darauf festgelegt, der Überzeugung zuzustimmen, dass Z existiert.

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pflichtungen tatsächlich erfüllen oder nicht, liegt zwar wiederum bei den andern. Und die Bereitschaft, uns dieser Kontrolle – d.h. dem zustimmenden oder ablehnenden Urteil der andern – zu unterwerfen, ist wiederum eine Frage des (wiederum nur durch Überredung zu schaffenden) Vertrauens in die Bereitschaft dieser andern, sich selbst auch an die eingegangenen Regelverpflichtungen zu halten. Dennoch hängt es nicht von der Billigung oder Missbilligung der andern und deren Sanktionen ab, ob eine Norm als erfüllt gelten kann oder nicht, denn auch Sanktionen sind etwas Normatives. Die Tatsache allein, dass eine Sanktion erfolgt, besagt darum noch nichts, auch eine Sanktion muss gerechtfertig sein: durch den Nachweis, dass es eine verdiente Sanktion ist – ein weiterer Anwendungsfall des allgemeinen Satzes, dass aus einem Faktum – hier das Faktum, dass eine Sanktion erfolgt ist – nichts Normatives folgen kann. Fazit: Ohne Überredung geht auch die Überzeugungsarbeit nicht voran, aber auf dieser zweiten Ebene ist alles Überreden letztlich gebunden an die sich etablierenden normativen Verpflichtungen. Es ist eine Form der Überredung, die dem Überzeugen nachzuhelfen hat – Überzeugensrhetorik, wenn man so will.

2. Berechtigung (Entitlement): Wer eine Überzeugung der Art P annimmt, ist dazu berechtigt, eine Reihe weiterer Überzeugungen zu hegen. Wer zum Beispiel der Überzeugung ist, dass Herr X zur Tagung eingeladen hat, ist auch berechtigt zu der weiteren Überzeugung, dass Herr X zur Tagung kommen wird. Wenn die letzte Überzeugung angegriffen wird, kann die erste Überzeugung als rechtfertigende Stütze dienen. 3. Verschlossene Berechtigung (Precluded Entitlement): Wer eine Überzeugung der Art P annimmt, verschließt sich zugleich die Berechtigung zu einer Reihe weiterer Überzeugungen. Wer zur Überzeugung gelangt ist, dass die Tagung in Z stattfindet, verschließt sich die Berechtigung zu der Überzeugung, dass die Tagung in Y stattfinden wird. Der Vorteil einer solchen Kombination von sozialem Holismus und Begründungsholismus ist offensichtlich der, dass die Kombination dieser beiden Holismen den Problemen zu begegnen vermag, denen der reine Begründungsholismus ausgesetzt ist: dem Problem der sozialen Kommunikation (wie es überhaupt zu übereinstimmender Bedeutung kommen kann) ebenso wie dem Regelfolgeproblem, das ja auch die Motivation abgibt für den Rekurs auf die soziale Praxis (vgl. dazu und insbesondere zu der oben angezogenen Begründung: Esfeld, Michael: Ein Argument für sozialen Holismus und Überzeugungs-Holismus. In: Zeitschrift für philosophische Forschung, Band 54 (2000), S. 387–407. Ders: Das Regelfolgen-Argument für die Komplementarität naturwissenschaftlichen und hermeneutischen Wissens. In: Prima philosophia, Band 13/1 (2000), S. 43–52).

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2.3. Wie kommen wir zu Argumenten? Die Entfaltung einer Überzeugensrhetorik wird voll und ganz wieder erforderlich auf einer dritten Ebene: Wir brauchen Argumente, um uns gegenseitig überzeugen zu können. Doch Argumente liegen nicht auf der Hand und nicht auf dem Tisch. Man muss sie erst finden.23 Um sie zu finden, muss man in die richtige Richtung blicken und am richtigen Ort suchen. Was aber kann uns in Bewegung setzen, wenn wir noch gar nicht wissen, wo zu suchen sich lohnt?24 Müsste hier nicht entsprechende Überredung nachhelfen, die kunstvolle Ermunterung, es vielleicht mal so statt anders zu versuchen? Das klassische Beispiel einer solchen Überredungskunst ist die von Aristoteles inaugurierte Topik, die uns helfen soll, die ersten Prinzipien der Einzelwissenschaften auszumachen und bei der Diskussion des Wahrscheinlichen (bei dem, was uns als wahr erscheint25) die Grundsätze zur kritischen Prüfung von Meinungen und gesetzten Zwecken zu finden.26 Die Topik nennt uns die Örter (topoi), aus denen man die Mittel (organa) zur Auffindung der dialektischen Schlüsse entnehmen kann. Der kritischen Prüfung dagegen – der eigentlichen Überzeugungsarbeit also – dienen dann nach Aristoteles dieselben Verfahren wie in den apodiktischen Wissenschaften: Syllogismus und Induktion.27 Was nun die Priorität hat – die Kunst des Suchens und Findens oder die Kunst der Prüfung des Gefundenen –, bleibt bei Aristoteles offen. Cicero dagegen ergreift klar Partei, indem er die ars inveniendi, die Kunst des Findens, der ars iudicandi, der Kunst des Urteilens, als die der Ordnung nach frühere und allein nützliche gegenüberstellt:28 Das Überzeugen mit Argumenten – die gedankliche Anstrengung, gemäß Ciceros Definition, einer zweifelhaften Sache Glaubwürdigkeit zu verschaffen29 –, hängt, so müssen wir daraus schließen, in der Luft, wenn nicht sehr viel Überredung vorweg geht. Allerdings ist ein nicht zu unterschätzender Haken dabei, der die Gewichte von der Überredung hin zum Überzeugen verschieben könnte: Ist denn die Kunst des Findens nicht auch 23

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Denn man muss, wie Sokrates sagt, findig sein im Ausspüren von Gründen, wenn man sich nicht überreden lassen will (Phaidon 63 a), und – vor allem wohl –, wenn man nicht zum „Redefeind“ werden will, dem es an Mut gebricht, die Rede fortzusetzen (89 d/e), der „so der Wahrheit und Erkenntnis der Dinge verlustig ginge“ (90 d). Diese Stellen, in denen Sokrates seine Dialogpartner zu ermutigen sucht, die ins Stocken geratene Untersuchung fortzusetzen, zeigen exemplarisch, wie viel Überredung es brauchen kann, um (wieder) in der Lage zu sein, sich überzeugen zu lassen. Ein Echo an Platons Menon (80 d): Man kann nicht suchen, wovon man nicht weiß, was es ist. Vgl. Hans Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie. Bonn 1960, S. 88–105 Arist. Top. I, 1.2 ebda. I, 4. Cic. Top. II, 6. ebda. II, 28.

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eine durch gerechtfertigte Überzeugungen geleitete und in Regeln ausdrückbare Kunst, wie dies zumindest die von Platon entwickelte analytische Methode nahe legt, die vom jeweils Gesuchten auf das Gegebene zurückzuschließen erlaubt und die darum über weite Strecken der Wissenschaftsgeschichte als die inventive Methode schlechthin gepriesen wurde? Diese Frage ist ein Motor der bis heute dauernden Debatte über die Möglichkeit einer inventiven Methode, die zu Beginn der Neuzeit zusätzlich an Brisanz gewinnt, als man nun nicht mehr länger in den überlieferten Wissensbeständen den Sitz der Argumente auszumachen versuchte, sondern – im Zeichen der Idee des wissenschaftlichen Fortschrittes – von der unendlichen Erweiterung der wissenschaftlichen Erkenntnis träumte.30 Die Geschichte der Antworten auf diese Frage ist höchst windungsreich: Sie reicht von der durch Bacon und die englischen Empiristen angetriebenen Hoffnung auf die inventive Kraft der richtig gefassten induktiven Methode über die These, dass sich inventive und demonstrative Verfahren nie voneinander trennen ließen bis hin zum Lobpreis des schöpferischen Geistes, des Genies und des Zufalls, verbunden mit der radikalen Absage an jegliche Kunst des Erfindens: „Eine Entdeckungs- oder Erfindungskunst“, so formuliert dies lapidar der Kantianer W. T. Krug, „die man Jemanden lehren könnte, giebt es nicht, weil das Entdecken und Erfinden Sache des Genies oder des Zufalls ist.“31 Fachwissenschaftler des 19. Jh. wie J. von Liebig oder C. Bernard haben diese Auffassung geteilt, am radikalsten äußert sich der von H. Bergson inspirierte E. Le Roy: „L’invention s’accomplit dans le nuageux, dans l’obscure, dans l’inintelligible, presque dans le contradictoire.“32 Aus der Sicht heutiger, durch Kuhn geprägter Wissenschaftstheorie beruhen alle diese Positionen auf einer falschen Voraussetzung: Die Unterscheidung zwischen iudikativem und inventivem Prozess mag sinnvoll sein im Rahmen dessen, was Kuhn normale Wissenschaft nennt, d.h. innerhalb einer etablierten wissenschaftlichen Tradition, die, auf das Paradigma einer Norm setzenden wissenschaftlichen Errungenschaft gestützt, die Regeln und Kriterien festlegt, mit deren Hilfe sich bestimmen lässt, wann ein wissenschaftliches „puzzle“ als gelöst betrachtet werden kann.33 In einer Phase des revolutionären Umbruchs oder einer vorwissenschaftlichen Phase jedoch, in denen die verschiedensten Theorien miteinander in Konkurrenz stehen und keine bereits etablierten Kriterien zur Verfügung stehen, ist die Wahl zwischen den konkurrierenden Theorien 30

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Vgl. dazu und zum Folgenden: A. Hügli: Art. „Inventio, Erfindung, Entdeckung“, in: HWPh Bd. IV, Sp. 552–574. W. T. Krug: Allgemeines Handwörterbuch der philosophischen Wissenschaften. 1827, S. 767. E. Le Roy: Sur la logique de l’invention. In: Révue de Métaphysique et de Morale 8 (1905) S. 196. T.S. Kuhn: Logic of Discovery or Psychology of Research?, in: I. Lakatos/M. Musgrave (ed.): Criticism and the Growth of Knowledge. Cambridge 1970, S. 1ff.,19.

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eher eine Frage der Rhetorik und der persönlichen Überzeugung als eines geregelten diskursiven Verfahrens. Das entscheidende rhetorische Moment liegt darin, dass die konkurrierenden Theorieansätze letztlich immer bestimmt sind durch die ihnen zugrunde liegenden Metaphern. Metaphern sind die Überredungsmittel par excellence, die sprunghaft einen Überzeugungswechsel einleiten und uns mit ihrer Suggestivkraft in Bewegung setzen können auf etwas Neues hin, ohne dass wir schon wissen, ob uns dieses Neue zu mehr Licht, zu neuen Erkenntnisse und neuen Perspektiven, oder bloß weiter ins Dunkle führen wird.34 Wo eine Metapher sich durchsetzt, wird das in ihr verkörperte konkrete Modell zu dem Paradigma der neu sich etablierenden Theorie, „which guides and restricts the theory’s articulation, excising and removing“.35 Nunmehr ist nicht nur die Überprüfung, sondern auch die Invention von „puzzle“-Lösungen weit eher ein logischer als ein psychologischer Prozess.36 Das Fazit darum einmal mehr und uneingeschränkt: Ohne Überredung kann Überzeugungsarbeit gar nicht erst beginnen.37

2.4. Wie gelangen wir in den „Raum der Gründe“ und aus dem „Raum der Gründe“ wieder heraus Der Hinweis auf die Metapher eröffnet zugleich den Blick auf eine vierte Dimension: Paradigmen für Gründe waren bisher Propositionen. Aber wenn wir mit unseren Begründungen nie aus dem propositionalen Bereich heraus kämen, blieben wir in permanenten Sprachspielen gefangen. Es braucht Eingänge und Ausgänge – von der Welt des Nicht-Proportionalen, von Poppers ersten Welt und zweiten Welt – hin zu der Welt der Propositionen und wieder aus ihr heraus. Ausgänge sind Handlungen, Eingänge alle jene Stellen, in denen nichtpropositionale Phänomene in Propositionen gefasst werden: innere und äußere Wahrnehmungen, Gefühle, Ahnungen, Stimmungen, Vor- und Unbewusstes und dergleichen mehr. Woher aber nehmen wir die Begründung dafür, dass 34

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Nach J. Habermas (Ach, Europa, Frankfurt M. 2008, S. 154) zeigt sich darin das „Janusgesicht der Rhetorik“: einerseits „die welterschliessende Kraft neuer Vokabulare“ andererseits „die einschränkende und manipulative Wirkung suggestiver und entflammender Metaphern“. So M. Mastermann, die als eine der ersten auf diese Rolle von Metaphern im Wissenschaftsprozess hingewiesen hat (vgl. The Nature of a Paradigm,. In: Lakatos/Musgrave (1970: S. 78)). Sie folgt dabei dem Analogie- und Modellbegriff wie er von verschiedensten Autoren im Anschluss an N. R. Campbell (Foundations of Science, (1920), New York 1957) herausgearbeitet worden ist. Vgl. T. S. Kuhn: The Structure of Scientific Revolutions. Chicago 21970, S. 9. Zur weiteren Entfaltung dieses Gedankens vgl. A. Hügli: Bilder oder Argumente – Bilder statt Argumente? In: K. Helmer/G. Herchert/S. Löwenstein (Hgg.): Bild, Bildung, Argumentation. Würzburg 2009, S. 15–39.

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diese Transformation von Propositionalem in Nicht-Propositionales und umgekehrt gelungen ist oder gelingen wird? An beiden Enden drohen Probleme: Ausgangsprobleme und Eingangsprobleme. Es gibt notorische Ausgangsprobleme. Man kann beste Gründe haben, um zu handeln, und dennoch folgt daraus nicht, dass wir auch entsprechend handeln. Aristoteles Lehre vom praktischen Schluss überspielt dieses Problem, indem es die Handlung selber zur Konklusion des entsprechenden Schlusses erklärt, gemäß dem Aristotelischen Beispiel: Alle Männer sollen marschieren, ich bin ein Mann, also marschiere ich.38 Wenn ich dann doch nicht marschiere, kann man diesen Defekt in der Logik des praktischen Schlusses suchen, dessen Gültigkeit in der Tat umstritten ist39 –, oder aber bei mir selbst, in einer Schwäche des Willens oder wie man diesen, von den Alten akrasia genannten Defekt auch immer bezeichnen mag. Doch wo immer wir das Übel suchen: Der für uns entscheidende Punkt ist, dass nur ein Sprung aus dem Raum der Gründe heraus uns zur Handlung bringt. Was aber kann uns zu einem solchen Sprung bewegen, wenn nicht – die entsprechende Überredung?40 Ein nicht weniger vertracktes Problem lauert bei den Eingängen. Was mir in nicht-propositionaler Form erscheint, ist immer ein Einzelnes, ein hier und jetzt gegebenes Phänomen. Wie weiß ich, welcher Regel (welchem Begriff) dieses Einzelne gehorcht – falls es überhaupt einer Regel gehorcht? Gefordert ist, kantisch gesprochen, die Urteilskraft, die bestimmende und die reflektierende, das zwischen (sinnlicher) Anschauung und (Regel bestimmtem) Verstand vermittelnde Vermögen, das uns vom Allgemeinen, der Regel, zum Partikularen führt und vom Partikularen zum Allgemeinen. Im ersten Fall, dem Fall, in dem wir schon über Begriffe und Regeln verfügen, sind wir konfrontiert mit dem schon angesprochenen Problem des Regelfolgens: Welche der unendlich vielen möglichen Fortsetzungen der Regel soll auf das hier und jetzt gegebene Phänomen Anwendung finden? Die Regel, so stellten wir fest, sagt es uns nicht, und das Phänomen, so zeigt sich uns hier, sagt es uns noch viel weniger.41 Das sprechendste Beispiel dafür sind alle 38 39

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Aristoteles, De motu anim.701 a ff. Zu diesen Schwierigkeiten mit dem praktischen Schluss vgl. A. Hügli: Art. „Schluss, praktischer“. In: HWPh Bd. 8, Sp. 1306–1312. Die Notwendigkeit des Sprungs ergibt sich insbesondere daraus, dass ich bei praktischen Schlüssen nie weiß, ob die Prämissenmenge (mit den Zielen, die ich verwirklicht sehen möchte) komplett ist. Jeder Schluss ist darum defeasible (durch jedes neu hinzukommende Ziel besiegbar). Der Akteur muss überzeugt sein, das Richtige zu tun, aber er muss es dann auch noch tun – indem er die Initiative ergreift. Nicht verwunderlich darum – da wir ja alle Handeln müssen –, dass Rhetorik ihr Feld vor allem dort gefunden hat, wo es darum geht, Menschen zum Handeln zu bewegen (vgl. Blumenberg (1981:S. 113)). Das ist die Krux des Referentialismus, die Quine uns vor Augen geführt hat mit seinem eindrücklichen Beispiel vom Linguisten, der sich von einem Eingeborenen die Referenz des Wor-

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naturgemäß vagen Begriffe. Zu diesen gehören die zu einem Sorites führenden Begriffe wie der berühmte Steinhaufen, der einen Haufen auch dann noch bildet, wenn man jeweils einen Stein weg nimmt, aber wohl keinen mehr, wenn nur noch ein Stein übrig bleibt; zu ihnen gehören aber auch die per se vagen Begriffe wie die Farbprädikate und insbesondere die grundlegenden moralischen, rechtlichen, ethischen usw. Begriffe, deren Anwendung im Einzelfall von besonderer Tragweite und darum immer strittig ist. Hier spricht nichts für sich selbst. Wir selber sind gefordert oder, genauer eben, das an uns, was Kant die Urteilskraft nennt: die Fähigkeit ein Urteil zu fällen, das uns mit den andern Diskursteilnehmern in Übereinstimmung bringen kann. Dies gilt noch stärker für die reflektierende Urteilskraft und ihre Aufgabe, zu dem gegebenen Phänomen den Begriff erst zu finden, der diesem gerecht wird. Wie widersprüchlich dieses Unterfangen per se schon ist, hat Hegel in seiner Phänomenologie des Geistes auf klassische Weise aufgezeigt. Wenn ich von dem unmittelbar gegebenen Einzelnen sage, dass es ein Allgemeines sei, das es mit unendlich vielen anderen Einzelnen teilt, dann sage ich gerade nicht, was dieses Einzelne selber ist. Es ist als solches schon nicht mehr, was es war, nicht mehr das Einzelne und nicht mehr das Unmittelbare, sondern ein durch die Mitteilung Vermitteltes.42 „Spricht die Seele, spricht ach! schon die Seele nicht mehr“, klagt Schiller.43 Dennoch bleibt der Zwang zu sagen, was ist: dass es eben dies und nichts anderes sei. Aber wie kommen wir ihm nach? Dies kann uns wiederum nur gelingen mit der nötigen Überredung, wir setzen auf den Gemeinsinn, appellieren an die Zustimmung der andern, und nehmen darum ihr potentielles Urteil in unser eigenes Urteil bereits auf.44 Und dieses Vertrauen darauf, dass wir uns finden können, beruht letztlich wiederum auf dem (nur durch Überredung erklärbaren) Vertrauen, dass wir etwas aufgreifen, was in der Welt schon da ist, dass das, was wir sagen – Rorty zum Trotz45 – nicht nur eine Erfindung ist, die kontingenterweise den Beifall anderer findet, sondern dem entspricht oder dem gerecht wird, was ist – ein in der Erschlossenheit des Seienden gründendes Entdecken also, wie Heidegger mit seiner Deutung der Wahrheit als aletheia uns nahe zu legen versucht.46

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tes „cavagai“ erklären lassen will (W. van O. Quine: Word and Object, Cambridge (Mass.) 1960, S. 51–53) G.W.F. Hegel: Phänomenologie des Geistes, hg. G. Lasson, Werke Bd. 5, 1952, S. 89–102. F. Schiller: Musenalmanach für das Jahr 1797, Nr. 84. National-Ausgabe, Bd. 18, S. 533. Erhellend zu diesem Zusammenhang zwischen Urteilskraft und Gemeinsinn sind Hannah Arendt’s Kant-Interpretationen in: Lectures on Kant’s Political Philosophy. (Chicago 1992, die in der These gipfeln: „One judges always as a member of a community, guided by one’s community sense, one’s sensus communis.“ (S.75). Rorty (1989: S. 14). So schon in Sein und Zeit, Tübingen 1927 (wo der mit „Unverborgenheit“ übersetzte Begriff der aletheia (S. 219) allerdings noch nicht terminologisch wird): Der primäre „Ort“ der Wahr-

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Fassen wir zusammen: Wir haben uns überzeugen lassen, wie unverzichtbar es für uns ist, zwischen überreden und überzeugen zu unterscheiden. Das Überzeugen im Überreden aufgehen zu lassen, ist keine Option. Aber zu meinen, wir kämen je ohne Überredung aus, ist ebenso wenig eine Option. Die aufgezeigten Sprünge in der Kette unserer Überzeugungen – und weitere ließen sich wohl unschwer finden – indizieren, dass wir nirgends hinkämen, wenn wir nicht immer wieder neu auf Überredung setzen würden: Überredung zum nötigen Seins-, Selbst-, Sozial- und Vernunftvertrauen, um überhaupt mit der Überzeugungsarbeit zu beginnen; gegenseitiges Überreden, um uns verständigen zu können über die unserem Vernunftgebrauch zugrunde liegenden Regeln; Metaphern, um Argumente zu finden, wenn wir auf neue Erkenntnisse aus sind, und das Ringen um Einstimmigkeit, um die risikoreichen Übergänge zu meistern vom nicht-propositionalen Bereich der Phänomene in den Raum der Gründe und aus ihm wieder heraus.

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Nichts entgeht der Rhetorik in der MenschenKommunikation Aspekte einer rhetorisch negativen Rhetorik im Vergleich zu Adornos sozialtheoretisch negativer Rhetorik Wenn man von der Philosophie aus zur Rhetorik spricht, dann ist das nicht ein Reden von einem ganz anderen Fach her. Denn schließlich ist die Rhetorik aus der Philosophie entstanden und bis zum 19. Jahrhundert innerhalb ihrer entwickelt worden, obwohl sich auch schon in der Antike Spezialisierung auf sie einrichtete, was durchs Mittelalter hindurch fortgesetzt wurde. Solche Spezialisierung verdankte sich ihrem Ursprung in der Sophistik, vielmehr in der Praxisseite der Sophistik. Die Sophistik hatte ihrer Motivation nach mit den Tendenzen zur Demokratie im Alten Griechenland zu tun. Wesen der Demokratie macht das Zustandekommen von Entscheidungen durch die Diskussionen Vieler in Volksversammlungen und deren Gremien aus bei Beschließen der Diskussionen durch Abstimmungen. So wurde bewusst, dass die Menschen ihre Gesellschaftsordnungen und deren Veränderungsprozesse, also ihre sich wandelnden Vergesellschaftungssysteme selber machen und in gesetzesformulierten Rechtsverfassungen von längeren oder kürzeren Dauern sich niederschlagen lassen. Wende zum Humanismus oder anthropologische Wende, das bedeutete ja die Sophistik bei den alten Griechen. Das die eine Seite. Wer aber beim Machen der menschlichen Verhältnisse mitmischen wollte, mitbestimmen inhaltlich über die bloße Abstimmung „Gefällt mir … Gefällt mir nicht …“ hinaus, der musste überzeugend und mitreißend wie hinreißend reden können in mehr oder weniger großen Versammlungen. Also erforderte sich Redekunst für das Formen und Umformen der menschlichen Verhältnisse unter sich demokratisierenden Bedingungen. Das die andere Seite der Sophistik. Trotz dieser Verdienste in den Grundlagen zum Humanismus und zur Demokratie erfreute sich dann die Sophistik eines üblen Nachrufs, der bis heute auf das Ansehen der Rhetorik abgefärbt hat. Sicher, da trat der Philosoph par excellence, Platon, auf, der, selber in seinen Grundlagen ein Sophist, wohl gerade darum die Sophistik furchtbar beschimpft hat, um die Herkünfte seines Denkens einschließlich des seines Sokrates ein wenig zu verschleiern und um so revolutionärer dazustehen, möchte man aus Erfahrenheit mit Intellektuellentraditionen heutzutage fast vermuten. Einer der Hauptangriffe zielte gerade auf die Rhetorikorientiertheit der Sophistik in der Perspektive des Gesichtspunkts, die schwächere Sache durch Redekunst und Redekraft zur stärkeren zu ma-

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chen, also ginge es gleichsam um Anstreben einer Überredungskunst, meinen die Gegner von Sophistik und Rhetorik seit Platon. Durchaus bis heute wird ganz besonders die deutsche Ideologie durchzogen von einem unterschwelligen Hass auf das Advokatorische, wodurch schon das Wort vom Advokaten eine Unwertatmosphäre mit sich zu führen scheint, die der Wortverdreherei, welchem Unwertklang bei diesem Fall ausnahmsweise eine Verdeutschung des lateinischen Worts zum Rechtsanwalt entgegensteuern sollte. Gewöhnlich haben ja Verdeutschungen das Gegenteilige an sich, nämlich noch mehr Vorurteilshaftigkeit aufzurühren, während das Wort Rechtsanwalt doch einfach unumgehbar an einen Rechtsfortschritt gemahnt. Sei es, wie dem wolle, auch der Parlamentarismus in seiner Hauptinstitution, dem Parlament, ist nirgendwo so verächtlich gemacht worden, wie in der deutschen Ideologie durch das Verdammungswort „Quatschbude“. Während die französische Herkunft des Worts von parler = reden entschieden die sophistischdemokratischen Ursprünge der Angelegenheit bei den alten Griechen erinnert mit dem Sachlichkeitswert im Wort Parlament. Es geht darin ja um Versammlungen, in denen für sinnvolle Entscheidungen geredet werden muss, statt dass sie solche des Auftrags zur Zerredung von Allem und Jedem wären. Sicher, der Hass der deutschen Ideologie auf das Sophistische, das Rhetorische, das Advokatorische entspringt den starken stark-antidemokratischen Intentionen dieser Ideologie. Wer Kompromiss und diskussionsgeschwängerte Entscheidungen für unklare und schwach-effiziente Leitlinien menschlicher Organisation hält, hat selbstverständlich keinen Sinn fürs Parlamentarische, besonders in dessen Widerstand gegen leichtfertige Beschleunigungen, vom Wesen her. Aber mit dem Bisherigen habe ich wohl unter Rhetorikforschern hier lauter Eulen nach Athen getragen. Doch ich brauche die genannten Gesichtspunkte, um zu klären, was ich unter negativer Rhetorik verstehe und warum, was ich darunter verstehe, heute so ein wichtiges Forschungsfeld wäre. Dazu greife ich auf, was unter meinen Zuhörern Alles geläufig ist. Denn ohne dagegen polemisieren zu wollen, im Gegenteil mit sonst voller Zustimmung, verstehe ich im an diesem Ort Diskutierten nicht unter negativer Rhetorik, was Theodor W. Adorno vortrug, die Transformation der Rhetorik in eine Redetechnologie und damit zu einer Überredungssprache in Abgehobenheit von den Redeinhalten, was ja den Künstlichkeitsgrad oder die Kunstfertigkeit des Redens eher zu steigern scheint (vgl. den Beitrag von Helmut Schanze in vorliegendem Buch), sondern in allererstem schlichten Ansatz einmal eine Redeweise mangelnder Beredsamkeit oder Unberedsamkeit, sofern sie absichtlich inszeniert wird. So ganz fern steht das nicht zum Adornoschen. Adorno ging es ja um den Anspruch auf besser gelingende Vermittlung des Wahren (ursprünglich positiver Sinn des Rhetorischen in der Sophistik), woraus ein Abkoppeln von der Wahrheit durch Verabsolutieren des Rhetorischen an sich selber hervorgegangen wäre. In meiner Sicht geht es um den Anspruch auf Schönheit der Rede (ihren Wohlklang) oder auf das Erhabene der Rede (ihr Mitreißendes wie Hinreißen-

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des) oder auf das Gefühlsübertragende der Rede (ihr Ängste, Befürchtungen, Entsetzen, Schrecken, aber auch Freude, Lust, Zärtlichkeit, Witz Vermittelndes) im sophistisch ursprünglichen Ansatz, wogegen sich eine Redeweise vorstellen lässt, die Wohlklang, Mitreißendes und Gefühliges unterlaufen möchte. Das zu klären fahre ich noch ein Weniges fort mit dem Hereintragen von Eulen nach Athen, indem ich weiterhin zurückgreife auf den Fachrhetorikern und auch allgemein Gebildeten Bekanntes aus der europäischen Geistesgeschichte. Während also in der Antike allein schon durch die politische Pragmatik der auch im späteren Kaiserreich der Römer und Oströmer nicht ganz aufgehobenen demokratischen Strukturen etwa in den Stadtorganisationen die Rhetorik in hohem Ansehen stand bei aller Skeptik ihr gegenüber und aller kritischen Auseinandersetzung mit ihr seit Platon, also nahezu seit ihren Ursprüngen, hat auch das spätantik sich ausbreitende und zur Staatsreligion erhobene Christentum an diesem Ansehen nichts geändert. Man denke daran, dass der spätantik bedeutendste Kirchenvater Augustin jahrelang Rhetorik gelehrt hat. Das Christentum benötigte die Rhetorik für seine Kernintention des Missionierens und dann des Vertiefens der Christlichkeit, eben für deren Realisieren als Lebenshaltung, stärker als Lebenspraxis. Allerdings wurde Rhetorik auch benötigt vom Christentum zur ständigen Selbstinterpretation seines Bezugs auf die Basis der Offenbarungstexte in Rede und Gegenrede, was eine andere Kernintention ausmachte. Aus dieser Kernintention entstand ja die Funktion der Predigt für den Ritus genau so wie aus der Missionsaufgabe. Gerade am Gegenzug dazu macht sich das deutlich. Im orthodoxen Christentum nämlich spielt die Predigt nahezu keine Rolle. Warum das? Einmal liegt das schon an der Orthodoxie, die als Orthodoxie eine ständige Umdeutung in der Selbstinterpretation durch hermeneutischen Bezug auf die Basis der Offenbarungstexte gegen Null treiben möchte. Denn Orthodoxie ist ja sehr wohl von Dogmatik zu unterscheiden, weil Dogmatik den Gewinn von Dogmen meint aus selbstinterpretativen Diskussionen einer Lehre mit Textbasis, auch wenn sie, die gewonnenen Dogmen, nach ihrem Gewinn eine Phase lang gelten wie das Orthodoxe. Das Orthodoxe aber original hält viel längere Phasen fest für seine Grundsätze, nämlich behauptet-angenommen bis zurück auf die fernsten, frühesten Herkünfte, es dürfte da nichts Anderes gegeben haben, solange die Lehre währt. Der andere Grund für die minimale Bedeutung der Predigt in der Orthodoxie des Christentums hat wohl zu tun mit dem Umstand, dass die Orthodoxie als griechische Orthodoxie sich bildete in den Kerngebieten des Christentums und das dann schließlich seit Konstantin als Staatsreligion. Das heißt, der Staat legte dem Institutionalisieren des Christentums die materielle Basis hin. Solches galt selbstverständlich ebenso für den Westen Europas bis nach Schottland, solange das römische Imperium bestand. Dann aber wurden die Bedingungen für das westliche Christentum völlig verändert. Zunächst verwandelten sich mit der Völkerwanderung der gesamte Westen Europas und der Norden

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des Balkans in eine Reihe von heidnisch geführten Staaten, wenn man die diversen Machtbereiche auf der politischen Landkarte damaliger Zeiten schon als solche bezeichnen will. Oder die in solchen Machtbereichen die Führung übernommen habenden Völkerschaften hingen einem vom offiziellen Christentum des römischen Imperiums zur Ketzerei erklärten Christentum an, dem des Arianismus. Auch als arianische Christen hatten die neuen Machthaber nicht das geringste Interesse daran, der Institution des Christentums im Sinn der römisch-katholischen Kirche, wie sie sich eben von Rom her – Rom bisher nur eines der Patriarchate des gesamt-römischen Imperiums von Ost nach West – anzudeuten begann, staatlich die materielle Basis zu bieten. Dem von Rom her sich bildenden westlichen Christentum fehlte also die staatliche Ressourcenbasis des Ostens. Die Institution war voll auf die Opferbereitschaft aller ihrer Mitglieder angewiesen, um sich als Institution realisieren zu können. Dem diente die Konzentration des Glaubenssinns auf die Sündenbefreiung, die Entsühnung, den Sündenerlass durch die guten Werke, zu denen besonders die Stiftungen an die Kirche gehörten. Und darum auch war Augustin der herausragende Kirchenvater, weil er die Entsühnung von sich selber her (Confessiones) zum Hauptproblem des Christen machte. Dass er wiederum in weiteren Schritten seiner Hermeneutik schließlich alle Entsühnung auf reine Gnade zurückführte, was die guten Werke erübrigen würde, wurde weginterpretiert oder unterschlagen oder gutwillig überlesen. Erst Martin Luther hat das neuerlich in einem seiner Hauptschläge gegen den römischen Katholizismus aus dem Augustin hervorgeholt, um die Materialisierung der Kirche durch den Sünden-Ablass auszuschalten. Daran verdeutlicht sich gerade das Gewicht des Sündenproblems bis zu dem lustigen Umstand, dass sich noch heute unter den Schätzen des Vatikans eine Portion Walrosszähne befindet, Kirchensteuer von den Wikingern aus Grönland. So weit reichte also die Peitsche der Höllenstrafen. Während die Ost-Orthodoxie, vom Staat getragen und versorgt und materiell auf den Sündenerlass nicht angewiesen also, das Zentrum des Christenglaubens auf das Vorahnen der Erlöstheit durch Christi Opfertod verlegen konnte. Der Unterschied führte zu Ritualitätsdifferenzen. Und schließlich waren es ja insbesondere Ritualitätsdifferenzen, die griechische Orthodoxie und römischen Katholizismus vor nun ungefähr tausend Jahren endgültig auseinander trieben, so sehr sie längstens vorher schon sich besondert hatten. Die römische Katholizität stand allein vor dem Problem, direkt von der Haustür seiner Zentrale Rom aus, höchstens unterstützt von den Resten der Christlichkeit auf Irland, in die große zweite Missionierung West-, Mittel- und Nordeuropas gehen zu müssen. Dagegen die griechische Orthodoxie, gebildet in einem jahrhundertealten Riesengebiet der Christlichkeit rund ums östliche Mittelmeer, hatte Mission nur noch zunächst als Problem in fernen Grenzen anliegen. Daran änderte auch der vordringende Islam eigentlich nichts. Gegen ihn hatte Mission keine Chance. Höchstens gab es einen Konkurrenzlauf etwa in den kaukasischen Gebie-

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ten, an dem ja sogar die römische Katholizität, missionserfahren und von ganz anderem Missionsdrang eben, teilnahm. Sicher so, die griechische Orthodoxie hatte an ihren Grenzen also ebenfalls Mission auf dem Balkan und im Gegenüber am Schwarzen Meer, bis nach Russland und in die Kaukasusgegenden. Aber sie suchte gerade durch ihre ästhetisch hoch geladene, berauschende Ritualität zu gewinnen. Was als Motiv für die Entscheidung zur Orthodoxie statt zum römischen Katholizismus von russischen Großfürsten her überliefert wurde. Während der Katholizismus, ohne auf Ritualität im mindesten zu verzichten, doch entscheidend auf das überzeugende Predigen setzte. Man mied ja auch in ihm, dem Katholizismus, die Extreme des Bilderglaubens. Wegen des Entscheidenden der Predigt blieb mittelalterlich in West-, Mittel-, Nordeuropa die Rhetorik in Ansehen und galt oft genug für wichtiger als das Ästhetische der Riten. Schließlich behauptete sie sich neben Grammatik, Logik, Arithmetik, Geometrie, Musik, Astronomie als eines der Fächer im Grundstudium der sieben freien Künste zu Zeiten, wo im Namen der Theologie die Universitäten zu entstehen begannen. In all den protestantischen Reformationsbewegungen steigerte sich noch die Rolle der Predigt gegenüber dem Feiern der Riten. Denn nun ging es ja um eine dritte riesige Missionswelle parallel zur sich globalisierenden Mission für Christlichkeit aller Richtungen überhaupt im Kolonialisierungszeitalter. Über die Missionierung hinaus hatte dazu der Protestantismus besonders zu tun mit Überzeugungsstrategien für neue Auslegungen alter Offenbarungstexte. Obwohl es selbstverständlich immer eine Funktion der Predigt war, uralte Texte der Geheiligtheit anzupassen an ständig sich verändernde Aktualitäten. Allerdings konnte, so lehrte uns schon Ernst Cassirer in seiner Auseinandersetzung mit der Mythologie, diese Funktion auch umgekehrt werden zu einer Anpassung der Aktualitäten an die uralten geheiligten Texte, was wohl katholisch stärker, aber auch protestantisch besonders in der Sektiererei und im Evangelikalen bis heute statthat. Immerhin, in einem Gesamtblick kann man sagen, dass auch die protestantischen Bewegungen über die Predigtfunktion noch voller Respekt waren vor dem Rhetorischen. Die Verachtung des Rhetorischen begann erst mit der europäischneuzeitlichen Aufklärung. Sie sprach ja nun per Ringen um die Wissenschaftlichkeit im Namen einer Wahrheit, die alles an Offenbarung und an Visionärem ablehnte. Nur was vor Sinnen lag und das logische Denken blieben noch Instanzen des Entscheidens über Wahrheit und Unwahrheit. Alles Andere wurde zu Täuschungsschleiern erklärt, wenn nicht aus Dummheit, so aus bösen Absichten, politisch wie wirtschaftlich, Macht und Profit, oder schlicht nur aus primitiver Unwissenheit oder besser Allem zusammen. Und so viele Irrtümer und interessiert konstruierte hochkomplexe Täuschungssysteme verdankten sich der hohen Vieldeutigkeit, also auch hohen Missdeutbarkeit, ableitbar aus Sprachtechniken und deren Eingewöhntheiten. Man denke an die IdolenKritik des Francis Bacon, an die Sprachkritik durch Thomas Hobbes und John

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Locke als den besonders großen und hoch wirksamen Tönen der Aufklärung. Das hätte noch bis zu dem Bild gehen können fürs theologisch Vorangegangene, dem die Wolken viel aufregender faszinierende, mitreißende, beteiligende Formationen zeigen als der einheitliche blaue Himmel des bekannt schönen Wetters. Aber, so die Aufklärung dagegen, man habe die Langeweile des einheitlich blauen Himmels dem unterhaltsam spannenden Wolkengetümmel vorzuziehen. Französische Aufklärer vollzogen den darin angesetzten Aufklärungsprozess etwas anders. Es ging ihnen, wohl aus Wertgefühl für Sprache, nicht so sehr um direkte Sprachkritik, sondern eher um einen Fortgang von der Rhetorik zur Ästhetik1. So die deutschen Aufklärer, diesesfalls wohl aus Respekt vor dem Respekt des Protestantischen gegenüber der Rhetorik, mit dem Höhepunkt der Ästhetik des Immanuel Kant. Auf dem Weg von der Rhetorik weg blieb doch das Vergnügen am oder der Zuspruch zu dem Schönsprachlichen, dem sprachlich Schönen und dem Erhabensprachlichen, sprachlich Erhabenen als kultureller Wert erhalten, ohne aber weiterhin das Wahrheitskriterium zu kränken oder vom Wahrheitskriterium belastet und eingeengt zu sein. Man war dann eben im abgehängten, spezialisierten Bereich der Literatur, der Kunst, der Fiktion, wo andere Kriterien gelten als die der Wahrheit und der Wirklichkeit, auch wenn Menschen dieser Bereich viel wichtiger wurde als der von Wirklichkeit und Wahrheit, in Wissenschaftlichkeit getaucht. Der genannte Prozess von der Rhetorik zur Ästhetik entspricht damit auch bestens der von Jürgen Habermas herausgestellten Ausdifferenzierung der Disziplinen im Kulturellen Euro-Amerikas seit dem 18. Jahrhundert im Entsprechensvorgang zur immer raffinierter werdenden Arbeitsteilung innerhalb der üblichen menschlichen Arbeit. An dieser Stelle muss man allerdings fürs Deutsche Ausnahmezüge zum Prozess aus der Rhetorik zur Ästhetik am Rande notieren. Da war einmal Leibniz, der im Sinn der Engländer zu einer Sprachkritik neigte in der Intention auf eine einheitliche Wissenschaftssprache, was immer etwas an die biblisch-adamitische Sprache vor der babylonischen Sprachverwirrung gemahnt. Schließlich hier im Buch vertritt ja Jürgen Trabant eine Art von durchgängiger Sprachfeindschaft in der die europäischamerikanische Geistesgeschichte durchziehenden Idee einer Sprachreinigung und damit Konstruktion einer Kunstsprache unterm Wahrheitskriterium, so dass gerade die meisten Sprachphilosophen, ob Wittgenstein und die analytische Sprachphilosophie der Engländer oder Gottlob Frege oder Francis Bacon, Thomas Hobbes, John Locke, zu Sprachfeinden werden. Ja, noch in etwas anderer Wendung, entdeckt Trabant gar in Dante Sprachfeindschaft, insofern der eine alle Volkssprachen, Dialekte oder Institutionalsprachen, wie das Lateinische, in ihrer unbewussten oder absichtlich verfügten 1

Vgl. Gérard Raulet, Hg., Von der Rhetorik zur Ästhetik, Centre des recherche Philia, Paris 1995.

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Veränderlichkeit überwindende und überdauernde Kunstsprache ersehnte für die Kunstliteratur, damit Kunstliterarisches nicht beschränkt bleibe auf Regionen und Zeitphasen. Eine Sehnsucht, füge ich hinzu, die heute sich wieder regt etwa in Peter Greenaways Unternehmen, mit hundert Dingen, die man in eine Weltraumkapsel verstauen könnte, eine Weltstadt zu repräsentieren, etwa Rotterdam oder Wien. Um so anderen Wesen im Weltall einen Verständniszugang in Spuren zu dem Kulturunternehmen Weltstadt auf Erden zuzusenden bis in alle Ewigkeit. Beende ich diesen Exkurs hier und steige in den anderen einer Ausnahme zum Prozess von der Rhetorik zur Ästhetik. So ist es dann bemerkenswert, dass gerade Denker, die ihre Sprachform aufs Angestrengteste dem Wahrheitskriterium unterwarfen, wunderschöne oder ergreifende und aufregende Wendungen höchster Rhetorik für das Ihre entwickelten. Man denke an Kants Verdikt über Platon, Platon, das sei die Taube, die, weil sie so elegant und gewandt in den Lüften fliege, darum sich einbilde, wie viel eleganter und gewandter sie flöge im luftleeren Raum. Oder Hegels Spruch zur Gedankenatmosphäre seiner Zeit, an diesem, woran dem Geist genüge, sei die Größe seines Verlustes zu ermessen. Oder: die Eule der Minerva flöge nur in der Dämmerung. Oder sein Beschluss der „Phänomenologie des Geistes“, und aus der Quelle dieses Geisterreiches schäume ihm (dem Weltgeist, Hf. B.S.) seine Unendlichkeit. Nun könnte man mir einwenden, weil Rhetorik sich immer auf lebendige Rede bezöge und wir von Kant und Hegel keine akustischen Aufzeichnungen hätten, hätte das nichts mit Rhetorik zu tun. Aber im Lautschriftlichen sind alle Texte nur Partituren zum lebendigen Vortragen im Vorlesen. Beim Lesen tragen wir in unserem Inneren uns vor. Das hat sich nur so routiniert, dass wir den kleinen Zwischenschritt vom Erfassen der Lautkomplexe zum Erfassen der Wörter nicht mehr spüren. Also liegt in allem Schriftlichen der Zugang zu möglicher rhetorischer Realisierung. Ende der kleinen Exkurse. Wenn ich nun gerade im Deutschen Ausnahmen zu internationalen Tendenzen notierte, so gilt das ganz besonders für das angerissene Hauptthema, das Entstehen eines Ablehnens von Rhetorik aus dem Geist der Aufklärung und im Namen von Wahrheitsanspruch wie Wissenschaftlichkeit. Bei den Deutschen schlug in Sachen der Antirhetorik sofort die Dialektik der Aufklärung zu und die Antirhetorik verband sich, wie schon angezeigt, bei ihnen mit dem Abweisen der Demokratie, der Rhetorik ja ihren Ursprung verdankte in der Antike. Das verspürten Deutsche genau und man konnte sich Antirhetorik besonders aus seinem Platon hervorlesen und heranziehen, so die Advokatenverabscheuung und die Ansicht von den Parlamenten als Quatschbuden. Auch mit dem Widerwillen gegen das Advokatorische traf man ja eine Wesens-Säule des der Demokratie entsprechenden gewaltenteiligen Rechtsstaats. Solches kochte sich an schon im 19. Jahrhundert und wurde nicht erst von den Nazis in die Welt der Deutschen gebracht, es war dort vielmehr schon Element. Das zusammen allerdings mit dem scheinbar widersprechenden Zug zu dem Pendant oder

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besser der Medaillen-Rückseite einer wachsenden Neigung zu hochtrabender Schand-Rhetorik, besonders bis in die deutsche Gymnasialrede hinein. Gewiss hat dabei auch viel der Nietzscheanismus mitgeholfen, weniger Nietzsche selber, der seinen überhöhenden, aufladenden, die Sprache überfordernden Sprachton weithin auf kulturtheoretische Felder begrenzte. Indem die Schandrhetorik bei den Nazis zur Propagandatechnik für Massenmord geworden war nach Vorlagen von Wilhelm II, hatte selbstverständlich die Antirhetorik jeden Anspruch auf Räumungs- wie Reinigungsarbeit in der deutschen Ideologie verloren. Insofern habe ich sehr wohl verstanden und gegen mich selber befürwortet, worunter ich in Studienzeiten der sechziger Jahre vorigen Jahrhunderts an bundesrepublikanischer Universität litt, nämlich dass Antirhetorik zum Wesensmerkmal der Wissenschaftlichkeit gemacht worden war, nicht zuletzt im Interesse eines Entnazifizierens. Schon im Beschluss der Schule hatte ich in Sachen Entscheidung für die zu studierenden Fächer gegen meine Eingestelltheit votiert, indem ich in die Naturwissenschaften ging. Von der Schule her brachte ich nämlich die Einsicht mit, dass man in geisteswissenschaftlichen Fächern besten Falls nur überzeugen könne, während in den Naturwissenschaften, da habe man es mit ordentlicher Beweisarbeit zu tun, das zog ich vor. Bis mir langsam die Einsicht kam, einerseits zu den Grenzen der Beweisbarkeit in den Naturwissenschaften, andererseits zu den hohen Graden an Vorsicht ideologiekritischer Art in den hermeneutischen Verfahren der Geisteswissenschaften, gestützt selbstverständlich auf ein ständiges Kontrollieren durch Methoden des Quellen-Positivismus, der in Überprüfungsinstanzen seine begrenzte, aber auch selber begrenzende Berechtigung hat, so dass mir Überzeugung auszureichen begann. Einem Engagement für Mut der Hermeneutik über Quellenpositivismus als angeblich genuin wissenschaftlichem Gelände hinaus musste allerdings eine Atmosphäre, gemäß der sprachliche Unbeholfenheit wie Holperigkeit in Rede und Schreibe als Kriterium der Wissenschaftlichkeit galt, sehr störend vorkommen und langweilend, Neugier und Lust aufs Neue erstickend. Bei aller Zustimmung zum eventuell gemeint Entnazifizierenden darin. Zum Glück hatte allerdings das Tübingen der sechziger Jahre noch alte Koryphäen, die sich ihre Rhetorik nicht vom Geist der gekommenen Wissenschaftlichkeit abmarkten ließen, wie etwa Ernst Bloch, Walter Schulz, Walter Jens, auch Otto Friedrich Bollnow denn doch trotz seiner betulichen Gefährlichkeit. Weiter eröffnete sich wachsend die Einsicht, dass Antirhetorik der Wissenschaftlichkeit keineswegs ein verlässliches Kriterium entnazifizierter Einstellung war. Es war ja eine unerhörte ideologiekritische Vereinfachung in der BRD am Werk, die Nazi-Einstellung mit dem Irrationalitätsetikett zu versehen, demgegenüber alles Rationale schon an sich selber im Widerstand zum Nazitum stünde. Da hatten gerade Max Horkheimer und Theodor W. Adorno durch die Dialektik der Aufklärung klargemacht, dass im Nazitum eben viele Aufklärungsintentionen per dialektischem Umschlag in die weiteste Industrialisierung

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der Inhumanität zu ihren welthistorischen Spitzen wie Gipfeln zusammengeschossen seien. Dem ordnet sich in Medaillenrückseite zu, dass viele in der Wolle braune „Gelehrte“ meiner Studienzeit sich der Antirhetorik als Wissenschaftskennzeichen bedienten, um sich zu tarnen innerhalb eines bornierend vereinfachten Schemas aus Ideologiekritik, nach dem alles wissenschaftlich-Rationale per se antinazistisch, antifaschistisch sei. Es ging ja damals die Rede um von der gefährlichen Halbwissenschaftlichkeit der Nazi-Ideologie, vor welcher Rede in voreilig versimpelnder Anwendungsweise eben Adornos und Horkheimers Konzept einer Dialektik der Aufklärung warnen wollte. Aber ob man nun die Antirhetorik im Namen der Wissenschaftlichkeit so oder so nimmt, in ihrer gleichsam ehrlichen Form gegen die Phraseologie der Nazi-Schandrhetorik oder in ihrer gleichsam unehrlichen Weise einer Camouflage für diejenigen, die sich von ihrer Verantwortung für verbrecherische Vergangenheit lösen wollten oder gar nur unverfolgt überwintern in ihrer Sicht, bis der Frühling des staatsorganisierten Massenverbrechens wieder anginge. Es zeigt sich in beidem, dass mit der Antirhetorik oder Nichtrhetorik wesentliche Bedeutungen, für die Vergesellschaftung wesentlich, über das unmittelbar Gesagte hinaus vermittelt werden. Bedeutungen von Werten wie Ehrlichkeit, Offenheit, Toleranz, Bemühen um Gleichheit in der Diskussion, Phrasenlosigkeit, demnach Annäherung an Wahrhaftigkeit und dieses Sinns Authentizität, ob diese Werte nun engagiert geteilt oder nur zum Schein vorgezeigt werden sollen, als wären sie vorhanden. Die Rede hat durch ihre bloße Redestruktur also auch in der Antirhetorik oder Nichtrhetorik ein Bedeutungsbeifeld, das allein von der Redeform her mittransportiert wird. Dieses Bedeutungsfeld machen die Motive nichtrhetorischer Vortragsweise an sich selber aus. Folglich liegt aber eben nicht keine Rhetorik vor, sondern eine andere Rhetorik der umgekehrten oder ganz anderen Werte, vom Standpunkt der klassischen Rhetorik aus meint das eine schlechte Rhetorik. Kein Sprechen kann der Rhetorik entgehen. Das ist so, wie mit der Form in einer Welt, die von Endlichkeit durchwaltet ist und das Unendliche nach Giordano Bruno und Hegel nur als die unendliche Folge des Endlichen aufeinander in allen Dimensionierungen kennt, im Menschen allerdings, was das Unendliche anbetrifft, bloß als Ahnung. Eine solche Welt kennt keine Formlosigkeit. Jede Formzerstörung führt schlagartig momentan zu neuer Form. Die neue Form mag, nach welchen Kriterien auch immer, viel schlechter sein als die gehabte, darum ist sie doch Form. Auch unhaltbare Zustände sind durchformt, wie kurzphasig die Formexistenz dabei sein mag. Dem vergleichbar entgeht nichts im menschlichen Sprechen der Rhetorik. Ja, wenn wir den Sprachbegriff erweitern auf die Körpersprachen hin, die Gestikulation, die Mimik, dann entgeht nichts der Rhetorik in aller menschlichen Kommunikation. Nun hat es auf die Antirhetorik-Ideologie jener Studienzeiten der 60er Jahre in Deutschland ohnehin eine Erwiderung durch Rehabilitation der Rhetorik während der 60er Jahre selber gegeben. Bisweilen wird diese auf postmoderne

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Einflüsse zurückgeführt. Wenn man allerdings die Postmoderne erst ab ihrer Diskussion datiert, das wären die späten 70er, frühen 80er Jahre in Deutschland, dann hätte ohnehin Helmut Schanze ganz recht, wenn er solchen Einfluss ausschließt, weil alles Rehabilitative mit der Rhetorik viel früher anlag. Aber Theoretiker wie Andreas Huyssen datieren die Postmoderne von spezifischen kulturellen und insbesondere künstlerischen Phänomenen her in internationaler Perspektive. Und dann ist sie um Einiges früher gestartet. Für Huyssen etwa mit der Pop Art oder gar literarisch mit Salinger und Kerouac, malerisch mit Barnett Newman und Mark Rothko zuvor wegen deren Abwendung vom Rationalismus in der streng verstanden Konkreten Kunst sowie in dem Kritischen Realismus der Kunst2. Oder gar der italienische Architekt und Architekturtheoretiker Paolo Portoghesi leitet für Europa die Postmoderne zu Italiens Multistilistik der Künste, gespannt vom Akademismus bis zum Futurismus, in den 50er Jahren zurück (vgl. Ausklang der modernen Architektur, Zürich 1983). Dann käme das zeitlich mit Einflüssen auf die deutsche Rehabilitation der Rhetorik hin. Aber ich stimme da eher Schanze zu, besonders, wo mir die wachsende Frankreich-Orientierung der deutschen Intellektualität für die Frage so wichtig erscheint. Und die hatte in ihren Anfängen noch nichts mit dem Postmodernismus zu tun, stand noch im „Projekt der Moderne“. Das wurde erst anders durch die Umorientierungen der Franzosen. So bleibt entscheidender, dass sich die Franzosen nicht ihren Essayismus haben abmarkten lassen von der Wissenschaftlichkeits-Ideologie. Und Solches wie auch der ununterdrückbare Hang zur Rhetorik bei den Franzosen begann auf die Deutschen abzufärben, zum Glück, meine ich. Allerdings ermöglicht umfassend weite Sicht der Postmoderne doch auch, ohne dass das ein Unglück wäre, beides, Rehabilitation des Essayismus und die der Rhetorik auf Hintergründen einsetzender Postmoderne zu sehen. Denn es geht mir hier nur um die geistigen Atmosphären einer Zeit, nicht um die Urheberschaften. Diese, die Urheberschaften, hat etwa fürs Deutsche insbesondere Schanze vorgetragen. Die also mit Vorangegangenem angerissene Rehabilitation der Rhetorik in Deutschland galt freilich den klassischen Ansichten von Rhetorik. Während im vorliegenden Text verfolgt wird, dass eine Antirhetorik als Ausschalten der Rhetorik, als Unrhetorik gar nicht möglich oder denkbar ist. Schließen wir an und wiederholen für den Weitergang des Überlegens: Es gibt demnach im strengen Sinn keine Antirhetorik oder Nichtrhetorik, sondern allenfalls, von den Kriterien der geltend klassischen Rhetorik aus beurteilt, schlechte Rhetorik. Das nenne ich hier, trotz Adornos anderer Besetzung des Begriffs, einmal negative Rhetorik. Denn auch mit dem Begriff der schlechten Rhetorik ist es nicht soweit her. Immerhin hat zu den Zentralwerten der Rhetorik stets auch 2

Vgl. Andreas Huyssen/Klaus Scherpe, Postmoderne. Zeichen eines Kulturellen Wandels, Reinbek bei Hamburg 1986.

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das Wirkungskriterium gehört. Die Wirkung auf das Publikum, das macht die gewisse Pragmatizität dieses Wertgebiets aus. Ginge es nur um schöne oder erhabene oder packend-erregende Sprechweise der Rede, wäre der Übergang von der Rhetorik zur Ästhetik schon überschritten. Wenn nun im wissenschaftlichen Vortrag die Unbeholfenheit des Sprechens tatsächlich im Eindruck der Hörer die oben angezeigten Werte vermittelt, dann wäre das in Hinsicht auf das rhetorische Wertkriterium der Wirkung gar keine schlechte Rhetorik. Umgekehrt kann ja der gesamte reine Redeschein dieser per unbeholfener Sprache vermittelten Wertbedeutungen auftreten. Wobei wir dann auch mit dem, was ich hier erst einmal negative Rhetorik nannte, bei Adornos negativer Rhetorik angelangt wären. Man befindet sich also in einem schwierigen Begriffsgelände, dass ich nur durch Begriffsdifferenzierungen zu klären vermag, weil ich mit dem, was ich meine, mich nicht auf den Begriff der schlechten Rhetorik zurückziehen möchte aus angegebenem Grund und weil man sich dann also der klassisch ästhetischen Wende der Rhetorik angeschlossen hätte. Ich spreche deswegen in Sachen dessen, was ich hier bisher unter negativer Rhetorik vertreten habe, von einer rhetorisch negativen Rhetorik und nenne, was Adorno unter negativer Rhetorik behandelte, die sozialtheoretisch negative Rhetorik. Wobei schließlich, ich habe auf Falltypen hingewiesen, das von mir als rhetorisch negative Rhetorik Umrissene eingesetzt werden kann im Sinn von Adornos sozialtheoretisch negativer Rhetorik, nämlich als sprachliches Vorgaukeln von Ehrlichkeit, Sachlichkeit, Unverblümtheit, Verzicht auf Überredenwollen usw. bis zur Authentizität des Typs der Glanzlosigkeit. Man freut sich nicht über Begriffs- wie Wort-Logeleien, besonders aus der Erfahrung, dass eingefahrene Wortwendungen durch sie am wenigsten rückgängig gemacht werden können, selbst wenn diese Wortwendungen voller Unfug stecken, man denke an die Begriffsgeschicke der „Postmoderne“. Aber während hier nun rhetorisch negative Rhetorik skizziert wurde aus den Hintergründen einer gegen die Nazis gerichteten Antirhetorik, die, weil sie, so die Argumentation, eine Rhetorik blieb und daher in den Charakter der negativen Rhetorik Adornoscher Sicht, also der sozialtheoretischen, sich transformieren konnte, auch Tarntechnik für Nazis zu bieten vermochte, beginnt sich mit den neuen Medien weites Feld eines Rückgangs wie Abgangs von Einstellungen der klassischer Rhetorik aufzutun und auszudehnen. Oder anders ausgedrückt: die Felder rhetorisch negativer Rhetorik wuchern. Daher ist jenseits der Begriffs- wie Wort-Logeleien der angesteuerte Sachverhalt so diskussionswichtig, so diskussionswert. Man denke an Marshall McLuhans Einsichten, die er schon aus dem Televisionsprozess gewann, das allerdings mit dem Voreiligkeitsmakel eines Utopisierens von Gegenkanal in der Television. Sehr viel früher hatte ja auch Bertolt Brecht bei Entstehen des Rundfunks ihn sofort bewertet unter der Annahme eines Entstehens von Gegenkanal. In beiden Fällen waren die technischen Systeme aber dafür viel zu teuer. Weshalb Brechts Spekulationen über das Demokratie Steigernde des Rundfunks in der Luft hingen, vielmehr geschah

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das einkanalige Zerstören von Demokratie durch Rundfunk in der Hand der Nazis. Genau so hingen zunächst McLuhans Spekulationen zur Television in der Luft oder es geschah vielmehr das Gegenteil. Erst als durch die Entwicklung des Computers und der enormen Verbilligungen von neuer Medientechnik das nahezu Allen zugängliche Internet entstand, kam es zum Gegenkanal, vielmehr zu vielen, vielen Gegenkanälen. Jeder Internetanschluss hatte schließlich seine fast störungsfrei offenen Gegenkanäle. Jetzt kamen die Spekulationen von McLuhan wesentlich weitest zum Tragen für die menschliche Gesamtkommunikation auf allen Ebenen und in allen Winkeln, auch in allen Arten von Öffentlichkeit, so dass, in einer Dystopie gedacht, nichts mehr unöffentlich zu sein scheint bis zu allen Vieraugengesprächen dieser Welt und gar den laut werdenden Selbstgesprächen. Eine der Hauptannahmen von McLuhan war ja sein Erörtern eines Endes der Monologe, der Bücher, der Traktate, der Reden, der Vorträge, der Vorlesungen und das ganz besonders in den Kommunikationsprozessen der Wissenschaften. Die Gegenkanaligkeit, über die alle Internetanschlüsse verfügen, zerlegt den Buch-, den Traktatgeist, den Geist der Abhandlungen durch das Einspruchsprinzip, gesteigert zum Zwischenrufsprinzip. Fragmentarisierungsausbrüche überall in den Denk-, Schreib-, Phantasievermittlungen der menschlichen Kommunikation. McLuhan zeichnet schließlich das Bild wissenschaftlichen Austauschs, als wäre dieser Wiener Partykonversation, keine Geschichte wird zuende erzählt, kein Gedanke ausgeführt, da ist schon der kommunikative Assoziationseinbruch der Partner, eventuell mit Themenwechsel oder Ebenenwechsel oder Einstellungswechsel usw., alles spontan und in Beschleunigung. Dem entspricht die heutige Liebe zum großen An, Andiskutieren, das habe ich angedacht usw. Wenn man McLuhans Vorstellung weiterdenken will, befinden wir uns sogar in der Zeit des Endes der vollständigen Sätze, es gibt dann nur noch ein großes An-Satzen. Das ist zwar weniger neu, als dass es aufdringlich geworden ist. Gar mit einem utopisch positiven Akzent trat das in der Diskussion um Ideologie und Ideologiekritik schon Anfang vorigen Jahrhunderts mit Herwarth Walden auf und wirkte bis zu Herbert Marcuse und Alfred Sohn-Rethel in deren Auseinandersetzung zunächst zwar erst mit der formalen Logik, dann aber hinein in die Sprachstruktur. Formale Logik sei ein autoritäres, also ein Zwangssystem des Denkens. So wurde dann auch die grammatikalische Struktur der Sprache aufgefasst als ein Zwangssystem des Sprechens, demnach Kommunizierens, dem man nicht genug Verdacht entgegen bringen könne. Walden sprach gar so früh von einem Aufstand der Wörter gegen ihr Korsett und dessen Einschnürungen aus Sprachstruktur der überliefernd verbindlich gemachten Sprachlichkeit. Und Farbe von Demokratisierungshoffnung klingt bei McLuhan nach. In solchem Auflösensanspruch der Satz- wie Textordnung von damals oder von heute erlischt selbstverständlich die klassische Rhetorik mit ihrer Wertewelt, so in der aufkommenden Kommunikationsatmosphäre mit Vergesellschaftungsbreite. Es bliebe nur noch Ruf-, Aufruf-, Zwischenruf-Rhetorik und

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Alles, was ich unter rhetorisch negativer Rhetorik ansteuerte, wie sich schon einmal eine Rhetorik des Telegrammstils hätte ahnen lassen können. Zwar McLuhan, worin er auch seine zustimmende Sicht dessen kundtut, erfasst noch in Weise klassischer Geschichtshermeneutik Rückkehr mittelalterlicher Strukturen der wissenschaftlichen Kommunikation in Europa, die hohe Diskussionskunst der Scholastik, die von der Scholastik ja nicht nur eingesetzt wurde für die Ausbildung, sondern auch für die Forschungsprozesse und ihre Bewährung, und das im Sinn des Manuskriptschutzes sinnvoll praktizierte Zusammenbinden von Kraut und Rüben in einer Buchbindung. Letzteres geschah freilich nicht generell, wenn man an die Summen des Thomas von Aquin und anderer mittelalterlicher Groß-Gelehrter denkt, aber doch oft genug, besonders in kleineren Klosterbetrieben mit wenigen Abschreibern. Immerhin hat McLuhan mit diesem Rückspiel seine Hoffnung eingeräumt, dass in der wissenschaftlichen Kommunikation sich Reste von Zusammenhangsinseln behaupten werden gegen das Beschleunigen von Spontanassoziativität der Einsprüche und Zwischenrufe, die schließlich, wenn sie zur strukturellen Hauptsache werden, auch noch solche Inseln auflösen.3 Heutige Chatroomkultur und andere „soziale“ Netzwerke treiben eher der Auflösung zu als der Inselbildung der Zusammenhangsmöglichkeiten, aber sie bestätigen in Tendenzen die, soll man sie dystopisch oder utopisch nennen?, Vorwegnahmen McLuhans und zeigen die entscheidende Aktualität einer Diskussion rhetorisch negativer Rhetorik an. Selbstverständlich werden noch Parlamentsreden gehalten, die Pfarrer predigen noch in den Gottesdiensten, die Professoren halten sogar wieder vermehrt ihre Vorlesungen. Wir sind nicht in den Horizonten angelangt, die McLuhan an die Wand malte, teilweise in Zustimmung, eben wegen demokratisierender Tendenzen, die er darin annahm. Aber SMS- und Kürzelkultur sowie die wachsende Abkürzung von Allem zu den Anfangsbuchstaben, was wieder neue Wörter ergibt, die sich wieder auf Anfangsbuchstaben reduzieren lassen, ergänzen ja immer weiter die Tendenzen zu einer Beschleunigung der Beschleunigung von beschleunigter Kommunikation. In Konsequenz findet allein noch erwähnte Rufs-, Ausrufs-, Zwischenrufs-Rhetorik statt, fast in dem Sinn jener Sprachtheorie, die John Austin unter dem Titel „How To Do Things With Words“ anno dazumal vorstellte, Vorlesungen 50er Jahre vorigen Jahrhunderts, wollte man bei ihrem Ansatz einer rein imperativischen Sprache stehen bleiben. Aber schon Austin sah ein, dass, so sehr sich Imperative auf Rufe beschränken lassen, das GesamtImperativische einer Vergesellschaftung auf Hintergründe breiter Beschreibungen und langer Zusammenhangsdarlegungen angewiesen ist, sonst würde es nicht funktionieren. Wenn nun die Beschleunigung der Kommunikation in 3

Vgl. Marshall McLuhan zum Ende der Gutenberg-Galaxis, wie er das nennt, in The Gutenberg Galaxy, Toronto University Press, 1962, dt. Die Gutenberg-Galaxis, Düsseldorf/Wien, Econ 1968.

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ihrem immer rascheren Hin und Her, schließlich gab es ja zum E-MailVerkehr schon Katechismen, in denen gefordert wurde, jede Mail sei sofort aufzumachen und zu beantworten, sonst wäre der Sinn des E-Mail-Systems verfehlt. Wenn nun diese Beschleunigung also auf breite Hintergründe und weit gespannte Zusammenhangskonstruktionen wie Zusammenhangsperspektiven zunehmend verzichten will zugunsten eines Steigerns der Spontaneität in der Kommunikation, von der man sich komischer Weise auch noch einen Zuwachs an Authentizität ideologisch verspricht, dann kommt unsere Mnemotechnik nicht mehr mit. Es tritt in solcher Kommunikation eine Gedächtnislosigkeit ein, demnach Bewusstlosigkeit, durch die das Zusammenspiel von Gegenwart mit Zukunft und Vergangenheit als unser bewusstes Existieren erlischt. Und weil alle Vergleichsarbeit des Gedächtnisses dann ausgeschaltet ist, kann nichts mehr als neu oder alt unterschieden werden. Man langt bei dem Verdikt von Karl Kraus an zum eiligen Journalisten, der, weil er so schnell schreiben muss, immer die alten Wort-Hüte und Wort-Hülsen bringt. Eine Kommunikation des Verkehrs aus lauter alten Hüten wie Hülsen, allerdings in Häcksel-Fragmentiertheit aus dem Fleischwolf oder der Schreddermaschine durch die Zwischenrufsstruktur zeitgerechter Kommunikation, bedroht uns. Doch immer wieder zu betonen, „bedroht uns“, noch haben sich die Horizonte der Kommunikationskultur, wie McLuhan und Paul Virilio und andere sie entwarfen, nicht annähernd realisiert in der sich zusammenschließenden Totalität. Das wurde schon angezeigt. Und obwohl das Wertesystem einer klassischen Rhetorik in solcher beschleunigten Kommunikation zerstört wird, entgeht auch diese Kommunikation nicht der Rhetorik, das wurde ebenso schon angezeigt. Nur handelt es sich jetzt eben um eine andere Rhetorik, soll man sie eine schwache nennen oder eine Restrhetorik oder eine sparsame oder eben, wie hier vorgeschlagen, eine rhetorisch negative Rhetorik? Und warum Bedrohung? Nun, wenn von Gedächtnisschwund, Bewusstlosigkeit, Untergang der reflexiven Vergleichsmöglichkeiten im Ermitteln unter anderem von Alt und Neu die Rede ist, ist das Warnwort Bedrohung schon am Platz. Doch noch verfügen wir eben über die alten Hintergründe und Zusammenhänge, aus denen die neuen Medien und mit ihnen die neue Kommunikation hervorgingen. Letztgenannter Unterschied ist wichtig. Denn mit den neuen Medien könnte man gegen jede Information auslöschende Informationsüberflutung auch ganz klassisch umgehen, indem man in ihnen das Optimieren der Informationsspeicherung und das Erleichtern der Informationszugänge auffasst und gebraucht und das Optimieren des Aussendens der eigenen Botschaften, mehr nicht. Erst mit der von der Struktur der neuen Medien allerdings nahe gelegten, aufgedrängten neuen Beschleunigungs-Kommunikation tritt das Bedrohliche an. Doch weithin zeigt sich noch erst die neue Kommunikation in ihrer beschleunigenden Beschleunigung auf weiten Spielfeldern. Man kann von Spielfeldern sogar noch sprechen selbst in ihrem wissenschaftlichen Einsatz (den medizinischen, naturwissenschaftlichen und technologischen sollte man aller-

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dings ausnehmen, er steht ja auch der Rhetorik fern ), weil man eben die Spielfelder jederzeit per oft genug betontem Ausschaltknopf der Apparaturen verlassen kann,. Allein die nach ihnen süchtig Werdenden fallen derzeit ihrem tendenziellen Totalitarismus schon zum Opfer. Die Spielfelder werden bleiben, sie gehören längst zur neuen Realität. Hier etwas rückgängig machen zu wollen, wäre an Wahnsinn grenzende Reaktion. Mit der Realität müssen wir in Zukunft leben. Sie ergibt aber eben Forschungsfelder auch für die Rhetorik in einem Forschen nach Restrhetorik oder eben rhetorisch negativer Rhetorik. Denn in den neuen Spielfeldern zeigen sich ja auch positivierbare Züge des Utopisierens, wozu die Möglichkeiten des Immer-mal-wieder-Freilaufenlassens der Spontaneität in der Kommunikation oder das Spiel mit dem Anonymen oder das Sichumerfinden ganz gewiss gehören. Doch dem tendenziellen Totalitarismus oder der Verabsolutierung darin ist zu widerstehen. Einerseits, weil unsere Kultur doch ein Bereicherungsprozess sein soll und kein Verarmungsprozess durch Auslöschen der Vergangenheit etwa und der bewährten Verfahren, Methoden, Wertungssysteme der Vergangenheit. Noch wichtiger aber: In der Beschleunigung der Kommunikation zur reinen an sich selber, die dann von aller Informativität befreit ist, Informieren stört nur das Kommunikative4, darin liegt der Ausklang und Abgesang an die Reflexivität. In allen Krisen der Vergesellschaftung aber und auf allen ihren Ebenen von der Panne bis zur Katastrophe benötigt man Reflexivität als Unterbrechen des Handelns durch Überlegen des Handelns unter seinen gegebenen Bedingungen und erwartbaren Möglichkeiten. Jeder kennt das vom Löcherbohren in die Wände für Haken. Sobald das sich nicht glatt einbohrt in die Wand wegen Störfaktoren, Abstellen des Bohrers und Überlegen dessen, was da los ist, ohne zunächst weiterzuarbeiten. Grundmodell einer lebensnotwendigen Reflexivität. Diese Reflexivität wird durch die Strukturen der klassischen Rhetorik in unserer sprechenden, redenden Kommunikation gewahrt. Zwar, wenn wir an die freie Rede denken, basiert der in der klassischen Rhetorik erforschte und zu erforschende Sachverhalt darauf, dass die Redestrukturen, so sehr lernend erworben, unbewusst werden und unbewusst steuernd funktionieren, eben auch in einer Art des Beschleunigens, und doch immer wieder reflexiv erwachend. Übrigens ohne das Unbewusstwerden der Redestrukturen in Lernprozessen und ihr unbewusstes Funktionieren benötigten wir gar keine Rhetorikforschung. Und das Immer-mal-wieder-Erwachen der Reflexivität macht ihr ihren breiteren Forschungszugang aus, wie dem Freud die Träume. In Summe wird durch die klassische Redekunst und ihre Erforschung die Reflexivität gewahrt, ja gesteigert Und die Spielfelder der neuen Kommunika4

Vgl. Vilem Flusser, Die Revolution der Bilder. Der Flusser-Reader. Zu Kommunikation, Medien, Design, Mannheim 1995.

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tion, auf denen die Reflexivität ausgelöscht wird? Sie bieten, um es im Beschluss zu wiederholen, Forschungsgelände in Sachen neuer rhetorischer Strukturen an. Es wird sich dabei wohl herausstellen, dass diese neuen Strukturen nur Derivate der alten sind. Das verhält sich so wie beim Kitsch, weithin Derivat der Hochliteratur.5 Und da zeigt sich noch eine Vergleichbarkeit: Wie das so hoch belastete Existieren des Menschen Anrecht enthält auf die Entlastungen des Kitschs, so auch Anrecht auf die Spielfelder der neuen Kommunikation durch die neuen Medien. Doch wie im Kitsch steckt in eben den neuen Spielfeldern der Inszenierungen ohne Inszeniertes, der Simulationen ohne Simuliertes, der Events ohne Ereignisse die angezeigte Tendenz zum Totalisieren, zum Sich-absolut-setzen, statt Neben- und Zwischenfeld zu bleiben. Dem muss sich Alles, was Parteigänger der Reflexivität ist, entgegenstemmen, also auch die Rhetorik bis zur Bereitschaft einer rhetorisch negativen Rhetorik als Mitfaktor der Sprachkultur.

Literatur Adorno, Theodor W (1966): Negative Dialektik. Frankfurt a. M. – (1964): Jargon der Eigentlichkeit. Zur Deutschen Ideologie. Frankfurt a. M. – u. Max Horkheimer (1947): Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Amsterdam. Anderson, Perry (1974): Von der Antike zum Feudalismus. Spuren der Übergangsgesellschaften. Dt. Übs. Frankfurt a. M. 1978. Austin, John Langshaw (1962): How to Do Things with Words. Dt. Übs.u. Hg. Eike von Savigny, Titel der Übs: Zur Theorie der Sprechakte. Stuttgart 1972. Barthes, Roland (1965): Mythen des Alltags, Frankfurt a. M. Bloch, Ernst (1968): Atheismus im Christentum. Frankfurt a. M. – (1970): Politische Messungen. Pestzeit. Vormärz. Frankfurt a. M. Borsche, Tilman (Hg.) (1996). Klassiker der Sprachphilosophie. München. Brecht, Bertolt: Radiotheorie und Der Rundfunk als Kommunikationsapparat. In. Ders: Gesammelte Werke in 20 Bänden, Bd. 18. Frankfurt a. M. 1967. Bruno, Giordano (1904): Zwiegespräche vom unendlichen All und den Welten. Übs. L. Kuhlenbeck, Nachdruck der 2. Aufl. Jena. Cassirer, Ernst (1956): Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs. Darmstadt. Durth, Werner (1986): Deutsche Architektur. Biographische Verflechtungen 1900–1970. Braunschweig. Flusser, Vilem (1995): Der Flusser-Reader. Zu Kommunikation, Medien, Design. Mannheim. Habermas, Jürgen (1976): Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus. Frankfurt a. M. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1952): Phänomenologie des Geistes. Hg. Johannes Hoffmeister, 6. Aufl. Hamburg. – (1955): Grundlinien der Philosophie des Rechts. Hg. Johannes Hoffmeister. Hamburg. 5

Vgl. Gert Ueding, Glanzvolles Elend. Versuch über Kitsch und Kolportage, Frankfurt a. M. 1973/1985.

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– (1963): Wissenschaft der Logik. Hg. Georg Lasson. Hamburg. Huyssen, Andreas/Klaus Scherpe (Hg.) (1986): Postmoderne. Zeichen eines kulturellen Wandels. Reinbek bei Hamburg. Kant, Immanuel (1956): Kritik der reinen Vernunft. Hg. Raymund Schmidt, Hamburg. – (1957): Kritik der Urteilskraft. In: Theorie-Werkausgabe. Hg. Wilhelm Weischedel. Frankfurt a. M./Wiesbaden 1957, Bd. IX/X und Ausg. Hg. Gerhard Lehmann. Stuttgart 1963. Leroi-Gourhan, André (1964/65): Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst, Paris. Dt. Übs. Frankfurt a. M. 1980. McLuhan, Marshal (1968): Die Gutenberg-Galaxis. Düsseldorf/Wien. Mann, Golo/Alfred Heuss/August Nitschke (1963) (Hg.): Propyläen-Weltgeschichte. Berlin/ Frankfurt a. M. 1963, Bd. 4/5. Marcuse, Herbert (1967): Der eindimensionale Mensch, Neuwied. Platon (1957): Sämtliche Werke. Bd. 1. Hg. Ernesto Grassi/Walter Hess. Hamburg. Portoghesi, Paolo (1983): Ausklang der modernen Architektur. Zürich. Raulet, Gérard (1995) (Hg.): Von der Rhetorik zur Ästhetik. Centre de Recherche Philia. Paris. Schmidt, Burghart (1998): Bild im Ab-wesen. Zu einer Kunsttheorie des Nahezu-Negativen im schwierigen Schein des „Bilderverbots“. Wien. – (1994): Kitsch und Klatsch. Wien. Sohn-Rethel, Alfred (1970): Geistige und körperliche Arbeit. Zur Theorie der gesellschaftlichen Synthesis. Frankfurt a. M. Stökl, Günther (1983): Russische Geschichte. 4. Aufl. Stuttgart. Ueding, Gert (1973): Glanzvolles Elend. Versuch über Kitsch und Kolportage. Frankfurt a. M. Virilio, Paul (1988): Die Sehmaschine. Dt. Übs. Berlin 1989.

Helmut Schanze

Theodor W. Adornos ‚Negative Rhetorik‘ Versuch einer Annäherung an ein vergessenes Kapitel der Rhetorikgeschichte des 20. Jh. Studiert man die Geschichte der „Renaissance der Rhetorik“ im 20. Jahrhundert, so kann man deren Anfänge bis zu Nietzsches vielzitiertem Satz „Die Sprache ist Rhetorik“ zurück verfolgen. Die postmodern-psychoanalytische Elokutionsrhetorik, die das „Ende der Rhetorik“ mit dem exklusiven Anspruch eines radikalen Neuanfangs und der Wiederentdeckung der „Rhetorizität“ verband, stellte sich bei ihrer Berufung auf Nietzsche nicht nur gegen eine ältere „ideologiekritische Rhetorikforschung“ auf. Sie vergaß auch Chaim Perelmans Neuvermessung des „Reichs der Rhetorik“, die „Neue Rhetorik“ als Theorie der Argumente und des Aptum, und Klaus Dockhorns Postulat der „Ubiquität der Rhetorik“, spezifiziert durch den nachdrücklichen Hinweis auf die „Macht und Wirkung der Rhetorik“, durch die Lehre von den Affekten. Die neuere Semiotik und die Linguistik nach de Saussure, der französische Strukturalismus, wurden in eine Vorläuferschaft eingestellt. Rhetorikgeschichte wurde auf den Bruch um 1800 und das Ästhetik-Problem reduziert. Gleichwohl, und aus meiner Sicht formuliert: Der Streit zwischen den jüngeren Vertretern der postmodernen Elokutionsrhetorik einerseits, den älteren Argumentationstheoretikern, den Ideologiekritikern, den rhetorischen Linguisten, den pragmatischen Semiotikern und der nach Walter Jens zu benennenden Historischen Schule der Anti-Rhetorikverachtung andererseits bildeten das Feld aus, das ein Werk wie das „Historische Wörterbuch der Rhetorik“ überhaupt erst ermöglicht hat. Im „ideologiekritischen“ Kontext – und nicht nur in diesem – steht, früh und fast erratisch, wenig beachtet und für den Verfasser dieses Vortrags dennoch leitend, ein Satz Theodor W. Adornos aus der 1966 veröffentlichten „Negativen Dialektik“, seinem philosophischen Hauptwerk: „Rhetorik vertritt in Philosophie, was anders als in Sprache nicht gedacht werden kann“, wie auch sein Programm einer neuen „Dialektik“, deren Aufgabe es sei, das „rhetorische Moment kritisch zu erretten“. Adorno weist im einleitenden Essay auf eine sprachphilosophische Grundeinsicht hin, die mit dem Namen Wittgenstein verbunden ist. Er verschärft deren Zielrichtung gegen eine Philosophie, die sich allein der „Methode“ verschrieben habe:

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„Durch die sei’s offenbare, sei’s latente Gebundenheit an Texte gesteht die Philosophie ein, was sie unterm Ideal der Methode vergebens ableugnet, ihr sprachliches Wesen.“ Dieses „sprachliche Wesen“ der Philosophie aber sei, so Adorno, untrennbar mit dem Begriff der Rhetorik und ihrer Geschichte verbunden. Eine auf wenige Sätze konzentrierte Ideologiegeschichte der Rhetorik folgt: In ihrer neueren Geschichte [gemeint ist die der Philosophie] ist es [das sprachliche Wesen], analog der Tradition, verfemt worden als Rhetorik. Abgesprengt und zum Mittel der Wirkung degradiert, war es Träger der Lüge in der Philosophie. Die Verachtung für die Rhetorik beglich die Schuld, in die sie, seit der Antike, durch jene Trennung von der Sache sich verstrickt hatte, die Platon verklagte. Aber die Verfolgung des rhetorischen Moments, durch welchen der Ausdruck ins Denken sich hinüberrettete, trug nicht weniger zu dessen Technifizierung bei, zu seiner potentiellen Abschaffung, als die Pflege der Rhetorik unter Missachtung des Objekts. Sie behauptet sich in den Postulaten der Darstellung, durch welche Philosophie von der Kommunikation bereits erkannter und fixierter Inhalte sich unterscheidet. Gefährdet ist sie, wie alles Stellvertretende, weil sie leicht zur Usurpation dessen schreitet, was die Darstellung dem Gedanken nicht unvermittelt anschaffen kann. Unablässig korrumpiert sie der überredende Zweck, ohne den doch wieder die Relation des Denkens zur Praxis verschwände. […] Die permanente Denunziation der Rhetorik durch den Nominalismus, für den der Name bar der letzten Ähnlichkeit ist mit dem, was er sagt, lässt sich indessen nicht ignorieren, nicht das rhetorische Moment ungebrochen dagegen aufbringen.

Hieraus folgt das Programm der ‚Errettung‘ der Rhetorik: „Dialektik, dem Wortsinn nach Sprache als Organon des Denkens, wäre der Versuch, das rhetorische Moment kritisch zu erretten: Sache und Ausdruck bis zur Indifferenz einander zu nähern“.1 Die Sätze Adornos sind hoch komplex im Inhalt wie in der Darstellung. Dies ist, in Bezug auf die komplexe „Konfliktbeziehung“ (Josef Kopperschmidt) von Rhetorik und Philosophie aber auch kaum anders zu erwarten. Rhetorik und Philosophie sind – ein Selbstzitat – „geschichtsbildende Kontrahenten“, die sich aufgrund ihrer unterschiedlichen Vorstellungen vom Menschen und seinen Chancen, Gesellschaft vernünftig zu organisieren, ständig zur Klärung ihrer anthropologischen und psychologischen Voraussetzungen wechselseitig nötigten.“2 Die rhetorische techné ist, nach Aristoteles, bestimmt als Kunst des Wahrscheinlichmachens, und eben nicht als der „eigentliche“ Weg, die „Methode“ zur Auffindung der Wahrheit. Sie fungiert, mit Adorno, durchaus als willige, korrumpierbare Agentur, als „Stellvertretendes“. Sie, der Redner wie die Rhetorik, werden, spätestens seit Platon, der Lüge, der sprachlichen Täuschung 1

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Theodor W. Adorno: Negative Dialektik. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1966, S. 61–62. GS 6, S. 65–66. Vorwort zu Helmut Schanze, Josef Kopperschmidt: Rhetorik und Philosophie. München: Fink 1989, S. 6.

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geziehen. Mit der platonischen Verbannung der Rhetorik aus dem Reich der Philosophie aber, so Adorno, ist systematisch das Band zwischen Sache und Wort zerrissen. Schuld daran trägt die Philosophie selber mit ihrer Rhetorikverachtung: Sie habe das „rhetorische Moment“ – militärisch – degradiert. Folge, so wiederum Adorno, sei eine Art Spiegelaktion mit umgekehrten Vorzeichen. Eine Mimesis der Gegner: die „Pflege der Rhetorik“ – analog zur modernen „Sprachpflege“ formuliert – habe sich ihrerseits der „Missachtung des Objekts“ schuldig gemacht. Aus der rhetorischen techné ist in der Geschichte ihrer Verachtung, in der Aufgabe eigenes Anspruchs, eine objektneutrale Technik eines Katalogs der Wirkmittel, kurz, die Figurenlehre ohne das regierende Aptum geworden. Sieht aber die Philosophie ein Recht zur Degradierung der Rhetorik, im Sinne einer Ausübung einer Macht, auf ihrer Seite, so verleugnet sie zugleich ihr ureigenstes Medium, ihr „sprachliches Wesen“. Wenn sie das ‚Oberstübchen‘, das „Innere“, das „Eigentliche“ verlässt, bedient sie sich materialiter einer „Sprache“, ohne die sie keine Öffentlichkeit, keinen Ausdruck, keine Wirkung erlangen kann. Alle Begriffe sind, mit Nietzsche, letztlich „erblasste Metaphern“, also nicht „eigentliches“, sondern „uneigentliches“ Reden. In der avancierten Definition des Feldes der modernen Dialektik kann damit dieser die Aufgabe zugewiesen werden, das „rhetorische Moment kritisch zu erretten“ und die „Sache“ – „res“ und den „Ausdruck“ – verba – „bis zur Indifferenz“ einander zu nähern, Denken zur Sprache zu bringen, Sprache zum Denken. Die von Nietzsche vorgedachte Reflexion der metaphernhaltigen Begriffe – Adorno spricht von einer notwendigen „Entzauberung des Begriffs“3 – wird als Prozess ineinandergreifender Momente, des philosophischen – der Wahrheitssuche – und des rhetorischen neu bestimmt. Die Rede Kants vom geheimnisvollen „Schematismus“ in der „Kritik der reinen Vernunft“, der Kern seiner Lehre von der begrifflichen Erkenntnis, wird als basales „rhetorisches Moment“, als ein notwendiger Figurismus der praktischen Philosophie erkannt. Adornos Denkpraxis versteht sich als Sprachpraxis, und umgekehrt, seine Sprachpraxis ist Denkpraxis. Ihr Ziel ist das einer Annäherung bis zur Indifferenz von „Sache“ und „Ausdruck“. Gegen Platons einseitige Verachtung der Rhetorik setzt er auf ein Programm der Indifferenz in der Differenz, im Sinne nicht zuletzt Kants, des scheinbaren Urhebers der modernen RhetorikVerachtung. Die kritische Denk- und Sprachpraxis zielt, so meine These, auf eine neue Rhetorik, welche die beiden, zu ihrem Schaden getrennten Disziplinen wieder

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GS 6, S. 23.

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vereinigt – ein Programm, das durchaus auch ein „romantisches“ sein könnte im Sinne einer „Progressiven Universalpoesie“.4 Wie aber lässt sich diese kritische Indifferenzierungsleistung systematisch, aus den Traditionen von Philosophie und Rhetorik, aber auch aus ihrer aktuellen Konstellation begründen? Wie wird sie praktisch, innerhalb und außerhalb des Programms einer „Negativen Dialektik“ und der philosophischen „Errettung“ des „rhetorischen Moments“? Gibt es Ansatzpunkte, über die Programmsätze in der „Negativen Dialektik“ hinaus, von einer versuchsweise ausgeführten „Rhetorik“ bei Adorno zu sprechen? Klaus Dockhorn, dessen Aufsätze, vor allem „Die Rhetorik als Quelle des vorromantischen Irrationalismus in der Literatur- und Geistesgeschichte“ aus dem Jahr 1949, Adorno nachweislich kannte, hat darauf bestanden, dass „die rhetorische Figurenlehre ursprünglich kein öder Formalismus“ sei, „sondern aufs innigste mit der Lehre vom ‚Bewegen‘ und ‚Hinreißen‘“5 zusammenhänge. Auch auf die differente Nähe von Dialektik und Rhetorik hat Dockhorn hingewiesen. Seine Einsichten geben dem Adorno’schen Programm einer „kritischen Errettung“ der Rhetorik in der „Negativen Dialektik“ die besondere Pointe. Die Dialektik lehrt, die Rhetorik bewegt, so Luther in seinen Tischreden. Philosophiegeschichtlich ist dies eine Wendung, die bereits der differenzierende Systematiker Aristoteles gegen den sprachmächtigen Rhetorik-Feind Platon einsetzt, um die Entgegenstellung von Philosophie und Rhetorik aufzuheben. Dockhorn beruft sich auf das magistrale rhetorische Werk eines Philosophen, auf die „Rhetorik“ des Aristoteles. Nach Aristoteles, Rhet. I, 1,1, ist die Dialektik die „Antistrophe“ der Rhetorik. Sie sind „miteinander verwandte Erkenntnisarten“. Sie unterscheiden sich ihrerseits von der „logica veritatis“ (der Deduktion und Induktion, der „Methode“) als „logica probabilium“ mit ihren enthymematischen Schlussverfahren.6 Der Begriff der „Antistrophe“ hat bereits in der Antike eine verschiebende Übersetzung erfahren. Franz Günther Sieveke übersetzt ihn mit dem Begriffspaar „korrespondierendes Gegenstück“. In seinem Kommentar7 zitiert er die lateinische Übersetzung des Cicero: „Aristoteles principio artis rhetoricae dicit illam artem quasi ex altera parte respondere dialecticae.“8 Hier ist der Antwortcharakter, unter der Figur der Ironie („quasi ex altera parte“) herausgestellt, die Vertretung des Arguments der Gegenpartei. Sind aber Begriffe „verblasste“ oder „erblasste“ Metaphern, so wird – unter Bezug 4 5 6 7 8

Vgl. Friedrich Schlegel, Athenäumsfragment 116. Klaus Dockhorn: Macht und Wirkung der Rhetorik. Bad Homburg 1968, S. 91. Aristoteles, Rhetorik, übersetzt von Franz G. Sieveke. München: Fink 1980. Sieveke, S. 226. Cicero, Orator 32, 114.

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auf Adorno – das zu Grunde liegende Sprachbild von Interesse: Der Begriff „Antistrophe“ sei, so Sieveke, „entlehnt von der Aktionsweise des griechischen Chors: Dort korrespondiert die Antistrophe der Strophe, wobei die Korrespondenz sogar inhaltlich die Opposition ausdrücken kann.“9 Der folgende Versuch über einen Versuch, in einer „Negativen Dialektik“ „das rhetorische Moment kritisch zu erretten“ kann sich die komplexe, musikalisch-poetische Verhältnisbestimmung zwischen Dialektik und Rhetorik zu Nutze machen. Abgekürzt, thesenhaft formuliert: die „Negative Dialektik“ hätte ihre „Antistrophe“, ihren „anderen Part“, ihr „korrespondierendes Gegenstück“ in der ausgeführten ‚Negativen Rhetorik‘. Und die Frage ist: Hat Adorno eine ‚Negative Rhetorik‘ nicht nur postuliert, sondern auch formuliert? Hinweise hierzu lassen sich in der Entstehungsgeschichte der „Negativen Dialektik“ finden. Adornos Rettung der Rhetorik bezieht sich, sofern das Wort vom „Sprachwesen“ nicht zum Anlass von Verallgemeinerungen genommen wird, auf einen weiten Rhetorikbegriff, wie er sich in der „Tradition“ findet, oder umgekehrt, kritisch, auf eine Philosophie, die das „rhetorische Moment“ degradiere, auf „Eigentlichkeit“ bestehe, und die dem „Jargon“ verfalle, auf eine Rhetorik, die ihr Objekt missachtet und sich im Formalismus, in der bloßen Technik, selbst abschaffe. Unter dem Gesichtspunkt der differenzierenden Indifferenz von „Sache“ und „Ausdruck“ ist es forschungsgeschichtlich angezeigt, den Essay „Jargon der Eigentlichkeit“, den Adorno aus dem Kontext der „Negativen Dialektik“ herauslöste und 1963 bzw. vollständig 1967 gesondert publizierte, neu zu lesen. Vorab muss gesagt werden, dass der Essay keineswegs als bare HeideggerPolemik gelesen werden darf, wie dies in der Rezeption seit 1965 immer wieder, fast gebetsmühlenhaft, wiederholt wird, wenn auch die modernrhetorische Gattung der Polemik nicht außer Acht gelassen werden darf. Im Gegenteil, Adorno differenziert, auch in der Polemik, zwischen Musiker und Musikanten genau. Dies gilt auch für den Begriff der „Eigentlichkeit“, als dessen Urheber er Heidegger ausmacht. Dieser habe „die Eigentlichkeit wider Man und Gerede statuiert, ohne darüber sich zu täuschen, dass zwischen den beiden Typen des von ihm als Existenzialien Abgehandelten kein vollkommener Sprung herrscht, ja dass sie aus ihrer eigenen Dynamik ineinander übergehen. […] Der Jargon, der in Heideggers Phänomenologie des Geredes einen Ehrenplatz verdiente, qualifiziert die Adepten, nach ihrer Meinung, ebenso als untrivial und höheren Sinnes, wie er den stets noch schwärenden Verdacht der Wurzellosigkeit beschwichtigt“.10 Oder, an anderer Stelle: „Einzig der umsich9 10

Sieveke, S. 226. GS 6, 424.

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tige Heidegger vermeidet allzu offenherzige Affirmation [der Positivität]“.11 Aber auch kritisch: Er erfülle „sein Soll indirekt, durch den Ton beflissener Echtheit“.12 „Heidegger ist nicht der Matador solcher Politika des Jargons, und hütet sich vor dessen Plumpheit.“13 Ob sich diese Ausnahme bei Kenntnis der Heideggerschen „Rhetorik“, der praktischen der Briefe und Reden wie der erst spät publizierten theoretischen auch aufrecht erhalten ließe, kann hier nicht weiter verfolgt werden. Sucht man die namentlich Angegriffenen auf, so wären es eher Karl Jaspers und Otto F. Bollnow, die genannt werden. Mit Heidegger, dem Existenzialisten der ersten Stunde, verbindet Adorno, wie Hermann Mörchen gezeigt hat, mehr, als sich Adornos Partei und auch deren Gegner auf der anderen Seite gelegentlich eingestehen wollen14. Das Moment der Polemik selber erscheint als rhetorisches Moment, mit Nähe und Gegensatz, und es geht Adorno auch in der polemischen Form um eine „Errettung“ der Sache. Auch wäre der Begriff der Ideologiekritik (bezogen auf Mannheim) für Adornos „Versuch“ entschieden zu eng. Adorno spricht in der abschließenden, späteren „Notiz“, welche die Herauslösung des Essays aus dem Kontext der „Negativen Dialektik“ begründet, von den „sprachphysiognomischen und soziologischen Elementen“, die sich in den „Plan des Buches“ nicht mehr recht eingefügt hätten15. Gleichwohl sei er „philosophisch nach Absicht und Thematik“. Adorno gesteht ein, dass er auf „Arbeitsteilung“ geachtet hätte. Dem daraus folgenden, vorweggenommenen Vorwurf, dass er „philosophisch, soziologisch, ästhetisch verführe, ohne nach dem Herkommen die Kategorien auseinanderzuhalten und womöglich getrennt abzuhandeln“, widerspricht er vehement mit dem Hinweis des „Zusammenhangs seiner eigenen Versuche“ am Beispiel der philosophischen mit den musiktheoretischen Schriften: „Was an der schlechten Sprachgestalt ästhetisch wahrgenommen, soziologisch gedeutet, wird abgeleitet aus der Unwahrheit des mit ihr gesetzten Gehalts, der impliziten Philosophie.“16 Das Reich einer ‚Negativen Rhetorik‘ als Sprachkritik also reicht weit hinein in das der (musikalischen) Ästhetik. Folgt man der aristotelischen Systematik der abgegrenzten, aber musikalisch poetisch auf aufeinander bezogenen Wissenschaftsbereiche, so sind die inventorischen Verfahren – die „Topik“ – das gemeinsame Feld zwischen Dialektik und Rhetorik. Die ordnenden Verfahren („taxis“, oder „dispositio“) 11 12 13 14

15 16

GS 6, 427. Ebd. GS 6, 446. Vgl. Hermann Mörchen: Adorno und Heidegger. Untersuchung einer philosophischen Kommunikationsverweigerung, Stuttgart: Klett-Cotta 1981. GS 6, S. 524. GS 6, S. 524 f.

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und die ausführenden Verfahren, („lexis“, „elocutio“, aber auch „memoria“ und „actio“) dagegen sind spezifisch für die Rhetorik. Sie werden von Aristoteles deshalb auch in seiner „Rhetorik“ verhandelt. In seinem Großessay „Jargon der Eigentlichkeit“ verfährt Adorno, im Sinne eines aufklärerischen „esprit systèmatique“, der sich von einem „esprit de système“ abgrenzt, nach eben diesem Programm: Er nimmt sich zentrale rhetorische Kategorien vor, nicht aber, um sie „getrennt abzuhandeln“, sondern um sie in den (philosophischen) „Zusammenhang“ seiner „eigenen Versuche“ zu stellen, die er hier als eine Kritik „schlechter Sprachgestalt“, abgeleitet aus der „Unwahrheit des mit ihr gesetzten Gehalts“, spezifiziert17. Die Frage ist, welche genuin rhetorischen Kategorien im „Versuch“ in kritischer Absicht verhandelt werden. Wenn in der Folge einige zentrale Begriffe herausgehoben werden, so ist keine Vollständigkeit angestrebt. Wenn hier der sprachliche Fluss des Essays metatheoretisch, in analytischer Absicht, aufgehoben wird, so im Sinne der Demonstration seiner systematischen Paradoxien. Es geht um ein gehaltvolles sprachliches Objekt selber, um Sprachkritik in Aktion. Ausgangspunkt einer solchen metatheoretischen Analyse können die Titelkategorien des Essays bilden, die des „Jargons“ und die der „Eigentlichkeit“. Zum Einen handelt es sich, linguistisch gesehen, um eine spezifischen Sprachverwendung im Sinne einer nicht standardisierten Fach-, Berufs und Gruppensprache, zum Anderen um den von Heidegger, wie Adorno formuliert hat, „existenzialontologisch, als fachphilosophisches Stichwort“ eingeführten Begriff der „Eigentlichkeit“. Es geht Adorno, über die Frage nach „res“ und „verba“ hinaus, primär um die Frage der „Redeweise“ und deren Angemessenheit. Es geht, und dies ist die „eigentliche“ Pointe des Begriffs der „Eigentlichkeit“ im rhetorischen Zusammenhang, um die Konstitution der Figuren als Abweichungen von „eigentlichen“ Sprachgebrauch. Das „fachphilosophische Stichwort“ wird auf seinen rhetorischen Gehalt zurückgeführt. Der Essay beginnt mit einem klassischen Exordium, der Geschichte einer Koterie und deren falsche Redeweise, die sich – im Gegensatz zur Rhetorik als Kunst der öffentlichen Rede – gerade von einer „gemeinen“ Öffentlichkeit abgrenzt und dabei ihre, nur ihr verständlichen Codeworte, nicht-allgemeine Gemeinplätze, vorschiebt. Dieser Koterie gebe sich den Namen der „Eigentlichen“, um sich von der Allgemeinheit der „Uneigentlichen“ abzugrenzen. Nietzsches Satz von der Sprache als Rhetorik wird, unter falscher Berufung auf ihn, zurückgenommen. Heidegger habe deren „Ethos“ und deren „Pathos“ – rhetorische Grundbegriffe – in „Sein und Zeit“ nachträglich eine philosophi-

17

GA 6, 554 f.

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sche Rechtfertigung gegeben. Die „Redeweise“18 der „Eigentlichen“ habe sich über den Krieg und seine Katastrophe, über alle Verstrickungen hinweg, bis in die 60er Jahre ungebrochen erhalten. Der „Jargon“ ist „edel und anheimelnd“ zugleich, „Untersprache und Obersprache“, „Kennmarke vergesellschafteten Erwähltseins“, rhetorisch: Er hat „bathos“ wie „pathos“. Er nutzt, als seine Allgemeinplätze, die keine sein dürfen, eine „bescheidene Anzahl signalhaft einschnappender Wörter“, „verba“, die sich nicht mehr auf die Sache beziehen. Ihre „Sprachfunktion“ ist zugunsten eines bloßen „Geredes“ – Heideggers kritischer Terminus – aufgehoben. Adorno zählt sie auf: „In der Entscheidung“, „Auftrag“, „Anruf“, „Begegnung“, „echtes Gespräch, Aussage, Anliegen, Bindung“, und bestimmt sie als „unterterminologische Termini“ – Topoi im weitesten Sinn, aber ohne die Funktion eines Fundortes für Argumente. Sie bestimmten den „Ton“ der „Eigentlichen“ in Rede und Schrift. Im Jargon verleugneten sie ihre (rhetorische) „Konstellation“ durch eine „Gebärde der Einzigkeit“. Sind Worte nach rhetorischer Lehre immer erst in der „Zusammenstellung der Sachen“ wirksam, so generiert der Jargon eine leerlaufende und damit falsche Rhetorik. Als Demonstrandum dient Adorno im Mittelteil des Essays eine ‚negative‘ Musterrede, deren kabarettistischer Ernst eines weiteren Kommentars oder einer Analyse kaum mehr bedarf. Die dann folgende Analyse der „Sprachgewalt“ Heideggers, die aus ihr reale Gewalt vernimmt, ist als eine Anwendung der ‚Negativen Rhetorik‘ auf eine Philosophie zu verstehen, die mit der Macht ging, was, auf der anderen Seite der „Konfliktbeziehung“, falsche Rhetorik ausmacht. Hier setzt Adorno die Form der Polemik, sachhaltig und sprachkritisch ein: Pointiert stellt er diese „Sprachgewalt“ in die Nähe der Existenzialien Selbsterhaltung und Tod: „Gewalt wohnt wie der Sprachgestalt so dem Kern der Heideggerschen Philosophie inne: der Konstellation, in welche sie Selbsterhaltung und Tod rückt.“19 Er zeigt, wie ein Moment der Hegelschen Dialektik von Herr und Knecht sich sprachlich verselbständigt und zum „Gerede“ in einer Philosophie verkommt, die selbst das „Gerede“ als kritische Kategorie aufstellt: „Das zentrale Kapitel von Sein und Zeit behandelt ‚Das mögliche Ganzsein und das Sein zum Tode‘.“ Es werde in diesem Kapitel „wie sich dann weist bloß rhetorisch, gefragt, ‚ob dieses Seiende als Existierendes überhaupt in seinem Ganzsein zugänglich gemacht‘“ werden könne, wenn die „Selbsterhaltung“ als „Sorge“ ontologisiert werde. Dieser Widerspruch aber werde durch den falschen „Aplomp“ des späteren Vortrag einer möglichen „Ganzheit“ keineswegs aufgelöst. Was hier beispielhaft als rhetorische Analyse einer Philosophie erscheint, trifft ihren „Kern“, die „Sache“, um der es ihr 18 19

GS 6, 416 u. ö. GS 6, 502.

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einzig zu gehen hat, über ihre „Syllogismen“, die sie in der Trennung von Philosophie und Rhetorik selber verachtet. Der sich auf Heidegger berufende „Jargon der Eigentlichkeit“ aber sei „Ideologie als Sprache, unter Absehung von allem besonderen Inhalt. Sinn behauptet sie durch den Gestus jener Würde, mit der Heidegger den Tod bekleidet“ – Kritik eines bloßen „Ornatus“. „Würde“ aber sei „idealistischen Wesens“. Im Schluss seines Essays kommt Adorno auf einen „Versuch“ zurück, der gleichermaßen in Rhetorik und Philosophie Epoche gemacht hat: auf Schillers „Über Anmut und Würde“, ein Versuch also nach der Transformation der alten Wirkungsrhetorik durch Baumgarten und Kant in eine „philosophische“ „Ästhetik“. Schiller beziehe sich, im Titel, auf die beiden zentralen Konzepte angemessener und nicht leerlaufender Rhetorik, auf Ciceros und Quintilians „venustas“ und „gravitas“, auf „ethos“ und „pathos“.20 Die „Errettung des rhetorischen Moments“ gewinnt seine kritisch-historische Dimension. Im „Jargon der Eigentlichkeit“„stürzt am Ende die Kantische Würde zusammen, jene Menschheit, die ihren Begriff nicht an der Selbstbesinnung hat sondern an der Differenz von der unterdrückten Tierheit.“21 Versucht man abschließend, systematisierend, die Orientierungspunkte einer ‚Negativen Rhetorik‘ als „Antistrophe“ der „Negativen Dialektik“, als „Rettung“ des „sprachlichen Wesens“ in der Philosophie zu bestimmen, so stehen alle Hauptstücke der praktischen Rhetorik in Rede: „ethos“ und „pathos“, das „aptum“, die Topik, die Tropik. Die Pointe ist, dass sie, gemäß den Regeln der Polemik, auf eine philosophische „Redeweise“ angewandt werden, die mit der behaupteten „Eigentlichkeit“ ihr Recht auf überzeugende Rede selbst ad absurdum führt. Die kritische Analyse des „Jargons“ zeigt, so Adorno, dass der platonische Vorwurf der idealistischen Philosophie gegen die sophistische Rhetorik, sie diene der Lüge, letztlich auf die Philosophie zurückfallen muss. Adornos Versuch einer ‚Negativen Rhetorik‘ ist ein doppelter, einerseits eine Kritik des idealistischen Scheins, der „Ideologie“, andererseits aber auch Sprachkritik, in der beanspruchte Wahrheiten, „Eigentlichkeit“ auf ihr sprachliches Unwesen untersucht werden. Als Analyse von „Redeweisen“ findet diese ihren gesonderten Platz in einer neuen, kritischen Rhetorik, die den Index des Wahren und Falschen in einer Analyse des Bezugs der Wörter auf die Sachen aufsucht. Die scheinbar ubiquitäre Erkenntnis, dass „Wahrheit“ nur „in Sprache“ gesucht, im schönsten Fall, gefunden werden kann, und dass das „rhetorische Moment“ mit dem „ästhetischen“ unlösbar verbunden ist, findet 20 21

Schiller, Werke, Fricke/Göpfert, Bd. 5, S. 478. GS 6, 522.

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im „Jargon der Eigentlichkeit“, gelesen als ‚Negative Rhetorik‘, auch ihren Platz in einer neueren Geschichte eine Renaissance, einer kritischen „Rettung“ der Rhetorik.

Literatur Adorno, Theodor W. (1966): Negative Dialektik. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Adorno, Theodor W. (1970): Gesammelte Schriften. Band 6. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Aristoteles (1980): Rhetorik. Übersetzt von Franz G. Sieveke. München: Fink. Dockhorn, Klaus (1968): Macht und Wirkung der Rhetorik. Bad Homburg 1968. Mörchen, Hermann (1981): Adorno und Heidegger. Untersuchung einer philosophischen Kommunikationsverweigerung. Stuttgart: Klett-Cotta. Schanze, Helmut / Josef Kopperschmidt: Rhetorik und Philosophie. München: Fink 1989. Schiller, Friedrich (1989): Werke. Bd. 5. Hg. v. Fricke/Göpfert. München: Hanser. Schlegel, Friedrich (1967): Athenäumsfragment 116. In: Ders.: Kritische Ausgabe. Hg. v. Ernst Behler (u.a.). Paderborn (u.a.). Bd.2, S. 182f.

Josef Kopperschmidt

Warum Heideggers Interesse an der Rhetorik kein Glücksfall für die Rhetorik war

1. Vorbemerkung Natürlich ist mir bewusst, dass ich mit der Titelfrage und dem in ihr angedeuteten Zweifel an der positiven Rolle Heideggers für die (bes. philosophische) Rehabilitation der Rhetorik einigen Positionen in der einschlägigen Rhetorikforschung widerspreche, die diese Rolle ganz anders einschätzen. Aus Platzgründen kann ich mich mit diesen Positionen hier nicht näher befassen; ich erwähne sie nur als Beleg dafür, dass der Disput über Heideggers (zumindest zeitweiliges) Interesse an Rhetorik und dessen Relevanz für die Rhetorik alles andere als bereits entschieden ist. Entschieden aber ist schon jetzt, meine ich, dass vom Renommee des Namens Heidegger auch die Rhetorik und das philosophische Interesse an ihr profitiert haben, selbst wenn dieses Interesse – so mein Verdacht – durch Heidegger auf einen Holzweg (im nicht-heideggerschen Sinne) gelenkt worden ist. Doch selbst eine Kritik des Heidegger’schen Interesses an Rhetorik nötigt zur Klärung der Kriterien, deren sich diese Kritik bedient, und leistet damit einen Beitrag zur Klärung des jeweils unterstellten Rhetorikverständnisses, aus dem diese Kritikkriterien gewonnen sind. Der Fall von Heideggers SS-Vorlesung 1924 über „Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie“ (2002 als GA 18 erstmals ediert) ist ein besonders geeignetes und interessantes Beispiel für einen solchen Klärungsversuch, weil jede Kritik an dieser Vorlesung zugleich auch zu einer Kritik an der von Heidegger versuchten Rekonstruktion des Aristotelischen Rhetorikverständnisses ist, wodurch die Zahl der in Betracht kommenden Rhetorikverständnisse erkennbar recht schnell wächst. Mein Beitrag ist nur ein kleiner Versuch, an einigen Beispielen aus der 1924er-Vorlesung die Problematik von Heideggers Deutung der Aristotelischen „Rhetorik“ zu belegen, die nämlich, wäre dessen Deutung haltbar, die Rolle dieser „Rhetorik“ bei der philosophischen Entdeckung der Rhetorik allgemein als eines attraktiven Modells für eine moderne deliberative Verständigungs- und zustimmungsabhängige Geltungstheorie völlig unverstehbar machen würde. Ich leite daraus mein Urteil ab, dass Heideggers Deutung der Aristotelischen „Rhetorik“ der Intention dieses Textes nicht gerecht wird und erkläre dieses Misslingen aus einer fatalen Kontamination unvereinbarer Rhetorikverständnisse durch Heidegger.

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2. „Das Man“ als „das Wie der Alltäglichkeit“ Das Interesse an seinem Interesse an Rhetorik verdankte Heidegger bis 2002 eigentlich einem einzigen Satz. Der steht – eher „beiläufig“, wie Dockhorn mit recht anmerkte (1966, 186) – in „Sein und Zeit“ von 1927. In diesem Satz wird behauptet, dass die Aristotelische „Rhetorik“ entgegen ihrer traditionellen Interpretation als „erste systematische Hermeneutik der Alltäglichkeit des Miteinanderseins“ gelesen werden müsse (1957, 138). Seitdem Heideggers 1924er-Vorlesung nicht mehr nur ganz Wenigen über entsprechende Nachschriften einsehbar ist, sondern nach ihrer Publikation 2002 allen einschlägig Interessierten zugänglich wurde, ist es leichter geworden, Heideggers e.z. kühne These über die Aristotelische „Rhetorik“ kontextuell zu verorten und sowohl ihrer Genese aus der 1924er-Vorlesung zu rekonstruieren wie ihre intrinsische Anfälligkeit für eine rhetorikrepugnante Deutung kenntlich zu machen. Die zur Schlüsseldefinition avancierte e.z. These über die Aristotelische „Rhetorik“ ist genauerhin das Produkt der Heidegger’schen Interpretation und Kombination von zwei „Definitionen“ aus der Aristotelischen „Politik“, die für die europäischen Denktradition eine singuläre Bedeutungsrelevanz besitzen: „Der Mensch ist ein Wesen, das spricht“ (zoon logon echon) und „Der Mensch ist ein Wesen, das auf die polis als Lebensraum angelegt ist“ (zoon politikon) (Pol. I 2). Heidegger behauptet nun, dass diese beiden (scheinbar) definitorischen Aussagen über den Menschen nicht „auseinander deduziert (werden dürfen), sondern das Phänomen des Daseins des Menschen als solches (habe) gleichursprünglich das Sprechendsein und das Miteinandersein“ (2002, 64): „Der Mensch ist in der Weise des Miteinanderseins“ (ebd. 63). Ich behaupte dagegen, dass es nicht nur nicht selbstverständlich ist, die beiden Aristotelischen „Definitionen“ über den Menschen in der von Heidegger als einzig richtig unterstellen Weise zu lesen, nämlich als „gleichursprünglich“, sondern dass diese Deutung der Aristotelischen Intention sogar eindeutig widerspricht. Die Beziehung zwischen den beiden Aussagen ist nämlich bei Aristoteles eindeutig teleologischer Art, will sagen: Aristoteles behauptet, dass der Mensch „ein sprachfähiges Wesen (sei)“, damit (!) er als „ein politisches Wesen“ leben könne und d.h.: damit er mittels deliberativer Verständigung mit seinesgleichen in „Freiheit und Gleichheit“ ein gelingendes Leben (eu zen) leben könne, das mehr als ein bloßes „Überleben“ sei (Pol. I 3; III 9). „Die Natur macht“ nämlich – so Aristoteles’ entsprechendes Argument – „nichts umsonst“ (ebd.; I 8), woraus folgt, dass die singuläre Sprachfähigkeit des Menschen nur teleologisch bzw. finalistisch richtig verstanden werden kann, eben als notwendige Bedingung einer Lebensform, die wie die politische ohne Sprache gar nicht möglich ist, weil sie auf einer nur sprachlich ermöglichbaren „Gemeinsamkeit“ normativer Überzeugungen beruht (ebd.). Insofern kann Aristoteles den

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Menschen als ein „von Natur aus“ („physei“) „politisches Wesen“ bezeichnen und d.h.: als ein Wesen, das erst als politisches zur vollen Entfaltung seiner wesenhaften Möglichkeiten („telos“) gelangt (ebd.), was zugleich jeden, der „a-polis“ lebt, als ein Wesen zu bezeichnen nötigt, das entweder mehr (Gott) oder weniger als ein Mensch (Tier) ist“ (ebd.). Insofern handelt es sich bei den beiden einschlägigen Aussagen in der Aristotelischen „Politik“ nicht um zwei „gleichursprüngliche“ „Definitionen“ des Menschen, sondern nur um eine Definition, die den Menschen als „politisches Wesen“ bestimmt und darum sinnvollerweise auch in der „Politik“ steht, während es sich in der zweiten vermeintlichen „Definition“ in Wahrheit um eine Funktionsbestimmung von Sprachfähigkeit handelt als unerlässlicher Voraussetzung einer politischen Existenz und Indiz ihrer natürlichen Finalität, die darum sinnvollerweise auch wieder in der „Politik“ steht und nicht in der „Rhetorik“1. Die Folgen von Heideggers Fehldeutung der immanenten Funktionslogik der beiden geschichtsträchtigsten Aussagen über den Menschen als „Definitionen“ sind für die Rhetorik fatal, aber im spezifischen Kontext des Heidegger’schen Interesses an Rhetorik als einer „Hermeneutik der Alltäglichkeit des Miteinanderseins“ waren sie strategisch durchaus hilfreich, um die Bedingungen zu klären2, unter denen ein anderes als das alltägliche, eben ein philosophisches und d.h.: ein selbstverantwortetes Reden hat entstehen können – oder sogar müssen; denn das „alltägliche“ Reden ist nach Heidegger ein Reden, das Selbstverantwortung für sich zu übernehmen gar nicht zulässt, weil es ein Reden im Modus des „Man“ ist, und das so sehr, dass sogar „die primäre Aussage ‚ich bin‘ eigentlich (bereits) falsch ist. Man muss sagen: ‚ich bin man‘. (Denn) ‚man‘ ist, ‚man‘ unternimmt das und das, ‚man‘ sieht die Dinge so und so. Dieses Man ist das eigentliche Wie der Alltäglichkeit, des durchschnittlichen, konkreten Miteinanderseins. Aus diesem Man heraus erwächst die Art und Weise, wie der Mensch die Welt zunächst und zumeist sieht, wie die Welt den Menschen angeht, wie er die Welt anspricht. Das Man ist das eigentliche Wie des Seins des Menschen in der Alltäglichkeit und der eigentliche Träger dieses Man ist die Sprache (ebd. 63f.).

„Miteinandersein“ als „Sprechendsein“ ist also zugleich ein „Sein in der Alltäglichkeit“ des „Man“! Es dürfte schon jetzt nicht mehr schwer fallen, die zentrale strategische Funktion dieser zielstrebigen begrifflichen Vernetzungslogik für Heideggers

1 2

Zur Beziehung zwischen Logizität und Politizität des Menschen s. Kopperschmidt 1995, 77ff. „Wir suchen nach der Basis, der Bodenständigkeit der Begriffsbildung im Dasein selbst. Begriffsbildung … ist eine Grundmöglichkeit des Daseins selbst, sofern es sich für die Wissenschaft entschieden hat“ (2002, 194).

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Projekt zu erahnen, das ja die Genese eines philosophisch verantworteten Redens am Beispiel der Genese „aristotelischer Grundbegriffe“ aufzeigen will: Wenn sich tatsächlich das „Man“ als das „Wie der Alltäglichkeit des Miteinanderseins“ verstehen lässt und wenn die Aristotelische „Rhetorik“ tatsächlich als „Hermeneutik der Alltäglichkeit des Miteinanderseins“ verstanden werden will, dann müsste – so das unterstellbare Kalkül – Rhetorik sich doch auch für eine Hermeneutik der „Sprache“ nutzen lassen, die nach dem o. Zitat „der eigentliche Träger dieses Man ist“, will sagen: Rhetorik müsste sich nutzen lassen als „Leitfaden“ (ebd.139) für die systematische Beobachtung bzw. Rekonstruktion des Redens im „alltäglichen“ Modus des „Man“, um den „Boden“ beschreiben zu helfen, „aus dem“ ein ganz anderes Reden entstehen konnte – und musste, sobald erst einmal ein Reden „mit den Sachen selbst“ statt bloß ein Reden „über die Sachen“ erstrebenswert wird und damit zugleich ein Dasein, das man nicht „verschläft“ (ebd. 100), sondern bewusst „ergreift“. In vorgreifender Kenntnis des einschlägigen Kapitels aus „Sein und Zeit“ von 1927 (§ 27 „Das alltägliche Selbstsein und das Man“) könnte man die hier von Heidegger konturierte Rhetorik noch präziser als Hermeneutik des „Manselbst“ oder sogar des „Niemand“3 kennzeichnen und diese Form des Daseins, die man als „man“ „zunächst und zumeist ist“, „unterscheiden von dem eigentlichen, das heißt eigens ergriffenen Selbst“: „Das Begriffliche“ avanciert so gesehen erkennbar (nicht nur etymologisch) zu einer spezifischen Weise der bewusst, explizit und „radikal“ „ergriffenen (!) Auslegung des Daseins selbst“ (2002, 278) und damit zur „eigentlichen Weise des Daseins“ (ebd. 100), die bei Heidegger als „Existenz“ terminologisiert und nobilitiert wird (ebd. 44; vgl. 165; 218, 265). Folgt man dieser Interpretation des „Man“ als „Boden“, dem solche „Existenz“ allererst noch „abgerungen“, ja abgekämpft werden muss (ebd. 109; 262f.), dann erschließt sich auch ein zunächst höchst befremdlicher Übersetzungsvorschlag Heideggers für die Aristotelische „Definition“ des Menschen als eines „zoon logon echon“, von der Heidegger selbst annimmt, dass sie seinen Zuhörer zumindest „merkwürdig klingen“ müsste, von der er aber wieder fest überzeugt ist, dass sie durchaus – anders als gängige Übersetzungen – dem Sinn „der griechischen Definition entspricht“, nämlich: „Der Mensch ist ein Lebewesen, das Zeitung liest“ (ebd. 108). Das ist wahrlich eine „merkwürdige“ Übersetzung für eine der berühmtesten „Definitionen“ der europäischen Denkgeschichte, die zwar schwerlich den Sinn der Aristotelischen Formel

3

„Das Man…. ist das Niemand, dem alles Dasein im Untereinandersein sich je schon ausgeliefert hat…Das Man ist als das Niemand (kein) Nichts. Im Gegenteil, in dieser Seinsart ist das Dasein ein ens realissimum, falls ‚Realität‘ als daseinsmäßiges Sein verstanden wird“ (2002, 128).

Heideggers Interesse an der Rhetorik

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treffen dürfte, wohl aber wieder Sinn macht innerhalb einer Argumentation, die wie die Heidegger’sche – anders als Aristoteles – nicht mehr an Sprache bzw. Reden als Distinktiv zwischen Mensch und Tier interessiert ist, sondern an der Differenzierung zwischen zwei Weisen des Redens (rhetorische „Alltäglichkeit“/ philosophische „Begrifflichkeit“)(ebd. 158), die aber nur dann plausibel wird, wenn das alltägliche Reden funktional möglichst pragmatisch bestimmt wird. Genau das will m.E. Heideggers Übersetzungsvorschlag leisten, insofern das „Zeitung lesen“ zwar nicht die Sprachfähigkeit des Menschen erschöpfen, wohl aber Sprechen als eine vergleichsweise „alltägliche“ Tätigkeit kennzeichnen soll, wie sie sich eben in „Gespräch“ und „Rede“ realisiert, wenn man „so redet“, wie man „außerhalb der Wissenschaft (redet)“ (ebd.107).

3. Wie spricht eigentlich „das (sic!) Man“? Man kann – meine ich – nach dem bisher Gesagten das strategische Kalkül von Heideggers „philologischen“ Unternehmen (ebd. 5) relativ genau erkennen, das sich – wie gezeigt – zunächst aus der Aristotelischen „Politik“ (und nicht aus der „Rhetorik“) eine vermeintlich allgemeine Definition des Menschen mittels illegitimer Verselbständigung zweier finalistisch verknüpfter Aussagen zu konstruieren versucht, um dann dieses Definitionskonstrukt als Kennzeichnung einer bloß „zunächst und zumeist“ gelebten Form des „Miteinanderseins“ im „man“ zu relativieren, das schließlich als „alltäglich“ spezifiziert und damit implizit einem Binärcode unterworfen wird, der entsprechend ein „nichtalltägliches“ Reden nicht nur zulässt, sondern geradezu erzwingt; zumindest für denjenigen, der sein Reden nicht bloß aus den Plausibilitäten eines „doxastischen“ bzw. meinungshaften „Man“ beziehen, sondern sein Reden als ein „Ich“ in der 1. Person Singular selbst verantworten will und d.h.: der selbst „die Verantwortlichkeit für den Begriff (als der Substanz jeder wissenschaftlichen Forschung) übernehmen (will)“ (ebd. 63; 6). Operativ ist dieser Anspruch nach Heidegger methodisch einlösbar durch einen „horismos“, d.h. durch ein definitorisches (also eingrenzendes bzw. – so Heidegger – „begrenzendes“) Gewinnen einer „Begrifflichkeit“ aus der alltäglichen Sprache „des Man“ (ebd., 36f.); denn erst eine solchermaßen „nicht alltägliche“, „nicht primäre“, nicht „durchschnittliche“, nicht „oberflächliche“, „sondern ganz ausgezeichnete (Möglichkeit des Sprechens)“ kann die Chance eines „eigentlichen Ansprechens der Welt“ eröffnen, was nämlich meint: „radikal mit der Welt zu sprechen“ (ebd. 36; 40). An einer späteren Stelle der 1924er-Vorlesung wird diese Operation dann sinnfällig charakterisiert als „Entkleiden (der Dinge) des Aussehens, das sie im nächsten Umgang haben“ (ebd. 262), bzw. als „Freimachen

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von dem, was Gerede (!) und unsachliche Diskussion über sie (die Dinge) geschichtet haben“ (ebd. 278; vgl. 158)4. Es geht bei dieser Operation mithin im Prinzip um ein Abräumen der vielen sachfremden, weil meinungshaften Bedeutungsschichten, die schließlich auch erwartungsgemäß bald einer im Sinne Platons als sophistisch pejorisierten Rhetorik angelastet werden. Dazu u. (Kap. 3) mehr und zu der „Anstrengung“, die das „Herausarbeiten der reinen Sachlichkeit aus dem…Gerede“ einer sophistischen Rhetorik die Philosophen nach Heidegger gekostet haben soll, namentlich Plato und (!) Aristoteles; hier muss es vorerst noch einmal um die Aristotelische „Politik“-Definition des Menschen als „zoon politikon“ gehen und um die höchst problematische Deutung eines für diese „politische“ Daseinsweise konstitutiven Begriffs, nämlich: Deliberation („bouleuesthai“). Für höchst problematisch nämlich, wenn nicht sogar für schlicht irreführend halte ich es, wie Heidegger seine Deutung des „Man“ als Strukturelement der „Alltäglichkeit“ über eine (gewohnt) eigenwillige Interpretation des Aristotelischen Schlüsselbegriffs „Deliberation“ präzisiert. Von einer Irreführung ist m.E. in diesem Fall mal wieder zu sprechen, weil der Sinngehalt des einschlägigen Aristotelischen Textes, obwohl er eigentlich kaum missverstanden werden kann, durch Heidegger massiv verfälscht wird. Der einschlägige Text behauptet nämlich, dass die deliberative Verständigungsarbeit den konstitutionellen Mangel von Praxis an epistemischer (wissenschaftlicher) Zugänglichkeit methodisch zu kompensieren versucht; und zwar primär dadurch, dass praktische Problemfragen durch systematische Verknüpfung mit allgemein anerkannten Meinungen („endoxa“) so vermittelt werden (z.B. argumentativ), dass aus deren unterstellter Zustimmungsfähigkeit sich zustimmungsfähige Problemlösungen überzeugend gewinnen lassen. Der Grad des Gelingens eines solchen Zustimmungstransfers ist nach Aristoteles ein Indiz für wahrheitsfähige Verständigung, weil „das Wahre und Gerechte von Natur aus stärker (überzeugender) ist als das jeweilige Gegenteil“ (Rh. 1355a). Doch was Heidegger aus diesem eindeutigen Plädoyer für Rhetorik als deliberativer Methode wahrheitsfähiger Handlungsaufklärung im Interesse eines gelingenden Lebens interpretativ macht, ist in der Tat schon unglaublich: Aus der spezifisch menschlichen Sprachfähigkeit und der damit ermöglichten singulären Verständigungschance, situativ jeweils fällige Handlungsentscheidungen aus den gemeinsam geteilten Vorstellungen über „gut und schlecht, gerecht und ungerecht“ zu gewinnen (Pol I 2), wird bei Heidegger ein für die „doxastische“ 4

Die gewählte Kleider-Metaphorik erinnert an Heideggers „privativen“ Wahrheitsbegriff (2002/1, 49 u.ö.), den er gegen alle philologischen Bedenken stets verteidigte und später mit dem Höhlengleichnis (als seiner narrativen Übersetzung) abzustützen versuchte, obwohl er dafür nur ein problematisches Heraklit-Zitat anzuführen wusste (1957, 219f.; vgl. Kopperschmidt 2009, 347ff.).

Heideggers Interesse an der Rhetorik

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bzw. meinungshafte „Alltäglichkeit“ (!) typisches Reden, in dem sich das „besorgende“ bzw. „überlegende Sprechen über das Beiträgliche“ vollzieht (2002, 61) und in dem „ein Miteinanderhaben von Welt“ (ebd., 49) konstituiert wird, das „Gemeinsamkeit“ (koinonia) von Wertvorstellungen weniger als auszeichnendes Distinktiv des Menschen versteht denn als „Durchschnittlichkeit“ eines „Man-selbst“, das in Wahrheit ein geschlechtsloses und subjektloses „Niemand“ ist, weil es sein „Orientiertsein in der Welt“ „zunächst und zumeinst“ aus der jeweils „herrschenden Verständlichkeit“ bezieht, also aus Meinungen, die „man“ gemeinhin so hat (ebd. 49ff.; 275f.). Hätte tatsächlich dieses „Man…die eigentliche Herrschaft in der Sprache“ (ebd. 62) und wäre damit tatsächlich die Aristotelische „Grundbestimmung des Seins des Menschen als zoon politikon“ angemessen getroffen (ebd.), wäre weiter für „doxa“ (Meinung) tatsächlich primär kennzeichnend, „dass sie auch andere haben“ (ebd. 14) und nicht vielmehr dies, dass sie gemeinhin nur im Plural vorkommt, weshalb ihr subjektgebundener Geltungsanspruch sie zum Ringen um öffentliche Anerkennung und intersubjektive Zustimmung nötigt, weil sie nur als gemeinsam geteilte Meinung überhaupt handlungs- und kooperationswirksam werden kann, – wäre es also tatsächlich so, wie Heidegger annimmt, es bliebe völlig unverständlich, wie sich aus der Addition solch ich-loser „Niemands“ im Prozess öffentlicher Deliberation ein Summierungseffekt an praktischer Einsicht ergeben könnte. Den aber unterstellt Aristoteles eindeutig (gegen Platon) – und den kann er auch unterstellen, weil er ihn nicht aus dem egalisierten „Man-selbst“ der einzelnen Deliberierenden ableitet, sondern aus ihren jeweils individuellen Deliberationsbeiträgen, die zusammen nicht trotz, sondern gerade wegen ihrer differenzierten Einzelkompetenzen regelhaft zu bessern Urteilen gelangen als jeder einzelne für sich selbst und allein (Pol. 1281a/b; vgl. Kopperschmidt 1995, 85ff.; ders. 2009, 390; Surowiecki 2005; Miller 2010). Den Deliberationsbegriff, der für Aristoteles’ Ausdifferenzierung des spezifisch rhetorischen Redens in dessen „Rhetorik“ fundamental ist (1356b/1357a), zitiert Heidegger zwar zweimal in entsprechenden Anmerkungen (2002, 158 ff. bzw. 161), doch jedes Mal wird die Pointe des Zitats völlig verfehlt, weil Heidegger den Begriff „Deliberation“ („bouleuesthai“) unbedingt für die Charakterisierung alltäglicher Rede umfunktionalisieren will, die entsprechend als bloß meinungshaft („doxastisch“) bestimmt und als genuiner Gegenstand der Rhetorik von der philosophisch/wissenschaftlichen Rede („dialegesthai“) unterschieden werden soll (ebd. 155; 158ff.). Doch Deliberation meint bei Aristoteles nicht, wie Heideggers Übersetzung suggeriert, das, „was schon immer (?) in der Gewohnheit steht, Gegenstand der Beratung zu sein“, d.h. „worüber man sich von altersher (?) im Miteinandersein in der polis unterhält (?)“ (ebd. 161; vgl. 136), sondern Deliberation meint das, „worüber wir beraten (müssen, weil) wir dafür keine wissenschaftliche Erkenntnismethode ha-

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ben“; und die kann es nach erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Prämissen der Antike (und noch weit über sie hinaus) nicht geben bei Gegenständen, die – wie menschliches Handeln („praxis“) – „sich auch anders verhalten können“, also nicht ewig, nicht unveränderlich und darum auch nicht vollkommen sind (s. auch Rapp 2002/2, 171ff.), mithin für evidenzbezogene Erkenntnisansprüche prinzipiell nicht zugänglich sind, sondern sich mit rhetorischer Verständigungsarbeit als deren einschlägiger Kompensation begnügen müssen. Bei Heidegger wird also aus dem bei Aristoteles ontologisch begründeten „Es könnte auch anders sein“ ein bloßes Charakteristikum „doxastischen“ Redens, das „gar nicht alles hinsichtlich seines Sachgehalts erforscht hat, (sondern) sich daran hält, was die anderen sagen“ (ebd. 151). Entsprechend leitet Heidegger das Reden-Müssen nicht wie Aristoteles aus dem für ein „politisches“ Zusammenleben dringenden Deliberations- bzw. Verständigungsbedarf epistemisch unzugänglicher praktischer Problemfragen ab, sondern aus der Struktur einer „doxa“, deren „Sinn (es) ist, eine Diskussion offen zu lassen (!)“ (ebd.), w.h.: die sich nicht festlegen will, obwohl das – so muss man als Leser unterstellen – möglich wäre, wenn man „an der Sache selbst“ statt an seinen eigenen „Ansichten von ihr“ interessiert wäre. Dieses scheinbar sachfremde Interesse an „Ansichten“ kann Aristoteles freilich anders als Heidegger weit plausibler erklären, nämlich aus der prinzipiellen Subjektbindung jeder „doxa“, um deren überzeugte Zustimmungsfähigkeit darum auch jeder Redende konsequent und legitim mit allen seinen persuasiven Kräften werben muss. Dabei „spricht“ der Redende als Anwalt der von ihm vertretenen Sache und nicht, wie Heidegger will, bloß neben der Sache „mit“, wenn er „für die Sache spricht“, wodurch „die Sache an sich selbst“ aber eher meinungshaft „verdeckt“ wird und deshalb „nicht (mehr) für sich selbst sprechen kann“ (ebd. 150; 119). Dass sie es aber durchaus könnte, ist dabei ebenso bei Heidegger unterstellt, wie seine Lieblingsformel für das meinungshafte Alltagsverständnis, dass es nämlich bloß ein „Vertrauen zu dem (abbildet), was sich zunächst (und zumeist) zeigt“, so tut, als impliziere dieses „zunächst und zumeist“ eine temporale bzw. modale Geltungseinschränkung des Alltagsverständnisses, insofern es sich auch als „Boden (!) für die Untersuchung der Sache selbst“ instrumentell umfunktionalisieren lasse (152), der dann offensichtlich „rein für sich selbst (zu) sprechen (gelingen könnte)“ (ebd. 150). Mit dieser Annahme scheint mir der entscheidende Differenzpunkt zu Aristoteles und dessen „Rhetorik“ markiert zu sein, deren eigentlichen „Sinn“ Heideggers Vorlesung ja zu eruieren und gegen Missdeutungen schützen zu können versprochen hat, den sie aber interessebedingt verfehlen muss: Aristoteles sieht in der Rhetorik nämlich anders, als Heideggers Deutung will, keine Verhinderung, „die Sache an sich selbst rein für sich sprechen (zu lassen)“, sondern im Gegenteil die einzige und wirksamste Chance – das macht ihre „Nützlichkeit“ aus (!) – , sie allererst zum Sprechen zu bringen, weil sich bei

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praktischen und d.h. epistemisch nicht zugänglichen Problemfragen die Sache selbst gar nicht anders als in der Zustimmungsfähigkeit eines für die Sache überzeugend werbenden Redens zur Geltung bringen kann. Das ist wahrlich eine ganz andere Art von „Nützlichkeit“ der Rhetorik als die, die Heidegger an ihr schätzt, um die Notwendigkeit einer philosophische „Begriffsbildung im Dasein“ zu plausibilisieren, die dessen meinungsverhaftete Fesseln zu sprengen vermag (ebd. 104).

4. Definitionskontamination Ebenso wie die hier vertretene Einschätzung der Aristotelischen „Rhetorik“ (als Theorie und Methodisierung verständigungsbezogener Überzeugungsarbeit im Fall problematisierter Geltungsansprüche) sich mit Heideggers Deutung dieser Pragmatie (als „erster systematischen Hermeneutik“ des alltäglichen bzw. meinungshaften Verständigtseins) reibt, gib es auch weitere relevante Divergenzen in der jeweiligen Bewertung der Rhetorik allgemein bei Aristoteles und Heidegger: Bei Aristoteles ist die rhetorische Verständigungsarbeit zwar (aus den o.g. Gründen) ontologisch und deshalb auch erkenntnis- und wissenschaftstheoretisch prinzipiell defizitär, aber das verändert (mangels Alternativen) nicht ihre prinzipielle Unersetzbarkeit und pragmatische „Nützlichkeit“, deren Nachweis ja die Aristotelische „Rhetorik“ dient. Bei Heidegger gilt umgekehrt die Rhetorik der „Alltäglichkeit“, insofern sie zum „Man als eines wesentlichen Existenzials“ gehört (1957,129), zwar nicht per se als defizitär, sondern hat sogar Teil an dessen existenzialer Nobilitierung, doch diese Rolle kommt gegen den durchgehend pejorisierenden Eigensinn der Heidegger’schen Beschreibung dieser Rolle („durchschnittlich“, „oberflächlich“, „uneigentlich“, „alltäglich“, „Gerede“, „Geschwätz“ usw.) nicht an und kann ihn auch trotz emphatischer Gegenrede (bes. 1957, 128ff. ) nicht zum Schweigen bringen. Und selbst wenn das gelänge, bliebe es immer noch völlig unbegreiflich, warum „gegen“ diese Rhetorik der „herrschenden Verständlichkeit“ bzw. „Durchschnittlichkeit“ und des „besorgenden Umgangs mit der Welt“ (2002, 272ff) die Philosophie ankämpfen und eine „Begrifflichkeit“ wie die von Heidegger an Aristoteles exemplarisch rekonstruierte hätte überhaupt entwickeln müssen; denn die soll ja „die Sachen an sich selbst… rein“ und „ohne praktische Abzweckung“ „für sich selbst sprechen (lassen)“ ebd. 150), sodass „der logos selbst praxis“ werden (ebd. 159) und ein „eigentliches Ansprechen der Welt“ ermöglichen kann (ebd. 40). Wenn eine solche Sprache der „reinen Sachlichkeit“ aber offensichtlich als möglich unterstellbar ist und wenn sie – anders als die von Aristoteles gemeinte Rhetorik aufgrund ihrer ontologischen und erkenntnistheoretischen Fundierung – eine veritable Option

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darstellt, die „eine existenziell Modifikation des Man“ und damit ein „eigentliches Selbstsein“ in Aussicht stellen kann (1957, 129), dann bekommt man ein Problem, das schon Platon hatte und Heidegger von Platon geerbt hat: Warum wählen Menschen eigentlich diese doch attraktive Option nachweislich so selten und bleiben lieber ihrer vertrauten Meinungswelt treu, für die Platon bekanntlich das berühmte gleichnishafte Bild der Höhle erfunden hat (Pol. 514ff.)? Heidegger verwendet dieses philosophiegeschichtlich wohl einflussreichste Gleichnis erst seit 1926, und erst 1931/2 und 1933/4 widmet er ihm zwei große Vorlesungen, um seinen „privativen“ Wahrheitsbegriff (a-letheia im Sinne von Un-verborgenheit) bildhaft zu plausibilisieren, nämlich als Wahrheit im Sinne von Befreiung aus der Höhle, was auch eine Befreiung aus der Meinungswelt der Rhetorik sein sollte (vgl. Kopperschmidt 2009, bes. 347 u. 365ff.). 1924 hatte Heidegger diese suggestive Höhlen-Metaphorik offensichtlich noch nicht zur Verfügung, wohl aber einen vergleichbar autoritativen Text des gleichen Autors, mit dem sich die Rhetorik als ein philosophisch höchst fragwürdiges Phänomen der Sophistik diskreditieren ließ, gemeint ist natürlich Platons Dialog „Gorgias“. Dass Heidegger in einer Aristoteles gewidmeten und dessen „Rhetorik“ ausgiebig nutzenden Vorlesung eine Platonische Rhetorikdefinition aus dem „Gorgias“ nicht nur zitiert, sondern ihr eine argumentativ zentrale Funktion einräumt, ist schon sehr merkwürdig. Noch merkwürdiger ist, dass – wie o. bereits vermerkt – einschlägige Definitionen aus Aristoteles „Rhetorik“ Heideggers Interesse weit weniger zu wecken vermochten. Die Erklärung dieser Merkwürdigkeit liegt auf der Hand: Heidegger konnte bei Aristoteles keinen Begriff von Rhetorik finden, an dem sich die „Verfallensgeneigtheit“ menschlicher Rede hätte illustrieren und als Grund für die notwendige Entwicklung einer philosophischen Begriffssprache hätte plausibilisieren lassen. Das ging nur mit Platon, bes. gut mit Platons „Gorgias“ als der wichtigsten philosophischen Kampfschrift gegen die Rhetorik. Wer wie Heidegger diese Schrift zitiert, kann nicht mehr glaubhaft behaupten, deren pejorisierende Intention einklammern zu können. Das ist genau so kontraintuitiv wie den pejorisierenden Eigensinn der o.z. Beschreibung rhetorischen Redens5 existenzialhermenutisch neutralisieren zu wollen, was schon Adorno Heidegger nicht abnahm6. Zudem verrät bereits Heideggers Übersetzung der gemeinten Rhetorikdefinition aus dem „Gorgias“ („rhetorike peithous demiourgos“ 453a2), wie 5

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Als weitere Beispiele solcher Pejorisierung wären neben dem für eine moderne Rhetorik zentralen Begriff „Öffentlichkeit“ (Fluchtort des „Man“) besonders noch das „Verfallens(syndrom)“ zu nennen, s. dazu u. Kap. 3. „Während Heidegger als unparteiischer Wesensbeschauer einräumt, Uneigentliches könne ‚das Dasein nach seiner vollen Konkretion bestimmen‘, sind die Beiworte, die er jenem Seinsmodus zuerteilt, vorweg gehässig“ (1964, 82).

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sehr er sich die platonisch pejorisierende Sichtweise der Rhetorik zueigen gemacht und wie weit er sich von der des Aristoteles entfernt hat: „Das Redenkönnen ist diejenige Möglichkeit, in der ich (!) über die Überzeugungen der Menschen, wie sie miteinander sind, die eigentliche Herrschaft (!) habe. In dieser Grundverfassung der Griechen ist der Boden zu suchen für (die) Definition des Menschen“, nämlich dass „der Mensch ein Lebewesen ist, das spricht“ (2002, 108). Man beachte, wie aus der Aristotelischen Definition mittels einer kontaminierenden Verknüpfung mit einer Platonischen interpretativ eine entscheidende Bedeutungsverschiebung vorgenommen wird (vgl. Kopperschmidt 2009, 318ff.), die aber als deren authentisches Verständnis ausgegeben wird. Noch deutlicher im folgenden Zitat: „Der Mensch ist ein Lebewesen, das im Gespräch und in der Rede sein eigentliches Dasein hat. Die Griechen existierten in der Rede. Der Rhetor ist derjenige, der die eigentliche Macht über das Dasein hat“ (ebd.). In gerade mal drei knappen Sätzen ist nicht nur eine kühne Brücke vom „Menschen“ allgemein über „die Griechen“ zum „Rhetor“ geschlagen, sondern aus dem Menschen als einem sprachfähigen Wesens ist im Eilverfahren auch ein nach Macht strebendes Subjekt geworden, das im „Rhetor“ seine modellhafte Repräsentanz findet. Dieser forsche Gestaltwandel macht freilich argumentationsstrategisch durchaus Sinn, insofern er Heidegger endlich die Frage definitiv zu beantworten erleichtert, um die es ihm in seiner 1924er-Vorlesung ja primär geht, nämlich: Warum hat die Philosophie sich eigentlich eine Sondersprache erfinden müssen? Hier steht die Antwort: Es war die Rhetorik, die die Philosophie dazu genötigt hat, weil es die Rhetorik war, die „das Man“ lehrte, wie man „seine eigentliche Herrschaft in der Sprache (haben kann)“ ebd. 64), was operativ meint: Wie man die eigene interessenverhaftete Meinung über eine Sache so erfolgreich zu vertreten vermag, dass „die Sache an sich rein für sich selbst zu sprechen“ (ebd. 150) gar keine Chance mehr hat. Macht also als soziale Macht im Meinungskampf ist es, was die Rhetorik mit der von ihr methodisierten Überzeugungskraft der Rede nach Heidegger verspricht. und was ihr erfolgsfixiertes Versprechen so attraktiv macht, dass ein philosophisches Wahrheitsinteresse für die meisten chancenlos bleibt. Heidegger hat für diese These auch gleich ein einschlägiges Zitat von Protagoras bereit, das erkennbar auf den Punkt bringen soll, was Rhetorik mit Sprache als sozialem Machtmittel konkret verspricht, nämlich: „ton hetto logon kreitto poiein“, was Heidegger wie folgt übersetzt: „Über Geometrie zu diskutieren, auch wenn man nichts von Geometrie versteht; das Gespräch so zu führen, dass ich den anderen überwinde ohne Sachkenntnis“ (ebd. 108f.). Ich sage nicht, dass das eine absolut falsche Übersetzung sei7, ich sage nur, dass diese Übersetzung das Ergebnis einer weiteren Kontamination Heideg7

Wörtlicher: „Das weniger Überzeugungskräftige stärker machen“.

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ger’scher Interpretationskunst ist; denn diese Übersetzung des ProtagorasZitats orientiert sich leicht nachprüfbar an der im e.g. Platonischen „Gorgias“ vom Namensgeber vorgetragenen These, der Wert der Rhetorik bestünde darin, über alles auch ohne Sachkenntnis besser als die jeweiligen Sachverständigen reden zu können, wodurch man sich mithilfe einer einzigen Kunst das Erlernen vieler Künste ersparen könne (Gorg. 458ff). Dass die intellektuelle Schlichtheit dieser zeit- bzw. arbeitsökonomistischen Begründung von Rhetorik zum Widerspruch geradezu herausfordern muss und sich als Steilvorlage für Sokrates’ Abrechnung mit dieser Art von („demiourgischen“) Rhetorik besonders gut eignet, versteht sich von selbst, wenn hier auch unentschieden bleiben mag, wie hoch der Platonische Anteil an dieser ärgerlichen These ist. Wichtiger in unserem Zusammenhang ist, dass Heidegger sich von Platon die Deutung einer für das Protagoreische Denken zentralen These kritiklos vorgeben lässt, die mit dem Namen Protagoras zugleich endlich auch den eigentlichen Adressaten benennt, an die sich die Platonische Rhetorikkritik wendet, nämlich an die Sophistik als die einschlägige Haustheorie der Rhetorik. Dass es für den von Heidegger zitierten Satz des Protagonisten der Sophistik spätestens nach Hegels großartigem Kapitel über „Die Philosophie der Sophistik“ in seiner „Geschichte der Philosophie“ (1971/1, 406ff.) eine ganz andere, wenn auch unplatonische Deutung gegeben hätte, sei hier nur am Rande erwähnt. Hier muss der Hinweis auf die erneut erkennbare Argumentationsstrategie Heideggers ausreichen, nämlich die Rhetorik über ihre (ideengeschichtliche durchaus korrekte) Verortung eben dort zu positionieren, wo die wirklichen Konfliktlinien mit ihr seit Platon für Jahrhunderte verlaufen, nämlich zwischen Philosophie und Sophistik. Entsprechend kann jetzt auch „die Existenz der Sophistik“ in die Rolle schlüpfen, die vorher die Rhetorik als das „Gerede“ „des Man“ spielte, nämlich als „Erweis“ zu fungieren für ein „Verfallens (syndrom)“, das nach Heidegger an Rede überhaupt und an Rede „zur Zeit Platos und Aristoteles’“ im besonderen festzumachen ist und das die Notwendigkeit einer sachhaltigen Begrifflichkeit philosophischer Sprache allererst plausibel machen kann; denn nur „aus“ diesem durch Sophistik (inklusive Rhetorik) repräsentierten „Verfallens(syndrom)“ und im Kampf „gegen“ es wird nach Heidegger die Genese philosophischer Begrifflichkeit angemessen verstehbar (ebd. 272ff.). Und genau das ist das Ziel Heideggers in der 1924er-Vorlesung: Nachvollziehbar zu machen, was es bedeutet, „aus dieser Veräußerung des griechischen Daseins, aus dem Gespräch und Gerede das Sprechen zurückzuholen (!), das Sprechen dahin zu bringen, dass Aristoteles sagen kann: Der logos ist logos ousias, ‚Sprechen über die Sache, was sie ist‘. Aristoteles stand in der extremsten Gegenstellung zu dem, was um ihn herum lebendig war… Man darf sich nicht vorstellen, dass den Griechen die Wissenschaft in den Schoß gefallen wäre. Die Griechen sind gänzlich im Äußeren aufgegangen. Zur Zeit Platos und Aristoteles’ war das Dasein so mit Geschwätz (!) beladen,

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dass es der ganzen Anstrengung beider bedurfte, um überhaupt mit der Möglichkeit der Wissenschaft Ernst zu machen“ (ebd. 109). Hier ist kein Platz, auf dieses windige Konstrukt einer historisch frei schwebenden Zeit- bzw. Kulturkritik näher einzugehen, dem man ohnehin leicht ansieht, dass es seinem Autor nicht leicht fallen dürfte, Aristoteles als einen antisophistischen Kampfgenossen Platons plausibel zu machen, der seine „Rhetorik“ sogar – dies der Gipfel Heidegger’scher Interpretationskunst – als systematische Ausarbeitung der Platonischen Idee einer „positiven Rhetorik“ habe verstanden wissen wollen (8). Dass ist ebenso absurd wie der weitere Versuch Heideggers aberwitzig ist, Nietzsche als Autorität für die erwähnte Behauptung über die Sophistik als „Verfallens(syndrom)“ einzuspannen. Denn das Nietzsche-Zitat aus dessen Vorlesung 1872/73, dass Griechische sei „die sprechbarste aller Sprachen“, hat eindeutig einen ganz anderen Fokus als Heidegger zu insinuieren versucht; nicht dass „die Griechen der Sprache verfallen (!) (seien)“, stützt dieses Nietzsche-Zitat ab, sondern dass diese „sprechbarste aller Sprachen“ nicht „vom Himmel gefallen ist“, sondern das Produkt eines „Volkes (ist), das unersättlich viel gesprochen hat“, um sich ein solche Sprache zu „erarbeiten“ (KGA II4, Berlin 1995, 413ff.; vgl. dazu Kopperschmidt/ Schanze 1994). Es fällt mir zugegeben etwas schwer, die Auseinandersetzung mit Heideggers Aristoteles-Vorlesung von 1924 hier abzubrechen, obwohl zu dem für die Rhetorikeinschätzung so zentralen Verfallsparadigma und seiner möglichen Herkunft noch gar nichts gesagt worden ist. Das wäre aber eigentlich nötig, weil die Einführung dieses Pradigmas in die Argumentation alles andere als plausibel ist, wie das einschlägige Zitat belegen kann, das es trotz seiner formallogischen Oberflächenstruktur jedem Verstehensversuch nicht gerade leicht macht: „Wenn die Rede die eigentliche Möglichkeit des Daseins ist, in der es sich abspielt…, dann ist gerade dieses Sprechen auch die Möglichkeit, in der sich das Dasein verfängt. .“ (ebd. 108). Eine fast identische Sprachbzw. Denkstruktur, diesmal aber auf die Grundkategorie „Sorge“ bezogen, findet sich in dem sogenannten Natorp-Bericht von 1922, der sicher nicht zufällig auch eine breite Exposition des für Heidegger so wichtigen Verfallsparadigmas enthält: „Die Möglichkeit, das Sein des Lebens bekümmert zu ergreifen, ist zugleich die Möglichkeit, Existenz zu verfehlen“ (2002/1, 25, 18; vgl. 43, 58, 61, 131, 138ff., und bes. 1957, Kap. 6). Diese erkennbar identische Sprach- und Denkstruktur hilft zwar auch nicht viel weiter, um die intrinsische Logik des zugrunde liegenden Sprach- bzw. Denkmusters aufzuklären, doch erlaubt sie wenigstens den Schluss, dass dieses Sprach- bzw. Denkmuster seine Differenzierungsleistung weder aus der Struktur des Redens (so 1924) noch aus der Struktur der Sorge (so 1922) ableitet, sondern diese eher auf Reden (besorgendes/verfallendes) bzw. auf Sorge (bekümmerte/verfallende) bloß angewendet, was heißt: Seine Plausibilität muss sich anderen Begründungsres-

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sourcen verdanken, etwa gnostischen (Jonas 1991) oder erbsündetheoretischen (Spaemann 2007, 199ff.) oder anderen säkularisierten bzw. existenzialontologisch umfunktionierten Theologumena (vgl. Kopperschmidt 2009, 334 ff.). Jedenfalls ließen sich hier naheliegende Anschlusschancen vermuten für apodiktische Aussagen Heideggers über die „Verfallenstendenz des Lebens“ wie etwa diese: „Hinsichtlich ihres konstitutiven Sinns hat die Negation den ursprünglichen Primat vor der Position. Und das deshalb, weil der Seinscharakter des Menschen faktisch in einem Fallen, in dem welthaften Hang bestimmt ist“ (2002/1, 1922, 27)8. Vielleicht hat diese ebd. von Heidegger als „Urtatsache“ apostrophierte Evidenz einer „Grundtendenz des Lebens zum Abfallen von sich selbst“ (ebd. 19) doch mehr mit dem jahrhundertelang als Urkatastrophe des Menschen theologisch verstandenen Sündenfall zu tun als Heideggers forsche Verpflichtung von Philosophie auf Atheismus (ebd. 28) wahrhaben will.

5. Statt eines Resümees Genug der vorgetragenen Gründe, warum Heideggers Versuch von 1924, die als sophistisch denunzierte Rhetorik als ein „Verfallens (syndrom)“ zu rekonstruieren und aus ihm die Genese einer philosophischen Begriffssprache zu plausibilisieren, für die Rhetorik alles andere als ein Glücksfall war. Bleibt statt eines Resümees nur noch die Schlussfrage, ob Heidegger, wenn er auch kein Glücksfall für die Rhetorik war, ihr denn wirklich so sehr geschadet hat, dass es der Mühe wert ist, diesen Schaden, wie hier geschehen, versuchsweise zu bilanzieren. Ich meine: Ja! Natürlich hat Heidegger den grandiosen Rhetorik-Essay des emphatischen Heidegger-Kontrahenten Hans Blumenberg (1981) nicht verhindern können (von dessen pietätloser Abrechnung mit Heideggers viel gerühmter Ausdeutung des Platonischen Höhlengleichnisses 1989 ganz zu schweigen). Doch dass es so lange gedauert hat, bis dieser Essay „Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik“ seine geistige Sprengkraft entfalten und zum Basistext der philosophischen Entdeckung der Rhetorik werden konnte, daran hat auch ein Meisterdenker wie Heidegger Anteil. Zumindest hat seine Autorität es erschwert, Aristoteles’ „Rhetorik“ mit Blumenbergs Augen lesen zu wollen und in ihr statt einer „Existenzialhermeneutik“ ein „vernünftiges Arrangement mit der Vorläufigkeit der Vernunft“ (1981, 8

Dieser „weltliche Hang“ flieht zu einem „Sichleichtnehmen“, das in Wahrheit ein „SichausdemWeggehen des Lebens“ meint, wie es am Verhältnis zum Tod exemplarisch ablesbar ist (2002/1, 20ff.).

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130) zu vermuten, die als eine „Gestalt von Vernünftigkeit“ anzuerkennen nach dem Ende aller Gewissheiten eigentlich leichter fallen müsste als diese Vernünftigkeit mit Plato und ewigen Platonikern immer noch von der philosophischen Überwindung der Rhetorik zu erwarten, als fände „die Sache an sich selbst“ erst ihre eigene Sprache, wenn die der Rhetorik endlich zum Verstummen gebracht wäre. Der Verdacht ist heute gottlob weit verbreitet, weil gut begründbar, dass mit dem Verstummen von Rhetorik auch die Sachen selbst verstummen, weil es schon immer Rhetorik war, die sie das Sprechen (heimlich) gelehrt hat. Wenn Heidegger mit seiner Autorität etwas in Sachen Rhetorik erschwert hat, dann ist es dies: Die Chance einer philosophischen Entdeckung der Rhetorik in der Entdeckung der philosophischen Relevanz ihres originären Prinzips zu suchen, nämlich im Prinzip überzeugungsbedingter Zustimmung. Denn in ihrem philosophischen Kerngehalt kann die philosophische Entdeckung der Rhetorik, wenn sie diesen Namen verdienen soll, nur die Entdeckung des rhetorischen Zustimmungsprinzips als eines vernünftigen Geltungsprinzips unter Bedingungen der Moderne meinen. Das konnte zwar noch kein Aristoteles so sehen, doch dass er in die Vorgeschichte der philosophischen Entdeckung eines modernen und d.h eines zustimmungsabhängigen Geltungsprinzips gehört, resultiert schon aus der o. angedeuteten Konvergenz zwischen Wahrheit und rhetorischer Zustimmungsnötigung; die meint zwar noch keinen durch rhetorische Zustimmungsnötigung konstituierten Wahrheits- oder Geltungsgrund, wohl aber ein an rhetorischer Zustimmungsnötigung ablesbares Wahrheits- oder Geltungsindiz, was jedenfalls weit mehr wiegt als die bloß additive Beziehung zwischen Wahrheit und Wirkung, wie sie Platon – auch in seiner positiven Rettung der Rhetorik9 – vorschlägt, um auch „den Vielen“ einen Zugang zur Wahrheit zu eröffnen, die für deren „unverdeckten“ Selbstevidenz (2002, 119; vgl. 150) nicht disponiert sind, sondern noch äußerer Wirkmittel bedürfen, um sich zur Zustimmung motivieren zu lassen. Heidegger hat dieser positivierten Rhetorik Platons viel abgewinnen können und hat mit riskanter Eindeutigkeit in zwei Vorlesungen über die Chance eines erneuten „Ausbruchs“ aus der Höhle in Gestalt eines NS-„Aufbruchs“ gefaselt, der endlich Platons Syrakus-Abenteurer zum Gelingen bringen sollte (vgl. Kopperschmidt 2009, 422ff.). Gottlob ist es zu diesem Unternehmen dann doch nicht mehr gekommen; die Philosophen durften sich weiter „in der Sonne aalen“10 und Rhetorik musste nicht ihre instrumentelle Verführbarkeit in Diensten eines philosophischen Befreiungsprojekts unter Beweis stellen, über dessen Programmatik Heideggers berühmt/berüchtigte Rektoratsrede von 27.5.1933 er9 10

Vgl. „Phaidros“ 261a; dazu Heidegger 1992, S. 323ff. Vgl. Kopperschmidt 2009, 399ff. So Heidegger in der Deutung des Höhlengleichnis im WS 1933/34, s. 2001, 186.

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schreckende Auskunft gibt. Dass Heidegger über Aristoteles in dieses Platonische Befreiungsprojekt geraten ist, daran ist jedenfalls nicht Aristoteles schuld, sondern allein ein durch Heidegger platonisch entstellter Aristoteles. Der ‚richtige‘ Aristoteles wäre diesen Weg von 1924 bis 1933 – dessen bin ich sicher – nicht mitgegangen.

Literatur Adorno, Th.W.: (1964): Jargon der Eigentlichkeit. Zur deutschen Ideologie, Frankfurt. Blumenberg, H. (1981): Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik. In: Wirklichkeiten, in denen wir leben. Stuttgart, S. 104ff. – (1989): Höhlenausgänge. Frankfurt. Dockhon, K. (1966): Rez. Von H.-G. Gadamer: Wahrheit und Methode. In: Göttingische Gelehrte Anzeigen 218, Heft 3 / 4 S. 169ff. Hegel, GWF (1971/1): Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Frankfurt (=Bd 18 der Theorie Werkausgabe). Heidegger, M. (1957): Sein und Zeit. Tübingen (= GA 2). – (1992): Platon: Sophistes (WS 1924/25). Frankfurt (= GA 19). – (1997): Vom Wesen der Wahrheit (WS 1931/32). Frankfurt (= GA 34). – (2001): Sein und Wahrheit (WS 1933/34). Frankfurt (= GA 36/37). – (2002): Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie (SS 1924). Frankfurt (= GA 18). – (2002/1): Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles. Stuttgart (= GA 62). Jonas, H. (1991): Heideggers Gnostizismus. In: Sloterdijk, P./Macho, Th. (Hgg.): Weltrevolution der Seele. Gütersloh, S. 339ff. Kopperschmidt, J.(1995): Rhetorik als Medium der politischen Deliberation, z.B.: Aristoteles. In: Ders. (Hg.): Politik und Rhetorik. Opladen, S. 74ff. – (2009): Heideggers Umweg in Platons Höhle. In: Ders. (Hg.): Heidegger über Rhetorik. München, S. 301ff. Kopperschmidt, J./Schanze, H. (Hgg.)(1994): Nietzsche oder „Die Sprache ist Rhetorik“. München. Miller, P. (2010): Die Intelligenz des Schwarms. München. Rapp, Chr. (2000/2): Aristoteles: Rhetorik. Übersetzt u. erläutert. 2 Bde. Darmstadt. Spaemann, R. (2007): Das unsterbliche Gerücht. Stuttgart. Surowiecki, J. ( 2006): Die Weisheit der Vielen. München.

Peter L. Oesterreich

Polypersonalität Das grand arcanum starker autoinvenienter Subjektivität Worin könnten aus fundamentalrhetorischer Sicht heute die Zukunftsperspektiven der Rhetorik als Kulturidee, Wissenschaft und Technik liegen? Der Vorschlag, den ich im Folgenden skizzieren möchte, liegt auf der Linie einer neuen Verbindung des für die europäische Kultur bis heute maßgeblichen Ideals eines freien und selbstbestimmten Subjektes mit der aktuellen wissenschaftlichen Forschungsperspektive interner Rhetorik, welche in anthropotechnischer Hinsicht die Möglichkeit einer rhetorischen Kunst der Selbsterfindung eröffnet.1 Mein Projekt der Exploration dieser möglichen Symbiose von Rhetorik und Subjektphilosophie widerspricht zweifellos der immer noch weitverbreiteten Depotenzierung des Subjektbegriffes in den gegenwärtigen Kulturwissenschaften, welche sich als Spätfolge der inzwischen verblassenden Postmoderne und ihrer vielzitierten Rede vom ‚Verlust‘ oder gar ‚Tod des Subjektes‘ verstehen lässt.2 Wider diese etwas vorschnelle Todeserklärung wirft es dagegen die Frage nach einer rhetorikaffinen Wiederbestärkung des in die Krise geratenen europäischen Subjektbegriffes auf, welche von Neuem an die Selbsterfindungsprojekte der neuzeitlichen Subjektphilosophie und ihren programmatischen Topoi wie ‚Freiheit‘, ‚Selbstbestimmung‘ und ‚Mündigkeit‘ anknüpfen könnte. Bei dieser Suche nach einem fundamentalrhetorisch bestärkten Subjektbegriff kommt in meinen Augen gerade dem innerhalb der rhetorischen Anthropologie in den letzten Jahren zunehmend in den Blick geratenen innovativen Forschungsgebiet der internen Rhetorik eine Schlüsselstellung zu. Diese Interne-Rhetorik-Forschung gibt uns heute nämlich die Möglichkeit an die Hand, die von der neuzeitlichen Bewusstseinsphilosophie vernachlässigte Rhetorizität der subjektiven Innenseite des Menschen neu zu erschließen. Dabei ver1

2

Auf die Spur dieser möglichen Antwort bin ich während der Abfassung meiner beiden Artikel ‚Person‘ und ‚rhetorische Subjektivität‘ für das Historische Wörterbuch der Rhetorik gestoßen. Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hrsg. v. Gert Ueding, Bd. 10, Berlin/Boston 2012, 862– 872 u. 1290–1301. Vgl. auch „Autoinvenienz. Möglichkeiten und Grenzen menschlicher Selbsterfindung, hrsg. von Renate Breuninger u. Peter L. Oesterreich, Würzburg 2012. Zur postmodernen Rede vom ‚Tod des Subjektes‘ vgl.: Silvia Pritsch, „Rhetorik als Selbsttechnologie: Postmoderne Figuren zwischen ‚Sagen‘ und ‚Tun‘„, in: Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch 30 (2011), 93–107, hier: 98–100.

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bindet sie der gemeinsame Versuch, die auch schon für die klassische Bewusstseinsphilosophie fundamentale Reflexivität des Ich rhetorikaffin, d. h. als eine Form innerer, autopersuasiver Rede neu zu begreifen. Die bisher vorliegenden Ansätze der Internen-Rhetorik-Forschung differieren allerdings hinsichtlich der ‚Stärke‘ oder ‚Schwäche‘ der sich in selbstreferentieller Rede konstituierenden rhetorischen Ich-Position. So kommt nach Jean Nienkamp im Rekurs auf Freud, Mead und die Postmoderne ihrer Theoriefigur des rhetorischen Selbst lediglich eine psychosozial geschwächte Position zu, die sich lediglich aus der Pluralität von internalisierten kulturellen Stimmen zusammensetzt.3 Dagegen fokussiert sich mein Interesse – wohl in typisch kontinentaleuropäischer Manier – auf die fundamentalrhetorische Rekonstruktion der von Descartes ausgehenden Tradition der Subjektphilosophie, die für eine starke theoretische Positionierung des Ich plädiert.4 Gerade das nicht zu leugnende Massenphänomen fremdbestimmter, schwacher Ich-Positionen provoziert die alternative Frage nach jener im Titel genannten ‚starken rhetorischen Subjektivität‘, welcher es gelingen könnte, durch ihre Kunst emanzipatorischer interner Rhetorik eine eigene Stimme zu gewinnen, um sich als Autorin ihres eigenen Selbst neu zu erfinden. Auf der folgenden kleinen Spurensuche nach historischen Theoriefiguren eines derart stark positionierten rhetorischen Subjekts versuche ich nun, einige aufschlussreiche und auf den ersten Blick zugegebenermaßen weit auseinanderliegende Theorietopoi bei Cicero, Shaftesbury und F. Schlegel miteinander in Verbindung zu bringen und zwar durch den noch näher zu erläuternden Gesichtspunkt der Polypersonalität. Dazu wende ich mich zunächst dem anthropologischen Polypersonalismus Ciceros zu, sodann der methodologischen Polypersonalität Shaftesburys, um dann abschließend hinweisend auf Friedrich Schlegels biographischen Polypersonalismus mit einem kurzen Fazit zu enden.

1. Ciceros anthropologischer Polypersonalismus Eine frühe begriffsgeschichtliche Spur des gesuchten autoinvenienten Ich, welches sich in der Kunst der Selbsterfindung auf dem Forum interner Rheto3

4

Jean Nienkamp, Internal Rhetorics. Toward a History and Theory of Self-Persuasion, Carbonale/Edwardsville 2001 u. „The rhetorical Self“ in: Rhetorik 30 (2011) 69–79. Peter L. Oesterreich, „Homo rhetoricus interior. Zur fundamentalrhetorischen Rekonstruktion des cartesianschen Ego“, in: Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch 21 (2002), 37–48 u. „Selbsterfindung, Subjektivität und interne Rhetorik“, in: Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch 30 (2011), 80–95.

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rik übt, lässt sich bereits in Ciceros De officiis entdecken. Ihr Fundort ist die bekannte rhetorikaffine und pluralistische Vier-Personen-Lehre, die Cicero im ersten Buch von De officiis entwirft. Den leitenden Gesichtpunkt für jenen vierstelligen Polypersonalismus bildet bei Cicero das vom Theater und der Rednerbühne auf das gesamte menschliche Leben übertragene, maßgebliche ethische Ordnungsprinzip des Decorum, welches nicht nur den Schauspieler oder den Orator, sondern den ganzen Menschen verpflichtet, sich seiner jeweiligen „Rolle (persona)“5 angemessen zu verhalten. Gemäß seiner theatralischen Ursprungsbedeutung und ihrer spezifisch rhetorischen Fortentwicklung versteht Cicero unter ‚Persona‘ in Analogie zur Maske des Schauspielers zunächst die jeweilige ‚Rolle‘, welche der Redner zu verkörpern hat, um auf den öffentlichen Foren der res publica erfolgreich agieren zu können.6 Von daher erschließt sich sein Personbegriff vornehmlich aus der Perspektive der glaubwürdigen Selbstinszenierung des Orators inmitten der öffentlich-politischen Lebenswelt. Dieses ursprünglich auf die res publica bezogene römische Persona-Modell basiert auf einem durch das Decorum geregeltem topischen Rollen-Repertoire, welches sich aus den Standardsituationen der politischen und gerichtlichen Rede, der Ämterlaufbahn und den Amtspflichten innerhalb der staatlichen Behörden ergibt. Dementsprechend widmet sich die römische Redekunst (ars rhetorica) sowohl in ihrer Lehre (doctrina) als auch im Übungsbetrieb (exercitatio) der artifiziellen Professionalisierung rednerischer Persondarstellung. So erschließt z. B. die schulrhetorische Topik der argumenta a persona die konkrete, empirische Person im gesamten Umfang ihrer körperlichen, psychischen, mentalen, sozialen und biographischen Persönlichkeitsaspekte. Zu dieser Topik gehören der Name (nomen), die Naturanlage (natura), die Lebensweise (victum), das Schicksal (fortuna), die persönlich erworbenen Eigenschaften (habitus), das Temperament (affectatio), die Interessen und Neigungen (studia), die Absichten (consilia), sowie die Taten (facta), die Zufälle (casus) und die bereits gehaltenen Reden (orationes).7 So schenkt der schulrhetorische Übungsbetrieb innerhalb seiner Suasorien und Kontroversien der Prosopopoiie (fictio personae) seine besondere Aufmerksamkeit. Die Kunst der rhetorischen Persondarstellung wird hier durch die artifizielle Simulation von sozialen Charakteren wie z. B. des Reichen, des Geizigen oder des Abergläubigen oder aber poetischer und historischer Personen wie Priamus und Sulla trainiert. Innerhalb 5

6

7

Vgl. Marcus Tullius Cicero, De officiis/Von den Pflichten, lat.-dt., hrsg. u. über. v. Harald Merklin, Frankfurt a. M. / Leipzig 1991, I, 97f. Vgl.: Manfred Fuhrmann, „Persona, ein römischer Rollenbegriff“, in: Identität, hrsg. v. Odo Marquard / Karlheinz Stierle, München 1979, 83–106. Vgl. Marcus Tullius Cicero, De inventione/Über die Auffindung des Stoffes, hrsg. u. übers. V. Theodor Nüßlein, Düsseldorf/Zürich 1998, I, 34.

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dieser spielerisch inszenierten Schulübungen studiert der Redner eine Vielzahl unterschiedlicher personaler Rollen ein und nähert sich als rhetorischer Akteur darin dem Schauspieler an. Dabei entspringt das redereflexive Wissen des ausgebildeten Redners um die Artifizialität und vielfältige Formbarkeit seiner personalen Rollen nicht erst der äußeren Actio, sondern bereits schon der zur inneren Redevorbereitung gehörenden methodischen Inventio. Dies belegt nicht zuletzt die Vorschrift, sich schon während der Inventio imaginativ in die unterschiedlichen personalen Rollen der diversen Redebeteiligten zu versetzen. So soll der professionelle Redner, wie Cicero in De oratore anmerkt, schon in der inventiven Planungsphase seiner Rede die personalen Peristasen der jeweiligen Redesituation imaginativ antizipieren und sich selbst in die unterschiedlichen Rollen und Standpunkte der redebeteiligten Personen versetzen. Dabei hat er z. B. vor Gericht nicht nur die unterschiedlichen Glaubwürdigkeitsaspekte zu beachten, die sich aus den unterschiedlichen personalen Rollen des Klägers, des Prozessgegners und des Richters ergeben, sondern vor allem auch die persuasive Wirkung seiner eigenen Person.8 Die schulrhetorische Ausbildung fördert somit ein neues, distanziertes und rhetorisch aufgeklärtes Selbstverständnis, welches der weit verbreiteten naiven, monopersonalen Position einer strikten Identität von Person und Persona widerspricht. Stattdessen generiert die in rhetorischer Übung erfahrene personale Selbst-Differenz zwischen der eigenen Person einerseits und andererseits den unterschiedlichen personalen Rollen, die sie zu spielen vermag, die neue Mentalität eines redereflexiv aufgeklärten Polypersonalismus, welcher um die vielfältige artifizielle Formbarkeit der eigenen Persona weiß. Dieser Polypersonalismus bildet allerdings gerade angesichts der in der Öffentlichkeit weiterhin herrschenden strikten monopersonalen „Identitätspflicht“9, um einen Gedanken Shaftesburys vorwegzunehmen – eine Art ‚Berufsgeheimnis‘ jener Klasse schulrhetorisch trainierter römischer Homines rhetorici, welche wie Cicero aus führenden Politikern, Amtsträgern, und Juristen besteht. Vor diesem Hintergrund lässt sich Ciceros in De officiis anthropologisch erweiterter Polypersonalismus auch als eine theoretische Konsequenz des arkanen Wissens um die artifizielle und plurale Formbarkeit der eigenen Persönlichkeit verstehen, das von jeher zu den Berufsgeheimnissen professioneller Rhetoriker gehören dürfte. Insgesamt gesehen lässt sich Ciceros bekannte Vier-Personen-Lehre aus De officiis als eine Synthese des rhetorikaffinen römischen Persona-Konzeptes mit der stoischen Naturidee verstehen. Dabei 8

9

Vgl. Marcus Tullius Cicero, De Oratore/Über den Redner, lat.-dt., hrsg. u. übers. v. Theodor Nüßlein, Düsseldorf 2007, II, 102. Fuhrmans, Persona, 10.

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vertritt Cicero einen ethisch akzentuierten Polypersonalismus, welcher die menschliche Gesamtpersönlichkeit zur jeweils angemessenen personalen Verkörperung von gleich vier anthropologischen Rollen verpflichtet. Die ersten beiden Personae sind dem Menschen durch die Natur (natura), die dritte von Zufall (casus) sowie Zeitumständen (tempus) gegeben. Die Ausgestaltung der vierten anthropologischen Persona obliegt allein unserem eigenen Urteil (iudicium nostrum). Befragt auf das philosophische Autoinvenienz-Konzept, das sich in Ciceros Vier-Personen-Lehre verbirgt, gibt der Text eine differenzierte Antwort, welche drei unterschiedliche Stärkegrade der subjektiven Freiheit der Selbsterfindung kennt. Den schwächsten Grad besitzt die dritte, von Cicero äußerst knapp abgehandelte Persona. Diese ist als soziale Rolle der herrschenden Maßgabe des äußeren gesellschaftlichen Decorum unterworfen, d. h. dem geschichtlichen Zufall und den Zeitumständen. Bei der Erfindung dieser äußeren, sozialen Persona spielen vorgegebene Faktoren wie Herrschaft (regna), Befehlsgewalt (imperia), Adel (nobilitas), Ehre (honores), Reichtum (divitiae) und ihre jeweiligen Gegenteile eine entscheidende Rolle.10 Einen stärkeren Grad autoinvenienter Entwurfsfreiheit findet sich dagegen bei den beiden anthropologischen Rollen, die den Menschen von Natur aus vorgegeben sind und in denen sich bei Cicero der Einfluss der konnaturalen Ethik der Stoa bemerkbar macht. Vor dem Hintergrund des stoischen Autarkieideals verstärkt sich Ciceros polypersonales Autoinvenienz-Projekt hier durch die Perspektive einer subjektiven Verinnerlichungstendenz. Dementsprechend verschiebt sich die ethische Leitperspektive vom eher heteronomen Maßstab des externen sozialen Decorum auf den autonomen eines internen Decorum, welches die Modellierung der eigenen Persona nach Maßgabe ihrer inneren Natur vorschreibt. Da ferner diese innere Natur sich einerseits in einen allgemeinmenschlichen Anteil und andererseits einen individuellen Part aufteilt, besetzt Cicero diese in Hinsicht auf die Freiheit der Selbsterfindung mittelstark einzuschätzende Stufe gleich durch zwei unterschiedliche anthropologische Rollenmodelle. Die von Cicero an erster Stelle genannte Persona gründet in der Partizipation aller Menschen an der allgemeinen Vernunftnatur. So sei es die „große Natur selbst (ipsa natura magna)“11 gewesen, die den Menschen diese personale Rolle als zur Rationalität befähigtes Lebewesen gegeben habe. Aufgrund dieser natürlichen Vernunftanlage vermögen die Menschen selbstständig jene Moralvorstellung des Geziemenden und sittlich Guten (honestum decorumque) in sich aufzufinden, durch die sie die übrigen Lebewesen bei weitem überra10 11

Vgl. Cicero, De officiis, I, 115. Cicero, De officiis, I, 115.

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gen. Dabei vertritt Cicero wie schon in De oratore einen kommunikativen und rhetorikaffinen Vernunftbegriff, der die enge Beziehung von Vernunft (ratio) und Rede (oratio) betont. Demnach bewegt diese allgemeine Vernunftanlage die Menschen „zu einer Gemeinschaft der Rede und des Lebens (ad orationis et ad vitae societatem)“12. An zweiter Stelle folgt jene Persona, welche die individuellen Naturanlagen des Menschen zum Ausgangspunkt nimmt und dem konnaturalen Selbsterfindungskonzept Ciceros eine charakteristische Note verleiht. Die Modellierung dieser individuellen Rolle berücksichtigt jene besonderen körperlichen und geistigen Naturanlagen, welche jeden einzelnen auszeichnen und charakterisieren. Bei ihrer Ausgestaltung kommt insgesamt den jeweils im Charakter des individuellen Geist (animus) liegenden Begabungsunterschieden eine größere Bedeutung zu als den körperlichen Dispositionen. Durch sie unterscheidet sich z. B. der geistvolle, beredte und zur ironischen Simulation neigende Charakter des Philosophen Sokrates von der dissimulatorischen Kunst des Schweigens, Verheimlichens, Auflauerns und Vereitelns gegnerischer Pläne, die sich bei Heerführern wie Hannibal oder Quintus Maximus fänden. Eine charakteristische Persönlichkeit, die sich durch Authentizität, Kontinuität ihrer Lebensführung und der ihr korrelierenden Glaubwürdigkeit auszeichnet, sollte gerade auf die Profilierung dieser individuellen Rolle, die nach der Regel unserer je eigenen Naturanlage (regula nostrae naturae) modelliert sein sollte, besonderen Wert legen. „Denn jedem steht am Besten diejenige Rolle, die seiner eigenen Anlage am meisten entspricht.“13 Schließlich enthält die vierte von Cicero vorgesehene anthropologische Person, deshalb ein Maximum an autoinvenienter Entwurfsfreiheit, weil ihre Modellierung ganz in den Händen des eigenen freien Willens (voluntas) liegt.14 Befreit von den Bedingungen sowohl des äußeren kulturellen als auch des inneren natürlichen Decorum bildet die Selbstübereinstimmung des individuellen autoinvenienten Ich mit seinem eignen freien Willen nunmehr den Maßstab ihrer Modellierung. Die deliberative Realisierung dieser innerhalb der vierstelligen Topik Ciceros stärksten Position autoinvenienter Subjektivität vollzieht sich in der Freiheit und Einsamkeit (in solitudinem) eines inneren Mit-sich-zu-Rategehens (consilium).15 Insgesamt gesehen führt Ciceros Vier-Personen-Lehre gleichsam eine vierstellige Matrix personaler Selbsterfindungskunst vor Augen, die ein stark profiliertes autoinvenientes Ich vor die Aufgabe stellt, in eigener Autorschaft die

12 13 14 15

Cicero, De officiis I, 12. Cicero, De officiis, I, 113. Vgl. Cicero, De officiis, I, 115f. Vgl. Cicero, De officiis, I, 117f.

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vier anthropologischen Rollen seiner Gesamtpersönlichkeit angemessen zu verwirklichen. Die deliberative interne Rhetorik des starken autoinvenienten Ich steht hier vor der simultanen und deshalb höchst anspruchsvollen Aufgabe, Regie zu führen über alle vier personalen Rollen seiner Gesamtpersönlichkeit. Dass dieses äußerst anspruchvolle ethische Ideal elaborierter Selbsterfindung, welches neben einer außerordentlich hohen Begabung (excellenti ingenii magnitudo) eine glänzenden Bildung (praeclara eruditio) und entsprechende Freizeit voraussetzt, de facto eine seltene Ausnahme darstellt, wird von Cicero selbst eingeräumt.16 Die autoinveniente Subjektivität sei bei den meisten Menschen nur mehr oder weniger schwach ausgebildet, da sie die Ausbildung ihrer Persönlichkeit unreflektiert entweder ihren Eltern und Lehrern, dem Urteil der gesellschaftlichen Mehrheitsmeinung oder dem glücklichen Zufall überlasse.17 Allerdings lässt dieses eindrucksvolle ambitionierte Selbsterfindungsprogramm Ciceros, in welchem sich bereits ein erster antiker Schattenriss der Figur eines starken autoinvenienten Ich abzeichnet, am Ende auch eine wichtige rhetoriktheoretische Frage offen. Bezüglich des Problems der konkreten rhetorischen Kunstform der Selbsterfindung gibt Cicero einen zwar frühen, aber auch nur äußerst knappen Hinweis auf jenes bereits erwähnte einsame, innere Mit-sich-zu-Rate-gehen. Die begriffsgeschichtliche Suche nach einem aufschlussreicheren Theorietopos, der konkrete Auskunft über diese bei Cicero noch offen gebliebene Frage nach der spezifischen Rhetorik der Selbsterfindung geben könnte, erfordert einen – zugegebenermaßen kühnen – historischen Sprung bis hinein in Shaftesburys neuzeitliche Theorie der internen Rhetorik.

2. Methodische Polypersonalität bei Shaftesbury Der von Anthony Ashley Cooper Earl of Shaftesbury im Jahre 1711 zuerst veröffentliche Essay Soliloquy, or advice to an author ist eine wichtige neuzeitliche Quelle für die heutige Interne-Rhetorik-Foschung, auf welche jüngst Jean Nienkamp hingewiesen hat.18 Tatsächlich bildet Shaftesburys Essay im Rahmen der neuzeitlichen Subjektphilosophie den vielleicht aufschlussreichsten Text für die noch offen gebliebene Frage nach der konkreten redetechnischen Form, in welcher sich die innere Selbsterfindungskunst starker rhetori-

16 17 18

Vgl. Cicero, De officiis, I, 119. Vgl. Cicero, De officiis, I, 115. Vgl. Nienkamp, „The rhetorical self“, 77.

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scher Subjekte vollzieht.19 Shaftesbury enthüllt hier – wie er selbst sagt – ein „großes Geheimnis (grand arcanum)“20, welches die „die machtvolle Figur der inneren Redekunst (the powerful figure of inward rhetorick)“21 betrifft. Die erstaunliche Macht dieser Figur innerer Redekunst liege darin, dass sie dem Einzelnen eine Methode an die Hand gibt, welche einerseits in therapeutischer Hinsicht ein souveränes Heilmittel (sovereign remedy) und andererseits in prophylaktischer Hinsicht eine stärkende, gymnastische Übung (gymnastick) für seine im Alltag geschwächte Subjektivität darstellt. Ihre Figuralität besteht ferner in ihrer deviativen Artifizialität, die von der gewöhnlichen Normalform alltäglicher Rede auf eine zunächst verblüffende Weise abweicht. Die von Shaftesbury vorgeschlagene autoinveniente Methode der inneren Rhetorik, welche auf die Selbstbestärkung geschwächter Subjektivität abzielt, baut nämlich auf einer Grundoperation auf, welche dem gewöhnlichen monopersonalen Selbstverständnis paradox erscheint, das von der naiven Annahme einer unmittelbaren Identität von Person und Persona ausgeht. Diese Operation verlangt nämlich vom autoinvenienten Ich die scheinbar unmögliche Aktion einer Selbstmultiplizierung, die darin besteht, „sich selbst in zwei Personen zu vervielfältigen (multiply himself into two persons)“22. Dieses zunächst befremdlich wirkende Paradox der Selbstmultiplizierung, durch welches Shaftesbury die nachfolgenden Erläuterungen zu seinem methodischen Polypersonalismus effektvoll einleitet, entschärft er zunächst durch zwei plausible Beispiele. Das erste Beispiel bezieht sich auf die Alltagspraxis unüberdachter interner Rhetorik. Es verweist dabei auf die Tatsache, dass wir schon im alltäglichen Selbstgespräch durchaus über uns selbst lachen können. Das zweite Exempel verweist darüber hinausgehend auf die kunstvolle dichterische Stilisierung des Soliloquiums im Bühnenmonolog des Schauspielers. Demnach ist uns das zunächst paradoxal anmutende „Geschäft der Selbstzertrennung (the business of self-dissection)“23 sowohl aus der inartifiziellen Form des unüberdachten alltäglichen Selbstgespräches als auch durch die poetisch gesteigerte artifizielle Form des Bühnenmonologes durchaus bekannt und vertraut. Für die Dichter selbst, so argumentiert Shaftesbury, gäbe es sogar nichts wichtigeres als „diese Festung des SELBSTGESPRÄCHES (this fort of SOLILOQUY)“24

19

20 21 22 23 24

Anthony Ashley Cooper, „Soliloquy: or, advice to an author“, in: Charakteristicks, (London?) 1758, Vol. I, 101–245. Shaftesbury, „Soliloquy“, a.a.O., 127. Shaftesbury, „Soliloquy“, a.a.O., 128. Shaftesbury, „Soliloquy“, a.a.O., 107. Shaftesbury, „Soliloquy“, a.a.O., 107f. Shaftesbury, „Soliloquy“, a.a.O., 108.

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Diese militärische Fort-Methaper symbolisiert die durch innere Rhetorik stark befestigte und wehrhafte Identität des autoinvenienten Ich. Dass dabei die Stärke personaler Identität gerade auf der methodischen Grundoperation einer intrapersonale Alterität erzeugenden Selbstmulitplizierung aufbaut, darf hier nicht verwundern. Vielmehr bildet dies eine methodische Konsequenz des neuen genuin rhetorischen Theoriedesigns Shaftesburys, welche die interne Rhetorik des autoinvenienten Ich ins Zentrum rückt, um die Innenwelt des neuzeitlichen Subjektes und seine darin befestigte Identität zu erklären. Um die von Shaftesbury ins Spiel gebrachte methodische Selbstdividierung zu verstehen, reicht deshalb ein Hinweis auf die bekannte Subjekt-Objekt-Relation der neuzeitlichen Bewusstseinsphilosophie nicht aus. Das für alle Subjektivitätsphilosophie grundlegende Phänomen der Reflexivität des Ich wird hier von Shaftesbury nicht – wie z. B. in der klassischen Transzendentalphilosophie Kants und Fichtes – primär kognitiv als bloße innere ‚Vorstellung‘ des menschlichen Selbstbewusstseins gefasst. Anstelle dieser kognitivistischen Beschreibung subjektiver Reflexivität durch die zweistellige Subjekt-ObjektRelation tritt bei Shaftesbury jene rhetorikaffine Trias, mit der schon Aristoteles die kommunikative Grundsituation der externen Rhetorik charakterisiert hat.25 Angewandt auf die interne Rhetorik des Soliloquiums lässt sich diese triadische Orator-Pragma-Auditor-Relation in etwa wie folgend ausdrücken: Ich (1) spreche mit mir (2) über mich selbst (3). Innerhalb des Selbstgespräches treten somit die drei Positionen des oratorischen Ich (1), des auditiven Ich (2) und des thematisierten Selbst (3) hervor. Diese prinzipielle Duplizität des autoinvenienten Ich, seine Dividiertheit in ein oratorisches Ich einerseits und in ein auditives Ich andererseits, gehört zu den anthropologischen Fundamentalien einer an Shaftesbury orientierten Rekonstruktion des Subjektivitätsbegriffs.26 Diese intrapersonale Orator-Auditor-Differenz, welche die rhetorische Subjektivität gerade im Modus interner Rhetorik charakterisiert, liegt der von Shaftesbury projektierten Selbsterfindung starker Subjektivität zu Grunde. Allerdings bleibt die methodisch reflektierte Operation der Selbstdividierung, welche zweifellos ein wichtiges Werkzeug rhetorischer Selbsterfindungskunst darstellt, nach Shaftesbury eher die Ausnahme und als grand arcanum elaborierter Selbsterfindungskunst den Dichtern, Poeten und Philosophen vorbehalten. Im Sinne ihrer eigenen Selbstkultivierung eröffnet sie ihnen den eigenen inneren Weg zu einer autopoietischen „Selbst-Praxis (self-practise)“27. 25 26

27

Aristoteles, Rhetorik, 1. Hb. hrsg. v. Christoph Rapp, Berlin 2002, 1358af. Zur traditionell vernachlässigten auditiven Seite rhetorischer Subjektivität vgl. Daniel M. Gross, „Passive Voices, Active Listening. Gendered Lagacies in the History of Rhetoric“, in: Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch 30 (2011), 17–29. Shaftesbury, „Soliloquy“, 114.

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Diese von vielen Dichtern, Rhetoren und Philosophen seit jeher geübte rhetorische Selbsterfindungskunst verlangt vom autoinvenienten Ich die konsequente Personalisierung ihrer eigenen, durch methodische Selbstdividierung gewonnenen Persönlichkeitsanteile. Sie leitet uns an – wie Shaftesbury formuliert – „uns selbst zu personalisieren (instruct us to personate our-selves)“28 Mit dieser inneren Personalisierungskunst findet sich die im antiken Theater, in den Rhetorenschulen und der Platonischen Dialog-Literatur manifestierende Technik der Prosopopoiie auf dem Felde der neuzeitlichen Subjektivitätsphilosophie ihre Fortsetzung. Allerdings erfährt in dieser Verlagerung der Prosopopoiie in die interne Rhetorik autoinvenienter Subjektivität das antike Persona-Konzept, das auf der etymologischen Grundbedeutung ‚der durch die Theatermaske hindurchtönenden Stimme des Schauspielers‘ aufbaut, bei Shaftesbury eine verbalistische Zuspitzung. Die Verlagerung der prosopopoietischen Kunst von der externen Rhetorik des Theaters, der Rednerbühne oder der Philosophenschule in die interne Rhetorik des autoinvenienten Subjektes, führt bei Shaftesbury zu einer Abschwächung des ‚maskenhaft‘-visuellen zugunsten der Betonung des ‚stimmlich‘-verbalen Bedeutungsaspektes. Durch ihre methodische Personalisierung treten die ansonsten indifferent-stummen Persönlichkeitsanteile nun als deutlich artikulierte Stimmen hervor und spielen jeweils ihren eigenen Part in jenem Drama subjektinterner Rhetorik, welches mehr einem inneren Hörspiel als einem Schauspiel gleicht. Der Wert dieser polypersonalen inneren Selbstinszenierungskunst, durch die das autoinveniente Ich die Position der Autorin oder des Regisseurs eines inneren Mehr-Personen-Spieles einnimmt, liegt nicht zuletzt im Zuwachs reflexiver Selbsterkenntnis. Die interne Rhetorik bilde – so Shaftesbury – gleichsam einen „verbalen Spiegel (vocal looking-glass)“29, in welchem sich das autoinveniente Ich in polypersonal differenzierter Weise zu erkennen vermag. Damit deutet sich bei Shaftesbury ein rhetorikaffines Alternativkonzept neuzeitlicher Subjektphilosophie an, in der die interne Rhetorik zum zentralen Organ sowohl subjektiver Selbstbestärkung als auch reflexiver Selbsterkenntnis avanciert. In philosophischer Hinsicht interessiert Shaftesbury besonders die interne Rhetorik in der Form eines sokratischen Dialogs, in welcher sich das autoinveniente Ich in die Person des philosophischen Lehrers einerseits und die des Schülers auseinanderdividiert.30 Auch der spätromantische Schelling wird in seiner Konzeption einer ‚inneren Unterredungskunst‘ an diese polypersonalis28 29 30

Shaftesbury, „Soliloquy“,117. Shaftesbury, Ebd. Vgl. Shaftesbury, „Soliloquy“, 108.

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tische Perspektive anknüpfen und in Anspielung auf Shaftesburys grand arcanum behaupten: „Diese Scheidung, diese Verdoppelung unserer selbst, dieser geheime Verkehr, in welchem zwey Wesen sind, ein fragendes und ein antwortendes …, dieses stille Gespräch, diese innere Unterredungskunst“31 sei „das eigentliche Geheimnis des Philosophen“32. Auch diese von Schelling anvisierte philosophische Variante interner Rhetorik gestaltet sich in der Form eines in das Subjektinnere transponierten sokratischen Dialogs. Das Frage-AntwortSpiel der schulrhetorischen Gedankenfigur subjectio erfährt hier als Muster für die Figuration der Innenwelt des philosophischen Subjektes ihre anthropologische Potenzierung. Von daher gesehen kann Shaftesbury vorschlagen, das antike Projekt der Selbsterkenntnis, welches sich in der berühmten Delphischen Inschrift ausspricht, im polypersonalistischen Sinne neu zu interpretieren. Das delphische ‚Erkenne dich selbst‘ sei ganz im Sinne der polypersonalistischen Kunst interner Rhetorik eigentlich so zu verstehen: „Zerteile dein Selbst, oder sei ZWEI. („Divide your-self, or Be TWO.)“33 In ethischer Hinsicht rückt Shaftesbury eine moralische Spielart interner Rhetorik in den Vordergrund, die auf der systematischen Topik der für die neuzeitliche Subjektphilosophie insgesamt typischen Vermögenspsychologie aufbaut. Ausgangspunkt des moralischen Szenarios, welches Shaftesbury entwirft, ist der mit unserer individuellen Willensfreiheit verbundene dramatische Konflikt mehrerer sich einander bekämpfender innerer Vermögen. Demnach hat das in der menschlichen Natur angelegte leidenschaftliche Begehren (appetite), gerade durch den Einfluss willkürlicher Phantasie (fancy) gewöhnlich einen weit stärkeren Einfluss auf die Meinung (opinion) und Ausrichtung unseres freien Willens (free will) als die im Menschen zunächst schwach ausgeprägte Vernunft (reason). Dabei würde – so die Fussball-Allegorie Shafteburys – im moralischen Spiel der beiden feindlichen Brüder – des stärkeren APPETITE gegen den schwächeren REASON – der Wille wie ein „Fußball zwischen diesen beiden Jungen (foot-ball between these youngsters)“34 hin und her gestoßen werden. Wieder ist es die Macht der Redekunst, welche auch in diesem inneren moralischen Grundkonflikt neuzeitlicher Subjektivität die schwächere Seite zur stärkeren zu machen versteht. Die interne Rhetorik stellt sich somit gleichsam als das innere Kraftwerk starker autoinvenienter Subjektivität heraus. Durch sie sei es nämlich möglich, wie Shaftebury hofft, die Fancy zu bändigen, die Vernunft zum dauerhaften Sieg über das Begehren zu führen, die 31

32 33 34

Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Die Weltalter. Fragmente. In den Urfassungen von 1811 und 1813, hrsg. v. Manfred Schröter, München 1966, 5. Schelling, Ebd. Shaftesbury, „Soliloquy“, 116. Shaftesbury, „Soliloquy“, 126.

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Stabilität unserer Meinungen und die Einheit unseres Willens zu garantieren und schließlich sicherzustellen, dass wir unser Ziel „ein und dieselben Person heute wie gestern und morgen wie heute (one and the same person to day as yesterday, and tomorrow as to day).35 zu bleiben, realisieren können. Mit diesem in diachroner Hinsicht streng identitätszentrierten Ideal ist allerdings auch die Grenze des Polypersonalitätskonzeptes Shaftesburys erreicht, das sich lediglich auf die Methode der internen Rhetorik, aber nicht auf die ansonsten monopersonale Gestaltgebung der eigenen Gesamtpersönlichkeit bezieht. Auf der Suche nach einem Theorietopos, welcher auch die Gesamtpersönlichkeit starker autoinvenienter Subjekte polypersonalistisch konzipiert, sei hier zum Abschluss noch ein weiterer, aber wesentlich kürzerer begriffsgeschichtlicher Sprung erlaubt. Er führt bis an die Schwelle der Moderne um 1800 und berührt abschließend Friedrich Schlegels frühromantische Athenäums-Fragmente.

3. Friedrich Schlegels biographische Polypersonalität und ein Fazit In dieser frühromantischen Philosophie Friedrich Schlegels, die eine symbiotische Verbindung der Fichteschen Transzendentalphilosophie mit der bereits von der klassischen Rhetoriktradition herausgestellten Figur der Ironie bildet, kommt es zu einer für die Moderne wegweisenden Infinitisierung des subjekttheoretischen Polypersonalismus, der sich nicht am Paradigma der Moralität, sondern dem der künstlerischen Produktion orientiert.36 Das in den AthenäumFragmenten projektierte frühromantische Persönlichkeitsideal zeichnet sich dabei durch ein extrem alteritätszentriertes und pluralistisches Design aus, welches sowohl dem zumeist auf eindimensionale Rollenerwartungen fixierten Massenpublikum als auch der identitätslogischen Stimmenmehrheit der Philosophiegeschichte entschieden widerspricht. Denn für Schlegel spielt das durch Liberalität und Urbanität gekennzeichnete frühromantische Geselligkeitsideal als „innre Geselligkeit“37 auch für die interne polypersonale Gestaltgebung der Gesamtpersönlichkeit eine zentrale Rolle. Der von Schlegel projektierte universelle Geist der Gesamtpersönlichkeit soll demnach gleichsam „eine Mehrheit von Geistern, und ein ganzes System von Personen in sich“38 enthalten. 35 36

37

38

Shaftesbury, „Soliloquy“, 126f. Vgl. P. L. Oesterreich, Spielarten der Selbsterfindung. Die Kunst des romantischen Philosophierens bei Fichte, F. Schlegel und Schelling, Berlin / New York 1911, hier: 47–69. Friedrich Schlegel, Kritische-Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. II, hrsg. v. Hans Eichner, München/Paderborn/Wien 1967, 225. Schlegel, Kritische-Friedrich-Schlegel-Ausgabe, II, 185.

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Das Autoinvenienz-Programm neuzeitlicher Subjektivitätsphilosophie steigert sich hier unter dem Vorzeichen der Figur der infiniten Ironie zu einem Ideal einer unabschließbaren Neuerfindung der eigenen Persönlichkeit, deren Biographie aus einer „ununterbrochenen Kette innerer Revolutionen“39 bestehen soll. Dieser durch die infinite Ironie tropologisch präfigurierte Prozess permanenter Selbsterfindung soll sich im Rhythmus eines „steten Wechsels von Selbstschöpfung und Selbstvernichtung“40 – vollziehen, um so die eigene Individualität polypersonalistisch zu einer universellen Persönlichkeit zu erweitern. So gewinnt beim frühromantischen F. Schlegel der Polypersonalismus auch jene diachrone, d. h. die gesamte Biographie betreffende Bedeutung, die auf den unabschließbaren Prozess der permanenten Neuerfindung des modernen Ich verweist. Die gemeinsame Idee der Polypersonalität lässt somit schließlich auch F. Schlegel in die systematische Nähe von historisch weit entfernten Autoren wie Cicero und Shaftesbury rücken. So frappierend diese polypersonalistische Dreierkoalition auch erscheinen mag, im resümierenden Rückblick auf die anthropologische Polypersonalität Ciceros, die methodische Shaftesburys und die biographische F. Schlegels lässt sich dennoch folgendes kurzes Fazit ziehen. Es besagt, dass Polypersonalität in ihren unterschiedlichen Bedeutungsaspekten gerade keine Schwäche, sondern ganz im Gegenteil die geheime Stärke autoinvenienter Subjektivität ausmacht. Polypersonalität könnte so am Ende wirklich als das grand arcanum starker rhetorischer Subjektivität bezeichnet werden.

Literatur Aristoteles (2002): Rhetorik. 1. Hb. Hrsg. v. Christoph Rapp. Berlin. Cicero, Marcus Tullius (1991): De officiis/Von den Pflichten. Lat.-dt. Hrsg. u. über. v. Harald Merklin, Frankfurt a. M. / Leipzig. – (1998): De inventione/Über die Auffindung des Stoffes. Hrsg. u. übers. V. Theodor Nüßlein, Düsseldorf/Zürich. – (2007): De Oratore/Über den Redner. Lat.-dt. Hrsg. u. übers. v. Theodor Nüßlein, Düsseldorf. Cooper, Anthony Ashley (1758): Soliloquy: or, advice to an author. In: Charakteristicks. London. Vol. I, 101–245. Fuhrmann, Manfred (1979): Persona, ein römischer Rollenbegriff. In: Identität. Hrsg. v. Odo Marquard / Karlheinz Stierle. München, 83–106. Gross, Daniel M. (2011): Passive Voices, Active Listening. Gendered Lagacies in the History of Rhetoric. In: Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch 30 (2011), 17–29. 39 40

Schlegel, Kritische-Friedrich-Schlegel-Ausgabe, II, 255. Schlegel, Kritische-Friedrich-Schlegel-Ausgabe, II, 172.

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Nienkamp, Jean (2001): Internal Rhetorics. Toward a History and Theory of Self-Persuasion. Carbonale/Edwardsville. – (2011): The rhetorical Self. In: Rhetorik 30 (2011) 69–79. Oesterreich, Peter L. (2002): Homo rhetoricus interior. Zur fundamentalrhetorischen Rekonstruktion des cartesianschen Ego. In: Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch 21 (2002), 37–48 – (2011): Spielarten der Selbsterfindung. Die Kunst des romantischen Philosophierens bei Fichte, F. Schlegel und Schelling. Berlin / New York. – (2011): Selbsterfindung, Subjektivität und interne Rhetorik. In: Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch 30 (2011), 80–95. – (2012): ‚Person‘. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hrsg. v. Gert Ueding. Bd. 10. Berlin/Boston, 862–872. – (2012): ‚rhetorische Subjektivität‘. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hrsg. v. Gert Ueding. Bd. 10. Berlin/Boston, 1290–1301. – (2012): Autoinvenienz. Möglichkeiten und Grenzen menschlicher Selbsterfindung. Hrsg. von Renate Breuninger u. Peter L. Oesterreich, Würzburg. Pritsch, Silvia (2011): Rhetorik als Selbsttechnologie: Postmoderne Figuren zwischen ‚Sagen‘ und ‚Tun‘. In: Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch 30 (2011), 93–107. Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph (1966): Die Weltalter. Fragmente. In den Urfassungen von 1811 und 1813. Hrsg. v. Manfred Schröter. München. Schlegel, Friedrich (1967): Kritische-Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Bd. II. Hrsg. v. Hans Eichner. München/Paderborn/Wien.

Gérard Raulet

Gemeinsinn und Expressivität Grundriss einer Theorie postmoderner Repräsentation (Im Fahrstuhl) „Zweite Etage. Philosophisches Seminar.“ Eine Studentin: „Ach, das Gebäude spricht…“ (J.W. Goethe-Universität Frankfurt, Oktober 2010)

Als er, zusammen mit anderen Architekten, Ende der 1970er / Anfang der 1980er Jahre sich auf die Begrifflichkeit der Sprachwissenschaft, die damals so gut wie unumgänglich war, einliess, öffnete Charles Jencks eine PandoraBüchse.1 Der Rückgriff auf das Paradigma der Sprache bedeutete nämlich zugleich eine Rückkehr zum Mutterschoß des architektonischen Denkens, nämlich zur Rhetorik. Somit warf er aber erneut das Problem des Gemeinsinns auf. Rückblickend kann gesagt werden, dass die weitgehend ungewollte bzw. nur dilettantisch angeregte Rückbesinnung auf die Tradition dazu beigetragen hat, den Konflikt zwischen einer auf Anständigkeit und Eurhythmie beruhenden Architektur einerseits und andererseits der modernen Selbstbehauptung des künstlerischen Genies wieder auszulösen. In der architektonischen Praxis schlägt sich dieser Gegensatz in den beiden Grundtendenzen der postmodernen Baukunst nieder: einer heroischen Postmoderne, die „genialische“ Gebäude signiert, und einer durch und durch pragmatischen Postmoderne, die von oben bis unten, d.h. bis zur Ebene der Gemeinden, von den öffentlichen Aufträgen stark abhängig ist. Man beschwört nicht umsonst den Gemeinsinn. Der Gemeinsinn ist sozusagen die Drehscheibe der Entstehung der modernen Ästhetik. Keineswegs beginnt die Aufklärung erst mit Kant, vielmehr sind ihre Wurzeln und die Antriebe ihrer Verbreitung in der Popularphilosophie zu suchen, deren Denken dem Rahmen und den Kategorien der Tradition verhaftet ist. Mit Hilfe des Leibnizschen und des Wolffschen Rationalismus übersetzt sie diese in einen Diskurs, der seine Legitimität nicht mehr von der Tradition, sondern von der vernünftigen Deduktion und Konstruktion herleiten soll. In erster Linie rationalisiert sie die inventio. Aber den überkommenen Vorstellungen zum Trotz wird der Bezug zur Tradition der Rhetorik, deren direkte Erben die klassischen Architekturtheorien waren, nicht abgerissen. Das gilt nicht nur für die Zeit der 1

Charles Jencks, The Language of postmodern architecture, London: Academy Editions 1977; Paolo Portoghesi, Il postmoderno, Milano: Electa 1982.

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populären Aufklärung, sondern auch noch für die späte Phase, die man als Endpunkt der Entstehung der philosophischen Ästhetik und als deren eigentlichen Geburtsakt ansieht: Kants Kritik der Urteilskraft. Letztere zielt auf nichts anderes ab als auf eine kritische Neubegründung des Gemeinsinns mithilfe des Schönheitsurteils. Schon für Baumgarten bestand der Schlüssel des ästhetischen Urteils in einer gemeinsamen Erfahrung, deren unzählige singuläre Komponenten nie endgültig begründet werden können, obwohl ihnen eine unmittelbare Evidenz, „existensive Klarheit“ genannt, anhaftet. Im Gegensatz zu Leibniz vertrat er die Ansicht, dass diese gemeinsame Erfahrung sogar „interessanter“ ist als die intellektuelle Erkenntnis der deutlichen Ideen, mit dieser verglichen besäße sie jedenfalls einen größeren Reichtum. Insofern resultiert die Geburt der philosophischen Ästhetik zweifelsohne aus der Einführung eines besonderen Modus der Erfahrung, ja eines spezifischen Vermögens, in die Leibniz-Wolffsche Theorie der Erkenntnis: einer gnoseologia inferior, der es nur an Deutlichkeit, nicht aber an Klarheit, mangelt. Nichtsdestotrotz täte man unrecht daran, in der philosophischen „Modernität“ der Aufklärung einen unerhörten Durchbruch der Subjektivität zu sehen. Denn seit der Antike gab es eben nichts Subjektiveres als den Gemeinsinn. Was Aristoteles Gemeinsinn (koine aisthesis) nennt, ist eine Art höheren Sinns, oder genauer ein Vermögen, das die fünf physischen Sinne vereinigt, ihre Informationen versammelt und sie zusammenarbeiten lässt. Die koine aisthesis ist bei genauerem Hinsehen eine Vereinigung der Sinne – koina aistheta. In der Kantschen Definition des freien Spiels und des Einklangs der Gemütskräfte in der ästhetischen Erfahrung hat sich etwas von dieser aristotelischen Auffassung erhalten. Da man die koina aistheta, welche gemeinsame Objekte mehrerer Sinne sind, auch als das gemeinschaftlich Sinnliche bezeichnen kann, rührt der Gedanke, dass die Harmonie, die aus der chaotischen Undeutlichkeit der einzelnen Empfindungen hervorgeht, einen vernünftigen, wenn auch nicht unbedingt allgemeinen Einklang bildet, an die politische Bedeutung des gemeinschaftlichen Sinns. Deshalb fordert Cicero, dessen Einfluss auf die Theorie der Architektur, wie man weiss, gross gewesen ist, von der Rhetorik, dass der Redner nie allzu sehr von dem Gemeinsinn abweiche. Nun war der Zweck der Rhetorik nicht die Wahrheit, sondern die pistis, d.h. die Fähigkeit der Diskurse, mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln und insbesondere durch die endoxa, jene zwar unbewiesenen aber allgemein angenommenen Sätze, die Überzeugung der Zuhörer zu erlangen. Erst später wurde diese rein pragmatische Auffassung mit zugleich gnoseologischen und moralischen Ansprüchen belastet, bis der Rationalismus sich in den Kopf setz-

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te, die inventio zu rationalisieren.2 Bei den Griechen und Römern kam die Einheit des Werkes im Ornament zustande, und dieses wurde keineswegs als hinzugesetzter Schmuck, als Parergon, sondern als Ausdruck der auctoritas, der Harmonie zwischen dem Baustoff (materia), der technischen Realisierung (fabrica), dem heiligen oder profanen Zweck (statio) und der Tradition bzw. den Erwartungen des Publikums (consuetudo) aufgefasst. Als solches entsprach das Ornament dem habitus: Es veranschaulichte und schuf zugleich das Einverständnis zwischen dem Individuum und der Gemeinschaft. Nichts anderes versteht Cicero unter decorum, und Claude Perrault wird noch die auctoritas als ein Synonym für Anständigkeit, als Übereinstimmung mit dem geltenden gesellschaftlichen Kodex auffassen. „Der Anständigkeit hat man zu verdanken, dass das Gebäude so korrekt aussieht und dass es nichts gibt, was nicht gebilligt und auf eine Autorität gegründet wäre.“3 Im 18. Jahrhundert scheint diese pragmatische Tradition völlig überholt zu sein. In Wirklichkeit ist sie neu begründet worden. Sie hat sogar eine Verlängerung in ausdrücklich politischen Reflexionen gefunden, die nicht zögern, die Wirkung der schrecklichsten Vorfälle und Schauspiele an der Fähigkeit der Öffentlichkeit zu messen, sie zu „verkraften“ und das Chaos der Affekte in eine allgemeingültige moralische Gesinnung zu verwandeln. Auch, ja insbesondere im Hinblick auf das Erhabene findet die Kantsche Ästhetik ihren archimedischen Punkt in dieser Erneuerung des Gemeinsinns, der sich bei Kant „gemeinschaftlicher Sinn“ nennt, d.h. in dem Sinn, durch welchen eine Gemeinschaft sich zusammenfindet oder zustandekommt. Im zweiten Abschnitt seines Streits der Fakultäten treibt Kant die Frage des „gemeinschaftlichen Sinns“ weit über die Publizität der moralischen Maximen hinaus, auf der 1784, in „Was ist Aufklärung?“, die Möglichkeit öffentlicher Meinungsbildung beruhte. Es handelt sich nunmehr um den „Enthusiasmus“, den das Schauspiel der jakobinischen Revolution in den Völkern weckt, und um das allgemeine Streben nach Freiheit, das von dieser Sympathie zum Ausdruck gebracht wird. Es sind all diese äußerst divergierenden Auffassungen des „Gemeinsinns“, die unter den beiden Formen einer Massenproduktion des Schönen und einer Banalisierung des Erhabenen durch den expressiven Terrorismus der individualistischen Coups aus der Pandora-Büchse der Berufung auf die Sprache herausgesprungen sind. Der Eintritt in die Ära der Massenkommunikation hat nicht von ungefähr mit der Rückbesinnung auf die Rhetorik koinzidiert. Wie

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Raulet, „Zur Entstehung der modernen politischen Problematik des Ornaments“, in: Isabelle Frank / Freia Hartung (dir.), Die Rhetorik des Ornaments, München: Fink 2001 (S. 147–162), sowie „Ornament“, in: Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 4, Stuttgart: Metzler 2002 (S. 656–683). Claude Perrault, Commentaire de Vitruve, Les Dix livres d’architecture, Paris 1836–1837.

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Nietzsche es betont hat, besteht eine enge Verbindung zwischen Rhetorik und Demokratie.4 Daran haben im 20. Jahrhundert die Theoretiker der Rhetorik Chaïm Perelman5 und Kenneth Burke (1897–1993) erinnert.6 Dabei muss man freilich zwei Etappen unterscheiden: zunächst die Rückkehr der argumentativen Rhetorik, die mit einem erneuten Interesse für die Figuren und Tropen im Rahmen der von Barthes, Todorov und der Gruppe µ getragenen Entwicklung der Poetik und der Semiotik zusammenfällt, dann erst die postmoderne rhetorische Wende. Mit dieser, d.h. mit dem Übergang von der Moderne zur Postmoderne, ändert sich der Sinn und die Natur der „Rückkehr der Rhetorik“. Für die modernen Theoretiker – die in dieser Hinsicht bis in die 1960er/1970er Jahre hinein bewusst oder unbewusst die treuen Erben des Rationalismus geblieben sind – kommt in der Triade des Ethos des Redners, des Logos als solchem und des Pathos des Zuhörers oder Gesprächspartners wie schon bei Aristoteles dem Logos die entscheidende Rolle des Mittlers zwischen dem Ethos und dem Pathos (anders gesagt: zwischen dem Redner und seiner Zuhörerschaft) zu. Der Kern der Wandlung, die ich hier zu umreissen versuche, scheint mir darin zu liegen, dass dies beim postmodernen rhetorical turn nicht mehr der Fall ist – oder zumindest, um mich etwas vorsichtiger auszudrücken, dass das Verhältnis und Gleichgewicht der konstituierenden Momente der Rhetorik sich geändert haben. Auf der einen Seite wohnen wir der billigen Wiederbelebung eines gemeinschaftlichen Sinns bei durch eine auf Konsens ausgerichtete Kunst, deren höchstes Gebot darin zu bestehen scheint, allen zu gefallen. Andererseits scheint durch einen Individualismus, der das Erbe der Avantgarde für sich beansprucht und fast „terroristisch“ verfährt, das schaffende Subjekt jeweils nur sich selbst, eine vorübergehende Momentaufnahme seines Selbstbewusstseins ins Werk zu setzen, wie es schon in der Romantik mit dem Witz der Fall war, wiewohl die Sehnsucht nach einem „gemeinschaftlichen Mittelpunkt“ diesen Diskurs des Witzes oder gar des Ausbruchs aus den vorgegebenen 4

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Vgl. Angèle Kremer-Marietti, Nietzsche et la rhétorique, Paris: PUF 1992 (Collection L’Interrogation philosophique), S. 51: « Pour Nietzsche, l’apparition du goût pour l’éloquence est étroitement liée à l’apparition de la démocratie. C’est l’idée fondamentale qu’il exprime dans le Cours d’histoire de l’éloquence grecque. » Ch. Perelman, L. Olbrechts-Tyteca, Rhétorique et philosophie. Pour une théorie de l’argumentation en philosophie, Paris: PUF 1952; Traité de l’argumentation. La nouvelle rhétorique (PUF, 1958), 2ème édition, Bruxelles: Université Libre de Bruxelles 1970; 5ème édition, Bruxelles: Université Libre de Bruxelles 1988, mit einem Vorwort von Michel Meyer. Kenneth Burke, Permanence and Change. An Anatomy of Purpose (1935), 3rd revised edition, Berkeley, California: University of California Press, 1984; A Grammar of Motives, New York: Prentice-Hall 1945; A Rhetoric of Motives, New York: Prentice-Hall 1950, and Berkeley: University of California Press 1969; Language as a Symbolic Action (1966), Berkeley: University of California Press 1986.

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Grenzen des Schönen wie sein Schatten begleitete. Seitdem – seit der Romantik – hat die politische Problematik der Kunst und der Kunstreflexion immer darin bestanden, das Erhabene in das Schöne zurückzuholen und zu stabilisieren, und das heißt das Undarstellbare möglichst im Werk zu bändigen. Die Postmoderne ist ein neues Kapitel der Inszenierung dieser Spannung. Der Umstand aber, dass sie eine althergebrachte Problematik wieder aufgreift, ist freilich kein genügender Grund, die Alternative, vor welche sie uns stellt, auf die leichte Schulter zu nehmen. Und dies um so weniger, als man dahinter unschwer den langen Schatten des Neoliberalismus wahrnimmt. Diese Alternative lässt sich folgendermaßen beschreiben: Einerseits Ersatzprodukte – darunter die „Rückkehr“ zum Ornament und zum Monumentalismus –, die weit davon entfernt sind, eine gegen die Medien Macht und Geld widerstandsfähige demokratische Willensbildung zu fördern, und viel eher die Sehnsucht nach einem prämodernen gemeinschaftlichen Sinn nutzen, um im besten Fall das Bild einer im scheinbaren Luxus befriedeten Gesellschaft zu nähren, beim entgegengesetzten Szenario aber (und das ist wohl der Fall heute) nichts anzubieten und entgegenzusetzen haben gegen eine Refeudalisierung der Öffentlichkeit, der sie vielmehr das Wort reden. Im gegenwärtigen Kontext der Hintergehung der demokratischen Willensäusserungen unter dem Vorwand eines den Völkern Europas aufgezwungenen Sparpakets bleibt nur zu hoffen, dass niemand auf den Gedanken kommt, diese Sehnsucht und die mit ihr einhergehende Refeudalisierung in einer neofaschistischen Richtung zu benutzen. Andererseits die (heutzutage äußerst bedingte und marktabhängige) Behauptung des „Genies“, die eben wegen ihrer Marktbedingtheit nur noch den Wert der vom System zugelassenen „Expressivität“ in Anspruch nehmen kann. Alles in allem also nur die beiden Seiten derselben Krise des Politischen, an dem die Architektur einen unmittelbaren Anteil hat. Indem sie wieder ausdrücklich an das rhetorische Paradigma angeknüpft und es mittels der neueren sprachwissenschaftlichen Errungenschaften aktualisiert haben, scheinen die postmodernen Architekturtheorien auch die Problematik der Übergangs von der Rhetorik zur Ästhetik wiederbelebt zu haben: Ihren Kern bildet die Frage des gemeinschaftlichen Sinns. Deshalb müssen sie auch an diesem Maßstab gemessen werden. Die postmoderne Architektur bekennt sich ausdrücklich zum Eklektizismus: Sie rehabilitiert den Stil, das Ornament, die Monumentalität und appelliert an das, was man gemeinhin als „Kunst“ und als „Schönheit“ preist. Die willkürliche Vervielfältigung der vergangenen Stile – der sogenannte multiple coding –, der Rückgriff auf das Vernakulare (Jencks) bzw. auf das Lokale (Portoghesi) setzen eine Strategie der Konsensbildung ins Werk, die darum bemüht ist, möglichst allen zu gefallen und eine Öffentlichkeit, die nicht mehr das ist, was sie zur Zeit der modernen Technikbegeisterung gewesen ist, mit dem „unvollendeten Projekt der Moderne“ zu versöhnen. Es geht in erster Linie darum, die

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Architektur wieder zu vergesellschaften und dadurch eine Umwelt zu schaffen, mit der die Individuen sich wieder identifizieren könnten, weil sie wieder an Bildern und Symbolen reich wäre. Darin sehen freilich die Kritiker der Postmoderne nur eine „erpresste Versöhnung“ und „Strategien des Vergessens“, d.h. das Verschönern der Defizite der Moderne durch die Verbreitung von symbolischen Surrogaten, die im Endeffekt nur der siegreichen Warenästhetik zugutekommen.7 Solcher kompensatorische Historismus diene alles in allem nur dazu, durch die Heraufbeschwörung von Epochenstilen die Zustimmung breiter Massen zu erreichen und einer nach ihrem eigenen Stil suchenden Epoche den Rücken zu decken – wobei aber nichts anderes gedeckt werde als die Flucht nach vorne der Technik und des Profits. In der spanischen Gastwirtschaft der Postmoderne – und warum dürfte sie nicht spanisch sein? – soll jeder zu seinem Recht, wohl aber auch zu seinem Geld kommen. Die postmodernen Versöhnungsstrategien haben ein Paradoxon gemein: Die Postmoderne glaubt nicht mehr an die Große Erzählung der Emanzipation durch den Fortschritt der Produktivkräfte, aber sie bleibt trotzdem letzteren verhaftet und hat den Gedanken einer Beherrschung des technischen Fortschritts deshalb nicht verabschiedet. Die Menschen mit diesem, und zugleich mit ihrer architektonischen Umwelt zu versöhnen, scheint, sieht man von den zahlreichen Variationen ab, die eigentliche tiefere Absicht des Postmodernismus zu sein, dessen Projekt insofern auf nichts anderes abzielt als auf eine Versöhnung der Menschen mit der Natur und mit sich selbst. Wenn die Avantgarde, nach Jean-François Lyotard, immer etwas Erhabenes an sich hat, so erweist sich das Postmoderne als eine sentimentalische Kunst, auf die man Schillers Kategorie des Sentimentalischen durchaus anwenden kann. Der Auflösung der traditionellen Gemeinschaft durch die zugleich universelle und zersplitternde Logik der modernen Rationalität setzt es die Rückkehr zum Lokalen, der Delokalisierung als Antriebskraft des modernen Kapitalismus eine durchgreifende Tendenz zur „Relokalisierung“ entgegen, die Burghart Schmidt mit gutem Recht ironisch als „neue Gemütlichkeit“ bezeichnet hat. Ist dann die Postmoderne eine blosse Staffage ohne eigene Identität, hinter welcher das eindimensionale Projekt der Moderne endlos weitergeht? Oder genügt die wie immer geringfügige Verschiebung, die das Recycling trotz allem bewirkt, um eine Wahrnehmung der Differenzen zu fördern, eine Reflexion über gemeinschaftliche Werte in Gang zu bringen und einen symbolischen Zusammenhang wieder herzustellen? In Europa und insbesondere in der 7

Vgl. Burghart Schmidt, Strategien des Vergessens, Darmstadt und Neuwied: Luchterhand 1986, sowie Raulet, Natur und Ornament, Darmstadt und Neuwied: Luchterhand 1987 („Abschließende Bemerkungen zur postmodernen Konjunktur“).

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Provinz hat die Sanierung von Altstadtvierteln dem Postmodernismus zugleich zum Markt und zur öffentlichen Rezeption verholfen. Alt- und Neubau, Monumente und zeitgenössische Experimente sind Dioskuren geworden. Sie kooperieren bei der Erzeugung von unechtem Neo und brandneuer Traditionalität, passen die Baustoffe und die Formen dem jeweiligen Kontext an und stellen auf diesem Weg die Illusion einer traditionsgemäßen Kontinuität her. Dieser Markt hat noch schöne Zukunftsperspektiven vor sich. Er hat in Klein- und mittleren Städten von 50 000 bis 150 000 Einwohnern schon früh Fuß gefasst und sich seitdem nach oben wie nach unten ausgebreitet. Denn mittlerweile hat sich die Sorge um Integration und Anpassung auch auf die Neubauten im Herz der großen Metropolen ausgedehnt. Je nach der Umgebung nimmt der moderne Stil weniger aggressive Formen an, auch der Postmodernismus mäßigt sich, und das Interessante an dieser Entwicklung ist, dass das Resultat nicht unbedingt billige Anbiederung ist. Vielmehr zeitigt die Spannung zwischen sanften und aggressiven (modernen oder postmodernen) Ansätzen anregende Konstellationen, bei denen die Flickarbeit immer sichtbar und sozusagen signiert ist. Trotz der bodenlosen, jede Tiefe entbehrenden Allegorisierung, die der willkürliche Stileklektizismus mit sich zu bringen scheint, verzichtet der geschwätzige Postmodernismus nie auf eine signatura. Er schafft sie entweder durch eine historistische Dissonanz oder durch die unverhohlene willkürliche Verwendung von Stoffen und modernen Techniken, die in beiden Fällen paradoxerweise die Kontinuität sprengen und sie zugleich neu zeichnen. Es ist, als ob bis in den Umgang mit dem Material hinein ein Dialog zustandekäme, der vermittels des (im Grunde überholten) Streits zwischen „Tradition“ und „Moderne“ darauf abzielt, einen Konsensbildungsprozess über und durch Architektur zu inszenieren. Von der ersten Stunde an hat sich die postmoderne Architektur als Trägerin dieser Debatte verstanden: Von daher ihr alles in allem recht schwerfälliger Bezug auf die rhetorisch-architektonische Tradition. Von daher auch ihre Geschwätzigkeit. Sie will wörtlich zur Sprache bringen, dass sie etwas mit Sprache zu schaffen hat. Sie ist auf Kommunikation geil. Aber es wäre dennoch übertrieben, mit Kenneth Frampton nur ihren „kulturellen Opportunismus“ zu verzeichnen. Nicht zu leugnen ist der „populistische Revisionismus“ bzw. der „ästhetische Populismus“, um nur einige von den freundlichen Epitheta zu nennen, die sie sich in der heissen Debatte der letzten drei Jahrzehnte des vergangenen Jahrhunderts zugezogen hat und die auf ihre Grundeinstellung zielen: durch ihre Konstruktionen (in allen Bedeutungen dieses Wortes) allen zum Munde reden zu wollen. Der Verdacht trifft zweifelsohne viele Projekte, die den postmodernen Dekor nur als Fassade und Maske für die Medien Macht und Geld benutzen und eine billige Versöhnung mit ihnen anstreben, indem sie deren wirtschaftliche und soziale Hintergründe – die Kehrseite des Dekors – kaschieren. Ich habe aber geltend zu machen versucht, dass die Postmoderne

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sich nicht darauf reduzieren lässt.8 Man kann sie durchaus auch als eine Anpassungsstrategie zu interpretieren versuchen, die allerletzte Reste eines kritischen Dialogs rettet und insofern im Hinblick auf die Wiederherstellung einer Normativität unumgänglich ist. Man soll sich selbstverständlich davor hüten, die Kommunikation, die auf diese Weise inszeniert wird, zu idealisieren. Dennoch soll man die Versöhnungsstrategien sowohl durchschauen als auch nuanciert bewerten, da es gerade um die Wiederherstellung von normativen Kriterien geht, die man deshalb nicht vorbehaltlos bei der Beurteilung voraussetzen kann. An diesem Punkt knüpft der „kritische Regionalismus“ von Kenneth Frampton an die architektonische Tradition an: „Die grundlegende Strategie des kritischen Regionalismus ist es, die Wirkung universaler Zivilisation mit Elementen zu vermitteln, die indirekt auf die Eigentümlichkeiten eines besonderen Ortes zurückzuführen sind. Aus dem Obenerwähnten folgt, daß der kritische Regionalismus ein hohes Niveau kritischen Selbstbewußtsein aufrechterhalten muß. Er kann sich inspirieren lassen von der Art und Qualität des örtlichen Lichtes, von einer strukturell spezifischen Tektonik oder von der Topographie eines gegebenen Bauplatzes.“9

Man kann kaum eindeutiger an die Tradition der auctoritas appellieren. Durch den kritischen Sinn, der sich von ihr nährt, hofft Frampton, dem „ästhetischen Populismus“ zu entgehen, der nach ihm mit Parolen wie das berühmte „Small is beautiful“ nur der individuellen Expressivität freien Lauf lässt und im Anschluss an Jencks Plädoyer für einen „radikalen Eklektizismus“ oder an Venturis Manifest Learning from Las Vegas den Individualismus der Marktgesellschaft und die damit einher gehende Zersetzung der Lebenswelt fördert. Mit seiner Theorie des „multiple coding“ hat nämlich Charles Jencks die Konsequenz der „Demokratisierung“ der Kunst zum Äußersten getrieben, indem er von der Architektur verlangte, dass sie sich an alle wendet, an die breite Masse wie an die Elite. Seine „Doppelkodierung“ war deshalb von vorn herein eine „Mehrfachkodierung“, die durch ihren historistischen Eklektizismus alle möglichen Lektüren zuließ und dadurch, indem sie „jedem das Seine“ bot, den Konflikt zwischen der Flucht nach vorne der technischen Rationalität und der jeweils sozial- und lebensweltgebundenen Rezeption zu schlichten hoffte. Die Wiederherstellung eines Konsensus sollte über die Anerkennung und Förderung der Differenzen erfolgen. Wenn überhaupt befürwortete Jenks eine gesellschaftliche „Synthesis“, die bloß das undialektische Nebeneinander 8

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Vgl. Raulet, „L’ornement en architecture: utile ou inutile? Y a-t-il un envers du décor?“, Contribution à l’exposition L’envers du décor, Musée d’Art Moderne de Villeneuve d’Asq, 1998. Kenneth Frampton, „Kritischer Regionalismus. Thesen zu einer Architektur des Widerstands“, in: Andreas Huyssen / Klaus Scherpe (Hg.), Postmoderne. Zeichen eines kulturellen Wandels, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1986, S. 159.

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aller möglichen Codes gelten liess – nicht zuletzt derjenigen einer gemeinen und einer Experten-Lesart, die gleichsam miteinander einen Kompromiss schließen. Das, wofür Frampton plädiert, ist hingegen die Restauration einer differenziert verfahrenden Normativität, welche die fatale Alternative der vermeintlich pluralistischen Expressivität und der neokonservativen Reterritorialisierung überwinden würde. Dabei erweisen sich freilich die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien als der Schlüssel des Rückgriffs auf die Tradition und der Mobilisierung des Sprachparadigmas, weil sie gerade die Lesarten von allen normativen Bindungen befreit haben. Für Paolo Portoghesi ist der „radikale Eklektizismus“ ganz ausdrücklich die Folge der neuen Technologien.10 Und wenn Portoghesi sich für einen Polyzentrismus einsetzt, der, wie er schreibt, „eine sehr alte Bestimmung, das alte Italien der Fürstenhöfe“, wiederentdecken würde, so weiß er sehr wohl, dass diese Wiederentdeckung über die neuen Medien erfolgen wird und dass sein Ideal keineswegs rückwärtsgewandt ist, sondern vielmehr neuen Konsensbildungsprozessen entsprechen wird.11 Zunächst sieht es so aus, als ob sich die Produkte solcher Architektur kaum noch von der Produktion numerisierter Bilder unterschieden. Die entgrenzte Kommunikabilität, die an die Stelle einer normativ geregelten Kommunikation tritt und die Opazität des nicht kodierbaren Metadiskurses abschafft, auf der die Kommunikation nicht nur in den traditionellen Gesellschaften, sondern auch noch, wenn auch in der rationalisierten Form der Vernunftideen und der Moral, beruhte, schaltet jede symbolische Tiefe aus, sie schlägt sich im rein räumlichen Medium des Simulakrums nieder, verräumlicht die Zeitdimension und gibt zugleich dem „Zeitbewusstsein“ alle Mittel an die Hand, um sich im vermeintlich herrschaftsfreien Raum willkürlicher Zeitreferenzen zu tummeln. Die Expressivität verdrängt die Bindung an einen wie auch immer impliziten normativen Metadiskurs. So gesehen erscheint der Postmodernismus als spektakuläre Konvergenz von zwei Grundtendenzen: der Tendenz zur Performativität und der Explosion der Expressivität, d.h. einerseits einer Verstärkung der Institution Kunst und andererseits der Entfaltung der Debatte über Kunst. Erstere ist eher der Behauptung „genialischer“ Entwürfe günstig, letztere appelliert an eine öffentliche Sphäre, die völlig zersplittert ist. Diese Situation, die durchaus als antinomisch bezeichnet werden kann, kann – und soll vielleicht auch – als Laboratorium postmoderner Demokratie betrachtet werden. Was sich hier abspielt, ist keine bloße Ornamentierung des Zerfalls des sozialen Bandes, sondern zu10 11

Paolo Portoghesi, Il postmoderno, a.a.O., S. 11. Vgl. darüber Raulet, „360 degrees in time“, in: Utopian Studies, 1993, Vol. 3, N° 1, sowie Chronique de l’espace public, Paris: L’Harmattan 1994, S. 186–193.

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gleich auch eine Chance für die Durchsetzung einer positiven Auffassung des demokratischen Widerstreits, nach welcher auch der Widerstreit zur Sozialisierung beiträgt. In einem veränderten wirtschaftlichen und sozialen Kontext (Ende des Wachstums, Krise des Kommunitarismus – das Wachstum hat für die Moderne als integrierender normativer Ersatz gedient) hat der Postmodernismus wenigstens eine Tugend, welche die Kehrseite seiner zahlreichen Untugenden – der starken Abhängigkeit vom Baumarkt, vom Neoliberalismus und von dessen Feigenblatt: dem Kommunitarismus – ist: Indem er die Differenzen gelten lässt, weist er in die Richtung einer radikalen Neubegründung der demokratischen Spielregeln in unseren spätkapitalistischen Gesellschaften. Ich habe in einem Aufsatz über den Wandel der Öffentlichkeit darauf hingewiesen, dass Undurchsichtigkeit und sogar Geheimnis für das Öffentlichkeitsverständnis der Aufklärung unerlässliche und vor allem selbstverständliche Momente waren.12 Hingegen verspricht die Ideologie der weltweiten Kommunikation eine Transparenz, die sich jeden Tag als schiere Lüge und Herrschaftspakt der Dominierenden erweist. Daran ist im vermeintlichen Global Village der Beitrag der Architektur zu messen: an ihrer Fähigkeit, trotz der Medien Macht und Geld, ohne welche sie ohnehin nicht auskommen kann, deren sie sich aber bedienen kann, das Erbe der Moderne so anzutreten, dass sie sowohl einen „kritischen Regionalismus“ wie auch einen kritischen Multikulturalismus fördert, d.h. eine globalisierte Kultur des Dissenses, die der Gleichschaltung jeder echten Öffentlichkeit widerstehen könnte, indem sie symbolische Kontexte wieder geltend macht oder wieder erzeugt. Was in Frage steht, ist die Fähigkeit von Diskurskonstellationen, wieder gesellschaftlich bestimmend zu werden und mehr als „zeitbedingte Verträge“ zu sein.13 Das hängt nicht nur ab von ihrer Widerstandskraft gegen den Totalitarismus des dominierenden Diskurses (d.h. im Klartext: des Neoliberalismus, der die einseitige Botschaft der Moderne sich angeeignet hat und nur deren Glücksversprechen gestrichen hat14), sondern auch von ihrer Fähigkeit, einen Gemeinsinn – bzw. einen „gemeinschaftlichen Sinn“ – wieder zu begründen oder zum Ausdruck zu bringen, der zwar nicht eigentlich normativ ist, aber wenigstens, wie Jean-François Lyotard sagt, eine „Hypotypose“ darstellt – also kein unbedingtes Moment, das sich aus einer vernünftigen Kommunikation ergeben kann, wie Habermas es noch behauptet, weil eine solche einfach nicht mehr existiert, oder zumindest immer weniger zustandekommen kann, sondern jeweils nur eine ästhetische Konstellation. Weil wir deshalb einer offenen 12

13 14

Vgl. Raulet, „Zur gesellschaftlichen Realität der Postmoderne“, in Hermann H. Krüger (Hg.): Abschied von der Aufklärung, Opladen: Leske + Budrich 1990. Jean-François Lyotard, La condition post-moderne, Paris: Minuit 1979, S. 107. Als Bekenntnis dessen kann Sarkozys zynischer Wahlspruch von 2007 angesehen werden: „Travailler plus pour gagner plus.“

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Poetik der Geschichte ausgeliefert sind, erweist sich das Ernstnehmen aller Bezüge der „sozialen Künste“, insb. natürlich der Architektur, auf die poetisch-rhetorische Tradition als absolut notwendig.

Literatur Burke, Kenneth (1935): Permanence and Change. An Anatomy of Purpose. Berkeley: California : University of California Press, 3rd revised edition 1984. – (1945): A Grammar of Motives. New York: Prentice-Hall. – (1950): A Rhetoric of Motives. Berkeley: University of California Press 1969. – (1966): Language as a Symbolic Action. Berkeley: University of California Press 1986. Frampton, Kenneth (1986): Kritischer Regionalismus. Thesen zu einer Architektur des Widerstands. In: A. Huyssen, K. Scherpe (Hg.): Postmoderne. Zeichen eines kulturellen Wandels, 151–171. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Jencks, Charles (1977): The Language of postmodern architecture. London: Academy Editions. Kremer-Marietti, Angèle (1992): Nietzsche et la rhétorique. Paris: PUF (Collection L’Interrogation philosophique). Lyotard, Jean-François (1979): La condition post-moderne. Paris: Editions de Minuit. Perelman, Charles, Olbrechts-Tyteca, Lucie (1952): Rhétorique et philosophie. Pour une théorie de l’argumentation en philosophie. Paris: PUF. – (1958): Traité de l’argumentation. La nouvelle rhétorique. 5. Aufl., mit einem Vorwort von Michel Meyer, Bruxelles: Université Libre de Bruxelles 1988. Perrault, Claude (1836–37): Commentaire de Vitruve, Les Dix livres d’architecture. Paris. Portoghesi,Paolo (1982): Il postmoderno. Milano: Electa. Raulet, Gérard (1987) : Natur und Ornament. Darmstadt und Neuwied: Luchterhand. – (1990): Zur gesellschaftlichen Realität der Postmoderne. In: H. H. Krüger (Hg.): Abschied von der Aufklärung, 25–36.Opladen: Leske + Budrich. – (1993): 360 degrees in time. In: Utopian Studies, 1993, vol. 3, n° 1, 57–65. – (1998): L’ornement en architecture: utile ou inutile? Y a-t-il un envers du décor–. Contribution à l’exposition L’envers du décor. Villeneuve d’Asq: Musée d’Art Moderne. – (2001): Zur Entstehung der modernen politischen Problematik des Ornaments. In: I. Frank, F. Hartung (Hgg.), Die Rhetorik des Ornaments, 147–162. München: Fink. – (2002): Ornament. In: Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 4, 656–683. Stuttgart: Metzler. Schmidt, Burghart (1986): Strategien des Vergessens. Darmstadt und Neuwied: Luchterhand.

Temilo van Zantwijk

Bin ich jetzt gerecht? Derridas Verzeitlichungsparadox der Legitimation aus rhetorischer Sicht In der Postmoderne scheitert der Legitimationsanspruch neuzeitlicher Rationalität gemäß der Diagnose Lyotards an der wachsenden Informiertheit des modernen Menschen.1 Die Bewohner moderner westlicher Gesellschaften kennen die zerstörerischen ökologischen und sozialen Folgen der technologischen Befriedigung ihrer Bedürfnisse viel zu genau, um noch ungebrochen an die Legitimationsansprüche zu glauben, die sich an die demokratisch-rechtstaatliche Gesellschaftsordnung, die universalistischen Moralkonzeptionen und die mathematischen Naturwissenschaften sowie die großen Fortschrittsgeschichten knüpfen. Das Kernproblem der Diagnose wird schon in der Romantik und bei Marx gestellt: Geltungsansprüche hätten durch ihre Berufung auf Gesetzesvorstellungen notwendig generischen Charakter und wären nicht ohne illegitime Gewalt auf besondere Sachen, Personen und Handlungen anzuwenden. Die Entfremdung des modernen Menschen äußert sich in Gewalt gegen alles Wirkliche, das sich nicht vollständig unter Begriffe subsumieren und auf Gesetze zurückführen lässt, was sich insbesondere als soziale Entfremdung in modernen Industriegesellschaften niedergeschlagen hat. In postindustriellen Gesellschaften kann von einer Selbstentfremdung moderner Subjekte gesprochen werden, die sich von einem Legitimationszwang überfordert fühlen, weil die Konzepte rechtsstaatlicher Politik, universalistischer Moral und wissenschaftlich-technologischen Fortschritts keine Hilfen mehr zu sein scheinen. Im Folgenden untersuche ich die postmoderne Legitimationsproblematik unter einem zeitphilosophischen Gesichtspunkt, den ich für wesentlich erachte: Aus diesem Blickwinkel ist die Legitimationskrise ein Defizit eternalistischer universeller Geltungsansprüche, die bei der Formulierung von Gesetzen pragmatisch vorausgesetzt werden. Gesetze fasse ich hier sprachpragmatisch als Behauptungen auf, die ihre bestimmende Kraft aus der impliziten oder expliziten Verwendung eines temporalen Allquantors wie ‚immer‘, ‚jederzeit‘ oder ‚stets‘ beziehen. Das Grundmuster für ein Gesetz gemäß diesem Kriterium ist der Kategorische Imperativ Kants, der in der ‚Selbstzweckformel‘, der den Menschen als Zweck an sich selbst bestimmt, den temporalen Allquantor 1

J. F. Lyotard, Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Hg. P. Engelmann, übers. von O. Pfersmann. Wien, Passagen-Verlag 62009.

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ausdrücklich enthält: „Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst“.2 Dabei gehe ich davon aus, dass räumliche Allquantoren, wie ‚überall‘ sich jederzeit in temporale überführen lassen: Jedes ‚Überall‘ ist ein ‚Immer‘, aber nicht jedes ‚Immer‘ ist auch ein ‚Überall‘. Demgegenüber verwenden empirische Tatsachenbehauptungen (oft unausdrücklich) einen temporalen Existenzquantor, der einen Zeitpunkt der Beurteilung eines Sachverhalts anzeigt. Die Feststellung, dass ein bestimmter Gegenstand eine bestimmte Eigenschaft hat, wird stillschweigend oder ausdrücklich von einem ‚Jetzt‘ begleitet, das bei räumlich wahrgenommenen Gegenständen auch ein ‚Hier‘ einschließen kann. Unter diesem Blickwinkel besagt die postmoderne Kritik, dass die Subsumtion empirischer Sachverhalte unter Gesetze eine Übersteigung der Zeitdimension der Beurteilung von empirischen Sachverhalten auf ewige (außerzeitliche) Geltungsgründe voraussetzt, die nicht wieder gerechtfertigt werden kann. Eine einschlägige Formulierung bei Derrida lautet, dass es unmöglich sei, ‚jetzt‘, also „im Präsens zu sagen: ‚Ich bin gerecht‘.“3 Dieses Problem bezeichne ich als „Derridas Verzeitlichungsparadox“. Es beschreibt einen Konflikt zwischen eternalistischen Geltungsansprüchen einerseits und auf Grund eines beschränkten, zu einem Zeitpunkt verfügbaren Wissens, in zeitlich beschränkten Verfahren durchzuführenden Beurteilungen von einzelnen in der Zeit gegebenen Gegenständen, Handlungen, oder Personen andererseits. Technisch und allgemein formuliert, besagt Derridas Verzeitlichungsparadox, dass einerseits eine Rechtfertigung empirischer Urteile die Bezugnahme auf ‚ewige‘, d.h. zeitinvariant gültige, Gesetze voraussetzt, während andererseits Praktiken des Begründens zeitindiziert sind, weil sie immer mit Bezug zu möglicher oder wirklicher Erfahrung gelingen oder misslingen. Diese dürfte konsensfähig sein. Sie gilt für Formalwissenschaften, wie Logik und Mathematik, nicht weniger als für Realwissenschaften, wie Physik oder Geschichte.4 In den Realwissenschaften sind Begründungen empirisch und damit von einem zu einem anzugebenden Zeitpunkt verfügbaren Wissen abhängig, das in der Zeit veränderlich ist. Was soll es heißen, für Gesetze außerzeitliche Allgemeingültigkeit zu beanspruchen? Wenn Legitimation zeitunabhängige Begründung für jeden möglichen Augenblick einer Ur2 3

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Kant, AA IV, S. 429 (Hervorh. TvZ.). J.Derrida, Gesetzeskraft. Der mystische Grund der Autorität, übersetzt von R. García Düttmann, Frankfurt/M., Suhrkamp, S. 48. Zu realwissenschaftlichen Begründungen vgl. vom Vf., Jakob Friedrich Fries über Folgerungstypen in der Naturwissenschaft, in: O. Breidbach u. R. Burwick (Hg.), Physik um 1800 – Kunst, Wissenschaft oder Philosophie? (Laboratorium Aufklärung Band 5), München, Fink 2012, S. 255–284.

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teilsentscheidung voraussetzt, das Fällen des Urteils aber ein Ereignis in der Zeit ist, bezogen auf zeitliche gegebene Sachverhalte, die nicht vollständig durch dieses (allgemeine) Urteil bestimmt sind, ist es unmöglich, zu sagen, ‚ich bin jetzt gerecht‘, d.h. Legitimation ist überhaupt nicht möglich. Das Problem legitimer theoretischer wie praktischer Urteile ist nun, dass Gesetzesannahmen nie passgenau in empirische Begründungen hineinfallen, weil dabei immer entschieden werden muss, ob der empirisch aufgewiesene Einzelfall durch das Gesetz zu bestimmen ist. Hier besteht tatsächlich eine Rechtfertigungslücke, weil empirische Urteile zeitindiziert sind, also zu begründen ist, ob die Verpflichtung auf das universal im Gesetz Behauptete auch unter einer bestimmten historischen Beschreibung einer Legitimationspraxis mit mehreren Teilnehmern besteht. Dass wir uns bei der Bestimmung des Einzelnen durch ein Gesetz fragen müssen, ob das, was wir als Einzelnes wahrnehmen auch als ein Besonderes, eben ein Anwendungsfall des Gesetzes, interpretiert werden darf, ist ein seit der Aufklärung bekanntes Problem, auf das Kant mit der Idee einer Übung einer bestimmenden und reflektierenden Urteilskraft geantwortet hat. Die reflektierende Urteilskraft geht in synchroner Perspektive mit den unscharfen Grenzen von Begriffen um. Bei jeder Beurteilung eines Einzelnen nach einer Regel ist zu fragen, von welcher Regel das Einzelne ein Fall ist, das weiß seit Kant jeder. Das Problem, das wir hier diskutieren, entsteht in diachroner Perspektive. Ob etwas ein Fall einer Regel ist, oder nicht, erweist sich als in der Zeit veränderlich. Deswegen ist nicht nur zu fragen, ob das, was durch ein Gesetz bestimmt wird, unter es subsumiert werden darf, sondern auch, ob das Gesetz mit Bezug zu diesem, im allgemeinen darunter subsumierbaren Fall unter den gegebenen Umständen tatsächlich besteht, bzw. in Kraft ist. Ein bekanntes Beispiel für das Verfehlen dieser Dimension von Begründungen ist Kants Rigorismus, wie er gelegentlich, so in seinem Verbot, sogar aus Menschenliebe zu lügen, hervortritt. Unter manchen historischen Bedingungen ist eine Lüge nicht nur erlaubt, sie kann sogar geboten sein, was zeigt, dass die Forderung des kategorischen Imperativs bei der Subsumtion des Falles unter das Gesetz (imputatio facti) und der Beurteilung des Falles durch das Gesetz (imputatio juris) vom temporalen Allquantor „jederzeit“ zu befreien ist.5 Vielmehr ist in einem eigenen 5

Die Subsumtion vollzieht sich in zwei Schritten, die durch aufeinander aufbauende Zurechnungsurteile bestimmt werden. Das erste Zurechnungsurteil (imputatio facti) stellt die Anwendbarkeit des Rechts auf die Handlung fest, das zweite ordnet die dem Subjekt zugerechnete Handlung einer Rechtsnorm unter (imputatio juris) J. C. Joerden, Logik im Recht. Grundlagen und Anwendungsbeispiele. Berlin u.a.2005, S. 132ff; J. Bung, Subsumtion und Interpretation. Baden-Baden. 2004; R. Alexy, On Balancing and Subsumtion. A Structural Comparison; ders., Die logische Analyse richterlicher Entscheidungen, in: R. Alexy, H.-J. Koch, L. Kuhlen, u.a. (Hg.), Elemente einer juristischen Begründungslehre, Baden-Baden 2003, S. 9–36, hier 12; kri-

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Begründungsschritt zu zeigen, ob die Verpflichtung auf das Gesetz unter der Beschreibung einer historischen Handlungssituation besteht oder nicht. Derridas Dekonstruktion des Gesetzesbegriffs besagt, dass es keinen solchen Begründungsschritt gibt. Die Kraft (force), mit der ein jegliches Gesetz einen Fall bestimmt, ist bereits Gewalt (violance): Die dekonstruktiven Methoden haben eine historische Dimension, in der sie die Genese legitimatorischer Schiffbrüche herausarbeiten. In dieser Hinsicht ist Derridas Schrift eine Fortsetzung von Benjamins Schrift Kritik der Gewalt, in der die Krise der Gesellschaftsordnung nach dem Ersten Weltkrieg thematisch ist.6 Sie ist eine Fortsetzung nicht im Sinne einer Ergänzung, sondern einer Festschreibung eines bei Benjamin sichtbar werdenden, aber noch nicht ausdrücklich beschriebenen Grundes der Unmöglichkeit rechtlicher Legitimation, nämlich: Es gibt keine ursprünglich rechtsetzende Legitimation. Die Setzung eines Rechtsverhältnisses steht im Kontext bereits bestehenden Rechts und wiederholt nur, was ohnhin bereits gesetzt ist. Der Grund des Rechts ist ein mystischer. In einer theoretischen Richtung ist Dekonstruktion eine Analyse von Paradoxien der Legitimation, wobei auch diese Analysen selbst wieder eine Legitimität in Anspruch nehmen, die von diesen Paradoxien kontaminiert ist. Das Interesse an Rechtsgründen ist das Interesse an legitimer Entscheidung. Im Sinne der Legitimität muss eine richterliche Entscheidung sich auf Gesetze stützen und darf zugleich nicht in der bloßen Anwendung der Gesetze ohne Ansehen des Anwendungsfalles, der zu beurteilenden Tat, Streitsache oder Schuld, gefällt werden. Eine richterliche Entscheidung soll einerseits gesetzlich begründet, andererseits billig sein. Nun ist jeder Fall anders: Die Subsumtion unter das Gesetz verwandelt das Besondere in eine Instanz, einen bloßen Fall eines allgemein bestimmenden Gesetzes: „Jeder Fall ist anders, jede Entscheidung ist verschieden und bedarf einer vollkommenen Deutung, für die keine bestehende, eingetragene, codierte Regel vollkommen einstehen kann und darf“.7 Im Sinne radikaler Billigkeit wäre jede im Gesetz begründbaren Entscheidung zugleich zu suspendieren: Begründung heißt Suspendierung, so Derrida. Nun setzt dieser Befund selbst wieder eine legitimatorische Konzeption, einen Gerechtigkeitsbegriff voraus: Gerechterweise kann man, wie wir sagen, keine begründete Entscheidung in Anspruch nehmen, ohne diese zugleich zu suspendieren. Dieser Gerechtigkeitsanspruch der Dekonstruktion ist nun auch

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tisch zur deduktivistischen Methodenlehre R. Gröschner und G. Gabriel (Hg.), Subsumtion, Schlüsselbegriff der Juristischen Methodenlehre, Politika 7, Tübingen, Mohr Siebeck 2012. W. Benjamin, Zur Kritik der Gewalt und andere Aufsätze, Mit einem Nachwort versehen von H. Marcuse, Frankfurt/M. 12006. Derrida, a.a.O, S. 48.

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wieder zurückzunehmen: Das dekonstruierende Urteil, dass ein beliebiges richterliches Urteil nicht legitim, im Sinne des Begriffs einer Gerechtigkeit gerecht sein kann, ist wieder eine Entscheidung, die das äußerste Bemühen des Richters um Billigkeit vielleicht gerade in diesem Fall übergeht, und statt dessen das Urteil als ungerecht bestimmt, weil richterliche Entscheidungen eben im allgemeinen nicht gerechtfertigt werden können: Mit der Tilgung der legitimierenden Konstruktion streicht das dekonstruktive Verfahren somit zugleich sich selbst durch. Es gibt keine dekonstruktivistische Antwort auf das Problem der Dringlichkeit richterlicher Urteile. Das zeitphilosophische Legitimationsparadox lässt sich in ein juristisches überführen, das der juristischen Methodenlehre und der Rechtsphilosophie seit langem bekannt ist: Rechtfertigende oder kritische Beurteilungen von Sachverhalten sind durch (oft unterdrückte) Zeitindikatoren an temporale Kontexte gebunden. Ein Urteilsspruch erfolgt ‚jetzt‘, im Kontext eines einem Urteilenden momentan verfügbaren Wissens. Explizit zu sagen, dass eine Richterin (der Prototyp einer Urteilenden) jetzt urteilt, heißt einzugestehen, dass Begründungspraktiken einen zeitlichen Verlauf haben, in welchem zur Beurteilung stehende Sachverhalte als ‚Fälle‘ in einer mehr oder weniger aufschiebbaren Zeit entschieden werden müssen. Jede Beurteilung eines Individuums kann nur im Rahmen eines etablierten Rechts legitim oder illegitim genannt werden. Ob aber die vorausgesetzte Rechtsordnung selbst legitim ist, ist letztlich nicht theoretisch entscheidbar: Jedes Recht basiert auf bereits gesetztes Recht und geht damit für Derrida letztlich auf einen Akt Recht setzender, aber illegitimer Gewalt zurück. Wir müssen gerecht urteilen und wissen schon, es prinzipiell nicht zu können. Derridas Dekonstruktion der Gesetzeskraft hat eine genuin rhetorische Dimension, weil sie systematisch mit dem Begriff der Persuasion zusammenhängt. Das richterliche Urteil lässt sich rhetorisch als persuasive Identifikation eines Einzelnen durch allgemeine Termini analysieren: Urteile sind Identifikationen von Individuen, die sie nicht erschöpfend bestimmen. Wenn jemand ein Urteil fällt, zum Beispiel: ‚Der Angeklagte ist schuldig‘, dann wird damit jemand, der angeklagt ist, als Schuldiger identifiziert. Wird ein solches Urteil ausgesprochen, oder verkündet, dann übernimmt jeder Hörer, der das Urteil anerkennt, die Identifikation des Angeklagten als Schuldigen vom Verkünder und identifiziert sich mit dessen Identifikation. Der Grund der Zustimmung zu einem Urteil ist damit prinzipiell nie ein Rechtfertigungsgrund, sondern eine Persuasion, eine doppelte, persuasive Identifikation. Die Frage, was uns berechtigt, dieses Individuum als Schuldigen zu identifizieren, ist die Frage, ob der Hörer des Urteils sich mit dem Verkünder des Urteils identifizieren darf. Da das Urteil dem Beurteilten nicht gerecht wird, gibt es dafür, so Derrida, nie eine Legitimation.

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Wir wollen nun zeigen, dass diese Konklusion nicht zwingend ist und fragen, wann der mit der doppelten Identifikation gemeinte Transfer von einem Prädikat auf einen Gegenstand, der nicht bereits anerkanntermaßen unter ihn fällt, erlaubt oder begründet zu nennen ist? Die Frage ob es erlaubt ist, ein Prädikat durch ein Anderes zu ersetzen (etwa ‚N.N. ist Beschuldigter‘ durch ‚N.N ist Täter‘) berührt das semantische Problem der Bestimmung von Begriffsintensionen. Prädikatoren sind als Funktionsausdrücke inhaltlich semantisch unabgeschlossen und bedürfen der Ergänzung durch geeignete Argumente. Infolgedessen ist referentiell undurchsichtig, was sie bezeichnen. Dieses ist jeweils ein ‚Begriff‘, aber damit ist uns noch nicht geholfen. Wenn wir nicht wissen, wie ein Prädikator P inhaltlich abgeschlossen werden kann (wenn uns also nicht klar ist, welchen Sinn er ausdrückt), können wir auch nicht sagen, ob P einen bestimmten Begriff bedeutet und wie dieser sich von anderen Begriffen unterscheidet, die P nicht bedeutet. Inferentialismus ist eine Position, die besagt, dass Prädikatoren durch materiale Folgerungsbeziehungen mit einander verknüpft sind, wobei diese Folgerungsbeziehungen den semantischen Gehalt festlegen und uns erlauben zu entscheiden, ob ein bestimmter Begriff mit dem Gebrauch eines Prädikators gemeint ist oder nicht.8 Beispiele für offensichtlich inhaltliche Folgerungsbeziehungen sind: ‚Nach dem Blitz folgt der Donner‘. ‚Wenn es heute Mittwoch ist, ist es morgen Donnerstag‘. ‚Kant war Junggeselle, deshalb war er ledig‘. Die These, dass die Intensionen von Prädikatoren für (jede) Sprache durch ein System materialer Folgebeziehungen festgelegt sind, wird als semantischer Holismus bezeichnet. Vom Holismus können wir hier absehen. Die inferentielle Semantik klärt die Referenzbeziehung nur im allgemeinen, indem sie festlegt, dass alles, was in diskursiven Praktiken ‚gegeben‘ sein kann, durch den Gebrauch von Prädikaten eingeführt sein muss. Für die Begründung von Transfers ist damit etwas, aber nicht alles geleistet: Damit zum Beispiel ein Individuum als ‚Täter‘ erscheinen kann, ist es erforderlich, dass es ein Tatmotiv, Gelegenheit und Mittel hatte. Material ist der Prädikator ‚Täter‘ in den Prädikaten ‚Motiv-‘, ‚Mittel-‚ und ‚Gelegenheit-haben‘ enthalten. Das ist allerdings noch nicht hinreichend für den Transfer des Prädikats ‚Täter‘ auf einen bestimmten Beschuldigten. Zusätzlich ist erforderlich, dass dieser Transfer in einer ‚Praxisform‘ auftritt, die durch gemeinsame intentionale Handlungen und empraktische Normen bestimmt ist. Notwendig dafür sind mehrere, in einem Wir-Subjekt vereinte Handlungsakteure als Teilnehmer an kommunikativen

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Robert B. Brandom, Making it Explicit: Reasoning, Representing and Discursive Commitment, Harvard University press 1994, S. 98f.

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Kooperationen.9 Eine solche Kooperation ist zum Beispiel eine institutionalisierte Strafjustiz mit dem Ziel, eine Gesellschaft gegen Gesetzesbrecher zu schützen. P. Stekeler-Weithofer bezeichnet eine Analyse kooperativen Handelns mit Explikation empraktischer Normen einer Praxisform als ‚Praxisformanalyse‘. Zu gewährleisten ist nun, dass bestimmte Teilnehmer an einer Praxisform ein bestimmtes Prädikat entsprechend den Normen dieser Praxisform angemessen einem bestimmten situativ auftretenden Sachverhalt zuschreiben. Derrida bemüht sich nicht um sprachphilosophische Kategorien zur Klärung des Verzeitlichungsparadoxes. Für ihn ist mit dem Erreichen der gewalttätigen (und nicht nur Macht ausübenden) Dimension jeglicher Gerechtigkeit die Delegitimation aller Legitimationsansprüche erreicht. In Ergänzung einer inferentiellen Semantik wollen wir nun einige rhetorische Kategorien in Anschlag bringen. Dass doppelte persuasive Identifikationen nicht immer schon illegitime Gewaltanwendungen sein müssen, hat Aristoteles gegen die defizitären sophistischen Rhetoriken festgehalten, indem er das Enthymem als deduktive Form analoger Begründung des Allgemeingültigen im Besonderen eingeführt hat. Gerade auf Grund ihrer spezifischen Eigenschaften als Begründungen, die durch eine Verbindung eines deduktiven Schlussschemas mit material gültigen Prämissen und figurativer, analoger Verknüpfung des Verschiedenen gekennzeichnet sind, lässt sich das Enthymem als geeignetes methodisches Instrument für die Vermittlung des Allgemeingültigen mit dem historisch Einzelnen zum begriffenen Besonderen erweisen. Enthmyeme sind gemäß dieser Deutung als figurativ-materiale Verzeitlichungsargumente zu verstehen. Nehmen wir an, jemand würde auf den Rücktritt einer öffentlichen Person von ihrem Amt mit den Worten der Rhetorik an Herennius reagieren:10 Ich sage, dass diejenigen, die vor Gefahren, die ihnen im Dienste des Gemeinwesens drohen, fliehen, töricht handeln, denn sie entgehen dem Unglück dadurch nicht und werden des Undanks gegen das Gemeinwesen für schuldig befunden.11

Hier gibt es eine ausdrücklich formulierte Prämisse. Es ist unschwer zu sehen, dass es sich dabei um eine Gesetzesaussage handelt, die gemäß unserer pragmatischen Definition in Sprechakten die Funktion hat, durch Entzeitlichung

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P. Stekeler-Weithofer, Zur Logik des „Wir“, Formen und Darstellungen gemeinsamer Praxis, in: M. Gutmann, D. Hartmann und W. Zitterbarth (Hg.), Kultur – Handlung – Wissenschaft. Festschrift für Peter Janich. Velbrück Wissenschaft, Weilerswist 2002. Vgl. auch vom Vf., Das Enthymem: Fragmentarische Ordnung und rhetorische Wahrscheinlichkeit, in: K. von Schlieffen (Hg.), Rechtstheorie, Sonderheft Rechtsrhetorik 42/4 (2011), S. 437–453. Auctor ad Herennium IV, XLIV.

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eine Bestimmung anderer Aussagen zu ermöglichen, die mit Bezug zu einer Beurteilungssituation zu einem Jetztzeitpunkt anzuerkennen oder zu verwerfen sind: P1:

Wer sich des Dienstes am Gemeinwesen in der Gefahr versagt, wird dem Unglück dadurch nicht (niemals) entgehen und des Undanks beschuldigt.

Eine zweite Prämisse, die eine Beschreibung eines ‚jetzt‘ vorfindbaren Zustandes beschreibt, ist unterdrückt, weil sie aus dem Kontext unmittelbar ersichtlich gewesen sein muss. Für Aristoteles liegt allein schon auf Grund dieses äußerlichen Kriteriums, das heute nicht mehr für hinreichend gehalten wird, ein Enthymem im Sinne eines verkürzten Schlusses (syllogismus truncatus) vor.12 Die unterdrückte Prämisse lautet: P2:

N.N. flieht (jetzt) in der Gefahr vor dem Dienst am Gemeinwesen.

Die Konklusion ist eine Bestimmung der zeitvarianten Situation durch ein zeitinvariantes Gesetz und wird in diesem Beispiel zuerst genannt: K:

N.N. handelt (jetzt) töricht und tut damit weder dem Gemeinwesen noch sich selber einen Gefallen.

Können nun rhetorische Enthymeme etwas zu einem Verschwinden postmoderner Legitimationsdefizite beitragen? Oberflächlich gesehen ersetzt Rhetorik Legitimation durch Persuasion und scheint deshalb ganz und gar für eine Delegitimation im Sinne der postmodernen Denker zu sprechen. Aber das ist ein von der verzerrenden Auseinandersetzung Platons mit der Sophistik entstelltes Verständnis von Rhetorik, das ihr nichts Sachhaltiges zutraut. Jedenfalls ist das Argument trotz des deduktiven Schemas kein Beweis, weder ein formaler, noch ein materialer. Für einen formalen Beweis ist erforderlich, dass K nicht falsch sein darf, wenn die Prämissen wahr sind. Das ist hier nicht der Fall. Entscheidend für einen materialen Beweis ist die Frage, ob die Prämissen wahr sind. Ist das der Fall, dann wird eine Prüfung der Konklusion in der Regel ‚geschenkt‘. Aber die Prämissen sind so vage formuliert, dass eine Prüfung auf Wahrheit gar nicht möglich scheint. Das Ziel ist vielmehr, in einer zeitlich auf einen relativ kleinen Horizont begrenzten Situation eine Verständigung über eine zu beurteilende Handlung möglich zu machen, indem diese versuchsweise als ein Fall bestimmt wird, der durch ein eternales Gesetz beurteilt werden kann. Eine argumentative Auseinandersetzung in Rede und 12

Aristoteles, Rhet. 1357a 7–22, 1395b 24–26 sowie C. Rapp, Kommentar zu Aristoteles: Rhetorik, Werke in deutscher Übersetzung, Band 4, Halbband 2, hg. von H. Flashar, Berlin 2002, S. 229f. Die Angaben bei Aristoteles besagen, dass die Auslassung einer Prämisse ein hinreichendes Kriterium für ein Enthymem, aber nicht jedes Enthymem ein verkürzter Schluss sei. Im Gegensatz zur Syllogismus-Truncatus-Lehre gehen wir also nicht davon aus, dass die Weglassung einer Prämisse das Enthymem definiert.

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Gegenrede hätte den Zweck, die vorläufige Beschreibung zu berichtigen oder zu verfeinern und den Fall versuchsweise unter diese oder eine abgewandelte Regel zu subsumieren.13 Es gibt Fälle, in denen Sätze wie P1 und P2 Aufschluss über die Wahrheit eines mit ihnen verträglichen Satzes K geben und Fälle, in denen keine begründete Vermutung für die Wahrheit von K aus der Wahrheit von P1 oder P2 entsteht. Gerade diese Fälle gilt es zu unterscheiden. Tatsächlich ist das die Aufgabe, die Aristoteles durch das topische und rhetorische Schlussverfahren gelöst hat. Die systematische Bedeutung von Aristoteles‘ diesbezüglichen Lehren ist bis heute, dass sie Kriterien für Zustimmungsfähigkeit formulieren. Die Begriffe des topischen und rhetorischen Schlusses sind auf einen Begriff einer Zustimmung unter Vorbehalt bzw. rhetorischer Wahrscheinlichkeit zu beziehen.14 Das Verzeitlichungsparadox hängt von einigen Annahmen ab, von denen immerhin einige, wenn auch nicht alle rhetorisch zu beseitigen sind. Stellen wir zuerst fest, was mit den Mitteln einer rhetorischen Analyse des Gebrauchs von Argumenten als Enthymemen nicht beseitigt werden kann: Derrida setzt wie alle Kritiker der Entfremdung voraus, dass individuelle Objekte propositional unerschöpflich sind. Man kann sich mit Recht fragen, ob propositionale Unerschöpflichkeit äußerlich gegebener Individuen nicht ein Bestandteil unserer begrifflich-propositionalen Weltauffassung ist: Natürlich begreifen wir nicht alles, aber wir begreifen, warum wir nicht alles begreifen. Der Gedanke der Äußerlichkeit ist nach Hegel Teil unseres begrifflichen Denkens.15 Ferner macht Derrida die Annahme, dass universalistische Geltungsansprüche nicht in diskursive Praktiken hineingetragen werden können, ohne einen eternalistischen Geltungsbegriff in Anspruch zu nehmen. Gerade für empirische Begründungen, aber nicht nur für sie, gilt jedoch, dass Gesetze zwar mit eternaler Kraft behauptet, aber nicht in Anspruch genommen werden. Tatsächlich sind sie seit langem als ihrerseits zu begründende Hypothesen durchschaut. Demgegenüber setzt Derrida voraus, dass die Gesetze, mit deren Hilfe Geltungsansprüche begründet werden, bereits mit einer unausdrücklich bleibenden metaphysischen Ewigkeitsvorstellung infiziert sind. Drittens nimmt Derrida an, dass es keine reflexiven Selbstbegründungen gibt. Jede Begründung hängt von Annahmen ab, die ihrerseits zu begründen sind. Diese letzte, gewissermaßen beweistheoretische, Annahme, die viel gründlicher in der Wissen13

14

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Vgl. R. Gröschner, Das Gespräch. Jan Schapp als Dialogiker des Rechts, in: P. Gödike, H. Hammen, u. a. (Hg.), Festschrift für Jan Schapp, Tübingen 2010, S. 213–230, der ein der logischen Rechtfertigung vorgelagertes dialogisches Begründungsverfahren fordert. Vgl. dazu ausführlich vom Vf, Heuristik und Wahrscheinlichkeit in der logischen Methodenlehre, Paderborn 2009. G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften II, Werke Band 9, hg. von E. Moldenhauer und K. M. Michel, Frankfurt/M., Suhrkamp 1978, §254, S. 41ff.,hier 44.

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schaftstheorie in einer Tradition von J. F. Fries, L. Nelson bis W. Dubislav diskutiert worden ist, ist die wichtigste Quelle von Argumenten für eine postmoderne Delegitimation. Diese Annahmen können durchaus hinterfragt werden. Ich vermeide jedoch eine Grundsatzdiskussion und lasse mich auf die Fragestellung ein, um zu zeigen, dass sogar unter diesen Voraussetzungen das Legitimationsproblem nicht so hoffnungslos ist, wie Derrida behauptet. Wir verknüpfen dazu die beiden Elemente, die wir zunächst getrennt voneinander eingeführt haben: 1. die Zeitstruktur von Legitimation und Verpflichtung und 2. den Begriff des Enthymems als einer von ewigen Gesetzen zu zeitlichen Sachverhalten übergehende Begründung. Durch eine rhetorische, am Enthymem orientierte Analyse der Zeitstruktur von Begründungen ist also zu zeigen, wie Gesetze ihre rechtfertigende Kraft entfalten. Ob ein Teilnehmer an einer Legitimationspraxis ‚jetzt‘ gerecht ist, hängt davon ab, ob dessen Urteil mit den darin bewerteten Sachverhalten synchronisiert werden kann. Synchronisation sei hier ähnlich einer Einstein-Synchronisation ein Vergleich der eigenzeitlichen Genese eines beurteilten Sachverhalts mit einer Genese seiner Beurteilung aus deren Geltungsgründen. Eine Einsteinsynchronisation ist ein Verfahren zur ortsinvarianten vergleichenden Messung von Bewegungen, das die Beschränkungen eines Uhrenvergleichs überwindet.16 In den für menschliche Erfahrung mittleren Entfernungen erlauben Uhren als form- und taktgleiche Messinstrumente die Synchronisation von unterschiedlichen, voneinander entfernten Ereignissen. Werden zwei Uhren jedoch jeweils als relativ zueinander in Bewegung angenommen, ohne dass es ein Bezugssystem wie der alltägliche Erfahrungsraum mit uns vertrauten mittleren Entfernungen gibt, ist eine Synchronisation durch Uhren nicht möglich. Die Einsteinsynchronisation präsupponiert, dass ein in Bewegung befindlicher Ort O einer Eigenzeit unterliegt und weist ihm eine Lokalzeit t zu. Zu t wird ein Signal zu einem anderen eigenzeitlich bewegten Ort O* ausgesandt. Dieses wird dort reflektiert und kehrt zur Lokalzeit t* am Ausgangsort O zurück. Die Einsteinsynchronisation erklärt, wie die Ankunftszeit am Ort O* vom Ort O aus bestimmt werden kann, ohne auf einen unbewegten Messpunkt Bezug nehmen zu müssen. Es wird lediglich unter-stellt, dass die Methode der Signalübertragung zwischen O und O* eine konstante Geschwindigkeit hat, z.B. die Lichtgeschwindigkeit. Zur Zeit des Aussendens am Ort O ist die Zeit t verstrichen. Bei der Rückkehr des Signals ist seitdem

16

Für eine übersichtliche und tiefgehende Analyse vgl. P. Stekeler-Weithofer, Formen der Anschauung, Eine Philosophie der Mathematik, Berlin und New York, Walter de Gruyter, Kap. 7 und 8, hier insbesondere S. 321f.

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die Zeit t*-t vergangen. Die Ankunftszeit des Signals am Ort O* ist dann 0,5 (t*-t) + t. Um die Einsteinsynchronisation auf richterliche Urteile und Legitimationspraktiken generell zu übertragen, brauchen wir nichts weiter zu tun, als die Zeit der Beurteilung mit O und die Zeit des beurteilten Sachverhalts mit O* zu identifizieren. Was in der Einsteinsynchronisation die eigenzeitliche Bewegung von verschiedenen Körpern relativ zueinander ist, ist im richterlichen Urteil die Differenz zwischen Rechtsprozess und Sachverhaltsgenese. Können aus keiner Perspektive einer kleintelisch oder oratorisch am Prozess interessierten Partei Ereignisse oder Sachverhalte begründet werden, welche die Konstruktion des Falles aus den Gründen seines Entstehens durch die dezisionäre Partei aus dem Takt bringen und in eine Diskontinuität versetzen, so nennen wir die Genese des Urteils mit der Genese des beurteilten Sachverhalts synchron. Das richterliche Urteil subsumiert nie einen als Tatsache hingenommenen Fall unter einem Gesetz, sondern konstruiert den Fall aus seinen Entstehungsgründen und erwägt die geltungsrelevanten Aspekte der Sachverhaltsgenese, zum Beispiel ob einem Beschuldigten die möglichen Folgen einer Tat zur Tatzeit bewusst gewesen sein müssen. Davon hängt es ab, ob der besondere Fall unter ein Gesetz subsumiert werden darf, dem er als generisch aufgefassten Fall gemäß kodifiziertem Recht bereits entspricht. Subsumtion ist nie einfach begriffliche Determination, sondern immer auch Reflexion auf die Passung des Begriffs auf das Besondere, das er bestimmen soll. Eine synchrone Fallkonstruktion darf einer beurteilten Person legitimerweise zugeschrieben werden. Eine Synchronisation ist kein Beweis für die Adäquatheit des Urteils. Ebensowenig ist eine Synchronisation ein Akt richterlicher Gewalt, die für Derrida nur die Verlängerung der illegitimen Gewalt an der Wurzel jedes Rechtssystems ist, denn die Synchronisation ist keine blind vollzogene imputatio facti, sondern eine Zuschreibung, die ausprozessiert ist und gegen die zur Zeit der Beurteilung keine Einwände mehr vorgebracht werden (dürfen). Ziehen wir ein Fazit. Wenn unsere Übertragung des Begriffs einer Synchronisation auf Begründungskontexte einen Sinn macht, muss das, was in einer Einsteinsynchronisation die Gleichzeitigkeit von zwei Ereignissen definiert, im rhetorischen Begründen die Angemessenheit eines Urteils definieren. Was also entspricht beim rhetorischen Argumentieren dem Licht in der Einsteinsynchronisation? Pragmatisch heißt ‚gültig‘ dasselbe wie ‚evident‘. Wenn ein Urteil evident ist, gibt es keinen Zweifel an seiner Geltung. Die Evidenz ist pragmatisch genauso viel wert wie eine logisch gültige Begründung, obwohl sie unter dem Gesichtspunkt logischer Rechtfertigung keinen Wert hat. Denn häufig ist die Wahrheit das Gegenteil von dem, was wahr zu sein scheint und die einzige Möglichkeit, das was wahr ist von dem scheinbar Wahren zu unterscheiden, ist auf einen logischen Beweis zu bestehen, das heißt die Evidenz als Quelle der Überzeugung auszuschalten. Wo ein Beweis

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nicht geliefert werden kann, ist die Evidenz alles, was einem Proponenten zu Gebote steht. K. von Schlieffen sagt in diesem Sine, dass ein rhetorisches Argument „praktisch gültig“ sein muss.17 Dieser Ausdruck lässt sich als ‚evident sein, was zu tun ist‘ explizieren, wobei ‚evident‘ den argumentationspragmatischen und ‚was zu tun ist‘ den normativ-praktischen Aspekt ausdrückt. Derridas Analyse basiert auf einer krüden Dichotomie zwischen außerzeitlichen, oder ewigen Gesetzen und innerzeitlichen Urteilsentschei-dungen über veränderliche und individuiert erscheinende Sachverhalte. Unter diesen Voraussetzungen beziehen Gesetze ihre Kraft letztlich aus der Gewalt, mit der sie gesetzt werden. Wir behaupten hingegen, dass es möglich ist, den Begriff einer Synchronisation von Sachverhalts- und Urteilsgenese zu expli-zieren. Demnach sind eine ‚normative Eternalisierung‘ und eine ‚applikative Verzeitlichung‘ von Verpflichtung als entgegengesetzte Pole in Legitimationsprozessen zu verstehen, die den Begriff ‚Bestehen einer Verpflichtung‘ explizieren. Deshalb muss ein universeller Geltungsanspruch nicht von eternalistischen, orts- und zeitinvarianten Rahmenbedingungen abhängig sein. Derridas Diagnose erweist sich damit als falsch: In qualifizierten Fällen ist es durchaus legitim, zu behaupten: ‚Ich bin jetzt gerecht‘.

17

K. von Schlieffen: „Wie Juristen begründen. Entwurf eines rhetorischen Argumentationsmodells für die Rechtswissenschaft“, in: Juristenzeitung 66 (2011), S. 109–160, hier 113.

Richard Nate

„Master Tropes“ und „Master Narratives“ Zu den rhetorischen Implikationen literatur- und kulturtheoretischer Konzepte

1. Einleitung Obwohl es deutliche Traditionslinien gibt, die von der Rhetorik zur jüngeren Kulturwissenschaft führen, werden sie in dieser nicht immer in angemessener Weise zur Kenntnis genommen. Gerade in Deutschland verbindet man mit dem Begriff der Rhetorik häufig eine ars rhetorica im traditionellen Sinne, lässt aber das, was in den angelsächsischen Ländern seit langem als „New Rhetoric“ bekannt ist, eher außer Acht.1 Während der von Richard Rorty in den sechziger Jahren diagnostizierte linguistic turn2 inzwischen auch in deutschsprachigen Publikationen zu einem Gemeinplatz der kulturwissenschaftlichen Selbstvergewisserung geworden ist, findet eine Reflexion über seine historischen Wegbereiter, zu denen eben auch Theoretiker der Rhetorik gehören, eher selten statt. Dabei zeichnen für die Theorie einer sprachlich gebundenen Erkenntnis der Wirklichkeit ja nicht nur die Traditionen des Strukturalismus und Neostrukturalismus mit ihrem relationalen Zeichenbegriff verantwortlich, sondern auch Autoren des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts, die ihre Theorien in direkter Auseinandersetzung mit rhetorischen Begrifflichkeiten entwickelten. Es erscheint deshalb folgerichtig, dass Herbert W. Simons 1990 von einem „rhetorical turn“ sprach, als er auf eine gesteigerte Sensibilität gegenüber der sprachlichen Bedingtheit menschlicher Erkenntnis verwies.3 Anders als im deutschsprachigen Raum zeigt sich diese Hinwendung zur Rhetorik in englischsprachigen Publikationen mitunter sogar auf sehr radikale Weise.4 Unter der Prämisse, dass alle Kommunikation rhetorisch sei, wird 1

2 3

4

Ähnlich Meier (1999: 1529 f.), der für Deutschland einen „Bedeutungsverlust der Rhetorik“ konstatiert. Zur „New Rhetoric“ siehe Holocher (1996) sowie Kramer (1998). Rorty (1967). Simons (1990). Zwei Jahre später wählten Chip Sills und George H. Jensen den Begriff „rhetorical turn“ als Motto eines Sammelbandes zur Philosophie des zwanzigsten Jahrhunderts. Als ein Beispiel für viele lässt sich Daniel M. Gross’ The Secret History of Emotion: From Aristotle’s Rhetoric to Modern Brain Science zitieren, in der es mit Bezug auf David Hume heißt: „reality is not given, but rather is a matter of persuasion. Reality, in other words, is ultimately a function of rhetoric as the art of persuasion.“ (2006: 118)

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dabei auch dem naturwissenschaftlichen Diskurs, der sich seit seiner Normierung in der frühen Neuzeit ja eigentlich als antirhetorisch definiert hatte,5 eine nicht hintergehbare Rhetorizität bescheinigt.6 Als historischen Bezugspunkt nennen die betreffenden Autoren zumeist das sophistische homo-mensuraPrinzip, dessen negative Bewertung durch Platon sie zu revidieren suchen. Weniger in den Blick geraten allerdings auch hier Aussagen zum erkenntniskonstitutiven Charakter rhetorischer Tropen, wie sie von Giambattista Vico über Friedrich Nietzsche, Kenneth Burke und Hayden White bis hin zu dem amerikanischen Linguisten George Lakoff nachweisbar sind. Dieser Traditionslinie soll im Folgenden nachgegangen werden.

2. George Lakoff, Friedrich Nietzsche und die Ubiquität des Metaphorischen In ihrem 1980 veröffentlichten Buch Metaphors We Live By ging es George Lakoff und Mark Johnson vor allem darum, neue Perspektiven für die linguistische Semantik aufzuzeigen. Dabei kritisierten sie die Auffassung, Metaphern seien lediglich stilistisches Beiwerk. Der angeblich weit verbreiteten Meinung, dass man auf metaphorische Ausdrücke, sofern man dieses denn anstrebe, auch verzichten könne, hielten die Autoren ihre Erkenntnis entgegen: „We have found, on the contrary, that metaphor is pervasive in everyday life, not just in language but in thought and action. Our ordinary conceptual system, in terms of which we both think and act, is fundamentally metaphorical in nature.”7 Wenngleich Lakoff und Johnson mit ihrem eher didaktisch ausgerichteten Buch kaum den Anspruch verbunden haben dürften, die Sprachphilosophie auf eine neue Grundlage zu stellen, formulierten sie darin doch eine deutliche Kritik an der Tradition des westlichen Rationalismus, der nach ihrer Ansicht die gegenwärtige Philosophie noch immer maßgeblich bestimmte. So verhindere die rationalistische Auffassung, die Sprache sei eine dem Denken grundsätzlich nachgeordnete Instanz, ein Bewusstwerden darüber, dass bereits die menschliche Wahrnehmung metaphorisch strukturiert sei. Was Rationalisten für die von der Sprache prinzipiell unabhängige „Wahrheit“ hielten, sei eigentlich nichts Anderes als ein System kulturell gebundener Metaphern. Den Gedanken einer objektiven, von der Sprache losgelösten Wahrheit lehnten die Autoren kategorisch ab: 5 6 7

Nate (2009: 65 ff.). A. G. Gross (1990). Lakoff / Johnson (1980: 3).

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We do not believe that there is such a thing as objective (absolute and unconditional) truth, though it has been a long-standing theme in Western culture that there is. […] We believe that the idea that there is absolute objective truth is not only mistaken but socially and politically dangerous.8

Das Zitat macht deutlich, dass es den Autoren um mehr ging als die Begründung eines neuen Metaphernverständnisses. Wenn im letzten Satz auf die politischen Gefahren des rationalistischen Wahrheitsbegriffs verwiesen wird, so erklärt sich dieses vor allem aus dem kulturhistorischen Kontext des späten zwanzigsten Jahrhunderts. Zu erinnern ist daran, dass die „Dialektik der Aufklärung“, auf die Max Horkheimer und Theodor W. Adorno unter dem Eindruck des Zweiten Weltkriegs verwiesen hatten,9 zu einem Topos der amerikanischen Gegenkultur geworden war und deren Opposition gegen eine „technokratische Gesellschaft“ zu legitimieren schien.10 Als Beginn der Gegenkultur wird bisweilen das an der Universität Berkeley 1964 entstandene „Free Speech Movement“ bezeichnet, und es dürfte kaum ein Zufall sein, dass Lakoff und Johnson, die ihre Sprachanalyse auch als einen Akt der Emanzipation von vorgefertigten Denkstrukturen verstanden, in Berkeley lehrten, als sie ihr Buch verfassten. Wenn darin beispielsweise das Schema „Argument is War“ als eine dem westlichen Denken zugrunde liegende Metapher charakterisiert wurde, dann wurde dieses nicht nur analytisch festgehalten, sondern zugleich mit einer Kritik an diesem Konzept verbunden. Andere Kulturen, so wurden die noch immer in westlichen Denkstrukturen befangenen Leser aufgeklärt, sähen dies vermutlich ganz anders. Tatsächlich ging es Lakoff und Johnson wohl weniger um die philosophische Verteidigung eines erkenntnistheoretischen Skeptizismus als um den Nachweis, dass eine Reihe von Begriffen, die zur Verteidigung herrschender kultureller Normen dienten, keine objektiven Wahrheiten, sondern sprachliche Konstrukte darstellten. Mit ihren kognitionslinguistischen Analysen verband sich also auch eine machtkritische Perspektive. Die Einsicht, dass Metaphern mehr sind als bloßer Redeschmuck, war freilich nicht neu. Nicht nur Hans Blumenberg hatte die erkenntniskonstitutive Funktion dieser Trope in seiner „Metaphorologie“ (1960) bereits betont,11 auch klassische Autoren hatten lange vor ihm lexikalisierte Metaphern, deren ursprünglich figurativer Charakter Sprechern nicht mehr bewusst war, in ihren Beschreibungssystemen berücksichtigt.12 Während die so genannten „toten“ Metaphern in der klassischen Rhetorik jedoch eher ein Randdasein gefristet 8 9 10

11 12

Lakoff / Johnson (1980: 159). Horkheimer / Adorno (1969). Zur Kritik an der „technocratic society“ siehe die zeitgenössische Publikation von Roszak (1969). Blumenberg (1996). Vgl. etwa Quintilians Ausführungen zur Katachrese, Institutio Oratoria 8.6.6.

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hatten, rückten sie bei Lakoff und Johnson in das Zentrum des analytischen Interesses. Der Grund lag darin, dass die Autoren sich weniger für bewusst gewählte sprachliche Stilmittel interessierten als für den rhetorischen Charakter alltagssprachlicher Wendungen. Diese wiesen den Weg zu jenen „conceptual metaphors“, die gleichsam eine kulturspezifische semantische Tiefenstruktur darstellten und damit einen Schlüssel für die Ergründung der Denkstrukturen des westlichen Menschen bargen. Bedenkt man, dass Lakoff und Johnson die Metapher als eine „fundamentale“ Kategorie des Denkens beschrieben und das Phänomen der Metaphernvergessenheit an den Beginn ihrer Ausführungen stellten, dann mutet es erstaunlich an, dass sie an keiner Stelle ihres Buches auf Friedrich Nietzsche zu sprechen kamen.13 Immerhin hatte dieser ja bereits ein Jahrhundert zuvor die Metaphernbildung als einen „Fundamentaltrieb des Menschen“ bezeichnet14 und sogar ihr nachträgliches Vergessen als eine konstante Eigenschaft des menschlichen Bewusstseins beschrieben. Ähnlich wie Lakoff und Johnson hatte Nietzsche in seinem Essay Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne (1873) festgestellt, was der Mensch gemeinhin für die Wahrheit halte, sei eigentlich nichts Anderes als ein zu sprachlichen Begriffen erstarrtes Gebäude von Metaphern. Auf die Frage „Was ist also Wahrheit?“ hatte Nietzsche die Antwort gegeben: Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Antropomorphismen, kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauche einem Volke fest, canonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind […].15

Mit solchen Formulierungen stellte Nietzsche traditionelle erkenntnistheoretische Auffassungen radikal in Frage. Mit seiner Bestimmung der Metapher als einer Grundkategorie der Sprache verwischte er nicht nur die Grenze zwischen wörtlicher und figurativer Rede, sondern bezweifelte auch, dass es überhaupt so etwas gäbe wie eine rhetorische Kunst, die sich von den Prinzipien der Alltagskommunikation in grundsätzlicher Weise unterschied. In seiner Rhetorik-Vorlesung vom Sommer 1874 definierte Nietzsche die Rhetorik kurzerhand als eine Eigenschaft der Sprache und führte die Tropen als entscheidenden Beleg an: „In summa: Die Tropen treten nicht dann und wann an die Wörter heran, sondern sind deren eigenste Natur. Von einer ‚eigentlichen Bedeu-

13

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Auch in Lakoffs nachfolgenden Publikationen fällt die Abwesenheit von Nietzsche auf, vgl. Lakoff (1987), Lakoff / Turner (1989). Nietzsche (1998: 37). Nietzsche (1998: 34).

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tung‘, die nur in speziellen Fällen übertragen würde, kann gar nicht die Rede sein.“16 Wie Paul de Man angemerkt hat, nahm Nietzsche eine „vollständige Umkehrung der etablierten Prioritäten“ vor, wenn er die allgemeine „Fehlinterpretation der Realität“, die er der abendländischen Philosophie vorwarf, nicht auf eine verzerrte Wahrnehmung, sondern auf die rhetorische Struktur der Sprache zurückführte.17 Allerdings fügte de Man auch hinzu, mit seiner Auflösung der Differenz zwischen analytischen und metaphorischen Begriffen relativiere Nietzsche letztlich auch den Geltungsanspruch seiner eigenen Analysen. Für Nietzsche, dem dieses Dilemma nicht entgangen war, lag der Ausweg bekanntlich nicht in einem noch intensiveren Bemühen um die Wahrheit, sondern im Gegenteil in einem freimütigen Bekenntnis zu sprachlich-poetischer Kreativität. Wer sich von den Metaphern nicht regieren lassen wollte, dem öffneten sich zwar nicht die Pforten zur Wirklichkeit, aber es stand ihm immerhin frei, sich am Spiel der Metaphernbildung nach besten Kräften zu beteiligen. Wenn Lakoff und Johnson ihre Schlussfolgerungen sehr viel weniger freimütig als Nietzsche formulierten, dann dürften hierfür vor allem die Erfahrungen mit totalitären Machtdiskursen des zwanzigsten Jahrhunderts verantwortlich gewesen sein. Zwar konnten auch sie, nachdem sie den Gedanken einer von der Sprache losgelösten Wahrheit einmal verworfen hatten, ihren Lesern keinen verlässlichen Weg der Erkenntnis mehr aufzeigen und beließen es stattdessen bei einem pluralistisch anmutenden Hinweis auf mehrere mögliche Methoden des Umgangs mit der Wirklichkeit,18 doch unterschied sich ihre Position von derjenigen Nietzsches durch einen nach wie vor erkennbaren aufklärerischen Impuls. Was ihre Argumentation motivierte, war weniger der Gedanke einer Umwertung aller Werte als vielmehr die Verteidigung solcher Werte, die sie in der gegenwärtigen westlichen Gesellschaft für bedroht hielten. George Lakoffs spätere Hinwendung zur Politik bestätigt diesen Befund. Wenn er sich beispielsweise 1990 in einem Text, den er über das damals noch sehr junge Internet verbreitete, zum Verhältnis von Metaphern und Krieg äußerte,19 dann verfolgte er damit das Ziel, die Öffentlichkeit über jene Wahrheiten aufzuklären, welche die seiner Ansicht nach manipulatorische Rhetorik des amerikanischen Präsidenten in der Golfkrise verdeckte. Weniger die Negation des Wahrheitsprinzips lag einer solchen Argumentation zugrunde als vielmehr das Bemühen um eine alternative, jenseits von Machtdiskursen angesiedelte 16 17 18

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Nietzsche (1922: 300). De Man (1991: II, 178). Die „Mythen“ des aufklärerischen Objektivismus und des romantischen Subjektivismus in gleicher Weise ablehnend, propagierten sie einen experimentellen Zugang, der sich vor allem pragmatisch begründete, Lakoff / Johnson (1980: 186). Lakoff (1990).

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Perspektive auf die Wirklichkeit. Auch in moralischer Hinsicht konnte bei den Autoren von Relativismus nicht die Rede sein. Während Nietzsche in seinen Texten gegen die von ihm abgelehnte „Sklavenmoral“ zu Felde gezogen war, verwarfen Lakoff und Johnson verbindliche moralische Prinzipien keineswegs. Eine Verantwortung der Wissenschaft gegenüber der Gesellschaft zählte ebenso zu den von ihnen vertretenen normativen Prinzipien wie das Bemühen um wechselseitige Toleranz in der Beschäftigung mit kulturellen Fragen.20

3. Hayden White und die narrative Konstruktion historischer Wirklichkeit Wenige Jahre, bevor Lakoff und Johnson die Metapher zum eigentlichen Stoff des Lebens erklärten, hatte Hayden White bereits in einem anderen Zusammenhang auf die Bedeutung sprachlicher Kategorien für die Wirklichkeitswahrnehmung hingewiesen. Zwar konzentrierte sich White nicht so sehr auf den „Fundamentaltrieb“ der Metaphernbildung, sondern eher auf eine anthropologisch bedingte Neigung, der Abfolge geschichtlicher Ereignisse nachträglich einen Sinn zu unterstellen, doch bezog auch er sich dabei auf eine Erkenntnistheorie, die den Tropen eine entscheidende Rolle für die Wahrnehmung der Wirklichkeit zuerkannte. Anders als Lakoff und Johnson bezog White die historischen Vorläufer einer solchen Theorie in seine Betrachtungen durchaus mit ein. Hierzu zählten vor allem jene „Four Master Tropes“, die der amerikanische Kulturtheoretiker Kenneth Burke 1950 unter Bezugnahme auf Giambattista Vicos kulturgeschichtliche Betrachtungen in seiner Scienza Nova (1725) vorgenommen hatte.21 Dabei beschränkte sich auch für ihn Rhetorizität nicht auf die Praxis einer kodifizierten ars rhetorica, sondern war eine unhintergehbare Funktion der menschlichen Sprache.22 Entsprechend begriff Burke seine „Master Tropes“ – Metapher, Metonymie, Synekdoche und Ironie – nicht als Stilmittel der Elocutio, sondern als erkenntniskonstitutive Größen.23 Tat20

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Zum Prinzip der Verantwortung beispielsweise in der Wissenschaft siehe Lakoff / Johnson (1980: 227), zum Prinzip einer wechselseitigen Toleranz (1980: 230 f.). White (1973: 31 f.). Von Whites Beschäftigung mit dem Werk Burkes zeugt auch ein von ihm und Margaret Brose herausgegebener Sammelband (1982). Kramer (1998: 268). Wie Ueding anmerkt, kann Burkes Werk nicht als repräsentativ für die amerikanische Rhetorik seiner Zeit angesehen werden, auch wenn es sich im Nachhinein als entscheidend für die Entwicklung einer neuen Rhetorik erwiesen hat, Ueding (1976: 176 f.). Zu Burkes Rhetoriktheorie siehe auch Comprone (1992), Holocher (1996: 108 ff.) und Campbell (2001: 503 f.). Burke (1969: 503).

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sächlich hatte bereits Vico betont, die Tropen seien nicht „geistreiche Erfindungen der Schriftsteller“, sondern „Ausdrucksarten, die für die ersten poetischen Völker“ ein Grundbedürfnis waren.24 Damit hatte er den Anstoß gegeben für eine Kulturtheorie, für welche die Rhetorik eine unverzichtbare Grundlage bildete, obwohl sie als öffentlich praktizierte ars darin kaum noch eine Rolle spielte.25 So wie für Lakoff und Johnson die Metapher ein nicht hintergehbares Element der Alltagserfahrung darstellte, so war für Hayden White die Narrativität ein unhintergehbares Element der Geschichtserfahrung. Wie Reinhart Koselleck bemerkt hat, war es Whites Verdienst, den historischen Text wieder seiner „ehemalige[n] Bestimmung“ zuzuführen, nämlich „Teil der Rhetorik zu sein“.26 Wenn diese Beobachtung in ihrer Allgemeinheit auch nicht zu bezweifeln ist, zeigt sich bei genauerer Hinsicht doch, dass es White weniger um die Ausbildung einer historiographischen ars rhetorica ging als um den Nachweis einer Rhetorizität des historiographischen Diskurses. Jeder Fluchtversuch, den der um Objektivität bemühte Historiograph vor den Tropen unternahm, musste nach White zum Scheitern verurteilt sein, denn wie er feststellte: „tropics is the process by which all discourse constitutes the objects which it pretends only to describe realistically and to analyze objectically“.27 In Whites Terminologie „präfigurieren“ die Tropen das Wahrnehmungsfeld des Historikers.28 Die narrativ strukturierten Sinnzuschreibungen des Historiographen, die White mit dem Begriff des „emplotment“ umschrieb, hingen mit dieser tropologischen Struktur unauflöslich zusammen. Nur von dieser Warte aus konnte White erklären, dass auch der historiographische Text den Charakter eines literarischen Kunstprodukts besitze.29 Eine Beliebigkeit im Sinne eines „anything goes“ folgte für White aus dieser Einsicht jedoch nicht. Bei aller Skepsis, die er gegenüber der Idee einer faktologisch ausgerichteten Historiographie an den Tag legte, wäre es verfehlt, ihm einen ungehemmten erkenntnistheoretischen Relativismus zu unterstel-

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Vico (1965: 175). Auf die Differenz zwischen Whites und Vicos Tropenbegriff macht indes Nagl-Docekal (1985: 211) aufmerksam; letzterer sei nicht als deterministisch zu bezeichnen, sondern leite sich aus den Differenzierungsschritten des menschlichen Denkens ab. Marshall (2010: 4) umschreibt diesen Sachverhalt wie folgt: „the progressive withdrawal of rhetoric from the surface of Vichian inquiry testifies to an intellectual process of embedding in which rhetoric came to occupy an absolutely constitutive and yet invisible place in the foundations of Vico’s thinking.” Koselleck (1986: 2). White (1978: 2). White (1978: 72). White (1978: 81 ff.).

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len.30 Vielmehr vertrat er die Ansicht, dass eine Untersuchung der tropologischen Strukturen der Geschichtsschreibung zur Aufdeckung ideologischer Verzerrungen beitragen konnte.31 Die tropische Kodierung der Welt folgte dabei einem von Vico vorgegebenen Muster. Sie verlief von einer metaphorischen Beschreibung von Gegenständen oder Sachverhalten über eine metonymische Reduktion hin zu einer synekdochischen Repräsentation, bei der das einem Gegenstand zugeschriebene „Wesen“ in besonderer Weise akzentuiert wurde. White gab hierfür die folgenden Erläuterungen. Ein Beispiel für eine metaphorische Umschreibung wäre etwa die Ersetzung von „my love“ durch „a rose”, metonymisch wäre die Ersetzung von „fifty ships“ durch „fifty sail“; synekdochisch wäre dagegen eine Formulierung wie „He is all heart.“32 Einen gesonderten Status schrieb White der vierten Stufe, der Ironie, zu. Diese war den ersten drei Tropen entgegengesetzt, indem sie den tropischen Charakter der Sprache selbst thematisierte.33 Das konnte zum Beispiel durch Oxymora wie „blind mouths“ oder „cold passion“ geschehen, in denen die wörtliche Bedeutung durch die figurative konterkariert wurde. Den Sonderstatus der Ironie begründete White mit den Worten: „An ironic utterance is not merely a statement about reality, as metaphor, metonymy, and synecdoche are, but presupposes at least a tacit awareness of the disparity between a statement and the reality it is supposed to represent.“34 Es wird deutlich, dass die Ironie bei White eine ähnliche Funktion besitzt wie die Rückführung vermeintlicher Wahrheiten auf sprachliche Figuren bei Nietzsche. Für den „freigewordene[n] Intellekt“, so hatte Nietzsche geschrieben, war das „Bretterwerk der Begriffe“ nur ein Spielzeug für „verwegenste Kunststücke“, mit denen er es zerschlagen, durcheinanderwerfen oder auch ironisch wieder zusammensetzen konnte.35 Anders als bei Nietzsche ist bei White jedoch noch immer ein Bemühen erkennbar, die ironische Negation des Anspruchs auf Wirklichkeitserkenntnis gleichsam zu zähmen, indem sie in das in sich geschlossene System der „Master Tropes“ eingeschrieben wird. Innerhalb dieses Systems erkannte White der Ironie sogar eine erhellende Funktion zu, denn schließlich war es ja ihre Aufgabe, die wirklichkeitsverzerrende

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Es erscheint deshalb auch problematisch, Whites Hinweis auf den poetischen Charakter historiographischer Texte dahingehend zu deuten, dass dieser nicht zwischen Dichtung und Geschichtsschreibung unterschiede, so Iggers (2007: 87). Auch Sarasin (2003: 55) weist auf ein solches Missverständnis hin. Spargo (2000: 7). White (1973: 34), vgl. auch White (1978: 5). White (1978: 204 f.). White (1978: 208). Nietzsche (1998: 38).

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Funktion der anderen Tropen ans Licht zu bringen und damit im besten Sinne des Wortes aufklärend zu wirken. Deutlich zeigen sich die Unterschiede zu Nietzsche auch in Whites Auseinandersetzung mit postmodernen Spielarten der Literaturkritik, die er unter dem Begriff „absurdist criticism“ zusammenfasste. In der postmodernen Texttheorie, die er zu Recht als eine Fortsetzung der Sprachkritik Nietzsches betrachtete,36 erkannte White ein antiaufklärerisches Moment. Für ihn waren die virtuos anmutenden Dekonstruktionen dieser Richtung nichts Anderes als „an endless series of metaphorical translations from one universe of figuratively provided meaning to another“.37 Letztlich, so stellte er fest, ging es den „absurdist critics“ immer nur um eines, nämlich um den Nachweis, dass alle Textuniversen, in denen der Mensch sich einrichtete, von jedwedem Wirklichkeitsbezug und jeder tieferen Bedeutung gänzlich frei waren. Indem er den „absurdist criticism“ in das bereits von Vico postulierte Schema einer sukzessiven Abfolge tropologischer Wahrnehmungsmuster integrierte, nahm White eine Metaposition ein, aus deren Perspektive die poststrukturalistische Dekonstruktion weniger revolutionär anmutete, als deren Vertreter suggerierten.38 In deren hermeneutischen Akrobatismen sah White nicht, wie manche konservativen Kritiker dies taten, eine Erschütterung der Grundpfeiler des abendländischen Denkens, sondern lediglich eine ironische Weltwahrnehmung, wie sie in der europäischen Kulturgeschichte zu bestimmten Zeiten immer wieder beobachtet werden konnte.39 Auch Michel Foucaults „Archäologie des Wissens“, der bekanntlich eine tiefgreifende Skepsis gegenüber allen ideengeschichtlichen Narrationen zugrundelag, ließ sich nach White in das von Vico vorgegebene tropologische Schema integrieren. Trotz seines virtuos anmutenden Hantierens mit historischen Gegenständen sei es Foucault in Les mots et les choses (1966) letztlich doch nur um den Nachweis gegangen, dass die Sprache nun einmal nicht in der Lage sei, die Wirklichkeit zu repräsentieren – egal ob sie sich, wie im Falle der Renaissance, nach Ähnlichkeiten oder, wie im Falle des Klassizismus, nach Unterschieden organisiere.40 Foucaults unkonventionelle Sicht auf die Geschichte der Denksysteme, nach der diese lediglich diskontinuierlich aufeinanderfolgende Repräsentationsmodi darstellten, spiegelte nach White einmal mehr die von Vico beschriebene Abfolge tropologischer Wahrnehmungsmuster. So verberge sich in der von Foucault postulierten Ablösung des vorklassi36 37 38

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White (1978: 277). White (1978: 281). Vgl. hierzu auch Ellrichs kritischen Befund zu Whites Nietzsche-Rezeption im Lichte von Vicos Tropendefinitionen (1994: 248 ff.). White (1978: 281 f.). White (1978: 238 ff.).

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schen Korrespondenzschemas durch das der hierarchisierenden Klassifikation letztlich nichts anderes als der schon von Vico beschriebene Wechsel von einer metaphorischen zu einer metonymischen Präfiguration.41 Die übrigen von Foucault beschriebenen Repräsentationsweisen – die Entdeckung der Zeitlichkeit und Nietzsches Entlarvung der Sprache als eine Anhäufung von Metaphern – bezeichneten synekdochische und ironische Wirklichkeitswahrnehmungen.42 Über die Intention, die White mit seiner Deutung des Foucault’schen Frühwerks verfolgte, braucht man nicht lange zu spekulieren. Indem er den „Plot“ herausarbeitete, nach dem sich Foucaults Geschichte der Repräsentationen strukturierte, schrieb er ihr einen Sinn zu, den ihr Autor selbst nicht im Blick gehabt haben konnte. Durch die Freilegung der tropologischen Tiefenstruktur, die Foucaults Darstellung angeblich zugrundelag, versuchte White den Nachweis zu erbringen, dass sich trotz offenkundigem Bemühen um einen möglichst unkonventionellen Zugang zur Ideengeschichte auch der französische Philosoph einer geheimen Präfiguration durch die immer schon wirksamen „Meistertropen“ nicht entziehen konnte.

4. Ausblick Dass Nietzsches Idee von der Metaphernbildung als „Fundamentaltrieb“ des Menschen in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts eine Wiederbelebung erfuhr, ist unstrittig. Im Werk Foucaults und anderer Kulturtheoretiker dieser Zeit sind die Spuren Nietzsches häufig nachgewiesen worden.43 Wenn derzeit in kulturgeschichtlichen Arbeiten, beispielsweise zur Literatur des britischen Viktorianismus, „Metaphern“ herausgearbeitet werden, dann sind damit keine Stilfiguren mehr gemeint, sondern Konzepte, welche die Wahrnehmung der betreffenden Autoren strukturierten. Mit der Aufdeckung solcher konzeptueller Leitmetaphern verbinden sich zumeist auch Verweise auf verdeckte Machtstrukturen und deren Wirksamkeit in den Bereichen race, class und gender. Eine zusätzliche Möglichkeit, solche Machtstrukturen aufzuzeigen, bietet sich durch die Analyse narrativer Sinnzuschreibungen beispielsweise im Rahmen des nationalgeschichtlichen Gedächtnisses. Angeregt durch Hayden Whites Narratologie, aber auch durch Jean-François Lyotards Verabschiedung der grand récits, wurden aus Kenneth Burkes „Master Tropes“ „Master Narratives“, die auf zahlreichen Feldern der kulturgeschichtlichen 41 42 43

White (1978: 252 ff.). White (1978: 244 f.). Vgl. zu Nietzsche und Foucault beispielsweise Roth (1992: II, 103 ff.).

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Forschung nachgewiesen und als Instrumente der Machtausübung dekouvriert werden konnten. Als „Meistererzählungen“ sind sie auch in Deutschland bekannt geworden.44 Während man den Alleinvertretungsanspruch der „großen Erzählungen“, wie sie den Nationalgeschichten des neunzehnten Jahrhunderts noch zugrunde gelegen hatten, in Frage stellte, konzentrierte man sich in der seit den sechziger Jahren an Bedeutung gewinnenden revisionistischen Geschichtsschreibung nun auf zuvor marginalisierte Bereiche. In den Fokus rückten jene Geschichten, die, wie Robert F. Berkhofer es formulierte, „beyond the great story“ angesiedelt waren.45 Als dankbar für die Literaturwissenschaft erwies sich zudem der Umstand, dass auch Schriftsteller die Idee einer Dekonstruktion „großer Erzählungen“ aufgriffen und literarisch verarbeiteten. Seit Linda Hutcheons Begriffsprägung sind sie als „historiographische Metafiktionen“ geläufig.46 Tatsächlich lesen sich Romane wie Graham Swifts Waterland (1983) oder Julian Barnes’ A History of the World in 10/2 Chapters (1989), um nur zwei Beispiele zu nennen, bei allem ästhetischen Reiz, den sie für ihre Leser entfalten mögen, auch wie Illustrationen einer dekonstruktivistischen Geschichtstheorie mit poetischliterarischen Mitteln. Dass der von Selbstzweifeln geplagte Geschichtslehrer und Ich-Erzähler Tom Crick in Waterland den Menschen als „story-telling animal“ definiert,47 passt in dieses Bild, wandelt er damit doch die Burke’sche Definition des Menschen als „symbol-using animal“ im White’schen Sinne ab. Trotz dieser Anwendungsmöglichkeiten sollte jedoch nicht außer Acht gelassen werden, dass die machtkritische Perspektive, die den Revisionen der tradierten Geschichtsschreibung oftmals zugrundeliegt, sich keineswegs mit zwingender Notwendigkeit aus einem erkenntnistheoretischen Skeptizismus ergibt, wie er von Nietzsche propagiert wurde.48 Tatsächlich hat es den Anschein, dass bei der Hervorhebung des tropologischen Charakters aller menschlichen Wirklichkeitserfahrung die Ambivalenz, welche der Idee einer Befreiung aus den Fesseln der rationalistischen Logik innewohnt, kaum in den Blick geriet. Hayden White, in dessen Texten relativistische Momente immer an das Prinzip einer Bejahung der Pluralität gekoppelt bleiben, ist eine Gleichsetzung von Historiographie und Poesie dabei kaum vorzuwerfen. Immerhin betonte er in Tropics of Discourse sogar, dass die Inhalte historischer Erzäh44 45 46 47 48

Rüsen (1991: 33). Berkhofer (1995). Hutcheon (1988). „But man – let me offer you a definition – is the story-telling animal.” Swift (2002: 60). Schon in den achtziger Jahren bemerkte Jürgen Habermas mit kritischem Blick auf Foucault, dessen „wortstarken Anklagen gegen die Disziplinarmacht“ lägen letztlich die „bekannten Bestimmungen aus dem explizit zurückgewiesenen normativistischen Sprachspiel“ zugrunde (1988: 333 f.). Auch Roth (1992: II, 117) verweist auf diesen Punkt.

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lungen nicht nur „erfunden“ (invented), sondern eben auch „vorgefunden“ (found) würden.49 Im Zentrum seiner Theorie stand das komplexe Verhältnis zwischen der Chronik der Ereignisse und ihrer Sinnzuschreibung durch den Historiker.50 Damit relativierte er zwar den Wahrheitsanspruch der traditionellen Geschichtsschreibung, sprach historischen Darstellungen einen Wirklichkeitsbezug aber auch nicht grundsätzlich ab. Ebenso wie für Kenneth Burke und George Lakoff verband sich für White mit der Einsicht in den tropologischen Charakter aller menschlichen Kommunikation noch immer ein humanistisches Toleranzprinzip.51 Dies unterschied seine Sichtweise von derjenigen Nietzsches, für den der Ausweg aus einem kleinlichen Realitätsbewusstsein tatsächlich in einem freimütigen, jenseits herkömmlicher Moralvorstellungen angesiedelten Bekenntnis zum Prinzip des Schöpferischen gelegen hatte. Wenn Wahrheiten schon nicht gefunden werden konnten, so lautete das Fazit seines Essays, dann konnte man sie eben konstruieren. Erst im „Mythus“ und in der „Kunst“ verwirklichte sich nach Nietzsche der „intuitive Mensch“, der mit dem „Notbehelf“ eines verfestigten Begriffssystems nach seinem Gutdünken verfuhr.52 Aus seiner Lektüre von Nietzsches Essay schloss Paul de Man deshalb folgerichtig, dieser stelle sich zwar „zu Recht als eine Demystifikation literarischer Rhetorik“ dar, sei dabei aber selbst „durch und durch literarisch, rhetorisch und trügerisch“.53 Kulturwissenschaftler sollten solche Aporien auch als Anlass für eine kritische Reflexion ihrer methodologischen Prämissen nehmen. Geboten erscheint solches schon deshalb, weil sich zu einem erkenntnistheoretischen Relativismus ja nicht nur solche Zeitgenossen bekennen, denen primär an einer Emanzipation des Menschen aus seinem selbstgeschaffenen Gefängnis des Denkens gelegen ist, sondern auch solche, welche die Ablehnung des Wahrheitsgedankens als Aufforderung zum Ausleben eines eigenen ungehemmten Machtstrebens interpretieren könnten. Auch für eine solche Auslegung finden sich Beispiele in der Literatur der letzten Jahrzehnte. In seinem satirischen CampusRoman The History Man (1975) schuf der Literaturwissenschaftler und Schriftsteller Malcolm Bradbury mit der Figur des Soziologen Howard Kirk eine Figur, die bereit ist, das von Nietzsche formulierte Kreativitätspostulat freimütig umzusetzen. Der eigentlich für die Befreiung von gesellschaftlichen Zwängen plädierende Universitätsprofessor versteht es im Roman, seine Umwelt so geschickt zu manipulieren, dass sich für ihn daraus eine historische Erzählung nach ganz eigener Regie entwickelt. Als seine Kollegin Annie Ca49 50 51 52 53

White (1978: 82). Kellner (1992: 260). Kellner (1992: 258). Nietzsche (1998: 37 f.). De Man (1991: 182).

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lender, die sich von ihm hintergangen fühlt, sich bei ihm mit den Worten „It was all a plot” beschwert, entgegnet Howard ihr gelassen: „I thought you liked plots […]. In any case, it’s the plot of history.”54 Sein Spiel mit der Doppelbedeutung des Wortes „plot“ lässt ihn dabei wie eine lebendige Demonstration eines kreativen Umgangs sowohl mit der Wahrheit als auch mit der Sprache erscheinen. Historiographische Kreativität und machiavellistisches Machtstreben gehen in dieser Figur eine perfekte Symbiose ein. Einige Jahrzehnte zuvor hatte George Orwell die Gefahren eines machiavellistischen Machtstrebens bereits auf sehr viel drastischere Weise herausgestellt. Die politische Macht, die er in seinem dystopischen Roman Nineteen EightyFour (1948) beschrieb, hat es bezeichnenderweise gar nicht mehr nötig, sich auf irgendeinen westlichen Rationalitätsglauben zu berufen. Ihre Vertreter bekennen sich ganz offen zu einem erkenntnistheoretischen Relativismus. Entsprechend kann das Parteimitglied O’Brien behaupten, den wahrheitssuchenden Protagonisten Winston Smith in der Folterkammer des Regimes aus dem „Gefängnis“ seiner philosophischen Naivität zu „befreien“. In zynischer Weise die Haltung eines Aufklärers zitierend, lässt der Vertreter der Diskursmacht sein Folteropfer zwischen zwei diesem zugefügten Stromstößen wissen: „You believe that reality is something objective, external, existing in its own right. You also believe that the nature of reality is self-evident. When you delude yourself into thinking that you see something, you assume that everyone else sees the same thing as you. But I tell you, Winston, that reality is not external. Reality exists in the human mind, and nowhere else.”55

In einem Herrschaftssystem, dass die Macht besitzt, jeden Tag neue Erzählungen zu kreieren, so legt die Lektüre von Orwells dystopischem Roman nahe, bedarf es keiner Berufung auf irgendeine sinnstiftende „Meistererzählung“ mehr. Interessanterweise entspringt das Totalitäre hier gerade nicht einem doktrinären Rationalismus, sondern vielmehr jenem „Willen zur Macht“, der seine Energie aus einer Bejahung des eigenen und einer Verneinung des fremden Lebens schöpft. Es war wohl nicht zuletzt diese Erkenntnis, welche den britischen Philosophen Bertrand Russell 1946 zu der Feststellung veranlasste, Nietzsches Jünger hätten ihre Chance gehabt, man dürfe jedoch hoffen, dass es damit nun ein Ende habe.56 Dass es dennoch gerade ein an Nietzsche geschulter erkenntnistheoretischer Skeptizismus sein würde, der die sprachphilosophische Diskussion der nachfolgenden Jahrzehnte bestimmen sollte, war am Ende des Zweiten Weltkriegs, 54 55

56

Bradbury (2000: 248). Orwell (1989: 261). Auf die Kehrseite der Öffnung der Interpretation ins Unendliche, die sich aus Nietzsches Dekonstruktion der Wahrheit ergibt, weist, mit Bezug auf Kafkas Roman Das Schloss, auch Müller (2003: 102 ff.) hin. Russell (1979: 739).

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der ja immerhin gegen die irrationale Ideologie der Nationalsozialisten geführt worden war, kaum vorherzusehen. Um ausgerechnet im westlichen Rationalismus ein Instrument zur Befriedigung eigentlich irrationalistischer Machttriebe erkennen zu können, bedurfte es offensichtlich erst einer gesteigerten Sensibilität gegenüber dem, was Max Horkheimer und Theodor W. Adorno – interessanterweise ebenfalls unter dem Eindruck des Zweiten Weltkriegs – als die „Dialektik der Aufklärung“ charakterisiert hatten.57 Eine solche Sensibilität war im gesellschaftskritischen Diskurs der späten sechziger Jahre gegeben. Dessen Angst vor dem „Terror der Vernunft“ mag ausschlaggebend für die enge Verbindung gewesen sein, die seither zwischen postmoderner Texttheorie und Kulturkritik besteht. Kaum jemand wird bestreiten wollen, dass dabei wertvolle Einsichten in den Zusammenhang von Sprache und gesellschaftlicher Macht gewonnen wurden, doch liegt die Vermutung nahe, dass die machtkritische Perspektive, welche den kulturwissenschaftlichen Diskurs der letzten Jahrzehnte bestimmte, eher auf das gesellschaftskritische Klima des späten zwanzigsten Jahrhunderts als auf einen radikalen philosophischen Skeptizismus zurückzuführen war. Trotz einer verbreiteten Abneigung gegen alle Essentialismen und der Bereitschaft, das Spiel der Macht als einzige verbleibende gesellschaftliche Realität anzuerkennen, zeugten die thematischen Fokussierungen kulturwissenschaftlicher Arbeiten doch noch immer von einem Weiterleben humanistischer Positionen. Wie die anhaltende Popularität von Bereichen wie postcolonial studies oder gender studies illustriert, spielt in kulturhistorischen Debatten weniger die Faszination der Macht als vielmehr das Schicksal benachteiligter gesellschaftlicher Gruppen eine Rolle. Um deren Marginalisierung historisch erklären zu können, erscheinen Reflexionen über die Rolle von Meistertropen und Meistererzählungen in der Tat unverzichtbar. Eine normative Einschätzung solcher Prozesse legen sie von sich aus jedoch nicht nahe.

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Benjamin Biebuyck

Blitzen ohne Blitz Überlegungen zur Kategorie des ‚Handelns‘ zwischen Figürlichkeitstheorie, Rhetorik und Erzähltextwissenschaft Die Frage, mit der sich die Rhetorik zukünftig beschäftigen sollte, ist – es nimmt nicht wunder – selber in zweifacher Hinsicht rhetorisch. Einerseits ist sie rhetorisch, weil sie ihre Legitimität gerade daraus herleitet, dass sie keine Antwort verlangt. Immer intensiver bezieht sich eine Vielzahl von wissenschaftlichen Disziplinen, wie die Linguistik, die Didaktik und die Kognitionswissenschaften, auf die Begriffe und das analytische Instrumentarium der Rhetorik, so dass die Zukunft der Rhetorik nicht nur von ihr selbst, sondern auch und vielleicht vor allem von ihren dominant gewordenen Gesprächspartnern bestimmt wird. Andererseits liegt die Rhetorik der Frage darin, dass das Formulieren einer Antwort eben die Zukunft zu bestimmen versucht, die die Frage zu erkunden vorgab. Der vorliegende Artikel hat den Anspruch, ein theoretischer Diskussionsbeitrag zu der Debatte über die Zukunft der Rhetorik zu sein. Er ist im Bereich der Figürlichkeitstheorie, auf der Schnittstelle von Rhetorik und Erzähltexttheorie, anzusiedeln und will die Aufmerksamkeit auf eines der Hauptprobleme einer interdisziplinär ausgerichteten Theorie der kreativen Figürlichkeit lenken: auf den Aspekt der Handlung, des Handelns und des Handelnden (des Akteurs). Wie das Historische Wörterbuch der Rhetorik reichlich dokumentiert, ist der Handlungsaspekt in der Rhetorik seit ihren Anfängen intensiv reflektiert worden, vor allem unter den Blickwinkeln des Ethos und der Actio.1 Redner sind ja in ihrem Reden sozial operierende Wesen, die intentional-verbal mit anderen interagieren und aufgrund variabler und vielschichtiger Zielsetzungen verhandeln. Die Zuverlässigkeit ist der Angelpunkt ihres Handelns: Sie bestimmt in entscheidendem Maße dessen Spielraum und dessen Wirksamkeit. Sie wird von dem rhetorischen Auftreten selbst verstärkt oder unterminiert – wobei die actio allerdings weitgehend von den Erwartungen des Publikums mit bedingt wird. Dies bestätigt, dass es der handlungstheoretischen Ausrichtung der Rhetorik gelungen ist, das soziale, kulturelle und auch das rein praktische, ‚körperliche‘ (embodied) Funktionieren des sprechenden Menschen nachhaltig ins Zentrum des Interesses zu rücken.

1

Vgl. Robling et al. (1994) und Steinbrink (1992).

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Dies hat sich, in vielerlei Hinsicht, für die Literaturwissenschaft und die aus ihr hervorgegangene Erzähltexttheorie als viel schwieriger herausgestellt, oder vielmehr: Diese Disziplinen haben auf anderen philosophischen Überlieferungen aufgebaut und dadurch die Wechselwirkung mit der mit ihnen verwandten rhetorischen Theorie in beträchtlichem Maße erschwert. Bekanntlich haben maßgebliche Strömungen innerhalb der Literaturwissenschaft, wie die Narratologie, sich im Zuge des Strukturalismus von dem personalen Bezug, der im Zentrum der Rhetorik stand, abgewendet und sind auf die Suche nach Systemen und Strategien gegangen, die nicht eindeutig auf eine intentionale Handlungsinstanz, einen Akteur, zurückzuführen sind. Der berühmte, von Roland Barthes angesprochene ‚Tod des Autors‘2 ist in dieser Hinsicht nicht bloß ein rhetorisches Statement, sondern zugleich auch die Anerkennung der Tatsache, dass kommunikativer Erfolg nur unter Umständen von der Identifizierbarkeit einer handelnden oder sprechenden Instanz abhängig ist und dass viele andere Umstände auch ohne einen Akteur die Unwahrscheinlichkeiten des kommunikativen Austausches überwinden. Im ersten Kapitel von Niklas Luhmanns Liebe als Passion heißt es entsprechend programmatisch über den sozialen Paradigmenwechsel am Ende des 18. Jahrhunderts und über die von ihm ausgelöste „Entsubstantialisierung“3 des Subjektbegriffs: Von Steigerung der Möglichkeit zu unpersönlichen Beziehungen kann man sprechen, weil es in zahlreichen Bereichen möglich ist, erfolgssicher zu kommunizieren, auch wenn man die Partner persönlich gar nicht kennt und man sie nur über wenige, rasch erfaßbare Rollenmerkmale (Polizist, Verkäuferin, Telephonzentrale) einschätzt. Außerdem deshalb, weil jede einzelne Operation von zahllosen anderen abhängt, die ihre Funktionsgarantien nicht in Persönlichkeitsmerkmalen haben, die dem bekannt sein können, der sich auf sie verläßt. Wie in keiner Gesellschaft zuvor gibt es unwahrscheinliche, kontingente, nicht als Natur interpretierbare Verläßlichkeiten, die nicht durch Personenkenntnis gedeckt sein können.4

Michel Foucaults Umschreibung des Autors als eine juristische und wirtschaftliche Kategorie passt nahtlos in diese Tendenz, bestimmte Formen kommunikativen Verkehrs, und insbesondere die literarische Kommunikation, zu entpersonalisieren.5 Die strukturalistische Narratologie hat diese Entwicklung dezidiert in ihre Begrifflichkeit übertragen. Literarische Erzähltexte bestehen nach ihrer Ansicht aus Strategien ohne Strategen. Auch die zeitgenössische, postklassische Narratologie beharrt auf der Abweisung jeglichen Anthropomorphismus bei der Beschreibung der Erzählsituationen; entweder redet sie von einem rein funktionalen Erzähler oder von einer körperlosen Erzählstim-

2 3 4 5

Siehe Barthes (1984). Luhmann (1994: 29). Luhmann (1994: 13–14). Vgl. Foucault (1969).

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me.6 Beide repräsentieren zwar das Medium der narratio, ansonsten bleiben sie aber möglichst weit von dem traditionellen erzählenden Akteur entfernt. Interessanterweise liegen dieser Tendenz zwei völlig entgegengesetzte philosophische Traditionen zugrunde. In seinem Aufsatz „Die Sprache“ lehnt Martin Heidegger die Ansicht, Sprechen sei „eine Tätigkeit des Menschen“7, dezidiert ab und ruft den Leser dazu auf, bei der Sprache, d.h. in ihrem Sprechen, nicht in unserem den Aufenthalt zu nehmen. Nur so gelangen wir in den Bereich, innerhalb dessen es glückt oder auch mißglückt, daß aus ihm die Sprache uns ihr Wesen zuspricht. Der Sprache überlassen wir das Sprechen.8

Weiter im Text versucht der Philosoph darzulegen, dass das Gedicht – exemplarisch von Trakls ‚innigem‘ Gedicht „Ein Winterabend“ vertreten – ein solcher Ort ist, an dem die Leser das Sprechen der Sprache vernehmen können. Auffällig ist, dass der sonst stark approximativ ausgerichtete Denker in Bezug auf das Sprechen der Sprache binär Erfolg und Misserfolg gegeneinander ausspielt. Der einzige handelnde Mensch in Heideggers Text ist daher der Suchende, der Horchende, dessen Intentionalität sich darauf beschränkt, sich für die Emergenz der Sprache zu öffnen. Über einen ganz anderen Weg, und aufgrund ganz anderer ideologischer Voraussetzungen, kommen Mikhail Bakhtin und Valentin Voloshinov zu einer sich analog auswirkenden Problematisierung des individuellen Akteurs. In ihren 1973 veröffentlichten Konjekturen über „Multiakzentualität“ und radikale Intertextualität zeigen sie, dass jedes Wort in einem Erzähltext nicht nur die Aussage eines individuellen Sprechenden zum Ausdruck bringt, sondern zugleich die Ansprüche einer Vielfalt von sozialen Gruppen verlautbar werden lässt und daher zum Schlachtfeld eines verbalen Klassenkampfes avanciert wird.9 Auf vergleichbare Weise legt die feministische Narratologin Susan Lanser in ihrer 1992 publizierten Studie Fictions of Authority die „communal voice“ dar, die aus von Frauen geschriebenen Erzähltexten spricht.10 Auch in diesen beiden Fällen handelt der Sprechende also nicht per se ‚in eigenem Namen‘, sondern vertritt eine überindividuelle Größe, die den Rückschluss des sprachlichen Auftretens auf eine identifizierbare handelnde Instanz in Frage stellt. Impliziert aber eine Handlung überhaupt das intentionale Auftreten einer handelnden Person? Am Ende des 19. Jahrhunderts war Nietzsche bereits davon überzeugt, dass die Logik dieser Auffassung auf einer falschen Voraus6 7 8 9 10

Siehe u.a. Lahn und Meister (2008: 61ff.). Heidegger (1990: 14). Heidegger (1990: 12). Vgl. Voloshinov (1986); siehe auch: Biebuyck und Pieters (1997). Siehe Lanser (1992: 223ff.).

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setzung der Grammatik beruhe. Sein einflussreicher Standpunkt in Zur Genealogie der Moral lautet wie folgt: Ebenso nämlich, wie das Volk den Blitz von seinem Leuchten trennt und letzteres als Thun, als Wirkung eines Subjekts nimmt, das Blitz heisst, so trennt die Volks-Moral auch die Stärke von den Äusserungen der Stärke ab, wie als ob es hinter dem Starken ein indifferentes Substrat gäbe, dem es freistünde, Stärke zu äussern oder auch nicht. Aber es giebt kein solches Substrat; es giebt kein „Sein“ hinter dem Thun, Wirken, Werden; „der Thäter“ ist zum Thun bloss hinzugedichtet, – das Thun ist Alles. Das Volk verdoppelt im Grunde das Thun, wenn es den Blitz leuchten lässt, das ist ein Thun-Thun: es setzt dasselbe Geschehen einmal als Ursache und dann noch einmal als deren Wirkung. Die Naturforscher machen es nicht besser, wenn sie sagen „die Kraft bewegt, die Kraft verursacht“ und dergleichen, – unsre ganze Wissenschaft steht noch, trotz aller ihrer Kühle, ihrer Freiheit vom Affekt, unter der Verführung der Sprache und ist die untergeschobenen Wechselbälge, die „Subjekte“, nicht losgeworden.11

Nur die Sprache hindert uns daran, so Nietzsche, ein Handeln zu konzipieren, das nicht auf einen Akteur zurückzuführen ist, insofern der Akteur als eine aus dem Handeln selbst hervorgehende Fiktion interpretiert wird.12 Interessanterweise hatte Nietzsche einige Jahre vorher eigens auf die Blitz-Metapher zurückgegriffen, um den Übermenschen zu konzeptualisieren: ein früher Versuch, seine anthropologische Utopie von jeglicher Wesensbestimmung (‚Thäter‘) zu befreien und ausschließlich von der Lebenspraxis („That“) her zu definieren. In der „Klage der Ariadne“, Nietzsches siebtem DionysosDithyrambus, der ursprünglich für den vierten Teil von Zarathustra verfasst wurde, apostrophiert das lyrische Ich den mehrfach zerrissenen und neu zusammengesetzten Gott als „Blitz-Verhüllter“.13 Hier ist von dem ‚Täter‘ nur noch als passives Negativbild der Tat die Rede. Dies im Detail zu besprechen, würde den Rahmen dieses Beitrags sicherlich sprengen. Doch lässt sich schlussfolgern, dass die in der zeitgenössischen Narratologie weit verbreitete Überzeugung, dass das erzählende Handeln nicht per definitionem – oder gar nicht – den Einsatz eines handelnden Erzählers voraussetzt, starke Befürworter hat.

1. Fünf Kategorien des narrativen Handelns Dass narratives Handeln auf eine handelnde Instanz verzichten kann, ist nicht das einzige Problem. In einem Erzähltext vollziehen sich ja simultan mehrere, 11 12

13

Nietzsche (1988c: 279–280). Zu Nietzsches Bezug zur späteren kulturrelativistischen Sprachwissenschaft (Whorf, Sapir) und zur Blitzmetapher, die auch bei Whorf vorkommt: vgl. Albrecht (1979: 239). Nietzsche (1988d: 398); siehe auch Nietzsche (1988b: 315).

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unterschiedliche Handlungen. Insbesondere die rhetorische Narratologie hat großen Wert auf die Vielfalt des Handelns gelegt14, allerdings ohne den gänzlichen Verzicht auf eine handelnde Instanz, die in der Gestalt des implied author in der amerikanischen Narratologie, mit ihrer prinzipiellen Verwurzelung in der Tradition des common law, von vorrangiger Bedeutung ist und bleibt.15 Doch gerade die Vielheit der zu unterscheidenden, nicht aufeinander reduzierbaren Handlungen ist dafür verantwortlich, dass eine Erzählung nicht spontan mit einem Erzähler verbunden werden kann und dass die Realität eines solchen erzählenden Akteurs überhaupt fragwürdig wird. Der Wegfall eines intendierenden Akteurs hebt den Unterschied zwischen Handlung und Ereignis nicht (oder nicht notwendigerweise) auf. Während ein Ereignis sich ohne Anlass vollzieht und so im erzählten Geschehen einen Riss verursacht, geht eine Handlung aus einer Handlungskette hervor oder entwickelt eine solche. Gerade die Konsistenz in der Handlungsabfolge ist das Fundament, auf dem sich der Handelnde als imaginierte Instanz aufbaut. Die Vielheit der Handlungen induziert so auch eine Vielfalt an Akteuren. Dies gilt zunächst für eine erste Kategorie des Handelns: die in Erzähltexten dargestellten Handlungen und suggerierten Handlungen, deren Vollzug implizit abgeleitet werden kann aus der Wiedergabe von veränderten Sachverhalten. Eine zweite Handlungskategorie ist die der Erzählhandlung. Wenn wir das Erzählen selbst als Handlung verstehen, entfällt der traditionelle Unterschied zwischen ‚Erzählen‘ und ‚Zeigen‘ (zwischen showing und telling), da das Erzählen neben den Geschehnissen in der erzählten Welt auch immer sein eigenes Geschehen wiedergibt. Das Erzählen involviert drittens immer eine dynamische Beziehung zu dem Publikum, zu der Leserschaft. Diese Handlungskategorie ist viel komplexer als oft angenommen wird, da sie simultan für die Selektion, die Lenkung und die Motivation der Rezipienten einsteht – drei Handlungsniveaus, die evidenterweise zusammenhängen, zugleich aber unterschiedliche kommunikative Bezüge voraussetzen. So ist die Leserselektion dafür verantwortlich, dass die akzeptierten Leser immer explizit genug mit den Übergängen, mit den Schwellen, daher auch mit der Exklusivität des Selektionsverfahrens konfrontiert werden, oder dass die negative Selektion auch immer den ursprünglichen Anspruch des Lesen-Wollens verschont. Sprechende Beispiele hierfür sind die narrative Prosa von Nietzsche, die den isolierten Leser davon zu überzeugen versucht,

14

15

Die rhetorische Narratologie wird nach dem Vorbild von Wayne Booths epochalem The Rhetoric of Fiction (1969) und im Sog der Sprechakttheorien von Grice und Searle nunmehr u.a. von Marie-Louise Pratt (1980), Susan Lanser (1981 und 1992), James Phelan (1996) und Michael Kearns (1999) vertreten. Siehe Booth (1969: 71ff.).

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dass sie für ihn und nur für ihn erzählt16, und die Erzählkunst von E.T.A. Hoffmann, die dem Leser subtil, aber unmissverständlich zu erkennen gibt, dass nicht er der anvisierte Adressat sei, dass letztlich immer ein anderer Leser gemeint gewesen sei, was gerade das mystifikatorische, attraktive Potential dieser Erzählkunst und ihres Publikumsbezuges verstärkt.17 Dreh- und Angelpunkt des publikumsorientierten Handelns ist – mit einem Ausdruck von Steven Pinker – die ästhetische Belohnung („aesthetic payoff“), die die Leserschaft zu der Komplizin der Erzählstimme macht.18 Die vierte Kategorie gilt dem fiktionalen Status von Erzähltexten. In seinen Schriften über das literarische Imaginäre hat Wolfgang Iser dargelegt, dass Fiktionalität weder eine Eigenschaft des Textes ist, noch einen Zustand der dargestellten Welt beschreibt, sondern wesentlich aus einer Reihe von Akten des Fingierens hervorgeht.19 Der Handlungscluster von Selektion, Kombination und ‚Selbstentblößung‘ leitet einen Prozess der Irrealisierung in die Wege, der mit den anderen Kategorien des erzähltextlichen Handelns einhergeht, ohne auf diese zurückführbar zu sein. Das fünfte und letzte Handlungsniveau ist mit demjenigen, was in der Stilistik traditionell ‚Markierung‘ genannt wird, verbunden: das Aufbauen einer Normerwartung und das Durchbrechen derselben.20 Wenn wir diese fünf Handlungskategorien zusammenbringen, so kommen wir nicht um die Feststellung herum, dass der erzählende Text ein so reiches und komplexes Handlungsgefüge besitzt, dass die Unterstellung eines hierfür gänzlich oder auch nur teilweise zuständigen Akteurs ein Glaubwürdigkeitsproblem haben muss. In ihrer aufschlussreichen Studie The Narrative Act (1981) beschreibt Susan Lanser den fiktionalen erzählenden Text sprechakttheoretisch als einen „hypothetischen illokutionären Akt“, aber damit trifft sie nur einen, im Grunde genommen relativ peripheren, Aspekt der Handlungen.21 Die Beobachtung, dass in der erzählten Welt ein beträchtlicher Anteil der Handlungen bloß suggeriert, also stricto sensu nicht wiedergegeben wird, macht uns akut auf die Bedeutsamkeit der inferentiellen Bezüge aufmerksam. Zwei miteinander verbundene, aber verschiedene Sachverhalte, so merkt Meir 16 17

18 19 20

21

Vgl. die implizite Poetik des Untertitels Ein Buch für Alle und Keinen (vgl. Nietzsche 1988b). Programmatisch ist dies der Fall in dem berühmten ‚Nachtstück‘ Der Sandmann, in dem Nathanael den für seinen Freund Lothar geschriebenen Brief an dessen Schwester Clara absendet (Hoffmann 1985: 20), und in der späten Erzählung Die Irrungen, wo der Protagonist das Datum einer Zeitungsannonce übersieht und so den Adressatenbezug der Annonce völlig falsch interpretiert (Hoffmann 1992: 461 und 484). Pinker (2007: 265). Siehe u.a. Iser (1983) und Iser (1990). Siehe bereits Riffaterre (1971: 56–57). Vgl. in Bezug auf Metaphorizität: Semino und Steen (2008: 233–234). Lanser (1981: 280).

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Sternberg zu Recht an, implizieren ja zwangsläufig Veränderung und suggerieren daher einen Akt der Veränderung.22 Die inferentielle Arbeit bleibt aber nicht auf diese Handlungskategorie beschränkt; die anderen Handlungskategorien erfordern eine vergleichbare inferentielle Arbeit von Seiten der Leser. Dies verstärkt einerseits die Hypothese, nach der es Formen des Handelns ohne Akteur gibt; andererseits legt es nahe, dass die Grenze zwischen ‚etwas erzählt bekommen‘ und ‚es interpretieren‘ nicht leicht zu ziehen ist. Insbesondere über den Beitrag der Inferentialität zur Plausibilisierung von Kommunikation, deren Erfolg stark von der Beteiligung des Adressaten abhängt – der narrativen Kommunikation –, wird noch zu sprechen sein.

2. Datengesteuertes Erzählen Im ‚Vorspiel‘ seines 1991 zuerst publizierten Werkes Consciousness explained beschreibt der amerikanische philosopher of mind Daniel C. Dennett ein imaginäres Experiment, ein „party game called psychoanalysis“, das er als Vergleich verwendet, um die Entstehung von Halluzinationen zu erklären. Das Spiel verläuft wie folgt: Ein Teilnehmer wird von der Gruppe abgesondert und erfährt, dass eine Person der Gruppe über einen Traum erzählen werde, den sie vor Kurzem geträumt habe. Alle Mitglieder der Gruppe wissen also über den Traum Bescheid und können daher auf die Fragen des abgesonderten Teilnehmers antworten. Der Fragesteller soll durch gezielte Ja/Nein-Fragen die Details des erzählten Traums ermitteln und hieraus ableiten, welche Person den Traum geträumt und weitererzählt hat. Was der Fragesteller nicht weiß, ist, dass in der Gruppe keine Informationen über irgendeinen Traum ausgetauscht wurden und dass die Gruppenmitglieder vereinbart haben, dass die Antworten auf die Ja/Nein-Fragen von einem formalen Merkmal der Frage abgeleitet werden sollen (in casu von dem Endbuchstaben des letzten Wortes der Frage). Dennett macht deutlich, wie sich aus dieser Konstellation, in der keine zentrale narrative Instanz die Erzählhandlung koordiniert, doch allmählich eine Erzählung entfaltet: „Here we see a process of narrative production, of detail accumulation, with no authorial intentions or plans at all“.23 Dennoch ist der Verlauf der Erzählung nicht beliebig: Er wird zwar nicht von einem zentralen, individuellen narrativen Bewusstsein gesteuert, gestaltet sich aber „data-driven“, d.h. von überflüssig vorhandenen Daten gelenkt, die keine inhaltliche Verbindung mit-

22 23

Vgl. den bahnbrechenden Artikel von Sternberg (2001). Dennett (1993: 24).

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einander zu haben brauchen, allerdings in einem Kontext dargereicht werden, in dem die Motivation zur Auf- und Annahme der Daten hoch ist. Die Frage, die sich im Hinblick auf eine rhetorisch angereicherte Erzähltexttheorie stellt, ist, ob es in literarischen Erzähltexten solche ‚datengesteuerten‘ Erzählungen gibt. In Forschungsprojekten, die in den vergangenen Jahren an der Universität Gent ausgeführt wurden, wurde untersucht, was die Funktion von rhetorischer Figürlichkeit, und insbesondere von Metaphern, Metonymien und Synekdochen, in Texten mit einem hohen Reflexions- und Beschreibungsanteil ist. Wie das Lemma im Historischen Wörterbuch der Rhetorik von Eggs darlegt, sind diese Tropen nie das Monopol der Reflexion über das kreative Erzählen gewesen, und das sind sie heute weniger denn je.24 Für die Erforschung solcher figürlicher Prozesse ist Interdisziplinarität keine modische Strategie, sondern zwingende Notwendigkeit. Trotz der intensiven Beschäftigung mit Tropen von zahllosen Literaturwissenschaftlern und -kritikern haben sich in den letzten Jahrzehnten vor allem kognitive Sprachwissenschaftler und Kognitionspsychologen als Leitfiguren der wissenschaftlichen Debatte profiliert.25 Neuerdings hat die vor allem von Gilles Fauconnier und Mark Turner ausgearbeitete blending theory viel Aufmerksamkeit bekommen.26 Die kritische Auseinandersetzung mit der blending theory dreht sich hauptsächlich um die Frage nach dem Effekt der metaphorischen, metonymischen oder synekdochischen Konstruktion auf die informationelle Organisation der artikulierten Konzepte und nach der Gewichtung der offenen Inkongruität („overt incongruity“), die insbesondere für kreative rhetorische Phänomene charakteristisch ist.27 In Bezug auf kreative Figürlichkeit wird allgemein angenommen, dass kontextuelle Markiertheit das ausschlaggebende rhetorische Signal ist.28 Natürlich wird hier eine deutliche Zäsur sichtbar zwischen den Poetiken, in denen der reichliche Gebrauch von Tropen ein wesentliches Konstruktionsprinzip ist und daher erwartungskonform erfolgt, und denjenigen, für 24 25 26 27

28

Vgl. u.a. Eggs (2001: 117–119). Siehe u.a. Lakoff und Turner (1989), Lakoff und Johnson (1999). Fauconnier und Turner (2002). Die wissenschaftliche Theoriebildung in Bezug auf die Metapher hat bekanntlich seit dem Zweiten Weltkrieg exponentiell zugenommen – was Wayne Booth zu der ironischen Prognose verführt hat, dass es im Jahre 2039 mehr Metapherntheoretiker als Menschen geben werde (Booth 1979: 47). In den letzten Jahren hat die Forschung über die Metonymie einen deutlichen Aufschwung erlebt (vgl. exemplarisch: Goossens 1995). Die Synekdoche, insofern sie nicht als eine Subkategorie der Metonymie gesehen wird, bleibt dagegen noch weitgehend untertheoretisiert; einige der wenigen Ausnahmen bildet die „rhétorique générale“ der Lütticher groupe µ, für die ein komplementäres Synekdochenpaar die Basis der Metapher bildet. Zur kritischen Auseinandersetzung mit der „blending theory“: vgl. Biebuyck und Martens (2011). Zur „overt incongruity“: siehe u.a. Punter (2007: 42ff.). Vgl. Semino und Steen (2008: 233–234).

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welche die Manifestation von Figürlichkeit zwar zu der Kernerfahrung des Literarischen gehört, aber immer auf der Enttäuschung von den textuell bedingten Erwartungen beruht. Wir beschränken uns hier auf die zweite Kategorie. Schon Anfang der 1930er Jahre betonte I. A. Richards in Bezug auf diese Kategorie, die Metapher sei eine „Transaktion zwischen Kontexten“; mit den Worten Harald Weinrichs kann man sagen, die Metapher ist nicht ein Wort oder ein Ausdruck, sondern notwendigerweise „ein Stück Text“: sie durchbricht in ihrem Funktionieren die traditionelle Linearität des Leseverlaufs, weil sie über die interagierenden Kontexte ein simultanes Vorwärts- und Rückwärtslesen voraussetzt, auch wenn dieses Vorwärts- und Rückwärtslesen an einem örtlich fixierbaren Punkt im Erzähltext anfängt.29 Die Entfremdungserfahrung, die mit Metonymien und Synekdochen einhergeht, ist zwar wenigstens graduell verschieden von ihrem metaphorischen Pendant, aber auch sie treten als Integratoren von Textpartien auf, die über das strikt Lokale des (eng verstandenen) rhetorischen Ereignisses hinweggehen. Gerade die Metonymien und Synekdochen, mit ihren kleinen, oft verhandelbaren, konzeptuellen Unterschieden, machen klar, dass bei kreativer Figürlichkeit von Mapping (der Projektion von konzeptuellen Merkmalen oder Bezügen) oder von Blending (der emergenten Vermengung von konzeptuellen Inhalten durch „composition”, „completion“ und „elaboration“30) nicht die Rede ist. Die Entfremdung bleibt erhalten, die Wiederholung von Tropen höhlt deren Figürlichkeit nicht aus, sondern verstärkt gerade noch ihren Einfluss auf das textuelle Umfeld. Wesentlich ist, dass die Spannung, die das Pendant der offenen Inkongruität auf der Ebene der Leseerfahrung ist, in der Erzählhandlung gleichzeitig als Zäsur und als synthetisches, integratives Moment erscheint, in dem sich das für die Tropen relevante Wissen konzentriert. Es handelt sich hierbei allerdings nicht um statisches, enzyklopädisches Wissen, sondern um narrativ dynamisiertes Wissen, das aus nichts Anderem als aus dem Erzähltext hervorgeht. Was ihre Figürlichkeit betrifft, bauen narrative Texte also selber die entscheidende Kompetenz auf, die nicht von der Eigentümlichkeit des individuellen Lesers abhängig ist.31 Zugleich ist es eine Zäsur, ein Ort, an dem die Erzählhandlung zum Stillstand kommt, an dem der Erzähltext – mit einem Wortspiel von Bart Philipsen32 – „innehält“: Die Aktivität, mit der die narrative Wirklichkeit aufgebaut wird, wird momentan unterbrochen, nicht in der Form einer gänzlichen epochè, sondern um relevante Textpartien zu sammeln

29 30 31 32

Vgl. Richards (1967: 94) und Weinrich (1972: 271–272). Fauconnier und Turner (2002: 40–44). Vgl. Biebuyck und Martens (2011: 62). Philipsen (1995: 193).

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und zusammenzubringen – die charakteristische recollection der Metapher, der Metonymie und der Synekdoche. Das Sammeln von Textpartien und Informationen signalisiert die Rückkopplung der Tropen auf dasjenige, was ihr Erscheinen überhaupt erst möglich gemacht hat. Es installiert in der Lektüre eine strukturelle Kreisbewegung, die zumindest auf die Verarbeitung der Tropen, wenn nicht auch auf die Verarbeitung des gesamten Diskurses, einen wichtigen Einfluss nimmt. Sie sorgt ja dafür, dass die Isoliertheit, in der die Tropen in erster Linie erscheinen, aufgebrochen wird und dass sich flexible rhetorische Netzwerke gestalten. Lange Zeit ist man davon ausgegangen, dass solche Netzwerke, insoweit sie überhaupt wahrgenommen wurden, mit der Allegorie als „metaphora continuata“ verwandt seien.33 Die genetische oder ‚entelechische‘ Epistemologie dieser Ansicht lässt sich nur schwer belegen, insbesondere weil sie voraussetzt, dass das rhetorische Netzwerk irgendwo seinen Anstoß bekommt, dass es also irgendwo im Erzähltext eine Tür gibt, die den Leser in die Allegorie hineinführt. Es ist zwar nicht ausgeschlossen, dass diese Voraussetzung erfüllt wird – nicht selten manifestieren sich in Erzähltexten Mikronarrative, die sich aus einer Metapher entfalten –, aber das impliziert eine minimale isotopische Homogenität, die sicherlich nicht immer gegeben ist. Denn auch andere rhetorische Koagulationen machen sich sichtbar: Formal verwandte Tropen können aufeinander übergreifen, der Standort spezifischer Tropen innerhalb des Netzwerks kann sich verändern, und Elemente aus der erzählten Welt können Verbindungen nahe legen, die nicht aus dem Lexikon hervorgehen. Deswegen ist das Genter Modell ein Plädoyer dafür, solche Netzwerke als Grundstoffe für alternative bzw. parallele Erzählhandlungen zu sehen. Die aktive Kontextwirkung, die von den einzelnen Tropen ausgeht und zu der Netzwerkbildung Anlass gibt, entwickelt in dieser Hinsicht ein eigenes narratives Potential, wodurch die Lektüre des Erzähltextes mit Hilfe der Tropen sogleich auch eine Relektüre ist. Hervorzuheben ist, dass von den Lesern, von den Empfängern dieselbe inferentielle Arbeit verlangt wird, die sie auch für das Wirken des Erzähltextes leisten sollten, graduelle Unterschiede außer Acht gelassen. Es ist daher erlaubt, zu behaupten, dass die rhetorischen Netzwerke in Erzähltexten eine eigene Parallelgeschichte erzählen, die allerdings von derselben story world handelt wie der Erzähltext selber, aber nicht mit dieser identifiziert werden kann: ein Paranarrativ.34

33 34

Vgl. z.B. Pimentel (1990: 29). Biebuyck und Martens (2011: 65–66). Der Begriff Paranarrativ wurde erstmals von Pimentel (1990) theoretisiert.

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3. Rhetorische Dynamik Die Bedeutung von Paranarrativen liegt in erster Linie darin, dass sie eine zusätzliche rhetorische Dynamik in die Wege leiten. Fünf Formen solcher rhetorischer Dynamik sind hier kurz zu erwähnen. Eine erste Form ist die rhetorische Verhandlung: Die Tropen suchen sich eine Stelle in dem sich formierenden Netzwerk, und je nachdem wie sich das Netzwerk entfaltet, finden Verschiebungen und Verdrängungen (allerdings nicht im psychoanalytischen Sinne) statt. Die Netzwerke weisen immer eine Orientierung, eine Wirkungsrichtung auf. Diese ist weitgehend lokal bedingt und zeitweilig und kann deshalb sehr fluktuieren. Die Orientierung hängt von dominanten Figuren ab (von im Text vorfindlichen master tropes), und im Verlauf des Erzähltextes vollzieht sich unter den Tropen eine implizite Verhandlung über die führenden Positionen. In Kleists Zweikampf vollzieht sich ein solches Duell zwischen zwei rhetorisch vermittelten Zeitkonzeptionen, bei dem Metaphern der Simultaneität gegen die Metonymien der Verspätung den Kampf aufnehmen.35 In Heines zweitem Reisebild schickt das vierzehnte Kapitel eine metonymische Logik (unter dem Nenner ‚mit dem Ertrag einer Erzählung über diese Frau kaufe ich mir ein Pferd‘) gegen eine metaphorische ins Feld (‚Diese Frau ist ein Pferd‘).36 An solchen Stellen wird uns die rhetorische Dynamik auf eine sehr konkrete Weise vor Augen geführt. Die zweite Form sind die rhetorischen Ketten (oder concatenations), die sich im Laufe der Erzählhandlung graduell entfalten. Das Erzählen von dem Willen-zur-Macht in Nietzsches Zarathustra macht gerne von einer auch durch die Assonanz motivierten Wellen- und Meeresmetaphorik Gebrauch.37 Weiter lassen sich regelmäßig konzentrierte rhetorische Kettenbildungen vorfinden, vor allem in Kontexten, wo die erzählende Instanz mit der problematischen Darstellbarkeit von Sachverhalten konfrontiert wird und eine Reihe von Tropen die Unsagbarkeit überwinden soll. Eine dritte Form rhetorischer Dynamik wird mit rhetorischen Symbiosen assoziiert. Bei diesen zeigt sich, dass die Tropen nicht nur miteinander ein Netzwerk gestalten, sondern auch funktional voneinander abhängig sind. Ein schon relativ gut dokumentiertes Phänomen in dieser Hinsicht ist, was J.J.A. Mooij eine „metarison“38 genannt hat, in der Metaphern und Vergleiche nicht wie in der traditionellen Rhetorik miteinander konkurrieren, sondern vielmehr opera-

35 36 37

38

Vgl. zu diesem Thema: Menke und Schmidt (2005). Siehe Martens und Biebuyck (2007). Vgl. Nietzsche (1988b: 417). Siehe auch Aphorismus 310 „Wille und Welle“ aus dem vierten Buch von Die fröhliche Wissenschaft (1988a: 546). Mooij (1976: 136).

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tional ineinandergreifen – wo die Vergleiche also für die Funktionalität der Metaphern (insbesondere der Verbmetaphern) mitverantwortlich sind. In Musils Mann ohne Eigenschaften sind diese rhetorischen Symbiosen zahlreich vorhanden und lassen sich mit der Poetik des Aktienkapitalismus assoziieren, von dem am Ende des ersten Buchs die Rede ist.39 Eine andere, noch weitgehend untertheoretisierte rhetorische Symbiose ist die Kombination von Synekdoche und Personifizierung. Über die vierte Form gibt es noch gar keine theoretische Reflexion, abgesehen von isolierten Bemerkungen bei spezifischen Textvorkommnissen: die rhetorische Transformation. Diese beschreibt, wie lokal deutlich markierte Tropen im Prozess der Relektüre und der recollection eine andere rhetorische Gestalt annehmen. Selbstverständlich vollzieht sich diese Dynamik der rhetorischen Umwertung auch in Fällen, wo nicht-figürliche Textpassagen unter dem Einfluss aussagekräftiger Tropen einen interpretativen Mehrwert, oder gar eine figürliche Bedeutung, bekommen. Das ist nicht anders bei einer Metapher, die sich im Lichte eines sich entwickelnden rhetorischen Netzwerkes als eine Synekdoche manifestiert (ohne dafür den ersten, metaphorischen Hauch völlig abgegeben zu haben). In der berühmten Bonbon-Szene in Grass’ Die Blechtrommel erscheint das Parteizeichen nacheinander als Metapher, Metonymie, Synekdoche und wiederum als Metapher.40 In der Coppola-Szene in E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann sind die „Oke“ in eine analoge Figurenreihe von Metapher, Metonymie und Synekdoche eingebunden.41 Die fünfte und letzte Form ist nur schwer beschreibbar und bildet daher die größte Herausforderung für die zukünftige Rhetorik. Sie beruht auf der von Iser beschriebenen Wechselwirkung von Äußerung und Negation, durch die das Negative nicht bloß ein schwarzes Loch der Unbestimmtheit ist, sondern eine präzise Gestalt annehmen kann – ein narrativer Prozess, der in der feministischen Narratologie als „negative plotting“, als Randmarkierung des Unterlassenen, umschrieben wird.42 Mehrere Narratologen haben die Relevanz eines solchen negativen Erzählens überzeugend dargelegt, insbesondere für die Darstellung, oder besser: die Evozierung von demjenigen, was nicht in der Reichweite der Sprache als Herrschaftssystem liegt – die Zeugnisse der Verschwundenen, der Unterdrückten, der Opfer, aber ebensogut derjenigen, die jenseits der Sprache als Dialogfläche unansprechbar ihre Manipulationen treiben. Nichts weist darauf hin, dass dieser Prozess nicht auf die Ebene der Figürlich39 40 41 42

Vgl. Biebuyck (2005). Siehe: Biebuyck (2009: 331). Biebuyck und Martens (2011: 67–68). Vgl. den Vortrag, den Susan Lanser im März 2011 auf der ENN-Konferenz in Kolding hielt: „‹The Shadow Knows›: Negative Plotting and Feminist Thought“. Der Begriff ‚negative plotting‘ stammt aus der Fachsprache des graphic design.

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keit übertragbar wäre. Insofern Figürlichkeitsnetzwerke nachvollziehbare dynamische Strukturen aufbauen, sollte es möglich sein, aufgrund sorgfältiger Analyse eventuellen Lücken in dem Netzwerk auf die Spur zu kommen, die auf die Emergenz von implizierter oder negativer Figürlichkeit – negativen Metaphern, negativen Metonymien, negativen Synekdochen – hinweisen. Zugegeben, hiermit bewegen wir uns in den Bereich des Spekulativen und rücken die Leistungen der narrativen Inferentialität an ihre Grenzen. Aber die Konzeptualisierung von negativer Figürlichkeit bietet uns einen Rahmen, um die Suggestivität, die fast alle Leser bei der Begegnung mit Erzähltexten erfahren, weiter – auch konzeptuell – zu untersuchen.

4. Unfreiwillige Rhetorik? Wie bereits angegeben, ist die aus dem Netzwerk von Tropen hervorgehende Erzählung – das Paranarrativ – gänzlich data-driven. Es bezieht sich auf dieselbe Textwelt und dieselben in ihr vorkommenden Personen und Gegenstände wie das Epinarrativ, aber noch weniger als dort ist es plausibel, ihm eine personifizierbare Erzählinstanz zu unterstellen. Es durchkreuzt den elementaren Handlungsablauf, radiert diesen aber keineswegs aus, ist ihm weder über- noch untergeordnet und erfüllt nicht in erster Linie eine Kommentarfunktion (ist also nicht metanarrativ). In Erzähltexten, die auf der Ebene der dargestellten Welt eher handlungs- oder ereignisarm sind – beschreibende oder essayistische narrationes –, lässt die Figürlichkeit die oft mit ihr assoziierte dekorative Funktion völlig hinter sich und scheint dabei durch paranarrative Netzwerkbildung den Mangel an narrativer Kapazität auszugleichen. Inzwischen hat die Analyse von handlungsreichen Erzähltexten gezeigt, dass hier kein Gesetz von kommunizierenden Röhren vorliegt. Auch in handlungsreichen Erzähltexten, wie Kleists Das Erdbeben in Chili oder Raabes Keltische Knochen, die keinen Bedarf an weiterer tellability signalisieren, entfaltet sich diese zusätzliche narrative Dimension.43 Warum das so ist, können wir erst annähernd und sicherlich nur partiell erklären. So fällt auf, dass das Paranarrativ in vielen Fällen mit der impliziten Poetik des Erzähltextes in Verbindung steht; daher liegt es nahe, die Funktion des Paranarrativen namentlich auf poetologischer Ebene zu situieren. Aber auch eine rein operationale Erklärung ist nicht ausgeschlossen. Denkbar ist, dass das Paranarrativ, als aus sich selbst hervorgehendes Erzählen, das für Lebewesen fundamentale Prinzip der automatischen und spontanen Selbstreproduktion, von den Systembiologen Maturana und Varela 43

Vgl. Elshout (in print) und Elshout (submitted).

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als autopoiesis definiert und von ihnen bereits auf den Bereich der Sprache übertragen (cf. „linguistische Trophallaxis“ oder „Linguallaxis“), auch in selbständigen, exteriorisierten Kulturprodukten zum Ausdruck bringt.44 Es versteht sich, dass individuelle Paranarrative weitere Ad-hoc-Erklärungen verlangen. Solche mit irgendeiner Form von intentionalem Erzählhandeln zu verbinden, ist nahezu unmöglich; daher lassen sich die am Paranarrativ beteiligten Tropen als unfreiwillige Rhetorik umschreiben.

5. Neue Wege Was die Erzähltexte betrifft, ist hiermit wohl klar geworden, dass, will man das Akteurkonzept aufrechterhalten, es eines sein muss, das all seiner traditionellen Eigenschaften entkleidet ist. Die Erzählhandlung ist nicht mehr von einem bestimmbaren narrativen Standpunkt aus zu determinieren, sie zeigt keine erkennbare Wissens- oder Affektposition auf, die Zuverlässigkeitsfrage – die sowieso sehr labil ist – lässt sich gar nicht mehr beantworten. In seinen Tropen hält der Erzähltext inne und brechen andere Prozesse der Erzählperformanz auf. Wenn man diese dann doch personalisieren will, kann man auf das Konzept des antiken Chors zurückgreifen. Der Chor verlautet nie die privatpersönliche Ausdrucksnot seiner einzelnen Mitglieder; er singt die Chorpartie, manchmal mit funktional alternierenden Vorsängern, Solopartien, konsonanten, dissonanten, auseinanderlaufenden und aufeinander hinbewegenden Akkorden, manchmal auch ohne. Es ist ironisch, dass die wohl älteste Form einer Erzählinstanz am besten geeignet zu sein scheint, als Modell für ein multimodales, mehrfaches Erzählen zu dienen. Wenn sie die Erzählposition als diejenige eines Chors konzeptualisiert, hat die zeitgenössische Narratologie die Möglichkeit, neue Wege zu gehen. Hilft diese Ansicht aber auch der Rhetorik? Die Antwort wird eine nuancierte sein. Vorschläge über produktive Querbezüge zwischen Rhetorik und Narratologie sind nur denkbar, wenn man präzis definierte Konzepte von Figürlichkeit in Augenmerk nimmt, die sich eindeutig von anderen speziellen Formen des Bedeutens, wie Rituale oder Symbole, oder Formen von Polysemie, Ambiguität oder Bedeutungsinnovation, unterscheiden. Rhetorische Figürlichkeit impliziert Duplizität (Zweiheit), Kookkurrenz (Gleichzeitigkeit) und Indirektheit (Suggestivität). Die ‚Bildhälfte‘ des Tropus, das lokal Manifeste, ist nicht nur im Dienste der ‚Sachhälfte‘, des kontextuell Heraufbeschworenen da. Die 44

Maturana und Varela (1980: 81–82); zur „Linguallaxis“: Maturana und Varela (1988: 211– 212).

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beiden sind gleichwertige, gleich relevante, gleichzeitig präsente Pfeiler des rhetorisch zu erzeugenden Sinn- und Wirkungszusammenhangs, die nicht aufeinander zurückzuführen sind, sondern miteinander interagieren. Der Gewinn für die Rhetorik könnte darin liegen, dass ein solcher präziser Gebrauch eben ermöglicht, über die Grenzen des sprachlichen Handelns hinwegzuschauen: Dies ist meines Erachtens eine wichtige Aufgabe für die Rhetorik der Zukunft. Neben verbaler Figürlichkeit kommen so personale und ereignisgebundene Figürlichkeit in Sicht (erzähltextliche Beispiele sind hier die Figur des Spalanzani in Hoffmanns Der Sandmann und das blinde Schweinchenzeichnen in Thomas Manns Zauberberg, aber auch außertextliche Beispiele sind denkbar).45 Auch Handeln selbst kann figuralisiert werden: duplizitäres, kookkurrentes, indirektes Handeln in spezifischen situativen Kontexten. Wenn in die Jahre gekommene Junggebliebene vorzugsweise ein Feuerzeug verwenden, um eine Bierflasche zu öffnen, dann handelt es sich nicht bloß um neuen Wein in alten Schläuchen – althergekommene Methode für die Innovation der Lebenspraxis –, sondern um ein Statement, das ihren Nonkonformismus, ihre Autarkie und ihre unterkühlte Rebellion auf eine ungewöhnliche, aber gerade dadurch dem Dekorum entsprechende Weise zum Ausdruck bringt (vgl. das Zusammenbringen von Feuer und Flüssigkeit). Sicherlich sind noch andere Beispiele für ein solches figürliches Handeln, das nicht mit symbolischem Handeln zu verwechseln ist, denkbar (vgl. Körpertätowierungen von Zitaten). Schließlich ließe sich überprüfen, inwieweit nicht-narrative Texte aufgrund der eingesetzten Figürlichkeit doch eine Narrativität entwickeln – hierbei ist beispielsweise das Funktionieren der vielen Synekdochen in Canettis Masse und Macht zu achten.46 Auch in diesem Bereich ist noch viel Pionierarbeit zu leisten.

6. Literatur Albrecht, Jörn (1979): Friedrich Nietzsche und das „Sprachliche Relativitätsprinzip“. In: Nietzsche-Studien 8, 225–244. Barthes, Roland (1984): La mort de l’auteur. In: ders., Le bruissement de la langue. Essais critiques IV, 61–67. Paris: Seuil.

45 46

Mann (1976: 456–457); Hoffmann (1985: 34–36). Vgl. die personifizierend-synekdochische Sequenz im Kapitel „Rhythmus“: „Die Gleichwertigkeit der Teilnehmer verzweigt sich in die Gleichwertigkeit ihrer Glieder. Was immer an einem Menschen beweglich ist, gewinnt sein Eigenleben, jedes Bein, jeder Arm lebt wie für sich allein. Die einzelnen Glieder werden alle zur Deckung gebracht.“ (Canetti 1995: 34).

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Bernhard Asmuth

Anschaulichkeit Varianten eines Stilprinzips im Spannungsfeld zwischen Rhetorik und Erzähltheorie

1. Fontane über Heines Gedicht „Seegespenst“ Beispiele gelten als anschaulich. Beginnen wir also mit einem Beispiel. Es ist ein literarisches, ein schaurig-schönes. Im 17. der 36 Kapitel seines Romans „Effi Briest“ (1895) erzählt Theodor Fontane von einem herbstlichen Strandausritt seiner Titelheldin mit dem in sie verliebten Offizier Crampas. Beim Blick auf die Ostsee und die dortigen „Bojen, wie die schwimmen und tanzen“1, sowie auf deren eingezogene kleine rote Fahnen fühlt sich Effi an die Turmspitzen der Stadt Vineta erinnert, die der Sage nach in der Ostsee versunken ist. Crampas erzählt ihr daraufhin von dem Gedicht „Seegespenst“ aus Heines Zyklus „Die Nordsee“, das eine Schiffsfahrt des Dichters mit der Halluzination Vinetas zum Thema habe. Angesichts der unhistorischen Lokalisierung – Nordsee statt Ostsee – spricht Heine nicht von Vineta, aber er hat es gemeint, wie jedenfalls Crampas behauptet. Crampas schildert Effi, die das Gedicht nicht kennt, kurz dessen Inhalt: Und er selber […], der Dichter also, während er die Stelle passiert, liegt auf einem Schiffsdeck und sieht hinunter und sieht da schmale, mittelalterliche Straßen und trippelnde Frauen in Kapothüten, und alle haben ein Gesangbuch in Händen und wollen zur Kirche, und alle Glocken läuten. Und als er das hört, da faßt ihn eine Sehnsucht, auch mit in die Kirche zu gehen, wenn auch bloß um der Kapothüte willen, und vor Verlangen schreit er auf und will sich hinunterstürzen. Aber im selben Augenblick packt ihn der Kapitän am Bein und ruft ihm zu: ‚Doktor, sind sie des Teufels?‘

Effi erwidert: „Das ist ja allerliebst. Das möcht’ ich lesen. Ist es lang?“ Darauf Crampas: Nein, es ist eigentlich kurz […]. Aber lang oder kurz, welche Schilderungskraft, welche Anschaulichkeit! Er ist mein Lieblingsdichter, und ich kann ihn auswendig, sowenig ich mir sonst […] aus der Dichterei mache. Bei Heine liegt es aber anders: Alles ist Leben, und vor allem versteht er sich auf die Liebe, die doch die Hauptsache bleibt.2

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Theodor Fontane: Effi Briest. Hrsg. von Helmuth Nürnberger. München: dtv 112011, S. 136. Ebd., S. 137.

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Mit diesem zentralen, etwas vor der Romanmitte angesiedelten Gespräch beginnt das kurzfristige Liebesverhältnis von Effi und Crampas; „und er berührte leise ihre Hand“, heißt es zeitgemäß zurückhaltend vor dem zitierten Satz über „Anschaulichkeit“. Die Entdeckung der Affäre Jahre später führt zum Duell mit Effis Ehemann, dem Landrat Instetten, bei dem Crampas erschossen wird, sowie zu Effis gesellschaftlicher Ächtung und traurigem Ende. Crampas’ – und letztlich Fontanes – Äußerung über Heine ist der schönste und eindrucksvollste Beleg zum Thema Anschaulichkeit, den ich kenne. Friedrich Sengle betont zwar generell, also ohne Bezugnahme auf das „Seegespenst“-Gedicht, „Heines Abstand vom Realismus“3 und damit auch von einer enger verstandenen, auf den Realismus des späten 19. Jh. konzentrierten Anschaulichkeit.4 Sengle meint, dass „Heine ein vorrealistischer Dichter war“5, der „die unproblematische Sinnlichkeit und ‚Anschaulichkeit‘ der großen Realisten in keiner Weise“ erreicht.6 Man könnte aber genauso gut umgekehrt urteilen, dass der auf „Erzielung komischer und grotesker Effekte“ bedachte „geistreiche Konversationsstil“, den Sengle Heine zuerkennt7, die realistische Anschaulichkeit oder jedenfalls deren Wirkungskraft steigert. Fontane, selbst Vertreter des Realismus, aber zugleich einer der „Erzähler, die sich der realistischen Programmatik nur bedingt beugten“8, scheut sich jedenfalls nicht, auch und gerade Heine Anschaulichkeit zu bescheinigen, ohne darin wie Sengle einen Widerspruch zu dessen Konversationston zu erblicken.

2. Ausgangsbeobachtung und wortgeschichtliche Quellen Anschaulichkeit ist heute eines der meistgebrauchten Wörter, um stilistische Attraktivität zu kennzeichnen. Das zugrunde liegende Adjektiv gab es schon mittelhochdeutsch als anschouwelich, damals mit der Bedeutung ‚in religiöse Betrachtung versunken‘.9 Wenn Georg Rollenhagen in seinem Versepos „Froschmeuseler“ 1595 den von den Fröschen zum König erkorenen „stolzen

3 4

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Friedrich Sengle: Biedermeierzeit. Bd. 3, Stuttgart 1980, S. 547. Vgl. Sengle: Biedermeierzeit. Bd. 1. Stuttgart 1971, S. 285 und 622; Bd. 2. Stuttgart 1972, S. 957. Sengle: Biedermeierzeit. Bd. 3, S. 551. Ebd., S. 546. Ebd., S. 547. Sengle: Biedermeierzeit. Bd. 1, S. 622. Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Erarbeitet unter der Leitung von Wolfgang Pfeifer. Berlin 21993, S. 1185.

Anschaulichkeit

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Mann“ als „Anschaulich, prechtig und großmüthig“ beschreibt10, entspricht anschaulich wohl unserem ansehnlich, stattlich, lateinisch spectabilis. Danach geriet es anscheinend in Vergessenheit, ist mir jedenfalls aus dem 17. und der ersten Hälfte des 18. Jh. nicht bekannt. In der frühen Neuzeit bis hin zu Gottsched bevorzugte man das Nachbarwort augenscheinlich, das zum Beispiel in Lohensteins Arminius-Roman (1689/90) mehrfach vorkommt. Anschaulich taucht offenbar erst in den 1760er Jahren wieder auf, nunmehr mit seinem heutigen Bedeutungsprofil. Das Substantiv Anschaulichkeit kam durch den jungen Herder seit der Frühphase des Sturm und Drang in Umlauf und absolvierte seither eine steile Karriere. Augenscheinlichkeit, von Grimms Wörterbuch für Winckelmann († 1768) und Kant nachgewiesen, ist anscheinend noch etwas älter. Mittlerweile gilt Anschaulichkeit als eines der wichtigsten Stilprinzipien, als ein moderner, bescheidenerer Ersatz für den im 18. Jh. ins Gerede gekommenen Ornatus der klassischen und barocken Rhetorik. Kein Wunder, dass sich auch Forschungsarbeiten, vor allem seit dem Rhetoric Turn um 1970, an diesem Begriff und seinem rhetorischen Hintergrund entzündet haben. Verwiesen sei besonders auf das 1989 erschienene Buch „Anschaulichkeit“ von Gottfried Willems und auf Andreas Solbachs 1994 erschienenen Titel „Evidentia und Erzähltheorie. Die Rhetorik anschaulichen Erzählens in der Frühmoderne und ihre antiken Quellen“. Erwähnung verdienen auch die Ergebnisse eines Colloquiums von 2007 in dem von zwei Altphilologen herausgegebenen Sammelband „Anschaulichkeit in Kunst und Literatur“.11 Die vorliegenden Arbeiten behandeln rhetorische Vorprägungen oder andere historische Assoziationen, die sich mit dem heutigen Verständnis von Anschaulichkeit verbinden. Was bisher fehlt, ist eine Aufarbeitung der Geschichte des Wortes selbst, speziell seiner Bedeutungsvarianten und deren wechselnder Vorherrschaft. Ausgangspunkt meiner Untersuchung war die Beobachtung, dass Anschaulichkeit nicht nur bei Fontane, sondern in der weit überwiegenden Zahl aller Fälle als positiver Wertbegriff vorkommt, gelegentlich aber auch kritisiert worden ist. Am deutlichsten und bekanntesten geschah Letzteres durch Adorno, der der klassizistischen Ästhetik postum die von ihm so genannte „Norm der Anschaulichkeit“ als „Dogma“ anlastete.12 Ich selber habe Anschaulichkeit anfangs als begrifflich unscharf getadelt13, später hingegen als neues Stil-

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Georg Rollenhagen: Froschmeuseler II, 5, 1; zitiert in Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 1, Sp. 436. Gyburg Radke-Uhlmann, Arbogast Schmitt (Hrsg.): Anschaulichkeit in Kunst und Literatur. Wege bildlicher Visualisierung in der europäischen Geschichte. Berlin/Boston 2011. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Frankfurt/M. 1973, S. 145 f. Bernhard Asmuth, Luise Berg-Ehlers: Stilistik. Düsseldorf 1974, S. 111–113.

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prinzip im Gefolge der Sinnlichkeitsästhetik des 18. Jh. anerkannt.14 Will man nicht die eine oder andere Bewertung von vornherein für falsch halten, bleibt nur die Möglichkeit, die Unterschiede auf verschiedene Seiten des Begriffs zurückzuführen. Im Folgenden unterscheide ich acht gut belegbare Bedeutungsvarianten und füge am Ende eine erzählspezifische, bisher kaum belegte als Nr. 9 hinzu. Die ersten vier Varianten stehen als Hauptbedeutungen im Vordergrund, die restlichen sind seltener bzw. weniger geläufig. Mein Beitrag ist als Ergänzung zum Historischen Wörterbuch der Rhetorik verstehbar, in dem Anschaulichkeit als Lemma fehlt. Der Begriff erscheint dort nur beiläufig in Artikeln wie „Bild, Bildlichkeit“, „Evidentia“, „Perspicuitas“, „Schönheit, das Schöne“ und „Ut pictura poesis“. Wichtigste Quelle der Wortgeschichte ist nach dem Erstbenutzer Herder Adelungs zweibändiges Werk „Ueber den Deutschen Styl“ von 1785, das Anschaulichkeit, dort mehr als hundert Mal erwähnt, zum stilistischen Fachbegriff macht und mit Stilmitteln wie der Metapher in Verbindung bringt. Adelung propagiert Anschaulichkeit, die er mit Lebhaftigkeit gleichsetzt15, allerdings anders als seine Nachfolger noch nicht generell und nicht als oberste Stilqualität, sondern mit einer bemerkenswerten Einschränkung. Diese besagt, dass Anschaulichkeit den unteren, d. h. nichtrationalen Geisteskräften im Sinne der Philosophie des 18. Jh. zuzuordnen sei, dass sie in erster Linie bzw. als „höchste Lebhaftigkeit und Anschaulichkeit“16 für die Poesie in Frage komme und dass sie für die oberen Kräfte und somit für verstandesbetonte Texte im Grunde unwesentlich sei. Adelung begrüßt zwar, dass „[i]n der neuesten Zeit“ auch der den oberen Kräften verpflichtete didaktische Stil mehr Lebhaftigkeit bzw. Anschaulichkeit gewonnen habe, und verweist diesbezüglich auf Moses Mendelssohn, Lessing und andere.17 Grundsätzlich findet er hier aber eine „merkliche Einmischung der untern Kräfte im Ganzen unerlaubt“.18 In der „Prose“ generell, womit er nichtfiktionale Texte meint, noch mehr als im Lehrstil im sogenannten Geschäftsstil, habe „es der Schriftsteller immer zunächst mit den obern Kräften zu thun, und die untern sind ihm nur Mittel“.19 Im Lehrstil erlaubt Adelung zwar die Lebhaftigkeit, „um die Wahrheit dem Verstande 14

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Bernhard Asmuth: Stilprinzipien, alte und neue. In: Eva Neuland, Helga Bleckwenn (Hrsg.): Stil – Stilistik – Stilisierung. Frankfurt/M. 1991, S. 23–38, hier 31–33. Vgl. Johann Christoph Adelung: Ueber den Deutschen Styl. Bd. 2. Berlin 1785, S. 252 und 273. Ebd., S. 66; ähnliche S. 7. Dort bescheinigt Adelung dem poetischen Stil die „höchste Anschaulichkeit“ von allen Stilarten. Ebd., S. 115. Ebd., S. 111. Ebd., S. 117.

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vermittelst der untern Kräfte anschaulicher und eindringender zu machen“; er findet sie aber „[a]m schicklichsten“ unter- bzw. nachgeordnet, nämlich „nach geschehener Ueberzeugung“ platziert.20 Auch in den Ästhetiken des 19. Jahrhunderts, speziell bei Jean Paul, Hegel und Vischer, kommt das Wort Anschaulichkeit jeweils öfters vor, eng benachbart und manchmal synonym mit dem vorher dominierenden Begriff Sinnlichkeit und teilidentisch mit dem um 1800 aufkommenden Begriff Bildlichkeit. Hier, wo es um Dichtkunst, nicht mehr auch um nichtfiktionale Prosa geht, entfallen Adelungs Einschränkungen, entfällt auch seine Ausgangsunterscheidung oberer und unterer Geisteskräfte. Eine Neuausrichtung erfährt Anschaulichkeit durch Schopenhauers Aufsatz „Über Schriftstellerei und Stil“ (erschienen 1851 in „Parerga und Paralipomena“) sowie in dessen Gefolge in den Stilbüchern von Eduard Engel (1911 und öfter) und Ludwig Reiners (1943/44), die ebenso wie diesbezügliche Äußerungen neuerer Sprachwissenschaftler (Sowinski, Sanders) weniger auf Dichtung als auf alltagssprachliches, praktischen Zwecken dienendes Schreiben ausgerichtet sind. Zu einer nochmaligen, nun wieder mehr dichtungs- bzw. kunstbetonten Umdeutung kommt es dann in der angesprochenen literaturwissenschaftlichen Forschung nach 1970.

3. Bedeutungsvarianten 3.1. Variante 1: Anschaulichkeit als Mittel der Belehrung Als erste, im Zeitalter der Aufklärung prägende und bis heute allgemeinsprachlich führende Variante, also als semantischer Kern, verdient das didaktische Verständnis von Anschaulichkeit Erwähnung, speziell die ihr zugeschriebene Fähigkeit, Abstraktes, jüngeren und ungelehrten Leuten schwer Zumutbares konkret und damit verständlich zu machen, vor allem durch Beispiele. Hier dient „Anschaulichkeit als ein Moment der Begreiflichkeit“.21 Herder, der das Substantiv Anschaulichkeit einführte, benutzt es bei seinen sechs mir bekannten Erwähnungen22 ohne definitorische Festlegung als eher vagen, durchweg positiven Wirkungsbegriff. Sieht man davon ab, dass er die „bekannte“, „le-

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Ebd., S. 112. Friedrich Albert Lange: Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart. Norderstedt 2008 (basierend auf der 9. Aufl. Leipzig 1915), S. 150, Anm. 210. Johann Gottfried Herder: Sämmtliche Werke, hrsg. von Bernhard Suphan. 33 Bde. Berlin 1877–1913. Bd. 2: S. 191; Bd. 3: S. 261, 318, 332; Bd. 7: S. 538; Bd. 18: S. 87.

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bendige“, „schöne“ Anschaulichkeit – so seine Attribute – als vorbildliche Eigenschaft einiger antiker Dichter behandelt – er nennt Homer, Äsop und Horaz –, klingt allerdings auch bei ihm am ehesten die didaktische Dimension an. Das geschieht an zwei Stellen. In einer theologischen Schrift von 1775 bespricht er die „Geschichte vom Hader Michaels [des Erzengels] und des Teufels“23 aus dem kurzen Judasbrief gegen Ende des Neuen Testaments24 und meint: Blos also schon als Fabel, als Sage thut die Geschichte Würkung: sie wäre die schönste Dichtung mit Anschaulichkeit der Lehre, Bestandheit der Charaktere und bestimmter Glaubwürdigkeit auf diesen Fall.25

Diese Stelle galt eine Zeitlang als frühester Beleg.26 Inzwischen wissen wir, dass Herder das Wort Anschaulichkeit schon einige Jahre zuvor zu Beginn der Sturm-und-Drang-Periode, also noch vor seiner Straßburger Bekanntschaft mit Goethe, verwendet hat. Es findet sich erstmals in seinen Fragmenten „Ueber die neuere Deutsche Litteratur“, und zwar in den Stücken der umgearbeiteten zweiten Sammlung von 1767/68.27 Dieser Erstbeleg erscheint innerhalb einer 12 Seiten umfassenden Besprechung von Lessings Fabeln und seinen „Abhandlungen über die Fabel“ (1759) unter der Überschrift „Aesop und Leßing“. Herder vergleicht hier Lessings Fabelkonzept mit dem von Äsop. Während dieser für ihn „der schönste der Fabulisten“ ist28, hat er an Lessing einiges auszusetzen. Da er selber „die Fabel für einen Quell, für ein Miniaturstück der großen Dichtkunst“ hält29, sie also eher der Poesie als der Philosophie zuordnet, sich jedenfalls aus seiner „Poetik[...] die Aesopische Fabel ungern rauben“ lässt30, sieht er sich veranlasst, „gegen die Schwächen der Philosophirenden Theorie Leßings zu warnen“.31 Seine Kernaussage lautet: „Aesopus machte seine Fabeln bei wirklichen Vorfällen“.32

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Herder: Briefe zweener Brüder Jesu in unserm Kanon. In: Werke. Bd. 7, S. 538. Judasbrief, Vers 9. Zu diesem Brief vgl. etwa Alfred Wikenhauser: Einleitung in das Neue Testament. Freiburg 1953, S. 349–353. Herder: Briefe zweener Brüder, S. 538. Friedrich Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 18. Aufl. bearb. von Walther Mitzka. Berlin 1960, S. 24. Herder: Werke. Bd. 2, S. 191. – „Herder 1767/68“ als frühesten Beleg ohne genauere Angabe nennt auch Willy Sanders: Das neue Stilwörterbuch. Stilistische Grundbegriffe für die Praxis. Darmstadt 2007, S. 40. Herder: Werke, Bd. 2, S. 194. Ebd., S. 197. Ebd., S. 198. Ebd., S. 198. Ebd., S. 197.

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Hier lebt die Fabel Aesopus[’]: aus dieser Welt aber herausgerißen, unter einen allgemeinen Moralischen Satz gezwungen [wie bei Lessing], verliert sie eine Menge von Sujets, das beste Licht des Anschauens, Schönheit und Wahrheit.33

„Das Anschauliche, Populäre der Fabel geht hiemit verloren, der Leser gewinnt indes eine feinere Belehrung.“34 Herder billigt Lessing Zeitgemäßheit zu, bekräftigt aber im übrigen seine Vorliebe für Äsop. Hierbei nun kommt es zum Erstbeleg von Anschaulichkeit: Mag unser Aesop [= Lessing] also für unsre Zeit so unterhaltend, so munter, so voll leichter Bemerkungen, und angenehmer Einfälle seyn; als der Phrygier [= Äsop] für die seinige voll mürrischer alternder Lebensklugheit war; er also vielleicht nicht so für uns; unserer noch weniger für jene: jeder ein Lehrer seiner Zeit; wer aber von mehrerer innerer Würde? von reicherem Fabelinhalt? von mehr mächtiger Anschaulichkeit für Menschen? von stolzerem Wesen der Fabel?35

Die Antwort „Äsop“ auf diese rhetorische Frage lässt Herder offen. Später bekäftigt er: „Aesops Fabelhandlung ist Eine, Einfältig, Anschaulich, Intereßant, Menschlich.“36 Charakteristisch für die didaktische Ausrichtung von Anschaulichkeit ist der häufige Begriff anschaulich machen oder veranschaulichen bzw. dessen Substantiv Veranschaulichung, die vornehmlich auf die Konkretion von Abstraktem zielen. Das Verb veranschaulichen „fehlt noch in den wörterbüchern des 18. jahrh.“37 Gebräuchlich war vor seinem Aufkommen versinnlichen. Bei Goethe erscheinen für „anschaulich von etwa 220 Belegen fast die Hälfte i[n] d[er] W[ie]d[er]g[abe] ‚a.[nschaulich] machen‘; mehrfach auch a.[nschaulich] werden‘.“38 Goethes laut Wörterbuch einziger Gebrauch des Substantivs Anschaulichkeit dokumentiert ebenfalls die Verknüpfung von Konkretem und Abstraktem. „Blos durch strenge Angeschlossenheit des Begrifs am Bilde, wodurch unmittelbare A.[nschaulichkeit] erlangt wird… habe Er, Goethe, sich die Jugendlichkeit des Styls bewahrt“, äußerte er in einem Gespräch mit Kanzler Müller am 19. 4. 1819.39 Interessant ist auch eine Äußerung über sein Verhältnis zu Herder. Am 29. 2. 1809 bemerkte er zu Johannes Falk, 33 34

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Ebd., S. 191. Ebd., S. 191. In Herders Nachfolge spricht auch Gottfried August Bürger (Gedichte. Ausgabe 1789. Vorrede, S.15) vom „Geist der Popularität, das ist, der Anschaulichkeit“. Herder ebd., S. 191. Er wiederholt seine Argumente anlässlich von Lessings Tod 1781 in moderaterer Form, also unter stärkerer Würdigung von Lessings herausragender kritischer Leistung. Vgl. dazu Herder: Galerie großer und weiser Männer. Gotthold Ephraim Lessing. In: Sämmtliche Werke. Zur Philosophie und Geschichte. Dreyzehnter Theil. Tübingen 1814, S. 120 ff., hier 124. Herder: Werke. Ausgabe von Suphan. Bd. 2, S. 195. Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 25, Sp. 78. Goethe-Wörterbuch, Bd. 1, Sp. 660. Artikel „anschaulich“. Ebd., Sp. 661. Artikel „Anschaulichkeit“.

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daß ich mich zu sinnlichen Betrachtungen der Natur geneigter fühlte als Herder, der immer schnell am Ziele sein wollte und die Idee ergriff, wo ich kaum noch einigermaßen mit der Anschauung zustande war, wiewol wir gerade durch diese wechselseitige Aufregung uns gegenseitig förderten.40

Goethe, ob der Anschaulichkeit seiner Werke vielfach gelobt, war zu Lebzeiten auch als anschaulicher Gesprächspartner geschätzt.41 Zeitgenossen Herders und Goethes haben sich ebenfalls über Anschaulichkeit geäußert. J. M. R. Lenz spricht 1774 im Anfangsteil seiner „Anmerkungen übers Theater“ zweimal von Erkenntnis, die „anschaulich geworden ist“ bzw. anschaulich sei. Für ihn ist „das immerwährende Bestreben, all unsere gesammleten Begriffe wieder auseinanderzuwickeln und durchzuschauen, sie anschaulich und gegenwärtig zu machen“, neben dem von Aristoteles als Bedingung von Kunst angesprochenen menschlichen Nachahmungsbedürfnis eine „zweite Quelle der Poesie“.42 Wieland erwähnt in seinen „Göttergesprächen“ „das dunkle Gefühl einer höchsten Ursache aller Dinge“, das die „ältesten Gesetzgeber“ „mit einem anschaulichen Gegenstande zu verbinden“ suchten, „und dies gab, in den Zeiten, wo die bildenden Künste sich zu einer gewissen Höhe empor gearbeitet hatten, den menschlichen Götterbildern das Dasein.“43 Schiller schreibt, Lessing habe das Erzählen über Laokoon in Vergils „Aeneis“ benutzt, um „die Grenzen der poetischen und malerischen Darstellung an diesem Beispiel anschaulich zu machen“.44 In seiner Rezension über Matthissons Gedichte lobt Schiller 1794 an deren landschaftlichen Schilderungen „ihre Wahrheit und Anschaulichkeit“.45 Der Preußenkönig Friedrich der Große hat in seiner 1780 veröffentlichten Schrift „De la littérature allemande“ weniger die Kunst als den Alltag im Visier: „Klarheit ist die erste Regel für alle, die reden und schreiben, weil es darum geht, seine Gedanken zu veranschaulichen, seine Ideen in Worte zu fassen.“46 Adelung behält das Substantiv Anschaulichkeit vor allem literarischen Stilmitteln wie der Metapher vor, spricht in bezug

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Johannes Falk: Goethe aus näherm persönlichen Umgange dargestellt. Leipzig 31856, S. 32. Vgl. Goethes Gespräche. Hrsg. von Woldemar Freiherr von Biedermann. 10 Bde. Leipzig 1889–1896. Bd. 10, S. 58–64 (15. August 1809: Abend bei Griesbachs). Jakob Michael Reinhold Lenz: Anmerkungen übers Theater (1774). In: Erich Loewenthal (Hrsg.): Sturm und Drang. Kritische Schriften. Heidelberg 31972, S. 722. Wieland: Göttergespräche (zuerst 1791). Kap. 6, 3. Ausgabe München: Winkler 1965, S. 633– 635. Schiller: Über das Pathetische. Sämtliche Werke. Bd. 5. München 31962, S. 512–536, hier 523. Schiller: Über Matthissons Gedichte. Sämtliche Werke. Bd. 5. München 31962, S. 992–1012, hier 1001. Friedrich der Große: De la littérature allemande. Französisch-deutsch. Kritische Ausgabe von Christoph Gutknecht und Peter Kerner. Hamburg 1969, S. 86 f.

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auf die „Individualisirung allgemeiner Begriffe“ aber auch kurz davon, dass man diese „anschaulich machen“ solle.47 Die Hochkonjunktur der Wörter anschaulich und Anschaulichkeit seit der Sturm-und-Drang-Zeit um 1770 hat einen philosophischen Hintergrund. Übergeordnetes Denkschema ist die im Hinblick auf Adelung schon angedeutete, durch Leibniz und Christian Wolff im frühen 18. Jh. verbreitete, bis zum Ende des Jahrhunderts gültige Lehre von zwei Geisteskräften oder Erkenntnisvermögen, wie man diese anfangs nannte, eines begrifflich-theoretischen, sogenannten oberen und eines unteren, auf Sinneswahrnehmungen beruhenden. Letzteres nannte Leibniz cognitio intuitiva, was Wolff als „anschauende Erkenntnis“ verdeutschte.48 Er meint, dass „Exempel [also Beispiele] uns zu einer anschauenden Erkäntniß, die Vernunfft aber nur zu einer figürlichen bringet ([…]): die anschauende Erkäntniß aber bey vielen einen grösseren Eindruck machet“.49

Kant betont die wechselseitige Abhängigkeit beider Erkenntniswege mit dem berühmten Satz: „Gedanken ohne Inhalt [d. h. Begriffe ohne Anschauung] sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.“50 Auf dem Begriff der anschauenden Erkenntnis beruht Lessings Definition der äsopischen Tierfabel als einer Geschichte, in welcher man einen moralischen „allgemeinen Satz anschauend erkennet“.51 Gottsched hatte diesen Sachverhalt noch etwas anders ausgedrückt. Er meinte, dass in jeder Fabel im Sinne poetischer Handlung, also nicht nur in der äsopischen, ein moralischer „Lehrsatz sehr augenscheinlich in die Sinne fällt“.52 Das bis etwa 1770 führende Wort anschauend geriet durch die Wertschätzung des neuen Begriffs Anschaulichkeit und seiner adjektivischen Basis anschaulich allmählich in den Hintergrund. Lessing und Herder benutzen anschauend und anschaulich nebeneinander, halten sie anscheinend nicht für gleichbedeutend. Anschauend betont ebenso wie erkennen bzw. Erkenntnis das aktive Tun eines wahrnehmenden Subjekts, anschaulich dagegen ist ursprünglich eine Objektqualität im passiven Sinne von optischer Wahrnehmbarkeit (Anschaubarkeit) oder zumindest Vorstellbarkeit. Noch Grimms Wörterbuch 47 48

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Johann Christoph Adelung: Ueber den Deutschen Styl. Bd. 1. Berlin 31789, S. 347. Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen. Frankfurt und Leipzig 51733, S. 173 f. (= § 316). Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken Von der Menschen Thun und Lassen. Frankfurt und Leipzig 51736, S. 100. Kant: Kritik der reinen Vernunft. Kap. 22. Lessing: Abhandlungen [über die Fabel]. I. Von dem Wesen der Fabel. In: Werke. Hrsg. von Herbert G. Göpfert. Bd. 5, Darmstadt 1973, S. 385. Johann Christoph Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst. Leipzig 41751. Nachdruck Darmstadt 1962, S. 161.

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spricht den Unterschied kurz an, kritisiert anschaulich als „ungenau“53; „anschauend drückt aus intuens, contemplans und nicht anschaulich, anschaubar, der anschauende mensch ist verschieden von dem anschaubaren.“54 Gegen Ende des 18. Jahrhunderts verwischt sich allerdings der Unterschied, wird anschauende Erkenntnis zunehmend durch anschauliche Erkenntnis ersetzt. Adelung in seinem Wörterbuch jedenfalls setzt beide gleich: „Die anschauliche Erkenntniß, wie anschauende.“55 Die „anschauliche Erkenntniß“ findet sich später auch bei Schopenhauer56, der allerdings andernorts auch noch von anschauender Erkenntnis spricht. Im wirklichen Leben fungiert Anschaulichkeit, wenn auch nicht von vornherein als solche bezeichnet, seit Comenius, Basedow und Pestalozzi vor allem als pädagogisches Prinzip. Grimms Wörterbuch kennt den Ausdruck „anschaulicher unterricht“ „seit Basedow“.57 Für Pestalozzi ist Anschauung „das absolute Fundament aller Erkenntnis“.58 Ihm geht es allerdings nicht darum, zum Beispiel Bäume und Kräuter aller Art durch Hinausgehen in den Wald und auf die Wiese ohne weitere Sorgfalt kenntlich zu machen, sondern „das Wesen einer jeden Gattung [dieser Pflanzen] anschaulich zu machen und durch den ersten Eindruck des Gegenstandes zur allgemeinen Kenntnis des Faches vorzubereiten“.59 Die von Hans Richert initiierten Preußischen Richtlinien von 1925 für den Deutschunterricht an Gymnasien ordnen Anschaulichkeit besonders der beginnenden Pubertät zu. Sie gliedern die Gymnasialzeit in die „Stufe des naiven Erlebens“ (Klassen 5–6), die „Stufe des anschaulichen Verständnisses“ (Klassen 7–10) und die „Stufe der gedanklichen Durchdringung“ (Klassen 11–13)60, was sich bis heute in der schulischen Aufsatzerziehung auswirkt.

3.2. Variante 2: Anschaulichkeit als Gegenpol von Abstraktheit Die Bedeutungsvariante 2 ähnelt der ersten. In beiden Fällen geht es um die vertikale Beziehung von Oben und Unten, von Abstraktem und Konkretem, 53 54 55

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Grimm, Bd. 1, Sp. 436 (Art. ). Grimm, Bd. 1, Sp. 435 f. Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart. Leipzig 1793–1801. Bd. 1, Sp. 354. Vgl. z. B. Schopenhauer: Ueber Schriftstellerei und Stil. In: Sämtliche Werke. Hrsg. von Arthur Hübscher. Bd. 6. Wiesbaden 21947, S. 584 (§ 289). Grimm, Bd. 1, Sp. 436. Johann Heinrich Pestalozzi: Wie Gertrud ihre Kinder lehrt. Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. 31 Bde. Berlin und Zürich 1927–1976. Bd. 13 (1932), S. 309. Ebd., S. 324. Vgl. Horst Joachim Frank: Geschichte des Deutschunterrichts. Von den Anfängen bis 1945. München 1973. S. 655.

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nun allerdings nicht mehr in Form einer Kooperation, nämlich der Verdeutlichung des Abstrakten durch ein anschauliches Konkretum, sondern im Sinne eines kontradiktorischen Gegensatzes der beiden Bereiche, die nun einander ausschließen. Anschaulicher Stil steht hier in Opposition zum begrifflichabstrakten oder, wie man in einem Wörterbuch von 1907 lesen kann: „diskursiv […] heißt begrifflich. Es bildet den Gegensatz zu intuitiv, welches anschaulich heißt.“61 Für diese Bedeutungsvariante ist hauptsächlich Schopenhauer verantwortlich. Dieser kennt zwar auch die didaktische Ausrichtung von Anschaulichkeit, wenn er schreibt: Im Zusammenhang einer Dichtung kann mancher Begriff, oder abstrakte Gedanke, unentbehrlich seyn, der gleichwohl an sich und unmittelbar gar keiner Anschaulichkeit fähig ist: dieser wird dann oft durch irgend ein unter ihn zu subsumiren[d]es Beispiel zur Anschaulichkeit gebracht.62

Charakteristischer ist für ihn aber der polarisierende Wortgebrauch. In dieser Weise benutzt er das Wort Anschaulichkeit schon in seiner Dissertation von 181363 und mehrfach in seinem Buch „Die Welt als Wille und Vorstellung“ (Erstdruck 1818/19), damals allerdings nicht im Sinne einer Stil-, sondern einer Wahrnehmungs- bzw. Erkenntnisqualität. In seinem Aufsatz „Über Schriftstellerei und Stil“ (erschienen 1851 im zweiten Band der „Parerga und Paralipomena“) rückt er den Begriff dann in einen stilistischen Zusammenhang. Er kritisiert hier andere philosophische Schriftsteller seiner Zeit, namentlich Fichte und Hegel: Zur Charakteristik derselben gehört nun auch Dies, daß sie, wo möglich, alle entschiedenen Ausdrücke vermeiden, um nöthigenfalls immer noch den Kopf aus der Schlinge ziehn zu können: daher wählen sie in allen Fällen den abstrakteren Ausdruck; Leute von Geist hingegen den konkreteren; weil dieser die Sache der Anschaulichkeit näher bringt, welche die Quelle aller Evidenz ist.64

Evidenz meint hier wohl nicht die rhetorische Hypotyposis, von der später die Rede sein wird, sondern spontan einleuchtende, unbezweifelbare Offensichtlichkeit. Eduard Engel, langjähriger Berliner Parlamentsstenograph und Verfasser einer vielgelesenen „Deutschen Stilkunst“ (zuerst 1911, zuletzt in 31. Auflage 61

Friedrich Kirchner, Carl Michaelis: Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe. Leipzig 1907, S. 150 f. Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung. Bd. 1. Sämtliche Werke. Hrsg. von Arthur Hübscher. Bd. 2. Wiesbaden 21949, S. 283 f. Arthur Schopenhauer: Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde, § 26. Sämtliche Werke. Bd. 1. Wiesbaden 21948, S. 98 f. Arthur Schopenhauer: Parerga und Paralipomena, Bd. 2. Sämtliche Werke, Bd. 6. Wiesbaden 2 1947, S. 552. 5

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1931)65, zitiert diese Äußerung Schopenhauers als Motto für seinen zehnseitigen Abschnitt „Der sichtbare und der unsichtbare Stil“.66 Er meint allerdings: Schopenhauer hätte […] noch besser getan, statt Anschaulichkeit zu schreiben: den Sinnen, obwohl auch dies ein Denkwort ist. Wo sich ein Schriftsteller selbst nicht ganz klar über die Dinge und Menschen geworden, die er darstellt, da ungt, heitet und keitet er.67

Engel selber unterscheidet „abstrakten Stil“, den er wie Schopenhauer ablehnt, und „anschauliche[n] Stil“.68 In seiner Nachfolge tadelt auch Ludwig Reiners in seiner titelgleichen „Deutschen Stilkunst“ von 1943/4469, die seit der Nachkriegsauflage von 1949 als „Stilkunst“ auf das nationale Attribut verzichtet, „abstrakten Stil“ und empfiehlt stattdessen „[a]nschaulich schreiben“ bzw. „die Kunst der anschaulichen Darstellung“.70 Das Substantiv „Anschaulichkeit“ meidet er in dem diesbezüglichen Kapitel, offenbar dem Verdikt Engels gehorchend, eine versteckte Respektsbezeugung gegenüber dem im Dritten Reich verfemten, 1938 hochbetagt und verarmt gestorbenen Juden, von dem Reiners im übrigen nicht nur den Titel entlehnt hat. Sein Kapitel trägt stattdessen die Überschrift „Anschauung“. Erst gegen Ende von Reiners’ Buch taucht das Wort Anschaulichkeit dann doch auf.71 Auch die aktuellen Nachfolger halten an dieser Bevorzugung des Anschaulichen fest. „Schreibe anschaulich, lebendig, konkret“, empfiehlt z. B. Wolf Schneider.72 Auch die „Deutsch-Stilkunde in 20 Lektionen“, die der hochbetagt immer noch rührige Schneider im Mai 2012 als Beilage der Wochenzeitung „Die Zeit“ herausgab, preist die „Anschaulichkeit der Wörter“73: Konkret schreiben, das Detail benennen, mit Sinneseindrücken versehen, Farben zum Leuchten bringen: Das ist für alle, die Leser interessieren möchten, das oberste Stilgebot.74

Willy Sanders zitiert Schneiders erstgenannten Satz („Schreibe anschaulich ...“) in seinem Stilwörterbuch von 2007 als „Regelform“, äußert zu dieser „Bevorzugung des Besonderen gegenüber dem Allgemeinen“ aus Sicht der neu65 66 67 68 69 70

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Eduard Engel: Deutsche Stilkunst. Leipzig 301922, S. 135. Ebd., S. 135–145. Ebd., S. 138. Ebd., S. 142 und 144. Das Buch mit Copyright von 1943 erschien offenbar 1944. Ludwig Reiners: Stilkunst. Ein Lehrbuch deutscher Prosa. Sonderausgabe München 1961 [11943], S. 297, 310 und 314. Reiners ebd., S. 762. Wolf Schneider: Deutsch für Kenner. München 1996, S. 41. Wolf Schneider: Wie Sie besser schreiben. Eine Deutsch-Stilkunde in 20 Lektionen. Beilage zu „Die Zeit“ vom 10. 5. 2012, S. 30. Schneider ebd., S. 11.

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eren Stilwissenschaft allerdings Bedenken.75 In Sachtexten billigt Sanders auch dem Abstrakten ein Existenzrecht zu. „Der Gebrauch abstrakter oder konkreter Ausdrucksformen regelt sich folglich als Textsortenfrage“, heißt es bei ihm.76 Adelung sah das, wie berichtet, im Grunde schon ähnlich.

3.3. Variante 3: Anschaulichkeit durch Metaphern und Vergleiche Bedeutungsvariante Nr. 3 betrifft die bekanntesten aller Stilmittel, nämlich Metapher und Vergleich, weiter gefasst auch andere Tropen neben der Metapher, also die Figuren des übertragenen Ausdrucks überhaupt. Dass Metaphern und Vergleiche als anschaulich, teilweise sogar als Inbegriff von Anschaulichkeit gelten, ist durch den seit der Antike verbreiteten, seinerseits metaphorischen Ausdruck „Vor Augen Stellen“ vorbereitet.77 Aristoteles behandelt in seiner Rhetorik das Vor-Augen-Stellen in unmittelbarem Zusammenhang mit der Metapher, allerdings ohne beide gleichzusetzen.78 Die älteste lateinische, um 84 v. Chr. entstandene Rhetorik eines Anonymus, wegen ihres Adressaten Rhetorica ad Herennium genannt, bis zum 15. Jh. Cicero zugeschrieben und deshalb im Mittelalter Hauptquelle der Rhetorik, fasst den Zusammenhang enger. Ihr zufolge brauchen wir die Metapher, lat. translatio, „um einen Sachverhalt klar vor Augen zu stellen“ (Ea utimur rei ante oculos ponendae causa).79 Dasselbe Ziel formuliert der Anonymus für den Vergleich (lat. similitudo).80 Für Cicero ist der Gesichtssinn der schärfste aller Sinne (sensus acerrimus). Deshalb findet er: Metaphern, die an den Gesichtssinn appellieren, sind viel lebendiger [multo acriora]; sie stellen uns im Geiste fast vor Augen [paene ponunt in conspectu animi], was wir nicht sehen und betrachten können.81

Quintilian meint, die Metapher müsse mehr leisten als das, was sie ersetze, und fährt fort:

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Sanders: Das neue Stilwörterbuch. S. 40 f. (Artikel „Anschaulichkeit“). Er bezieht sich auf eine Veröffentlichung Schneiders von 1987, ohne deren Titel zu nennen. Sanders ebd., S. 20–22 (Artikel „Abstraktum“). Vgl. Rüdiger Campe: Vor Augen Stellen. Über den Rahmen rhetorischer Bildgebung. In: Gerhard Neumann (Hrsg.): Poststrukturalismus. Herausforderung an die Literaturwissenschaft. Stuttgart/Weimar 1997, S. 208–225. Aristoteles: Rhetorik III, 11, 1–5. Auctor ad Herennium IV, 45. Deutsch nach der Übersetzung von Theodor Nüßlein (1994, 2 1998). Ebd. IV, 60. Cicero: De oratore III, 160 f.; deutsch von Harald Merklin, 21981.

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die Metapher ist größtenteils dazu erfunden, auf das Gefühl zu wirken und die Dinge deutlich zu bezeichnen und vor Augen zu stellen [signandis rebus ac sub oculos subieciendis reperta est].82

Die Synekdoche dagegen, die neuerdings auch als Mittel bildhaft-anschaulichen Schreibens beansprucht wird83, vermöge hauptsächlich „Abwechslung in die Rede zu bringen“.84 Im Zuge der Sinnlichkeitsästhetik des 18. Jh. wird die sinnliche Wirkung des Vor-Augen-Stellens auf den Empfänger verstärkt betont. Lamy bemerkte schon 1675 – die deutsche Übersetzung erfolgte 1753 –, man müsse die Metaphern von sinnlichen Sachen [de choses sensibles] nehmen, die sich ofte unsern Augen vorgestellet haben, und von denen sich folglich das Bild von selbst zu erkennen gibt, ohne daß man es sucht.85

Laut Gottsched „müssen die Metaphoren, so viel möglich, alles sinnlicher machen, als es im eigentlichen Ausdrucke seyn würde“.86 Breitinger, für den „die Metapher unter allen symbolischen Figuren die edelste und vornehmste ist“, ordnet sie seinem Konzept der Dichtung als poetischer Malerei ein: Sie ist alleine eine mahlerische Figur, weil sie die Sachen nicht bloß zu verstehen giebt, sondern unter ähnlichen emblematischen Bildern gantz sichtbar vor Augen stellet.“87

Angesichts dieser Vorprägung ist es kein Wunder, dass Anschaulichkeit als Stilbegriff auch und zunächst vor allem auf die Metapher bzw. überhaupt auf die Tropen Anwendung fand. Adelungs Wortgebrauch jedenfalls hat dort seinen – fast schon inflationären – Schwerpunkt. Für ihn liegt „das Wesen der Tropen in der anschaulichen Idee“, und er verdeutlicht: Die Tropen wirken wie Gleichnisse [d. h. Vergleiche], nur mit einem höhern Grade der Lebhaftigkeit. 1. Durch die Anschaulichkeit; denn soll der Trope die Absicht, warum man ihn gebraucht, erfüllen, so muß er einen höhern Grad der Anschaulichkeit haben, als der Begriff, an dessen Stelle er steht.88

Ähnlich später, deutlicher:

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Quintilian: Inst. or. VIII, 6, 19; deutsch von Helmut Rahn (1972/75). Wolf Schneider: Deutsch! Das Handbuch für attraktive Texte. Reinbek 42011, S. 253–257. Quintilian: Inst. or. VIII, 6, 19. Bernard Lamy: De l’art de parler (21676). Kunst zu reden. Hrsg. von Ernstpeter Ruhe. München 1980, S. 103. Die deutsche Übersetzung stammt von Johann Christian Messerschmidt. Gottsched: Critische Dichtkunst, S. 268. Johann Jacob Breitinger: Critische Dichtkunst. Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1740. Mit einem Nachwort von Wolfgang Bender. Stuttgart 1966. Bd. 2, S. 320. Adelung: Ueber den Deutschen Styl. Bd. 1. Berlin 1785, S. 383; ähnlich zur Metapher schon Quintilian: Inst. or. VIII, 6, 18; zum Vergleich ebd. VIII, 3, 73.

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Der Trope muß nicht allein Anschaulichkeit haben, sondern auch und mehr und eine angenehmere Anschaulichkeit, als der Begriff, an dessen Stelle er stehet.89

Adelung macht sich auch sprachgeschichtlich Gedanken über den „Unterschied der Wörter in Ansehung ihrer Anschaulichkeit“.90 Der so überschriebene Abschnitt kommt zu dem Ergebnis, daß die Wörter einer Sprache in Rücksicht auf ihre Anschaulichkeit von sehr verschiedener Art sind. Einige sind gewisser Maßen unveränderlich, weil sie ihren ersten anschaulichen Begriff zu allen Zeiten wieder erwecken, und von dieser Art sind gewisse Onomatopöien […], z. B. knallen, krachen, rieseln, säuseln, schmettern. […] Andere […] haben die erste anschauliche Bedeutung völlig verlohren, und leben nur noch in übergetragenen Bedeutungen aller Art.91

Adelung findet „die aus den Künsten und Wissenschaften entlehnten Tropen selten brauchbar, weil sie nicht schöne Anschaulichkeit genug haben, sondern kalt, und nicht selten unedel sind“.92 Den Dichtern empfiehlt er, dass sie ihre Bilder mehr aus der Fülle ihres eigenen Genies nehmen möchten, als sich mit diesen längst abgetragenen Gewändern zu behelfen, welche weder den gehörigen Grad der Anschaulichkeit, noch des Interesse und der Würde mehr haben können, durch welche Tropen allein gefallen müssen.93

Die Ausdehnung des Vor-Augen-Stellens bzw. seiner Folgebegriffe Sinnlichkeit und Anschaulichkeit von Metapher und Vergleich auf die Tropen überhaupt, in der Antike und bis ins frühe 18. Jh. meines Wissens nicht nachweisbar, hat sich im Anschluss an Adelung bis heute fortgesetzt. Karl Ferdinand Becker schreibt in seinem Buch „Der deutsche Stil“ „sinnliche Anschaulichkeit“ zwar vor allem der Metapher zu94, weniger den anderen Tropen. Aber Friedrich Theodor Vischer etwa begreift zusammenfassend „Tropen und Figuren als Formen der Anschaulichkeit“.95 Für Willy Sanders sind „Tropen wie Periphrase, Metonymie, Synekdoche, Personifikation usw., alles Stilmittel der Anschaulichkeit“.96 Wolf Schneider empfiehlt: „Den Teil fürs Ganze sprechen lassen“, d. h. die Synekdoche in Form des Pars-pro-toto. „Bildhaftes, herzhaftes Deutsch entsteht oft gerade durch dieses Stilmittel“.97 89 90 91 92 93 94

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Adelung ebd., S. 413. Ebd., S. 387. Ebd., S. 388. Ebd., S. 414. Ebd., S. 441. Karl Ferdinand Becker: Der deutsche Stil. Frankfurt/M. 1848, S. IX f., 24 f., 43 f., 105 f., 109 f. Friedrich Theodor Vischer: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen. Teil III, 2, 5: Die Dichtkunst. Stuttgart 1857, § 851, S. 1220. Sanders: Das neue Stilwörterbuch. S. 122. (Artikel „Metapher“). Wolf Schneider: Deutsch! Ein Handbuch für attraktive Texte. Reinbek bei Hamburg 42011, S. 253.

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Adelung, für die Zusammenschau von Tropen und Anschaulichkeit hauptverantwortlich, ist für die ungefähr gleichzeitige Einführung der bedeutungsverwandten Wörter bildlich und Bildlichkeit zumindest mitverantwortlich, speziell auch für die „Ernennung der Metapher zum Bild“98, als das seit der Antike stilistisch nur der Vergleich (lat. imago) gegolten hatte.99 Sein Stilbuch enthält ein Kapitel „Von dem bildlichen Style“.100 Das ist für ihn der „figürliche“ und besonders „der tropische“ Stil.101 Jean Paul in seiner „Vorschule der Ästhetik“, in der er sich mehrfach auf Adelung bezieht, stellt der eigentlichen Sinnlichkeit der Menschendarstellung und poetischen Landschaftsmalerei, die er – für uns heute eher verwirrend – „unbildlich“ nennt, die „bildliche Sinnlichkeit“ der Metaphern gegenüber102, spricht in beiden Fällen statt von Sinnlichkeit synonym auch von „Anschaulichkeit“103, an anderen Stellen von „sinnlicher Anschaulichkeit“.104 Er gebraucht das Wort „Anschaulichkeit“ in seiner „Vorschule“ auch sonst öfters.105 Hegel unterscheidet in seiner „Ästhetik“ eigentliche Bilder bzw. „Verbildlichung“ und uneigentliche der „Metaphern, Bilder, Gleichnisse“.106 Auch er spricht mehrfach von Anschaulichkeit bzw. Veranschaulichung.107 Es gibt aber auch Vorbehalte gegen die Inanspruchnahme der Metapher als anschaulich. Darin wirken die seit der Antike bekannten Bedenken gegen übermäßig viele oder zu weit hergeholte, gesucht wirkende Metaphern nach.108 Friedrich Sengle, der in seinem Werk über „Biedermeierzeit“ viel von Anschaulichkeit im Sinne des seit etwa 1850 wirksamen „realistischen Stilpro-

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Bernhard Asmuth: Seit wann gilt die Metapher als Bild. In: Gert Ueding (Hrsg.): Rhetorik zwischen den Wissenschaften. Tübingen 1991, S. 299–319, hier 305; ebenso ders.: Art. . In: Gert Ueding (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 2. Tübingen 1994, Sp. 10–21, hier 18. Vgl. Bernhard Asmuth: Art. . In: Gert Ueding (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 4. Tübingen 1998, Sp. 228–235. Adelung: Ueber den Deutschen Styl. Bd. 2. Berlin 1785, S. 116 ff. Ebd., S. 117; In seinem Wörterbuch erwähnt er diese Bedeutung von bildlich noch nicht. Jean Paul: Vorschule der Ästhetik (21813). Hrsg. und kommentiert von Norbert Miller. München 1963, S. 278–294 (= §§ 77–81); ähnlich Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik. Teil 3: Die Poesie. Hrsg. von Rüdiger Bubner. Stuttgart 1971, S. 63. Vgl. auch Bernhard Sowinski: Deutsche Stilistik. Frankfurt/M. 1973, S. 302; vgl. ebd., S. 301–315. Jean Paul: Vorschule, S. 278. Ebd., S. 110 f., 123, 296. Ebd., S. 110–112, 122 f., 206, 278, 293, 296, 310. Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik. Teil 3: Die Poesie. S. 63. Ebd., S. 63, 65, 68, 103. Anders 109: „Im Dramatischen […] die sinnliche Anschaubarkeit des Gebärdenspiels“. Vgl. Bernhard Asmuth: Der Beitrag der klassischen Rhetorik zum Thema Verständlichkeit. In: Rhetorik 28 (2009), S. 1–20, hier 11–13.

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gramms“ spricht109, bemerkt etwa: „Während die realistische Erzählprosa die Bildlichkeit gerne in den Dienst der Anschaulichkeit stellt, lässt sich am Beispiel der Biedermeierdichtung leicht nachweisen, dass die Konzentration des Ausdrucks der ursprünglichere Zweck der Metapher ist.“110 Sengle spricht von „einer gewissen ‚realistischen‘ Einschränkung und Zähmung der Bildlichkeit“ bei Mörike. Dieser „bemüht sich fast immer um sehr konkrete ‚anschauliche‘ Bildlichkeit“, doch gelte, daß schon die Steigerung der Bildlichkeit als solche dem Prinzip optischer Anschaulichkeit widerspricht; denn […] eine kühne Metaphorik bleibt vielschichtig, vieldimensional und führt so zur Verunklärung der einen optischen Perspektive.111

Eduard Engel deklariert Metaphorik, jedenfalls übersteigerte, als „falsche Anschaulichkeit“.112 Bernhard Sowinski unterscheidet wie ansatzweise schon Hegel von den unmittelbaren sprachlichen Bildern, den „anschaulich-sinnfälligen Darstellungen eines Gegenstandes oder einer Erscheinung“113, die mittelbare, offenbar weniger oder überhaupt nicht anschauliche Bildlichkeit der Tropen. Er redet hinsichtlich letzterer auch von „indirekter Bildlichkeit“.114 Die Berliner Altphilologin Gyburg Radke-Uhlmann spricht im Hinblick auf altgriechische Dichtung und speziell auf Aristoteles’ Konzept der Metapher (und Enérgeia) von einer „vergessenen Form der Anschaulichkeit“115, von „einer zweiten Form der Anschaulichkeit neben der sinnlich-unmittelbaren“ mit ihrer „szenischen Atmosphäre“.116

3.4. Variante 4: Anschaulichkeit als Hypotyposis/evidentia Als Herzstück der Anschaulichkeit gilt heute jedenfalls nicht mehr die Metapher, sondern die von Sowinski als unmittelbar bezeichnete Bildlichkeit oder besser Bildhaftigkeit. Im letzten Drittel des 20. Jh. hat sich die Definition von 109 110 111 112

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Sengle: Biedermeierzeit. Bd. 1, S. 622. Ähnlich ebd., S. 285; Bd. 2, S. 957; Bd. 3, S. 546. Sengle, Bd. 1, S. 517. Sengle, Bd. 3, S. 748 f. Engel: Deutsche Stilkunst, S. 141. In anderer Weise spricht Friedrich Paulsen (Aus meinem Leben, Jena 1910, S. 152) über „die, ich würde jetzt sagen, falsche Anschaulichkeit der Benekeschen Psychologie, die übrigens […] die falsche Anschaulichkeit der gegenwärtigen physiologischen Konstruktion des Vorstellungslebens aus Besetzung und Nichtbesetzung von Hirnzellen vorausnimmt“. Bernhard Sowinski: Deutsche Stilistik. Frankfurt/M. 1973, S. 303. Er zitiert hier Elise Riesel: Stilistik der deutschen Sprache. Moskau 21963, S. 130. Sowinski ebd., S. 304; vgl. ebd., S. 301–315. Gyburg Radke-Uhlmann: Über eine vergessene Form der Anschaulichkeit in der griechischen Dichtung. In: Antike und Abendland 55 (2009), S. 1–22. Ebd., S. 15.

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Anschaulichkeit ganz auf diese Bedeutungsvariante verengt oder zumindest konzentriert, das heißt auf das, was die Griechen Hypotýposis oder Diatýposis oder Enárgeia nannten. Die Römer reden von evidentia, illustratio, repraesentatio oder, auch hier das Vor-Augen-Stellen betonend, von demonstratio ante oculos oder sub oculos subiectio. Diese laut Quintilian „höchste […] Redeleistung“ (summa virtus)117, die das Imaginations- bzw. Phantasiedenken neuzeitlicher Ästhetik begründen half, ist im Deutschen ähnlich vielfältig bezeichnet worden: zunächst, nämlich 1675 bei Kaspar Stieler118 bis hin zu Kant119, als „Darstellung“. Hallbauer spricht 1725 von „Abbildung“.120 Seit Gottscheds „Critischer Dichtkunst“ von 1730121 bis ins späte 19. Jh. bei Richard Volkmann122 heißt dieses Stilmittel „Schilderung“. Die deutsche Lamy-Übersetzung von 1753 durch Johann Christian Messerschmidt gibt „hypotyposes“ als „Abschilderungen“ wieder.123 Am treffendsten ist wohl das in diesem Zusammenhang öfters auftauchende Wort „Vergegenwärtigung“124, eine nahezu wörtliche Übersetzung von repraesentatio.125 Laut Brinkmann galt „unmittelbar anschauliche Vergegenwärtigung“ in der Rhetorik der römischen Kaiserzeit als Zweck der Ekphrasis, d. h. der Beschreibung.126 Vergegenwärtigen war eines von Goethes „lieblingswörtern“.127

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Quintilian: Inst. or. VIII, 3, 71. Stieler: Dichtkunst des Spaten, Verse 3883–3888. Vgl. auch Stieler: Der teutschen Sprache Stammbaum und Fortwachs oder teutscher Sprachschatz. Nürnberg 1691, Sp. 2147; zit. Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 2, Sp. 792. Vgl. auch Klopstocks Aufsatz „Von der Darstellung“. Näheres hierzu bei Rüdiger Campe: Vor Augen Stellen. Über den Rahmen rhetorischer Bildgebung. In: Gerhard Neumann (Hrsg.): Poststrukturalismus. Herausforderung an die Literaturwissenschaft. Stuttgart/Weimar 1997, S. 208–225, hier 210 f. Friedrich Andreas Hallbauer: Anweisung Zur Verbesserten Teutschen Oratorie. Jena 1725. Nachdruck Kronberg/Ts. 1974, S. 482. Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst, S. 327 f. Anders Gottsched: Handlexicon (1760; Nachdruck 1970) 519 f.; zitiert von Ansgar Kemmann: Evidentia, Evidenz, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 3 (1996), Sp. 45 f. mit Anm. 44. Richard Volkmann: Die Rhetorik der Griechen und Römer in systematischer Übersicht. Stuttgart 21885. Nachdruck 1987, S. 163. Bernard Lamy: De l’art de parler (21676). Kunst zu reden (1753). Hrsg. von Ernstpeter Ruhe. München 1980, S. 122. Asmuth/ Berg-Ehlers: Stilistik, S. 108–111. Vgl auch Kemmann: Evidentia, Sp. 44. Grimm, Deutsches Wörterbuch. Bd. 25, Sp. 394: „so entspricht vergegenwärtigen repraesentare“. Hennig Brinkmann: Zu Wesen und Form mittelalterlicher Dichtung. Halle/Saale 1928. Nachdruck Darmstadt 1979, S. 66. Ihm folgt Leonid Arbusow: Colores rhetorici. 2. Aufl. hrsg. von Helmut Peter. Göttingen 1963, S. 26 und 28. Grimm: Deutsches Wörterbuch. Bd. 25, Sp. 394.

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Von diesen Verdeutschungen ist Schilderung die wirksamste. Gottsched verstand diese wie vor ihm der Franzose Lamy die „hypotypose“128 als rhetorische Gedankenfigur und als lebhafte Variante der Beschreibung. Ähnlich differenzierend hatten vorher Scaliger129 und Vossius130 die Diatyposis, von den Griechen auch ἀκρίβεια (akríbeia) genannt, als genauere (accuratior) Variante der Hypotyposis definiert. Im frühen 19. Jh., so 1801 bei Pölitz131, wurde aus der Schilderung eine Schulaufsatzform, also eine Textart. Im weiteren Verlauf unterschied man diese als subjektiv von der nun als objektiv verstandenen Beschreibung.132 Bis etwa 1970 im Deutschunterricht vor allem der gymnasialen Mittelstufe und hier besonders für Mädchen sehr geschätzt, gilt die Schilderung seitdem angesichts ihrer gefühlvollen Subjektivität als pseudopoetisch und didaktisch fragwürdig.133 Andererseits versteht noch Lausberg evidentia rhetorisch als „die lebhaft-detaillierte Schilderung eines rahmenmäßigen Gesamtgegenstandes ([…]) durch Aufzählung ([…]) sinnenfälliger Einzelheiten“.134 Zu den genannten Verdeutschungen der Hypotyposis bzw. evidentia gesellt sich seit etwa 1970 als bis heute einflussreichste also Anschaulichkeit. Vor Adelung gab es zwischen Hypotyposis und Anschaulichkeit keine Verbindung. Er selber übernimmt für Hypotyposis in seinem Stilbuch Gottscheds Übersetzung Schilderung.135 In Bezug auf die vergleichbare „Darstellung eines abwesenden Dinges als gegenwärtig“ durch das historische Präsens spricht er beiläufig davon, dass „das Bewusstsein der Vergangenheit das Interesse und die Anschaulichkeit vermindert“.136 Zur Definition von Hypotyposis kommt 128

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In der zweiten Auflage von 1676, zusammen mit einer deutschen Übersetzung von 1753 1980 nachgedruckt, bespricht Lamy nur die „hypotypose“. Die „description“ fügte er später hinzu. Iulius Caesar Scaliger: Poetices libri septem. Sieben Bücher über die Dichtkunst. Band II (= Buch 3, Kapitel 1–94). Hrsg., übersetzt, eingeleitet und erläutert von Luc Deitz. Stuttgart-Bad Cannstatt 1994, S. 383–387 (= Kap. 32). Deitz übersetzt das der Hypotyposis zugeschriebene Attribut tenuior (= schwächer, geringer) als „weniger lebhaft“. Gerhard Johannes Vossius: Commentariorum rhetoricorum, sive oratoriarum institutionum libri sex. Leiden 1630. Nachdruck Kronberg Ts. 1974. Teil 2, S. 377. Karl Heinrich Ludwig Pölitz: Versuch einer Theorie des Deutschen Styls für den Unterricht an Akademien und Gymnasien. 4 Teile in 5 Bden. Görlitz 1800–1802. Bd. 4. Teil 2, S. 259 f.; zitiert bei Otto Ludwig: Der Schulaufsatz. Berlin/ New York 1988, S. 174. Vgl. etwa Franz Linnig: Der deutsche Aufsatz in Lehre und Beispiel für die mittleren und oberen Klassen höherer Lehranstalten. 13. Auflage, besorgt von Franz Hester. Paderborn 1920 [11871], S. 22. Vgl. Bernhard Asmuth: Schilderung. Zur literarischen und schulischen Geschichte eines malerisch-affektiven Textbegriffs. In: Wolfgang Haubrichs (Hrsg.): Erzählforschung 3 (= Beiheft 8 zu LiLi). Göttingen 1978, S. 307–336. Heinrich Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik. München 21973, § 810, S. 399. Johann Christoph Adelung: Ueber den Deutschen Styl. Bd. 1. Berlin 31789, S. 342. Ebd., S. 432.

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Anschaulichkeit bei ihm dagegen nicht vor. Bei seiner Besprechung der „Vision“, laut Quintilian ein anderes Synonym für Hypotyposis137, fehlen die Wörter anschaulich und Anschaulichkeit gänzlich.138 Ansonsten gehen die Begriffe evidentia und Anschaulichkeit vor 1970 nur lockere, nicht nachhaltige Verbindungen ein. Herders Conversations-Lexikon von 1854–57 immerhin notiert: „Enargie, griech.-deutsch, Anschaulichkeit“.139 Georges’ Lateinisch-deutsches Handwörterbuch erklärt „rhet.[orische] Evidenz“ als „die Veranschaulichung einer Person od. Sache, sodass man sie lebhaft vor Augen zu sehen glaubt“.140 Lausberg in seinen „Elementen der literarischen Rhetorik“ (zuerst 1949) und im „Handbuch der literarischen Rhetorik“ (zuerst 1960) benutzt bei der Besprechung der evidentia die Wörter anschaulich und Anschaulichkeit aber noch nicht. Evidenz „bedeutet das Prinzip der Anschaulichkeit“ dann laut Plett 1971. Er fügt es den vier theophrastischen Stilprinzipien Angemessenheit, Sprachrichtigkeit, Klarheit und Schmuck als fünftes hinzu.141 Helmut Rahn in seiner zweisprachigen Quintilian-Ausgabe von 1972–75 übersetzt evidentia bzw. ἐνάργεια (enárgeia) konsequent als „Anschaulichkeit“142, ebenso Oschmann im Metzler Literatur Lexikon.143 Für Gottfried Willems ist „Anschaulichkeit, als enargeia, evidentia, sub oculis subiectio (Cicero) seit der Antike fester Bestandteil der Poetik und bei den idealistischen Ästhetikern und ihren Nachfolgern geradezu eine zentrale Bestimmung von Dichtung“.144 Auch Solbach verknüpft Evidenz, Anschaulichkeit und Dichtung, z. B. im Hinblick auf Harsdörffer. Bei diesem „erweist sich die poetische Anschaulichkeit als Resultat der evidentia als Grundlage der Dichtkunst und wesentlichstes Unterscheidungsmerkmal in der Abgrenzung zur Historie.“145 Problematisch ist die Übersetzung von Evidenz/evidentia als „Augenscheinlichkeit“ im „Grundriß der Rhetorik“ von Ueding und Steinbrink146 sowie in der vorangehenden, unter Uedings Namen erschienenen „Einführung in die 137 138 139 140

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Quintilian: Inst. or. VI, 2, 29. Vgl. Adelung: Ueber den Deutschen Styl. Bd. 1. 31789, S. 438 ff. Herders Conversations-Lexikon. 5 Bde. Freiburg 1854–1857. Bd. 2, S. 555. Karl Ernst Georges und Heinrich Georges: Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch. Bd. 1. Hannover 101959 [Nachdruck von 81913], Sp. 2490. Heinrich F. Plett: einführung in die rhetorische textanalyse. Hamburg 1971, S. 27. Quint. IV, 2, 64; VI, 2, 32; VIII, 3, 61; IX, 2, 40. Dirk Oschmann: Artikel „Anschaulichkeit“, in: Dieter Burdorf, Christoph Fasbender, Burkhard Moennighoff (Hrsg.): Metzler Lexikon Literatur. Stuttgart/Weimar 32007, S. 28. Gottfried Willems: Anschaulichkeit. Zur Theorie und Geschichte der Wort-Bild-Beziehungen und des literarischen Darstellungsstils. Tübingen 1989, S. 5. Andreas Solbach: Evidentia und Erzähltheorie. Die Rhetorik anschaulichen Erzählens in der Frühmoderne und ihre antiken Quellen. München 1994, S. 83. Vgl. ebd. 81. Gert Ueding, Bernd Steinbrink: Grundriß der Rhetorik. Stuttgart 1986, S. 293.

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Rhetorik“ von 1976, für deren diesbezüglichen Teil Günther Hentschel, Bernd Steinbrück und Gert Ueding als Verfasser genannt sind.147 Dieser Sprachgebrauch entspricht zwar der Gleichsetzung beider Bezeichnungen in den deutschen Wörterbüchern von Adelung148, Campe149 und Grimm150 sowie in dem Lateinisch-deutschen Handwörterbuch von Georges.151 Diese Lexika haben allerdings, wie die Zusatzerklärungen zumindest von Adelung, Campe und Georges zeigen, nicht die rhetorische Evidenz im Visier, sondern die logikbzw. erkenntnisbezogene im Sinne von unmittelbarer Einsichtigkeit und beweiskräftiger Offensichtlichkeit, die inzwischen auch das Deutsche Rechtswörterbuch (für augenscheinlich) als Hauptbedeutung ausweist.152 Als in späteren Auflagen von Georges’ Handwörterbuch auch die rhetorische Bedeutung von evidentia in den Blick rückte, wurde die Übersetzung „Augenscheinlichkeit“ der Erstauflage von 1837153 bezeichnenderweise aufgegeben und durch „Veranschaulichung“ ersetzt154, wurde auch die Übersetzung der synonymen illustratio entsprechend umformuliert. Zunächst als „die Schilderung, lebendige Darstellung einer Person od. Sache“155 definiert, ist illustratio in den letzten Auflagen „ἐνάργεια [enárgeia], die Anschaulichkeit, anschauliche Darstellung“.156 Uedings Einführung hat Augenscheinlichkeit reaktiviert und zugleich umgedeutet, indem sie das bisher der logischen Evidenz vorbehaltene Wort für die rhetorische evidentia in Anspruch nahm. Dieser Auffassung folgt der Artikel „Evidentia“ in dem von Ueding herausgegebenen Rhetorik-Wörterbuch. Er bezieht allerdings auch Philosophie und Rechtswesen als Verwendungsbereiche ein, ergänzt „Augenscheinlichkeit“ um „Anschaulichkeit“157 und problematisiert die rhetorische Verwendung: „eine Augenscheinlichkeit wird

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Gert Ueding: Einführung in die Rhetorik. Stuttgart 1976, S. 260. Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart. Leipzig 21793–1801. Bd. 1, Sp. 565. Joachim Heinrich Campe: Wörterbuch der Deutschen Sprache. Bd. 1. Braunschweig 1807, S. 284. Grimm: Deutsches Wörterbuch. Bd. 1, Sp. 811 (Artikel ). Karl Ernst Georges: Lateinisch-Deutsches Handwörterbuch. Bd. 1 (A-J). Leipzig 1837, Sp. 1196. Zum Augenschein (inspectio ocularis) als juristischem Beweisverfahren vgl. Johann Heinrich Zedler: Universal-Lexicon. Bd. 14. Leipzig und Halle 1739, Sp. 746–759. Georges 1837, Sp. 1196. Georges: Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch. Bd. 1. Hannover 101959, Sp. 2490. Georges 1837, Sp. 1552. Georges 1959, Bd. 2, Sp. 55. Kemmann: Evidentia. Sp. 33.

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fingiert, wo Augenschein real gerade fehlt“.158 Krapinger übersetzt des Aristoteles Vor-Augen-Führen als „Augenscheinlichkeit“.159 Die besprochenen Varianten 3 und 4 sind im Kern bei Jean Paul vorgeprägt. Bei seiner oben erwähnten Unterscheidung von bildlicher, also metaphorischer, und evidentiaartig unbildlicher „Sinnlichkeit“ spricht er in beiden Fällen, wie schon gesagt, synonym auch von „Anschaulichkeit“. Für die bildliche Sinnlichkeit bzw. Anschaulichkeit nennt er den Stil Schleiermachers als Beispiel, für die „unbildliche“ den von Moritz August Thümmel.160

3.5. Variante 5: Anschaulichkeit als Lebhaftigkeit (enérgeia) bzw. Lebendigkeit Die Variante 5 hängt mit den beiden vorherigen eng zusammen, verdient aber eine eigene Betrachtung. Ausgangspunkt ist des Aristoteles Aussage über Metaphern Homers. Er bescheinigt ihnen belebende Qualität, spricht in diesem Zusammenhang auch von Bewegung und von ἐνέργεια, enérgeia, „Wirksamkeit“, wie Sieveke, „Tätigkeit“, wie Krapinger übersetzt.161 Quintilian streift diese „Antriebskraft“ (so sein Übersetzer Rahn), „deren eigentümlicher Vorzug darin liegt, daß das, was gesagt wird, nicht müßig wirke“162, in lockerem Zusammenhang mit evidentia und anderen Stilqualitäten, also ohne Beschränkung auf die Metapher. Im übrigen wurde „die energetische Variante des VorAugen-Stellens in römisch-antiker Zeit von der enargetischen weitgehend überlagert“ und gewann erst „im 16. Jh., nach der Neuausgabe der aristotelischen Rhetorik [Venedig 1608/09], wieder an Bedeutung“.163 Seitdem wird die Energeia als Teilaspekt der Hypotyposis/evidentia diskutiert und vor allem als Lebhaftigkeit verstanden. Begünstigt wurde dies durch die renaissancetypische, z. B. in Celtis’ Ars versificandi et carminum (1486) spürbare Zusammenschau von Dichtung und

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Ebd., Sp. 39. Aristoteles: Rhetorik. Übersetzt und hrsg. von Gernot Krapinger. Stuttgart 1999. Buch III, 11. Vorher (III, 10) hat er auch „Anschaulichkeit“. Jean Paul: Vorschule der Ästhetik, S. 278 (= § 76 Ende). Aristoteles: Rhetorik III, 11, 1411b-1412a. Vgl. auch Quintilian: Inst. or. VIII, 6, 9–11. Vgl. Paul Ricoeur: Die lebendige Metapher. Aus dem Französischen von Rainer Rochlitz. München 1986. Quintilian: Inst. or. VIII, 3, 89. Kemmann: Evidentia, Sp. 45. Zum Zusammenwirken von Enargeia und Energeia vgl. auch Jan-Dirk Müller: Evidentia und Medialität. Zur Ausdifferenzierung von Evidentia in der Frühen Neuzeit. In: Gabriele Wimböck, Karin Leonhard, Markus Friedrich (Hrsg.): Evidentia. Reichweiten visueller Wahrnehmung in der Frühen Neuzeit. Berlin 2007, S. 57–84, hier 62–64.

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Leben.164 Stieler vergleicht die „Darstellung“, wie die Hypotyposis bei ihm ja heißt, mit einem „Bild, das gleichsam leibt und lebet“.165 Während Scaliger und Vossius als Hauptmerkmal der Hypotyposis bzw. der für sie noch genaueren Diatyposis Detaillierung angeben166, kennzeichnet Lamy Hypotyposen erweiternd als „vives & exactes“167, „lebendig und genau“.168 Er grenzt sie von der Beschreibung (description) ab, die er nicht so lebendig („pas si vive“) findet.169 In seinem Gefolge unterscheidet Gottsched Schilderung, wie er die Hypotyposis nennt, und Beschreibung, findet beide „lebhaft“, letztere aber „nicht so hitzig und handgreiflich, als jene“.170 Für Lausberg ist evidentia , wie bereits zitiert, eine „lebhaft-detaillierte Schilderung“.171 Seinen Höhepunkt erreichte das Streben nach Lebendigkeit (engl., vividness, vivacity; frz. vivacité) im 18. Jh. Stürmer und Dränger wie Gerstenberg und Lenz zitieren die einst von Lukrez formulierte lebendige Geisteskraft (vivida vis animi).172 Adelung verwendet Anschaulichkeit und Lebhaftigkeit, wie schon gesagt, als nahezu gleichbedeutend, besonders im Hinblick auf die Metapher und überhaupt die Tropen. Georg Friedrich Meier, Schüler des Ästhetik-Begründers Baumgarten, handelt auf 100 Seiten „Von der Lebhaftigkeit der Gedancken“173 und deren rhetorisch-poetischen Ausdrucksmitteln, darunter Metapher und Hypotyposis. Er erläutert: Die Lebhaftigkeit der Gedanken heißt auch, die aesthetische Verständlichkeit derselben, und das aesthetische Licht (perspicuitas & lux aesthetica) und die grössern Grade dieses Lichts, machen den aesthetischen Glanz (nitor & splendor aestheticus) aus.174

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Vgl. Bernhard Asmuth: Anfänge der Poetik im deutschen Sprachraum. Mit einem Hinweis auf die von Celtis eröffnete Lebendigkeit des Schreibens. In: Heinrich F. Plett (Hrsg.): Renaissance-Poetik. Renaissance Poetics. Berlin/New York 1994, S. 94–113, besonders 107–113. Stieler: Dichtkunst, Vers 3885. Iulius Caesar Scaliger: Poetices libri septem. Sieben Bücher über die Dichtkunst. Hrsg. von Luc Deitz und Gregor Vogt-Spira. Stuttgart-Bad Cannstatt 1994–2011. Bd. 2, S. 384–387 (= Buch III, Kap. 32); Vossius: Commentariorum rhetoricorum sive oratoriarum institutionum libri sex, S. 377–380. Bernard Lamy: La rhetorique ou l’art de parler. La Haye 1737, S. 152. Lamy: De l’art de parler. Kunst zu reden, 1980, S. 114. Lamy 1737, S. 153. Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst, S. 327 f. Heinrich Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik. München 21972, § 810, S. 399. Lukrez: De rerum natura I, 72. Die Zitate von Gerstenberg und Lenz finden sich bei Erich Loewenthal (Hrsg.): Sturm und Drang. Kritische Schriften. Heidelberg 31972, S. 50 und 723. Lenz nennt in seinen dortigen „Anmerkungen übers Theater“ fälschlich Horaz als Quelle. Georg Friedrich Meier: Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften. Bd. 1. Halle 21754 [zuerst 1748], S. 251–350. Ebd., S. 252.

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Sulzer bemerkt: „Es scheinet, daß die neuern französischen Kunstrichter die Lebhaftigkeit für die erste und fürnehmste Eigenschaft eines guten Schriftstellers halten“.175 In der Briefkultur, die in diesem Zeitalter der Aufklärung und Empfindsamkeit ihre Blütezeit erlebte, verband sich das Streben nach Lebendigkeit mit dem damals neuen Bemühen um Natürlichkeit. Gellert meint, „daß die Frauenzimmer oft natürlichere Briefe schreiben, als die Mannspersonen“, denn ihre Empfindungen seien „zarter und lebhafter“.176 Auffällig ist auch die häufige Verknüpfung von Leben und Bewegung, z. B. bei Breitinger und Sulzer.177 Das klassische Redeziel Bewegung (movere) steigerte sich damals zu einem allgemeinen ästhetischen, speziell auch dichterischen Leitbegriff.178 Laut Vischer ist die Dichtkunst „auf lebendige Veranschaulichung gerichtet“ oder, wie er auch sagt, auf „Veranschaulichung und Belebung“.179 Nach Lebhaftigkeit oder Lebendigkeit strebt weniger markant auch die neuere Stilistik. Ludwig Reiners etwa widmet dem „Leben“ der Sprache ein eigenes Kapitel. Als Beispiele lebendigen Schreibens nennt er Luther, Lessing, Goethe, Schopenhauer und Bismarck.

3.6. Variante 6: Anschaulichkeit als – auch nichtoptische – Sinnlichkeit In den bisher besprochenen Bedeutungen bezeichnet Anschaulichkeit die optische Intensität von Dingen, die allesamt dem jeweiligen Autor wie auch seinem Publikum nicht wirklich, sondern nur geistig, also imaginär oder virtuell, vor Augen stehen. Für die Metapher gilt das sogar in doppelter Weise, da sie zwei Vorstellungsbilder kombiniert. Es gibt jedoch auch zahlreiche, wenngleich insgesamt seltenere Verwendungen des Wortes Anschaulichkeit, die diese Einschränkungen durchbrechen oder sonstwie von den Hauptbedeutungen abweichen. Bestimmender Hintergrund ist die generelle Hochschätzung 175

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Johann Georg Sulzer: Allgemeine Theorie der schönen Künste. Leipzig 21793. Nachdruck Hildesheim u. a. 1994. Bd. 3, S. 165 (Artikel „Lebhaft“). Vgl. auch ebd. den Artikel „Lebendiger Ausdruk“. Christian Fürchtegott Gellert: Briefe, nebst einer Praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen. Leipzig 1751. Faksimile-Nachdruck in: Gellert: Die epistolographi-schen Schriften. Mit einem Nachwort von Reinhard M. G. Nickisch. Stuttgart 1971, S. 75. Vgl. auch Nickisch: Stilprinzipien in den deutschen Briefstellern des 17. und 18. Jh. Göt-tingen 1969, S. 220–222. Breitinger: Critische Dichtkunst. Bd. 2, S. 404; Johann Georg Sulzer: Allgemeine Theorie der schönen Künste. Bd. 3. Leipzig 21793, S. 165. Vgl. Bernhard Asmuth: „Bewegung“ in der deutschen Poetik des 18. Jh., in: Rhetorik 19 (2000), S. 40–67; Dirk Oschmann: Bewegliche Dichtung. Sprachtheorie und Poetik bei Lessing, Schiller und Kleist. München 2007. Vischer: Aesthetik. Teil III, 2, 5: Die Dichtkunst, S. 1215 und 1219 (= § 851).

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von Sinnlichkeit im 18. Jh., als Alexander Gottlieb Baumgarten die von ihm begründete Ästhetik als Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis (scientia cognitionis sensitivae) und Dichtung als vollkommene sinnliche Rede (oratio sensitiva perfecta) definierte. Anschaulichkeit kann außer der optischen auch nichtoptische, insbesondere akustische Sinnlichkeit bezeichnen, also eine insgesamt sechste Bedeutung annehmen. Adelung bemerkt zu dem Verb anschauen: In weiterer Bedeutung wird dieses Wort auch überhaupt für empfinden gebraucht, ohne dasselbe auf die Empfindung des Sehens allein einzuschränken.[...] Eine Sache anschauend, d. i. sinnlich, erkennen.180

Ebenso erklärt er „anschaulich“ als „in weiterer Bedeutung, in unmittelbarer Empfindung gegründet, sinnlich. Die anschauliche Erkenntniß, wie anschauende. Daher die Anschaulichkeit“.181 In seinem Stilbuch führt er, wie bereits zitiert, akustische Lautmalereien wie knallen und krachen als Beispiele für Anschaulichkeit an.182 Das für das 18. Jh. auch als Stilbegriff charakteristische Wort Sinnlichkeit lebt seit dem 19. Jh. in Anschaulichkeit weiter. Für Jean Paul ist, wie gesagt, Anschaulichkeit gleichbedeutend mit Sinnlichkeit.183 Er spricht, wie ebenfalls erwähnt, auch öfters von „sinnlicher Anschaulichkeit“184, ebenso noch häufiger Karl Ferdinand Becker 1848 in seinem Buch „Der deutsche Stil“, mindestens einmal auch Hegel.185 Die Bedeutungserweiterung über das Optische hinaus berührt das Verständnis von Dichtung. Gottsched, der das Wort Anschaulichkeit noch nicht kannte, spricht in seiner „Critischen Dichtkunst“ von der größeren Kompetenz des Dichters gegenüber dem Maler: „Malerey eines Poeten […] erstrecket sich noch viel weiter, als die gemeine Malerkunst. Diese kann nur für die Augen malen, der Poet hergegen kann für alle Sinne Schildereyen machen.“186 Ähnlich äußert sich später F. Th. Vischer: „ Der Dichter soll die Wirkung auf das Auge mit der Wirkung auf das Gehör […] vereinigen, er soll zu allen Sinnen sprechen. Vor Allem muß er daher selbst mit allen Sinnen schauen.“187 Will-

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Adelung, Wörterbuch, Bd. 1, Sp. 354. Ebd. Vgl. die in Anm. 91 nachgewiesene Äußerung. Vgl. Jean Paul: Vorschule der Ästhetik, S. 278 f. Vgl. Anm. 104. Hegel: Ästhetik. Teil 3: Die Poesie, S. 103. Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst, S. 142. Vischer: Aesthetik. Teil III, 2, 5: Die Dichtkunst, S. 1161 (§ 835).

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helm Busch schrieb seinem Malerfreund Franz von Lenbach am 23. Februar 1889: „Wahrlich! Gewiße Dinge sieht man am deutlichsten mit den Ohren.“188 Anschaulichkeit in diesem das Optische übersteigenden, speziell auch akustischen Sinn wird gelegentlich sogar der Musik oder deren Darbietung zugeschrieben. Über Beethovens pathetische Sonaten heißt es in einer Biographie: „Innerstempfundenes, Eigenstdurchlebtes wird nun in plastischer Anschaulichkeit Inhalt und Gegenstand des Kunstwerks“.189 In einem Buch über Mendelssohn-Bartholdy ist zu lesen, dessen Oratorium „Paulus“ erreiche nicht „die volle Anschaulichkeit der Bach’schen oder Haendel’schen“ Oratorien.190 Über eine Vertonung von Johannes Brahms schreibt Max Kalbeck: „der Vers ‚Aus dem Brautgemach tritt eine herrliche Sonn’‘, erhielt von der Musik eine Anschaulichkeit, als stammte er direkt von Haydns Schöpfungs-Rezitativ ab“.191

3.7. Variante 7: Anschaulichkeit grammatisch Als siebte Bedeutung fasse ich grammatische Erscheinungen zusammen, die als Ausdrucksformen von Anschaulichkeit verstanden worden sind. Adelung erwähnt das bis heute bekannteste grammatische Mittel der Anschaulichkeit, den „Gebrauch des Präsentis anstatt des Präteriti“, sonst meist Praesens historicum genannt; denn, so begründet er: Das Vergangene ist für die Einbildungskraft nicht so lebhaft als das Gegenwärtige, weil schon das Bewußtseyn der Vergangenheit das Interesse und die Anschaulichkeit vermindert.192

Jean Paul erörtert in § 78 seiner „Vorschule der Ästhetik“ verschiedene sprachliche „Hülfmittel der phantastischen Sinnlichkeit. Z. B. man verwandelt […] das Passivum ins Aktivum“. Das Partizip, für das schon Bodmer und Breitinger geworben hatten, ist für ihn „handelnder, mithin sinnlicher als ein Adjektivum: z. B. das dürstende Herz ist sinnlicher als das durstige.“193 Zu den Adjektiven selber empfiehlt er abzuwägen: „Die Beiwörter, die rechten und sinnlichen, sind Gaben des Genius […]. Wer ein solches Wort erst sucht, findet es schwerlich.“194 Bei Fehlplatzierung helfe nur „ein Strich durch alle Bei188

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Wilhelm Busch: Sämtliche Briefe. Kommentiert von Friedrich Bohne. 2 Bde. Hannover 1982 (zuerst 1968/69. Bd 1, S 313, Nr. 769. La Mara (= Marie Lipsius): Ludwig van Beethoven. In: Musikalische Studienköpfe. Bd. 4. Leipzig 1880, S. 355. August Reissmann: Felix Mendelssohn-Bartholdy. Leipzig 1893. Kap. 6, S. 225. Max Kalbeck: Johannes Brahms. Bd. 1. Halbbd. 2. Berlin 41921. Kap. 9, S. 377. Adelung: Ueber den Deutschen Styl. Bd. 1. Berlin 31789, S. 432. Jean Paul, Vorschule, S. 281. Ebd., S. 282.

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wörter“.195 Friedrich Theodor Vischer, weniger zurückhaltend, zählt das schmückende Beiwort (Epitheton ornans) unter „die einfachsten Mittel der Veranschaulichung“.196 Zu weiterer Grammatikalisierung der Anschaulichkeit haben Empfehlungen von Eduard Engel und Ludwig Reiners beigetragen. Sie sind anders als Jean Pauls Vorschläge weniger der Dichtung entnommen und für Dichter gedacht, sondern auf nichtfiktionale Gebrauchstexte ausgerichtet. Engel meint: „Der anschauliche Stil ruht, sichrer als auf dem Hauptwort, weit sichrer als auf dem Beiwort, auf den Eckpfeilern des Zeitwortes.“197 Einige der „Ratschläge“ von Reiners lauten: Bei den Gattungsbegriffen für Personen ist die Einzahl bildhafter als die Mehrzahl […]. Daher sind auch Eigennamen bildhafter als Gattungsbegriffe.[...] Ein Mensch als Subjekt (Satzgegenstand) des Satzes wirkt weit bildhafter als ein begriffliches Subjekt.[...] Die Tatform (Aktiv) ist bildhafter als die Leideform (Passiv).[...] Das einfache Wort hat mehr Bildkraft als das zusammengesetzte.[...] Erbwörter sind anschaulicher als Fremdwörter.198

Zusätzlich werden von Bernhard Sowinski als anschaulich beansprucht der Singular gegenüber dem Plural (nunmehr nicht nur bei Personen), konkrete Verben gegenüber blassen, undifferenzierten, kurze Sätze gegenüber langen, schlichte Aussagen gegenüber den mit Phrasen und Flickwörtern aufgeschwemmten, die knappe Wortzusammensetzung (z. B. Preissteigerung) gegenüber der Simplexform mit Genitivattribut (Steigerung der Preise), einfache Verben gegenüber Verbalsubstantiven.199 Ich habe 1974 kritisiert, hier werde „Anschaulichkeit zu einer allgemeinen Wirkungskategorie von kaum noch zu überbietender Unschärfe aufgebläht“, sie sei „zu einer Metapher für Einfachheit bzw. leichte Verständlichkeit verkommen“.200 Die grammatische Fixierung von Anschaulichkeit setzt sich jedoch bis heute fort, was ihre jetzige Berücksichtigung als eigene Bedeutungsvariante rechtfertigen mag. „Als hauptsächliche Stilmittel der A.[nschaulichkeit]“ nennt Sanders noch 2007 außer der Verdeutlichung durch Beispiele, Vergleiche, Bilder usw. kurze, konkrete Wörter, die etwas zu sehen, hören, greifen geben, Vermeidung hingegen von Kollektivbegriffen, Nominalausdrücken, Flick- und Fremdwörtern; ebenfalls kurze, einfache

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Ebd., S. 283. Vischer: Aesthetik. Teil III, 2, 5: Die Dichtkunst, S. 1221 (§ 851). Engel: Deutsche Stilkunst, S. 144. Reiners, Stilkunst, S. 311–313. Bernhard Sowinski: Deutsche Stilistik, S. 49–59. Asmuth/ Berg-Ehlers: Stilistik, S.113.

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Sätze mit lebensfrischen Vollverben statt blasser Funktionsverbgefüge, wie sie im Nominalstil vorherrschen; überhaupt immer Bevorzugung des Besonderen gegenüber dem Allgemeinen“.201

3.8. Variante 8: Nichtimaginäre Anschaulichkeit In den bislang besprochenen Bedeutungen ging es darum, so Jean Paul, „daß das sinnliche Bild sinnliche Anschaulichkeit, nicht aber eben Wirklichkeit habe“202, also um „fastwirkliche Dinge“, wie Klopstock diese nennt, deren „Vorstellungen […] so lebhaft werden, daß diese uns gegenwärtig, und beinah die Dinge selbst zu sein scheinen“, deren Zweck aber „Täuschung“ sei.203 Bei der nun anstehenden achten Bedeutung handelt es sich dagegen um wirklich Sichtbares, Anschaubares, und zwar teils um unmittelbar wahrnehmbare Naturgegenstände, teils und hauptsächlich um visuelle Kunstwerke wie Gemälde und Dramen. Dafür gibt es zahlreiche Belege. Herder findet anlässlich einer Seereise und dabei beobachteter Delphine mythologische Assoziationen näherliegend als sonst. „So ist Virgils verwandelter Mast, die Nymphen, Syrenen, Tritonen u.s.w. gleichsam von der See aus, leicht zu erklären, und wird gleichsam anschaulich.“204 Poesie befand sich laut Herder ursprünglich „im Kreise einer schönen Anschaulichkeit“ durch ihren lebendigen Vortrag; „auf dem Theater […] erhielt er [der Vortrag] sie noch lange in diesem glücklichen Kreise.“205 Über Kräuter bemerkt Herder: „nur der Zeichner, nicht der Wortmaler kann sie anschauend sinnlich machen.“206 Goethes Malerfreund Tischbein erzählt über seinen Kontakt zu Dichtern: „ich nahm mir vor, alles Dichterische aufzufassen, wo ich es fände; zu zeichnen, was für’s Auge anschaulich wäre; und aufzuschreiben, was für den Dichter wäre, der mit Worten malt.“207 Hegel schreibt: „Das von der Phantasie produzierte Bild ist nur subjektiv anschaulich; im Zeichen fügt sie [die Phantasie] eigentliche Anschaulichkeit hinzu“.208 Grillparzer meint: „Das Wesen 201

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Sanders: Stilwörterbuch, S. 41. Vgl. auch Wolf Schneider: Deutsch! Das Handbuch für attraktive Texte. Reinbek bei Hamburg 2011, S. 245–252. Jean Paul: Vorschule, S. 296. Friedrich Gottlieb Klopstock: Ausgewählte Werke. Hrsg. von Karl August Schleiden. München 1962, S. 1031–1038 („Von der Darstellung“), hier 1032 f. Herder: Journal meiner Reise. In: Werke, Bd. 4, S. 358. Herder: Briefe zu Beförderung der Humanität (1795). Siebendes Fragment: Schrift und Buchdruckerei. In: Werke, Bd. 18, S. 87. Herder: Werke, Bd. 3, S. 262. Heinrich Wilhelm Tischbein: Aus meinem Leben. Hrsg. von Carl G. W. Schiller. Braunschweig 1861, S. 133. Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften. Heidelberg 31830, § 457 Ende.

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des Drama ist, da es etwas Erdichtetes als wirklich geschehend anschaulich ma-chen soll, strenge Kausalität.“ 209 Hinsichtlich der Wirkung von Tragödien spricht er von der „Verherrlichung des Rechts, die Schlegel in derber Anschaulichkeit auf den Brettern und in den Lumpen der Bühne sehen will“.210 Alexander von Humboldt schreibt 1847: „den Totaleindruck einer Gegend […] anschaulich wiederzugeben ist die Aufgabe der Landschaftsmalerei“.211 Nietzsche unterscheidet beim Drama der alten Griechen zwei Arbeitsschritte: Die Veranschaulichung durch das Wort zur Phantasie geht voran, die durch die Action kommt erst hinzu.[...] Andernseits war die nachschaffende Phantasie bei ihnen [den Griechen] viel thätiger und lebendiger, sie hatte die Anschaulichkeit der Action viel weniger nöthig.212

Eduard Meyer erzählt in seiner „Geschichte des Altertums“ vom Kampfeinsatz ägyptischer Streitwagen, einem „Vorgang, den wir uns nur schwer begreiflich machen können, den aber die ägyptischen Schlachtbilder ganz anschaulich vorführen“.213 Wilhelm Busch schreibt in einem Brief vom 27. Jan. 1902 an den Berliner Redakteur Paul Block über seine mit „Max und Moritz“ beginnenden längeren Bildergeschichten: Daß sie zunächst gezeichnet und dann erst geschrieben wurden, also die Anschaulichkeit, mag wohl eine von den Ursachen ihrer weiten Verbreitung sein.214

Der Expressionist Ludwig Rubiner notiert 1914 im 4. Jahrgang der Zeitschrift „Aktion“: Dichter dichten in Bildern. Bilder? Na, beim Malen hat er ja gleich richtige! Oder, Anschaulichkeit die große Mode. Aber beim Maler kann man die Anschaulichkeit sofort mit nach Hause nehmen.215

Die „Anschaulichkeit als humanistisches Ideal“, die Barbara Mahlmann-Bauer 2003 im Hinblick auf den Marburger Arzt und Mathematiker Johannes Dry209

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Franz Grillparzer: Über das Wesen des Drama. Sämtliche Werke. Bd. 3. München 1964, S. 301–304, hier 301. Ebd., S. 303. Alexander von Humboldt: Kosmos. Bd. 2. Stuttgart und Augsburg 1847, S. 92 f. Nietzsche: Nachgelassene Fragmente Herbst 1869 – Herbst 1872. In: Werke. Kritische Gesamtausgabe. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montanari. Bd. III, 3. Berlin/ New York 1978, S. 57 f. Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Bd. 2. Abteilung 1: Die Zeit der ägyptischen Großmacht. Darmstadt 41965, S. 45. Wilhelm Busch: Sämtliche Briefe. Kommentiert von Friedrich Bohne. 2 Bde. Hannover 1982. Bd. 2, S. 186, Nr. 1332. Ludwig Rubiner: Maler bauen Barrikaden. In: Rubiner: Der Dichter greift in die Politik. Leipzig 1976, S. 279.

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ander aus dem 16. Jh. behandelt hat, beruht ebenfalls auf wirklich sichtbaren Bildern, nämlich solchen, mit denen Dryander seine akademische Lehre illustrierte.216 Der etwas jüngere Levinus Hulsius übersetzte 1596 seine ähnlich ausgerichtete „Ocularis et radicalis demonstratio“ als „Ein Augenscheinlicher und gründtlicher Bericht“. Theodor A. Meyer, der mit seinem Buch „Das Stilgesetz der Poesie“ von 1901 an Lessings Abgrenzung der Dichtung von der Malerei anknüpft, lässt die Qualität anschaulich bzw. Anschaulichkeit anders als die Ästhetik des 19. Jh. (besonders Vischer) nur in diesem zuletzt besprochenen Sinn für wirklich Sichtbares und speziell für die Malerei gelten. Der Dichtung spricht er Anschaulichkeit wegen des abstrakt-gedankenhaften Charakters ihres Mediums Sprache ausdrücklich ab.217 Er wendet sich so gegen den angeblichen „Irrtum vom anschaulichen Charakter der Poesie“.218 Er selber begreift „die Poesie als Kunst der unanschaulichen geistigen Vorstellung“219 oder auch als „Kunst der überanschaulichen sprachlichen Vorstellung“.220 Adorno startete seinen erwähnten Angriff auf das „Dogma“ der Anschaulichkeit unter Berufung auf Meyer.

3.9. Variante 9: Anschaulichkeit durch Erwähnungen des Sehens, besonders beim Erzählen Die in Aussicht gestellte neunte Bedeutung ist meines Wissens bisher mit dem Wort Anschaulichkeit kaum in Verbindung gebracht worden, obwohl sie mindestens ebenso Berücksichtigung verdient wie etwa die grammatische Variante 7. Diese abschließende Bedeutungsvariante ergibt sich, wenn man bedenkt, dass auch bloße Benennungen des Sehens und Gesehenwerdens zur Anschaulichkeit beitragen. Eduard Engel hatte 1911 gefragt: „Warum hat noch kein Germanist unsre Klassiker und Nachklassiker auf die Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit ihrer 216

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Barbara Mahlmann-Bauer: Anschaulichkeit als humanistisches Ideal. Johannes Dryander, „Medicus atque Mathematicus Marpurgensis“. In: Jürgen Kiefer, Karin Reich (Hrsg.): Gemeinnützige Mathematik. Adam Ries und seine Folgen. Erfurt 2003, S. 223–268. Vgl. auch Simone de Angelis: Demonstratio ocularis und evidentia. Darstellungsformen von neuem Wissen in anatomischen Texten der Frühen Neuzeit. In: Helmar Schramm, Ludger Schwarte, Jan Lazardzig (Hrsg.): Spuren der Avantgarde: Theatrum anatomicum. Frühe Neuzeit und Moderne im Kulturvergleich. Berlin/New York: de Gruyter 2011, S. 168–193, hier 175 mit Anm. 29. Vgl. Theodor A. Meyer: Das Stilgesetz der Poesie. Leipzig 1901. Nachdruck Darmstadt 1968, S. 27. Meyer, Vorrede, S. V. Meyer, S. 231. Meyer, Vorrede, S. IV.

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Sprache untersucht?“221 Friedmar Apels 2010 bei Hanser erschienenes schmales Buch über Visualität der Literatur ist eine späte Antwort auf diese Frage, auch wenn er sich gar nicht auf Engel bezieht. Apel sammelt und erläutert Texte, nicht nur deutsche, des 18. Jh. bis zur Gegenwart, die Visuelles thematisieren. Von Anschaulichkeit spricht er selber, soweit ich sehe, nur einmal andeutend und eher negativ, indem er die von ihm behandelte Visualität oder „Sichtbarkeit“, wie er sie meist nennt, gegen „klassische Mittel der Anschaulichkeit“222 abgrenzt, ohne letztere zu konkretisieren. Etlichen seiner Beispieltexte lässt sich jedoch unschwer eine anschauliche Wirkung beimessen. Das betrifft etwa Stefan Georges Gedicht „Komm in den totgesagten Park und schau“, das er als Beispiel deutscher Lyrik erläutert. Gottfried Willems hat vergleichbaren Gedichten Gottfried Kellers und Rilkes im Zusammenhang des von ihm erörterten, lebensphilosophisch begründeten „Intuitionismus“ jedenfalls Anschaulichkeit bescheinigt.223 Veranschaulicht werde hier, wie er sich ausdrückt, „vor allem die Anschauung selbst“.224 Diese Einschätzung verstärkt sich, wenn man weitere, bei Willems und Apel nicht vorkommende Beispiele dieser Art hinzuzieht. Erwähnungen des Sehens finden sich in deutscher Lyrik seit dem Mittelalter etwa in dem Mailied Walthers von der Vogelweide („Muget ir schouwen was dem meien / wunders ist beschert?“), in Gryphius’ Sonett „Es ist alles eitel“ („Du siehst, wohin du siehst, nur Eitelkeit auf Erden“), in Brockes’ Gedicht „Kirschblüte bei der Nacht“ („Ich sahe mit betrachtendem Gemüte / Jüngst einen Kirschbaum, welcher blühte“). Ein besonders markantes Beispiel ist Goethes „Heidenröslein“: Sah ein Knab ein Röslein stehn, Röslein auf der Heiden, War so jung und morgenschön, Lief er schnell, es nah zu sehn, Sah’s mit vielen Freuden.

Auch Gedichte von Rilke („Der Panther“; „Archaischer Torso Apollos“) und Brechts „Erinnerung an die Marie A.“ mit der berühmten „Wolke, die ich lange sah“ gehören in diesen Zusammenhang. Noch interessanter wird es, wenn die Sehtätigkeit nicht Menschen, sondern Dingen, eigentlich Objekten des Sehens, zugeschrieben wird. In Goethes Sturm-und-Drang-Gedicht „Willkommen und Abschied“ heißt es zum Beispiel, dass „Finsternis aus dem Gesträuche / Mit hundert schwarzen Augen 221 222 223 224

Engel: Deutsche Stilkunst, S. 135. Friedmar Apel: Das Auge liest mit. Zur Visualität der Literatur. München 2010, S. 42. Willems: Anschaulichkeit, S. 371–379. Ebd., S. 369.

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sah“, und gleich anschließend: „Der Mond von einem Wolkenhügel / Sah kläglich aus dem Duft [im Sinne von Dunst] hervor“. Ein Gedicht Ludwig Uhlands („Die Kapelle“) beginnt: „Droben stehet die Kapelle, / Schauet still ins Tal hinab“. Hier fungiert das Sehen oder Schauen, wie es in Bayern und Österreich eher heißt225, als Metapher des Gesehenwerdens. Während die Thematisierung des Sehens bzw. der Sichtbarkeit in Gedichten wie den soeben zitierten zur Anschaulichkeit beiträgt, aber nicht gattungstypisch erscheint, ist sie in Erzähltexten von zentraler Bedeutung. Apel spricht von „der grundsätzlichen Erzählförmigkeit von Seherlebnissen“226, was sich auch in eine grundsätzliche Visualitätstendenz von Erzähltexten umformulieren lässt. Auf die Nähe der Anschaulichkeit oder auch Lebendigkeit zum Erzählen ist schon früher gelegentlich hingewiesen worden.227 Auch die soeben zitierten Gedichte haben ja weitgehend narrativen Charakter. Der generelle Zusammenhang von Sehen und Erzählen wird in der neueren Erzählforschung allerdings, soweit ich sehe, bisher nur ansatzweise gewürdigt. Während die Erzähltheorie des 19. Jh., durch Flaubert und Henry James und in Deutschland durch Spielhagen vertreten, sich am Drama orientierte und eine Einmischung des Erzählers möglichst ausschloss, steht die Theorie des 20. Jh. ganz im Zeichen der Erzählerfigur, auf deren Wichtigkeit und vorherige Vernachlässigung zunächst vor allem Käte Friedemann 1910 mit ihrem Buch über „Die Rolle des Erzählers in der Epik“ hinwies. Zu wenig beachtet wird bislang, dass die Tätigkeit des Erzählens, jedenfalls idealtypisch betrachtet, nicht der einzige Vermittlungsakt ist. Dem Erzählen als sprachlicher Vermittlung eines Geschehens geht zumindest im wirklichen Leben und bei nichtfiktionalen Texten die Wahrnehmung eben dieses Geschehens als erster Vermittlungsschritt voraus. Auszugehen ist deshalb grundsätzlich von einer doppelten Vermittlung. Der ausgiebig erforschten Rolle des Erzählers ist die des Beobachters als bisher unterrepräsentiert hinzuzufügen. Beim alltagssprachlichen Erzählen gibt der Erzähler das, was er selber oder andere erlebt, also wahrgenommen, vor allem optisch wahrgenommen haben, so wieder, dass die Zuhörer bzw. Leser ihr eigenes diesbezügliches Anschauungsmanko nicht mehr als solches empfinden und das vermittelte Geschehen quasi nacherleben. Das in der Vergangenheit oder andernorts angesiedelte, nicht unmittelbar wahrnehmbare Geschehen wird für sie gewissermaßen rekonstruiert, in eine – diesmal nur geistige – Anschauung zurückverwandelt und so in eine „zweite Unmittelbarkeit“ überführt.228 225 226 227 228

Vgl. Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 14, Sp. 2310 f. Apel: Das Auge liest mit, S. 42. Vgl. etwa Becker: Der deutsche Stil, S. 453–455. Arbogast Schmitt: Anschauung und Anschaulichkeit bei Aristoteles. In: Radke-Uhlmann/ Schmitt: Anschaulichkeit in Kunst und Literatur, S. 91–151, hier 133 und 136.

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Gérard Genette unterscheidet in seinem grundlegenden Werk „Die Erzählung“ im Zusammenhang der von ihm untersuchten Fokalisierung die Fragen „Wer sieht?“ und „Wer spricht?“229 Martinez und Scheffel differenzieren daraufhin „zwischen zwei Standpunkten […], nämlich dem Standpunkt des Wahrnehmenden ([…]) und dem des Sprechers“.230 Wichtiger als das synchrone Zusammenspiel zwischen Erzähler- und Figurenperspektive, um das es hier geht, erscheint mir im vorliegenden Zusammenhang zunächst das Eigengewicht der dem Erzählen vorangehenden Wahrnehmung und die Untersuchung ihrer Spuren im Text; denn wirklich wiederholbar wie in einem Film ist die Wahrnehmung selber beim Erzählen ja nicht. In diesem Zusammenhang ist eine hellsichtige Erkenntnis Schillers interessant. Im Anschluss an den gemeinsamen kleinen Aufsatz „Über epische und dramatische Dichtung“ schrieb er am 26. Dezember 1797 an Goethe über Epos und Tragödie, jede der beiden Gattungen büße, einseitig ausgebildet, ein wichtiges Element der Poesie ein, die Epopöe die „Sinnlichkeit“, wir sagen heute Anschaulichkeit, und die Tragödie die „Freiheit“ des über dem Stoff stehenden Dichters. Wie das Drama die Abwesenheit des Autors verkraften muss und dies am auffälligsten in Brechts epischem Theater ja auch leistet, so muss die Epik und das Erzählen überhaupt dem ihr eigenen Anschauungsmanko entgegenwirken, also „Anschaulichmachung“ betreiben, wie Schiller das im selben Brief nennt. In fiktionalen Texten treten der Erzähler oder vergleichbare Mittlerfiguren als veranschaulichende Instanz im allgemeinen wenig oder gar nicht hervor. Hier verlagert sich die Behebung des Anschauungsdefizits ersatzweise in die handelnden Figuren, mit deren Wahrnehmungen sich Leser oder Zuhörer identifizieren können, teilweise auch in ein anonymes oder bloß implizites Sehen („schien“). Aus dem grundsätzlichen Nacheinander der Vermittlungsschritte Wahrnehmung und Erzählen wird damit ein symbiotisches Nebeneinander. Wichtig sind auch Sehprozesse, die die Handlung begleiten oder steuern, z. B. der von Jean Paul angesprochene „Gebrauch abnehmender Ferne, also herantretender Nähe“.231 Die Untersuchung lässt sich ausweiten auf Äußerungen des Zeigens, also des Sehenmachens, wie sie z. B. in Adalbert Stifters didaktisch ausgerichtetem Erzählen öfters vorkommen.232

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230 231 232

Gérard Genette: Die Erzählung. Aus dem Französischen von Andreas Knop. München 1994, S. 132. Matias Martinez, Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. München 1999, S. 63. Jean Paul: Vorschule der Ästhetik, S. 291. Das von Henry James und Percy Lubbock favorisierte „showing“ in Opposition zum „telling“ erfordert dagegen keine explizite Erwähnung des Zeigens. Vgl. Silke Lahn, Jan Christoph Meister: Einführung in die Erzähltextanalyse. Stuttgart, Weimar 2008, S. 25 f. und 118 f.

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Bernhard Asmuth

Die Analyse derartiger Spuren von Anschaulichkeit bzw. die systematische Entwicklung eines entsprechenden Instrumentariums über die Ansätze von Apel hinaus wäre ein lohnende Aufgabe. Dieses Konzept, hinreichend ausdifferenziert, aber strikt auf Erwähnungen und Implikationen von Visuellem beschränkt, ist weniger ehrgeizig, aber leichter handhabbar als die in der neueren Erzählanalyse vorherrschende, stark theorielastige Perspektivierung bzw. Fokalisierung in der Art von Stanzel233 oder Genette. Malerdichter, in ihren Werken von doppelter Anschaulichkeit, bekunden auch sonst eine erhöhte Aufmerksamkeit gegenüber allem Visuellen. „Dein Brief hat mich gefreut. Es ist allerlei ‚Sichtbares‘ drin“, schrieb Wilhelm Busch am 21. Februar 1900 an seine Nichte Grete Mever.234Die Äußerung wirft auch ein Licht auf sein eigenes Schaffen. Sie ist jedenfalls auch als Selbstzeugnis verstanden worden.235

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233 234 235

Franz K. Stanzel: Theorie des Erzählens. Göttingen 1979 und öfter. Busch: Briefe. Bd.2, S. 159. Nr. 1259. Vgl. Wilhelm Busch: Es ist allerlei Sichtbares drin. Sein Leben in Selbstzeugnissen. Hrsg. von Hans Balzer. Rudolstadt 1956.

Anschaulichkeit

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– (1994b): Anfänge der Poetik im deutschen Sprachraum. Mit einem Hinweis auf die von Celtis eröffnete Lebendigkeit des Schreibens. In: Heinrich F. Plett (Hg.): Renaissance-Poetik. Renaissance Poetics. Berlin, New York: de Gruyter, 94–113. – (1996): Metapher. In: Horst Brunner, Rainer Moritz (Hgg.): Literaturwissenschaftliches Lexikon. Grundbegriffe der Germanistik. Berlin: Erich Schmidt, 219–222. – (1998): Imago. In: Gert Ueding (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 4. Tübingen: Niemeyer, 228–235. – (2000): „Bewegung“ in der deutschen Poetik des 18. Jahrhunderts. In: Rhetorik 19, 40–67. – (2003): Perspicuitas. In: Gert Ueding (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 6. Tübingen: Niemeyer, 814–874. – (2009): Der Beitrag der klassischen Rhetorik zum Thema Verständlichkeit. In: Rhetorik 28, 1– 20. Asmuth, Bernhard / Luise Berg-Ehlers (1974): Stilistik. Düsseldorf: Bertelsmann Universitätsverlag. [Auctor ad Herennium] (1998 [11994]): Rhetorica ad Herennium. Lateinisch-deutsch. Hg. und übers. von Theodor Nüßlein. Düsseldorf, Zürich: Artemis & Winkler. Becker, Karl Ferdinand (1848): Der deutsche Stil. Frankfurt/M.: Kettembeil. Breitinger, Johann Jacob (1966): Critische Dichtkunst. Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1740. 2 Bde. Stuttgart: Metzler. Brinkmann, Hennig (1928): Zu Wesen und Form mittelalterlicher Dichtung. Halle (Saale): Niemeyer. Nachdruck Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1979. Bürger, Gottfried August (1789): Vorrede. In: Ders.: Gedichte. Göttingen: Dietrich, 3–26. Busch, Wilhelm (1956): Es ist allerlei Sichtbares drin. Sein Leben in Selbstzeugnissen. Hg. von Hans Balzer. Rudolstadt: Greifenverlag. – (1982 [11968/69]): Sämtliche Briefe. Kommentiert von Friedrich Bohne für die Wilhelm-BuschGesellschaft. 2 Bde. Hannover: Schlüter. Campe, Joachim Heinrich (1807): Wörterbuch der Deutschen Sprache. Teil 1: A bis E. Braunschweig: Schulbuchhandlung. Campe, Rüdiger (1997): Vor Augen Stellen. Über den Rahmen rhetorischer Bildgebung. In: Gerhard Neumann (Hg.): Poststrukturalismus. Herausforderung an die Literaturwissenschaft. Stuttgart, Weimar: Metzler, 208–225. Cicero, Marcus Tullius (1981 [11976]): De oratore. Über den Redner. Lateinisch-deutsch. Übers. und hg. von Harald Merklin. Stuttgart: Reclam. Engel, Eduard (1922): Deutsche Stilkunst. 30. Aufl. Wien: Hölder-Pichler-Tempsky; Leipzig: Freytag. Falk, Johannes (1856): Goethe aus näherm persönlichen Umgange dargestellt. 3. Aufl. Leipzig: Brockhaus. Fix, Ulla (2001): An-schauliche Wörter? Wörter im Dienste der ‚Bildhaftigkeit‘, ‚Bildlichkeit‘, ‚Bildkräftigkeit‘, ‚Sinnlichkeit‘, ‚Lebendigkeit‘, ‚Gegenständlichkeit‘ von Texten. In: Irmhild Barz, Ulla Fix, Gotthard Lerchner (Hgg.): Das Wort in Text und Wörterbuch. Leipzig: Verlag der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig), 9–22 (= Abhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Philologisch-historische Klasse. Bd. 76, Heft 4). Auch in: Ulla Fix: Stil ein sprachliches und soziales Phänomen. Berlin: Frank & Timme 2007, 301–318. Fontane, Theodor (2011): Effi Briest. Hg. von Helmuth Nürnberger. 11. Aufl. München: dtv. Frank, Horst Joachim (1973): Geschichte des Deutschunterrichts. Von den Anfängen bis 1945. München: Hanser. Friedrich der Große (1969): De la littérature allemande. Französisch-Deutsch. Mit der Möserschen Gegenschrift. Kritische Ausgabe von Christoph Gutknecht und Peter Kerner. Hamburg: Buske. Gellert, Christian Fürchtegott (1971): Die epistolographischen Schriften. Mit einem Nachwort von Reinhard M. G. Nickisch. Stuttgart: Metzler.

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Bernhard Asmuth

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Anita Traninger

Erzähler und persona Rhetorik und Narratologie zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit

1. Rhetorik zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit Mündlichkeit und Schriftlichkeit sind mediale Eckpfeiler jeder Beschäftigung mit der Rhetorik, gründet sie doch gerade auf deren Konnex: Wie Walter Ong völlig zutreffend konstatiert hat, entsteht die Redekunst klar als ein Phänomen der Mündlichkeit, die Rhetorik hingegen im Sinne einer Reflexion des Wirksamen und der Herausbildung eines entsprechenden Regelwerks wird erst mit etablierter Schriftlichkeit denkbar.1 Dessen ungeachtet wurden selbstverständlich immer wieder Präzedenzen für die eine oder die andere Seite geltend gemacht: Während ein heutiges Alltagsverständnis von ‚Rhetorik‘ durchweg (und recht einseitig) auf einen oralen Performanzfaktor abstellt, musste wiederum der Vorstellung, ein oralitätsbasiertes âge oratoire sei von einem schriftorientierten âge littéraire abgelöst worden, erst entgegengetreten werden.2 Einer solchen Epochenfolge mit einer Wasserscheide im 17. Jahrhundert hat Eugen Bader eine dezidierte Absage erteilt und nicht zuletzt hinsichtlich der notwendigen Verquickung beider argumentiert, „daß es kein ‚ursprüngliches‘, wohlabgegrenztes âge oratoire [gibt], weder für die Antike, noch weniger für das 17. Jahrhundert; es gibt keinen absoluten ‚Nullpunkt‘ der Rhetorik: vielmehr trägt die Rhetorik das Poetisch-Literarische im Keim immer schon in sich.“3 Umgekehrt sieht sich beispielsweise die jüngere Geschichtswissenschaft genötigt, für die Kontexte politischer Rede in Mittelalter und Früher Neuzeit den Begriff der ‚Oratorik‘ einzuführen, um diese von dem „forschungsstrategi1

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Ong, Walter J. (1977): Interfaces of the Word. Studies in the Evolution of Consciousness and Culture. – Ithaca/London: Cornell University Press, 215. Vgl. die Diskussion bei Bader, Eugen (1994): Rede-Rhetorik, Schreib-Rhetorik, Konversationsrhetorik. Eine historisch-systematische Analyse. – Tübingen: Narr, bes. 36f. Bader nennt als Exponenten der zitierten ,Epochenfolge‘ insbesondere Zuber, Roger (1968): Les ‚Belles infidèles‘ et la formation du goût classique. Perrot d’Ablancourt et Guez de Balzac. – Paris: Colin; Fumaroli, Marc (1980): L’âge de l’éloquence. Rhétorique et ‚res litteraria‘ de la Renaissance au seuil de l’époque classique. – Genf: Droz; Kibédi-Varga, Aron (1970): Rhétorique et littérature. Études de structures classiques. – Paris: Didier. Bader (1994), bes. 35–67, hier 64.

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Anita Traninger

schen mainstream des gängigen Rhetorikinteresses, der eher auf Theoriebildung gerichtet ist“ zu differenzieren.4 Das Anliegen der Oratorikforschung ist die Komplementierung einer auf die rhetorischen Anleitungsschriften fokussierten Rhetorikforschung durch die Konzentration auf mündliche Redanlässe, doch impliziert der Fokus auf die Parlamentsreden gerade nicht eine Mündlichkeit, die als Alternative zur Schriftlichkeit zu denken wäre. Es lässt sich mit guten Gründen argumentieren, dass gerade zu Zeiten der ‚Wiederentdeckung‘ der antiken Rhetorik die verlorene lateinische Muttersprachlichkeit ebenso wie die anspruchsvolle Stil-imitatio eine primäre Schriftlichkeit der Ausarbeitung zwingend notwendig wurde, die eine sekundäre Vortagssituation speiste.5 Allenthalben zeigt sich mithin die grundlegende Verquickung beider Medien, die der Rhetorik seit ihren Anfängen, um die oben zitierte Position Walter Ongs wieder aufzunehmen, eingeschrieben ist. Und so ist es auch weniger eine Dichotomie und schon gar keine epochale Abfolge – von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit – um die es mir im Folgenden gehen wird. Vielmehr wird es darauf ankommen, Oralität und Literalität in ihrer Verwobenheit zu begreifen, einer Verwobenheit, der sich die übliche mediale Kategorisierung – mündlich hier, schriftlich da – gerade entzieht. Im Folgenden soll es um ein Beispiel von über Jahrhunderten, ja, Jahrtausenden gewordenen Hybridphänomenen gehen, die ursprünglich Mündliches im Schriftlichen reproduzieren und notwendig transformierend weiterentwickeln oder die umgekehrt konzeptuell Schriftliches im Mündlichen verankern. Deborah Tannen hat letzteres unter dem schönen Titel „Commingling Orality and Literacy“ am Beispiel des akademischen Vortrags untersucht, der der Form nach an das Medium der Oralität gebunden, der aber der Struktur nach schriftlich ist. Ihr Befund geht allerdings über den konkreten Untersuchungsfall hinaus – und soll im Folgenden auch argumentationsleitend sein: „[…] any particular instance of speaking and writing is a rich texture of features associated with these two modes.“6 4

5

6

Kopperschmidt, Josef (2008): Oratorik – ein erfolgversprechendes Forschungsprojekt? – In: Feuchter, J., Helmrath, J. (Hgg.): Politische Redekultur in der Vormoderne. Die Oratorik europäischer Parlamente in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. – Frankfurt a.M. / New York: Campus, 23–44, hier 23; s. auch die Einleitung der Herausgeber, „Einleitung – Vormoderne Parlamentsoratorik“. – In: ebd., 9–22, bes. S. 15–19. Die perspektivische Schriftlichkeit humanistischer Rhetorik zeigte sich insbesondere in den Auseinandersetzungen mit der und um die Dialektik, vgl. Traninger, Anita (2010): Techniken des Agon: Zu Inszenierung, Funktion und Folgen der Konkurrenz von Rhetorik und Dialektik in der Frühen Neuzeit. – In: Jaumann, H. (Hg.): Diskurse der Gelehrtenkultur in der Frühen Neuzeit. – Berlin / New York: de Gruyter, 629–665. Tannen, Deborah (1988): The Commingling of Orality and Literacy in Giving a Paper at a Scholarly Conference. – In: American Speech 63/1, 34–43, hier 40.

Erzähler und persona

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2. Rhetorik und Literaturwissenschaft Eine gleichsam autoreflexive Betrachtung des Vortrags – denn in der Tat liegt diesem Beitrag ein solcher zugrunde, der seinerseits vorab schriftlich ausformuliert worden war – soll an dieser Stelle freilich nicht unternommen werden, vielmehr geht es um das, was die Rhetorik in ihrer spezifischen Verfasstheit zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit für die Literaturwissenschaft bzw., genauer, eines ihrer derzeit meistbearbeiteten und meistdebattierten Teilgebiete, die Narratologie, zu leisten imstande sein könnte. Rhetorik und Literaturwissenschaft, das ist heute eine wohletablierte Zwillingsbeziehung, ein gleichsam naturalisiertes Doppel, dessen Zusammengehörigkeit durchweg nicht in Frage gestellt wird. Das Skandalon einer Theorienovität oder eines Theorieimports in eine Disziplin pflegt freilich außerordentlich rasch in Vergessenheit zu geraten. Heinrich Plett hat 2001 in einem von Herbert Jaumann und anderen herausgegebenen Band zu den ‚Domänen der Literaturwissenschaft‘ die empörte Zurückweisung in Erinnerung gerufen, die der Rhetorik entgegenschlug, als sie von Heinrich Lausberg 1960 als systematisches Beschreibungsvokabular für die Literaturwissenschaft zu kodifizieren versucht wurde.7 Der (im Verhältnis zum historischen Systematisierungsgrad der Rhetorik in Tat überaus) technische Charakter des Buches schien der historisch-hermeneutischen Orientierung der Literaturwissenschaft zu widersprechen, von „Organismusästhetik und Geistesgeschichte“,8 wie Plett formuliert, ganz zu schweigen. Doch auch wenn eine als kleingeistig und regelpedantisch denunzierte Rhetorik nicht zur autonomen Ästhetik der Moderne passen wollte, so setzte sich doch die Erkenntnis durch, dass die Analyse von Texten der Vormoderne – des Mittelalters, der Renaissance, des âge classique wie des siglo de oro – nicht ohne das rhetorische Rüstzeug auszukommen vermag. Ernst Robert Curtius’ (gleichwohl an überzeitlichen Konstanten interessiertes) Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter (1948), Joachim Dycks Ticht-Kunst (1966), Wilfried Barners Barockrhetorik (1970) oder Volker Sinemus’ Poetik und Rhetorik im frühmodernen deutschen Staat (1978) bezeugen als frühe und wegweisende Exponenten diesen Paradigmenwechsel.9

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Vgl. Lausberg, Heinrich (1960): Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft. – München: Hueber (mittlerweile 4. Auflage Suttgart: Steiner 2008). Plett, Heinrich F. (2001): Rhetorik und Literaturwissenschaft. – In: Jaumann, H. u.a. (Hgg.): Domänen der Literaturwissenschaft. Tübingen: Stauffenburg, 87–101, hier 88. Plett erinnert auch daran, dass Kritik auch von Seiten der Rhetorikforschung geäußert wurde, die das Insinuieren einer Systematik monierten, die historisch so nie gegeben war. Plett (2001), 93.

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Und dennoch: In gewisser Weise ist der Unterricht in der rhetorischen Theorie, wie sie in den literaturwissenschaftlichen Fächern typischerweise, wenn überhaupt, gelehrt wird, vielfach nicht weniger anachronistisch als das, was an den mittelalterlichen Universitäten passierte, als die Rhetorik dort vermeintlich überwinterte, wie es Peter von Moos einmal genannt hat.10 Michael C. Leff hat hinsichtlich der artes des Trivium und ihres Stellenwerts im Mittelalter konstatiert, dass sie den schematisierenden, rein reflexiven und von ziviler Praxis entbundenen Interessen des Schulkontexts angepasst wurden und dass im Kontext der Universitätsausbildung die anwendungslose Kompetenz als solche privilegiert wurde.11 Wäre dieser Befund ganz falsch, würde er auf unsere Gegenwart gewendet? Wenn Brian Vickers von einer „inward-turning nature of medieval rhetoric“ spricht mit der Konsequenz, dass rhetorische Theorie zu einem „self-contained system“ und einer „intellectual structure“ wurde,12 was wäre dem aus heutiger literaturwissenschaftlicher Sicht – und ich betone, es geht mir um die ‚Normalliteraturwissenschaft‘,13 nicht um die Möglichkeiten, die sich an einem Rhetorischen Seminar wie in Tübingen bieten – entgegenzusetzen? Natürlich ist dies ein polemisch zugespitztes Argument; doch soll der Abschluss des Historischen Wörterbuchs der Rhetorik gerade nicht Anlass zu einer zelebratorischen Retrospektive sein, sondern vielmehr den Ausgangspunkt für die Entfaltung von Zukunftsperspektiven für die Rhetorik bilden. Daher nochmals die kritische Frage: Welche Relevanz haben denn die officia oratoris, die wir treu tradieren, für die zeitgenössische Literaturwissenschaft? Heinrich Pletts Befund: „Memorial- und Aktionalrhetorik, die ursprünglich für die Oralität des öffentlichen Redeauftritts konzipiert waren, besitzen […] einen geringen Stellenwert, es sei denn, man interpretiert erstere als ‚kulturelle Erinnerung‘ und letztere als ‚Medientheorie‘. Die klassische dispositio-Lehre ist zu wenig komplex, um einer literarischen Strukturalistik als Vorbild zu dienen. Es bleiben die Inventions- und die Elokutionsrhetorik. In der Tat, hier findet vorrangig die Aktualisierung der Rhetorik für die Literatur statt.“14 Gemeint sind damit die Topik, die in den letzten Jahrzehnten eine 10

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Moos, Peter von (2000): Die angesehene Meinung – Studien zum endoxon im Mittelalter II. – In: T. Schirren, G. Ueding (Hgg.): Topik und Rhetorik. Ein interdisziplinäres Symposium. – Tübingen: Niemeyer, 143–163, hier 160. Leff, Michael C. (1978): The Logician’s Rhetoric. Boethius’ De differentiis topicis, Book IV. – In: J. J. Murphy (Hg.): Medieval Eloquence. Studies in the Theory and Practice of Medieval Rhetoric. – Berkeley / Los Angeles / London: University of California Press, 3–24, hier 22f. Vickers, Brian (1988): In Defence of Rhetoric. – Oxford: Clarendon Press, 228. Den Ausdruck verwende ich im Sinn von Thomas Kuhns ‚normal science‘ oder, in der deutschen Übersetzung, ‚normale Wissenschaft‘, vgl. Kuhn, Thomas S. (1973): Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. – Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 28. Plett (2001), 97.

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große Karriere als Gegenstand in der Literatur- wie der Wissensgeschichte gleichermaßen machte, und die literarische Stilistik, in der die elocutio-Lehre aufgeht, die in der Praxis aber oftmals nicht weit über eine Stilfigurenenumeration in der Lyrikanalyse hinausreicht. Die Rhetorik hat mithin einen gewissen Rang im Theorierepertoire der Literaturwissenschaft, die ‚heißen‘ Theoriefelder freilich, an denen sich die Literaturwissenschaft abarbeitet, kommen weitestgehend ohne Rhetorik aus. Genau einem solchen Problemfeld möchte ich mich daher heute mit Blick auf eine mögliche Fruchtbarkeit der Rhetorik für das Neuperspektivieren eingefahrener Debatten widmen. Es ist dies die Narratologie, und das Ziel meiner Argumentation ist zu zeigen, dass für eines ihrer zentralen, seit Dekaden intensiv verhandelten, aber de facto festgefahrenen Probleme, jenes der Unterscheidung von Autor und Erzähler, mit einem Blick auf die historische mediale Pragmatik der Rhetorik neue Impulse gewonnen werden können.

3. Autor und Erzähler Es geht um die Frage, wer im literarischen Text spricht – und zwar mit Betonung auf ‚wer‘ und ‚spricht‘, denn beide Ausdrücke sind bereits Teil des Problems. Ist es der Autor, der lebensweltliche Texterzeuger, der uns, gegebenenfalls im Rückgriff auf seine individuelle Fabulierkraft, etwas mitteilt? Oder ist es eine textinterne Erzählerfigur, der die Aussagen zuzurechnen sind, zeichnet sich Literatur doch mehrheitlich durch erfundene und in der Wirklichkeit so nicht passierte und teils auch nicht mögliche Handlungsgänge aus, an denen ein Autor gewiss nicht teilhaben konnte, sodass sie von einer fiktiven Instanz erzählt sein müssen? Die moderne Narratologie optiert so nachhaltig für Letzteres, dass sich eine Begründung zumindest in ihren Lehrwerken zu erübrigen scheint – ein doppeltes Kommunikationssystem gilt schlechthin als konstitutiv für fiktionale narrative Texte: Die erzählenden Narrative unterscheiden sich von den mimetischen dadurch, dass die reale Kommunikation, die Autor, dargestellte Welt und Adressat umfasst, in der dargestellten Welt gleichsam wiederholt wird, als Konstellation von fiktivem Erzähler, erzählter Welt und fikti15 vem Adressaten.

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Schmid, Wolf (2005): Elemente der Narratologie. – Berlin / New York: de Gruyter, 72. Vgl. auch Genette, Gérard (2004): Récit fictionnel, récit factuel. – In: ders.: Fiction et Diction, précédé de Introduction à l’architexte. Paris: Éditions du Seuil, 141–168 und Cohn, Dorit (1990): Signposts of Fictionality: A Narratological Perspective. – In: Poetics Today 11/4, 775–804.

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Auch wenn der Erzähler als Kategorie der Literaturwissenschaft erst erstaunlich spät gegenüber dem Autor konturiert wurde – verwiesen wird zumeist auf Käte Friedemanns Berliner Dissertation von 1907 zur Stellung des Erzählers in der epischen Dichtung –,16 so ist doch die Unterscheidung von Autor und Erzähler so nachhaltig eingeführt, dass beispielsweise der Satz: „Am Anfang der Buddenbrooks zeigt der Autor die Mitglieder der Familie bei einem Festessen“ als charakteristischer Anfängerfehler gilt, der umgehend auszumerzen sei, wie Fotis Jannidis referiert. Im Sinn eines milden Initiationsritus in die Sprachgepflogenheiten der modernen Literaturwissenschaft werden Studierende dann stets korrigiert, dass es sich klarerweise um den Erzähler handle.17 Wie ist aber die Unterscheidung von Autor und Erzähler zu begründen? Eine erste, semantische Argumentationslinie knüpft die Disjunktion an die in der Regel fiktiven Gegenstände des fiktionalen Erzählens. Gérard Genette exemplifiziert dies an Balzacs Père Goriot: […] le narrateur du Père Goriot n’,est‘ pas Balzac, même s’il exprime çà ou là les opinions de celui-ci, car ce narrateur-auteur est quelqu’un que ,connaît‘ la pension Vauquer, sa tenancière et ses pensionnaires, alors que Balzac, lui, ne fait que les imaginer: et en ce sens, bien sûr, la si18 tuation narrative d’un récit de fiction ne se ramène jamais à sa situation d’écriture.

In genau dem Sinn argumentiert Felix Martínez-Bonati für die unüberwindliche logische Distanz zwischen fiktiver und realer Welt: „The author, a real being, is not and cannot be part of an imaginary situation. Author and work are separated by the abyss that separates the real from the imaginary. Consequently, the author of works of narrative is not the narrator of these works.“19 Nun ist die fiktionale Rede aber nicht allein und nicht einmal primär durch ihre Gegenstände bestimmt. Vielmehr zeichnen sich fiktionale Texte dadurch aus, so eine zweite, pragmatische Argumentationslinie, dass sie von der Frage nach Wahrheit oder Lüge entbunden sind und einem Diskurs eigenen Rechts zugehören. Mit der Erzähler wird vor diesem Hintergrund und um dieser Setzung ein strukturelles Komplement zu geben eine Zurechnungsinstanz konstruiert, der die gegebenenfalls fabulösen oder auch skandalösen Aussagen eines Textes zuzuschreiben sind, wodurch zugleich der Autor auf den eigentlichen Wortsinn des Schöpfers oder, neudeutsch, einer Vertextungsinstanz, 16

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Friedemann, Käte (1908): Untersuchungen über die Stellung des Erzählers in der epischen Dichtung. – Stuttgart: Union Deutsche Verlagsgesellschaft (Diss. Berlin 1907). Jannidis, Fotis (2002): Zwischen Autor und Erzähler. – In: Detering, H. (Hg.): Autorschaft. Positionen und Revisionen. – Stuttgart / Weimar: Metzler, 540–556, hier 540. Genette, Gérard (2007): Discours du récit. Essai de méthode. – In: ders.: Discours du récit. – Paris: Éditions du Seuil, 9–290, hier 221 (erstmals in: ders.: Figures III. – Paris: Éditions du Seuil 1972, 65–273). Martínez-Bonati, Felix (1981): Fictive Discourse and the Structures of Literature. A Phenomenological Approach – Ithaca/London: Cornell University Press 1981, 85.

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reduziert wird. Dem Autor ist, so die These, dann keine Falschaussage zuzurechnen, wenn textintern eine Zurechnungsinstanz angesetzt wird. Dieses Ausschalten des eigentlichen Verfassers und das theoriegeleitete Ansetzen einer textinternen Instanz, deren Vorhandensein sich an Textmerkmalen nicht immer – andere sagen: kaum je – nachweisen lässt, wurde natürlich kritisiert. Ich will nur wenige Positionen herausgreifen. Klaus Weimar hält den Begriff des Erzählers für illusionär, weil die Narratologie nicht zeigen könne, wo im Text denn dieser Erzähler sei.20 Eine Gruppe von Literaturwissenschaftler/innen um Fotis Jannidis und Simone Winko plädiert seit einiger Zeit für die „Rückkehr des Autors“,21 und Andreas Kablitz hat jüngst darauf bestanden, dass der Erzähler sich „bei näherem Zusehen im Grunde als nichts anderes denn eine Reihe von Lizenzen [erweist], über die ein Autor fiktionaler Texte verfügt, allen voran die Entbindung von der Verpflichtung auf die Wahrheit seiner Aussagen.“22 Den Erzähler scheint auch Käte Hamburger abzulehnen, doch ihre Position ist differenzierter: Sie argumentiert, dass allein für die Ich-Erzählsituation oder, in Genettes Terminologie, den homodiegetischen Erzähler, der selbst Figur in seiner Geschichte ist, die Bezeichnung ‚Erzähler‘ gerechtfertigt sei. Denn wenngleich es im Fall der Er-Erzählung „terminologisch bequem [sei], sich bei der Beschreibung einer erzählenden Dichtung des personifizierenden Ausdrucks zu bedienen“, handle es sich bloß „um mehr oder weniger adäquate metaphorische Scheindeskriptionen“. Dies bedeutet freilich nur, dass Hamburger die Konturierung der ‚Erzählfunktion‘, wie ihr Terminus lautet, als figürlicher Erzähler zurückweist – der Autor ist auch in ihrer Konzeption nicht Aussagesubjekt des fiktionalen Textes.23 Daraus folgt weiterhin, dass die Frage nach der Erzählinstanz eine strukturelle und in keiner Weise davon abhängig ist, ob im fiktionalen Text eine distinkte Erzählerfigur konturiert oder gar deklariert wird. Die Unterscheidung von Autor und Erzähler sei, so Klaus Hemp-

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Weimar, Klaus (1994): Wo und was ist der Erzähler? – In: MLN 109, 495–506, hier 500. Vgl. dagegen das revisionistische Plädoyer von Jannidis, F., Lauer, G., Martinez, M., Winko, S. (Hgg.) (1999): Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs. – Tübingen: Niemeyer. Kablitz, Andreas (2008): Literatur, Fiktion und Erzählung – nebst einem Nachruf auf den Erzähler. – In: Rajewsky, I. O., Schneider, U. (Hgg.): Im Zeichen der Fiktion. Aspekte fiktionaler Rede aus historischer und systematischer Sicht. Festschrift für Klaus W. Hempfer zum 65. Geburtstag. – Stuttgart: Steiner, 13–44, hier 32. Hamburger, Käte (31977): Die Logik der Dichtung. – Frankfurt a.M. / Berlin / Wien: Ullstein, 123–128.

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fer, nicht Voraussetzung, sondern Konsequenz des Erkennens der Fiktionalität eines Textes.24 Trotz der Betonung, dass es sich beim Erzähler um eine Funktion des fiktionalen Textes handle, trotz Barthes’ schöner Formulierung, der Erzähler sei (genau wie die Figuren) ein „être de papier“25 und trotz der von Genette vorgetragenen (allgemein auf die Elemente seiner Narratologie bezogenen) Warnung, dass man sich vor der Substantialisierung von Textrelationen dringend hüten möge,26 hat sich der Erzähler im narratologischen Diskurs (und darüber hinaus) zu einer regelrechten Entität materialisiert – allein schon in terminologischer Hinsicht. Den Extrempunkt dieser Entwicklung markiert eine Hypostasierung des Erzählers dahingehend, dass eine literarische Erzählung nicht eine Geschichte kommuniziere, sondern, wie Fotis Jannidis formuliert, „jemanden, der eine Geschichte kommuniziert.“27 Dies scheint mir freilich eine allzu selbstbewusste Projektion literaturwissenschaftlicher Interessenlagen auf den allgemeinen Literaturkonsum zu sein: Es scheint doch eher unwahrscheinlich, dass der Akt des Erzählens für Leserinnen und Leser das primär Interessante am literarischen Text ist oder überhaupt als solcher stets bewusst wahrgenommen wird. Woher kommt aber diese Neigung zur Anthropomorphisierung des Erzählers, die durch Textbefunde kaum je zu rechtfertigen ist? Sogar Genette, dessen Warnung vor der Substantialisierung von Terminologie ich gerade zitiert habe, kommt nicht umhin, in personalen Begriffen zu formulieren: „Dans le récit le plus sobre, quelqu’un me parle, me raconte une histoire, m’invite à l’entendre comme il la raconte, et cette invite […] constitue une indéniable attitude de narration, et donc de narrateur.“28 Hier greift eine Naturalisierung, die jeder textuell vorliegenden Äußerung konventionell einen – in der Regel menschengestaltigen – Sprecher zuweist und so auf der Grundlage des Narrationsakts im Text eine zumindest dem Terminus nach physisch gedachte, zumeist, d.h. bis 24

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S. Hempfer, Klaus W. (2002): Zu einigen Problemen der Fiktionstheorie. – In: ders.: Grundlagen der Textinterpretation, hg. von S. Hartung. – Stuttgart: Steiner, 107–133, hier 120 (zuerst in Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 100 (1990), 109–137). Barthes, Roland (1966): Introduction à l’analyse structurale des récits. – In: Communications 8, 1–27, 19. „On se gardera toutefois d’hypostaser ces termes, et de convertir en substance ce qui n’est à chaque fois qu’un ordre de relations.“ Genette, Gérard (2007): Discours du récit. Essai de méthode. – In: ders.: Discours du récit. – Paris: Éditions du Seuil, 9–290, hier 20 (erstmals in: ders.: Figures III. – Paris: Éditions du Seuil 1972, 65–273). Jannidis (2002), 546. Hierzu auch Nünning, Ansgar (2001): Mimesis des Erzählens. – In: Helbig, J. (Hg.), Erzählen und Erzähltheorie im 20. Jahrhundert. Festschrift für Wilhelm Füger, Heidelberg: Winter, 13–47. Genette, Gérard (2007a): Nouveau Discours du récit. – In: ders.: Discours du récit. – Paris: Éditions du Seuil, 291–425, hier 373 (erstmals Paris: Éditions du Seuil 1983).

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zu einer explizit gegenteiligen Angabe im Text, auch männlich gegenderte Origo des Diskurses imaginiert.29 Es ist eine habitualisierte Konvention, dass Rede mit einem Sprecher verknüpft wird, auch wenn sie schriftlich und von jeder direkten Interaktion entkoppelt ist. Jonathan Culler hat darauf hingewiesen, dass diese Naturalisierung der eigentlich abstrakten Narration Teil des Fiktionsbildungsprozesses ist.30 Zentral erscheint mir dabei Susan Lansers Präzisierung: sie betrachtet das nachgerade automatisierte Personifizieren ‚des‘ Erzählers als Effekt einer Konvention, die die mediale Differenz zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit überspielt: „narratives have narrators because Western literature has continued to construct reading and listening in speakerly terms.“31 Der Umstand, dass fiktionale narrative Texte in den Kategorien des mündlichen Gesprächs aufgefasst werden, erscheint zunächst wie eine Kompensation eines Defizits, das in der „der pragmatischen Leere, […] der Situationsabstraktheit, ja Situationslosigkeit […] fiktionaler Rede“32 besteht. Dies ist freilich kein rein fiktionstheoretisches Problem, sondern ein genuin mediales. Jeder schriftliche Text steht in Distanz zu seinem Verfasser und ist damit autonom, wie Walter Ong gezeigt hat: „Writing establishes what has been called ‚context-free‘ language or ‚autonomous‘ discourse, discourse which cannot be directly questioned or contested as oral speech can be because written discourse has been detached from its author.“33 29

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Vgl. dazu Lanser, Susan Sniader (1981): The Narrative Act: Point of View on Prose Fiction. – Princeton: Princeton University Press, bes. 167, die Einwände von Culler, Jonathan (1984): Problems in the Theory of Fiction. – In: Diacritics 14/1 (1984), 2–11, sowie weiters Lanser, Susan Sniader (1992): Fictions of Authority. Women Writers and Narrative Voice. – Ithaca / London 1992, 3–24. Culler (1984), 6; vgl. auch Rajewsky, Irina O. (2008): Diaphanes Erzählen. Das Ausstellen der Erzähl(er)fiktion in Romanen der jeunes auteurs de Minuit und seine Implikationen für die Erzähltheorie. – In: Rajewsky, I. O., Schneider, U. (Hgg.): Im Zeichen der Fiktion. Aspekte fiktionaler Rede aus historischer und systematischer Sicht. Festschrift für Klaus W. Hempfer zum 65. Geburtstag. – Stuttgart: Steiner, 327–364, bes. 338f. Lanser (1992), 4, Anm. 3, Den Hinweis auf diese Stelle verdanke ich Jannidis (2002), 544, Anm. 10. Warning, Rainer (1983): Der inszenierte Diskurs. Bemerkungen zu einer pragmatischen Relation der Fiktion. – In: Henrich, D., Iser, W. (Hgg.): Funktionen des Fiktiven, München: Fink (Poetik und Hermeneutik X), 183–206, hier 191. Ong, Walter J. (2002): Orality and Literacy. – London / New York: Routledge, 77. Den Begriff ‚context-free‘ bezieht Ong von Hirsch, E.D. jr. (1977): The Philosophy of Composition. – Chicago / London: University of Chicago Press, 21: „The chief distinction between oral and written speech, when the two are considered from a functional point of view, is the absence, in writing, of a definite situational context. Oral speech normally takes place in an actual situation that provides abundant nonlinguistic clues to the speaker’s intended meaning.“ Der Begriff des ‚autonomous discourse‘ stammt von David R. Olson, vgl. Olson, David R. (1977): From Utterance to Text: The Bias of Language in Speech and Writing. – In: Harvard Educational Review

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Umso bemerkenswerter ist, dass nicht allein der Erzähler als Akteur in einer mündlichen Kommunikationssituation imaginiert wird; zur Konturierung des Phänomens der Fiktion insgesamt werden nicht allein faktuale Texte herangezogen, sondern auch der sogenannte ‚natural discourse‘, Situationen mündlichen Erzählens. Fiktionale Texte werden so zum einen als in einem Als ObVerhältnis zu anderen, ihrerseits von teilweise elaborierten Konventionen und Normen gesteuerten Diskursen – wie beispielsweise der Geschichtsschreibung oder der (Auto-)Biographik – stehend aufgefasst. Klaus W. Hempfer hat diesbezüglich argumentiert, „daß sich fiktionale Texte über eine bestimmte Menge von Strukturen konstituieren, die sie hinsichtlich dieser Strukturen isomorph zu bestimmten Typen nichtfiktionaler Diskurse erscheinen lassen, daß sie aber gleichzeitig über Strukturen verfügen, die diese Isomorphie als eine nur scheinbare ausweisen.“34 Dabei explizit mitgemeint sind alltägliche lebensweltliche Sprachhandlungen wie das Erzählen von selbst erlebten oder miterlebten Geschichten, wenngleich die Möglichkeiten des Romans (z.B. ‚allwissender‘ Erzähler) jene der mündlichen Erzählung grundsätzlich übersteigen. Die Analogisierung insbesondere des Romans mit alltagsweltlichen Erzählvorgängen – wobei die Problematisierung von Differenzen tendenziell in den Hintergrund rückt – steht im Zentrum von ganz unterschiedlichen Ansätzen zur Beschreibung fiktionaler Texte. Barbara Herrnstein Smith hat literarische Narrative als Imitationen lebensweltlicher Erzählsituationen beschrieben, wobei der ‚natural discourse‘ gegenüber dem ‚fictive discourse‘ definiert wird als „all utterances […] that can be taken as someone’s saying something, somewhere, sometime, that is, as the verbal acts of real persons on particular occasions in response to particular sets of circumstances”.35 Der Roman als solcher stehe in einer Darstellungsbeziehung zu ‚natürlichen‘ Erzählungen: „[…] in a novel or tale, it is the act of reporting events, the act of describing persons and referring to places, that is fictive. The novel represents the verbal action of a man reporting, describing, referring.“36 Folglich wird dem fiktiona-

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47, 257–281; ders. (1980): On the Language and Authority of Textbooks. – In: Journal of Communication 30/4, 186–196. Vgl. auch: „Outside drama, in narrative as such, the original voice of the oral narrator took on various new forms when it became the silent voice of the writer, as the distancing effected by writing invited various fictionalizations of the decontextualized reader and writer.“ Ong (2002), 145 sowie Ong, Walter J. (1975): The Writer’s Audience is Always a Fiction. – In: PMLA 90/1, 9–21, wieder in Ong (1977), 53–81. Hempfer (2002), 124. Smith, Barbara Herrnstein (1979): On the Margins of Discourse: The Relation of Literature to Language. – Chicago: University of Chicago Press, 15. Smith (1979), 29. Hervorhebungen im Original. – Mündliche Sprechakte zieht im übrigen auch John Searle als Referenzmodelle für seine Fiktionstheorie heran, doch geht es ihm nicht um mündliche Erzählvorgänge, vgl. Searle, John R. (1975): The Logical Status of Fictional Discourse. – In: New Literary History 6/2, 319–332. Vgl. dazu auch Traninger, Anita (2008): Hans

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len Erzähltext eine Eingebundenheit in einen fiktiven menschlichen Interaktionskontext zugeschrieben, die er typischerweise gerade nicht ausweist. Die Fiktionalität ergebe sich aus der Fiktion einer Sprecherinstanz im Text, die mündliche Erzählung sei demgegenüber eine, in der der Erzähler für seine Geschichte einsteht, wie Wolfgang Rösler argumentiert: Ein physisch anwesendes Individuum – so nehmen es die Beteiligten an – steht persönlich für seine Worte ein; der Betreffende verbürgt sich, insofern er – die folgenden Wendungen sind bezeichnend – ‚greifbar‘ ist und gegebenenfalls zur Rede ‚gestellt‘, beim Wort ‚genommen‘ 37 werden kann, für die zumindest subjektive Wahrheit dessen, was er sagt – oder er lügt!

Weitere Ansätze, die Fiktionalität auf der Grundlage erzählender Mündlichkeit modellieren, das Mündliche aber nicht so zwingend faktual fassen, sind u.a. Mary Louise Pratts einflussreiche Studie Toward a Speech Act Theory of Literary Discourse und Monika Fluderniks natural narratology. Pratt zieht in Absetzung von formalistischen Ansätzen, die ausschließlich auf Textstrukturen fokussieren, mündliche Erzählsituationen als Modell heran, um für eine pragmatische Situiertheit schriftlicher Erzähltexte zu argumentieren. Ihren Zentralbegriff des ‚display narrative‘, der den reinen Bericht übersteigt und auf eine imaginierende und affektive Involvierung des Hörers abzielt, knüpft sie an das Kriterium der ‚tellability‘, „[which] characterizes an important subclass of assertive or representative speech acts that incluces natural narrative, an enormous proportion of conversation, and many if not all literary works.“38 Fludernik schließlich sieht mündliches und schriftlich-literarisches Erzählen über Kategorien wie ‚experientiality‘ und ‚narrativity‘ verbunden, die als quer zur Unterscheidung von fiktionalen und faktualen Texten stehend gefasst werden.39 Es ist jedoch insgesamt bemerkenswert, dass die Literaturwissenschaft, wo sie die Mechanismen des Erzählens theoretisch zu erfassen ansetzt, die hochelaborierten Narrationsmodi der modernen Literatur bevorzugt mit dem Typus

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Vaihingers Philosophie des Als Ob und die literaturwissenschaftliche Fiktionalitätstheorie – Stationen produktiven Missverstehens. – In: Rajewsky, I. O., Schneider, U. (Hgg.): Im Zeichen der Fiktion. Aspekte fiktionaler Rede aus historischer und systematischer Sicht. Festschrift für Klaus W. Hempfer zum 65. Geburtstag. – Stuttgart: Steiner, 45–66. Rösler, Wolfgang (21993): Schriftkultur und Fiktionalität. Zum Funktionswandel der griechischen Literatur von Homer bis Aristoteles. – In: Assmann, A., Assmann, J., Hardmeier, Ch. (Hgg.): Schrift und Gedächtnis. – München: Fink (Archäologie der literarischen Kommunikation 1), 109–122, hier 118f. Pratt, Mary Louise (1977): Toward a Speech Act Theory of Literary Discourse. – Bloomington / London: Indiana University Press. Fludernik, Monika (1996): Towards a ‚Natural‘ Narratology. – London / New York: Routledge. S. auch Fludernik, Monika (2001): Fiction vs. Non-Fiction. Narratological Differentiations.– In: Helbig, J. (Hg.): Erzählen und Erzähltheorie im 20. Jahrhundert. Festschrift für Wilhelm Füger. – Heidelberg: Winter, 85–103.

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der mündlichen Alltagserzählung kontrastiert, um die Charakteristika der ersteren herauszuarbeiten. Zugrundeliegende Präsupposition scheint zu sein, dass Menschen sich immer schon Geschichten erzählt haben, dass dies Geschichten über sich selbst und ihr Erlebtes gewesen seien, und dass diese anthropologische Grundkomponente des Erzählens die Basis für das bilde, was wir Literatur nennen. Es sind Fassungen einer ‚natürlichen‘, weil als alltäglich verstandenen Mündlichkeit, die die genannten Ansätze trotz aller Unterschiede prägen. An die Stelle der Bestimmung narrativer Fiktionalität unter Bezugnahme auf kolloquiales Erzählen müsste aber, so will ich im Folgenden argumentieren, die Rückkopplung elaborierter Typen von Narration, wie sie im realistischen Roman seit dem 19. Jahrhundert voll zur Ausprägung kamen, an historische Genealogien eines technisch (im Sinne einer ars) geformten Erzählens treten. Wesentliche Stationen in dieser Genealogie sind zunächst Verfahren und Typen einer vielschichtigen rhetorischen Mündlichkeit, die weit entfernt ist von dem, was als gleichsam anthropologisch konstantes geselliges Erzählen imaginiert wird – ich komme gleich ausführlicher darauf zurück. Damit wird für die Narratologie nur gefordert, was in anderen Theoriebereichen, sei es der Gattungstheorie und -geschichte, sei es der Intertextualitätsforschung, unbestritten etablierter Grundsatz ist: Literatur und mit ihr fiktionale Erzähltexte werden im Dialog mit vorgängiger Literatur produziert – und eben nicht in stets neu auszuhandelnden Absetzbewegungen von alltäglichen Kommunikationsformen. Die Narratologie arbeitet systematisch und hat tendenziell Schwierigkeiten bzw. auch wenig Interesse daran, ihre Beobachtungen und Urteile über die Kommunikationssituation von Texten historisch herzuleiten. Dementsprechend skizzenhaft, mit Verweis auf das dringende Forschungsdesiderat, fallen diese Abschnitte der einschlägigen Darstellungen aus. Bezeichnend ist eine rezente Debatte über das Konzept des Erzählers: Sylvie Patron attackierte Uri Margolins entsprechenden Eintrag im Living Handbook of Narratology in einer scharfen Kritik als „a-historical“, um dann zum einen selbst ihre Entgegnung zum einen allein am Auftauchen des Ausdrucks Erzähler/narrateur festzumachen; zum anderen sind die (wenigen) Belege, die sie beibringen kann, auf das 19. Jahrhundert beschränkt.40

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Margolin, Uri (2012): Narrator. – In: Hühn, Peter et al. (Hgg.): The living handbook of narratology. – Hamburg: Hamburg University Press, http://hup.sub.uni-hamburg.de/lhn/index. php?title=Narrator&oldid=1794; Patron, Sylvie (2012): Discussion: Narrator. – In: ebd.,

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Es ist nun an der Rhetorikforschung, so meine These, hier für die notwendige historische Perspektivierung zu sorgen.

4. Rhetorik und Narratologie Ich habe eingangs behauptet, dass die aktuelle Literaturwissenschaft in ihrer Theoriebildung weitestgehend ohne die Rhetorik auskommt. Nun mag man einwenden, dass doch beispielsweise in Wayne Booths einflussreicher Schrift The Rhetoric of Fiction die Rhetorik prominent im Titel figuriere. Booth versteht allerdings ‚Rhetorik‘ in einem allgemeinsten und von jeder technischen Tradition losgelösten Sinn als „the art of communicating with readers“,41 nicht ohne freilich die Konnotation des Regelpedantischen, die der historischen Rhetorik in der Moderne anhaftet, zurückzuweisen – und sie sich so auch zu eigen zu machen: „In treating technique as rhetoric, I may seem to have reduced the free and inexplicable processes of the creative imagination to the crafty calculations of commercial entertainers.“42 Die wenigen Anhaltspunkte, die Booth in seinem Vorwort zu einem der beiden Kernbegriffe seines Titels, der Rhetorik, gibt, sind geeignet, eine grundsätzliche Berührungsangst mit der

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http://hup.sub.uni-hamburg.de/lhn/index.php?title=Talk:Narrator&oldid= 1551 [zuletzt eingesehen am 06.12.2012]. Für den Hinweis auf die Debatte danke ich Irina Rajewsky. Patron geht es u.a. darum, dass die Anthropomorphisierung des Erzählers bereits die frühesten Diskussionen prägte. Sie führt eine Stelle aus Anna Laetitia Barbaulds biographischer Einführung in die Korrespondenz Richardsons von 1804 sowie das Vorwort von Balzacs Le Lys de la vallée als Belege für die Diskussion des Erzählerbegriffs an, vgl. Balzac, Honoré de (1978): La Comédie humaine. IX. Études de mœurs: Scènes de la vie de campagne, hg. von P.-G. Castex.– Paris: Gallimard 1978 (Bibliothèque de la Pléiade), 915f., Préface de la publication préoriginale et de l’édition originale, 1835–1836: „Mais le moi n’est pas sans danger pour l’auteur. Si la masse lisante s’est agrandie, la somme de l’intelligence publique n’a pas augmenté en proportion. Malgré l’autorité de la chose jugée, beaucoup de personnes se donnent encore aujourd’hui le ridicule de rendre un écrivain complice des sentiments qu’il attribue à ses personnages; et s’il employe le je, presque toutes sont tentées de le confondre avec le narrateur.” S. dazu auch Patron, Sylvie (2009): Le Narrateur. Introduction à la théorie narrative. – Paris: Armand Colin, 12–14. Vgl. auch Patrons jüngsten Aufsatz, der im Titel einen vielversprechenden Hinweis auf Erzählen vor 1850 trägt, im Text aber kaum auf die historische Dimension eingeht: Patron, Sylvie (2010/2011): Narrative Fiction before 1850: Instances of Refutation for Poetic Theories of Narration? – In: Amsterdam International Electronic Journal for Cultural Narratology 6, http://cf.hum.uva.nl/narratology/a11_sylvie_patron.htm. Booth, Wayne C. (1961): The Rhetoric of Fiction. – Chicago / London: The University of Chicago Press, Preface, o. Pag., [1]. Booth (1961), Preface, o. Pag., [2].

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Rhetorik als kalkuliertes und kalkulierendes Persuasionsinstrument zu illustrieren. Die eigentliche, implizite Aussage zur Bedeutung der Rhetorik (im Sinne des hergebrachten Theoriegebäudes) für Booths Theoriebildung liefern dann seine Ausführungen selbst: sie steht auf Null. Abseits der allgemeinsten Maxime der Wirkungsorientierung trägt die Rhetorik nichts zur Aufschlüsselung der Fiktion bei. In Richard Walshs The Rhetoric of Fictionality, das bereits mit dem Titel ein Signal des Anschließens an Booth setzt, ist ‚Rhetorik‘ das Codewort für eine allen Ausführungen zugrundegelegte Einbettung des narrativen fiktionalen Texts in einen kulturellen Kontext und seine Kommunikationsfunktion zwischen Autor und Publikum.43 Rhetorik ist damit bei Walsh ein Etikett für eine Herangehensweise und ein Kampfbegriff gegen formalistische Ansätze; die Arbeit selbst kommt ohne Auseinandersetzung mit rhetorischer Terminologie oder Theorie aus. Jüngst von Gunther Martens vorgelegte Arbeiten schließlich führen ebenfalls die Rhetorik im Titel, ziehen aber allein in einem systematischen Sinn Begriffe aus der Tropenlehre heran, um der eingeführten narratologischen Terminologie Konzepte für die Beschreibung des Nicht-Ereignishaften im Erzähltext an die Seite zu stellen.44 Was kann also die Rhetorik, in einem umfassenderen Sinn als in den genannten Arbeiten verstanden, für die Narratologie leisten? Ich will im Folgenden vorschlagen, neben der rhetorischen Systematik, wie sie seit den Lehrbüchern der Herennius-Rhetorik und Ciceros De inventione kultiviert wird, sowohl die Geschichte der mündlichen Praxis der Rhetorik als auch ihr Eingehen in schriftliche Erzählformen in Betracht zu ziehen. Eine prominente Phase der Übergänglichkeit zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit und der komplexen Hybridisierung beider ist in der römischen Kaiserzeit und in der Zweiten Sophistik auszumachen. Wesentliche Verfahren schriftlicher Erzähltexte stammen aus dem Instrumentenkasten der kaiserzeitlichen Rhetorik, allen voran der Deklamation. Wie Simon Goldhill überzeugend dargestellt hat, verstellt die anachronistische Projektion des Begriffs ‚Literatur‘ auf die antiken Gegebenheiten den Blick darauf, dass Dichtung auf das engste mit anderen 43

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Walsh, Richard (2007): The Rhetoric of Fictionality. Narrative Theory and the Idea of Fiction. – Columbus: The Ohio State University Press; eine Zusammenfassung des Arguments gegen den Erzähler auf S. 84. Martens, Gunther (2007): „Narrative Notability and Discourse Events between Rhetoric and Narratology”. – In: Amsterdam International Electronic Journal for Cultural Narratology 4, http://cf.hum.uva.nl/narratology/a07_martens.htm; sowie Martens, Gunther (2008): „Extending and Revising the Scope of the Rhetorical Approach to Unreliable Narration”. – In: D’hoker, E., Martens, G. (Hgg.): Narrative Unreliability in the Twentieth-Century First-Person Novel. – Berlin: de Gruyter, 77–105.

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Formen schriftlicher und mündlicher Textproduktion verbunden war.45 So gerät leicht aus dem Blick, dass in hellenistischer Zeit die Rhetorik der sogenannten zweiten Sophistik im Begriff war, in eine fiktionale Schriftlichkeit umgemünzt und eingespeist zu werden. Damit im Zusammenhang steht, dass umgekehrt die Rhetorik selbst das griechisch-römische textuelle Erbe zu reflektieren und als Muster und Instanzen der Geschmacksbildung des angehenden Redners in Betracht zu ziehen gewillt ist, wie es prominent im 10. Buch von Quintilians Institutio oratoria geschieht. Hier ist der Ort, von dem aus die Rhetorikforschung fruchtbar und auf neue Weise in die Theoriediskussion der Literaturwissenschaften einrücken kann.

5. Die rhetorische persona Die rhetoriksystematische Schlüsselstelle für die Frage nach der Genese des Erzählers ist nicht in den Filiationen der officia zu finden, sondern gleichsam auf einer übergeordneten Ebene, jener der rhetorischen Pragmatik. Passenderweise ist ihr konzeptueller Kern (noch in republikanischer Zeit) in der Definition des orator perfectus in Ciceros De oratore verankert worden. Der vollkommene Redner sei nicht nur, dem Diktum des älteren Cato folgend, ein „vir bonus dicendi peritus“, sondern er verfüge über die Kompetenz, beide Seiten einer Sache, also das pro und das contra, gleich überzeugend zu argumentieren: sin aliquis existerit aliquando, qui Aristotelico more de omnibus rebus in utramque partem possit dicere et in omni causa duas contrarias orationes, praeceptis illis cognitis, explicare aut hoc Arcesilae modo et Carneadi contra omne, quod propositum sit, disserat, quique ad eam rationem adiungat hunc rhetoricum usum moremque exercitationemque dicendi, is sit verus, is perfectus, is solus orator. Wenn aber einmal jemand auftritt, der über alle Fragen nach der Art des Aristoteles im positiven und im negativen Sinn reden und in Kenntnis seiner Regeln in jedem Fall zwei Reden, die sich widersprechen, halten kann oder so wie Arkesilaos und Karneades die Gegenposition zu allem, was man ihm vorlegt, vertritt und der mit diesem methodischen Verfahren noch die entsprechende rhetorische Erfahrung und Praxis in der Redekunst verbindet, so wäre er in Wahr46 heit, er in vollem Sinn und er allein ein Redner.

Diese zentrale Anforderung des in utramque partem dicere impliziert notwendig, dass das Ziel der Persuasion von allfälligen persönlichen Überzeugungen

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Goldhill, Simon (1999): History without Literature: Reading Practices in the Ancient World. – In: SubStance 28/1, 57–89, hier 84. Cic. De or. III, 80; Hervorhebung von mir.

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und Werthaltungen entkoppelt wird. Dieser Habitus distanzierter Parteinahme bedeutet eine Disjunktion von rhetorisch Agierendem, von Überzeugung herstellendem Redner, und lebensweltlicher Person. In der Rhetorik der Kaiserzeit wird diese Disjunktion vollgültig ausgebildet in ein Konzept der rhetorischen persona.47 Ausformuliert wurde dies im Zusammenhang mit der Deklamation, die nicht nur von George A. Kennedy zum „most important rhetorical phenomenon of the [Roman] Empire“ erklärt wurde,48 sondern die eine genuine Erfindung der Kaiserzeit war. Sie war zum einen ein Typus von Schulrede zum Einüben in das iudiciale und das deliberative Genus, zum anderen aber auch eine lebenslang geübte Praxis der Performanz, zwischen Kultivierung des römischen Wertesystems, self-fashioning und Unterhaltung.49 Das überlieferte Corpus von Deklamationen ist überaus schmal, doch gibt die Sammlung ausgewählter Stellen in den Controversiae et suasoriae Senecas des Älteren wesentliche Anhaltspunkte für die Rekonstruktion der Praxis. Wie der Titel nahelegt, sind declamationes entweder fiktive Plädoyers in fiktiven Gerichtsfällen (controversiae) oder aber fiktive Beratungsreden, oftmals in historischen Entscheidungssituationen (Ratschläge in Fragen des Typs „Soll Hannibal über die Alpen ziehen?“, suasoriae). Beide Konstellationen erfordern das Annehmen einer persona, einmal jener des Anwalts, einmal jener des politischen Beraters. Bei den Suasorien geht darum, in einer Entscheidungsfrage entweder pro oder contra, in einem fingierten Gerichtsprozess darum, entweder für den Kläger oder den Angeklagten zu argumentieren; Ziel war es aber natürlich, beide Seiten mit gleicher Überzeugungskraft vertreten zu können – das ist das Ideal des in utramque partem disserere.

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Vgl. demgegenüber Fuhrmanns Ausführungen über die persona als soziale Rolle in der Republik: Fuhrmann, Manfred (1982): Persona, ein römischer Rollenbegriff. – In: ders.: Brechungen. Wirkungsgeschichtliche Studien zur antik-europäischen Bildungstradition. – Stuttgart: Klett-Cotta, 21–46, 199–206. Im gleichen Sinne Guérin, Charles (2011): Persona. L’élaboration d’une notion rhétorique au Ier siècle av. J.-C. Bd. 1. Antécedents grecs et première rhétorique latine. Bd. 2. Théorisation cicéronienne de la persona oratoire. – Paris: Vrin. Es geht um eine Diskussion des ethos des Redners, damit im Zusammenhang Rednerideal und Rednerpersönlichkeit. Die persona ist hier explizit nicht verstanden als eine anzunehmende fiktive Rolle. In der Wissens- und Wissenschaftsgeschichte macht der Begriff der persona jüngst ebenfalls Karriere, aber wiederum nicht im Sinne einer textinternen Zurechnungsintanz, sondern als Habitus, vgl. Daston, Lorraine, Sibum, H. Otto (2003): Introduction: Scientific Personae and Their Histories. – In: Science in Context 16/1–2, 1–8. Kennedy, George A. (1980): Classical Rhetoric and Its Christian and Secular Tradition from Ancient to Modern Times. – Chapel Hill: University of North Carolina Press, 103. Vgl. Bonner, Stanley F. (1949): Roman Declamation in the Late Republic and Early Empire. – Liverpool: Liverpool University Press; Russell, Donald A. (1983): Greek Declamation. – Cambridge u.a.: Cambridge University Press. S. auch Quint. II, 10, 1–15 und X, 5, 14–18.

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Während die suasoria sich in einer linearen Argumentation, möglicherweise in der Rolle einer historischen Person (vgl. Quint. III, 8, 52), mit allfälligen Apostrophen an das Publikum erschöpfte, erforderte die controversia die Simulation einer Reihe von Rollen und Perspektiven.50 Normalerweise wurde ein Fall vorgegeben, und der Deklamator wählte dann, welche Seite er vertreten wolle (vgl. Quint. IV, 1, 46). In den meisten Kontroversien tritt damit der Redner entweder als Beschuldigter auf oder aber als Opfer. Es gibt aber auch die Situation, dass der Redner als Anwalt auftritt, als patronus; dies ist insbesondere (aber nicht ausschließlich) dann der Fall, wenn Frauen Anklage erheben, weil Frauen auch in der Realität nicht selbst öffentlich das Wort ergreifen würden. Wenn der Deklamator als patronus auftrat, war es üblich, dass er seinen Klienten durch direkte Zitate zu Wort kommen ließ. In seiner Rede ‚spielte‘ der Deklamator dann unterschiedliche Rollen, er simulierte einerseits den Anwalt, andererseits dessen Klienten – das konnten in der Tat mehrere sein, nachdem zum Beispiel die Konstellation gegeben sein konnte, dass drei Söhne ihren Vater verklagen.51 Es ist die controversia, die ein historisches Bindeglied zur Herausbildung fiktionaler Erzählliteratur darstellt. Das Bemerkenswerte an diesen Reden ist, dass nicht nur die zugrunde gelegten Fälle, der ‚Anwalt‘, die handelnden Personen und die Umstände fiktiv sind, sondern auch die Gesetze, auf die hin argumentiert wird.52 Die Szenarien, die verhandelt wurden, hatten stets einen Hauch des Abenteuerlich-Absurden: beliebt waren Entführungen durch Piraten, Schiffbrüche, verlorene und wiedergefundene Schätze, über deren rechtmäßigen Besitzer dann entschieden werden muss, Vater-Sohn-Konflikte, zumeist in Erbsachen, oder auch sehr häufig Vergewaltigungen von Jungfrauen und die Verhandlung ihrer Fälle vor Gericht. Die Deklamation bildete damit

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Vgl. Bloomer, W. Martin (2007): Roman Declamation: The Elder Seneca and Quintilian. – In: Dominik, W., Hall, J. (Hgg.): Roman Rhetoric. – Malden, MA: Blackwell, 296–306, hier 298 und 301; Winterbottom, M. (1982): Schoolroom and Courtroom. – In: Vickers, B. (Hg.): Rhetoric Revalued. Papers from the International Society for the History of Rhetoric. – Binghamton, NY: Center for Medieval and Early Renaissance Studies, 59–70, hier 62; Kaster, Robert A. (2001): Controlling Reason: Declamation in Rhetorical Education at Rome. – In: Too, Y. L. (Hg.): Education in Greek and Roman Antiquity. – Leiden / Boston / Köln: Brill, 317–337, hier 319. Quintilian fordert das Studium der Komödienautoren, „weil ja die Deklamierenden entsprechend der jeweiligen Aufgabe in der Kontroversie mehrere Rollen übernehmen müssen, die von Vätern und Söhnen, von Junggesellen und Ehemännern, von Soldaten und Landwirten, von Reichen und Armen, von Zürnenden und um Verzeihung Bittenden, von Saften und Rauhen.“ „[…] quoniam his necesse est secundum condicionem controversiarum plures subire personas, patrum filiorum, maritorum, militum rusticorum, divitum pauperum, irascentium deprecantium, mitium asperorum.“ Quint X, 1, 71. Siehe Kaster (2001), 328.

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einen eigenen Referenzkosmos aus, der sich thematisch weniger aus in der juristischen Praxis geläufigen Fällen speiste, sondern, so das satirische Urteil in Petronius’ Satyricon, „nur Piraten [kennt,] die mit Ketten am Strande stehen, nur Tyrannen, die mit schriftlichen Erlassen Söhnen Befehl geben, den eigenen Vätern die Köpfe abzuschneiden, nur Orakel, die gegen Pestilenz ergehen und drei oder mehr Jungfrauen zu opfern heißen […]“.53 Trotz Ermahnungen beispielsweise seitens Quintilians, dass Deklamationen wirklichkeitsnäher und weniger abstrus sein sollten,54 wurde an den abenteuerlichen Themen festgehalten – und insgesamt und auf lange Sicht hat die Kritik die Praxis in keiner Weise behindert oder eingeschränkt. Dies liegt darin begründet, dass die Deklamation offenbar ein Vehikel für das Einüben gesellschaftlicher Werthaltungen war, die im Kontext des Bizarren erst recht zur Geltung kämen. In der Forschungsliteratur zur antiken Deklamation hat sich als Konsens etabliert, dass man gerade die Realitätsferne als Instrument zur Befestigung einer römischen Identität deutet.55 Dieser Typ von Rede ist nun auf bemerkenswerte Weise mit schriftlichen Traditionen – bestehenden und eben erst emergierenden – verwoben. Ich kann hier nur summarisch zusammenfassen: Quintilian empfiehlt spezifisch das Ausarbeiten der narratio der Deklamation als schriftliche Übung (Quint. X, 5, 15), und für die Gestaltung der vom deklamatorischen ‚Anwalt‘ ebenfalls zu verkörpernden Klageparteien verweist er auf das Studium der Komödiendichter – nicht etwa auf die Einbeziehung zeitgenössischer juristischer Fallkonstellationen (vgl. oben Anm. 51). Als Vorbereitungsübung für die Deklamation prägten sich wiederum die Progymnasmata aus, deren überlieferte Exemplare wohl erst aus dem dritten bis fünften Jahrhundert datieren mögen, von deren direkter Genese aus der

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„nihil ex his quae in usu habemus […], sed piratas cum catenis in litore stantes, sed tyrannos edicta scribentes quibus imperent filiis ut patrum suorum capita praecidant, sed responsa in pestilentiam data ut virgines tres aut plures immolentur, sed mellitos verborum globulos et omnia dicta factaque quasi papavere et sesamo sparsa.“ Petronius (1978): Satyrica. Schelmengeschichten. Lateinisch/Deutsch, hg. von K. Müller und W. Ehlers. – München: Heimeran, 8f. Quintilian fordert, dass die Deklamationen „veritati proximam imaginem“ darstellen sollten, s. Quint. II, 10, 2. Siehe Bloomer, W. Martin (1997): Schooling in persona: Imagination and Subordination in Roman Education. – In: Classical Antiquity 16/11, 57–78, hier 57; Kaster (2001), 325; Gunderson, Erik (2003): Declamation, Paternity, and Roman Identity. Authority and the Rhetorical Self. – Cambridge: Cambridge University Press, 29–33 sowie Vössing, Konrad (1995): Non scholae sed vitae – der Streit um die Deklamationen und ihre Funktion als Kommunikationstraining. – In: Binder, G., Ehlich, K. (Hgg.): Kommunikation durch Zeichen und Wort. – Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier, 91–136, hier 118. Vössing betont die Orientierungsfunktion in Zeiten zunehmender Entfernung von der Welt der Republik.

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Deklamationspraxis aber in der Forschung ausgegangen wird.56 Unter den vierzehn, aufeinander aufbauenden Übungen der Progymnasmata firmieren prominent die narratio, die ekphrasis wie auch die Prosopopöie. Hier werden mithin jene Techniken eingeprägt, die wesentlich in die Konstitution fiktionaler Erzählliteratur eingehen: das Ausschreiben des Handlungsgangs, das Erzeugen von Evidenzeffekten durch einprägsame, detailreiche Beschreibung, sowie die Introspektion in Figurenbewusstsein. Nicht zufällig entsteht der hellenistische Prosaroman – zu nennen sind insbesondere Leukippe und Kleitophon von Achilles Tatius, Daphnis und Chloe von Longos von Lesbos und die Aithiopika (auch bekannt unter dem Titel Theagenes und Charikleia) des Heliodoros von Emesa – im Umfeld der zweiten Sophistik. Wenngleich die genauen Abhängigkeiten noch kaum erforscht sind, ist davon auszugehen, wie Ruth Webb formulierte, dass „rhetoric is deeply ingrained in the very existence of the genre“.57 Die Verbindungslinien sind zahlreich: Die Figuren der Prosaromane sind überaus beredt, und der Handlungsgang wird nicht zuletzt durch eingebettete Reden bzw., narratologisch gesprochen, intradiegetische Erzählungen vorangetrieben, in denen Figuren ihr Schicksal berichten. Auch das Figurenarsenal – Jungfrauen, Piraten, böse Schwiegermütter – und die Handlungselemente – Schiffbrüche, Irrfahrten, unerwartete Zusammentreffen mit tot geglaubten Verwandten – sind der Deklamatorik aufs engste verwandt. Die Deklamation ist mithin mehrfach mit den sich herausbildenden schriftlichen Prosaerzählformen verstrebt, wenngleich sie selbst in der Kaiserzeit dominant orale Praxis bleibt. Im Sinne des oben Gesagten soll nun die deklamatorische persona und ihr weiteres Schicksal im Medium der Schrift im Zentrum meiner abschließenden Betrachtungen stehen. Die Kritiker der Autor/Erzähler-Scheidung haben zu Recht angeführt, dass das Konzept des Erzählers die Neuzeit hindurch in poetologischen Texten nicht firmiere und erst ab dem 20. Jahrhundert – bzw. wie Sylvie Patron neuerdings zeigte, dem 19. Jahrhundert – etabliert werde. In der Frühen Neuzeit freilich taucht das Thema der persona genau im Kontext der Frage nach der Disjunktion von Autor und textinternem Sprecher wieder auf, und zwar nicht im Kontext der Debatten um das Epos oder die Entstehung des neuzeitlichen Romans, sondern bezeichnenderweise in jenem

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Siehe dazu Webb, Ruth (2001): The Progymnasmata as Practice. – In: Too, Y. L. (Hg.): Education in Greek and Roman Antiquity. – Leiden / Boston / Köln: Brill, 289–316. Webb, Ruth (2007): Rhetoric and the Novel: Sex, Lies and Sophistic. – In: Worthington, I. (Hg.): A Companion to Greek Rhetoric. – Oxford u.a.: Blackwell, 526–541, hier 537. Für die folgende Zusammenfassung der Parallelen zwischen zweiter Sophistik und hellenistischem Roman folge ich Webb (2007), 527–529.

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der Restauration der declamatio.58 Einige der einflussreichsten Schriften des Erasmus von Rotterdam tragen eben jenes Etikett der declamatio, und Erasmus’ Vorbild zeitigte eine ganze Reihe von declamationes anderer Autoren, sei es Juan Luis Vives, Thomas More, Ulrich von Hutten oder auch Heinrich Cornelius Agrippa von Nettesheim. Bei Erasmus fallen unter diese Gattungsangabe so disparate Texte wie das Lob der Torheit, sein Lob der Ehe (Encomium matrimonii), die Querela pacis oder aber auch seine Forderung nach einer frühkindlichen Erziehung (De pueris statim ac liberaliter instituendis). Ohne auf das spezifische Gattungsverständnis hier in gebührendem Detail eingehen zu können, sei gesagt, dass es von einem fundamentalen Paradox geprägt ist: zum einen werden die fabulösen Elemente, die Piraten und die Jungfrauen, gänzlich verabschiedet, sie wandern nachhaltig in die Traditionslinie des hellenistischen Romans, der zu genau der Zeit, also in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, in Europa mit Begeisterung aufgenommen, übersetzt und imitiert wurde.59 Für Erasmus und seine Gefolgschaft wird die declamatio dagegen zu einer Gattung des theoretischen Diskurses, in der die brennenden Fragen der Zeit verhandelt werden, in der Positionen vorgetragen werden, die der allgemeinen Überzeugung entgegenstehen und denen etwas Unerhörtes, Radikales eignet. Sie wird zu einem Vehikel der Kontroverse. Zugleich insistierte Erasmus auf der Distanzierung von lebensweltlichem Verfasser und textinterner persona, der die Argumente zuzurechnen seien.60 Die Deklamation ist damit eines der wenigen antiken Genera, die in der Renaissance fundamental transformiert und rekonfiguriert werden,61 wobei aber offenbar gerade der Aspekt der disjunktiven Pragmatik, die Abspaltung des Textes von seinem Verfasser und die Insertion einer persona, als bewah58

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Diskutiert wurde die Frage nach der Autor/persona-Unterscheidung auch im Zusammenhang mit lyrischen Texten, vgl. Schneider, Ulrike (2010): Parlare in persona propria? Fiktionen des Faktischen in der Debatte um die lirica im Cinquecento. – In: Schneider, U., Traninger, A. (Hgg.): Fiktionen des Faktischen in der Renaissance. – Stuttgart: Steiner, 143–164. Vgl. z.B. Brownlee, Kevin, Scordilis Brownlee, Marina (Hgg.) (1985): Romance. Generic Transformation from Chrétien de Troyes to Cervantes. – Hanover u.a.: University Press of New England, sowie zur Ausprägung des hellenistischen Romans in Spanien die Überblicksdarstellung von González Rovira, Javier (1996): La novela bizantina de la Edad de Oro. Madrid: Gredos. Siehe dazu Traninger, Anita (2012): Disputation, Deklamation, Dialog. Medien und Gattungen europäischer Wissensverhandlungen zwischen Scholastik und Humanismus. – Stuttgart: Steiner, 111–235. Vgl. grundlegend zur Wiederbelebung der declamatio van der Poel, Marc G. M. (1987): De declamatio bij de humanisten. Bijdrage tot de studie van de functies van de rhetorica in de Renaissance – Nieuwkoop: de Graaf. Siehe die Einschätzung von van der Poel, Marc G. M. (2006): Humanist Rhetoric in the Renaissance: Classical Mastery?. – In: Verbaal, W., Maes, Y., Papy, J. (Hgg.): The Continuity of Latin Literature. – Leiden u.a.: Brill, 119–137, hier 129.

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renswert, weil weiterhin relevant erschien. In der Renaissance wird freilich genau der Medienwechsel von der Mündlichkeit in die Schriftlichkeit spezifisch in dieser Hinsicht schlagend: Die kaiserzeitliche Rahmung der Deklamation als Performance machte das Rollenhandeln des Deklamators stets transparent. Er war präsent als einer, der nicht als er selbst, sondern in einem bestimmten artifiziell gesetzten Handlungsrahmen auftritt und agiert. In der Schriftlichkeit hingegen muss die Dissoziation von Autor und persona explizit kenntlich gemacht werden. Im Encomium moriae werden in diesem Sinn die Textaussagen explizit an die Allegorie der Torheit delegiert, in anderen Deklamationen stellt sich die Frage der Sprecherinstanz komplexer dar. Als der Pariser Theologe Josse Clichtove, langjähriger Kooperationspartner von Jacques Lefèvre d’Étaples, Erasmus’ Encomium matrimonii (geschrieben in den 1490er Jahren, gedruckt 1518) in seinem Propugnaculum Ecclesie aduersus Lutheranos (Köln 1526) als der Irrlehre Luthers zugehörig denunzierte, berief sich Erasmus zu seiner Verteidigung auf die Gattungskonventionen der declamatio. Seine Befürwortung der Ehe habe er nicht in seiner Eigenschaft als Kleriker vorgetragen. Vielmehr spreche in dem Text ein fiktiver Laie zu einem anderen Laien und rate diesem, zu heiraten: „ne imagineris Erasmum alteri loqui, sed laicum laico.“62 Die persona, so der Tenor von Erasmus’ apologetischer Strategie, sei immer anzusetzen, unabhängig davon, ob sie mit Namen versehen und charakterisiert ist wie die Moria oder aber nachgerade unsichtbar wie der textinterne Sprecher des Encomium matrimonii. Es war dies nicht der einzige Fall, in dem sich Erasmus erst nach einer Attacke und dem Vorbringen eines Heterodoxieverdachts hinter die Maske einer persona zurückzog. Doch auch wenn man dies allein für kalkulierte strategische Entlastungsmanöver halten mag, so belegen diese Debatten doch, dass das pragmatische Modell der Disjunktion zur Verfügung stand und genutzt wurde. Diese Aushandlungsprozesse im Umfeld klar nicht-fiktionaler Texte verweisen allerdings auch darauf, dass ein wie immer gearteter Kontrakt nicht vorlag; im weiteren auch darauf, dass es eine Konvention ist, dass textinterne Stimme und lebensweltlicher Verfasser im faktualen Text zusammenfallen, während sie im fiktionalen auseinandertreten. Unter der Perspektive der Medialität gilt immer, dass der schriftliche Text zwar Spuren eines vermittelnden Sprechakts in sich trägt, dass die Origo desselben aber in Ermangelung einer

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Erasmus von Rotterdam (1968): Dilutio eorum quae Iodocus Clithoveus scripsit adversus declamationem Des. Erasmi Roterodami suasoriam matrimonii (1532), hg. von É. V. Telle, Paris: Vrin, 82.

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durch physische Kopräsenz geprägten Kommunikationssituation grundsätzlich ambig ist. Die narrative fiktionale Kommunikationssituation stellt sich als komplexes Hybrid aus Schriftlichkeit und Mündlichkeit dar. Der literarische Text, der in seiner isolierten medialen Gestalt pure Schriftlichkeit zu repräsentieren scheint, wird von uns unwillkürlich als in eine orale Kommunikationssituation eingebettet imaginiert, in der ein Autor eine Mitteilung zu machen hat. Selbst die im 20. Jahrhundert ausformulierten und ausgefeilten Ansätze zur Ansetzung eines Erzählers, einer Stimme im Text als Zurechnungsinstanz, kommen nicht ohne die Anthropomorphisierung eben zum „Erzähler“ aus. Das von der ursprünglichen Interaktionssituation entkoppelte Erzählen ist freilich nur auf der allgemeinsten Ebene dem ‚natürlichen‘, alltäglichen Erzählakt verwandt, insofern, als dieser der Fluchtpunkt der textuell evozierten Tätigkeit ist. In der Tat aber sind die Konventionen des fiktionalen Diskurses so ausdifferenziert, dass die konkrete, persönliche Erzählsituation selbst Teil der Fiktionsbildung wird. Vor diesem Hintergrund habe ich versucht zu zeigen, wie ein Blick auf die nachrepublikanischen Formen der antiken Rhetorik und damit die stärkere Berücksichtigung bisher als vernachlässigbare Verfallsstufen und Dekadenzphänomene qualifizierter Entwicklungen dazu dienen könnte, die Rhetorik stärker als bisher in die Theoriedebatten der Literaturwissenschaft einzubringen.

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Stefan Nienhaus

Affektenlehre heute Ein Beitrag der Rhetorik zur literarischen Emotionsforschung

1. Einleitung: Nietzsche In seiner im Sommersemester 1874 gehaltenen Vorlesung über die antike Rhetorik1 versuchte Friedrich Nietzsche eingangs gleich zwei Missverständnisse gegenüber der Kunst der Rede zu beseitigen: die Auffassung von deren vermeintlicher Künstlichkeit einerseits und das Vertrauen in eine Natürlichkeit, eine unmittelbare Objektbezogenheit der Alltagssprache andererseits. Der Eindruck der Künstlichkeit, der zum pejorativen Gebrauch des Attributs rhetorisch geführt habe, liege einfach am Verlust der Übung im gesprochenen Vortrag, während auch noch die „Prosa des Altertums durchaus Widerhall der lauten Rede“2 sei. Hingegen sei es leicht einsichtlich zu machen, dass es sich bei den intentional und bewusst verwendeten rhetorischen Techniken allesamt und ausschließlich um „eine Fortbildung der in der Sprache gelegenen Kunstmittel“3 handele. Jeder Sprechende bedient sich der rhetorischen Kunstgriffe und sucht für seine Mitteilung „an jedem Dinge das heraus zu finden u. geltend zu machen was wirkt u. Eindruck macht“4. Es gibt also keine Trennung zwischen der natürlichen und der rhetorischen Rede, sie unterscheidet nur der Grad an Bewusstheit über die angewendeten Mittel. Das Gleiche gilt hinsichtlich der Realitätsreferenz. Die Sprache beziehe sich, „ebensowenig wie die Rhetorik, auf das Wahre, auf das Wesen der Dinge, sie will nicht belehren, sondern eine subjektive Erregung u. Annahme auf andere übertragen.“5 Jede Sprachäußerung bezieht sich nicht etwa auf das bezeichnete Objekt, sondern will unser Urteil über dieses vermitteln: „Nicht die Dinge treten ins Bewusstsein, sondern die Art wie wir zu ihnen stehen“ und dieser unmittelbar empfundene „Reiz“, das von der „Empfindung“ aufgenommene „Merkmal“ der Dinge wird Gegenstand des sprachlichen Ausdrucks, und dieser bedient sich generell und nicht etwa nur in der Ausnahme der 1 2 3 4 5

Nietzsche (1995), 413–520. Nietzsche (1995), 425. Nietzsche (1995), 425. Nietzsche (1995), 425. Nietzsche (1995), 425 f.

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kunstvoll gestalteten Rede der Tropen. Denn alle Wörter „sind an sich u. von Anfang an, in Bezug auf ihre Bedeutung Tropen“6. Den uneigentlichen Bezeichnungen stehen keine eigentlichen gegenüber. Das „in der Zeit verklingende[.] Tonbild“ der Sprache „drückt niemals etwas vollständig aus, sondern hebt ein ihr hervorstechend erscheinendes Merkmal heraus“, sei es in der Form der Synekdoche oder als Metapher. Unser Sprechen bezeichnet niemals etwas, wie es „an sich“ ist, sondern immer unsere Empfindung davon. Sprachkreativität, rhetorische Figuren sind dann wirksam, wenn sie „Abnehmer“ finden, was sich durchsetzt, wird grammatisch gültig, „die gesammte Grammatik ist ein Produkt“ der „sog. figuraesermonis“7, anders gesagt: Sprache beruht auf Konvention, die den Gebrauch der Tropen regelt, nicht etwa zwischen diesen und einer vermeintlichen eigentlichen Bedeutung unterscheidet. Das klingt nun doch sehr nach einem Psychologismus in der Tradition von Hume, der jede Aussage über objektive Sachzusammenhänge ausschließlich vom Kriterium des menschlichen Gefühls abhängig macht. Da nun unser uneigentliches Sprechen allerdings konventionell kontrolliert ist, hängt das Urteil von unserer Empfindung von der Sache und das Gelingen unserer Urteilsaussage von der Akzeptanz des verwendeten Sprachbildes ab. Unsere Tropen sind subjektive Wirklichkeitsaussage und zugleich intersubjektiv kodiert.

2. Lust und Unlust Im subjektiven Urteil über ein Objekt sind physisches Erfassen und gefühlsmäßige Einschätzung untrennbar miteinander verbunden: Seit Platon gilt hier die Grundunterscheidung zwischen der „Erwartung des Angenehmen oder des Unangenehmen in bezug auf ein lust- oder schmerzbringendes Objekt“8, also zwischen tendenziell negativen oder positiven Affekten. Gültig bis heute ist auch die von Aristoteles vorgenommene Differenzierung des Interesses der Naturforscher an den Affekten von dem der Dialektiker: Erstere erforschen z.B. im Falle des Zorns die körperlichen Phänomene wie „Aufwallung und Erwärmung des Blutes“, während die sich mit der Seele befassenden Denker jenen als „Streben gegen den Schmerz“9 definieren: Tendenzen, die sich auch heute noch in der Ausdifferenzierung der Emotionsforschung in neodarwinisti-

6 7 8 9

Nietzsche (1995), 426. Nietzsche (1995), 426. HWPH, Bd. 1, 89. HWPH, Bd. 1, 89.

Affektenlehre heute

213

sche und neurologische Forschung einerseits und psychologisch-philosophisch-rhetorisch-linguistische andererseits ausmachen lassen. Aristoteles widmet sich den speziellen Aspekten einzelner Affekte im Rahmen einer umfassenden Definition dessen, was allgemein unter Gefühl zu verstehen sei. Diesem kommt wesenhaft zu, dass es immer mit Lust und Unlust verbunden ist. Die aktuelle psychologische Emotionsforschung hat in ihren Einteilungsversuchen dieses zweidimensionale Modell gerade (wieder-) entdeckt10, freilich ohne die aristotelische Bestimmung zu kennen und ohne dessen Differenzierungen zu übernehmen: Lust ist bei Aristoteles nicht einfach mit sinnlicher Lust gleichzusetzen, sondern entspricht dem Zustand, „in dem die optimale Verwirklichung der eigenen Natur erreicht ist“, wobei unter „Natur“ nicht die angeborenen Eigenschaften zu verstehen sind, sondern der „vollendete seelische Aktvollzug, zu dem ein Lebewesen nach der sachgemäßen Ausbildung seiner Vermögen fähig ist“11. Lust stellt sich ein im zufriedenen Glück über etwas. Lust oder Unlust sind unabtrennbarer Bestandteil jedweder seelischen Erkenntnistätigkeit. Von Erkenntnis spricht Aristoteles nicht nur im Zusammenhang mit intellektueller Verstandeserkenntnis, sondern auf alle Wirklichkeitserfahrung bezogen, da auch dem psychischen Erfassen stets ein erkennender Differenzierungs- und Bestimmungsakt zugrunde liegt: Die Anwesenheit eines anderen Lebewesens in meiner Nähe nehme ich durch meine Sinnesorgane wahr, die Bestimmung seiner potentiellen Förderlichkeit oder drohenden Feindlichkeit muss ich in einem gefühlsmäßigen Erkenntnisakt bestimmen, indem die „qualitative Veränderung der Seelentätigkeit“12 als Lust oder Unlust erkannt und bestimmt wird. Dazu bedarf es allerdings noch keineswegs einer verstandesmäßigen Bewusstmachung des Gefühls, einer Bewertung einer Vorstellung, wie sie von der heutigen kognitiven Psychologie postuliert wird, d.h. eines Repräsentationsaktes, der erst alleine die Definition eines ansonsten unbestimmten Fühlens als Emotion zulasse. Gefühl bestimmt sich nach Aristoteles hingegen ohne repräsentationale Aufhebung im „aufmerksamen Unterscheidungsakt und der hiermit verbundenen direkten Wahrnehmung der seelischen qualitativen Veränderung“13. Ob jemand oder etwas mir förderlich oder hinderlich begegnet, fühle ich, ohne es deshalb auf gedanklicher Ebene zu fixieren. Ich fühle Angst, ohne dies vorher auf den Begriff Angst bringen zu müssen.

10 11 12 13

Vgl. Schmidt-Atzert (2009), 572 f. Krewet (2011), 611 Krewet (2011), 611. Krewet (2011), 612.

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Repräsentation, Vorstellung kommt erst im Rahmen der Erörterung des Gefühlsbegriffs in der Rhetorik ins Spiel. Der Redner muss Vorstellungen auffinden, deren Gegenstände von seinem Publikum als Lust- oder Unlust hervorrufende erkannt werden können, entweder als bereits in der Gegenwart gefühlte oder als in der Zukunft zu erstrebende oder zu vermeidende. Es muss sich dabei zwangsläufig um spezifische Affekte handeln, von denen der Redner eine klare Vorstellung entwerfen muss, damit in seinen Zuhörern das Gefühl entsprechend dieser Vorstellung entstehen kann. Der Rezipient erkennt also das von ihm einzeln Vorgestellte als Lust- oder Unlust verheißendes. Bei einem spezifischen Einzelaffekt wie etwa dem Zorn wird somit sein Wille zur Beseitigung eines Unlust hervorrufenden Umstandes und zur Aggression auf den vermeintlichen Verursacher eines solchen Umstandes erweckt, also nach Aristoteles auf denjenigen, der missachtet oder verachtet. (Dass dieses Pathos u. U. ein bloß geschickt konstruiertes und nur vom Publikum gefühltes sein mag, ist in dem Vorstellungsakt mit eingeschlossen.) Damit löst sich auch der scheinbare Widerspruch auf, warum Aristoteles die Behandlung einzelner Affekte in der rhetorischen Systematik einen zwar im Rahmen der Überzeugungsmittel deutlich dem logos, der sachbezogenen Argumentation, nach geordneten Platz zuweist, sie doch beide Teil der inventio sind und erstere nicht etwa Teil des ornatus ist. In seiner Theorie des Gefühls gibt es keine Unterscheidung zwischen reinem Denken einerseits und Fühlen andererseits: Jeder Erkenntnisakt ist mit dem Gefühl verknüpft, die vollendete intellektuelle Schlussziehung ist von der höchsten Lust begleitet. In der Rhetoriklehre geht es ihm nicht um die allgemeine Bestimmung dessen, was ein Gefühl ausmacht, sondern um die Einkreisung der möglichen speziellen Affekte, für die der Redner Vorstellungen konstruieren kann, die bei seinem Publikum die entsprechende Emotion zu provozieren vermögen. Es gibt eben kein emotionsloses Urteil: Das Wissen um ethos und pathos ist unverzichtbarer Bestandteil der Bewusstmachung der Redemittel: Nur wenn ich mir über meine emotionale Verfassung und deren möglichen Eindruck auf das Publikum (eine „günstige Darstellung des Charakters“ als vertrauenswürdig), über die Stimmung unter meinen Zuhörern und über die Mittel, diese zu beeinflussen („Affekterregung“14), im Klaren bin, besitze ich die Möglichkeit, meiner sachlogischen Beweisführung auch wirklich Gehör zu verschaffen. In seiner Poetik insistiert Aristoteles auf der untrennbaren Verknüpfung von sachlicher Darstellung und Affekterregung für die diànoia, die gedankliche Lenkung des Publikums: „Teile davon sind das Beweisen und Widerlegen und das Hervorrufen

14

HWRh, 220.

Affektenlehre heute

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von Erregungszuständen, wie von Jammer oder Schaudern oder Zorn oder dergleichen mehr“15.

3. Rhetorische Affektenlehre und Dichtung Wie eng die rhetorischen Reflexionen über die Affekte mit den poetologischen zu verknüpfen sind, geht schon ex negativo aus Platons Begründung für seine berühmte Verbannung der Dichtkunst aus dem Staat hervor. Um unser Interesse zu erregen, muss die Poesie – als erbärmliche Mimesis zweiter Hand – den im Leben zu kontrollierenden Gefühlsausbrüchen Gehör verschaffen, alles kreist in ihr um die Affektdarstellung, wer seine Helden am lautesten jammern lässt, gilt als der größte Dichter (was ja gegen Homer geht). Daher muss vor der Dichtung gewarnt werden: Wirst du aber die süßliche Muse aufnehmen, dichte sie nun Gesänge oder gesprochene Verse, so werden dir Lust und Unlust im Staate das Regiment führen statt des Gesetzes und der jedesmal allgemein für das Beste gehaltenen vernünftigen Gedanken.16

Platon meint, auf übertriebene, ja pathologische Weise, aber einmal davon abgesehen, gilt für ihn: In der Dichtkunst werden die Emotionen zum Hauptgegenstand (sagen wir: zum Thema) der Darstellung, von dem alle anderen, die „vernünftigen Gedanken“ (oder etwa der Adornosche soziale Gehalt) überblendet werden. Dichtung ist exaltierte Gaukelei, jedoch besitzt sie die gefährliche Macht, ihr Publikum zu hysterischen Phantasten zu formen. Gert Ueding hat in seinen Überlegungen zur „rhetorischen Genealogie des Pathos“ darauf hingewiesen, dass sich in der Folge dann bei Cicero die Hierarchie des probare, delectare und movere umkehrt und die Gemütserregung zum „höchste(n), die Redekunst am meisten auszeichnende(n) Mittel“17 wird. Den Willen der Leser zu beherrschen: darin liegt die ganze Macht des Autors! Aber: How Can We Be Moved by the Fate of Anna Karenina?18 Wir sollten der angelsächsischen Philosophie dankbar dafür sein, dass sie, zu Recht von den Antworten der Tradition unbefriedigt (oft allerdings auch von derselben unbelastet), uralte Fragen aufs Neue stellt. Jene 1975 von Radford und Weston formulierte, in den ästhetischen Reflexionen seit der Antike ja nicht gerade unbekannte Problemstellung hat jedenfalls eine bis heute andauernde Debatte 15 16 17 18

Aristoteles (1994), 61. Platon (1990), Bd. 4, 831. Ueding (1996), 33 Radford, Weston (1975).

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Stefan Nienhaus

ausgelöst. Katja Mellmann hat jüngst eine Antwort unter Nutzung evolutionstheoretischer Erkenntnisse versucht: „Das Schicksal literarischer Figuren bewegt uns deshalb, weil unsere emotionalen Dispositionen auf die Vorstellungen, die der Text in unserem Geist hervorruft, genauso reagiert wie auf kindchenschemagerechte Handydesigns, überhängende Felswände oder andere künstliche oder natürliche Attrappen.“19 Emotionen folgen einem schematisierten Ablaufsprogramm, bei dem der Auslösermechanismus reflexartig und invariabel erfolgt, während das darauf folgende Verlaufsprogramm die Beurteilung verschiedener komplexer Faktoren zulässt, wie z.B. die, nicht etwa selbst sich in einer lebensbedrohlichen Situation zu befinden, sondern bloß als Leser eine Vorstellung von der Gefahr, die dem Helden der Geschichte gerade droht, entwickelt zu haben: Auf das unwillkürliche Zusammenzucken, Atemanhalten etc., darwinistisch als Anspannung der Muskeln als Vorbereitung für Angriff, Flucht oder Sichunsichtbarmachen interpretiert, folgt die unmittelbare Beruhigung nach Beurteilung der eigenen Sicherheit des Denkens im Als-obModus. Bei der Übertragung des Attrappenmodells auf die Literatur bleibt deren höhere Komplexität zu berücksichtigen: „Mit dem medialen Wechsel von der visuellen Wahrnehmung eines sichtbaren Vorgangs (im Text) zur Rezeption der sprachlich-literarisch gestalteten Wiedergabe desselben Vorgangs wandeln sich zugleich diesignanaturalia in signadata, die einer neuen Zeichen- und Bedeutungsordnung angehören: Sie zeigen sich nicht mehr unmittelbar, sondern sind in sprachliche Zeichen verwandelt (damit >codiert kommt den zwei aufgezeigten Aspekten (4., Modell 5; sowie 5.1.) des – Was wird ausgewählt und als Information zum Dialog angeboten?; und des – Wie wird es im globalen Rahmen den vernetzten Kommunikanten als Kommunikationsauswahl mit dem Ziel erwirkten Handelns angeboten? eine empfängerbezogene Brisanz zu, die nur, in der Tat: ausschließlich rhetorisch zu steuern ist: WIE reagiert der fremdkulturelle Globalitätspartner, indem er WAS im Rahmen seiner und somit zugleich in Bezug auf die ihm fremde (d.h. „meine eigene“) Kultur tut? 7.2. Das gerade abgeleitete Format einer ‚Rhetorik-in-Globalität‘ betrifft einen deutlichen qualitativen Zuwachs gegenüber dem Format der Antike. 7.2.1. Es geht nämlich um eine Erweiterung über das bereits bestehende inhaltliche und funktionale Selbstverständnis der Rhetorik hinaus. Dieses betrifft bekanntermaßen traditionell – die WirkungsWEISEN – als qualitatives Merkmal; – die WirkungsMECHANISMEN – als taktische und strategische Mittel sprachlicher und nichtsprachlicher Art; – die WirkungsMÖGLICHKEITEN – als Einsatzbereiche mit mentalen, sozialen und politischen Potenzen. Der verbindende Gesichtspunkt ist die Wirkung, das Einwirken, wozu, enger gesehen, natürlich die Persuasion zentral gehört. Und daraus leitet sich als Ziel ab: die EFFIZIENZ, das RESULTAT, wie es sich dann im Sprachhandeln niederschlägt. Die < ‚Globalisierung der Rhetorik‘ als Aufgabe > bringt nun den Aspekt der ‚Kultur‘ in das Format der Disziplin ein. Er hat aufgrund der Rhetorischen Situation in ihren Dimensionen der Natürlichkeit (Körper und Organe als Maß; Origo; s. 4.2.) nur in negativer Abgrenzung zur eigenen Identität eine Rolle gespielt: Die eigene hohe (griechische, römisch-lateinische) Kultur gegenüber den barbarischen anderen. Nun aber kommt der ‚Kultur‘-Aspekt, in den Dimensionen der Technizität, in den Blick als eine partnerschaftliche Notwendigkeit – zum Gelingen von Kommunikation gerade in fachlichen Zusammenhängen, – zum Ermöglichen konsentiellen Handelns, gerade auch in professionellen, fachlichen, wissenschaftlich-forscherischen Kontexten, – zur Voraussetzung wirtschaftlich erwünschter Konsequenzen (z.B. Vertragsabschlüsse).

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Das besagt, dass die Rhetorik sich hier eine Sensibilisierung für die Kulturgebundenheit rhetorisch durchwirkter Sprechweise, dann auch – sekundär – in ihrer Verschriftung, über ihr bekanntes Format hinaus erarbeiten muss. Und da die Globalisierung stets den Kulturenkontakt betrifft, wäre die KulturDimension eigentlich sofort zu erweitern als eine Dimension der Interkulturalität. Und daraus leitet sich als Ziel einer interkulturell sensibilisierten Rhetorik in globalen Funktionen, in globaler Verwertung, ab: das VERSTÄNDNIS, wie es sich dann im Sprachhandeln niederschlägt (s.o. 2., Modell 1, Bereich IV.). 7.2.2. Beispielprofile (also wesenstypische Beispiele) solcher Kommunikationsweisen lassen sich durchaus bereits finden. Sinnvollerweise sollte man sie, um sie vorzustellen, an den Konstituenten des Kommunikationsmodells orientieren, da es sich hier ja um Rhetorik, um Sprache, Texte, Kommunikation, Pragmatik handelt. Dessen – basislegende Positionen sind der TEXT und sein AUTOR und sein REZIPIENT (Publikum); zu einer – rudimentären Konstellation wächst es an, wenn noch die SPRACHE und natürlich der Referent, also ‚worauf sie sich bezieht‘: die Gegenstände, Sachverhalte und Handlungszusammenhänge – hier kurz sammelnd bezeichnet als: ‚OBJEKT‘ – einbezogen werden; – erweitert bietet sich das Kommunikationsmodell an mit der noch hinzugenommenen Position des WISSENs, die den notwendigen kognitiven Gesichtspunkt von Kommunikation festhält und darin – sowohl das Individuum als auch die Gesellschaft, und für beide geltend, dabei auch – die Trias von Vergangenheit (Tradition, Erfahrung, Lernen), Gegenwart (Speicherung, Dokumentation, Verwendung, Ausbau, Fortschritt) und Zukunft (Verwertbarkeit, Prognosen, Tendenzen, Effizienzvermutung, Folgenabschätzung, Konsequenzen) einschließt; und faktisch – komplex (lat. complecti ‚umfassen‘) wird es dann mit der Hinzunahme der pragmatischen Komponente, dem HANDELN, bei dem dann auch die Kommunikation Anschlussmöglichkeiten über das Verbale hinaus in die Nonverbalität bietet. Entsprechend dieser methodischen Entscheidung seien dreizehn beispielhafte Profile skizziert, wobei es „reine“ Zuordnungen nicht geben kann, da Kommunikation sich nur schwerpunktbezogen auseinandernehmen lässt und eben ganzheitlich, im Zusammenwirken aller Faktoren, funktioniert. Ich gehe vom kommunikativ Grundlegenden erweiternd vor und beginne so mit dem Schwerpunkt [Beispiele (1) bis (7)] und den Kommunikanten [ (5) bis (8) und (6) bis (9)], gehe dann über die Schwerpunkte [(7), (8) und (10)] und [insbesondere (11)]

Rhetorik und Globalisierung: Herausforderungen an eine Leistungsdisziplin

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zu [(2) bis (8) und (10) und (12)] und schließe endlich mit dem Schwerpunkt [(4), (5) und vor allem (12) und (13)]. Hier dazu ein Überblick:

K O M M U N I K A T I O N S M O D E L L k o m p l e x erweitert rudimentär basislegend Bsp.

(1) (2) (3) (4) (5) (6) (7) (8) (9) (10) (11) (12) (13)

Handeln

Wissen

○ ●

● ○ ● ●

w w w w w w

w





● ●



w

Autor



● ● ● ●

● ●

Text

● ● ● ● ● ● ●

Rezipient

● ● ● ●



w w

● ○



w

Objekt

● ○ ●

● ●

w

w

Sprache

● = schwerpunktartig gegeben; ○ = schwach vorhanden

Abbildung 10: Beispiel-Profile – Tabelle unter Kommunikationsmodell

(1) Mit den modernen technischen Möglichkeiten ist die typisch rhetorische Qualität der Mündlichkeit stärker in den Blick geraten, und zwar nicht, wie in der Philologie seit den 1980er Jahren wieder aufblühend, auf der Grundlage einer „Nähe“-Kommunikation gegenüber einer schriftlichen DistanzKommunikation (vgl. Koch / Oesterreicher 2011), sondern als schriftliche Existenzweise nähesprachlicher Kommunikation. Entsprechend fallen die Präsentationsmodi von Emotionen, Affekten, Anreden, Textschlüssen, Textstrategien, Textaufbau, Stilen, normgerechten Schreibweisen, Konventionseinhaltungen, usw. usw. auf. Gerade die mündlichen verbalen Äußerungsweisen werden in ihrer von der Technik nahegelegten schriftlichen Darbietung durch ökonomische Formen, insbesondere der Emotionalität, ergänzt, um Stimmungen, Verstehweisen, dialogische Empathie zu signalisieren: die sogen. Emoti-

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cons. Mit ihnen entsteht ein wachsendes Interesse auch an nonverbalen Textkonstituenten und bereichert durch deren qualitative Einflussnahme auf das Textverstehen auch den bisherigen Rahmen rhetorischer Belange. Mündlichkeit zeigt sich in , ist natürlich auch Komponente von ; so ist dieser Fall (1) bei beiden in der Überblicks-Aufstellung (Abbildung 10) indiziert. (2) Seit einiger Zeit, bemessen an Johan Galtung (1983), ist bekannt, dass die Art, Texte zu verfassen (und hier handelt es sich um wissenschaftliche Texte), abhängig ist von Erwartungsrahmen und gebunden ist an Erfahrungsnormen. Diese haben ihre Geltung innerhalb einer bestimmten Kultur und werden, wenn fremdsprachige Leser diese Texte lesen, als anderskulturelle Eigenheiten, Texte zu erstellen, wahrgenommen, und zwar meist kritisch. Galtung unterscheidet hierzu den saxonischen, den teutonischen, den gallischen und den nipponischen Stil. Man nennt diese etablierten Arten eines kulturellen Textausweises ‚Nationalstile‘, und das Konzept hat inzwischen fruchtbar gewirkt (vgl. Clyne 1993). Mit dem und in dem jeweiligen Text zeigen sich Nationalstile als kulturidentifikative sprachlich-rhetorische Darstellungsweise fachlicher Inhalte nur, weil die Sprache als System ebensolche Kulturspezifika beherbergt und dazu notwendig ein erlerntes , als Vertextungswissen, gehört. Eben deswegen findet sich auch der Punkt in der Aufstellung indiziert. (3) Der ‚Text‘-Begriff ist in moderner Zeit nicht mehr allein an die Verbalität gebunden. Auch ein Bild ist ein , und zwar ein nonverbaler, ein visualisierter Text. Solche Bestimmungen, die verbal und nonverbal (vgl. z.B. ‚Körpersprache‘) erfassen, verändern ihrerseits den traditionellen ‚Text‘Begriff (vgl. Antos 2009; Fix u.a. [Hrsg.] 2002; Kalverkämper 1993, 1998). Man muss diesen aus seiner verbalen Geltungshoheit lösen und auch anerkennen, dass im Bereich des Nonverbalen ebensolche Techniken und ganzheitliche Zielvorstellungen herrschen wie im Bereich des Verbalen, wo es – mit der Textlinguistik – um Textualität, um Qualitäten des Textes, um Makro- und Mikrostrukturen, um Texttitel, um Textsorten, um Texttraditionen und mögliches Anderes geht. Die Pragmatik und Wirkungsmechanismen des Verbalen, textuell gebunden in der Form der Rede, waren und sind dabei speziell das Interessengebiet der Rhetorik. Für Bilder als visualisierte Information mit semiotischer Qualität (Ausdrucks-, Inhaltsseite, Referenz, hermeneutische Empfängerbezogenheit, dialogische Funktion) ergibt sich dann ein bildrhetorisches Interesse, wenn sie als persuasive Zeichen, mit einem Wirkungspotential, das Handlungsanschlüsse beim Betrachter (Empfänger) in Gang setzt, funktionieren (sollen). Die Bildrhetorik (vgl. Knape [Hrsg.] 2007) wird besonders deutlich in der Werbung,

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bei politischer Agitation, bei Plakaten mit gesellschaftsverändernden Absichten, bei interessegeleiteten Photos u.a. Gerade hier ergeben sich interkulturell allerdings auch die meisten Konflikte, indem Tabus gebrochen, unliebsame Informationen verbreitet, Missstände offenbart, fremde Gebräuche angeklagt werden (die Mohammed-Karikaturen 2005 aus Dänemark sind ein globales Ereignis mit Lehrwert; „Karikaturenstreit“ wurde in Deutschland drittplatziertes Wort des Jahres 2006). Es liegt auf der Hand, dass hier eine eigenständige Funktion erfüllt. (4) Im Bereich der über den im Kommunikationsverlauf primären Basisbereich hinaus, nämlich bei und, eher peripher gegeben, auch bei , ist das Verständnis von ‚Wissenschaft‘ angesiedelt, bei dem es um verschiedenartige Wissenschaftsstile – nicht zu verwechseln mit den textuell sich niederschlagenden Nationalstilen [s.o. (2)] – und Wissenschaftsbegriffe geht. Der abendländische Wissenschaftsbegriff ist bekanntlich stark von Aristoteles bestimmt (ἐπιστήµη epist'ēmē) und geprägt von Ethoi, also hohen Anspruchs- und Verhaltenstugenden wie ἀλήθεια al'ētheia ‚Wahrheit‘ und νοῦς nūs ‚Vernunft‘. Andere kulturelle Großbereiche wie die asiatische oder die arabische Welt folgen hier, eingebunden in eigene Philosophien und Denktraditionen und soziale Konventionen, anderen Wegen und Zielen (vgl. Bossong 1992). Für die Rhetorik, die sich in die internationale Kommunikation hinein erstrecken will, gelten hier entsprechende kulturelle Rahmenbedingungen, die als Anforderung wie als Bemessungsmaßstab ihre Beachtung und Geltung verlangen. (5) Von breiter Kriteriendichte, die die grundlegenden bis zu den komplexen Konstituenten umfasst ( – – – ) und insbesondere den Blick in die Komplexität der Kommunikation unter dem Aspekt öffnet, ist der Bereich ‚Tabu‘, ‚Vorurteil‘, ‚Tabubruch‘, damit zusammenhängend dann auch Formen der Achtung, des Respekts, der positiven Wahrnehmung, der partnerschaftlichen Begegnung, die man, noch aus tradierter Zeit, ‚Höflichkeit‘9 nennt. Die über das Nationale hinausgehende Dimension dieser Denkweisen und Verhaltensweisen und Umgangsformen ist spätestens über die hoch verdienstvollen Publikationen der Lieux de mémoire, die Gedächtnisorte, des französischen Historikers Pierre Nora (geboren 1931) für das Französische bzw. für Frankreich (Nora [Éd.] 1984 – 1992; Nora [Hrsg.] 2005), dann aber auch für das Deutsche und Deutschland evident geworden (François / Schulze [Hrsg.] 2001). Diese Bände zum sogen. Kulturellen Gedächtnis dienen dem Aufarbei9

Vgl. in der Romania franz. courtoisie, von cour ‚(königlicher) Hof ‘, entsprechend ital. cortesia, von corte; span. cortesía, von corte; engl. courtesy, von court.

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ten, oft überhaupt erst einmal dem Konkretisieren von rhetorischen Gedächtnis-Topoi als Orte einer historisch gewachsenen und unvergessenen mentalen Identität einer Kulturgemeinschaft (hier gleichzusetzen mit ‚Nation‘). Sie verlangen in Gesprächen und in schriftlichen, rhetorisch durchwirkten Texten ein hohes Maß an Sensibilität, die sich auf Erwähnung, Handhabung, Argumentation, inhaltliche Darstellung, Bewertung u.a. eines Tabus oder eines der Kultur wichtigen Gedächtnisortes richtet. Tabubruch ist ein ernstes kommunikatives Vergehen mit rhetorischer Funktion gegen das VERSTÄNDNIS der Fremdkultur. Dieses vitium kann auch nicht poetisch lizenziert werden, es liegt nicht auf der Ebene der verba (lexikalische Verbesonderung) oder der compositio (makrostrukturelle Innovation, Textsorten-Experiment), es ist auf einer wesentlich höheren Ebene als der des Textes angesiedelt, was für die Antike und ihre Kategorien nicht oder nur ganz marginal von Interesse war: nämlich auf der der kulturellen Begegnung, der Interkulturalität. Die Kategorie des Tabus, dessen Begriff bekanntlich aus dem Polynesischen mit der Bedeutung ‚Heiliges‘, ‚Verbotenes‘ stammt und überhaupt erst ab Ende des 18. Jahrhunderts (James Cook) den gelehrten (und dann auch alltäglichen) Diskurs in Europa neu bereichert hat, ist der antiken Rhetorik fremd (vgl. Kocher 2009), es sei denn, man nehme Umfassungsbegriffe zur Hilfe wie (a) ‚Schweigen‘, insbesondere – bei religiösen oder sexuellen Themen – aus Ehrfurcht oder lediglich Achtung vor den Gefühlen des Publikums (Lausberg 1960: §887 ff.) als spezielle rhetorische Kategorie die Aposiopese10, oder (b) ‚Ersatz‘ (Substitution, Euphemismus). Ganz davon abgesehen, dass zum Tabu neben dem Verbalen auch das nonverbale Handeln bzw. das NichtHandeln gehört, wozu in der Antike, über Ratschläge der körperlichen Wirkung in öffentlicher Rede hinaus, nichts Relevantes kategoriell erfasst worden ist. Wieso auch? – setzt diese Erwartung immerhin voraus, dass aus eigenkultureller Sicht ein Gespür für fremdkulturelle Verletzbarkeiten vorhanden wäre, was natürlich dann nicht gegeben ist, wenn, wie in der Antike, die eigene Kultur als der Maßstab allen Bemessens und Abwägens in der Kommunikation gilt. Rhetorik im internationalen Verkehr und somit im interkulturellen Kontakt hat hierzu offensichtlich noch Nachholbedarf, um in globalisierter Kommunikation textwirksam aufzuscheinen und pragmatisch weiterzuhelfen im Sinne

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Griech. ἀποσιώπησις aposiṓpēsis; lat. reticentia, obticentia ‚das Verstummen‘, ‚Schweigen‘, ‚Stillschweigen‘). – Cicero: De oratore III 205; Quintilian: Institutio oratoria IX 2, 54. – Die Verwendungsweise und somit die Bedeutung der rhetorischen Figur verändert sich dann bis zum 18. Jahrhundert zu einem gerade auch poetisch genutzten Spannungsfaktor, indem durch Auslassen oder bedeutungsvollen Abbruch das Publikum zum kontextuellen Weiterdenken, zum Erraten, zum inhaltlichen und syntaktischen Mitvollzug der Intention des Redners angeregt wird. (Vgl. Drews 1992).

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von VERSTÄNDNIS (Modell 1, Bereich IV.) für die kommunikativen Belange der Fremdkultur. (6) Im hermeneutischen Zusammenhang von < ‚VERSTÄNDLICHKEIT‘ – ‚VERSTEHEN‘ – ‚VERSTÄNDIGUNG‘ – ‚VERSTÄNDNIS‘ > (Modell 1) hat sich, insbesondere im Arbeitszusammenhang mit der Translationswissenschaft, seit den 90er Jahren in Deutschland (in den USA bereits rund vier Dekaden früher) eine kleine, aber gesellschaftlich sehr erfolgreiche Berufssparte entwickelt, die sich der adressatenspezifischen Optimierung von Texten widmet, also den im Zusammenspiel von und spezifisch auf die ausrichtet (Abbildung 10): das Technical Writing, ‚Schreiben in der Technik‘, ‚Technisches Schreiben‘ (verstanden als ‚Technik des Schreibens‘), ‚Technische Redaktion‘ (vgl. Krings 1996; Herrmann 2009); der thematische Bezug der Texte betrifft allerdings vorzugsweise technikbezogene Prozesse und Produkte, also eine dominierende Fachausrichtung zwischen Wissenschaft und Praxis (Produktion, Verteilung) mit einer hochdifferenzierten Vielfalt an Textsorten und Kommunikationsweisen, meist mit deskriptiver wie auch instruierender Funktion. Über ihre Arbeitsbelange ist eine Verständlichkeitsforschung aufgeblüht, die eng mit der Textlinguistik und Pragmatik zusammenarbeitet und die Angewandte Linguistik um ein wichtiges Spektrum ihrer gesellschaftlichen Bezugnahme bereichert hat. Ihre Bearbeitungsstrategien betreffen auf weite Strecken Kriterien, die der Rhetorik entnommen sind (Herrmann 2009). Der Kultur-Aspekt spielt hierbei eine wichtige Rolle, insbesondere in Translationsfällen: die Frage der Lokalisierung oder der Internationalisierung betrifft [s.u. (8)] betrifft zentral den Aspekt ‚VERSTÄNDNIS‘ für die mentalen Voraussetzungen und die soziokulturellen Kontexte des (vorausgedachten, sich vorgestellten, möglichen) Rezipienten. (7) Wo als basislegende Konstituenten , und involviert sind (s.o. Abbildung 10) und diese Gemeinschaft einen spezifischen mit sich bringt, ist die moderne Technik einbezogen. Hier ist der Raum des Internet, dessen Verwendung verlangt, sei es in der Handhabung, sei es bei den Prozeduren, sei es bei Entscheidungen, bei der Einschätzung der Informationsangebote, bei der Bewältigung des Informationsberges, bei der Dokumentation; aber auch bei den kommunikativen Ethoi (Umgangsformen: Netiquette, Chatiquette), bei der Ehrlichkeit und den technisch neu möglichen und aufkommenden Formen des Betrugs, der Lüge, der Verstellung (digitaler Missbrauch, Cyber-Mobbing). Mediale Kompetenz muss wachsen, erlernt werden, sensibel das Verhalten und die Erwartungen steuern. Es dürfte sich allein mit diesen Reizbegriffen offenbaren, wie stark hier Rhetorik schon einbezogen ist, aber eben nicht in altbekannter Weise der

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Textbindung und der natürlichen Situativität, sondern im Rahmen neuer, eben elektronisch aufkommender und sich herausbildender Textkonventionen und Kommunikationsformen wie auch Situationen (Virtuelle Gemeinschaften/ Virtual/Internet-/Cyber-/E-/Online-Community, Social Networks / Social Media, eMail, Chat, Foren, Blogs, Portale, Facebook, Twitter, u.a.): man kann sie, die ihrerseits in eine Tradition der Informationsmedien eingebunden sind und somit durchaus nicht „grundsätzlich neu“ sind, als Internet-Rhetorik bezeichnen (vgl. Gassner 2012), die kompetenzstark macht und somit im neu sich entwickelnden Handlungsgeflecht im Spektrum neuer Textsortenformen und kommunikativer Konventionen die notwendige Orientierung, Bewusstheit und Souveränität im Umgang mit Sprache-in-Technik bietet. Gerade hier ist die hermeneutische Integrationsgemeinschaft (Modell 1) von VERSTEHEN, VERSTÄNDIGUNG und schließlich, eben auch rhetorisch vonnöten, von VERSTÄNDNIS unabdingbar und führt schließlich zu einer medialen Kompetenz (Kalverkämper 2012: 476f.). (8) Mit und (s.o. Abbildung 10) grundlegend verbunden ist das soziokulturelle Phänomen der ‚Korrektheit‘, der allseitigen Achtung, wie sie sich im Respekt einzelner Besonderheiten (Geschlecht, Rasse, Hautfarbe, Religionszugehörigkeit, Körperbehinderung u.a.) beweist: die social, sexual, racial, political, linguistic correctness. Sie bezieht sich klar auf das um diese Besonderheit und das daraus sich ergebende Handeln. Hier liegt ein genuiner Ort einer Rhetorik, die kulturell, genauer: soziokulturell sensibilisiert ist in der electio verborum und den Wirkungsgeschichten. Ihr Ziel ist das VERSTÄNDNIS. Eng dürften hier Begriffe wie ‚Tabu‘ und ‚Tabubruch‘ hingehören [vgl. oben (5)]. Arbeitstechnisch zeigt sich das Anliegen in der adressatenbezogenen Textoptimierung, der Textbearbeitung, insbesondere bei den Veränderungstechniken der sogen. Lokalisierung („Nationalisierung“, d.h. Anpassung an die Akzeptanzen der beheimatenden Kultur) und, andererseits, der sogen. Internationalisierung (Freimachen von kulturellen Identitäten und Spezifika, neutrale Präsentation von verbaler und nonverbaler, d.h. meist: bildlicher Information, ohne Möglichkeiten des kulturellen Anstoßes). (9) Für Disziplinen wie ‚Deutsch als Fremdsprache / English as a Foreign Language / Français Langue Étrangère / Italiano come Lingua Straniera / Español como Lengua Extranjera‘ stehen der und das , hier: die Fremdsprache, eben als (s.o. Abbildung 10), im Vordergrund. Schon längst ist das Selbstverständnis dieser relationalen (als, as, comme, come, como) Disziplinen, die aus den Einzelphilologien (Germanistik, Romanistik mit den Einzelsprachen als Französistik, Italianistik, Hispanistik) als Angewandte Disziplinen erwachsen sind, über die Ebene der Sprache und

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Fremdsprachen-Vermittlung hinausgelangt. Die Kultur-Dimension spielt hier eine ebenso wichtige Rolle bei der Lehre. In sprachlichen und nonverbalen Kontexten vermittelt diese sich allerdings kaum anders als kommunikativ, in Texten, in Handlungsweisen, und hier ist Rhetorik insofern wiederum angefragt, als sie den hermeneutisch umfassendsten Belang, nämlich VERSTÄNDNIS, mit Kriterien und rhetorischer Schulung lehren könnte. (10) Mit dem Beispiel an dieser Stelle verblassen die (drei) basislegenden Konstituenten des Kommunikationsmodells (s. Abbildung 10), und es treten eher die zusätzlichen in Funktion: Zu denken ist nämlich an die rhetorischen Abläufe, die Argumentationsweisen, die rhetorisch-forensischen Situationen in amerikanischen (und natürlich auch anderen fremdkulturellen) Fernseh- und Kinofilmen, die europaweit, auch weltweit gesehen werden. Der ist ein fachlicher, nämlich Jura, eben eine der drei zentralen Gattungen (Gerichtsrede) und somit Auftrittsfelder (Forum, Gericht) der Rhetorik. Es wird in der Spielhandlung nebenbei, unterschwellig, vielleicht, durch den Ablauf motiviert, auch explizit, ein um das amerikanische bzw. generell fremde Rechtssystem vermittelt. Dies hat möglicherweise Auswirkungen auf das , und sei es auch nur, dass man sich informiert über die entsprechenden Gegebenheiten im eigenkulturellen Rechtssystem, oder auch, dass man fähig ist, über die Fiktion des filmischen Geschehens hinaus die juristischen Sachinformationen für sich zu verwerten (wie es z.B. als erzieherisches Anliegen von medizinischen Filmserien aus dem Krankenhausmilieu formuliert wird). Die forensischen Abläufe im Film bieten sich, auch bei Synchronisation, dem fremdkulturellen Publikum in den Argumentationen, aber auch in den Riten, in der Architektur, den Kleidungsweisen (Uniformen, Talare), den forensischen Konstellationen (Zeugenstand, Geschworenenbank, Richterempore), in den Umgangsweisen und Befragungsstilen usw. als rhetorischsemiotische Qualitäten an, die die Zuschauerschaft mit der Zeit immer besser kennenlernt und immer genauer kennt. Es baut sich im Rahmen der Rhetorik ein sach- und ablaufbezogenes, fachgerichtetes VERSTÄNDNIS auf. (11) Rein auf (Abbildung 10) zielt das Beispiel der Anglophonie, des Englischen als Lingua franca in der Welt. Immerhin hat die Sprachenkonkurrenz (Kalverkämper 2008) und die aktuelle Primatstellung des Englischen in der Welt die durchaus nachdenkenswerte Konsequenz, ob es dann nicht sinnvoll sei, sich, schon aus ökonomischen Gründen, dem Rhetorischen ausschließlich in der englischen Sprache zu widmen, wenn Rhetorik die Globalisierung mitvollziehen und als Disziplin gleichsam die Welt erreichen soll. (12) Ganz hinausgewachsen aus den drei basislegenden und den beiden rudimentären Konstituenten, nämlich in die weiten Bereiche von und

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hinein (s. Abbildung 10), zeigt sich der Beispielfall der qualitativ gehobenen Reiseliteratur. Hier hat sich in der letzten Dekade ein boomender Markt entwickelt, beobachtbar seit der Jahrtausendwende, somit gleichsam als Reaktion des Fremdkultur-Buchmarkts auf die wissenschaftliche Hinwendung zur Kultur-Dimension und zur Interkulturalität (in den 1990er Jahren). Das kann der Wissenschaft nur recht sein, wenn die Anwendung die theoriegeleiteten Erkenntnisse gleich praktisch umsetzt. Und so sind in den deutschen Reiseführern zu den fremden Ländern und Kulturen beachtenswerte Kapitel, nicht nur schamig erwähnende Legitimationsseiten, zu finden, die sich mit den Spezifika der Fremdkultur auseinandersetzen. Dazu gehören Essgewohnheiten, kulturbedingte Einteilungen des Tageslaufs, Formen des höflichen Umgangs miteinander, Redeweisen, Körpersprache, gegenseitige Erwartungshaltungen u.a., insbesondere Tabus, zu vermeidende Themen, sensible Reizbegriffe. Es geht dabei um Konfliktvermeidung, um Bewusstmachung, um Vermeidung von Blamage und um Öffnung zur Toleranz – um VERSTÄNDNIS füreinander. Wie stark der Markt hier einen offenbar zentralen Bedarf bedient, sieht man an den vielen Reihen, die sich, mehr oder weniger stilistisch launig und kurzweilig verfasst, zu den verschiedenen Ländern – Frankreich, Spanien, Türkei, Japan usw. – anbieten, so: Fettnäpfchenführer (Meerbusch: conbook verlag); KulturSchock-Reihe (Reise Know-How Verlag Bielefeld: Peter Rump); Typisch-Reihe (Typisch deutsch. Wie deutsch sind die Deutschen?, Typisch englisch. Wie die Briten wurden, was sie sind, u.a. München: Beck. [beck‘sche reihe]); FettnapfTaschenbücher und serielle ‚Ausländer sind manchmal ganz schön komisch‘Taschenbücher bei Rowohlt Taschenbuch Verlag (Reinbek bei Hamburg); die Reihe erleben & verstehen, zu der dann der Ländername initial hinzugefügt wird (Ismaning: Hueber); oder KulturSchlüssel [plus Ländername] mit dem Untertitel: Andere Länder entdecken & verstehen (Ismaning: Hueber); die Kulturschock [plus Ländername]-Titel als Beiträge zur Sammlung „Rotbuch Zeitgeschehen“ im Verlag Hamburg: Rotbuch; die Dos and Don‘ts, wie es anglophon werbend heißt, im internationalen Verkehr. Diese (und noch weitere) Reihen sind thematisch reich an Angeboten zu verschiedensten Ländern, üppig ausgestattet mit Bildmaterial und hochqualitativem Papier mit optisch und taktil ansprechenden Umschlägen, umfangreich in den Darstellungen (200 bis 300 Seiten stark), vom Taschenbuch-Format bis zu Standard-Buchformat. Die Intentionen finden sich synonymal in den Umschlagwerbetexten oder in den Vorwörtern: Es sollen bei zukünftigen ReiseBesuchen mögliche Verhaltens-Falschheiten, Minenfelder der Etikette, Regelverstöße, Anstands-Verletzungen, Peinlichkeiten, Blamagen, Missdeutungen, fremdkulturelles Unverständnis schon im Vorfeld abgefangen werden, gleichsam als Welt-, Euro- oder Länder-Knigge.

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Neben solchen Reihen gibt es inzwischen sehr viele Bücher mit lebhaft expandierendem Erfolg, die sich mit dem Thema ‚Kulturspezifik‘, ‚Identität‘ journalistisch (z.B. [!] Asserate 2013) bis wissenschaftlich (z.B. [!] Szurawitzki 2013) beschäftigen. Solche fremdkultursensible Literatur für Reisevorbereitungen oder Arbeitsaufenthalte im Ausland dienen über das kurzfristige Gelingen auch dem Aufbau einer Interkulturellen Kompetenz, wie sie bei längerfristigen internationalen Arbeitskontakten vonnöten ist (Business-Knigge oder Business-Etikette; z.B. [!] Rowland 1994; Lewis 2000; Gesteland 1999; Baumgart / Jänecke 1997; Detzel 2008). Schaut man sich diese Ratgeber zum Bewusstmachen und Aufbau fremdkulturellen VERSTÄNDNISses an – dazu müsste es mal eine eigene, umfassende, kritische kulturwissenschaftliche Analyse geben –, dann kann man feststellen, dass die Meistzahl der behandelten Fälle kommunikativer Natur sind, die mit rhetorischen Taktiken und „Tricks“ bewältigt werden (können). Nur spielt das Rhetorische als Disziplin, als Kategoriengeber, als disziplinäre Referenz dort keinerlei Rolle. Aber, umgekehrt, beweist sich durch diese populärwissenschaftlichen Publikationen, dass im Zuge der Internationalisierung und Globalisierung offenkundig eine vermittelte rhetorische Kompetenz (neben anderen) dazu verhilft, in fremdkultureller Umgebung mit einem so aufgebauten VERSTÄNDNIS sich angemessen und somit störungsfrei verhalten zu können. Disziplinär eingeordnet werden könnte diese kulturelle Komponente und dann interkulturelle Ausrichtung der Rhetorik bei der Angewandten Rhetorik. Diese kennt ja bereits die Umsetzung rhetorischen Wissens in eine rhetorische Könnerschaft im Rahmen der Wirtschaftskommunikation, bei der ein sicheres Auftreten und Verhandeln relevant ist für Verträge und Anschlussaufträge und somit ökonomischen Erfolg. So sind es gerade die Manager-Hilfen und Ratschläge für Führungskräfte, die hier11 kulturelle und interkulturelle Kompetenz lehren im Sinne des perfekten Auftritts, der Verhaltensregeln, der Menschenführung, der Mitarbeiterführung, des Medientrainings für Manager oder Politiker, der öffentlichen Wirkung, der öffentlichen Rede zu bestimmten Anlässen, der Geschäfts- und Verhandlungskommunikation, bis hin zur eigenpsychischen Stabilisierung durch sicheres Auftreten und eloquentes Vertexten von Informationsanliegen.12 (13) Das letzte Beispiel zielt auf das (s.o. Abbildung 10). Hierzu sei auf die politisch gewollte Kooperation deutscher und französischer Me-

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Alle Kursiven als Bestandteil einschlägiger Buchtitel. Die wohl erste nähere wissenschaftliche Beachtung dieses seit den 80er Jahren in eigenen Ratgebern aufkommenden eigenständig-angewandten Profils der ja ansonsten stets praxisbezogenen Rhetorik stammt nach meiner Beobachtung von Hess-Lüttich (1991).

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dienpraktiker verwiesen, die per Staatsvertrag (1990) zwischen Frankreich und (damals) Westdeutschland die deutsch-französische Medienkooperation in Straßburg mit dem europäischen Kulturkanal ARTE (Association Relative à la Télévision Européenne) begründeten. Eines der erklärten Ziele der Kooperation ist die VERSTÄNDIGUNG miteinander und das daraus erwachsende VERSTÄNDNIS der beiden ehemals verfeindeten Völker und Kulturen für einander, es untersteht, aus den Erfahrungen der leidvollen Vergangenheit, den hermeneutischen Funktionen des VERSTEHENS, der VERSTÄNDIGUNG, letztlich, als hehres Ziel, des VERSTÄNDNISses füreinander. Letzteres muss über die interkulturelle Zusammenarbeit und gemeinsame mediale Projekte gesucht und erarbeitet werden. Der Anteil der Rhetorik daran sollte nicht unterschätzt werden, handelt es sich doch um Konfliktvermeidungsstrategien, um achtungsvollen kommunikativen Umgang miteinander, um gegenseitigen Respekt in den kulturbedingt anders verlaufenden Arbeitsstilen und Erarbeitungen von medialen Ergebnissen. Hier spielt Rhetorik im Aushandeln gemeinsam vertretener Werte, Prozeduren, Ziele, Arbeitsweisen usw. eine entscheidende Funktion für das handlungsorientierte Gelingen: Gerade die rhetorisch geregelte und ausgetauschte Pragmatik ermöglicht das Erreichen des gemeinsam gesetzten politischen Ziels, nämlich das VERSTÄNDNIS der beiden fremden Kulturen für einander zur Sicherung von Frieden und gemeinsamer Prosperität.

8. Herausforderungen an eine interkulturelle Rhetorik Dreizehn Beispielprofile, etliche auch mit schon stärker etablierten Aktionsfeldern wie die Textbearbeitung oder die Angewandte Rhetorik [s. (6) und (12)], legen es nahe, die Zuständigkeit der Rhetorik mit ihren hermeneutischen Qualitäten zu – VERSTÄNDLICHKEIT des Textes (Modell 1, Bereich IV., Kasten A), – VERSTEHEN durch die Kommunikationspartner (B), – VERSTÄNDIGUNG in der Kommunikationssituation (C) nun auch für das – VERSTÄNDNIS in der transkulturellen, in der globalen Welt (D) fruchtbar zu machen und somit das traditionelle Format der Rhetorik durch eine deutlich kulturorientierte Komponente zu erweitern. Diese betrifft die sprachlich und nonverbal sich niederschlagende Sensibilisierung für die Fremdheit, für die Alterität, für die andere Kultur und deren Kulturspezifika, und zwar unter dem speziell rhetorischen Blickwinkel, hier mit den (der Rhetorik eignenden) Wirkungszielen via Sprache/Text und Nonverbalem das gegenseitige VERSTÄNDNIS zu ermöglichen, zu fördern und mögliche Störun-

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gen oder Missverständnisse zu vermeiden bzw., wenn sie gegeben sind, mit geeigneten Maßnahmen wieder zu glätten und zu beheben. Vorurteile zum Beispiel waren in dieser Hinsicht stets ein solcher Fall (vgl. Kalverkämper 2000a, 2000b), aber die Rhetorik wie auch die Soziologie und die Interkulturalitätsforschung stehen ihnen recht machtlos gegenüber, da sie als mentale Bequemlichkeiten nicht zu vertreiben sind und auch über die Generationen und die Erziehungs- und Bildungstraditionen in den Köpfen und Texten etabliert bleiben. Man muss natürlich sehen, welche Ausstrahlungskraft die Dimension der Kulturalität auf die etablierten Disziplinen, die mit Sprache und Kommunikation zu tun haben (s.o. Abbildung 3), ausübt: Die Erweiterung (s.o. Abbildung 10) hat ein Bündel von Veränderungen zur Folge: – Interdisziplinäre Kooperation. – Integrative disziplinäre Beziehungen. – Transgressionen der Zuständigkeit. – Bedeutungszuwachs von Peripherien. Für die Rhetorik ergibt sich hier eine Herausforderung an – die Wissenschaft ‚Rhetorik‘, also an die Theorie, die die kulturorientierte Öffnung in die Interkulturalität zu leisten hat; sodann an – die Nutzer, also die Praxis, indem diese Bezüge zur optimierenden Verwertung der wissenschaftlichen Angebote sehen; und schließlich auch an – die Lehre, als Angewandte Rhetorik, also an die didaktische Umsetzung, um die Erkenntnisse, wie seit alten Zeiten, in die Köpfe zu bekommen und in der täglichen Prüfung so zu evaluieren, dass sich fruchtbare Rückmeldungen an die Wissenschaft ergeben können. Die Rhetorik muss die neue Komplexitätsgröße < ‚Interkulturelle Zuständigkeit‘ im Rahmen der Globalisierung > insofern verarbeiten, als die Kategorien, die Instrumente und die Methoden dafür, für diesen Maßstab, entwickelt werden müssen; das Ziel allerdings bleibt konsequent: das VERSTÄNDNIS – als komplexeste hermeneutische Qualität des Handelns in der Welt (Modell 1). Da von hierher stete Anforderungen an die Wissenschaft – gerade auch an die Disziplinen im komplexen Aufgabenbereich ‚Sprache‘, ‚Kommunikation‘, ‚Gemeinschaft‘, ‚Kultur‘ – gestellt werden (Politik bzw. Diplomatie, Wirtschaft, Wissenschaft bzw. Forschung, Rechtswesen bzw. internationale Verbrechensbekämpfung, Medien, Touristik, Klimaschutz, Umweltprobleme und Katastrophenbekämpfung, u.a.), sollte sich die Rhetorik bemüßigt sehen, hier Antworten zu bieten. Sonst stellt sich aus dieser Sicht die Frage: Brauchen wir überhaupt die Rhetorik für die modernen Herausforderungen internationaler, globalisierter Kommunikation? Welche andere Disziplin könnte hier das VERSTÄNDNIS wissenschaftlich begleiten und wirkungsmächtig Hilfestellung bie-

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ten? Hat die aktuelle Rhetorik tatsächlich ihre Grenze bei der VERSTÄNDIGUNG (Modell 1) inne? Das sich wandelnde Selbstverständnis der Rhetorik würde sich der rhetorica utens, dem prodesse ‚nützen‘, deutlich zuwenden und sich auch von dorther, aber mit kulturellen Vorzeichen, interkulturellen Intentionen und globalen Wirkungen, bemessen lassen. Ihr könnte die Rolle einer kulturenkritischen Handlungstheorie und Kommunikationsanleitung zufallen, als eine interkulturelle Mediationstheorie und -praxis, als eine Wirkungsdisziplin im hermeneutischen Spannungsfeld von < ‚VERSTEHEN‘, ‚VERSTÄNDIGUNG‘ und ‚VERSTÄNDNIS‘ >. Die Rhetorik würde so als kompetente Dienstleisterin für kommunikative Wirkungen im Rahmen interkultureller, ja globaler Geltung auftreten und mit dem daraus abgeleiteten kommunikativen Ethos des VERSTÄNDNISses zugleich wissenschaftlich wie praxisbezogen eine friedenstiftende oder -bewahrende, eine kulturenkonsentielle Funktion mit den Wirk-Mitteln der Verbalität und Nonverbalität erfüllen.

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Rhetorik und Neue Medien

Zunächst: Neue Medien – was ist unter dem Begriff zu verstehen, wurde er doch in seiner noch nicht sehr langen Geschichte recht unterschiedlich gebraucht? Wird doch schon der Begriff Medien sehr unterschiedlich definiert und reicht von materiellen Trägermedien, Papyrus, Buch, CD-ROM bis zur Sprache und zu übermittelnden Frequenzen. Der oft als Theoretiker der Elektronischen Medien bezeichnete Marshall McLuhan definiert gar: „Medien sind alle Technologien, die Ausweitungen des menschlichen Körpers und der menschlichen Sinne darstellen, von der Kleidung bis zum Computer“1. So beklagt Knape, dass für den Terminus Medien noch „keine wirklich klaren Kategorisierungen vorgenommen“2 wurden, ähnlich äußern sich zahlreiche Autoren3.“Im Zusammenhang mit dem Medien-Begriff ist zu erwähnen, dass die Kommunikationswissenschaft de facto über keinen eindeutigen MedienBegriff verfügt.“4 Der akademische Lehrer Marshall McLuhans und Begründer der Schule von Toronto, Harold A. Innis, propagierte ebenfalls einen sehr weit wirkenden Medienbegriff, der davon ausgeht, dass Medien, als Kommunikationsmittel verstanden – vom Ton der mündlichen Kommunikation über Ton als Träger der Keilschrift bis zum Zelluloid des Kinofilms und zum Radio – , das Wesen des Wissenserwerbs, des Denkens und Fühlens bestimmten und damit epochebildenden Charakter hatten.5 Diese Theorie wurde von Marshall McLuhan adaptiert und zur These, dass das Medium, nicht der Inhalt die Botschaft sei, zugespitzt: „Der Inhalt oder die Botschaft eines bestimmten Mediums haben ungefähr so viel Bedeutung wie die Aufschrift auf der Kapsel einer Atombombe.“6 Daraus leitet McLuhan die eben erwähnte AusweitungsTheorie ab, alle Medien übermitteln nicht nur Informationen, viel wichtiger: 1 2

3

4

5

6

McLuhan, Marshall (2001): Das Medium ist die Botschaft. Dresden, Verlag der Kunst, 176. Knape, Joachim o.J.: Rhetorik und Neue Medien. [online], 140, http://www.mediendaten.de/ fileadmin/Texte/Knape04.pdf [24.03.2012] vgl. Kramer, Sybille [Hg.] (2000): Medien. Computer. Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und Neue Medien. Frankfurt, Suhrkamp. Pürer, Heinz (2003): Publizistik- und Kommunikationswissenschaft. Ein Handbuch. Konstanz: UVK., 208. Innis, Harold A. (1997): The Bias of Communication. Die Eule der Minerva. In: Barck, Karlheinz (Hrsg.), Harold A. Innis – Kreuzwege der Kommunikation. Ausgewählte Texte. Wien, New York: Springer, 69–70. McLuhan (2001): 173.

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sie seien als Werkzeuge Ausweitungen der menschlichen Sinne und Körperfunktionen, auf der anderen Seite führten sie aber auch zu „Amputationen“, indem sie einseitig Entwicklungen förderten und dadurch andere Fähigkeiten verkümmern ließen.7 Anders als die traditionellen Medien, so behauptet McLuhan, „bewirken die elektronischen Medien eine beinahe sofortige, totale Veränderung der Kultur, der Werte und Einstellungen.“8 Dies könne zum Identitätsverlust führen, auf der anderen Seite biete die „unglaubliche Beschleunigung der Informationsübertragung“ die Möglichkeit, den Prozess zu verstehen und zu kontrollieren. Schließlich ergibt sich bei McLuhan daraus eine eschatologische Gesellschafttheorie, die elektronische Medien und Computer zur Möglichkeit einer allseitigen Entwicklung menschlicher Fähigkeiten werden lässt. Das durch das Gutenberg-Zeitalter geprägte lineare Denken müsse durch ein assoziatives Denken ersetzt werden. In den 80er und 90er Jahren wurde McLuhan als Theoretiker vielfach nicht ernst genommen, Enzensberger unterstellte ihm Theorieunfähigkeit9, Umberto Eco erkannte immerhin anregende Ideen trotz des „cogito interruptus“10. Insgesamt aber ist zu beachten, dass McLuhan 1980 verstarb, also in einer Zeit vor der sogenannten „digitalen Revolution“ lebte, noch vor der Zeit als Bill Gates belächelt wurde, wenn er seine Vision von einem Computer in jedem Haushalt verkündete. Insofern konnte er die künftigen Entwicklungen kaum vorhersehen, die Überhöhung in eschatologischen Projektionen mag daher resultieren. Neil Postman korrigiert McLuhans Aphorismus, das Medium sei die Botschaft, „denn so, wie er dasteht, lädt er zu einer Verwechslung von Botschaft und Metapher ein [Metapher hier streng verstanden als übertragendes Element]. Eine Botschaft macht eine bestimmte, konkrete Aussage über die Welt. Die Formen unserer Medien und die Symbole, durch die sie einen Austausch ermöglichen, machen jedoch keine derartigen Aussagen. […] Ob wir die Welt durch das Objektiv der gesprochenen Sprache oder des gedruckten Wortes oder der Fernsehkamera wahrnehmen – unsere Medien-Metaphern gliedern die Welt für uns, bringen sie in eine zeitliche Abfolge, vergrößern sie, verkleinern sie, färben sie ein und explizieren eine bestimmt Deutung der Beschaffenheit der Wirklichkeit.“11 Medien als Überträger von Informationen vermitteln also jeweils ihnen spezifische Botschaften. Unterschiedliche Medien lassen, den Anforderungen der inneren Angemessenheit (apte dicere)

7 8 9

10 11

McLuhan (2001) : 171. McLuhan (2001): 175. Swertz, Christian (2003): Was das Medium mit dem Wissen macht. McLuhan und die Wissensorganisation. [online] http://fiz1.fh-potsdam.de/volltext/wien/08069.pdf [03.02.2012], 1. Eco, Umberto (1985): Über Gott und die Welt. München: Hanser, 289. Postman, Neil (1988): Wir amüsieren uns zu Tode. Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie. Frankfurt a. M.: Fischer, 19,20.

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entsprechend, sich für unterschiedliche Gegenstände und Weisen der Kommunikation nutzen. Gibt es aber spezifische Botschaften, die durch die Neuen Medien vermittelt werden, die – um wirkungsmächtig zu sein – auch einer „neuen Rhetorik“ bedürfen? Dazu ist es nötig, den Begriff Neue Medien zu betrachten. Als „Neue Medien“ wurde in den 80er Jahren das Fernseh- und Radio-Angebot von Privatsendern bezeichnet, die Zusatzinformationen des Videotextes, das Online-Medium des Bildschirmtextes (BTX) und auch die – zumindest im Videobereich – noch analog arbeitende Bildplatte. Erst mit der Entwicklung der digitalen Medien, bedingt durch enorme Fortschritte in der Prozessor-, Übertragungs-, Speicher- und Kompressionstechnik, wurde der Begriff zunehmend auf digitale Medien übertragen. Kleine Randnotiz: Als ich mit den Vorarbeiten für das Historische Wörterbuch der Rhetorik in Tübingen begann, das war 1985, erhielt ich einen sogenannten IBM-kompatiblen Rechner mit einer Taktrate von 4,77 MHz und – nach einer Sonderbestellung – mit einer 10 statt 5 MByte großen Festplatte. Heute liegt die Taktrate meines Notebooks etwa beim 500fachen, die Anzahl der Schaltkreiselemente hat sich um das 20.000fache erhöht, die Speicherkapazität der Festplatte um das 10.000fache. Das Online-Medium Bildschirmtext wurde damals mit einer Upload-Rate von 75 bit/s und einer Download-Rate von 1200 bit/s angeboten. Die Übertragungsgeschwindigkeiten haben sich heute auf bis zu 100 Mbit/s im Downloadbereich erhöht, also um mehr als das 50.000fache. Was bedeutete die rasante technische Entwicklung nun für die Entwicklung der Medien? Während Mitte der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts, als die Arbeit am Historischen Wörterbuch begann, viele von der „digitalen Revolution“ im Büro sprachen, weil auf den Bürorechnern von IBM, Apple und Co. Tabellenkalkulationen, Textverarbeitungen und Datenbankanwendungen möglich wurden, hielt die Digitaltechnik in der zweiten Hälfte der 80er Jahre Einzug in Grafik- und in Audiostudios, Anfang der 90er Jahre war dann das digitale Video auf kleinen Rechnern wiederzugeben und zu bearbeiten. Die so digitalisierten Medien waren auf Offline-Medien, zumeist auf optischen Speichern, verfügbar. In den 90er Jahren begann dann, durch die Fortschritte in der Kompressions- und Übertragungstechnik unterstützt, das Wachstum des Internets mit dem konsumentenorientierten World Wide Web, das allerdings erst mit dem Beginn des neuen Jahrtausends auch massenhaft genutzt wurde. Mit der zunehmenden Digitalisierung wurde dann auch der mittlerweile abgegriffene Terminus Multimedia gebraucht. Nicholas Negroponte stellte dazu fest: „Wenn alle Medien digital sind – denn Bits sind Bits – , wird man zwei grundlegende und unmittelbare Ergebnisse beobachten können. Zum einen vermischen sich Bits miteinander, sie geraten durcheinander und können – einzeln oder getrennt – immer wieder neu zusammengestellt werden. Diese Mischung

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von Audio, Video und Daten wird Multimedia genannt. Der Begriff klingt kompliziert, beschreibt aber im Grunde nichts anderes als gemischte Bits.“12 Die Neuen Medien zeichnen sich also dadurch aus, dass sämtliche Informationen und Daten, auch sogenannte zeitbasierte Daten wie Video und Audio, digitalisiert sind und dadurch, folgt man Negroponte, sicherlich nicht beliebig, aber doch vielfältig kombinierbar sind. Daher wird auch von der Möglichkeit der Medienintegration gesprochen, anfangs nur auf Offline-Datenträgern, mit den Fortschritten in der Übertragungstechnik auch im Online-Bereich, sogar soweit, dass Offline-Datenträger als Distributionsmedien in nicht allzu ferner Zukunft überflüssig werden. Als das Neue Medium schlechthin wird heute zumeist das Internet verstanden, zumindest was den Distributionsbereich betrifft, selbstverständlich auch die für die Nutzung notwendige Hardware, vom PC über Notebooks, Pads und moderne Smartphones. Dabei wird aber oft übersehen, dass das Internet unterschiedliche, durchaus traditionelle Medien integriert, es ist, quasi ein ‚Container-Medium‘, ähnlich wie jene ContainerFormate, die zeitbasierte Daten mit durchaus unterschiedlichen Codecs beinhalten können. Zum Teil werden Radio- und Fernsehprogramme im Internet genauso angeboten wie im Broadcast-Bereich, sogar mit der gleichen Kodierung, Bücher werden in E-Books als Abbild ihrer gebundenen Vorbilder verteilt und auch Zeitungen und Zeitschriften werden nicht sehr unterschiedlich zu ihren gedruckten Pendants angeboten, z.T. als E-Paper in ihrem auch am Kiosk verkauften Format – allerdings häufig mit dem Zusatz von Bewegtbildern, Bildstrecken und animierten Grafiken. Die Mischung von Medien mit Software-Elementen führt zu neuen Möglichkeiten des Zugriffs und der Verwaltung. Sicherlich hat der Zugriff und die Verfügbarkeit der angebotenen Informationen sich auch verändert, vielfach wird von Interaktivität gesprochen – auch wenn dieser Begriff ein wenig irreführend ist, denn im Grunde handelt es sich um eine mehr oder weniger diffizile Selektivität, selbst wenn dabei auf eine Datenbank mit sogenannter „künstlicher Intelligenz“ zugegriffen wird, sind die Parameter der vermeintlichen Interaktion bereits zuvor festgelegt, es erfolgt keine „freie Reaktion“ auf eine Auswahl. Immerhin, aus dieser Art der Selektion ergibt sich im Internet der sogenannte Hypertext, der, wie Olaf Kramer in seinem Aufsatz „Der Reiz des Einfachen“ darstellt, eine Form der Digression ermöglicht, des „unterhaltenden oder informativen Exkurs[es]“13 oder aber – wenn denn der Fließtext nicht interessant genug und der Nutzer einem Verweis (Link) nach dem anderen folgt – zum Verlorensein im Cyberspace führt. (Allerdings ist ähnliches dem ein oder anderen sicherlich auch schon in der Bü12

13

Negroponte, Nicholas (1997): Total Digital. Die Welt zwischen 0 und 1 oder die Zukunft der Kommunikation. München: Goldmann, 27. Kramer, Olaf (2008): Der Reiz des Einfachen. Zur Rhetorik und Ästhetik des Web 2.0. In: Joost /Scheuermann (Hrsg.) o .J. [2008], 253.

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cherwelt bei langweiligen wissenschaftlichen Texten passiert, wenn er interessanteren Fußnotenverweisen folgte.) In ausgeprägterer Form führt diese Form des Zugriffs und der scheinbaren Interaktivität zu Spielen, die in diverser Gestalt im Netz angeboten werden und in denen Situationen in oft verblüffender Weise realitätsnahe abgebildet werden, die durch Evidenz überzeugen. Doch lässt sich ohne Zweifel feststellen, das sich die Kategorien der Textund Bildrhetorik, wie sie im Laufe der historischen Entwicklung der Rhetorik entwickelt wurden, auch auf die Rhetorik der Neuen Medien anwenden lassen, beinhalten sie doch selbst schon die Möglichkeiten notwendiger medienspezifischer Modifikationen. Gewiss, die Neuen Medien stellen keine face-to-face Kommunikation dar, auch sind sie ubiquitär verfügbar, im Zugriff zeit- und ortsunabhängig, was in den Werbebotschaften von Anbietern schon Ende der 90er Jahre als Anywhere-Anytime-Verfügbarkeit angepriesen wurde. Auch vereint das Internet als Container-Medium Massenkommunikation, wie in den anführten Beispielen deutlich, und Individual-Kommunikation durch E-Mails und Chats in gleicherweise. Ebenso ist der Begriff der Öffentlichkeit und Kommunikationssituationen durch die unterschiedlichen „Settings“ in denen kommuniziert wird, die Massenmedien, Teilöffentlichkeiten durch die sogenannten sozialen Netzwerke, Blogs und durch Individualkommunikation zu differenzieren, so dass sich zugegebenermaßen durch die Medienintegration ein etwas unübersichtliches Bild ergibt. Julia Schmid14 unterscheidet unterschiedliche „Distributionsrahmen“ im Netz, den „Rahmen des öffentlichen Diskurses“, den Rahmen der technisch vermittelten „interpersonellen Kommunikation“, und „kleine Teilöffentlichkeiten, die als ‚virtuelle Gemeinschaften‘ bezeichnet werden können“15, kommt dann aber zu dem Ergebnis, „dass Rhetorik im Internet-Zeitalter nicht nur als Theorie, sondern auch als Praxis gefordert ist.“16 Sie stellt fest, dass die „Anwendung eines rhetorischen Ansatzes auf die Internet-Kommunikation […] allerdings auch Konsequenzen für die Rhetorik [hat]. So muss der Orator die Art und Weise, wie er seine Rolle ausübt, den durch das Internet veränderten Kommunikationsbedingungen anpassen.“17Allerdings ist fraglich, ob sich die Rhetorik dadurch verändert, mehr – wie auch wohl gemeint – die Art und Weise, wie der Orator seine Rolle ausübt. Denn wann muss sich ein Redner im Sinne der Angemessenheits-Forderung der Redesituation nicht anpassen? Rhetorik erwies sich im Laufe ihrer Geschichte schon immer als flexibel für unterschiedliche Kommunikationsformen, sei es der mündliche Vortrag mit den drei Redegattungen, sei es die Predigtlehre, die Briefstellerkunst, die ars poetriae, die ars disputandi, die Verkaufsrhetorik, die 14

15 16 17

Schmid, Julia (2007): Internet-Rhetorik. Chancen und Widerstände des Orators auf der digitalen Agora. Berlin: Weidler, 41. Schmid, Julia (2007): 66. Schmid, Julia (2007): 234. Schmid, Julia (2007): 231.

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Verhandlungsrhetorik oder die moderne Gesprächsrhetorik. Es gibt kaum Kommunikationssituationen, ob face-to-face oder medial vermittelt, ob unioder multidirektional, die nicht mit den Mitteln der Rhetorik beschrieben sind oder sich erfassen lassen. Eben darin zeigt sich der oft beschriebene ubiquitäre, im Laufe von 2000 Jahren gebildete Charakter der Rhetorik. So finden sich auch für die unterschiedlichen Medien und Kommunikationssituationen im Netz die analytischen und gestalterischen Elemente in der Rhetorik, weil dort dem Redner oder Kommunizierenden nicht nur ein System zur Strukturierung von Regeln an die Hand gegeben wird, „sondern auch ein Modell des Problemdenkens, geradezu eine heuristische Methode“18. Tatsächlich ist es mittlerweile auch so, dass die Neuen Medien nicht der Logik des Computers verpflichtet sind, sondern dass die Logik des Computers ge-nutzt wird, um die Präsentationsformen digitaler Medien den von den her-kömmlichen Medien gewohnten Umgangsweisen ergonomisch anzupassen, so dass auch in den Präsentationsformen sich eher eine evolutionäre als eine revolutionäre Entwicklung abgezeichnet hat. Technik verändert sich schneller als menschliche Nutzungsweisen, so war und ist es sinnvoll, letztere der ersteren anzupassen, so wird die Qualität von Webanwendungen und der Mediennutzung heute zumeist an der Nutzbarkeit durch den Anwender, neudeutsch: der Usability, gemessen. So lassen sich in der Präsentationsform vieler Webauftritte nach einer anfänglichen, asianischen anmutenden Überfrachtung, die sich eher nach technischen Möglichkeiten richtete, mittlerweile attizistische Tugenden der Klarheit, Deutlichkeit, Verständlichkeit, Kürze19 zuordnen. Teaser, kurze einleitende Zeilen zu verlinkten Texten sind aufgebaut wie Leads oder Vorspanne, benutzen dabei alle wirkungsvollen Formen der Exordialtopik, eine vernünftige Anordnung und Argumentation und angemessene Ausdrucksweise ist zur wirkungsvollen Darstellung ebenso nötig wie Kenntnis der Wirkungsweisen von Bildern und Bewegtbildern. Kurz: natürlich lassen sich in den unterschiedlichen Medien des Internets alle möglichen rhetorischen Formen nachweisen, selbstverständlich ist es in der Unübersichtlichkeit des Internets nötig, sich gezielt wirkungsmächtiger Formen in Text, Bild, Ton, Sprache zu bedienen, und nicht zuletzt ist die Glaubwürdigkeit, das Ethos, das von Redner ausgeht, eine der wichtigsten Tugenden für das Internet – denn jeder weiß mittlerweile, dass sich im Netz auch allerlei Unsinn zusammenballt,Fehlinformationen, von Verschwörungstheorien bis zu Bildmanipulationen. Nicht zuletzt wegen der kenntnisreichen Kolumne, der zahlreichen verlässlichen Informationsquellen und der daraus resultierenden Exklusivberichte gewann Arianna Huffington an Renommee und Ansehen und das zunächst kleine Online-Medium „Huffington 18

19

Küpper, Reiner (2008): Angewandte Hypertext-Rhetorik. Studien zur Kommunikationsqualität von Lern- und Informationshypertexten. Duisburg: Univ.-Verl. Rhein-Ruhr, 415. Kramer (2008): 248.

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Post“ wurde zu einem der einflussreichsten Politmedien der Vereinigten Staaten. Doch sicherlich geht das wirkungsvolle Design von Webseiten auch auf neu gewonnene Analysemöglichkeiten durch den Computer zurück, die empirische Auswertung von Nutzerverhalten und dessen Umsetzung in der Usability. Die aufgeräumte Anordnung von Zugriffsmöglichkeiten, die Gestaltung des Inhalts und die Wirkung auf den Nutzer sind beispielsweise durch Eye-TrackingVerfahren zu analysieren, bei der die Pupillenbewegungen der Anwender durch Kameras gezielt verfolgt und nachverfolgt werden können, so dass bei der Gestaltung von Seiten, Bildern und Texten Aufmerksamkeit und Interesse gezielt erweckt werden können. Recherchemöglichkeiten sind durch Suchmaschinen und den Zugriff auf Datenbanken erheblich vergrößert, die Erkenntnisse für die angewandte Rhetorik, aber auch für die Theorie der Rhetorik versprechen. Ein kleiner Nachtrag dabei noch zum vorherigen, zur wirkungsvollen Nutzung des Netzes durch Suchmaschinen. Wer im Netz Aufmerksamkeit bekommen möchte, erhält diese ohne Zweifel dadurch, wie Suchmaschinen die Webseite bei der Schlagwortsuche platzieren. Erscheint die Seite sehr früh bei den Treffern oder erst sehr weit hinten. So können Webseiten und Artikel für Suchmaschinen optimiert werden. Die bekannteste und weitaus am häufigsten genutzte Suchmaschine heute ist „Google“, und wer gefunden werden möchte, sollte sich darüber Gedanken machen, wie er bei der Schlagwortsuche am besten abschneidet. Es gibt mittlerweile recht ordentliche Literatur zum Thema Suchmaschinenoptimierung, da Google aber immer wieder seine Suchmaschinen-Algorithmen verbessert, sollte man jeweils auf die neueste Literatur zurückgreifen. Also auch die in der rhetorischen Literatur erwähnten Verfahren sind heute vielfach nicht mehr aktuell. Seiten mit möglichst vielen, auch falschen Schlüsselwörtern zu versehen, das sogenannte KeywordStuffing, ist heute kaum noch interessant, weil es zumeist schon von den Suchmaschinen bemerkt wird. Die Anzahl der Links auf einer Seite spielt zwar eine gewisse Rolle, besonders wenn sie auf thematisch wichtige Seiten führen, aber nicht eine so dominierende Rolle, wie sie ihnen in der rhetorischen Literatur zugesprochen wird. Wichtig ist auch, dass – wenn ein Content Management System genutzt wird – Permalinks, also URLs (Uniform Resource Locator, also „einheitlicher Quellenanzeiger“) mit einem permanenten Identifikator, erzeugt werden, bei denen nach Möglichkeit das Schlagwort schon in der URL steht, es sollte auch in der Dachzeile, der Überschrift und dem Teaser auftauchen, wichtig ist auch die Textstruktur und das Erstellungsdatum. Es gibt noch eine Anzahl mehr Möglichkeiten der Suchmaschinenoptimierung, wichtig ist: es ist nicht nur ein Kriterium, das berücksichtigt wird. Doch genug der Suchmaschinennutzung. Nicht nur hinsichtlich der Inventio und Dispositio gibt es sinnvolle, durch die Neuen Medien gegebene Hilfen, auch rhetorische Formen lassen sich,

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beispielsweise bei der Bewegtbildanalyse, nun sehr viel besser analysieren. Ein Beispiel dafür gab Gesche Joost mit ihren Beiträgen zur audio-visuellen Rhetorik des Films.20 Durch die Anordnung des Bewegtbildes und des damit verbundenen Audiotracks an einer Zeitachse (Timeline) lassen sich in ParallelSpuren Zeichen für die rhetorische Analyse platzieren. So kann in einem Notationssystem audio-visueller Rhetorik die syntagmatische und die paradigmatische Ebene erfasst werden21, die syntagmatische als die Folge der Bildelemente an der Zeitachse (Timeline), die paradigmatische durch die Parallelität die Spuren Bild und Ton sowie der Deskription. Recht einfach realisieren ließe sich das mithilfe eines Videoschnittprogramms wie beispielsweise Adobe Premiere, bei dem eine große Anzahl entsprechender paralleler Spuren vorhanden sind, die sich nicht nur für die Darstellung, sondern auch für die Analyse verwenden lassen. Die Schwierigkeiten entstehen bei der Auswahl der Analyseelemente, die sowohl rhetorische Elemente – Metapher, Klimax, Analogie etc. – als auch filmtechnische Elemente wie Einstellgrößen und Kamerabewegungen enthalten können. Denn zum einen ist es nicht sinnvoll, sich ein übergroßes und damit unübersichtliches Instrumentarium zu schaffen, auf der anderen Seite, sollten die Elemente dem jeweiligen Filmgenre an-gepasst sein und aussagekräftig für die Wirkung des Films sein.22 Die Wirksamkeit einer solchen Analyse für die Vorhersage der Wirkung hat Gesche Joost in einer empirischen Studie mit einem Testpublikum erfolgreich nachgewiesen23. Nebenbei bemerkt lassen sich beispielsweise mit dem oben erwähnten Schnittprogramm auch ein Zusammenspiel von Text und Gestik sehr gut analysieren, bietet es doch die Möglichkeit einer automatisierten Transkription einer im Bewegtbild erfassten Rede und stellt sogleich eine Verknüpfung des Textes zum Bild her. Nun ließe sich über fast jeden der von mir angeführten Punkte ein gesonderter Vortrag halten, gerade in Bezug auf die Rhetorik des Bildes, treten doch gerade das Bewegtbild mit Audio und Bildsequenzen im Netz durch die erhöhten Übertragungsgeschwindigkeiten immer stärker in den Vordergrund. Doch gerade mit der Digitalisierung der Medien haben sich noch weitere Analysemöglichkeiten gegeben, die von rhetorischen Untersuchungen genutzt werden 20

21 22

23

vgl. Joost, Gesche (2008a): Bild-Sprache. Die audio-visuelle Rhetorik des Films. Bielefeld: transcript Verlag. Joost, Gesche (2008b): Die rhetorische Pattern-Language des Films. In: Joost /Scheuermann (Hrsg.) (o. J. [2008]), S. 229–24 vgl. Joost (2008a) vgl. Halbe, Momme (2010): Bildgestaltung und Montagedramaturgie im Imagefilme. Analyse zu zielgruppenspezifischen Aspekten. Kiel: Bachelorthesis Fachhochschule Kiel , 39f., auch Bonsiepe (2008): Visuell-Verbale Rhetorik (1965, 2007). In Joost, Gesche und Arne Scheuermann (Hrsg.) o.J. [2008]: Design als Rhetorik. Grundlagen, Positionen, Fallstudien. Basel, Boston, Berlin: Birkhäuser, 31–33 Joost, Gesche (2008b): Die rhetorische Pattern-Language des Films. In: Joost /Scheuermann (Hrsg.) (o. J. [2008]), 241

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können. Mit dem Aufkommen der Computertechnik und der Neuen Medien haben sich auch im Bereich der Psychologie neue Analyseverfahren etabliert, die gerade für die Rhetorik, die Psychagogie, von Nutzen sein können: die bildgebenden Verfahren, die in den letzten Jahren ein zunehmendes Interesse an dem Erkenntnissen der Neuropsychologie hervorriefen. Diese unterschiedlichen Techniken werden mit dem Ziel eingesetzt, die Strukturen und Aktivitäten des Gehirns zu messen und dadurch seine verschiedenen Funktionen zu verstehen. Dies geschieht in dem Bemühen, zu neuen theoretischen Konzepten des menschlichen Verhaltens und Denkens zu gelangen.24

Da das menschliche Gehirn in seiner physischen Struktur sehr gut erforscht ist, ist es natürlich interessant welche unterschiedlichen Funktionen in bestimmten Bereichen wahrgenommen werden und unter welchen Bedingungen dort Aktivitäten nachzuweisen sind. So wurde beispielsweise nachgewiesen, dass Träume nicht nur, wie es in den 80er Jahren oft hieß, ein bedeutungsloses, durch die REM-Phase evoziertes „Grundrauschen des Gehirns“ sind, sondern dass auch bei Menschen ohne REM-Phase (weil der entsprechende, diese erzeugende Bereich wegen einer Läsion nicht mehr existiert) ebenso Träume haben und dass dort Zonen aktiv sind, die durchaus Freuds Wunscherfüllungsthese unterstützen. Zudem haben einige Forscher sogenannte Spiegelneuronen entdeckt, Nervenzellen im Gehirn, von denen angenommen wird, dass sie „Bestandteil eines ‚mind reading systems‘ sind, das es uns […] erlaubt, die Wünsche, Absichten und Gedanken unseres Gegenüber zu erfassen […]. In diesem Konzept stellen die Spiegelneurone die Elemente dar, die es erlauben, die Mimik und Gestik des Gegenüber mit den eigenen mimischen und gestischen Äußerungen zu vergleichen. Entsprechen sie sich, dann wird den beobachteten Äußerungen der motivationale und emotionale Kontext zugeordnet, der auch den eigenen Äußerungen zusteht. Spiegelneurone sind aus der Sicht dieses Konzeptes die wesentlichen neuronalen Elemente eines Netzwerkes, das die Grundlage sozialer Interaktion und Kommunikation schafft, dessen subtilstes Werkzeug bei uns Menschen die Sprache darstellt.“25 Nun mag man argumentieren, diese Erkenntnis sei der Rhetorik schon längst inhärent, in dem Satz, dass der, der überzeugen möchte, selbst überzeugt sein muss. Dennoch ließe sich mit den Möglichkeiten dieser Art „Neue Medien“ möglicherweise erklären, unter welchen Bedingungen diese Spiegelneuronen aktiviert werden. Auch ließen sich Versuche hinsichtlich emotionaler Wirkungen, beispielsweise, wie jene bereits erwähnten von Gesche Joost, mit Hilfe dieser Medien besser durchführen. 24

25

Büchel, Christian et. al. (2006): Methoden der kognitiven Neurowissenschaften. In: Karnath, Hans-Otto u. Peter Thier (2006): Neuropsychologie. Heidelberg: Springer (2. akt. u. erw. Auflage), 7. Thier, Peter: Anatomie und Physiologie des parietalen Kortex. In: Karnath, Hans-Otto u. Peter Thier (2006): Neuropsychologie. Heidelberg: Springer (2. akt. u. erw. Auflage), 172.

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Zudem erscheint es sinnvoll, sich gerade mit den Erkenntnissen dieser relativ neuen Disziplinen hinsichtlich der Affekterregung insofern zu befassen, als die rhetorische Affekttheorie dadurch beeinflusst werden kann. Unter welchen Bedingungen werden sprachlich und durch Bilder welche Affekte hervorgerufen? Antonio Damasio, einer der führenden zeitgenössischen Psychologen, erklärt, dass Emotionen und Gefühle dazu verleiten können, unvernünftige Entscheidungen zu treffen, dass auf der anderen Seite aber auch der Mangel daran dazu führen kann, weil er auf einem Mangel an emotionsbezogener Erfahrungen beruhen kann.26 „Mangel an Gefühlen kann eine genauso wichtige Ursache für irrationales Verhalten sein.“27 Es wird deutlich, ein wesentlicher Anteil der Entwicklung neuer Medien liegt in der Möglichkeit, die rhetorischen Theorien zu präzisieren und die rhetorischen Analyseelemente zu schärfen.

Literatur Bonsiepe, Gui (2008): Visuell-Verbale Rhetorik (1965, 2007). In: Joost/Scheuermann (Hrsg.) (o. J. [2008]), S. 27–43. Büchel, Christian et. al. (2006): Methoden der kognitiven Neurowissenschaften. In: Karnath, HansOtto u. Peter Thier (2006): Neuropsychologie. Heidelberg: Springer (2. akt. u. erw. Auflage), 7–29. Damasio, Antonio R.(2006a): Der Spionza-Effekt. Wie Gefühle unser Leben bestimmen. Berlin: List (3. Aufl.). Damasio, Antonio R. (2006b): Descartes Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn. Berlin: List (3. akt. Aufl.). Eco, Umberto (1985): Über Gott und die Welt. München: Hanser. Innis, Harold A. (1997): The Bias of Communication. Die Eule der Minerva. In: Barck, Karlheinz (Hrsg.). Harold A. Innis – Kreuzwege der Kommunikation. Ausgewählte Texte. Wien, New York: Springer, 67–94. Halbe, Momme (2010): Bildgestaltung und Montagedramaturgie im Imagefilme. Analyse zu zielgruppenspezifischen Aspekten. Kiel: Bachelorthesis Fachhochschule Kiel. Joost, Gesche und Arne Scheuermann (Hrsg.) o.J. [2008]: Design als Rhetorik. Grundlagen, Positionen, Fallstudien. Basel, Boston, Berlin: Birkhäuser. Joost, Gesche (2008a): Bild-Sprache. Die audio-visuelle Rhetorik des Films. Bielefeld: transcript Verlag. Joost, Gesche (2008b): Die rhetorische Pattern-Language des Films. In: Joost/Scheuermann (Hrsg.) (o. J. [2008]), 229–245. Küpper, Reiner (2008): Angewandte Hypertext-Rhetorik. Studien zur Kommunikationsqualität von Lern- und Informationshypertexten. Duisburg: Univ.-Verl. Rhein-Ruhr.

26

27

Damasio, Antonio R. (2006a): Der Spionza-Effekt. Wie Gefühle unser Leben bestimmen. Berlin: List (3. Aufl.), 170. Damasio, Antonio R. (2006b): Descartes Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn. Berlin: List (3. akt. Aufl.), 86f.

Rhetorik und Neue Medien

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Manfred Hinz

Computerrhetorik Ein Vorschlag zur Güte Wir alle sind mehr oder minder neugierige Zeugen, freiwillige wie unfreiwillige Agenten und nicht zuletzt Opfer einer technologischen Revolution, deren Auswirkungen, soweit sie sich bislang absehen lassen, nur mit wenigen vorausgegangenen Revolutionen in der Schreibtechnologie zu vergleichen sind: mit der für die antiken Kulturen konstitutiven Einführung der alphabetischen Schrift,1 mit der Einführung von Wortabständen, Interpunktion2 und dem Übergang von der Schriftrolle zum Buch auf der Schwelle von der Spätantike zum frühen Mittelalter sowie schließlich mit der Erfindung des Buchdrucks,3 aber auch des Kupferstichs,4 zu Beginn der Frühen Neuzeit. Die Frage nach den Folgen der Einführung eines neuen Betriebssystems in die Wissenschaften auf deren Denkökonomie5 kann daher sinnvoll nur gestellt werden, wenn sie 1

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Die Relevanz der alphabetischen Schrift für die griechische Kultur ist bekanntlich vor allem von Eric Havelock, Preface to Plato, Cambridge/Mass. 1963, untersucht worden, worin er sich vor allem mit Platos berühmter Schriftkritik im Phaidros auseinandersetzt und die platonische Dialogform als eine Art Kompromisslösung begreift, die schriftliche Tradierung in Rechnung stellt, zugleich jedoch an einer oralen Fassade festhält ; vgl. auch Eric Havelock, The Origins of Western Literacy, Toronto 1976. Havelock bietet damit die erforderliche Ergänzung zu Milman Parry, The Making of Homeric Verse (1928, ed. A. Parry, Oxford UP 1971), der die „orale“ Kombinatorik der klassischen Epik nachgewiesen hatte. Vgl. hierzu Henri-Irénèe Marrou, Histoire de l’éducation dans l’antiquité, Paris 1948, p. 200. Vgl. das umfangreiche Werk von Elizabeth Eisenstein, The Printing Press as an Agent of Change, New York 1979, 2 vols. Vgl. hierzu William M. Ivins, Print and Visual Communication, Cambridge/Mass 1953. Ivins, ehemals Leiter der Kupferstichabteilung am New Yorker Kunstmuseum, stellt darin eine kuriose These auf: die spätmittelalterlichen Städte waren voll von gothischen Gebäuden, Statuen, Dekorationen usw., auf den Stichen der Frühen Neuzeit finden sich jedoch ganz überwiegend klassische oder klassizistische Sujets, einfach weil sie technisch besser abzubilden waren. Im logisch sicher unzulässigen, historisch aber vielleicht plausiblen Umkehrschluss ergibt sich daraus, dass die Drucktechnologie selbst zur Durchsetzung des neoklassischen „Renaissancestils“ beigesteuert hat. Zur frühen Beteilung der Geisteswissenschaften an der technologischen Revolution vgl. Evelinde Hutzler, „Elektronische Zeitschriften in wissenschaftlichen Bibliotheken“, in: Beate Tröger (Hrsg.), Wissenschaft online, Frankfurt/Main 2000, pp. 37–66. Hutzler bringt eine Tabelle der Fächerverteilung der ca. 5900 elektronischen Fachzeitschriften, die 1997 an deutschen wissenschaftlichen Bibliotheken geführt wurden (45). Dabei liegt die Medizin mit 1518 Zeitschriften an der Spitze. Das erste Fach aus der Philosophischen Fakultät ist die Psychologie (Platz 9) mit 311 Zeitschriften, gefolgt von der Soziologie (Platz 10) mit 205. Die Sparte „Allgemeine und vergleichende Sprach- und Literaturwissenschaft“ (Platz 16) weist 133 Einträge

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die vorausgegangenen Revolutionen einbezieht, wenn sie also festhält, dass jede Organisation des Wissens immer schon an historisch wechselnde Produktionsmittel gebunden war. Diejenigen Generationen, die von einer solchen Revolution betroffen waren, besitzen das nicht unproblematische Privileg, Denken als historische Technik begreifen zu müssen.6 Mein Beitrag in diesem Zusammenhang versteht sich günstigstenfalls als Diskussionsanregung.7 Ich spreche hier also nicht als Spezialist und laufe folglich Gefahr, Dinge zu wiederholen, die uns allen längst geläufig sind. Aber die Reflexion auf die neue Technologie ist zugleich ein Stück Selbstreflexion und, wenn Sie so wollen, ein Stück „Wissensarchäologie“. Eine solche Archäologie kann aber, in dieser Hinsicht darf ich mich auf Foucault berufen, nicht selbst die Form eines formalisierbaren, epistemischen Wissens annehmen. Hubert L. Dreyfus geht in seinem Buch zur Kritik der Künstlichen-Intelligenz-Forschung von Heideggers These aus, die Kybernetik sei die letzte Gestalt und das Resultat der „abendländischen Metaphysik“. Er schätzt daher ebenso wie Heidegger die Möglichkeiten des Verständnisses dessen, was geschieht, durchaus skeptisch ein: „The impetus gained by the mutual reinforcement of two thousand years of tradition and its product, the most powerful device ever invented by man, is simply too great to be arrested, deflected or even fully understood“ (Dreyfus 1999, 231).8 Der Computer zwingt, das möchte ich zeigen, zum Nachdenken über das Geschäft, das wir an den Philosophischen Fakultäten betreiben. Der Computer legt uns, dies meine Grundthese, eine Rückkehr zum Theoriemodell der Rhetorik nahe, er nötigt uns genau die topische Organisation des Wissens auf, nach der er selbst konstruiert ist. Er hilft damit, jene Diskreditierung der Rhetorik zu überwinden, die die modernen Wissenschaften seit Petrus Ramus auszeichnet9.

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aus. Die Romanistik allerdings liegt mit 6 elektronischen Zeitschriften (Platz 30) an vorletzter Stelle, noch weit hinter z.B. der Klassischen Philologie (Platz 27 mit 25 Einträgen). Den letzten Platz besetzt die Slawistik mit einem Eintrag. Diese Zahlen sind natürlich nicht sehr aussagekräftig, denn sie müssten zur absoluten Zahl der Zeitschriften in Beziehung gesetzt werden, als erste Orientierung aber mögen sie hier genügen. Man denke nur an Erasmus’ berühmtes Adagium „Festina lente“ zum Emblem des Druckers Aldo Manutius. Inzwischen fehlt es nicht einmal an historischen Heldenromanen zur Entwicklung des Internet, vgl. z.B. Steven Levy, Hackers (1984), London, Penguin edition, 1994. vgl. vor allem p. 431. Hubert L. Dreyfus, What Computers Still Cant’t Do, MIT Press 61999, p. 231. Die erste Auflage von Dreyfus’ Buch stammt von 1979 und die Tatsache, dass nunmehr das MIT, der Heilige Hain der Künstliche-Intelligenz-Forschung, es mit immer neuen Ergänzungen und Vorworten neu auflegt, scheint eine Entspannung zwischen Dreyfus und Marvin Minsky anzuzeigen. In jedem Fall ist es ein Beweis sowohl amerikanischer Liberalität wie amerikanischer Intelligenz. Zum Konflikt zwischen Dreyfus und dem MIT am Ende der 60er Jahre vgl. Steven Levy, Hackers, op. cit., p. 89. Ich folge hier, dies versteht sich schon fast von selbst, der Ramus-Interpretation von Walter J. Ong SJ, Ramus. Method and Decay of Dialogue, Harvard UP 1957. Die Kritik an Ong durch

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Wenn wir auf einer beliebigen Bildschirmoberfläche arbeiten, bearbeiten wir eigentlich Metaphern, genauer gesagt, Vergleiche. Wollen wir z.B. einen Textteil verschieben, klicken wir eine „Schere“ an und danach, an der Stelle, wo der Text wieder eingefügt werden soll, auf einen Pinsel mit Kleister. Dies mögen in der Technologie der Schreibmaschine noch verba propria gewesen sein, im Computer sind es nur noch Metaphern. Die Designer dieser Oberflächen haben also versucht, an die Omnipräsenz von Metaphern im menschlichen Denken anzuknüpfen.10 Typischerweise werden die Metaphern und Vergleiche aus der jeweils vorausgegangenen Technologie übernommen. Die „desktop“Metapher ist dabei führend11 und organisiert das Netz untergeordneter Metaphern. Wie alle Vergleiche sind auch diese bis zu einem gewissen Grad unangemessen.12 So bieten virtuelle Ordner wesentlich mehr Platz als die LeitzOrdner im Regal und die ersteren kann ich ineinanderschachteln, die letzteren jedoch nicht. Rückwirkend aber macht uns die Bildschirmoberfläche bewusst, dass auch der Leitz-Ordner nur metaphorisch ein „Ordner“ ist. Diese Metaphern zeigen virtuelle „Örter“ in einem maschinellen Gedächtnis an. Der Computer erlaubt es uns, mit wenigen Klicks Hunderttausende von Icons und alles erdenkliche sonstige Datenmaterial auf den Bildschirm nicht eigentlich zu produzieren, sondern zu reproduzieren. Bin ich entsprechend vernetzt, kann ich Fremdtexte in beliebigem Umfang (und natürlich auch in beliebigem Druckbild) als Zitat oder Plagiat mit wenigen Mausbewegungen übernehmen. Dieses Verfahren, einen Text aus mehr oder minder vorgefertigten Versatzstücken zusammenzubauen, nennt man bekanntlich die rhetorische inventio und auch dort waren die Topoi, die man verwendete, nur metaphorische „Örter“. In der Rhetorik wie im Computer oder im Netz kommt alles darauf an, den passenden „Ort“ zu finden und auch dort bereits waren die sedes

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Nelly Bruyère, Méthode et dialectique dans l’œuvre de La Ramée, Paris 1984, führt für meine Begriffe in die Irre. Schließlich war Walter J. Ong auch einer der ersten, die auf die Folgen von Schriftlichkeit und ihrer (vermeintlichen) elektronischen Abschaffung systematisch aufmerksam gemacht hat: Orality and Literacy, New York 1982. Vgl. Brenda Laurel, Computers as Theatre, Reading/Mass. 1991, p. 127. Laurels frühes und wichtiges Buch begreift den Computer als (rhetorische, füge ich hinzu) Probebühne, auf der man risikoentlastet in verschiedene dramatis personae schlüpfen kann. Ted Nelson hat sarkastisch darauf aufmerksam gemacht, wie unangemessen diese Metapher eigentlich ist: „We are told to believe that this is a ‘metaphor’ for a ‘desktop’. But I have never personally seen a desktop where pointing at a lower piece of paper makes it jump to the top, or where placing a sheet of paper on top of a file folder caused the folder to gobble it up; I do not believe such desks exists, and I do not think I would want one if it did.“ (Theodor H. Nelson, „The Right Way to Think about Software Design“, in: Brenda Laurel (ed.), The Art of HumanComputer Interface Design, Reading/Mass. 1990, p. 129) Zur Kritik der Metaphorik im Interface-Design vgl. Thomas D. Erickson, „Working with Interface Metaphors“, in Brenda Laurel (ed.), The Art of Human-Computer Interface, Reading/Mass. 1990, pp. 65–73.

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argumenti ineinander geschachtelt wie heute unsere folder13. Die rhetorische inventio organisiert ihre Fundorte nach genau jenem Modell des porphyrischen Baums, das uns der Computer und erst recht das Netz erneut aufdrängen. Die inventio funktionierte also immer schon in gewisser Weise hypertextuell, denn Topik wie Hypertext gefährden die Linearität des Systems und laden zu immer neuen Digressionen ein. Ein Browser sucht nach Topoi in Texten jeglicher Art. Topik wie hypertextuelle Verknüpfungsnetze bieten also einen Bestand an vorgefertigten Argumenten, effektvollen Sätzen und sonstigen Brocken aus dem Magma der Zeichensysteme, die elektronisch beliebig wiederholt, amplifiziert, kombiniert und variiert werden können. Die Digitalisierung führt demnach nichts grundsätzlich Neues ein, sie beschleunigt nur ein Verfahren, das es schon immer gegeben hat und macht es evident. Musste ich früher ins Bücherregal greifen oder schlimmstenfalls in die Bibliothek gehen, um eine Verknüpfung herzustellen, musste ich in jedem Fall meinen Text verlassen, so kann ich ihn nun unmittelbar in beliebiger Weise mit jedem beliebigen Prä-Text verbinden. Ich kann im Notfall sogar plagiieren, ohne abschreiben zu müssen. Auch der Reim lässt sich bis zu einem gewissen Grad als Hypertextelement in traditionellen Texten betrachten, denn er bricht den linearen Verlauf auf und verknüpft Wörter und Bedeutungen, die unter Umständen weit voneinander entfernt liegen können. Genauso funktionieren die zahlensymbolischen Verknüpfungen, mit denen Dante seine Commedia strukturiert hat.14 Der Computer relativiert damit die romantische Idee von Originalität, die in den letzten beiden Jahrhunderten eine Alternative zum rhetorischen Paradigma errichtet hatte. Computer und rhetorische Topik helfen nicht, originell zu sein, aber sie erleichtern die Organisation und Weiterverarbeitung von Wissen. Wissenschaftliche Texte sind seit einigen Jahrhunderten, vielleicht seit Gibbon, verpflichtet, ihre „Quellen“, d.h. ihre unoriginellen Bestandteile, in Fußnoten oder Marginalien auszuweisen. Dadurch entsteht die Illusion, ein eigener Gedanke sei das, was nicht in einer Fußnote steht oder durch eine solche gestützt ist.15 Schon damals hätte es als unerträgliche Pedanterie gegolten, diese Texthierarchie weiter aufzufächern, indem man etwa Fußnoten zu Fußnoten schreibt. Noch heutige Textverarbeitungssysteme lassen diese Möglichkeit 13

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Wir haben hier noch ein relativ einfaches topisches Schema gewählt, wesentlich komplexere Verzweigungen zum Topos persona finden sich in z.B. Masen S.I. 1659, 739–764, oder in Pomey S.I 1661, 441. Manfred Hardt, Die Zahl in der Divina Commedia, Frankfurt/Main 1973. Schon bei Gibbon lässt sich allerdings die kuriose Umkehrung beobachten, dass gerade seine Fußnoten die originellsten Teile seiner Geschichte sind, vgl. das leider schludrig übersetzte (vielleicht auch geschriebene) Buch von Anthony Grafton, Die tragischen Ursprünge der deutschen Fußnote, München 1995, zu Gibbon vgl. p. 13. Wesentlich informativer und unterhaltsamer ist Peter Rieß/ Stefan Fisch/ Peter Strohschneider, Prolegomena zu einer Theorie der Fußnote, Münster 1995. Dort wird „Text“ als das definiert, „was nicht als echte oder angehängte Fußnote in Erscheinung tritt“ (p. 12, Fußnote 19).

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nicht zu. Hypertextuelle Verknüpfungen kennen diese fragwürdige Hierarchie zwischen dem „originalen“ Text und seinen entlehnten „Quellen“ nicht mehr. Der Hypertext (der Begriff stammt von Ted Nelson) ist eine „generalisierte Fußnote“16, er macht paradoxerweise etwas „wirklich“, was zuvor nur in potentia vorhanden war: die Bibliothek, aus der ein Text sich zusammensetzt, ist nun „real“, d.h. virtuell, präsent. Dies ist neu und überraschend nur im Kontext des Buchdrucks, die mittelalterliche Manuskriptkultur war auf Glossen zu Glossen zu Glossen (usw.) geradezu aufgebaut. Der enorme Erfolg traditioneller Textverarbeitungsprogramme in den letzten beiden Jahrzehnten hängt demgegenüber damit zusammen, dass sie es uns erlauben, unsere Schreibgewohnheiten und Texthierarchien zunächst zu konservieren.17 Der Buchdruck beruht auf Hierarchie und produziert damit Autorität, die sich als „Originalität“ ausweist; er garantiert damit allerdings auch die Linearität, die „Führung“ (mit allen Implikationen) der Diskurse. Werden Hierarchie und Autorität aus guten theoretischen Gründen oder rein technisch liquidiert, geht auch die Linearität verloren. Im Hypertext weiß man nie, wo man gerade steckt und wem man sich anvertraut hat. „Lost in hyperspace“18 ist hierzu das Schlagwort. Das Gerede von „multipler Linearität“19 oder von „Netzen der Signifikanz“20 ist nur eine euphemistische oder enthusiastische Umschreibung eines Problems21. 16

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Jakob Nielsen, Multimedia and Hypertext, The Academic Press 1995, p. 2. Dieses Buch ist die beste, für Laien brauchbarste Einführung in Hypertextanwendungen, die ich kenne. Vgl. Jay David Bolter, Writing Space. The Computer, Hypertext and the History of Writing, Hillsdale/N.J. 1991, p. 66. Der Terminus Hyperspace ist offenbar von William Gibson im Roman Neuromancer geprägt worden. Zum Problem der Orientierungslosigkeit im Hypertext vgl. N. Yankelovich/ N. Meyrowitz/ A. van Dam, „Reading and Writing the Electronic Book“, in: Paul Delany/George P. Landow (eds.), Hypermedia and Literary Studies, MIT Press 1991, pp. 53–80, vor allem p. 58. Jakob Nielsen (op. cit. P. 247, diskutiert die Möglichkeiten, Nutzern die Orientierung in komplexen Hypertexten zu erleichtern (back-track, Strukturkarten, Markierung eingehender Links usw.). Loss. P. Glazier, „Our Words Were the Form We Entered. A Model of World Wide Web Hypertext”, in: Mark Bernstein/Leslie Carr/Kasper Østerbye (eds.), Hypertext 97, Southampton 1997, pp. 1997, 24–28. Carolyn Handa, Computers and Community, Portsmouth/N.H. 1990, p. 183. Dieses Problem wird besonders dann akut, wenn man zulässt, wie dies etwa im Hyptertext Context32 zur viktorianischen Kultur vorgesehen ist, dass Benützer Texte oder Links hinzufügen (oder auch herausnehmen). Selbst Landow und Delany, die diesen Hypertext entworfen haben, schränken ein: „At the very least, workable hypermedia requires some central editorial control“ (George P. Landow/ Paul Delany, „Hypertext, Hypermedia and Literary Studies. The State of the Art“, in: George P. Landow/Paul Delany (eds.), Hypermedia and Literary Studies, op. cit., pp. 3–52, Zit. P. 35). Der „Dezentrierung“ des Hypertextes müssen also gewisse Grenzen gezogen sein. David Bolter hat dagegen auf ein grundsätzliches Problem aufmerksam gemacht: „A communications network is ... a hypertext in which no one writer or reader has substantial control, and because no one has control, no one has substantial responsibility“ (Jay

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Der Computer oder Computernetze, in denen wir metaphorische locations ansteuern, sind nicht nur topisch organisiert und ermöglichen in bislang ungeahntem Ausmaß und mit unerreichter Geschwindigkeit das Finden und die Verarbeitung von argumentativen oder ornamentalen Topoi, sie eröffnen auch noch in weiterer Hinsicht eine Rückkehr zum rhetorischen Paradigma. Die virtuelle Schrift bietet eine Proberealität, eine Spielwiese für Äußerungen, eine Palestra Oratoria (Jacob Masen S.J.) die der Buchdruck wegen seiner hohen Kosten nicht in der gleichen Weise bereitstellen konnte. Den Erforschern der Geschichte des Porsche-Designs, des niederbayerischen Eisenbahnwesens oder der Fußball-Regionalligen steht heute dasselbe Kommunikationsinstrument zur Verfügung wie etwa der Goethe-Gesellschaft. Wie die Schwelle zwischen Öffentlichem und Privatem überhaupt zu verschwinden droht, haben sich auch die Zugangsbarrieren zu öffentlichen Äußerungen, die einst durch Hierarchie und Autorität gesichert worden waren, sehr deutlich abgeflacht. Diese Herstellung einer Realität auf Probe mit schwankenden Verbindlichkeitsgraden hat der Computer mit der rhetorischen Tradition, speziell mit der sophistischen Schulrhetorik, gemein; die Schuldeklamation war eine Äußerung, mit der vor der beschränkten Öffentlichkeit der Schulklasse der Auftritt vor der allgemeinen Öffentlichkeit geübt werden konnte. In dieser Proberealität sind ebenso wie im Netz natürlich auch die romantischen Grundwerte von Wahrhaftigkeit und Authentizität suspendiert. Man braucht nur einmal einen Blick in die hoch artifiziellen Rechtsfälle zu werfen, mit denen Seneca d. Ä. seine Schüler traktiert hatte, um eine Vorstellung von der Scheinwelt der Schulrhetorik zu gewinnen. Es geht dort überhaupt nicht um das Vertreten authentischer Standpunkte, sondern um einen dramatisierten Wettstreit mit wechselnden Rollen. Genau wie die scheinbare Anonymität des Netzes geht auch die Schulrhetorik nicht von einem authentischen Individuum aus, sondern von einem Rollenträger im sozialen Drama. Der Soziologe Zygmund Baumann erklärt den Laptop, mit dem wir ständig am Netz hängen, zu unserem „tragbaren Beichtstuhl“.22

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David Bolter, „Topographic Writing: Hypertext and the Electronic Writing Space”, in: George P. Landow/Paul Delany (eds.), Hypermedia and Literary Studies, op. cit., pp. 105–118. Zit. p. 115). Für Baumann ist die ständige Präsenz in den social networks nur ein Symptom für die sich anbahnende „confessional society“, womit er die früheren Überlegungen von Richard Sennett zur „tyranny of intimacy“ in gewisser Weise fortführt. Baumann schreibt: „The teenagers equipped with portable electronic confessionals are simply apprentices training and trained in the art of living in a confessional society – a society notorious for effacing the boundaries which once separated the private from the public, for making it a public virtue and obligation to publicly expose the private, and for wiping away from public communication anything that resists being reduced to private confidences, together wh those who refuse to confide them” (Consuming Life, Cambridge 2007, p. 3). Zu Richard Sennett vgl The Fall of Public Man, Cambridge UP 1977.

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Der Computer schenkt uns eine Flexibilität des Textes zurück, die der Buchdruck ausgeschlossen hatte. Abschätzung von Flexibilitätsgrenzen war schon immer das Geschäft der Rhetorik gewesen. Nehmen wir einen so zentralen Begriff aus der rhetorischen Tradition wie den der amplificatio: die Anweisungen der Handbücher, wie Topoi zu amplifizieren seien, versagen, sobald die Frage auftaucht, wann es genug ist und wann brevitas angebracht wäre. Die Grenze der Amplifikation liegt nie einfach in der Natur der Sache. Das rhetorische decorum, das dann zu Rate zu ziehen ist, zieht keine theoretische Grenze, es ist eine Praxis, die auf einer Entscheidung beruht, welche wiederum geübt werden muss. Der Buchdruck legte solche Entscheidungen mit allem Risiko ein für allemal fest, der Computer hält sie, genau wie die gesprochene Sprache, flexibel. Umberto Eco hat in einem Zeitungsartikel einmal kommentiert, die Schreibmaschine produziere den Stil von Hemingway, der Computer den von Proust. Das ist noch im Horizont des Buchdrucks gedacht, denn der Computer fördert keineswegs automatisch Amplifikation; er bietet sowohl die Möglichkeit stoischer brevitas wie asianischer amplificatio und zwingt damit zu einer bewussten Entscheidung.23 Schließlich ist auch das Grundelement des Hypertexts, der Link, als rhetorische Amplifikation zu begreifen, denn er führt stets von einem bestimmten Punkt (anchor), z.B. einem Wort, in einen dafür signifikanten Text (node), dem man in amplifikatoischer Absicht folgen kann oder auch nicht. Der Computer macht auch das Niveau der rhetorischen dispositio explizit. Jedes Textverarbeitungssystem enthält heute ein sog. „outline program“, das den Aufbau eines Textes automatisch als Gliederung oder als porphyrischen Baum darstellt. Es bietet quasi die brevitas-Form eines Textes, und durch Anklicken eines Topos lässt sich der amplifizierte Text bei Bedarf aufrufen. Bei Umstellungen auf dieser Ebene stellt der Computer auch den entsprechenden Volltext um. Es handelt sich um ein Schreiben zweiten Grades, wir können sowohl auf der eigentlichen Textebene kleinere Einheiten schreiben wie auf der Gliederungsebene ganze Textblöcke. Der Buchdruck legt die einmal getroffenen Gliederungsentscheidungen fest. Hypertextprogramme dagegen gestatten es, für einen Text alternative Gliederungen anzubieten, ohne dass eine Korrektur den früheren Verlauf auslöscht. Sie bieten damit die Erprobung unterschiedlicher Argumentationsverläufe an und machen uns, genau wie die Schulrhetorik, die unaustreibbare Willkür der Stringenz bewusst, für die wir uns schließlich entscheiden. Der Buchdruck bot alternative Textverläufe in den 23

David Bolter stellt im Vergleich zu Eco gerade die umgekehrte Hypothese auf: „Electronic Text falls naturally into discrete units – paragraphs or sections that stand in multiple relation to one another. (...) Texts written explicitly for this new medium will probably favor short, concentrated expression, because each unit may be approached from a different perspective with each reading. Electronic writing will probably be aphoristic rather than periodic“ (Jay David Bolter, Writing Space, op. cit. p. IX).

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Indices an; dies war eine seiner wesentlichen Errungenschaften gegenüber der Manuskriptkultur. Das Inhaltsverzeichnis eines Buches bildet die Argumentation in hierarchischer Ordnung ab, der Index locorum omnium löst diese Hierarchie in ein Netzwerk von Topoi auf, das es uns erlaubt, unter Umständen weit auseinanderliegende Passagen zusammenzulesen. Der Index enthält die vielen anderen Bücher, die man mit demselben Topoibestand ebensogut hätte schreiben können. Wie der Hypertext kennt auch der Index keinen privilegierten Eintrag. Der Computer löst also auch in dieser Hinsicht nur ein Versprechen ein, das eigentlich das Buch bereits gegeben hatte. Das Internet erfüllt in gewisser Weise den Traum einer „Topica universalis“, den zeitgleich mit der Erfindung des Buchdrucks die Frühe Neuzeit geträumt hatte.24 George P. Landow hat behauptet, der elektronische Text setze die Postulate poststrukturalistischer Literaturtheorie um: „What Derrida and other critical theorists describe as part of a seemingly extravagant claim about language turns out precisely to describe the new economy of reading and writing with ... virtual, rather than physical forms“25. Wo ließe sich die Dissemination der Zeichen, die Instabilität und Unkontrollierbarkeit der Signifikanz deutlicher anschauen als auf dem Bildschirm oder gar im Netz? Der Hypertext ist ein „dezentrierter“ Text im Sinne von Derrida, er kündigt Linearität und einheitliche Perspektive auf,26 er stellt sich jeweils erst für den Leser her (Barthes‘ Konzept des „texte lisible“), und er realisiert auf geradezu didaskalische Weise das Postulat der „Intertextualität“27. Nicht zuletzt restituiert der Computer den

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Vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann, Topica Universalis. Eine Modellgeschichte humanistischer und barocker. Wissenschaft, Hamburg 1983. George P. Landow, Hypertext 2.0. The Convergence of Contemporary Critical Theory and Technology, Johns Hopkins UP 1992, p. 33. Landow ist, als Spezialist für Victorianische Literatur, u.a. Autor des Dickens Web, das sich freilich mit keiner vernünftigen Monographie messen kann. Dennoch besitzen auch Hypertexte eine „Erzählperspektive“, die sich z.B. mit Brenda Laurels Terminus der „personness“ umschreiben lässt, wonach die Linkstrukturen so eingerichtet werden sollen, dass sich Nutzer mit den Hauptprotagonisten des Textes identifizieren. Laurel verallgemeinert hier also die Verfahren der adventure games, der sicher erfolgreichsten Hypertextanwendungen. vgl. hierzu und zu den Schwierigkeiten eines Wechsels der Erzählperspektive in Hypertexten: Jakob Nielsen, Multimedia and Hypertext, op. cit., p. 272. Vgl. George P. Landow/Paul Delany, Hypermedia and Literary Studies, op. cit., pp. 6 und 17. Terence Harpold versucht sich an einer Übersetzung der Hypertexttheorie in die Terminologie Lacans (Terence Harpold, „Thremody:Psychoanalytic Digressions on the Subject of Hypertext“, in: George P. Landow/Paul Delany (eds.), Hypermedia and Literary Studies, op. cit., pp. 171–181). Ein weiteres, abschreckendes Beispiel ist die Übertragung Derridas in eine „teletheory“ durch Gregory Ulmer, Grammatology in the Age of Video, New York-London 1989. Seine gesamte „teletheory“ kreist um den Begriff „mystory“, der abwechselnd in „my story“, „mistery“ und „myth story“ aufzulösen ist. Richard Lanham kommentiert trocken: „If you build your book on puns, you had better not be humorless“ (Richard Lanham, The Electronic Word. Democracy, Technology and the Arts, Chicago UP 1993, p. 217).

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Vorrang der Schrift im Sinne Derridas.28 Aber auch die Rezepturen der Rezeptionsästhetik werden von elektronischen Texten eingelöst, die faktisch erst der Leser herstellt. Landow hat es allerdings versäumt, hinzuzufügen, dass der Computer die Schlüsselbegriffe des Poststrukturalismus in einer nachgerade peinlichen Weise wörtlich nimmt. Dekonstruktivistische oder poststrukturalistische Literaturtheorien erinnern vermutlich vor allem deshalb so unmittelbar an die Sprache der elektronischen Medien, weil beide in der Monumentalität des gedruckten „Werkes“ mit stabilem Sinn und festen Grenzen einen gemeinsamen Gegner besitzen. Dem elektronischen Text fehlt Monumentalität und er kennt keine festen „Ränder“29. Am Computer können wir Zeichen in einem ganz buchstäblichen Sinn „verstreuen“, Strukturen „dekonstruieren“ und zeigen, wie fragil die Signifikanz eigentlich ist. Damit werden auch die Grenzen der zeitgenössischen Literaturtheorie deutlich, denn ihre praktische Realisierung auf dem Bildschirm zeigt, dass es sich nur um eine Propädeutik handelt, um ein didaktisches Programm zur Herstellung von Schuldiskursen. Die Rhetorik hat mit diesem Eingeständnis weniger Probleme. Auf Ebene der elocutio schließlich ergeben sich am Computer dieselben Effekte. Ich kann einen Text jetzt wörtlich mit seinen colores rhetorici einfär28

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Derrida hat sich mit „nicht-linearen Schriften“, wenn ich recht sehe, nur in der Grammatologie auseinandergesetzt, als die Technik des Hypertextes noch nicht absehbar war: „La fin de l'écriture linéaire est bien la fin du livre“ (Jacques Derrida, De la Grammatologie, Paris 1967, p. 129). Er verwickelt sich dort jedoch in eine interessante Ambivalenz. Einerseits sei die Aufbrechnung der Linearität keine Rückkehr zur Mythographie: „L'accès à la pluridimensionalité et à une temporalité délinéarisée n'est pas une simple régression vers le 'mythogramme': il fait au contraire apparaître toute la rationalité assujettie au modèle linéaire comme une autre forme et une autre époque de la mythographie“ (p. 130). Andererseits jedoch sei die nicht-lineare Schrift eine Rückkehr des Verdrängten, eben der Mythographie, denn die Linearität ist selbst schon „le refoulement de la pensée symbolique pluri-dimensionelle“ (p. 128). In seinen späteren Schriften ist Derrida seinem Programm aus der Grammatologie treu geblieben: „Il s'agit d'ailleurs moins de confier à l'enveloppe du livre des écritures inédites que de lire enfin ce qui, dans les volumes, s'écrivait déjà entre les lignes“ (p. 130). Er hat den Schritt zum Hypertext also nicht vollzogen, obwohl viele seiner Bücher ihn nahelegen. In Glas z.B. druckt er zweispaltig Passagen und Kommentare zu/aus Hegel und Genet und erst der Leser muss seine Links herstellen und einen Text erzeugen. Aus einigen Andeutungen und Nebensätzen seiner späteren Schriften lässt sich immerhin entnehmen, dass er das Potential der Hierarchieauflösung in der digitalen Technologie offenbar begrüßt, vgl. z.B. Jacques Derrida, États d’âme de la Psychanalyse, Paris 2000, p. 62. Wie stark noch Derrida in Termini des Buchdrucks denkt, zeigt schon die Leitmetapher in seinen Marges de la Philosophie (Paris 1972), worin er die Möglichkeiten des Buchdrucks in dem Sinn nutzt, dass er die Marginalien zu den Haupttexten mitdruckt (Tympan). In der Manuskriptkultur hatte es keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen Text und Glosse gegeben, häufig wanderte, was zunächst nur Marginalie gewesen war, später in den Haupttext hinein, nur um dann erneut glossiert zu werden. Erst der Buchdruck führt den Unterschied zwischen öffentlichem Text und privater Randnote ein, den Derrida hier wieder aufhebt und den Leser allerdings der Möglichkeit beraubt, seinerseits Kommentare anzubringen, denn die Seitenränder sind bereits besetzt.

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ben. Ich kann zwischen zahllosen Schriftarten auswählen, z.B. alle Äußerungen von Faschisten in einem Widerstandsroman in gotische Schrift setzen. Aber auch die amplificatio ist auf dieser Ebene wörtlich zu nehmen, ich kann so nah an die Textoberfläche heranzoomen (besonders auf einem Mac), bis ich nur noch eine abstrakte Konfiguration auf dem Bildschirm habe. Der Computer erlaubt also beliebige Maßstabwechsel und erfüllt damit einen Traum, den die moderne Kunst seit langem gehegt hat, man denke nur an Claes Oldenburgs ausgequetschte Zahnpastatuben von 30 m Höhe oder an Roy Lichtensteins Comicgigantographien. Ganz genauso beutet die moderne Literatur Maßstabwechsel aus. So ist Robbe-Grillets La Jalousie zu nah an ihren Objekten, um noch als realistischer Roman erscheinen zu können. Ebenso setzen bereits Svevo, Flaubert und Stendhal rasante Maßstabswechsel ein. Die „realistische“ Literatur erscheint also im Rückblick gebunden an eine ganz bestimmte, relativ konstante Distanz. Der Computer macht die Distanz flexibel und damit als solche beobachtbar30. Diese stufenlos regulierbare Distanz wird durch die grundlegende Trennung von Speicher- und Darstellungsebene mit zwischengeschalteter Programmsprache ermöglicht. Die gespeicherte Information kann, mit entsprechendem Programm, in jeglicher Form dargestellt werden. z.B. auch in der von Tönen.31 Der Computer ist jedoch keineswegs per se dekonstruktivistisch, wie Landow es behauptet, er schärft vielmehr beide Seiten des dekonstruktivistisch-konstruktivistischen Dilemmas. Er kann den Blick auf die Textoberfläche und ihre rhetorische Färbung oder auch einfach Drucktypen, Layout usw. lenken, er kann aber auch die neutrale Oberfläche des Buchdrucks herstellen, die gar nicht mehr als solche wahrgenommen, sondern durch welche hindurch hermeneutisch ein tieferer Sinn entziffert werden soll. Ich kann den Text als eine gespielte Rolle im sozialen Drama kenntlich machen, und ich kann diese Rolle verbergen. Ich kann mich für eine ausschließliche Ordnung entscheiden oder mit alternativen Ordnungen spielen. Richard Lanham32, uns allen mindes30

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Aber auch in der Geographie sind solche Maßstabwechsel (z.B. auf digitalen Landkarten oder Geographical Information Systems) hilfreich. Der Betrachter verschafft sich einen Überblick und entscheidet dann, welchen Punkt er „amplifizieren“ möchte. Die Kurzweil Corporation z.B. hat ein Gerät für Blinde entwickelt, das elektronische Texte vorliest, ein anderes Gerät verwandelt abgelesene Hirnströme in Musik. Die theoretischen Überlegungen von Ray Kurzweil, einschl. seiner optimistischen (bzw. pessimistischen, in humanzentrierter Perspektive) Prognosen, kranken freilich an dem grundsätzlichen Fehler, evolutionstheoretische Annahmen aus der Biologie in die Entwicklung von Maschinen zu übertragen. Maschinen jedoch entwickeln sich nicht „von selbst“, jedenfalls bisher nicht, sie brauchen noch einen „Gott“. Vgl. The Age of Spiritual Machines. When Computers Exceed Human Intelligence, London 2000. Der Zeitpunkt, an dem Computer die menschliche Intelligenz „übertreffen“, wird in die 20er Jahre dieses Jahrhunderts gelegt. Richard Lanham scheint es sogar zu gelingen, mit Rhetorik Geld zu verdienen, er betreibt die Firma Rhetorica Incorporated in Los Angeles, vgl. www.rhetoricainc.com.

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tens durch seine Handlist of Rhetorical Terms bekannt – viel witziger und handhabbarer als das Werk von Heinrich Lausberg –, dem meine Überlegungen an diesem Punkt viel verdanken, hat die Rhetorik des digitalen Zeitalters in eine Matrix gebracht, die ich hier im Original zitieren möchte: (Lanham 1993, 14)33 Unselfconscious Selfconscious Transparent Opaque Object ◄────────────────────► Through At Viewer ◄────────────────────► Biogrammar Drama Reality ◄────────────────────► Hierarchy Play Motive ◄────────────────────►

Auf dieser Matrix sollten sich grundsätzlich alle Texte verorten lassen. Ein „selfconscious text“, also einer, der sich bewusst als solcher in Szene setzt, wird opak werden, selbst Gegenstand der Betrachtung und nicht durchsichtig, wird ein dramatisches Rollenspiel gegenüber „Realitätseffekten“ bevorzugen und „Motive“ und Motivationen (im Sinne von Lanhams Lehrer Kenneth Burke34) nicht hierarchisch positionieren, sondern „spielerisch“. Es gibt also Texte, die versuchen, dem zu gehorchen, was Lanham das CBS-Programm nennt (clarity, brevity, sincerety) und solche, die dies bewusst nicht tun. Aber auch überraschende Seitenwechsel sind keinesfalls ausgeschlossen, Stendhals Romane z.B. wären zwar transparent, akzentuieren dann aber die Pole des Dramas und des Spiels.35 Aber sogar ein Text, der weit links stünde, und die ihm entsprechende dekonstruktivistische Literaturtheorie, stellen in diesem Zusammenhang weniger eine Rebellion gegen die Stabilität der Bedeutungen dar, sondern sind innerhalb des rhetorischen Universums nur eine Option, ein Verfahren, das die Kunst schon immer angewandt hat und das quasi stufenlos einstellbar ist. Der Computer gibt also dem Dekonstruktivismus in gewissem Sinn Recht, aber er entschärft die gesamte Debatte, indem er sie aus dem „philosophischen“ Anspruch herausnimmt und in ein letztlich didaktisches Programm integriert. Nur in einem Punkt ist der Computer wirklich „grammatologisch“; er beruht auf dem Vorrang der Schrift. Der Hypertext ist, so der Altphilologe Jay David 33

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Richard Lanham, The Electronic Word, op.cit., p. 14. Lanham stützt sich hier u.a. auf. Jay David Bolter, Writing Space, op. cit., p. 63. Vgl. Kenneth Burke, A Rhetoric of Motives, University of California UP 1950. Vgl. zu Stendhal: D. A. Miller, The Narrative and its Discontents. Problems of Closure in the Traditional Novel, Princeton UP 1981.

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Bolter, „the revenge of text upon television“36, und er meint dies in einem ganz technischen Sinn. Das analoge Medium behandelt Textelemente als Bild, das digitale Medium Bildelemente als Text. Der Computer zerlegt auch das Bild in beliebig viele diskrete Elemente, denen eine eigene Semantik zugeordnet werden kann. Diese Möglichkeit, Bilder (z.B. Landkarten) in diskrete semantische Elemente beliebiger Größe einzuteilen, beruht auf Programmsprachen, die reine Schriftsprachen sind. Programme sind Texte, die Texte lesen und andere Texte schreiben. Auch Graphikprogramme zeichnen oder malen nicht, sie schreiben. Wie die Programmsprachen hat auch der Hypertext kein orales Äquivalent mehr, sondern lässt sich nur noch im Schriftmedium darstellen. Diese radikale Verschriftlichung ermöglicht ganz neue und hilfreiche Zugriffsmöglichkeiten. Eine Datenbank von Emblemata der Frühen Neuzeit z.B. erlaubt es, aus der Pictura bestimmte Elemente zu markieren und sowohl in den Bildern wie in den Texten nach analogen Elementen zu suchen.37 Das große Handbuch von Henkel/Schöne hatte demgegenüber nur die schriftlichen Bestandteile der Embleme indizieren können. Selbstverständlich gehorchen Hypertexte, z.B. das Internet, anderen gesellschaftlichen Anforderungen und Bedürfnissen als das lineare Buch, sie brechen nämlich den linearen Text auf möglichst elementare, irgendwie „verlinkte“ Informationsatome herunter. Aber auch dieses Bedürfnis kannte und befriedigte bereits das Buch, zumal das mit avantgardistischen Prätentionen. Man erlaube mir zur Illustration nur ein Zitat aus einem futuristischen Manifest von Filippo Tommaso Marinetti aus dem Jahr 1913: Abitudine delle visioni in scorcio e delle sintesi visuali create dalla velocità dei treni e degli automobili che guardano dall’alto città e campagne. Orrore della lentezza, delle minuzie, delle analisi e delle spiegazioni minute. Amore della velocità, dell’abbreviazione e del riassunto. Raccontami tutto, presto, in due parole.38

Marinettis typographische Experimente, die einen Text wieder an Oralität zurückbinden sollten – ich brauche nur auf den berühmten Romantitel Zang Tumb Tuuum zu verweisen – veranlassten den Leser, Textoberflächen zu betrachten, anstatt nach einem ohnehin nicht vorhandenen Sinn zu suchen. Aber sie verursachten zu seiner Zeit sehr hohe Kosten; am Computer dagegen ist jedermann sein eigener Futurist. Der Computer vereinigt Autor und Typograph, die sich mit der Erfindung des Buchdrucks voneinander verabschiedet hatten. Man betrachte nur einen Band mit „anspruchsvollen“ Comics, etwa aus 36

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Jay David Bolter, Writing Space, op, cit., p. 26. Er hätte allerdings hinzufügen müssen, dass der (uneingeweihte) Zuschauer diese Rache nicht mitbekommt, sondern einfach „Bilder” sieht. Vgl. die Beschreibung der Datenbank bei David Graham, „The Emblematic Hyperbook“, in: George P. Landow/Paul Delany (ed.), Hypermedia and Literary Studies, op. cit., pp. 273–285. Filippo Tommaso Marinetti, „Distruzione della sintassi, Immaginazione senza fili, Parole in libertà”, in ders., Teoria e invenzione futurista, a cura di Luciano De Maria, Milano 1968, p. 60.

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der Zeitschrift RAW, um sich sofort, auch in inhaltlicher Hinsicht, an die futuristischen Tavole Parolibere erinnert zu fühlen.39 Das Bedürfnis nach Beschleunigung der Informationsvermittlung ohne den zeitraubenden Umweg über den linearen Text kennzeichnet auch den Hypertext. Jakob Nielsen hat die folgenden „goldenen Regeln“ für den Hypertext formuliert: 1) A large body of information is organized into numerous fragments, 2) The fragments relate to each other, 3) The user needs only a small fraction at any time.40

Was wir haben, sind große, zu große Informationsmengen, wir wollen davon aber nur kleine Fragmente. Man mag beides bedauern, aber das Bedürfnis nach Beschleunigung bleibt unabweisbar. Die Koinzidenz zwischen digitaler Technologie und avantgardistischen Experimenten ist den Theoretikern des Hypertexts keineswegs entgangen. So spricht Charles Bernstein ausdrücklich von „Letters in Liberty“, während Marinetti immerhin noch Parole (also Worte!) in libertà vorgesehen hatte.41 Inzwischen liegen auch zahlreiche literarische Hypertexte in Datenbanken gesammelt vor, die diese theoretischen Postulate freilich nur sehr begrenzt realisieren.42 Das war jedoch im Futurismus nicht anders gewesen. Da sich jeder Hypertext für jeden Leser in jedem Durchgang anders darstellt (man versuche nur einmal, im Internet denselben Weg zweimal zu gehen), kann, so lautet die Hoffnung, der Text nicht statisch, d.h. „tot“ sein. Das Ungenügen am „toten Buchstaben“ und die Suche nach dem „lebendigen Geist“ („littera enim occidit Spiritus autem vivificat“, II Cor. 3,6)43 ist also zuletzt sehr drastisch von den Avantgarden44 formuliert worden, greift von dort auf die 39 40 41

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Vgl. Richard Lanham, The Electronic Word, op. cit., p. 44. Jakob Nielsen, Multimedia and Hypertext, op. cit., p. 65. Vgl. Charles Bernstein, „The Response as Such: Words in Visibility“, Meaning, a. IX, 1991, pp. 3–8. Vgl. z.B. das Electronic Poetry Center: http://www.wings.buffalo.edu/epc.html. Glazier 1997, 26 bringt eine lange Liste von Hypertext-Autoren. Die Datenbank Hyperizons an der Duke University bietet Hyperfictions individueller oder kollektiver Autoren, kritische Literatur zum Hypertext (linear oder als Hypertext) sowie Konvertierungsmöglichkeiten linearer Texte: http://www.duke.edu/~mshumate/hyperfic.html. Weite Bereiche dieses Servers sind kostenpflichtig. Es dürfte kein Zufall sein, dass sich solche Formulierungen vor allem in der antiskripturalen paulinischen Theologie finden – mit den bekannten ikonoklastischen Folgen. Wie stark das Bedürfnis nach Intensivierung und Beschleunigung, nach Abschaffung von Redundanzen, die Avantgarden prägt, zeigt noch der (vielleicht) letzte authentische Avantgardist, Guy Debord. Er definiert die „Situation“, auf die in seiner „situationistischen Internationalen“ alles ankommt, folgendermaßen: „Le but le plus général doit être d’élargir la part non médiocre de la vie, d’en diminuer, autant qu’il est possible, les moments nuls“; Guy Debord, Rapport sur la construction des situations et sur les conditions de l’organisation e de l’action de la tendance situationniste internationale (1957), Paris 2000, p. 36.

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Romantik zurück und nährt sich aus vermutlich sehr alten Motiven. Schon die Schrift selbst hat die Zirkulation des Wissens entscheidend beschleunigt. Der lebendige Geist weht freilich immer nur im Text, aber die neuen technischen Möglichkeiten müssen uns veranlassen, dessen Geschichte noch einmal zu durchdenken. Dies hat vor allem der Altphilologe Jay David Bolter geleistet.45 Die Einführung des Buches in der Spätantike mit den neuen Schreibregeln (Wortabstände, Interpunktion u. a.) hat die Seite als Grundeinheit des Denkens hergestellt und mit der Linearität der Schriftrolle bis zu einem gewissen Grad bereits gebrochen. Im Buch kann ich relativ leicht in die Mitte des Textes springen, kann Textanfänge markieren (etwa durch Illumination der Anfangsbuchstaben), Verweisungssysteme in den Fußnoten oder Marginalien einführen, Indexe und Inhaltsverzeichnisse erstellen usw. Wir schreiben fortan in räumlichen Einheiten, in Kapiteln, Paragraphen, Absätzen, die die Schriftrolle nicht zur Verfügung stellte. Zugleich führte das Buch Hierarchien in den Text ein. Die damit theoretisch möglichen Verweisungssysteme jenseits der Linearität des Textes werden natürlich erst vom Buchdruck ausgeschöpft, denn erst mit ihm werden Paginierung und Orthographie wirklich konstant. Der Computer kehrt zunächst zur Linearität der Schrift zurück, Einteilungen, Umbrüche usw. werden erst sekundär eingefügt und bleiben damit flexibel. Der Hypertext schließlich geht grundsätzlich von kleineren Textblöcken aus als die Seite und ordnet sie nicht mehr hierarchisch, sondern in flachen oder sogar horizontalen Verweisungsnetzen. Hypertextuelle Netze sind umso effektiver, je knapper seine einzelnen nodes sind. Wo jedoch ein längerer (schriftlicher) Gedankengang seine Schnittstellen artikulieren muss (kausal, kontrastiv, temporal usw.), bleibt im Hypertext nur der abstrakte Link, der irgendeinen Zusammenhang anzeigt, Relationen können nicht mehr schattiert werden. Der Hypertext privilegiert somit Information gegenüber Kontext und Struktur, was noch durch den Umstand verstärkt wird, dass sich jeder Leser seinen Text wie Kontext erst herstellen muss.46 Diese Fragmentarisierung des Denkens mag beklagt oder bejubelt47 werden, etwas grundsätzlich Neues ist sie nicht. Eine ähnliche Zermahlung von Kontex45

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”This eclectic character is the reason that computer writing is so important for the history of writing. The computer rewrites the history of writing by sending us back to reconsider nearly every aspect of the earlier technologies“ (Bolter, Writing Space, op. cit., p. 46). Bolter schreibt in vielen Stücken das ältere Werk von Walter J. Ong S.J., Orality and Literacy, New York 1982, fort. Peter J. Nürnberg/John L. Leggett/Erich R. Schneider schreiben: „Linking is more than harmful – it is downright deadly“, denn es „implies the primacy of data, not structure“ („As We Should Have Thought”, in: Mark Bernstein/Leslie Carr/Kasper Østerby (eds.), Hypertext 97, op. cit., pp. 96–101, Zit. p. 96). Die Autoren entwickeln als Alternative einen „Strukturprozessor“ (SPROL, vgl. 100), dessen Verständnis sich meiner technischen Kompetenz entzieht. Vgl. Carolyn Handa, Computers and Community, op. cit., p. 179 für eine neutrale Beobachtung.

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ten lässt sich u. a. in der modernen Lexikographie beobachten. Die Encyclopédie, aber auch frühere Nachschlagewerke (Bayle, Zedler usw.) enthalten relativ summarische Lemmata mit sehr langen Artikeln. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts, auf dem Weg zu den großen Konversationslexika, lässt sich beobachten, dass die Zahl der Lemmata ansteigt, die Länge der Artikel sinkt und die Zahl der Querverweise entsprechend exponentiell anwächst.48 Der Hypertext führt diese Tendenzen nur ins Extrem und macht sie evident. Er nährt damit die Illusion, deren Ursprung Heidegger bekanntlich sehr früh ansetzt, Denken bestehe aus der regelgeleiteten Verarbeitung49 kontextfreier Informationsatome50. Es ist aus diesen Gründen nicht zu vermuten, dass der Hypertext traditionelle Textformen verdrängen wird, er wird jedoch neben anderen Texten koexistieren. Jede Form der Schriftlichkeit hat für spezielle Zwecke überlebt; auch heute noch wird Schrift in Stein gehauen, wenn Dauerhaftigkeit und Monumentalität gesucht werden. Aber, um eine Metapher von Saussure zu verwenden, traditionelle Texte verschieben mit dem Auftreten des Hypertextes ihre Position im Textsystem. Eine Hypertextenzyklopädie z.B. wäre nicht mehr an die alphabetische Ordnung heutiger Lexika gebunden, sondern könnte zur topischen Wissensorganisation der Frühen Neuzeit zurückkehren, die die Encyclopaedia Britannica auch in der Tat versucht hat. Zugleich bindet der Hypertext uns nicht an eine hierarchische Wissensorganisation, die heute weder plausibel noch konsensfähig wäre, sondern gestattet jedem Benützer das okkasionelle Herstellen von Ordnung. Was Hypertexte von traditionellen unterscheidet, ist letztlich das Erinnerungssystem, das ihnen zugrunde liegt.51 Der Hypertext ist eigentlich noch gar kein Text, bei dem erforderlich wäre, dass man sich an seinem Ende noch an seinen Anfang erinnern kann (sowie an andere Texte, mit denen er verknüpft ist), sondern nur das topische Material, aus dem jeder Leser sich seinen Text zusammenbauen muss. Bislang hatten vor allem Titel und Autor Texte vonei-

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Bewusst gegen diese Tendenz arbeiten Oswald Ducrot/Jean-Marie Schaeffer, Nouveau dictionnaire encyclodédique des sciences du langage, Paris 1995. Schon Turing hat seine Maschine als „rule-obeying mechanism“ beschrieben. Er definiert den Computer als „supposed to be following fixed rules. (...) It is the duty of the control to see that these instructions are obeyed correctly and in the right order. The control is so constructed that this necessarily happens“, Alan Turing, „Computing Machinery and Intelligence”, in: Alan Ross Anderson (ed.), Minds and Machines, Eaglewood Cliffs/N.J. 1964, p. 8). Überträgt man dies auf die menschliche Intelligenz, ist es in der Tat der uralte Traum, Denken durch „Methode“ zu ersetzen. Hubert L. Dreyfus ist daher der Auffassung, mit dem Scheitern der Künstlichen- IntelligenzForschung sei auch das Paradigma gescheitert, das „Sein als Seiendes“ zu begreifen und zuzurichten, vgl. Hubert L. Dreyfus, What Computers Still Can’t Do, op. cit., p. 206. „It is the organization of memory that defines what concepts are“, Douglas Hofstaedter, Metamagical Themas. Questing for the Essence of Mind and Pattern, New York 1986, p. 528).

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nander abgegrenzt und Eigentumsrechte garantiert.52 Titel können in hypertextuellen Netzen geradezu proliferieren, denn jeder einzelne node besitzt seinen eigenen Titel.53 Auch im WWW, das sich als ein einziger, unstrukturierter Hypertext auffassen lässt,54 verweisen die URLs (Uniform Resource Locators) auf locations, häufig (im Idealfall) auf den Urhebernamen (Firmen, Institutionen usw.). Der Titel und/oder Urhebername bleiben somit als Schwelle im textuellen Kontinuum auf dem Eingangsportal unverzichtbar. Ich möchte vorschlagen, diese Titelfunktion als incipit-Funktion zu bezeichnen. Auch mittelalterliche Manuskripte oder frühe Drucke bieten stets mehrere Texte in einem Band, die nur durch ein incipit abgetrennt sind und die Kopisten oder Buchbinder haben in der Regel dafür gesorgt, ungefähr verwandte Texte zusammenzufassen. Dieselbe Funktion übernehmen heute (wie damals mit begrenzter Kompetenz) Suchmaschinen und Server. Das incipit markiert die Schwelle eines Textes in einem textuellen Kontinuum, lässt aber die Option offen, ihn zu überspringen. Nach dem Wort incipit kommt in aller Regel die Gattungsbezeichnung bzw. der Gegenstand, den der Text behandelt, sowie in prominenten Fällen der Autor, z.B.: „Incipit Comoedia Dantis Alaghierii“.55 Genau diese Informationen enthält auch das Eingangsportal eines Hypertextes. Es benötigt nicht unbedingt einen Titel, aber eine pragmatische Gattungsbezeichnung und meist den Namen des Autors, der Firma oder Institution. Der Übergang von traditionellen Texten zu Hypertexten ist folglich durchaus fließend,56 und in mancher Hinsicht stellt der Hypertext eher eine Rückkehr zu früheren Schreibpraktiken dar als eine radikale Neuerung. So ist auch aus dem Milieu der Hypertextautoren die denkbar abstrakteste Definition von Literatur überhaupt hervorgegangen; sie sei, so Ted Nelson, „a system of intercon52

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Zur Auflösung von Urheberrechten im digitalen Zeitalter vgl. den ausgezeichneten Artikel von Amy B. Cohen, „Masking Copyright Decisionmaking: The Meaningslessness of Substantial Similarity“, U.C. Davis Law Review, a. XX, 1987, pp. 719–767. Vgl. Jochen Mecke, „Randbezirke des Hypertextes“, in: S. Heiler/J. Mecke (Hrsg.), Titel – Text – Kontext. Festschrift für Arnold Rothe, Regensburg 2000, pp. 51–72. Dies wird schon dadurch unausweichlich, dass das WWW auf der Programmsprache HTML (Hypertext Markup Language) beruht. vgl. hierzu Jakob Nielsen, Multimedia and Hypertext, op. cit., p. 360. Dante, Epistola a Cangrande della Scala, erster Satz. Eine autororientierte Einführung in die Möglichkeiten von speziell literarischen Hypertext und Hypermedia bietet Richard Ziegfeld, „Interactive Fiction: A New Literary Genre?“, New Literary History, a. XX, 1988/89, pp. 341–372. Der im Titel gestellten Frage, ob es sich dabei wirklich um eine neue literarische Gattung handelt oder um eine neue technische Ausstattung bereits etablierter Gattungen, weicht er allerdings aus. Der erste literarische Hypertext war, soweit ich sehe, afternoon (1987) von Michael Joyce, produziert im von Jay David Bolter entwickelten Programm Storyspace von Eastgate Systems, Boston. Zur überraschend umfangreichen Sekundärliteratur zu diesem und nachfolgenden Hyperfictions in Storyspace vgl. neuerdings Alice Bell, The Possible Worlds of Hypertext Fiction, New York 2010, zu afternoon pp. 28–66.

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nected writing“57 und er begreift diese Definition nicht als Forderung, die erst künftig einzulösen sei, sondern als immer schon geltendes Faktum. Um, abschließend, auf einer abstrakteren Ebene zu einem Ergebnis zu gelangen, müssen andere Autoren zur Hilfe aufgerufen werden als sowohl die Hypertext- wie die dekonstruktivistischen Literaturtheoretiker. Walter Benjamin spricht an einer Stelle geradezu von einem „Gesetz der Vorverkündigung neuerer Errungenschaften in älterer Technik“.58 Er illustriert, an anderer Stelle, dieses „Gesetz“ u.a. durch den Maler Gustave Courbet: „Courbets Epoche kannte weder die Groß- noch die Momentaufnahme. Seine Malerei zeigt ihr den Weg. Sie rüstet eine Entdeckungsfahrt in eine Formen- und Strukturwelt aus, die man erst Lustren später auf die Platte zu bringen vermochte“.59 Was also bei Courbet gewagte, von umfangreichen theoretischen Erörterungen begleitete Innovation war, wird im technischen Medium der Photographie ganz banale Alltagspraxis. Die idealisierende Annahme, ein Maler wie Courbet habe genialerweise die Photographie „antizipiert“ – oder Marinetti den Comic – geht freilich in die Irre. In seinem Kunstwerk-Aufsatz versucht Benjamin vielmehr, seine verstreuten Beobachtungen folgendermaßen zu systematisieren: „Es arbeitet (...) einmal die Technik auf eine bestimmte Kunstform hin. (...) Es arbeiten zweitens die überkommenen Kunstformen in bestimmten Stadien ihrer Entwicklung angestrengt auf Effekte hin, welche später zwanglos von der neuen Kunstform erzielt werden. (...) Es arbeiten drittens (...) gesellschaftliche Veränderungen auf eine Veränderung der Rezeption hin, die erst der neuen Kunstform zugute kommt.“60 In diesen Prozess gehört auch die ungeheuere Verbreitung von Schriftlichkeit hinein. Standen jahrhundertelang „einer geringen Zahl von Schreibenden eine vieltausendefache Zahl von Lesenden“ gegenüber, so geraten heute „immer größere Teile der Leserschaft – zunächst fallweise – unter die Schreibenden. (...) Der Lesende ist jederzeit bereit, ein Schreibender zu werden.“61 Dieser komplex zusammengesetzte Ablauf wird von der Turing-Maschine nur weitergetragen. Sie realisiert auf banale und alltägliche Weise – „zwanglos“, wie es bei Benjamin heißt – Potenzen, die bereits im Buch angelegt waren, unterdrückt selbstverständlich andere, ebenso wie Postulate (post-)moderner Literaturtheorien: die Dissemination der Bedeutungen, die Auflösung der „Ränder“ von Schrift, die radikale Grammatologie, 57

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Theodor H. Nelson, Literary Machines, ed. 1987, 1.2,9. Die Originalversion von Nelsons Xanadu-Projekt, eine Art Proto-WWW von Xerox gesponsort, geht auf das Jahr 1965 zurück. Walter Benjamin, „Kleine Geschichte der Photographie“, Gesammelte Schriften, Bd. II,1, Frankfurt/Main 1977, p. 376. Walter Benjamin, „Pariser Brief II“, Gesammelte Schriften, Bd. III, Frankfurt/Main 1972, p. 503. Walter Benjamin, „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (erste Fassung)“, Gesammelte Schriften Bd. I,2, Frankfurt/Main 1974, pp. 456f. Walter Benjamin, ebd., p. 455.

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das Denken von der Schriftlichkeit aus, den Intertext, den multimedialen Text, die Unterscheidung zwischen „texte scriptile“ und „texte lisible“ usw. Wir haben also keinen Grund, uns zu beklagen, wenn unsere Studenten keine Bücher mehr lesen, sondern nur noch in der Galaxie des Internet herumsurfen, denn sie ziehen damit eine logische Konsequenz, der wir uns ohnehin nicht entgegenstemmen können. Aber wir werden, zumindest in der Lehre, diesem technologischen Sprung Rechnung tragen müssen, um die Möglichkeiten des neuen Mediums auszuschöpfen. Wenn wir etwa bei Roman Jakobson lesen, die Schauspieler an Stanislavskis Theater seinen darauf trainiert worden, die beiden Wörter „heute abend“ in vierzig verschiedenen Bedeutungen auszusprechen62, so würde sich doch jeder eine in den Text eingebaute Videoanwendung wünschen. Wir werden anerkennen müssen, dass unsere im Nebel surfenden Studenten eine topisch organisierte Form von Wissensverarbeitung betreiben und keineswegs eine Produktion von „neuem“ Wissen, falls es so etwas in unseren Disziplinen überhaupt gibt. Die Antwort, die nach der Zurückdrängung der Rhetorik die neue Disziplin der Ästhetik seit gut 200 Jahren auf die Frage gegeben hatte, wozu Philosophische Fakultäten eigentlich gut sein sollen, stellt sich heute als unhaltbar und kontraproduktiv heraus. Entgegen den Annahmen der ästhetischen Theorien sind die artes liberales nicht frei, wenngleich – in gewisser Weise – befreiend. Wollen wir den Minsterialbehörden auf die berechtigte Frage, was wir an unseren Fakultäten eigentlich herstellen, ernsthaft antworten, wir produzierten „Zweckmäßigkeiten ohne Zweck“ (Kant) „interesseloses Wohlgefallen“ oder „l’art pour l’art“63? Wollen wir wirklich unseren Studenten sagen: lesen Sie bitte die und die Romane, aber, bitteschön, „interesselos“? Sobald wir uns in der Terminologie und damit im Theoriegebäude der Rhetorik befinden, ist es klar, dass sie immer an ein Interesse gebunden und insoweit „unfrei“ ist. Vielleicht ist es daher aussichtsreicher, zur älteren, dauerhafteren Antwort der Rhetorik auf die Frage nach dem Sinn geisteswissenschaftlicher, geistiger Arbeit zurückzukehren und den misstrauischen Minsterialbehörden zu antworten: wir erziehen den guten Staatsbürger, den vir bonus dicendi peritus. Wir könnten es zumindest einmal ausprobieren.

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Roman Jakobson, „Linguistik und Poetik“ (1960), in ders., Poetik. Ausgewählte Aufsatze 1921–1971, Frankfurt/Main 1979, p. 90. Wenn ich recht sehe, taucht diese Formel, weit vor ihrer Karriere in der Mitte des 19. Jhs, erstmal 1804 im Journal von Benjamin Constant auf und ist dort bezogen auf die Ästhetik Kants und der Weimarer, Benjamin Constant, Journaux intimes (1804–1807), in: Œuvres complètes, éd. P. Delbouille e.a., vol. VI, Tübingen 2002, pp. 64f.

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Arne Scheuermann

Medienrhetorik, Wirkungsintentionalität, Affekttechniken Zur Konzeption von ‚Design als Rhetorik‘ als notwendige Ergänzung der Kunstgeschichte1

1. Einleitung In der Kunstgeschichte sind Industrial Design und Grafik Design immer noch Randthemen. Doch auch in der eigenen, noch jungen Disziplin der Designwissenschaft schält sich erst langsam ein eigenes Geschichtsverständnis heraus, nimmt erst langsam auch die Theoriebildung Bezug auf diese Ergebnisse, begreift man erst langsam, dass das Design Vorgängerdisziplinen hat, auf die man sich fruchtbar beziehen könnte. Die Rhetorik ist eine solche Vorgängerdisziplin des Designs – und das macht die ganze Angelegenheit so fürchterlich kompliziert. Denn nicht nur ist das Verständnis von ‚Design‘ und ‚Rhetorik‘ historisch gewachsen und veränderlich, auch haben sich die Gegenstandsbereiche und Diskurse von Design und Rhetorik in den letzten 250 Jahren so oft gewandelt, dass man in einen gemeinsamen blinden Fleck gleich aller beteiligten Disziplinen tritt, wenn man Design und Rhetorik zusammen denken möchte: Rhetorikwissenschaftler2 haben in der Regel keinen Bezug zum Design, und Designern ist die Rhetorik in der Regel fremd; die Kunsttheorie blendet oft die gestalterische Praxis aus, und die Designpraxis wird an vielen Orten ahistorisch gelehrt; die Rhetorik kann sich nicht umfassend zuständig erklären für die Gegenstände der Kunstgeschichte, und für die Kunstwissenschaft ist die Rhetorik oft nur eine historische Fussnote. Kurzum: Wir alle haben schlichtweg unbrauchbare Definitionen von ‚Rhetorik‘ und ‚Design‘ verinnerlicht, die dem umfassenden Charakter beider Gegenstandsbereiche nicht gerecht werden. Wenn ich also im Folgenden vorstellen möchte, wie und zu welchem Zweck sich Design als Rhetorik konzipieren lässt und auf welche Weise hiermit bestehende

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Dieser Beitrag versammelt eine Reihe von Überlegungen, die in Gesprächen und im Rahmen von Forschungsprojekten entwickelt wurden; ich danke hierfür Gesche Joost, Heiner Mühlmann, Ulrich Heinen, Oliver Lubrich, Christian Jaquet, Annina Schneller, Simon Küffer und Manfred Hinz. Ich verwende im Folgenden aus Gründen der Lesbarkeit keine inklusive Sprache; selbstverständlich gilt jedoch alles Gesagte gleichermassen für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Designerinnen und Designer, Leserinnen und Leser, Künstlerinnen und Künstler usw.

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Kategorien der Kunstgeschichte sinnvoll ergänzt werden können, dann muss ich auf die Bereitschaft meiner Leser bauen, in diesen blinden Fleck zu treten. Wir werden hierbei bekannte Pfade probeweise verlassen und uns auf eine veränderte Sichtweise auf diese Gegenstandsbereiche einlassen müssen, um die vorgestellten Probleme lösen zu können. Hierzu werde ich in einem ersten Schritt einige klärende Vorbemerkungen machen, das Themenfeld abstecken und vorstellen, warum aus meiner Sicht eine solche Konzeption auch aus der Perspektive der heutigen Designpraxis sinnvoll ist. In einem zweiten Schritt werde ich vier Argumentationslinien aufzeigen, die verschiedene Übertragungen von Rhetorik auf Design erlauben. Drei Anwendungsfelder schliesslich – Medienrhetorik, Wirkungsintentionalität und Affekttechniken – sollen illustrieren, welchen kunstwissenschaftlichen Gewinn eine solche Konzeption meines Erachtens verspricht. Und abschliessend möchte ich in einem kurzen Ausblick die Rahmenbedingungen aufzeigen, in denen sich die vorgestellten Ideen werden bewähren müssen.

2. Zum Themenfeld, zur Geschichte des Problems und zur Konzeption von Design als Rhetorik Drei Vorbemerkungen scheinen mir für eine erforderliche neue Sicht auf das Thema sinnvoll: Erstens – um Missverständnissen vorzubeugen: Eine Konzeption von ‚Design als Rhetorik‘ meint im Nachfolgenden weder ‚die Rhetorik des Design-Diskurses‘ noch die Verwendung von Bildern in rhetorischen Rahmen (wie beispielsweise Embleme und Allegorien). Fragen hierzu werden also nicht behandelt. Im vorliegenden Text soll es vielmehr um eine ganzheitliche Konzeption von Design als Rhetorik gehen. ‚Design als Rhetorik‘ ist gemeint als konzeptionelle Übertragung zur Erschliessung von Theoriebeständen, analytischen Werkzeugen, Lehrpraxis und Erkenntnismodellen der Rhetorik als Vorgängerdisziplin für das Design.3 Hierfür ist – zweitens – eine klare Definition des Designbegriffs nötig. Der Begriff Design wird in der Designtheorie im Wesentlichen auf zwei Arten definiert: Design wird entweder im engeren Sinne an die Entstehung industrieller Formgebung und neuer Reproduktionstechniken im 19. Jahrhundert geknüpft und hierdurch als industrielle Formgebung (Industrial Design) sowie Grafik Design verstanden4 – oder im weiteren Sinne als jede Gestaltung von Artefak-

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vgl. Joost/Scheuermann (2008), insb. 11ff. u. a. Selle (1987) 25ff; Schneider (2005) 16ff.

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ten und damit tendenziell ahistorisch konzipiert.5 Die Kunst- und Designtheorien der Klassischen Moderne, die sich eng an die erste Definition anlehnen, können meiner Ansicht nach durch die zweite Sicht neue Impulse erhalten, wie zu zeigen sein wird. Drittens schliesslich gründen meine Überlegungen wesentlich auf Erwin Panofskys Vorschlag, zwischen kommerzieller und nichtkommerzieller Kunst zu unterscheiden.6 Bereits Ende der 1920er Jahre eröffnet er hierdurch der Kunstgeschichte – wenn auch ohne explizit die Rhetorik als argumentativen Angelpunkt zu verwenden – eine Diskussion um die unterschiedlichen Formen der Kunstproduktion. Diese Diskussion kann und muss meines Erachtens auch noch einmal (rhetorisch informiert) für die Designtheorie geführt werden. Ihren eigentlichen Ausgangspunkt nehmen meine Überlegungen jedoch in folgender Beobachtung: Es fehlt im zeitgenössischen Design eine spezifische Verbindung von Theorie und Praxis, in welcher die Praxis auf Theorie(n) beruht, also im Dialog mit Theorie(n) entwickelt wird und wachsen kann. Ein Blick auf den klassischen Fächerkanon in der Designausbildung an Hochschulen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bis heute zeigt dies sehr anschaulich. Neben den Fächern der Praxis, wie Entwurf, Zeichnen, Fotografie, Typografie, audiovisuelle Medien, Interface-Design, Web-Design, Modellbau usw., stehen dort in der Regel theoretische Fächer, die nicht reflexiv auf die einzelnen Tätigkeiten und Disziplinen ausgerichtet sind, sondern vorwiegend eine analytisch-hermeneutische Überschau anbieten: Kunstgeschichte, Semiotik, Ästhetik, Soziologie, Kommunikationstheorie, Informatik, Ergonomie, Psychologie usw. Was fehlt, ist eine auf die Praxis ausgerichtete Reflexion, in der die angehenden Gestalter lernen, durch Theorien und Modelle ihr eigenes Tun zu hinterfragen, zu beschreiben und damit auch: zu verbessern. Was fehlt, ist also ein rhetorisches ‚Theorieverständnis‘, das in Feedback-Schlaufen das eigene Tun (=Produktion) und die Analyse des Tuns anderer (=Analyse) miteinander verbindet. Dieser Umstand lässt sich auch wissenschaftsgeschichtlich herleiten. Nach 1750 verschwindet die Rhetorik von der europäischen Bühne der Geisteswissenschaften bis weit ins 20. Jahrhundert hinein. Die Geburt von Design ‚als Disziplin‘ im 19. Jahrhundert (im Sinne der ersten oben genannten, engeren Definition) fällt somit in eine Zeit, in der künstlerisches und auch kunstgewerbliches Handeln nicht mehr rhetorisch verfasst ist (wie zuvor beispielsweise in den Anweisungsästhetiken der Poesie und der Malerei). Stattdessen wird die ‚Geburt des Designs‘ philosophisch-hermeneutisch begründet (beispielsweise in der Ästhetischen Theorie der Romantik) und rational-naturwissenschaftlich reflektiert (wie in der Herkunft gewisser Designpraktiken aus dem 5 6

u. a. Simon (1969); Heskett (2002). Panofsky (1993) insb. 51ff.

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Ingenieurswesen). Als man schliesslich beginnt, ‚das Design‘ in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunehmend theoretisch zu begleiten, nutzt man also vor allem normative Ästhetiken und untertheoretisierte Empirie. Beispiele dieser frühen Designtheorien sind die Arts and Crafts-Bewegung, die Debatte um ‚Die Gute Form‘, die Lehren am Bauhaus und in Teilen auch an der hfg ulm;7 später gesellt sich die Informatik als Leitmetapher hinzu, ergänzen Marktforschung und Ergonomie das Theoriegerüst, legt man in aufwendigen Praxisprotokollen den gestalterischen Prozess interaktionswissenschaftlich unter das Mikroskop. Produktionsästhetiken spielen hierbei im Lehrbetrieb keine nennenswerte Rolle, sondern kommen allenfalls in Lehrbüchern der Praxis zum Vorschein, wenn beispielsweise Faustregeln zur Fototechnik oder Gestaltungsregeln vermittelt werden.8 Diese mangelhafte Einbindung der Praxis in die Designtheorie erklärt auch den grossen Bedarf der Designausbildung an den oben genannten Hilfstheorien. Aus dem Blick gerät in dieser Entwicklung der Klassischen Moderne, dass und wie die Vorgänger des Designs (Buchdruck, Möbelbau, Weberei, Kupferstich, Zeichnung usw.) in den Jahrhunderten zuvor durchaus produktionsästhetisch verfasst waren. Dass Praxis und Analyse einst miteinander verwoben waren und auf welche Weise, kann oder will man Anfang des 20. Jahrhunderts nicht mehr wissen. Hierdurch werden in der Designtheorie des 20. Jahrhunderts wichtige Gegenstandsbereiche, Erkenntnisprozesse und analytische Zugänge ausgeschlossen. Erst als man Mitte des 20. Jahrhunderts nach und nach die Rhetorik wiederentdeckt, werden auch wieder neue historische Blickwinkel auf das Design möglich. Es wird nun deutlich, dass und wie die bildenden Künste vor 1750 umfassend anweisungsästhetisch organisiert waren und wie die Rhetorik in den Künsten eine zentrale, wenn auch oft versteckte Rolle gespielt hat. Erst jetzt kann auch wieder neu die Produktionsperspektive als notwendiger Teil einer Theorie der Praxis in den Künsten und im Design genutzt werden.9 Doch zurück zur Eingangsbeobachtung – der Designpraxis fehlt eine auf die Praxis bezogene Theorie. Nun liesse sich fragen: Wen kümmert’s? Warum sollte eine derartige Verbindung von Theorie und Praxis die gestalterische Praxis überhaupt verbessern können? Wie soll das Design als Disziplin aus einem solchen Unterfangen Nutzen ziehen? Die Erfahrung zeigt, dass die Reflexion in Theorien und Modellen gestalterische Prozesse grundsätzlich verbessern kann – hierüber besteht in der Designausbildung kein Zweifel. Eine neuerliche Zuhilfenahme der rhetorischen Produktionsperspektive würde die Analyse also wenigstens um eine solche

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vgl. Fischer/Hamilton (1999). Scheuermann (2008), insb. 207ff. vgl. Heinen (2008).

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zusätzliche Perspektive bereichern. Aus akademischer Sicht würde zudem ein neues Feld eröffnet, in welchem die Funktionsweisen der Praxis selbst zum Gegenstand werden, den man produktionsästhetisch analysieren kann – in den bisherigen Begleittheorien der Designausbildung wird dies nicht gewährleistet. Beides zusammengenommen kann die derzeitige Disziplinarisation/ Wissenschaftsbildung im Design aus dem eigenen Fach heraus befördern, ohne ‚das eigene Tun als Gegenstandsbereich‘ an die Forschung anderer Disziplinen delegieren zu müssen.10

3. Vier Argumentationslinien der Übertragung von Rhetorik auf Design Design lässt sich auf mindestens vier Wegen als Rhetorik verstehen; hierbei muss klar sein, dass solche groben Vergleiche über Epochen und wandelnde Selbstverständnisse hinweg natürlich nur Hilfskonstruktionen sein können. Niemand möchte ernsthaft behaupten, alles gestalterische Handeln sei rhetorisch. Vielmehr geht es darum, einzelnen Ähnlichkeiten zwischen der Rhetorik und dem Design nachzugehen – mit dem Ziel, diese sowohl für die Designtheorie der Gegenwart als auch für den retrospektiven Umgang mit Design und Kunstwerken in der Kunstgeschichte fruchtbar zu machen. Die vier Argumentationslinien überschneiden sich dabei, was auch daran liegen mag, dass sie alle auf ihre Weise einen ähnlichen Versuch unternehmen: als verbunden zu zeigen, was bisher unverbunden schien.11

3.1. Mit Regeln Wirkung erzeugen: Die Konzeption von Design als Rhetorik aus den Bedürfnissen der gestalterischen Produktion heraus Die Produktion von Kunst folgt bestimmten Rahmenbedingungen und Selbstverständnissen, die historisch wandelbar sind. Die Musik zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert beispielsweise war unter anderem rhetorisch verfasst: Wenn der Komponist eine bestimmte Wirkung erzielen wollte, konnte er die entsprechende Kompositionsfigur in einer Anweisungsästhetik nachschlagen und anwenden.12 Solches regelbasierte Arbeiten ist auch in anderen Künsten der rhetorischen Epoche zu finden: im Theater, in der Malerei, in der Poesie 10 11 12

vgl. Schultheiss (2005). vgl. zu möglichen Verbindungslinien auch Schneller 2010b. vgl. Unger (1941).

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usw. Im Zentrum einer solchen Konzeption von Kunst steht jeweils ein teils stabiler, teils veränderlicher Satz von Regeln, der es den Kunstschaffenden ermöglicht, ihre Aufgaben zu lösen. Das Kriterium, das über den Einsatz dieser Regeln entscheidet, ist das der Wohlfeilheit, der Angemessenheit – um es rhetorisch zu formulieren: das aptum. Hierbei berufen sich die Regeln ausdrücklich oder implizit darauf, dass sie bereits in einem anderen Zusammenhang funktioniert haben. Man ‚schreibt‘ sozusagen voneinander ‚ab‘ und nutzt, was sich bewährt hat. Das auf diese Weise in die Regelsätze eingeschriebene psychologische, anthropologische oder sogar physiologische Wissen zielt in der Regel auf Wirkungen ab. Nicht gewisse Bedeutungen sollen mit dem Bild, der Kantate, dem Sonett erzeugt werden, sondern bestimmte Wirkungen. Die verbindende Idee dahinter ist also zutiefst rhetorisch: die Idee der Wirkungsintentionalität.13 Etliche zentrale Fragestellungen im heutigen Design kreisen um dieselbe (rhetorische) Fragestellung: Wie kann eine bestimmte Wirkung erzielt werden? Ob in der Gestaltung von Human-Computer-Interfaces beim barrierefreien Zugang zu Informationen, ob bei der Visualisierung qualitativer Daten in der Knowlegde Visualization, ob bei der Gestaltung affektstarker Ereignisse auf einem Messe-Event oder im Kino: Das wirkungsintentionale Paradigma ist im Design zentral. Im Design stellt sich der Gestalter also während der Produktion Fragen, die sich auch andere Künstler anderer Epochen gestellt haben. Diese haben hierauf mit expliziten rhetorischen Regelästhetiken geantwortet. Im heutigen Design wiederum sind die Regelästhetiken jedoch allenfalls implizit vorhanden, und eine verstärkte Beschäftigung mit dem je eigenen Regelwerken könnte die jeweiligen Designbereiche schärfen. Die Rhetorik liefert hierfür das Modell – weil sowohl Rhetorik als auch Design in ihrem Kern wirkungsintentional sind und hierfür Regeln folgen.

3.2. Das gemeinsame Dritte: Die Konzeption von Design als Rhetorik über gemeinsame Verwandtschaft – wie Auftragskunst, Vernunfthandeln oder Unsichtbarkeit Eine zweite Argumentationslinie zur Konzeption von Design als Rhetorik wählt ein gemeinsames Drittes (und die daraus resultierenden geteilten Phänomene) als Ausgangspunkt. Wenn wir beispielsweise Auftragskunst mit kommerzieller Kunst aus dem bereits oben vorgestellten Gedanken Panofskys gleichsetzen, entsteht eine kategoriale Neuordnung vom Design und von der Rhetorik, in der die Rhetorik und das Design über das gemeinsame Dritte – die

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Lausberg El 14.

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Auftragskunst – etliche Gemeinsamkeiten teilen. Ein solches Gedankenspiel führt zu interessanten Folgerungen: a) Die ästhetische Wertung von Kunst und Design verliert an Wichtigkeit: Kunst ist nicht an sich ästhetisch ‚wertvoller‘ als Design, sondern vor allem kategorial anders in ihrem Entstehungsprozess. b) Ein und dieselbe Person kann beides produzieren; doch während Shakespeares Dramen, die er im Auftrag schreibt, rhetorisch verfasst sein müssen, um das Publikum zu erreichen, können seine Sonette (die er vielleicht im Selbstauftrag dichtet) zwar rhetorisch raffiniert sein, jedoch auch gleichzeitig für seine Leser schwer zugänglich oder mehrdeutig.14 Eine rein biografisch orientierte Kunstgeschichte (wie sie die Kunstwissenschaft schon lange hinter sich gelassen hat) wird damit auch für die Designwissenschaft hinfällig. Eine Zuordnung der sozialen Rollen ‚Künstler‘ versus ‚Designer‘ muss zudem neu bedacht werden – zeitgenössische Debatten beispielsweise um das sogenannte ‚Autorendesign‘ zeigen die Notwendigkeit dieser Neuordnung. c) Bestimmte Kunstwerke, die im 19. Jahrhundert mit einer gewissen idealistischen Ehrfurcht als Kunst verehrt wurden, wären dem Design zuzuordnen: die römische Portraitbüste, die Bildnisse Holbein des Jüngeren, Händels Oratorien. Doch auch in der zeitgenössischen Kunst müsste man die Zuordnung bestimmter Arbeiten, die im Auftrag entstanden – von Jeff Koons oder Damien Hirst etwa – überdenken (wobei auch Kategorien wie das Sakrale und das Transzendente in der Kunst hiervon verständlicherweise berührt wären). Ein anderes mögliches gemeinsames Drittes, das Rhetorik und Design miteinander verbindet, macht Gonsalv Mainberger im gemeinsamen Vernunfthandeln von Rhetorik und Design aus.15 Ein weiteres gemeinsames Drittes liesse sich konstruieren aus der Manifestation der Rede (hinter der der Redner optimalerweise ‚unsichtbar‘ wird) und der Unsichtbarkeit des Designs, das hinter seine Auswirkungen zurücktritt, wie es in der Designtheorie Lucius Burckhardts beschrieben wird.16 All diesen Verbindungen von Design und Rhetorik über ein gemeinsames Drittes ist gemeinsam, dass sie den gestalterischen Prozess und seine Ergebnisse eher phänomenologisch betrachten – also auf gemeinsame Eigenschaften hin prüfen – und nicht zwangsläufig aus der Produktionsperspektive. Dennoch erschliessen sich durch diese Verwandtschaften neue historische Zugänge.

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Panofsky (1993), 52. Mainberger (1989). Burckhardt (1989).

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3.3. Im selben Kommunikationsmodell: Die Konzeption von Design als Rhetorik über das Modell der rhetorischen Kommunikation Ein bereits an anderem Orte ausführlicher vorgestelltes Modell der rhetorischen Kommunikation von Gesche Joost und dem Autor erlaubt eine Gleichsetzung von Design als Rhetorik auf eine dritte Weise; diese Argumentationslinie verwendet ein systematisches Modell.17 Rhetor  Mittel  Medium  Wirkung  Adressat = Produktion | Erfahrung | Rhetor'  Mittel  Medium  Wirkung  Adressat = Analyse In Abgrenzung zu mittlerweile überholten Sender-Empfänger-Modellen der Kommunikation wird in diesem Modell die rhetorische Kommunikation als Kreislauf (Feedback-Schlaufe) beschrieben. Wichtig scheint dabei, dass der Adressat niemals die Intentionen des tatsächlichen Rhetors herausfinden kann, sondern nur die angenommenen Intentionen einer angenommenen RhetorInstanz oder -Funktion namens Rhetor'. Der Rhetor lernt sozusagen über die Betrachtung und Analyse der Wirkungen von Medien anderer rhetorischer Instanzen. Dieses Wechselspiel von (eigener) Produktion und Analyse (der Wirkungen von Medien anderer) ist eine der Lehrgrundlagen der Klassischen und Neuzeitlichen Rhetorik ebenso wie (implizit) auch der Designausbildung heute. Was der Designausbildung jedoch fehlt, ist das oben bereits als Lücke beschriebene explizit gemachte Wissen beispielsweise der Gestaltungsregeln, die zum Einsatz kommen.18 Designer lernen – anders als die Redner der Antike – sozusagen nur implizit und verschriftlichen ihre Beobachtung nicht oder nur selten. Kategorial jedoch ist das Handeln der Designer und der Rhetores in diesem Modell dasselbe.

3.4. Das Wissen über die Medien: Die Konzeption von Design als Rhetorik über die Nutzung derselben Medien Die vierte Argumentationslinie nimmt einige Ideen der ersten drei auf. Gleichzeitig grenzt sie sich scharf von den ‚expliziten‘ Medientheorien beispielsweise in der Tradition der ästhetischen Theorie ab.19 Ihr Gedankengang ist der folgende: Wenn man Medienpraktiken an sich (und also techne) als Gegenstandsbereich der Rhetorik identifiziert, müsste sich auch das 17

18 19

dargestellt in: Scheuermann (2009) 25ff; hier findet sich auch eine ausführliche Anwendung dieses Modells auf die gestalterische Praxis des Filmemachens. vgl. zu solchen Regeln bspw. Schneller 2010a. vgl. Scheuermann (2012).

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rhetorische Wissen über diese Medien auf das Design übertragen lassen, da sich die Praxis im Design dieser Medien bedient. Dieses rhetorische Medienwissen geht über die Idee einzelner Regelästhetiken hinaus. Nicht nur die Regeln sind übertragbar – etwa wenn ein accelerando in einem Musikstück des Barock in den Zuhörern Spannung erzeugt, kann man mit einigem Recht annehmen, dass es das auch in einer Filmmusik des 21. Jahrhunderts tun wird –, sondern auch die rhetorische Betrachtung des Mediums selbst: Wirkungsintentionale Musik ist grundsätzlich rhetorisch verfasst, und damit wäre auch das Design, das sich dieser Musik bedient, grundsätzlich rhetorisch verfasst. Diese Argumentation führt uns zu Beispielen, in denen weniger die gestalteten Dinge, die verwandtschaftlichen Eigenschaften oder ein gemeinsames Kommunikationsmodell von Rhetorik und Design im Mittelpunkt stehen, sondern die Medien als funktionaler Überbegriff. Die Tatsache, dass Medien bestimmte rhetorische Ausdruckspotenziale, rhetorische Wirkmechanismen und rhetorische Kontextbedingungen haben, führt des Weiteren folgerichtig zur Annahme, dass Design in der oben erwähnten ersten, im 19. Jahrhundert ansetzenden Definition eigentlich nur ein Sonderfall menschlichen Handelns durch und mit Medien ist. Jedoch ein Sonderfall, der wie alle anderen auch (die zeitgenössische Kunst, das Regietheater, der Journalismus, das Gemeinwesen…) wesentliche Überschneidungen mit der Rhetorik hat, die so gross sind, dass man das Design selbst als Rhetorik konzipieren kann.

4. Drei Anwendungsfelder An diese vier Argumentationen möchte ich nun anknüpfen, wenn ich im Folgenden drei Anwendungsfelder skizziere, in denen eine Konzeption von Design als Rhetorik meines Erachtens besonderen Sinn ergibt. Sie überschneiden sich und sollten deshalb weniger als voneinander streng getrennte Bereiche verstanden werden als vielmehr als drei verschiedene disziplinäre Zugänge zu den oben vorgestellten Problemfeldern.

4.1. Medienrhetorik als Gegenstandsbereich Die Produktionsperspektive spielt in den heutigen Medientheorien nur eine untergeordnete Rolle. Dabei geht vergessen, dass und wie die ‚Mechanik der Medien‘, ihr Zustandekommen und ihr ‚Funktionieren’ eigentlich gewinnbringend aus der Kenntnis ihrer Produktion heraus zu verstehen wäre. In der Filmgeschichte hat ein solcher Perspektivwechsel bereits eingesetzt, was daran abzulesen ist, dass derzeit der Lektüre von Produktionstagebüchern vermehrt

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Aufmerksamkeit geschenkt wird. In der allgemeinen Medientheorie fehlt diese Sicht noch oft. Eine wie oben skizzierte umfassende Medienrhetorik würde also ihr Augenmerk auf die Produktion der Medien legen und zu ergründen versuchen, ‚wie sie funktionieren‘. Die Gemachtheit von Medien rückt damit in den Vordergrund, ihre Entstehungsgeschichten zwischen Varianten und Alternativen, die Gestaltung als Ergebnis von Entscheidungen durch Designer und Kollektive. Insbesondere im Umgang mit ‚neuen‘ Medien, die unsere bestehenden (ästhetischen) Theorien auf eine besondere Probe stellen, kann ein solcher Blick auf die realen Produktionsprozesse zu einer Bestimmtheit in der Aussage helfen: Games, pervasive Medien, stereoskopische Bildtechniken kommen nicht aus dem Nichts – sie werden von bestimmten Designern gestaltet; die Verschiebungen politischer Praktiken hin zur Werbung oder der Wechsel des Industrial Designs zum Service Design folgen bestimmten soziologischen Rahmenbedingungen im Rollenverständnis von bestimmten Gestaltern; Social Media werden durch bestimmte Produktionsbedingungen und bestimmte technische Vorgaben beeinflusst. Gleichzeitig werden hierdurch natürlich auch bestehende Paradigmen der hermeneutischen Medientheorie erweitert, wenn nicht gar in Frage gestellt: Human-Computer-Interfaces beispielsweise wären dann nicht mehr in erster Linie unter Stichworten wie ‚Technik‘, ‚Performativität‘ oder ‚Macht‘ zu verhandeln, sondern medienrhetorisch als gestaltete Kommunikation empirisch fassbar und verhandelbar. In dieser neuen Sicht besteht für die Medientheorie eine Herausforderung.

4.2. Wirkungsintentionalität als empirische Grundfigur der Anweisungsästhetik Die Praxis im Design (so unser Ausgangsbefund) nutzt die Theorie nicht zur Reflexion des eigenen Tuns. Anders als in anderen Disziplinen, wie der Medizin beispielsweise, in der die Arztpraxis und die klinische Forschung aufeinander bezogen sind, spielen die Designtheorie, die Designforschung und die Designpraxis ihr Wissen eben nicht – wie manchmal normativ behauptet wird20 – in einen gemeinsamen Pool von Wissen ein. Und das gilt nicht nur für die ‚praxisferne’ ästhetische Theorie, sondern selbst für die ‚praxisnahen‘ empirischen Zugänge im Design: Nicht selten stehen sich beispielsweise das Expertenwissen der Designer und die Normideen in der Ergonomie unversöhnt gegenüber, nicht selten werden grafische Entscheidungen gegen die Empfehlungen der Marktforschung getroffen, … und nicht selten geschieht beides aus guten Gründen. Eine rhetorisch und historisch begründete Einführung der Produktionsperspektive in die Designwissenschaften würde die Disziplin 20

wie etwa bei Owen (1998).

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meines Erachtens behutsam hin zu einer empirischen Überprüfung ihrer Grundlagen führen, ohne dass sie hierfür die Deutungshoheit über den eigenen Gegenstandsbereich aufgeben müsste und ohne dass sie hierfür auf das Erfahrungswissen der Gestalter verzichten müsste. Die Idee der Wirkungsintentionalität erlaubt es, eigene Regelästhetiken aufzustellen und zu untersuchen. Datum, Erfahrung, Evidence Based Design usw. könnten so als unterschiedliche Bestandteile einer reflektierten Designwissenschaft aufeinander bezogen werden. Damit lassen sich auch ‚handfeste‘ Ergebnisse für die Praxis liefern, was nicht zuletzt der institutionellen Aufforderung an die bestehenden akademischen Designinstitutionen, angewandte Forschung zu betreiben, entgegenkommen würde. Auch kann ein solcher Zugang historische Phänomene ausserhalb des Design-Mainstreams (Punk, Memphis Design, Camp, …)21 und jüngere Gestaltungstypen (virales Marketing, Guerrilla Marketing, künstlerisches Autorendesign, …) deuten und in den Designdiskurs einbinden.

4.3. Affekttechniken als Beispiel für historische Kontinuitäten Ein besonderes Augenmerk möchte ich hierbei auf die Affekttechniken lenken: Wenn man die ‚Anweisungsästhetiken in Form von Affekttechniken‘ als Leitmotiv affektstarker Gestaltung begreift, lassen sich die historischen Affekttechniken auf das Heute beziehen und gestaltungspraktisch nutzen. Bislang werden Affekttechniken in der Praxis noch immer eher implizit übernommen – historische Beispiele für solche impliziten Aufnahmen älterer Wissensbestände gibt es zuhauf: von der Affektweckung in der Musik Mahlers, die sich bei älteren musikrhetorischen Figuren bedient, über die Gestaltung von frühen Kinosälen, die sich der barocken Wunderkammer verdankt,22 bis zur Plakatgestaltung, die visuelle Formeln des Erhabenen aus dem Raster des Renaissance-Buchdrucks übernimmt. Die Rhetorik würde dieses Feld nicht nur – wie oben skizziert – öffnen für eine empirische Überprüfung, sondern zudem die historische Gewachsenheit des Designs verdeutlichen. Das Wissen um die Regeln der Affekte und die iterativen Prozesse künstlerischer Produktion („Gestalter schreiben voneinander ab“)23 könnten so den Blick auf die ‚Gestaltungsfamilien‘ schärfen und zu einer Neuordnung gestalterischer Genres führen.

21 22 23

Buchanan (1985). Ndalianis (2008). vgl. Mühlmann (1996).

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Auch ist das in diesen Affekttechniken eingeschriebene anthropologische Wissen emotionswissenschaftlich noch nicht gründlich in den Blick genommen worden. Wenn sich Gartenrhetorik, Theme-Park und Actionadventure-Film derselben Affekttechnik der Blicklenkung bedienen – was bedeutet das dann für die ‚Affektnatur‘ des Blicks der Zuschauer? Welche Affekttechniken sind historisch invariant, welche sind starken zeitlichen Änderungen unterworfen? Hier könnte Design als Rhetorik auch Anschlüsse an die Naturwissenschaft bieten.

5. Design als Rhetorik – ein Ausblick Ich stelle fest, dass die vier Konzeptionen von Design als Rhetorik unterschiedliches Potenzial zeigen: Nicht alle Argumentationslinien sind gleich stark, und nicht alle eignen sich für dieselben Fragestellungen. Alle zusammengenommen haben sie jedoch meines Erachtens das Potenzial, die notwendige Neuausrichtung der Designwissenschaft und ihre Bewegung weg von der Kunsttheorie kraftvoll zu unterstützen. Ein solcher Weg wird durch die folgenden drei Rahmenbedingungen mitbestimmt: a) Die Einbindung der Empirie in die Designwissenschaft macht neue Methoden notwendig; erste Erfahrungen in der Designforschung mit experimentell-qualitativen Methoden wie den Cultural Probes unterstützen diese Beobachtung.24 Ähnlich wie die experimentelle Rhetorik wirft auch die experimentelle Gestaltung im Paradigma des ‚Research through Design‘ neue Fragen auf, die noch nicht ausreichend diskutiert worden sind.25 b) Die Akzeptanz wissenschaftlicher Methoden in der Design Community ist noch immer sehr gering; es wird daher notwendig sein, jedes Programm, das auf die Disziplinarisation des Designs abzielt, behutsam und im Gespräch zwischen Praxis und Theorie zu entwickeln. Gleichzeitig wird es notwendig bleiben, die gegenwärtigen Veränderungen im Berufsbild des Designers auch durch neue Theorien und Modelle zu begleiten. c) Eine konsequente historische und rhetorische Perspektive auf Design (im Sinne der oben erwähnten zweiten, weiteren Defintion) könnte auch einen neuen Blick auf die Entstehung von Bildern lenken und damit das derzeitige ‚Bildwissenschaftliche Programm‘ in der Kunst- und Kulturgeschichte hinterfragen. An die Stelle der philosophischen Frage „Was ist ein Bild?“ würden Fragen treten wie: „Was bewirkt dieses Bild?“ – „Wie ist es entstanden?“ – „Wer will hier mit wem kommunizieren?“ Ich habe das Vertrauen, 24 25

Gaver/Dunne/Pacenti (1999). vgl. Schneller/Scheuermann (2012).

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dass diese zuweilen hemdsärmeligen Fragen nach einem ‚Design als Rhetorik’ eigentlich eine gute Alternative zur Beschränktheit der modernen und postmodernen Ästhetiken bieten können. Im weitesten Sinne kann die Konzeption von Design als Rhetorik in diesem Rahmen Anfangspunkte bieten für eine notwendige Neubewertung der ästhetischen Theorie, einen neuen Umgang mit dem Medienbegriff und ein neues Nachdenken über die Gestaltung von Kommunikation.

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Isabelle Lehn

Rhetorik der Werbung

1. Werbung als rhetorische Praxis Werbung ist eine wirkungsintentionale und damit rhetorische Kommunikationsform. Sie definiert sich über die Ziele, die sie verfolgt: Als Werbung gilt „jede Äußerung bei der Ausübung eines Handels, Gewerbes, Handwerks oder freien Berufs mit dem Ziel, den Absatz von Waren oder die Erbringung von Dienstleistungen, einschließlich unbeweglicher Sachen, Rechte und Verpflichtungen, zu fördern.“1 Ihre Notwendigkeit erlangt Wirtschafts- oder auch Absatzwerbung unter den agonalen Bedingungen des kapitalistischen Wettbewerbs: Sie reagiert auf eine Unsicherheit des Absatzes, die aus einer Vielzahl konkurrierender Warenangebote und der Wahlfreiheit des Konsumenten hervorgeht. Damit entsteht Werbung aus einer genuin „rhetorischen Situation“2 die kommunikative Vermittlung erfordert. Zu den rhetorischen Zielsetzungen der Werbekonzeption, -Gestaltung und Präsentation zählt es, ein Werbemittel aus der Masse medialer Botschaften hervorzuheben und die Aufmerksamkeit des Konsumenten zu erregen (attentum parare), Interesse an Angebotsinformationen zu wecken (docilem parare) oder durch ein „positives Wahrnehmungsklima“3 Sympathien für eine Werbebotschaft zu gewinnen (captatio benevolentiae), um auf die selektive Wahrnehmung des Adressaten zu reagieren, die sich allein den stärksten, für ihn relevant und interessant erscheinenden Reizen und Informationen zuwenden.4 Konstitutives Ziel der Werbung ist jedoch ihr Persuasionsanliegen: Werbung soll eine Veränderung des Entscheidungs- und Kaufverhaltens oder eine län1

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Richtlinie 2006/114/EG des europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 über irreführende und vergleichende Werbung, Artikel 2a. „Wir leben [...] in einem pluralistischen sozialen Universum, was sofort problematisch wird, wenn die unterschiedliche Ansicht eines Sachverhaltes Konsequenzen für Leben und Handlungen der anderen hat, wenn also die pluralistische Unbestimmtheit sich zur Entscheidung darbietet oder zur Entscheidung drängt. In diesem Moment verwandelt sich die undifferenzierte Vielheit in eine rhetorische Situation, denn jetzt ist ein Verfahren notwendig, das die kontroversen Fragen im Austausch der Meinungen und Ausgleich der Interessen klärt, ohne diese Aufgabe an eine übergeordnete, von allen widerspruchslos akzeptierte Instanz delegieren zu können.“ (Ueding, Gert: Was ist Rhetorik? In: Soudry, Rouven (Hg.): Der Macht die Worte. Grasberg 2004, S. 23.) Vgl. Kroeber-Riel, Werner/Weinberg, Peter: Konsumentenverhalten. 8. Aufl., München 2003, S. 119. Vgl. ebd.: S. 61.

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gerfristig positive Einstellungsbildung beim Adressaten bewirken.5 Während es auf den „zurückgefallenen Nachkriegsmärkten“ zunächst entscheidend war, über die Existenz und Beschaffenheit eines Angebots zu informieren (docere),6 muss Werbung auf gesättigten Märkten mit einem Warenüberangebot und weitgehend befriedigten Konsumbedürfnissen vor allem affektische Mittel einsetzen (delectare, movere), um neue Kaufanreize zu schaffen und ihre Gegenstände im Wettstreit um Marktanteile zu behaupten.7 Dabei kann der Gebrauch persuasiver Mittel zwar unmittelbare Kaufimpulse auslösen, die tatsächliche Kaufhandlung jedoch nur vorbereiten: Sofern es sich nicht um Internetwerbung oder Teleshopping-Formate handelt, die eine sofortige Kaufhandlung ermöglichen, besteht eine zeitliche Distanz zwischen Kaufimpuls und Kaufgelegenheit. Werbung muss ihre Botschaften daher möglichst erinnerungswirksam vermitteln und langfristig im Bewusstsein des Konsumenten verankern, um in der Kaufgelegenheit wirksam zu werden und dauerhafte Einstellungsbildungen zu erzielen. Wie diese Wirkungsintentionen stehen auch die strategischen Mittel der Werbepraxis in enger Verwandtschaft zu Kategorien der klassischen Redekunst. Dieser grundlegende Zusammenhang, der weit über den Einsatz rhetorischer Stilmittel in Werbetexten hinausgeht, wird in der werbeschaffenden Praxis jedoch nur in Ausnahmefällen reflektiert.8 Dasselbe gilt für die anwendungsbezogenen Schriften der wirtschaftswissenschaftlichen Werbelehre, die in ihren Überlegungen zu Persuasionsstrategien der Werbeplanung, -Gestaltung und -Präsentation nur vereinzelt auf die Nähe zu rhetorischen Prinzipien verweisen.9 Dennoch erklären sich die Parallelen aus einer gemeinsamen em5

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„We believe that opinions differ from attitudes in two ways. First, opinions are cognitive judgements (like beliefs), whereas (as we have noted) attitudes have a strong affective component. [...] Second, attitudes are broader in scope than opinions. Attitudes are complex structures that are composed of diverse elements, whereas opinions are simpler and less differentiated entities.“ (Perloff, Richard M.: The Dynamics of Persuasion. Hillsdale, New Jersey 1993, S. 30.) Vgl. Kroeber-Riel, Werner/Esch, Franz-Rudolf: Strategie und Technik der Werbung. Verhaltenswissenschaftliche Ansätze. 6. Aufl., Stuttgart 2004, S. 73. Vgl. Schmidt, Siegfried J./Spieß, Brigitte (1996): Die Kommerzialisierung der Kommunikation. Fernsehwerbung und sozialer Wandel 1956–1989. Frankfurt a. M. 1996, S. 49 ff. Ein Verweis auf die enge Verwandtschaft von Redekunst und strategischer Werbeproduktion findet sich etwa bei Brandmeyer, der die Verständlichkeit der rhetorischen Produktionssystematik hervorhebt und ihren didaktischen Wert unterstreicht (vgl. Brandmeyer, Klaus: Unterwegs in Sachen Marke. Aufsätze & Vorträge zur Markenführung. Hamburg 1990). Eine solche Ausnahme stellen vor allem Schweiger und Schrattenecker dar, die Werbebotschaften mit Blick auf die aristotelische Wirkungstrias von ethos, pathos und logos in moralische Appelle, emotionale Appelle und rationale Argumentation unterscheiden. Die rhetorischen Kategorien werden jedoch weder exemplifiziert, noch als Analysekategorien oder Produktionssystematik hinzugezogen (vgl. Schweiger, Günter/Schrattenecker, Gertraut: Werbung. Eine Einführung. 6. Aufl., Stuttgart 2005, S. 226 ff.).

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pirischen Grundlage: Schließlich beruhen sowohl die Instrumente der Werbedidaktik, als auch die Verfahren der rhetorische Produktionslehre auf Erfahrungswissen um Wirkungszusammenhänge und Kommunikationserfolge – und damit auf vergleichbaren Beobachtungen, die bereits für Cicero die Basis jeder rhetorischen Theoriebildung darstellen: Wahrhaftig, das Wesen aller Regeln besteht nach meiner Erkenntnis nicht darin, daß die Redner dadurch, daß sie sie befolgten, den Ruhm der Beredsamkeit erlangten, sondern daß man das, was beredte Männer von sich aus taten, beobachtet und gesammelt hat – so ist nicht die 10 Beredsamkeit aus der Rhetorik, sondern die Rhetorik aus der Beredsamkeit geboren.

2. Forschungsstand Trotz der fehlenden Reflexion rhetorischen Wissens in Werbepraxis und Werbedidaktik finden sich zahlreiche Publikationen zum Stichwort „Rhetorik der Werbung“: Der Rhetorikbegriff hat im Kontext der sprachwissenschaftlichen Werbeforschung einen festen Platz. Jedoch wurde er unter den Vorzeichen linguistischer Studien, wie sie im Anschluss an Ruth Römers Untersuchung „Die Sprache der Anzeigenwerbung“11 erschienen, weitgehend auf die Arbeitsbereiche der elocutio und des verbalsprachlichen ornatus reduziert, indem rhetorische Stil- und Figurenlehre als Analysewerkzeug diente, während der Großteil des rhetorischen Instrumentariums für eine systematische Erfassung von Fertigungs- und Wirkungsstrukturen der Werbung nicht angewandt wurde. Weniger auf die sprachlichen Gestaltungsmerkmale einer (Werbe-)Botschaft als auf deren Argumentationsmuster und Appellwirkung sowie auf kontextuelle Variablen der Persuasionswirkung konzentrierte sich die Persuasionsund Werbeforschung um Hovland, die in den 40er- und 50er-Jahren am „Yale Communication Research Center“ betrieben wurde.12 Die Fragestellungen der Yale-Gruppe galten traditionellen rhetorischen Themenbereichen wie der Strukturierung persuasiver Inhalte, der Glaubwürdigkeitswirkung der Kommunikationsquelle oder der Prädisposition des Adressaten.13 Mit Kramer ist je10

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Cicero: De Oratore, I, 146. In: Cicero. Werke in drei Bänden. Bd. 2: Vom Redner. Der Staat. Gespräche in Tusculum (Buch I und II). Lateinisch/ Deutsch. Hg. v. Liselot Huchthausen. Berlin 1989, S. 43. Römer, Ruth: Die Sprache der Anzeigenwerbung. Düsseldorf 1968. Vgl. Hovland, Carl I./Janis, Irving L./Kelley, Harold H.: Communication and Persuasion. Psychological Studies of Opinion Change. Westport, Connecticut 1982 [erstmals: New Haven 1953]. „Viele der Probleme, die er [Hovland] untersuchte, waren so alt wie die Rhetorik des Aristoteles.“ Schramm, Wilbur: Kommunikationsforschung in den Vereinigten Staaten. In: Ders. (Hg.): Grundfragen der Kommunikationsforschung. München 1968, S. 13 [erstmals: The

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doch einzuschränken, dass unter dem Paradigma einer sozialwissenschaftlich orientierten „New Rhetoric“ „eine explizite Bezugnahme zur rhetorischen Tradition nicht statt[findet]. [...] Bezugspunkte für Hovland und seine Kollegen liegen fast ausschließlich in der psychologischen Forschungsgeschichte“.14 Eine bewusste Rückbindung zur rhetorischen Tradition unternehmen hingegen Beiträge der Semiotik, die verbale, visuelle und auditive Zeichenebenen einer Werbetextur als zusammenwirkende Strukturen erfassen, anstatt wie Römer von unabhängigen, in Wirkungskonkurrenz stehenden Systemen auszugehen.15 Vorschläge zur Analyse von Werbebildern und zum Verhältnis verbaler und visueller Werbe-„Register“ liefern vor allem Barthes’ vielzitierte „Rhétorique de l’image“16 (1964) und Ecos „Einführung in die Semiotik“17 (1968). Weitere Beiträge in semiotischer Tradition sind Bonsiepes „Visuell/verbale Rhetorik“18 (1966), Urbans Monographie „Kauf mich! Visuelle Rhetorik in der Werbung“19 (1995) und Doelkers Aufsatz zu „Figuren der visuellen Rhetorik in werblichen Gesamttexten“20 (2007). Die Begrenzung einer „Rhetorik der Werbung“ auf rhetorische Stilmittel wird mit der semiotischen Bildrhetorik jedoch nicht aufgehoben, sondern lediglich auf den außersprachlichen Werbeschmuck ausgeweitet. Die Forderung einer differenzierten, umfassenden rhetorischen Werbeforschung auf der Grundlage der partes artis wird schließlich in Fischers 1968 erschienenem Aufsatz „Alte und neue Rhetorik“21 laut, ebenso in Schlüters Kapitel „Die Werbung“ in „Grundkurs der Rhetorik“22 von 1974 und Spangs Monographie „Grundlagen der Literatur und Werberhetorik“23 aus dem Jahr

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Science of Human Communication. New York 1963]. Vgl. auch Wehner, Christa: Überzeugungsstrategien in der Werbung. Eine Längsschnittanalyse von Zeitschriften des 20. Jahrhunderts. Opladen 1996, S. 19. Kramer, Olaf: New Rhetoric. In: Ueding, Gert (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 6. Tübingen 2003, S. 281. Vgl. Römer (1968): S. 25. Barthes, Roland: Die Rhetorik des Bildes. In: Barthes, Roland: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III. Frankfurt a. M. 1990, S. 28–46 [erstmals: Rhétorique de l’image. In: Communications 4, 1964, S. 40–51]. Eco, Umberto: Einführung in die Semiotik. Autorisierte deutsche Ausgabe von Jürgen Trabant. 9. Aufl., München 2002 [erstmals: La struttura assente. Milano 1968]. Bonsiepe, Gui: Visuell/verbale Rhetorik. In: Ulm. Zeitschrift der Hochschule für Gestaltung 14/9, 1966, S. 23–40. Urban, Dieter: Kauf mich! Visuelle Rhetorik in der Werbung. Stuttgart 1995. Doelker, Christian: Figuren der visuellen Rhetorik in werblichen Gesamttexten. In: Knape, Joachim (Hg.): Bildrhetorik. Baden-Baden 2007, S. 71–112. Fischer, Ludwig: Alte und neue Rhetorik. In: Format. Zeitschrift für verbale und visuelle Kommunikation. 4. Jg., Ausg. 17. Stuttgart 1968. Schlüter, Hermann: Das Handbuch der Rhetorik. Geschichte, Technik und Praxis der Redekunst. Köln 2006. Das „Handbuch der Rhetorik“ ist eine Neuauflage des „Grundkurs der Rhetorik“ aus dem Jahr 1974, die keinerlei Ergänzungen oder Aktualisierungen aufweist. Spang, Kurt: Grundlagen der Literatur- und Werberhetorik. Kassel 1987.

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1987. Das Anliegen einer historisch begründeten, systemgebundenen rhetorischen Werbetheorie teilt auch im Jahr 2011 erschienene Dissertation „Rhetorik der Werbung“24, auf deren Ergebnisse sich der vorliegende Beitrag bezieht, um anhand einiger Beispiele aus der Werbepraxis einen Überblick zu den Mechanismen rhetorischer Werbewirkung zu liefern.

3. Herausforderungen rhetorischer Werbeforschung Als medial vermitteltes, mehrfach kodiertes Zeichensystem beruht Wirtschaftswerbung nicht auf Oralität oder rein verbalsprachlichem Ausdruck. Zum Zweck einer überlegenen Reichweite wird sie mit Hilfe massenmedialer Verbreitungsmittel „indirekt und wesentlich einseitig einem prinzipiell selbstselektiven Publikum angeboten“.25 Dieses Publikum ist weder präsent noch kohärent und nur mit „Kontaktwahrscheinlichkeiten“ zu erreichen. Unter diesen Bedingungen stellt sich die Frage nach der Reichweite von rhetorica utens und rhetorica docens in Bezug auf eine mediale Gattung wie die moderne Wirtschaftswerbung. Der „Sprung von der originär mündlichen Rhetorik zu einer Rhetorik der Aufzeichnung“26 muss einen Bedeutungswandel zentraler rhetorischer Kategorien nach sich ziehen. Inwiefern lassen sich traditionelle Konzepte wie memoria und actio, kairos und aptum auf eine Werbekommunikation der anonym-distanzierten, massenmedialen Darbietung übertragen, die nicht länger von einer oralen Kultur der räumlich und zeitlich fixierten, unmittelbaren Einflussnahme gegenüber einem klar umrissenen Publikum ausgeht? Verliert rhetorisches Wissen um Mnemotechniken und körperliche Ausdruckswirkung unter den medialen Bedingungen der Werbekommunikation seine Bedeutung? Inwiefern folgt die mediale Präsentation von Werbemitteln der rhetorischen Angemessenheitslehre (aptum) oder der zeitbezogenen Kategorie des kairos? Welche Rolle spielen das ethos des Redners und die Konnotation des Trägermediums, wenn sich die Charakterdarstellung im medialen Kontext der Werbung nur mittelbar vollziehen kann? Und nicht zuletzt: Welches Wissen stellt die klassische Rhetorik zur Analyse und Gestaltung nonverbaler Zeichen und einer persuasiven Zeicheninteraktion in Werbemitteln bereit?

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Lehn, Isabelle: Rhetorik der Werbung. Grundzüge einer rhetorischen Werbetheorie. Konstanz 2011. Vgl. Todorow, Almut/Kahre, Mirko-A./Reck, Carmen: Massenkommunikation. In: Ueding, Gert (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 5. Tübingen 2001, S. 962. Vgl. Doelker (2007): S. 71.

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4. Rhetorik des Werbebildes und der Text-Bild-Interaktion Angesichts der schwindenden Aufmerksamkeit des Konsumenten und einer zunehmenden Informationsüberlastung gewinnen Werbebilder kontinuierlich an Bedeutung: Bereits 1996 machten Bilder in der Zeitschriftenwerbung eine Fläche von 60 bis 80 % aus, wobei Größe und Farbigkeit der Bilder seither tendenziell zunahmen und die Bedeutung von Fließtexten immer geringer wurde.27 Mit ihrer unmittelbaren Reizwirkung erfüllen Bilder wesentliche Exordialfunktionen der Anzeigentextur: Sie erregen Aufmerksamkeit, wecken Interesse und begünstigen die Beurteilung der Werbebotschaft.28 Zudem übernehmen sie wesentliche narrative Funktionen, indem sie Informationen schnell, einfach zugänglich und leicht verständlich darbieten.29 Neben Aktivierungs- und Orientierungsfunktionen verfolgt der Einsatz von Anzeigenbildern zentrale persuasive Werbeziele. Mit der „Veranschaulichung von Begründungszusammenhängen“30 dient der Bildeinsatz argumentativen Zwecken: Werbebilder vermitteln Ideen, stellen Behauptungen auf, enthalten Beurteilungen und Aufforderungen,31 visualisieren den Nutzen eines Angebotes oder setzen die im Text versprochene Wirkung in Szene, etwa am Beispiel zufriedener Verbraucher oder durch Vorher/Nachher bzw. Mit/Ohne-Demonstratio-

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Vgl. Kroeber-Riel/Esch (2004): S. 18 ff. Der Betrachter nimmt Bilder als erstes Anzeigenelement und mit größerer Aufmerksamkeit als Werbetexte wahr, schenkt ihnen selbst beim flüchtigen Querlesen größeres Interesse und kann durch ihre unmittelbare Reizwirkung zum genaueren Betrachten einer Anzeige angeregt werden. (vgl. Scheier/Egner/Netz 2005: S. 120). Zur Aufmerksamkeitserregung dienen vor allem visuelle Schlüsselreize wie Kindchenschemata, erotische Darstellungen und Abbildungen von Augen oder Mimik, die emotionale Reize aus der Umwelt des Rezipienten simulieren und in der Wirklichkeitsillusion von Werbefotografien universale emotionale Reaktionen auslösen (vgl. Mayer, Horst O.: Einführung in die Wahrnehmungs-, Lern- und Werbepsychologie. 2. Aufl., München 2005, S. 187; Kroeber-Riehl/Esch 2004: S. 147). Die durchschnittliche Betrachtungszeit von Anzeigen in Publikumszeitschriften beläuft sich auf rund zwei Sekunden. In dieser Zeitspanne kann ein Leser „ein Bild mittlerer Komplexität“ oder etwa zehn Wörter wahrnehmen (vgl. Kroeber-Riehl/Esch 2004: S. 19). Zudem erfasst der Rezipient mehrere Elemente des Bildinhalts simultan, während er zum Verständnis von Texten auf die sukzessive Abfolge der Inhalte angewiesen ist (vgl. Felser, Georg: Werbe- und Konsumentenpsychologie. 3. Aufl., Berlin 2007, S. 394). Der Bildteil erlaubt damit eine besonders schnelle Orientierung, zum Beispiel durch die Veranschaulichung von Beschaffenheit und Funktionsweise eines Angebots in der Darstellung einer typischen Verwendungssituation (vgl. Kroeber-Riel/Esch 2004: S. 208). Vgl. Sachs-Hombach, Klaus/Masuch, Maic: Können Bilder überzeugen? In: Knape, Joachim (Hg.): Bildrhetorik. Baden-Baden 2007, S. 67. Vgl. Andrén, Gunnar/Ericsson, Lars O./Ohlsson, Ragnar/Tännsjö, Torbjörn: Rhetoric and Ideology in Advertising. A content analytical study of American advertising. Stockholm 1978, S. 20 ff.

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nen.32 Dabei überzeugen Werbebilder durch evidentia, die „unmittelbare Gewissheit des anschaulich Eingesehenen“33, deren Persuasionskraft weitgehend im Verborgenen wirkt: Rezipienten nehmen Werbebilder anders als Texte weniger als überhöhte Wirklichkeitssimulationen wahr, denn als wahrheitsgetreues Abbild der Realität, was ihnen die Überzeugungskraft quasi natürlicher, inartifizieller Beweise (pisteis atechnoi) verleiht.34 Darüber hinaus beeinflussen Bilder durch emotionale Persuasionskraft. Sie sind attraktiv, können unterhalten und entspannen, durch ästhetische oder humorvolle Reize Skepsis zerstreuen und zur stilistischen Identifikation einladen, um positive Einstellungen gegenüber einem Werbegegenstand zu erwirken: „As for the relation between ,identification‘ and ,persuasion‘: we might well keep in mind that a speaker persuades an audience by the use of stylistic identifications“.35 Die Visualisierung stärkerer emotionaler Appelle bewirkt demgegenüber eine symbolische Identifikation mit Werbebotschaften: „[...] we could sum up by the proposition that, in all such partly verbal, partly nonverbal kinds of rhetorical devices, the nonverbal element also persuades by reason of its symbolic character.“36 Werbebilder visualisieren „innere Bilder“, sie gebrauchen Vorwissen, Interessen und Wünsche des Publikums als topoi der Inszenierung, um positiv besetzte Assoziationen und Vorstellungen anzuregen und diese nachhaltig mit dem beworbenen Produkt zu verknüpfen. Die gegenüber Texten überlegene Affektwirkung führt Sowinski dabei auf die semantische „Offenheit jedes Bildes für Sinnassoziationen“ zurück, „die der Betrachter aufgrund seiner Erfahrungen und Wunschvorstellungen, allgemein: seiner ,Ideologie‘, mit dem Bild verknüpft.“37 Dass Werbebilder stets über eine narrative Abbildungsfunktion hinauszielen, um neben sinnlich wahrnehmbaren Informationen auch topische Bedeutungsmuster zu vermitteln, hat erstmals Barthes’ „rhétorique de l’image“ dargestellt.38 Als persuasive Ausdrucksformen im Werbebild betrachtet Barthes 32

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Vgl. Huth, Rupert/Pflaum, Dieter: Einführung in die Werbelehre. 7. Aufl., Stuttgart 2005, S. 286. Vgl. Kemmann, Ansgar: Evidentia, Evidenz. In: Ueding, Gert (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 3. Tübingen 1996, S. 33. „Die Anschaulichkeit des Gezeigten ersetzt eine verbal explizierte Argumentation und entzieht auf diese Weise dem Zuschauer die Möglichkeit einer rationalen Gegenargumentation. Der Grund dafür ist, dass visuell gestützte Argumentationen keinen diskursiven Charakter haben. Die durch die Evidenz des Gezeigten scheinbar bewiesene Konsequenz einer Handlung ist ein starker Überzeugungsgrund, der sich durch eine verbale Gegenargumentation nur schwer revidieren lässt.“ (Joost, Gesche: Bild-Sprache. Die audio-visuelle Rhetorik des Films. Bielefeld 2008, S. 107). Burke, Kenneth: A Rhetoric of Motives. Berkeley 1969, S. 46. Ebd.: S. 172. Vgl. Sowinski, Bernhard: Werbeanzeigen und Werbesendungen. München 1979, S. 132. Barthes geht von einer visualisierten „Ideologie“ als Essenz der Bildkommunikation aus. In seiner strukturalen Bildanalyse einer Werbeanzeige für Panzani-Spaghetti unterscheidet er drei

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visuelle tropen in Äquivalenz zum verbalen ornatus, die er als die „Signifikanten“ oder „Konnotatoren“ einer symbolischen Substanz begreift und in ihrer Summe als „rhétorique de l’image“ versteht: „Die Rhetorik erscheint somit als die signifikante Seite der Ideologie.“39 Ein Beispiel für eine visuelle metapher als Signifikant einer symbolischen Werbebotschaft liefert eine Werbeanzeige des Elektronikherstellers „Samsung“, die zwei Mobiltelefone in einem Futteral abbildet, was diese wie Schmuckstücke erscheinen lässt. Diese Botschaft wird durch eine Schlagzeile mit der Technik des schmückenden Beiworts (epitheton ornans) unterstützt, indem die Mobiltelefone als „edel moderner Slider“ und „zeitlos brillanter Klassiker“ vorgestellt werden. Im Fließtext werden der implizite Vergleich der Bildmetapher und die aufwertende Botschaft der Schlagzeile schließlich explizit, wenn die Telefone als „so edel wie Schmuckstücke“ bezeichnet werden. Eine persuasive Interaktion von Bild- und Textelementen geht auch aus einer Werbeanzeige für „Coca Cola“ hervor, deren Zeichenebenen in einem metonymischen Verhältnis stehen: Während der Werbetext sich auf die Eigenschaften des Getränks bezieht – „Ohne zugesetzte Konservierungsstoffe. Ohne künstliche Aromen. Seit 1886.“ – zeigt das Bild das Behältnis: Eine leere Glasflasche in der klassischen Markenform, welche die Textaussage des puren und unverfälschten Traditionsproduktes wirkungsvoller verbildlicht, als dies durch die Abbildung des künstlich erscheinenden Getränks gelungen wäre. Als signifikante „Rhetorik der Werbung“ sind jedoch nicht allein die Elemente des ornatus von Interesse, sondern sämtliche Merkmale der Gestaltung, die auf rhetorische Wirkungsintentionen verweisen. Dazu zählen in Hinblick auf Werbebilder neben der Auswahl und Anordnung von Denotaten auch Produktionsentscheidungen zur Farbgebung, Perspektivierung, Beleuchtung und digitalen Bearbeitung sowie Mittel der szenischen Bildgestaltung – etwa die (Körper-) Inszenierung von Testimonialen, die das buchstäbliche Denotat auslegt und die Wirkung der vermittelten Botschaft verstärkt.

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sich überlagernde Bildebenen: Erstens die linguistische Botschaft, bezogen auf alle geschriebenen Wörter im Bild. Zweitens die buchstäbliche, nicht kodierte ikonische Botschaft von denotativem Charakter: Im Bild zu sehen sind „Teigwarenpakete, eine Dose, ein Beutel, Tomaten, Zwiebel, Paprikaschoten, ein Pilz, all das quillt in gelben und grünen Farbtönen auf rotem Hintergrund aus einem halbgeöffneten Einkaufsnetz“ (vgl. Barthes 1990: S. 29). Und drittens die kodierte ikonische, symbolische Nachricht der Bildzeichen – die Konnotation des „Italienischen“, die u. a. aus der Farbgebung erwächst, sowie die Implikation der „Frische der Produkte“ und „häuslichen Zubereitung“, die mit der Anordnung der Bildzeichen als „Ausbeute eines Markteinkaufs“ suggeriert wird (vgl. ebd.: S. 30). Diese dritte Ebene kennzeichnet Barthes als die „kulturelle Nachricht“ des Bildes (vgl. ebd.: S. 32), eine Konnotation, die im Beispiel der Panzani-Anzeige auf touristischen Klischeevorstellungen basiert. Vgl. Barthes (1990): S. 44.

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5. Actio der Testimonialinszenierung Mit den Möglichkeiten der visuellen und akustischen Gestaltung werden auch im medialen Werbekontext – insbesondere in Werbefilmen – die Prinzipien der Stimmführung (pronuntiatio) und des überzeugenden Körperausdrucks (actio) wirksam.40 Zum Einsatz kommen sie bei der Inszenierung von Werbemodellen, um Werbeaussagen durch die Glaubwürdigkeit und Affektkraft der physisch wahrnehmbaren Person zu unterstützen. So treten Testimoniale beispielsweise als „typische Verbraucher“ in Erscheinung, um die versprochene sensorische oder emotionale Produktwirkung durch einen Gefühlsausdruck zu belegen. Erscheint dieser Ausdruck als spontane Reaktion, kann das Werbebild als vermeintliche Momentaufnahme aus der Konsumrealität eine annähernd „natürliche“ Beweiskraft entwickeln, die durch Augenschein (evidentia) überzeugt und durch die dargebotenen Affekte zur Nachahmung auffordert. Nachdem auch Körperzeichen „Auskunft über das Individuum“41 zu geben scheinen, erfolgt bereits die Auswahl der Modelle nach strategischen Gesichtspunkten, um ihre Glaubwürdigkeit in den Rollen des typischen Verbrauchers, des kompetenten Experten oder des vertrauenswürdigen Unternehmensvertreters zu erhöhen.42 Zudem betonen Werbestrategen physiognomische Merkmale und setzen körperkulturelle Zeichen wie Frisur, Kleidung und Schmuck ein, um persönliche Eigenschaften wie Gewissenhaftigkeit und Intelligenz, Erfahrung und Seriosität oder Jugend und Attraktivität zu suggerieren, soziokulturelle Zugehörigkeit und gesellschaftlichen Status zu vermitteln und Ähnlichkeit oder Differenz zur Zielgruppe auszudrücken.43 Ein Beispiel für die Werbewirkung der körpersprachlichen Inszenierung liefert eine Werbeanzeige des Deutschen Anwaltvereins (Abbildung 1), in der „ein persönliches Gespräch in der Kanzlei“ anhand von neun szenischen Bildern analog zum Redeprozess nachgestellt wird: In der Rolle des Anwalts sitzt ein Mann mittleren Alters in Anzug und Krawatte an einem Tisch – vermeintlich an seinem Arbeitsplatz in der Kanzlei, während sich der Betrachter durch eine frontale Perspektive in die Rolle des Klienten hineinversetzt fühlt. Auf 40

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In ihrem Bedeutungsanteil als strategische Gestaltung der Vortragsumgebung ist die Kategorie der rhetorischen actio mit der „Media-Strategie“ der Werbung verwandt. Unter diesem Begriff werden Überlegungen zur Auswahl von Werbemitteln und Werbeträgern sowie zur seriellen Platzierung und Schaltungsfrequenz zusammengefasst, mit denen Einfluss auf Raum und Zeit der Publikumsansprache genommen wird. Schließlich gilt es, in einem heterogenen Massenpublikum die definierte Zielgruppe möglichst treffsicher und nachhaltig zu erreichen, weshalb kairos und aptum der medialen Präsentation eine besondere Bedeutung erhalten (vgl. Lehn 2011: S. 280 ff.). Vgl. Steinbrink, Bernd: Actio. In: Ueding, Gert (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 1. Tübingen 1992, S. 73. Vgl. Lehn (2011): S. 270 ff. Vgl. ebd.

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sieben von neun Bildern blickt das Modell direkt in die Kamera, womit der Appell des tua res agitur, der aus der Schlagzeile hervorgeht, körpersprachlich umgesetzt wird: „Ein echter Anwalt kennt nicht nur Ihren Fall. Er kennt auch Sie.“ Die Bilder 1 bis 3 wirken als exordium des Gesprächs: Der Anwalt erfasst den Fall als aufmerksamer Zuhörer mit fixierter, ruhiger Gestik und offenem Blick (1), er kümmert sich um das leibliche Wohl des Klienten und schenkt diesem Kaffee ein (2), oder er lacht und scheint den Schilderungen des Klienten mit Anteilnahme zu begegnen (3). Auf diese sympathisch-zugewandten Ausdrucksformen folgt die argumentatio der angebotenen Dienstleistung, die im Fließtext verspricht, „kompetent“ und „unabhängig“ zu beraten: Dazu bedient sich das Testimonial einer aktiven Gestik (mit geöffneten Händen sowie einer Brille als Zeigehilfe, Bild 4), die als Unterstreichung fachmännischer Ausführungen erscheint, bevor das Modell in den Akten blättert (5) und sich mit fragendem Blick an sein Gegenüber wendet (6). Bild 7 zeigt ihn noch einmal als Zuhörer, dessen Gesichtsausdruck vermittelt, er habe soeben eine interessante Information erhalten. Auf Bild 8 wirft er einen letzten Blick in ein womöglich entscheidendes Dokument, während Bild 9 als peroratio des Gesprächs inszeniert ist: Mit geöffneten Händen und ebenso offenem Lächeln scheint der Anwalt seinem Klienten das Ergebnis der Beratung, die Lösung des Problems, zu präsentieren.

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Abbildung 1: Werbeanzeige Deutscher Anwaltsverein

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6. memoria-Wirkung von Werbebotschaften Auch die klassische memoria als derjenige Aufgabenbereich der Rhetorik, der die Einprägung der Rede ins Gedächtnis betrifft und dem Zweck eines freien Vortrags dient, wird mit der medialen Präsentation von Werbemitteln nicht bedeutungslos. Vielmehr erfährt die Kategorie einen Bedeutungswandel von der gesonderten Aufgabe des Redners zum wesentlichen Kommunikationsziel, mit dem es gilt, Werbebotschaften im Gedächtnis der Rezipienten zu verankern und ein Markenimage trotz konkurrierender medialer Reize nachhaltig einzuprägen. Dazu werden mit der Merkwirkung von Ordnungsmustern und Vorstellungsbildern zwei grundlegende Prinzipien der rhetorischen Mnemotechnik in Werbemitteln wirksam: Gegenüber der Rede kann sich etwa die Anzeigenwerbung die visuelle Ordnung von Informationen zunutze machen und die Verarbeitung sowie den Abruf von Botschaften durch ein klar strukturiertes Layout erleichtern.44 Vergleichbar empfiehlt bereits Quintilian dem Redner, das optische Gedächtnis anzuregen und sich strukturelle Merkzeichen des Manuskriptes einzuprägen, „die wir im Auge behalten können“.45 Auch andere Gestaltungsprinzipien der Werbung, wie die Etablierung wiedererkennbarer Schrifttypen oder der Einsatz von Markenfarben, zielen auf die Erinnerungswirkung optischer Reize. Dasselbe gilt für eine bildhaft-anschauliche Wortwahl und die Verknüpfung sprachlicher Botschaften mit bewegenden Bildern (imagines agentes), „die durch ihre Eindruckskraft unvergesslich sind und deshalb als Gedächtnisstützen für blassere Begriffe verwendet werden können.“46 Einen besonders lebendigen Eindruck mit überlegener memoriaWirkung entwickeln originelle, eigenständige Werbebilder, die sich von konkurrierenden Werbemotiven deutlich abheben.47 Eine ähnliche Überlegung findet sich bereits beim Auctor ad Herennium: Wenn wir „unbedeutende, gewöhnliche alltägliche Dinge sehen, prägen wir uns diese gewöhnlich nicht ein, deswegen weil unser Sinn durch keine neuartige oder bewundernswerte Sache beeindruckt wird; aber sehen wir etwas ausnehmend Schändliches, Unehrenhaftes, Ungewöhnliches, Bedeutendes, Unglaubliches, Lächerliches, so prägen wir uns dies gewöhnlich für lange ein.48 44 45

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Vgl. Mayer (2005): S. 164 f. Vgl. Quintilianus: Institutionis Oratoriae, XI, 2, 32. In: Quintilianus, Marcus Fabius: Institutionis oratoriae. Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher. Lateinisch/Deutsch. Übers. u. Hg. v. Helmut Rahn. 3. Aufl., Darmstadt 1995, S. 599. Auch Cicero verweist darauf, „daß wir uns ein geistiges Bild am leichtesten von dem machen, was von den Sinnen übermittelt und eingeprägt wurde.“ (Cicero, De Oratore, II, 357. In: Huchthausen 1989: S. 179.) Vgl. Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. 3. Aufl., München 2006, S. 222. Vgl. Kroeber-Riel/Weinberg (2003): S. 352. Rhetorica ad Herennium, III, 35. Lateinisch/Deutsch. Hrsg. u. Übers. v. Theodor Nüßlein. Zürich 1994, S. 177.

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Dass von Bildern mit abstoßenden affektischen Motiven, die gegen Erwartungen und Konventionen verstoßen, eine besondere Merkwirkung ausgeht, machten sich auch Toscanis kontroverse Werbebilder im Rahmen der berühmtberüchtigten Benetton-Kampagne zunutze, die in den 90er Jahren nicht nur große Aufmerksamkeit erzielte, sondern bis heute einen hohen Wiedererkennungswert aufweist. Dabei erscheinen die Motive einer blutbefleckten Soldatenuniform und eines ölverschmutzten Wasservogels, als hätte Toscani sie geradewegs nach den Anweisungen der Rhetorica ad Herennium inszeniert: Bilder müssen wir also in der Art festlegen, die man am längsten in der Erinnerung behalten kann. Das wird der Fall sein, [...] wenn wir nicht stumme und unbestimmte Bilder, sondern solche, die etwas in Bewegung bringen, hinstellen; wenn wir ihnen herausragende Schönheit oder einzigartige Schändlichkeit zuweisen; wenn wir irgendwelche Bilder ausschmücken wie mit Kränzen oder einem Purpurkleid, [...] oder wenn wir sie durch etwas entstellen, z.B. eine blutige oder mit Schmutz beschmierte oder mit roter Farbe bestrichene Gestalt einführen, damit diese um so hervorstechender sei, oder auch irgendwelche lächerlichen Züge den Bildern ver49 leihen; denn auch dies wird bewirken, daß wir sie uns leichter einprägen können.

7. Aptum der Werbewirkung Dass erfolgreiche Werbewirkung auf dem angemessenen Einsatz ihrer Mittel beruht, verdeutlicht der ökonomische Misserfolg der als „Schockwerbung“ bekannt gewordenen Benetton-Bilder. Die Kampagne erlangte durch öffentliche Diskussionen zwar eine große Aufmerksamkeit, konnte jedoch ihr ausdrücklich formuliertes Anliegen der „Sozialkritik“ nicht glaubwürdig vermitteln. Stattdessen lösten die unangenehmen Werbebilder von Krieg, Katastrophen und Tod beim Publikum ablehnende Reaktionen aus, die in Boykottaufrufen gegen das Unternehmen und schließlich im Umsatzrückgang resultierten.50 Die Ursachen liegen in zahlreichen aptums-Verstößen der Kampagne begründet. Zunächst bestand eine Unangemessenheit des kritischen Anspruchs zur ökonomisch motivierten und grundsätzlich affirmativen Werbegattung, die den Einsatz von Furchtappellen51 nur im deliberativen Kontext und in Verbin49 50

51

Rhetorica ad Herennium, III, 37. In: Nüßlein (1994): S. 177. Allein in Deutschland mussten im Zuge der umstrittenen Werbemittel 230 Filialen geschlossen werden, nachdem es zu teilweise gewalttätigen Aktionen gegen Benetton-Läden und zu Boykottaufrufen gegen Benetton-Produkte gekommen war. Zudem musste sich der Mutterkonzern vor Gericht mit Klagen mehrerer Händler auseinandersetzen, die behauptet hatten, die „Schockwerbung“ habe zu Umsatzrückgängen mit Schäden in Millionenhöhe geführt (vgl. Pressemitteilung des Bundesgerichtshofs, Nr. 54/1997 vom 23. Juli 1997 zum Urteil VIII ZR 130/96, VIII ZR 134/96). Der Einsatz negativer Appelle hat in der Werbung durchaus Tradition: Bereits Hovland und Kollegen setzten sich mit der Werbewirkung von Furchtappellen auseinander, deren Einsatz sie als riskant beurteilten: „Even when manipulative intent is not attributed to the communicator,

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dung mit produktbezogenen Lösungsvorschlägen erlaubt: Hätte ein Anbieter für Solartechnik mit dem Bild eines ölverschmutzten Wasservogels geworben – das Mittel wäre zwar als drastisch empfunden worden, ein vergleichbarer Streit wäre jedoch ausgeblieben. Ohne inhaltliche Motivation erschien der Bildeinsatz jedoch als unangemessene Instrumentalisierung. Unterstützt wurde dieser Eindruck durch ein Missverhältnis von Stilebene und Werbegegenstand, dessen Gewicht gegenüber dem pathos der Bilder als zu gering erschien, weshalb das Magazin der „Süddeutschen Zeitung“ am 9. Oktober 1992 mit der folgenden interrogatio titelte: „Darf man mit Aidsopfern für Pullover werben?“ Den Anspruch demonstrativer Sozialkritik, der einer moralischen auctoritas womöglich widerspruchsloser zugestanden worden wäre, konnte schließlich auch der öffentlich wahrgenommene Charakter des Werbesenders nicht rechtfertigen: Benettons sozialverantwortliches Image ging überwiegend aus Toscanis Kampagnen hervor, während das gemeinnützige Engagement der Firma traditionell der Sportförderung verbunden war: Der Konzern unterhielt seit 1986 medienwirksam einen Formel 1-Rennstall. Die Aufmerksamkeitswirkung (attentum parare) und Einprägsamkeit (memoria) einer Kampagne sind somit zwar notwendige, aber nicht in jedem Fall hinreichende Bedingungen für ökonomischen Werbeerfolg – insbesondere dann nicht, wenn eine Kampagne diese Effekte auf Kosten anderer Kommunikationsziele wie etwa der Glaubwürdigkeitswirkung erreicht. Erst aus der situativen Angemessenheit (aptum) der strategischen Mittel zu Werbegegenstand, Werbesender und Zielgruppe – analog zu den rhetorischen Kommunikationsbedingungen von Redner, Redegegenstand und Publikum – kann sich erfolgreiche Werbewirkung entwickeln.52

52

he may nevertheless be regarded as a frustrator, i.e. as the cause of distressing, painful feelings. This, too, could arouse aggression in the recipients and incline them to reject the communicator’s conclusions.“ (Hovland/Janis/Kelley 1982: S. 86). Von diesem Gebot der Angemessenheit geht auch die empirische Werbewirkungsforschung aus: „Rather, it depends on the advertising situation: the type of product, the nature of the target audience, and the purchase motivation for buying the brand are some of the major factors that determine what type of ad will work best.“ (Rossiter, John R./Percy, Larry/Donovan, Robert J.: A Better Advertising Planning Grid. In: Journal of Advertising Research, 31/5, 1991, S. 11.)

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Kommunikator/ Unternehmen

aptum Redegegenstand/ Werbeobjekt

Publikum/ Werbezielgruppe

8. Strategische Werbeplanung: Inventio der Werbung Um das Prinzip der situativen Angemessenheit in der inhaltlichen Konzeption, der Gestaltung und der medialen Präsentation von Werbemitteln gewährleisten zu können, basiert die Werbeplanung auf einer detaillierten „Werbeanalyse“ von Werbeobjekt, Zielgruppe sowie Unternehmens- und Marktsituation, die der Arbeitsphase der rhetorischen intellectio vergleichbar ist.53 Auf dieser Datenbasis entwickelt die Werbeplanung eine inhaltliche Grundstrategie („Copy-Strategie“), indem sie den zentralen Wirkungsschwerpunkt eines Werbemittels festlegt, ein möglichst einzigartiges Verkaufsversprechen herausarbeitet und die Argumente einer „unterstützenden Beweisführung“ entwickelt.54 Dabei können Werbebotschaften mit rationalem Wirkungsschwerpunkt (logos/docere) vom Werbegegenstand und dessen Sacheigenschaften ausgehen und Angebotsmerkmale herausstellen, „die Konkurrenzprodukte entweder nicht aufweisen oder die von den Mitbewerbern nicht genannt werden.“55 Andere Strategien gehen von der Zielgruppe aus, indem sie emotionale Bedürfnisbefriedigung versprechen und eine Gefühlswirkung des Angebots nach den Sehnsüchten und Idealen der Adressaten inszenieren (pathos/ movere). Mit einem dritten Schwerpunkt nutzen Werbestrategen die Überzeugungswirkung des Charakters (ethos/delectare), wenn sie Personifizierungsstrategien anwenden, um im medial-anonymen Kontext eine Senderinstanz zu etablieren, die das Vertrauen der Konsumenten gewinnt und Sympathie für eine Botschaft 53 54

55

Vgl. Lehn (2011): S. 111 ff. Vgl. Steffenhagen, Hartwig: Copy-Strategy. In: Diller, Hermann (Hg.): Vahlens großes Marketing-Lexikon, 2. Aufl., München 2001, S. 238 f. Schweiger/Schrattenecker (2005): S. 164.

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erzielt. Damit sind die situativen Maßstäbe aller strategischen Überlegungen – die Beschaffenheit des Werbeobjekts, der Charakter des Werbesenders und die Bedürfnislage der Zielgruppe – zugleich die Fundorte der werbewirksamen Überzeugungsmittel. ethos Kommunikator/ Unternehmen

aptum Redegegenstand/ Werbeobjekt logos

Publikum/ Werbezielgruppe pathos

8.1. Logos-Strategien Die klassische Produktwerbung, die sich auf „sachliche und funktionale Eigenschaften des Produktes“ bezieht und „mehr oder weniger informativ angelegt“ ist,56 lobt einen besonderen Angebotsnutzen für den Konsumenten aus, der bestenfalls ein einzigartiges Verkaufsversprechen in Abgrenzung zu Konkurrenzangeboten ermöglicht („unique selling proposition“, „USP“57). Um dieses Produktversprechen zu beglaubigen, beinhalten Werbemittel mit logosSchwerpunkt in der Regel eine argumentatio, die auch als „Reason Why“ oder als „Supporting Evidence“ bezeichnet wird.58 Als Quelle sachbezogener Argumente dient dabei die Werbeobjekt- und Konkurrenzanalyse: ganz nach der aristotelischen Rhetorikdefinition, an jedem Gegenstand das möglicherweise Überzeugende zu finden. „Beste Pflege für Ihre zweite Haut“ lautet beispielsweise das Produktversprechen, das die Schlagzeile in einer Werbeanzeige für 56 57

58

Kroeber-Riel/Esch (2004): S. 53. Nach Reeves, Rosser: Werbung ohne Mythos. München 1965 [erstmals: Reality in Advertising. New York 1961]. Vgl. Zuberbier, Ingo: Die Werbeagentur – Funktionen und Arbeitsweise. In: Tietz, Bruno (Hg.): Die Werbung: Handbuch der Kommunikations- und Werbewirtschaft. Bd. 3: Die Werbe- und Kommunikationspolitik. Landsberg a. L. 1982, S. 2390; Huth/Pflaum (2005): S. 277.

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Abbildung 2: Werbeanzeige Bosch

eine Waschmaschine der Marke „Bosch“ abgibt. Im Fließtext wird die Behauptung durch Produktinformationen argumentativ begründet („extragroße 6kg-Trommel“, „Bügelleicht-Programm“, „weniger Knitterfalten“), bevor der Slogan sie in eine abschließende, erinnerungswirksame Sentenz fasst („Bosch. Wir bauen Lebensqualität“). Unterstützt wird die Wirkung der Textelemente, deren Gliederung Parallelen zum funktionalen Aufbau der partes orationis aufweist, durch die visuelle Gestaltung der Anzeige: Das größere Bild erfüllt mit einer Personenabbildung und gemäßigten erotischen Reizen zunächst exordiale Funktionen – es zeigt eine Frau im Halbprofil, deren nackte Schulterpartie zu sehen ist, während sie sich eine frisch gewaschene, weiße Bluse anzieht. Im Zentrum des Bildaufbaus steht die Darstellung des gepflegten Gewebes, das vermeintlich angenehm direkt auf der Haut zu tragen ist und somit als evidentia der versprochenen Produktwirkung fungiert. Die kleinere Produktabbildung im unteren Teil des Layouts übernimmt narrative und argumentative Funktionen, indem die Darstellungsperspektive die Waschtrommel besonders groß erscheinen lässt und den Blick auf die Quantität der verfügbaren Waschprogramme lenkt.

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Um eine sachbezogene Überzeugungswirkung entfalten zu können, müssen logos-Strategien mit hohen Textanteilen jedoch auf ein Informationsbedürfnis im Publikum treffen. Dies ist der Fall, wenn in der Zielgruppe Zweifel gegenüber der Funktion und dem Nutzen eines Angebotes bestehen (genus dubium), weil ein Produkt noch nicht hinlänglich bekannt ist, in seiner technischen Funktionsweise besonders komplex erscheint oder durch seinen hohen Preis ein Anschaffungsrisiko birgt: Je größer das wahrgenommene Kaufrisiko und damit die „Ich-Beteiligung“ der Zielpersonen ist, „umso stärker der Antrieb, zusätzliche Informationen zu suchen.“59 Erfolgversprechend sind informative Anteile daher besonders in der Einführungswerbung, bei technischen Gütern und bei Investitionsgütern, weshalb sie häufig in der Automobilwerbung eingesetzt werden – sofern nicht die Statuswirkung der Marke als deren zentrale Eigenschaft gilt. „Von 7 auf 2 Sitze im Handumdrehen“ verspricht etwa die Schlagzeile einer Werbeanzeige für den „Toyota Corolla Verso“, deren zentrales Argument in der flexiblen Raumnutzung des Minivans besteht. Als Verkaufsversprechen mag diese zentrale funktionale Eigenschaft zwar auf Bedürfnisse im Kundenkreis reagieren – im Umfeld konkurrierender Angebote wird es jedoch verwechselbar und verliert damit an Argumentkraft: „Sehr leicht herausnehmbare Rücksitze“ verspricht auch eine Anzeige für den „VW-Touran“, während der „Fiat Idea“ es auf „32 verschiedene Sitzkonfigurationen“ bringt. Da ausgereifte, verwechselbare Produkte immer seltener Alleinstellungsmerkmale vom Charakter echter Innovationen aufweisen und Konsumenten mit befriedigten Konsumbedürfnissen das Interesse an Produktinformationen verlieren, gewinnen auf gesättigten Märkten emotionale Werbeappelle gegenüber logosStratgien an Bedeutung: Sachinformationen werden im Umfeld emotionaler Aufmerksamkeitsreize präsentiert, um sich durch eine überraschendunterhaltsame, ästhetisch ansprechende oder emotional bewegende Gestaltung gegenüber konkurrierenden medialen Reizen zu behaupten.60 Darüber hinaus rückt gegenüber dem „stofflich-technischen“ Grundnutzen eines Angebots dessen sensuelle Erlebniswirkung als emotionaler „Zusatzwert“ in den Vordergrund.61 So inszeniert etwa die Werbeanzeige für den „VW-Touran“ das verwechselbare Produktversprechen der „sehr leicht herausnehmbare[n] Rücksitze“ durch eine Szene in einem vollbesetzten Straßencafé: Der Fahrer des Wagens trägt 59 60

61

Vgl. Kroeber-Riel/Weinberg (2003): S. 251. Eine unmittelbare Kontaktwirkung (attentum parare und docilem parare) entwickeln etwa emotionale Schlüsselreize wie das Kindchenschema, erotische Darstellungen oder die Abbildung von Augen und Mund, mit deren Einsatz Werbestrategen der sinkenden Wahrnehmungsbereitschaft und der zunehmenden Informationssättigung der Zielgruppe begegnen (vgl. Kroeber-Riel/Weinberg 2003: S. 71). Vgl. Schweiger/Schrattenecker (2005): S. 164; Kroeber-Riel/Esch (2004): S. 24 ff., S. 46.

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einen Rücksitz seines Fahrzeuges an einen der Cafétische, um ihn dort allem Anschein nach als Sitzgelegenheit zu nutzen. Das überraschende, ungewöhnliche Motiv fungiert als Aufmerksamkeitsreiz. Von der augenzwinkernden visuellen Umsetzung des Produktversprechens geht eine delectare-Wirkung aus, die Sympathie für die Werbebotschaft erlangt, während der Charakter des Touran-Fahrers, der ein Problem auf unkonventionelle und kreative Weise zu lösen versteht, als Identifikationsfläche des typischen Verbrauchers dient. In-dem das Werbebild an Publikumsbedürfnisse nach Entspannung, Genussfähig-keit und Lebensfreude appelliert, wird das Produktversprechen schließlich vom verwechselbaren Grundnutzen auf eine emotionale Erlebnisqualität verlagert. Eine solche Verbindung von Sachinformationen mit affektischen Reizen erfordert jedoch die Wahrung des inneren aptums: Einen nachvollziehbaren inhaltlichen Bezug der emotionalen Werbeform zum funktionalen Werbeversprechen. „Je gesuchter der Aufhänger ist, desto mühsamer ist natürlich die Überleitung. Gelingt sie nicht, fühlt sich der Leser genarrt, und die ganze Wirkung ist dahin.“62 Konstruiert wirkt etwa die Verbindung von privater Harmonie und harmonischem Fahrgefühl in einer Anzeige des Autoherstellers „Deawoo“: Der Kleinwagen „Lacetti“ wird mit dem Bild eines jungen, augenscheinlich verliebten Paares beworben. „Genau so harmonisch wollten wir ihn haben...“, lautet die Schlagzeile, während der Fließtext eine Verbindung zu den technischen Eigenschaften des Fahrzeugs herzustellen versucht: „Auch wenn Sie Ihre Mitfahrer verwöhnen wollen, ist der Lacetti mit seiner umfassenden Serien- und Sicherheitsausstattung genau das richtige Fahrzeug.“ Besser geglückt ist die Verbindung von Affekten und Sachbezug in einer Anzeige für das „Volvo-Cabriolet C70“, die mit der Schlagzeile „Öffnen Sie Ihre Sinne“ und einer ästhetisch reizvollen Bildgestaltung die sensuelle Erlebnisqualität des offenen Fahrens verspricht. Gelungen ist auch die Verbindung von rationalen und emotionalen Persuasionsmitteln in einer Anzeige für den „Nissan X-Trail Edition“, die mit der Schlagzeile „Neid-Rider“ ganz unverhohlen an das Statusgefühl der Zielgruppe appelliert, wobei die paronomasie der Schlagzeile zum englischen „Knight Rider“ – dem Titel einer US-Fernsehserie um ein High-Tech-Auto – der Schlagzeile eine selbstironisch-humorvolle Wirkung verleiht. Der Fließtext knüpft an das Produktversprechen der Prestige-Wirkung an („Der X-TRAIL Edition hat, was jeder gerne hätte“), und liefert Informationen zu den Ausstattungsmerkmalen des Fahrzeugs.

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Schlüter (2006): S. 64.

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8.2. Pathos-Strategien Affektische Kommunikationsmittel gewinnen ihre Persuasionswirkung aus Bezügen auf die Gefühls- und Gedankenwelt ihrer Adressaten: „Durch die Hörer erfolgt die Überzeugung, wenn sie durch die Rede in einen emotionalen Zustand versetzt werden“.63 Emotionale Werbereize haben weniger die Eigenschaften des Produkts, als deren Wirkung auf den Konsumenten zum Gegenstand: Verkauft wird nicht das Auto, sondern der soziale Status, nicht das Make-Up, sondern die Schönheit, nicht das Parfüm, sondern die ewige Liebe. Letztere verspricht etwa eine Kampagne für das Parfüm „Eternity“ der Marke „Calvin Klein“, die mit dem Bild einer glücklichen Familie an das universale Bedürfnis nach Liebe und Geborgenheit appelliert und diese Wirkung durch den Einsatz des Kindchenschemas unterstützt. Als Kaufanreiz dient allein das emotionale Werbebild in Verbindung mit dem prestigeträchtigen Markennamen, während die Information auf die Abbildung zweier Flakons beschränkt ist. Angemessen ist eine solche pathos-Strategie, die auf rationale Produktinformation verzichtet, wenn der subjektiv empfundene Wert eines Angebotes nicht mehr verhandelt werden muss (genus honestum) und allein die emotionale Qualität verkaufsentscheidend ist – etwa im Fall von image- und prestigeträchtigen Markenartikeln oder Luxusgütern wie Parfüm oder Designerware, für die definitionsgemäß kein rational begründeter Bedarf besteht. Auch Produktgruppen vom status des genus humile sind verstärkt auf emotionale Werbereize angewiesen: Massenartikel wie Waschmittel oder Fernsehzeitungen, die zur Befriedigung aktueller, jedoch trivialer Bedürfnisse dienen, stehen in Konkurrenz zu einer Vielzahl von Angeboten mit verwechselbaren Eigenschaften. Damit ergeben sich weder starke sachbezogene Argumente, noch der Bedarf an Informationen, nachdem die Produkte durch einen niedrigen Preis und eine geringe Verwendungsdauer kein echtes Kaufrisiko bergen. Vorrangiges Ziel ist vielmehr eine affektische Aufmerksamkeitswirkung, um einen Artikel aus der Masse verwechselbarer Angebote herauszuheben und das aktuelle Konsumbedürfnis auf ein bestimmtes Produkt zu lenken.64 Auch in der Werbung für Genussmittel vom genus turpe, die eine fragwürdige Wirkung entfalten, werden rein affektische Strategien eingesetzt und Produktinformationen bewusst ausgeblendet, um eine intellektuelle Auseinandersetzung mit dem Werbegegenstand zu umgehen. Dies geschieht zum Beispiel in der Tabakwerbung, deren Informationsgehalt sich in der Regel auf den gesetzlich vorgeschriebenen Warnhinweis beschränkt. Das Verkaufsversprechen beruht demgegenüber auf einer emotionalen Wirkung, wenn beispiels63

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Vgl. Aristoteles: Rhetorik, I, 1356a. In: Aristoteles: Rhetorik. Übers. u. erl. v. Christof Rapp. 1. Halbband. Berlin 2002, S. 23. Vgl. Kroeber-Riel/ Esch (2004): S. 49.

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weise die Marke „Marlboro“ durch das Bild eines Cowboys und den Aufruf „Come to Marlboro Country“ Appelle an Eskapismussehnsüchte und Virilitätsideale aussendet. Eine Inflation stereotyper Gefühls- und Erlebnisreize in der Werbung führt jedoch ebenfalls zur Verwechselbarkeit und schließlich zur Abnutzung emotionaler Appellwirkung.65 Zudem kann der Einsatz starker Affekte leicht als „dümmlich, peinlich oder geschmacklos“66 erscheinen. Auch physisch intensive, stark aufmerksamkeitserregende Reize wie laute Musik, grelle Farben oder aufdringliche Düfte führen leichter als gemäßigte Reize zu Irritationen oder einer Abwehrhaltung („Reaktanz“), mit der sich Konsumenten einem „bewusst wahrgenommenen und als einschränkend empfundenen Beeinflussungsdruck“ widersetzen.67

8.3. Ethos-Strategien Auf die Austauschbarkeit pathetischer Gefühlsbilder reagieren Werbestrategen mit dem Einsatz gemäßigter Werbeemotionen (ethos/delectare), die sich durch eine mittlere Stillage auszeichnen und als weniger aufdringlich empfunden werden als pathos-Reize: Eine ansprechend-unterhaltsame Werbegestaltung stößt auf geringeren Widerstand im Publikum,68 erzeugt Sympathie für den Kommunikator und lässt den Sender vertrauens- und glaubwürdiger wirken,69 indem ein gemäßigter Stil als indirekter Charakterausdruck auf das ethos des Senders zurückfällt.70 Gegenüber kritischen Konsumenten sind ethos-Reize wie der Auftritt von Testimonialen oder der Einsatz von Humor daher wirkungsvoller als emotional stark bewegende Appelle.71 Zudem befreit, wie bereits Quintilian wusste, eine zum Lachen anregende Gefühlswirkung das Publikum von unangenehmen Gefühlen und lenkt dessen Aufmerksamkeit von sachlichen Inhalten ab.72 Aus diesem Grund wird eine unterhaltsame Gestal65

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Vgl. Schürmann, Uwe: Erfolgsfaktoren der Werbung im Produktlebenszyklus. Ein Beitrag zur Werbewirkungsforschung. In: Meffert, Heribert (Hg.): Schriften zu Marketing und Management, Bd. 19, Frankfurt a. M. 1993, S. 211. Vgl. Kroeber-Riel/Weinberg (2003): S. 77. Vgl. ebd.: S. 77; S. 207 f. Vgl. ebd.: S. 209 ff. Vgl. Schweiger/Schrattenecker (2005): S. 235, O’Keefe, Daniel J.: Persuasion. Theory and Research. 5. Aufl., Newbury Park 1993, S. 139 f. „Durch eine bestimmte Art von Gedanken, durch die Wortwahl und durch Verwendung einer sanften Vortragsweise, die auf Umgänglichkeit hindeutet, erreicht er [der Redner], daß sein Charakter als der eines rechtschaffenen, gutgearteten, ehrenwerten Mannes erscheint.“ (Cicero: De Oratore, II, 184. In: Huchthausen 1989: S. 128.) Vgl. Sowinski (1979): S. 67. Vgl. Quintilianus: Institutionis Oratoriae, VI, 3, 1. In: Rahn (1995): S. 715.

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tung mit delectare-Wirkung gezielt zur Bewerbung von Genussmitteln eingesetzt, um rational fragwürdigen Produkten vom genus turpe einen angenehmen, sympathischen (Marken-) Charakter zu verleihen. Ein Beispiel liefert die Zigarettenmarke „Lucky Strike“, die in Deutschland seit den 80er-Jahren mit der Abbildung einer Zigarettenschachtel im Zentrum einer humorvollen Geschichte beworben wird. Die sympathisch-unterhaltsame Inszenierung zerstreut Bedenken und erlaubt den Verzicht auf verwechselbare Sehnsuchtsbilder nach den topoi von Freiheit und Genuss. Über die Jahre hinweg ist daher der stilistische Mehrwert der konsequent beibehaltenen, wiedererkennbaren Gestaltung zum eigentlichen Alleinstellungsmerkmal der Marke geworden,73 deren Plakate schließlich selbst zu begehrten Produkten wurden und in den 80er und 90er Jahren aus Werbeschaukästen verschwanden, um an den Wänden von Jugend- oder WG-Zimmern einen Platz zu finden. Indem delectare-Strategien zur stilistischen Identifikation einladen und ein Unterhaltungsbedürfnis des Publikums befriedigen, reagieren sie besonders wirksam auf die Selbstselektivität des Publikums und dessen grundsätzliche Entscheidungsfreiheit,74 sich mit Werbeinhalten und -Formen auseinanderzusetzen. Dieses Wissen nutzt in jüngerer Zeit auch die „markenbezogenen Unterhaltung“ („branded entertainment“)75, die aufwendig produzierte Werbebotschaften hinter der Ästhetik popkultureller Formate verbirgt und diese im Internet zur kostenfreien Verfügung stellt – mit dem Anschein eines kulturel-

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Ausdruck findet diese Imagekonzeption eines stilistischen Mehrwerts auch in der Institution des „Lucky Strike Designer Award“, mit dem „British American Tobacco“ im Jahr 1991 einen hochdotierten Designerpreis ins Leben rief. Auch in der Werberezeption greift das rhetorische Prinzip der Urteilsfähigkeit (iudicum) des Publikums: „To assume that today’s audiences are passive, vulnerable, or easily manipulated is to assume that audiences do not flip channels, turn pages, talk back, and ridicule advertising.“ (Gill, Sally: And Now a Word About our Sponsors: Advertising and Ethos in the Age of the Global Village. In: Swearingen, C. Jan (Hg.): Rhetoric, the Polis, and the Global Village. London 1999, S. 205.) Wobei dem Einfluss des persönlichen iudicums Grenzen gesetzt sind und auf gesetzlichen Schutz vor Werbemaßnahmen nicht verzichtet werden kann, wenn sich diese beispielsweise gezielt an Kinder und Jugendliche richten, sexistische oder diskriminierende Mittel einsetzen, religiöse Gefühle verletzen, soziale Spannungen durch Appelle an Neid oder Angst evozieren oder fragwürdige Vorbilder und risikoreiches Verhalten präsentieren (vgl. Marlin, Randal: Propaganda and the ethics of persuasion. Peterborough, Ontario 2002, S. 177 ff.) Auch die Omnipräsenz von Werbemitteln im öffentlichen und privaten Raum, die als Belästigung empfunden werden kann, macht Werbung zum Gegenstand gesellschaftlicher Verantwortung. „Bei Branded Entertainment wird ausgehend von der Marke oder dem Markenprodukt ein spezifischer Inhalt kreiert, der so attraktiv oder unterhaltsam ist, dass der Konsument diesen freiwillig nachfragt und sich damit auseinandersetzt. Der Inhalt transportiert dabei subtil eine bestimmte Marken- oder Produktbotschaft.“ (Duttenhöfer, Michael: Branded Entertainment. Saarbrücken 2006, S. 70).

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len Guts, nicht etwa eines Werbemittels mit Beeinflussungsabsicht.76 In den Jahren 2001 und 2002 präsentierte „BMW“ unter „www.bmwfilms.com“ die Kurzfilmreihe „The Hire“ – acht Filme von Kultregisseuren, die mit Stars wie Clive Owen, Gary Oldman oder Mickey Rourke, Madonna und James Brown besetzt waren.77 Nach ähnlichem Muster stellte „Mercedes-Benz“ mit den „Mixed-Tapes“ ab 2004 Musikkompilationen zum kostenlosen Herunterladen ins Netz, während die neue „A-Klasse“ mit Christina Aguileras Popsong „Hello (Follow Your Own Star)“ beworben wurde, der bald eine Position in den deutschen Charts hielt. Zudem platzieren Werbestrategen im Zuge des „viralen Marketings“ verschleierte Werbefilme („Virals“) in sozialen Netzwerken oder neben selbstgedrehten Videos auf Portalen wie „Youtube“, um diese von Internetnutzern beurteilen, empfehlen und verbreiten zu lassen.78 Erfolgsvoraussetzung ist dabei, die Werbemittel „subtil und nahtlos“ in die nonkommerziellen Inhalte des digitalen Verbreitungsmediums einzufügen: Viele der nach dem Erfolg der BMW-Kampagne gestarteten Projekte scheiterten, da sie dem Publikum als „zu werbelastig“ erschienen.79 Die Nähe des „viralen Marketings“ zur Schleichwerbung, die den Rahmen des eindeutig gekennzeichneten Werbemittels verlässt und ihre Wirkung in einem Unterhaltungsmedium verdeckt entfaltet, ist damit offensichtlich. Auch die Grenzen zur redaktionell gestalteten Werbung, die in ihrer Aufmachung den journalistischen Beiträgen eines Werbeträgers angepasst wird, um über den Urheber der Botschaft hinwegzutäuschen, sind fließend.

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Diese Verbindung von Werbung und Popkultur ist nicht neu, wie Andy Warhol 1962 mit seiner Serie zu „Campbell’s Soup Cans“ verbildlichte. Während bereits Kandinsky ein Plakat für Schokoladenwerbung entwarf und Toulouse Lautrec mit Werbeplakaten berühmt wurde, stellten später Filmregisseure ihr Können in den Dienst der Werbeindustrie: Federico Fellini drehte einen Werbespot für „Campari“, Franco Zefirelli warb für „Anabella-Pelze“ und JeanJaques Annoud für „Ford“. Jean-Luc Godard produzierte für das Modelabel „Closed“ oder für „Parisiennes-Zigaretten“ und Luc Besson für „Dim Strumpfhosen“ (vgl. Aebi, Jean Etienne: Einfall oder Abfall. Was Werbung warum erfolgreicher macht. Mainz 1993, S. 57), während Ridley Scott den berühmt gewordenen Macintosh-Werbefilm „1984“ inszenierte oder Baz Luhrmann für „Chanel No 5“ drehte. Vgl. Duttenhöfer (2006): S. 86. Bereits Lazarsfeld et al. beschrieben mit dem Modell des „Two-Step-Flow of Communication“ die Mittlerfunktion von Konsumenten bei der Verbreitung von Werbebotschaften (vgl. Lazarsfeld, Paul F./ Menzel, Herbert: Massenmedien und personaler Einfluß. In: Schramm, Wilbur (Hg.): Grundfragen der Kommunikationsforschung. München 1968, S. 117–139. Org: The Sience of Human Communication, New York 1963.; Lazarsfeld, Paul F./ Berelson, Bernard/ Gaudet, Hazel: Wahlen und Wähler. Soziologie des Wahlverhaltens. Neuwied 1969). Als Zielpersonen sind Meinungsführer für die Werbung besonders interessant, die als Multiplikatoren und Verstärker einer Botschaft die aufgenommenen Inhalte an weniger aktive Rezipienten weitergeben – eine Funktion, die im Kontext des viralen Marketings einflussreichen Bloggern zukommt. Vgl. Duttenhöfer (2006): S. 76 f.

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Gemeinsam ist diesen Strategien, dass sie sich eine ethos-Wirkung des Trägermediums, des redaktionellen Umfeldes oder der persönlichen Empfehlung zunutze machen, um Vertrauen, Sympathie und Akzeptanz zu erzielen und somit auf eine grundsätzliche Skepsis des Publikums gegenüber Werbebotschaften zu reagieren, die aus dem Wissen um die Parteilichkeit der Gattung und der Wahrnehmung ihrer Beeinflussungsabsicht erwächst. Verstärkt wird dieses Glaubwürdigkeitsdefizit durch die anonym-medialen Bedingungen der Kommunikationssituation, die einen Verzicht auf die ethos-Wirkung des Senders bedeutet. Um sich dennoch die Persuasionskraft persönlich vorgetragener Botschaften zu sichern, gehört der Einsatz von Testimonialen zum traditionellen Werbeinstrumentarium: Anstelle des physisch nicht wahrnehmbaren Senders treten – neben prominenten Gewährsleuten – Werbemodelle in den Rollen des zufriedenen Verbrauchers, des sachkundigen Experten oder des vertrauenswürdigen Unternehmensvertreters in Erscheinung, die ein Angebot ausdrücklich empfehlen, für dessen Qualität bürgen oder ein emotionales Produktversprechen beispielhaft verkörpern.80 Als besonders vertrauensbildend gilt allerdings der Auftritt des Firmenführers, der sich als verantwortlich für die Inhalte einer Werbebotschaft zeigt.81 Bekannte Beispiele sind Claus Hipp, der mit seinem Namen für die Qualität von „Hipp“-Babynahrung bürgt, Albert Darboven, der als hanseatischer „Kaffeekönig“ die Marke „Idee-Kaffee“ verkörpert oder Trigema-Chef Wolfgang Grupp, der sein Unternehmer-ethos als Vorstand der „Trigema-Betriebsfamilie“ mit dem topos sozialer Verantwortung und dem Versprechen inszeniert, Trigema-Sportbekleidung auch in Zukunft nur in Deutschland zu produzieren. Da die Zahl klassischer Unternehmerpersönlichkeiten jedoch zurückgeht, während Firmen von Managern und Vorständen geführt werden, deren Integrität und Vertrauenswürdigkeit in der öffentlichen Wahrnehmung umstritten ist, setzen Werbestrategen auf alternative Personifizierungsstrategien. Dazu zählt die Gestaltung ethischer „Produktpersönlichkeiten“82 in der Markenwerbung: An die Stelle der persönlichen Bindung zum Erzeuger tritt 80

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Von 1922 bis zum Ende der 60er Jahre stand das Bild der „Weißen Dame“ für die Reinheit persilgewaschener Wäsche, Filmstars wie Marilyn Monroe und Liz Taylor, Hildegard Knef und Romy Schneider waren ab den 50er Jahren Werbeträgerinnen für Lux-Seife und Werbecharaktere wie Frau Antje, Klementine oder Herr Kaiser wurden in den 60er und 70er Jahren zu Sympathieträgern und wiedererkennbaren Markenpräsentanten, mit denen sich über Werbejahrzehnte hinweg Produkte von Konkurrenzangeboten abgrenzen ließen. Vgl. Janich, Nina: Werbesprache. Ein Arbeitsbuch. 2. Aufl., Tübingen 2001, S. 92. „Formal lässt sich die Markenpersönlichkeit also als Gesamtheit menschlicher Eigenschaften definieren, die vom Konsumenten mit der Marke assoziiert werden. [...] Sie beinhaltet demnach sowohl demographische Merkmale wie Geschlecht, Alter oder Klassenzugehörigkeit als auch klassische Persönlichkeitswesenszüge, wie z.B. Intelligenz oder Aufrichtigkeit. [...] Die Markenpersönlichkeit von Volvo kann bspw. beschrieben werden als ein verlässlicher und vertrauenswürdiger Mann mit europäischem Akzent, der jedoch etwas schwerfällig und ohne

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die Beziehung zur Markenware, die den „Stempel einer Persönlichkeit“ erhält, um das anonyme Massenprodukt zu individualisieren und wieder als „Erzeugnis einer Persönlichkeit“ auszuweisen.83 Bereits 1939 beschrieb Domizlaff in seinem Grundlagenwerk zur Markenlehre eine konsequente Weiterentwicklung dieses Personifikationsprinzips. Danach löst sich die Marke vom Charakter des Produzenten und seiner Merkmale ab und wird selbst als Persönlichkeit präsentiert: Sie erhält menschliche Eigenschaften und eine individuelle Identität, einen exklusiven Namen und „ein Gesicht wie ein Mensch“.84 Etabliert wird ein wiedererkennbarer Markencharakter, der für die gleichbleibende Qualität eines Angebotes einsteht. Eine andere Möglichkeit ist die Repräsentation eines korporierten Unternehmenscharakters, dessen öffentlicher Ruf für den Konsumenten zum Maßstab für die Vertrauenswürdigkeit eines Werbeversprechens und zum Qualitätsgaranten des Angebots avanciert. Im Rahmen von PR-Strategien werden Konzerne daher zunehmend als „ethische Persönlichkeiten“ oder als „sozialverantwortlich handelnde Bürger“ inszeniert, die mit dem Mittel der rhetorischen personificatio einen „Charakter“ und eine „Philosophie“ erhalten, ethischen „Leitbildern“ verpflichtet und sozialverantwortlichem Handeln verschrieben werden.85 Dabei werden die topoi eines tugendhaften Charakters immer häufiger auch zum Gegenstand von Werbebotschaften – wie die folgenden Slogans86 verdeutlichen, die ethische Unternehmenswerte als Verkaufsargumente einsetzen: „Fair. Menschlich. Nah.“ (Sparkassen Finanzgruppe, 2008); „Offen. Fair. Verlässlich. An diesen Werten wollen wir uns messen lassen.“ (McDonald’s Deutschland, 2006); „Offenheit trifft Leistung.“ (Cosmos, 2006) „Leistung schafft Vertrauen.“ (Vontobel, 2008); „Ihr Vertrauen – unsere Leistung.“ (Novitas Vereinigte BKK, 2008); „Für Vertrauen im Leben.“ (Axa, 2004); „Leistung. Vertrauen. Erfolg.“ (Deutsche Bank, 2002) „Der ehrliche Strom.“ (Greenpeace Energy, 2008); „Ehrlich gut.“ (Avia, 2006); „Ehrlich – einfach gut.“ (Lada, 2003); „Gut. Ehrlich. Schwäbisch.“ (Adlerbräu, 2003)

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rechten Humor ist.“ (Hieronimus, Fabian: Persönlichkeitsorientiertes Markenmanagement. Eine empirische Untersuchung zur Messung, Wahrnehmung und Wirkung der Markenpersönlichkeit. Frankfurt a. M. 2003, S. 46). Vgl. Domizlaff, Hans: Die Gewinnung des öffentlichen Vertrauens. Ein Lehrbuch der Markentechnik. Hamburg 1939, S. 59. Ebd. Zu den aktuellen Schlagwörtern eines marketingorientierten Ethik-Diskurses zählen Begriffe wie „Codes of Conduct“, „Good Corporate Citizen“ oder „Corporate Social Responsibility“ (vgl. Kirchhoff, Klaus Rainer : CSR als strategische Herausforderung. In: Gazdar, Kaevan et al. (Hg.): Erfolgsfaktor Verantwortung. Corporate Social Responsibility professionell managen. Berlin 2006, S. 14, S. 16). Vgl. www.slogans.de.

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„Gesund ernähren – Verantwortungsvoll handeln – Respektvoll leben.“ (Bioplan, 2006); „Wissen und Respekt.“ (Royal Canin, 2004)

Neben Unternehmenswerten werden Beispiele für verantwortliches firmenpolitisches Handeln zum Werbeargument eines ethischen Zusatzwertes. So definiert etwa die Sparkassen-Finanzgruppe ihre Banken im Jahr 2006 – vorausschauend und noch vor dem allgemeinen Vertrauensverlust in das Bankensystem – als „am Gemeinwohl orientierte Kreditinstitute“ mit sozialverantwortlich-vertrauenswürdigem Charakter: „Das besondere Engagement für die Gesellschaft prägt seit über 200 Jahren die Identität der Sparkassen“ heißt es im Fließtext. „Wir schließen niemanden aus. Gut für den sozialen Zusammenhalt. Gut für Deutschland“ lautet die affektische Schlagzeile mit einem Appell an das Solidaritätsgefühl der Zielgruppe. Im Zentrum des Layouts stehen Bilder von Menschen aus verschiedenen Alters- und Bevölkerungsgruppen, die das „Vertrauen von fast 50 Millionen Kunden“ repräsentieren. Die Stillage entspricht dem ethos des Inhalts mit gemäßigten, in schwarz-weiß gehaltenen Bildern, während auf verbalsprachlicher Ebene das schlichte Adjektiv „gut“ durch eine anapher in der Schlagzeile hervorgehoben wird. Damit entspricht die Gestaltung der Anzeige einer allgemeinen Tendenz, mit der sich seit der Jahrtausendwende der Rückgang eines amplifikatorischen Werbestils beobachten lässt, während der Einsatz gemäßigter Adjektive nachweislich zugenommen hat: Kaum ein anderes Werturteil ist so häufig in aktuellen Werbeslogans vertreten wie das einfache „gut“,87 das den Eindruck einer glaubwürdigen und ehrlichen Produktbeurteilung erweckt. Mit einer ähnlichen Konnotation wurden auch die Adjektive „einfach“88, „echt“89 und „pur“90 seit der Konjunkturschwäche im Jahr 2003 und einhergehenden Vertrauensverlusten der Konsumenten deutlich häufiger in Werbeslogans ein-gesetzt als noch in den Jahren zuvor. Unterstützt wird die sachlich-authentische Wirkung vielfach durch einen knappen, zum Teil elliptischen Stil: „Schnell. Einfach. Lecker.“91 Einige Anbieter verlassen sich ganz auf die Wirkung eines ethos-Stils, um sich von Mitbewerbern abzugrenzen und den Zusatzwert eines kritischen Bewusstseins zu verkaufen. Eine breite und wohlwollende Resonanz erfahren seit dem Jahr 2004 die Werbemittel des „Unilever“-Konzerns, welche Produkte der Kosmetikmarke „Dove“ unter dem Slogan „Keine Models, aber echte Kurven“ 87

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Das Adjektiv „gut“ war 2007 Bestandteil von 93 Slogans der deutschen Werbung (vgl. www.slogans.de). 2007 in 54 deutschsprachigen Slogans eingesetzt, gegenüber den Vorjahren deutlich gesteigerter Gebrauch in den Jahren 1994 (als Reaktion auf die Rezession von 1993) und 2003 (vgl. www.slogans.de). 2007 in zehn deutschsprachigen Slogans eingesetzt. Auffällige Steigerung des Gebrauchs seit 2003 (vgl. www.slogans.de). 2007 in neun deutschsprachigen Slogans eingesetzt, Häufung seit 2003 (vgl. www.slogans.de). Aus einer Anzeige für die Zeitschrift „Essen & Trinken.“

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präsentieren. Einzigartig ist nicht das Produkt, sondern die Darstellungsform, die den Idealisierungskonventionen der Kosmetikwerbung widerspricht: Beworben wird die Marke mit normalgewichtigen Modellen, die in weißer Baumwollunterwäsche gut gelaunt vor einem puristisch weißen Hintergrund posieren und durch ihre Ähnlichkeit zur Zielgruppe Authentizität suggerieren. Dieser Werbestil des „Understatements“, der sich scheinbar keiner überhöhenden Mittel bedient, unterstreicht den vermeintlich unverfälschten Charakter der Werbebotschaft, während die Kunstfertigkeit der Gestaltung in den Hintergrund tritt: Auch die Modelle der Dove-Kampagne haben ihre makellose Haut eher den Möglichkeiten der digitalen Bildbearbeitung als der Wirkung der beworbenen Crème zu verdanken. Dennoch gelingt die dissimulatio artis in dieser Kampagne, aus deren Erfolg schließlich verschiedene PR-Projekte hervorgingen, um die Wirkung des ethos-Stils durch Inhalte eines sozialverantwortlichen Unternehmensengagements zu beglaubigen.92 Weniger geglückt ist hingegen der Werbeversuch einer ethischen Inszenierung des Versicherungsdienstleisters „Ergo“, zu dessen Gruppe auch der frühere Anbieter „Hamburg-Mannheimer“ zählt. Während die Marke „Hamburg-Mannheimer“ über Jahre hinweg mit der Figur des konservativen Unternehmensvertreters „Herr Kaiser“ identifiziert wurde, setzt die „Ergo“-Gruppe unter der Schlagzeile „ich will versichert werden – nicht verunsichert“ nunmehr auf junge, kritisch anmutende Testimoniale, die Transparenz und eine verständliche Unternehmenssprache einfordern. Der erste Werbespot der Kampagne zeigt einen jungen Mann, der auf seinem Heimweg durch eine Großstadt über Versicherungsanbieter nachdenkt und seine Überlegungen frontal in die Kamera spricht. Dabei stellt der Spot mit Einstellungen in einem S-Bahnhof, im Treppenhaus oder vor der heimischen Musikanlage Szenen aus Stephen Frears Kultfilm „High Fidelity“ Schritt für Schritt nach. Die enge Adaption des filmischen Originals, das wiederum die Monologform von Nick Hornbys Romanvorlage umsetzt, bewirkt einen hochartifiziellen Charakter des Werbespot, der den angestrebten93 Eindruck authentischer Verbraucher, die echte Bedürfnisse artikulieren und bei „Ergo“ Gehör finden, nicht glaubwürdig vermitteln kann. Mit der offensichtlichen Gestaltung nach Publikumsidealen wurde die Beeinflussungsabsicht deutlich wahrnehmbar, weshalb die popkul92

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Im Jahr 2005 rief Unilever die sogenannte „Initiative für wahre Schönheit“ ins Leben – ein PRProjekt, das der Gesellschaft ein realistisches Schönheitsideal vermitteln sollte. Im Jahr 2007 verpflichtete sich der Konzern zudem in einer freiwilligen Erklärung dazu, für das gesamte Produkt- und Markensortiment auf Werbemodelle mit einem „Body Mass Index“ von weniger als 18,5 zu verzichten, um den gesellschaftspolitischen Kampf gegen Essstörungen zu unterstützen. Regisseur Simon Verhoeven im Interview mit „W&V – Werben und Verkaufen“: „Es sollte stylish aussehen, aber nicht künstlich, eben wie aus dem tatsächlichen Leben gegriffen, Menschen, die stellvertretend für viele anfangen zu sprechen.“ (http://www.wuv.de/agenturen/ergo_werbefilmer_verhoeven_ stylish_aber_nicht_kuenstlich)

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turellen Referenzen in der Zielgruppe als plumper Anbiederungsversuch empfunden wurden: Der Spot galt in Internetforen als „dumm, dreist und ideenlos“ oder als „Schamlos. Peinlich. Schlecht“,94 wobei einige Blogger hinter der Entlarvung des Plagiats einen intendierten, aufmerksamkeitswirksamen Schachzug des Konzerns vermuteten.95 Die ethos-Wirkung des Unternehmens litt jedoch unter dieser Aufmerksamkeit: Werte wie Aufrichtigkeit und Transparenz konnten nicht glaubhaft vermittelt werden, zumal 2011 publik wurde, dass das Vertriebsteam der Hamburg-Mannheimer auf Firmenkosten einen Betriebsausflug in ein Budapester Bordell unternommen hatte. Auch diese Nachricht wurde im Internet verbreitet: über journalistische Medien und in den Kanälen des viralen Marketings, etwa auf Youtube, wo zahlreiche Parodien des ursprünglichen Werbespots erschienen – unter anderem eine Version, die die Bilder des jungen Mannes mit einem neuen, wenig werbewirksamen Text zu den Verfehlungen des Unternehmens unterlegt. So erhält das Prinzip von Rede und Gegenrede im Kontext des Internetmarketings ein neues Gewicht, wenn Werberezipienten die interaktiven Möglichkeiten des Mediums nutzen, um in einen Dialog mit Werbebotschaften zu treten. Die Herausforderungen, die für Werbestrategen daraus erwachsen, und die Möglichkeiten einer rhetorica contra rhetoricam, die sich für die Zielgruppe bieten, eröffnen neue Felder rhetorischer Praxis und Forschung, die auch unter medialen Kommunikationsbedingungen und in Bezug auf nonverbale Zeichen Kriterien für die Auswahl wirksamer Werbetechniken liefert und analytische Rückschlüsse auf die wahrscheinlichen Wirkungsabsichten werbender Beeinflussungsversuche erlaubt.

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Vgl. blog.rebellen.info/2010/08/25/dumm-dreist-ideenlos-ergo-versicherungen/; http:// www.youtube.com/all_ comments?v=acKq5yU6WPw „Bis zum Erscheinen der Blogeinträge zum Spot kannte ich Ergo-Versicherungen überhaupt nicht. Denke, die Macher haben alles richtig gemacht.“ (vgl. blog.rebellen.info/2010/08/25/ dumm-dreist-ideenlos-ergo-versicherungen/). Eine Ergo-Sprecherin wies jedoch zurück, dass Ergo das entlarvende Video bei Youtube eingestellt habe.

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Die amplifizierte Rhetorik Grenzen einer Summa rhetorica am Beispiel der „Rhetorik der Werbung“

1. Zwei Arten der Amplifikation In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert erlebte die Rhetorik eine Aufmerksamkeitssteigerung, die wir passend mit dem ebenfalls rhetorischen Begriff der Amplifikation beschreiben. Die Reanimierung einer längst tot gesagten Disziplin inspirierte in unserer Gegenwart eines der umfangreichsten Werke der Rhetorikgeschichte: Das Historische Wörterbuch der Rhetorik.1 Ausgerechnet in einer Epoche, in der die Rhetorik kaum noch Ansehen genoss, wurde an der Universität Tübingen eine vielbändige Enzyklopädie zum Abschluss gebracht, die den Wissensstand des Faches in historischer und systematischer Hinsicht mit großer Besonnenheit, aber auch mit ungeahnter Reichweite ausleuchtete. Das Ergebnis ist eine Summa rhetorica, welche die Forderung Luthers „ut sit simul coniuncta summa theologia cum summa rhetorica“2 bei weitem übertrifft. Möglich wurde das auch und nicht zuletzt durch ein Verfahren, das aus der Rhetorik hinreichend bekannt ist und in der Rhetorikforschung selbst seine Anwendung findet: Gemeint ist das Verfahren der amplificatio, oder deutsch: Amplifikation. Es hat seinen angestammten Platz übrigens in Epilogen. Der Begriff „Amplifikation“ bedeutet Verstärkung, Ausweitung, aber auch Ausschmückung. Während der ursprünglich rhetorische Terminus amplificatio heutigen Tages nur noch wenigen Experten geläufig ist, kennt ihn die Allgemeinheit bestenfalls noch aus der Tontechnik: Hier bezeichnet er die Verstärkung von (schwachen) Audiosignalen, oder genauer: die Erhöhung der Lautstärke, gemessen in Dezibel. Werden die Regeln der akustischen Verstärkung nicht beachtet, kann das zur Verzerrung des Tones führen, oder gar zum Konflikt mit dem LärmschutzGesetz, das Schallbegrenzungen vorschreibt. Jedoch verändert, wer mit akustischen Amplifikationstechniken arbeitet, Klang-Quellen zunächst nicht qualitativ, sondern nur quantitativ: er macht sie lauter, besser vernehmlich für ein größeres Publikum. Neben der Verstärkung gehört freilich auch die Aus1

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Gert Ueding (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik. 10 Bde. Tübingen: Max Niemeyer, De Gruyter 1992–2011. Martin Luther: WA 40,1; 463, 9–464,2.

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schmückung von Tönen zu den Aufgaben der Tontechnik, sie ist aber in einem von der Amplifikation getrennten Bereich angesiedelt, jenem der Toneffekte, oder wie es auch heißt: des Sound-Designs. Effekte wie Hall, Delay, Phaser, Looping, Transposition, Equalizer oder Geräusche sollen den Ton in seiner Qualität verändern und mitunter die schlecht klingende Stimme des Interpreten akustisch erträglicher gestalten. Ich werde noch einmal darauf zurückkommen, warum es sich lohnen könnte, in unserem Zusammenhang einen Vergleich zwischen Rhetorikforschung und Tontechnik zu ziehen.

2. Amplifikation der Rhetorik In der rhetorischen Forschung findet das Prinzip der Amplifikation in seiner doppelten Bedeutung Anwendung: Extension und Ausschmückung. Zwischen diesen beiden Bedeutungen oder gar Polen mussten sich auch die Beiträger des Historischen Wörterbuches der Rhetorik orientieren, die – so wie ich selbst im Fall des Artikels „Werbung“ – einen Beitrag von vielen Seiten Umfang verfassen sollten über einen Begriff, der nach heutigem Verständnis mit Rhetorik bestenfalls entfernt noch etwas zu tun hat. Ich spreche also nicht von genuinen Begriffen wie Chiasmus oder Katachrese, sondern von Begriffen, die schon im Historischen Wörterbuch grenzwertig sind, wie „Unternehmenskommunikation“, „Tanzkunst“, „Intermedialität“ oder „Dadaismus“ – von den Rändern der Rhetorik also. Soll nun die Stimme der Rhetorik zum Beispiel auch noch in der modernen Werbeforschung gehört werden, ist sie notgedrungen auf bestimmte Formen der Amplifikation angewiesen. Das Anwendungsgebiet der Rhetorik muss qualitativ und quantitativ erweitert werden. Zu beobachten ist nun aber in der Rhetorikforschung nicht selten, dass das eigentliche Ziel einer quantitativen Ausdehnung noch am ehesten durch eine nur qualitative Ausschmückung des rhetorischen Grundbestandes ersetzt wird. Rasch gelangen wir an diesen Punkt, wenn der Forscher sich selbst rhetorischer Mittel bedient, insbesondere der Mittel der Amplifikation. Zu diesen Mitteln gehören Variation, Häufung (accumulatio, enumeratio oder Synonymie), Periphrase, ausführliche Beschreibung, Gegensatz, Beispiel, Zeugnis, und – in unserem Fall vorzugsweise – die Analogie. Die Übertreibung einer solchen rhetorischen Ausschmückung der Rhetorik wäre – wieder in rhetorikgeschichtlicher Analogierede – als Schwulst zu bezeichnen. Und es ist deshalb energische Vorsicht geboten, wenn wir von ‚modernen Anwendungsgebieten‘ der Rhetorik sprechen. Betrachten wir nämlich den Status der Rhetorik als Untersuchungsgegenstand und als Methode und verfolgen die historische Ausweitung dieses Untersuchungsgegenstandes, so müssen wir uns

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fragen, wo die trans- oder pararhetorische Expansion der Rhetorik in fachfremde Gebiete beginnt und wo sie sinnvoll endet. Denn: Solange die Verortung der Rhetorik im gegenwärtigen Wissenschaftssystem, in der Systematik der akademischen Fachdisziplinen, nicht überzeugend gelingt, muss sie – provokativ gesagt – damit rechnen, als propädeutische Einführungs- oder Hilfswissenschaft missverstanden zu bleiben, vergleichbar vielleicht mit der Didaktik, um deren Ruf es bekanntlich noch schlechter bestellt ist. Auch die Didaktik gilt der scientific community inzwischen als Disziplin, die dehnbar überall und nirgends hinpasst.

3. (Über-)Reaktionen auf eine restringierte Rhetorik: Der Traum von einer Ubiquität der Rhetorik Genettes Kritik einer restringierten Rhetorik,3 seine Klage über ihre Einschränkung auf die elocutio und die Figurenlehre, war zugleich und indirekt der Anpfiff für eine spielerische Erkundung neuer Anwendungsgebiete der Rhetorik in alle Richtungen, eine Ausweitung, wie sie in der Antike schon ansatzweise, aber nie so konsequent gesucht worden war. Anstatt von einer restringierten können wir deshalb inzwischen von einer amplifizierten Rhetorik sprechen. Sie erkundet ihre Grenzen und birgt ihre eigenen Probleme. Auch wenn es immer wieder Versuche einer Ausweitung gab – durch ihre politische, logische und ethische Instrumentalisierung etwa (u.a. bei Aristoteles), durch ihre Christianisierung (u.a. bei Augustinus), Privatisierung (u.a. bei Castiglione), Poetisierung (u.a. bei Baumgartner) – so war damit meist kein Anspruch auf universelle Gültigkeit der rhetorischen Disziplin, auf ihre „Ubiquität“ (wie Dockhorn, Gadamer und andere es nicht faktisch, sondern normativ formulierten)4 erhoben worden – ein Geltungsanspruch, wie er gleichwohl bis heute, im Kontext einer anthropologischen Refundierung der Rhetorik etwa, oder angesichts des Ideals eines homo rhetoricus5 diskutiert wird. Der Traum von der Ubiquität der Rhetorik6 ist ein moderner Traum, erdenklich geworden vielleicht erst als Reaktion auf ihren vorangehenden Tod, auf ihre Ablösung durch die aus der Asche der Rhetorik auferstandenen Fächer 3

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Gerhard Genette: Die restringierte Rhetorik (1970). In: Anselm Haverkamp (Hg.): Theorie der Metapher. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. 2. Aufl. 1996, S. 229–252. Klaus Dockhorn: Rez. v. H.-G. Gadamer ‚Wahrheit und Methode‘, Göttingische Gelehrte Anzeigen 218 (1966), S. 171ff., hier: S. 178: „Ubiquität der rhetorischen Tradition“. Josef Kopperschmidt (Hg.): Rhetorische Anthropologie: Studien zum Homo rhetoricus. München: Fink 2000. Vgl. Peter L. Oesterreich: Fundamentalrhetorik. Untersuchungen zu Person und Rede in der Öffentlichkeit. Hamburg: Meiner 1990, S. 24f. (Paradeigmata, 11).

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wie Ästhetik, Musik, Literaturtheorie oder Geschichte, wie sie zu Beginn des 19. Jahrhunderts anschaulich schon Adam Müller dokumentierte.7 Erst sehr viele Dekaden später, forciert ab den 1960er Jahren, erlebten wir die heute noch anhaltende Rückeroberung der verlorenen Schlachtfelder. Deren hauptsächliche Stoßrichtung galt nun freilich dieser Rückeroberung der Amplifikation des Rhetorischen, der sukzessiven Eroberung neuer rhetorischer Forschungsgebiete, der Flucht nach vorne in die Analogierede: Auch was nicht im traditionellen Sinne zur Rhetorik gehörte, fand dabei Beachtung, wurde ihr einverleibt. Und es keimte das neue Wort von der Rhetorizität. Barbara Schmidt-Haberkamp spricht in ihrem entsprechenden Wörterbuchartikel von einer Rhetoriziät im engen (als „einer Eigenschaft von Texten und Textsegmenten“), von einer im weiteren (als „einer Eigenschaft von kulturellen Entwicklungen und Kulturphänomenen jeder Art“) und einer im weitesten Sinne (als „einer Eigenschaft natürlicher Sprachen“).8

4. Amplifikation durch Analogie: Adjektiv- und Genitivattribuierungen der Rhetorik Das wichtigste Beweisverfahren dieser rhetorischen Amplifikationsbemühungen lag dabei, wie oben erwähnt, im Analogieschluss. In kurzer Folge erlebten wir Entwürfe zu unterschiedlichsten Rhetoriken, erkennbar an jeweils neuen Attributen, mit denen die Rhetorik bekleidet wurde: Beginnen könnten wir mit der Literarischen Rhetorik, die ihren Anfang nahm bei Heinrich Lausberg und Kenneth Burke, wobei Letzterer sogar emphatisch proklamierte: „effective litterature could be nothing else but rhetoric“9. Auch gab es Entwürfe zu einer linguistischen, philosophischen, theologischen,10 musikalischen, feministischen,11 visuellen Rhetorik,12 kommunikationstheoretischen oder medienwis7

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Adam Müller: Zwölf Reden über die Beredsamkeit und deren Verfall in Deutschland (1812/1816). Barbara Schmidt-Haberkamp: Rhetorizität. Moderne und Postmoderne ab 1970. In: Gert Ueding (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 8, Tübingen: Niemeyer 2007, S. 219–221, hier: S. 219. Kenneth Burke: Applications of the Terminology. In: Counter-Statement. New York: Harcourt, Brace and Company. 1931, Berkeley: University of California Press 1968, S. 184–212, hier: S. 210. Vgl. z.B. Gert Otto: Grundlegung de praktischen Theologie. München 1986. Vgl. z.B. Barbara Schlüter: Rhetorik für Frauen. Wir sprechen für uns. 6. Aufl. München: Langen-Müller 2000. Vgl. z.B. Roland Barthes: Rhétorique de l’image. In: Communications 4 (1964), S. 40–51 (dt. Rhetorik des Bildes. In: Ders.: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005, S. 28–46); Luc Boltanski: Die Rhetorik des Bildes. In: Pierre Bourdieu u. a.

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senschaftlichen Rhetorik, und so fort. Die Vielfalt der Attribuierungen von Rhetoriken ging weit über die explizit als ‚Nouvelle Rhétorique‘ bezeichnete Argumentationstheorie von Chaim Perelman13 und die unter dem Etikett „New Rhetoric“ bekannten sozialpsychologischen Persuasionstheorien hinaus. Und hier – um dem Tübinger genius loci Genüge zu tun – beiseite gesprochen: Weniger fachlich als örtlich zu dechiffrieren ist wohl letztlich auch die Wendung ‚Tübinger Rhetorik‘. Hierbei handelt es sich natürlich nicht um eine Rhetorik, die sich auf das Reden über die Stadt Tübingen beschränkt, sondern um das methodologische Konstrukt eines eigenständigen und zugleich homogenen Umgangs mit der rhetorischen Disziplin. Dass der Ausdruck ‚Tübinger Rhetorik‘ – wie viele ähnliche – auch und vielleicht zuerst der Name einer (nun vielleicht abgeschlossenen) Kampagne im Ausdifferenzierungskampf der akademischen Disziplinen war, versteht sich, wird doch die Tübinger Mischung aus historischer und theoretischer Forschung auch anderswo praktiziert. Und wer heute einen Text von Walter Jens und morgen einen anderen von Gert Ueding liest, wird kaum behaupten, dass es ihm nicht gelänge, die beiden eigenständigen Forscher an ihrem Denk- und Sprachstil auseinander zu halten. Bei positiven Adjektivattributen wie Theologische oder Tübinger Rhetorik haben wir es, das bleibt zu konstatieren, mit Amplifikationen zu tun, von denen man sich zu guter Letzt einen Werbeeffekt für die rhetorische Disziplin insgesamt versprach oder noch immer verspricht. Mit näheren Bestimmungen wie ‚Theologische Rhetorik‘ versehene Rhetoriken bezeichnen dabei in der Regel durchaus wohl begründete und sinnvolle interdisziplinäre Ausdehnungen des Rhetorischen. Problematischer ist die rhetorisch amplifizierende Funktion von Rhetorik-Attribuierungen oft aber in Genitivmetaphern. Die heute eingebürgerte Rede von einer ‚Rhetorik des Bildes‘ gehört zu den frühesten Übertragungen rhetorischer Methoden auf sachfremde Gebiete. Auch Bilder überzeugen. Doch mit gleichem Recht entstanden konkurrierende Metaphern: Die Rede war von einer Grammatik, Semiotik, Hermeneutik, Ikonologie oder Philosophie des Bildes. Die Grenzen erschienen dabei fließend, Roland Barthes ‚Rhetorik des Bildes‘, die Analyse einer Teigwaren-Anzeigenwerbung, war eine Semiotik mehr als eine Rhetorik des Bildes. Der rhetorische Charakter der Genitivattribute wurde dort besonders deutlich, wo sie als Chiasmen auftraten: „Rhetorik der Werbung“ und „Werbung der Rhetorik“ zum Beispiel. Der Erkenntnisgewinn solcher Genitivattribute ist fraglich, spätestens wenn wie hier die Vermengung von Rhetorik und Wissen-

13

(Hg.): Eine illegitime Kunst. Die sozialen Gebrauchsweisen der Fotografie. Frankfurt a.M.: Europäische Verlagsanstalt 1981, S. 137–163; Dieter Urban: Kauf mich! Visuelle Rhetorik in der Werbung. Stuttgart: Schäffer-Poeschel 1995. Chaim Perelman u. Lucie Olbrechts-Tyteca: Traité de l’argumentation: La nouvelle rhétorique. Paris: Presses Universitaires 1958.

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schaft offensichtlich wird, droht allenthalben Generalisierung statt Differenzierung. Die Implikationen derartiger Attribuierungen, oder sagen wir: deren Glücksversprechen, sind nicht selten weder logisch noch empirisch zu erfüllen. Am Endpunkt der hier beschriebenen Entwicklung stand eine teilweise unübersichtliche Diffundierung des Rhetorischen im Metaphorischen: „Rhetorik der Entartung“14, „Rhetorik der Exklusion“15, „Rhetorik der Innerlichkeit“16, „Rhetorik der Filmsynchronisation“17, „Rhetorik der Empfindsamkeit“18 oder „Rhetorik der Immunität“19. Jedes Gesprächsthema, jeder Charakterzug schien plötzlich prädestiniert für eine eigene Rhetorik, wodurch die Disziplin sich in rasendem Tempo geradezu multiplizierte. Teils war diese Entwicklung eine Bereicherung, teils eine Gefahr für die Rhetorikforschung. Anfängliche Übertreibungen wurden zurückgenommen und im Ergebnis die rhetorische Erkenntnis befördert. „Die Rhetorik des Geldes“20, von der in diesem Band ebenfalls die Rede ist, wäre ein Beispiel dafür. Für das poststrukturalistische Philosophieren über das Wesen des Geldes stehen heute viele, nur noch im entfernten Sinne auch rhetorische Spekulationen: Geld als Tauschmittel, Vertrag, Zeittechnologie oder Wirtschaftsmotor.21 Was zunächst als umfassende Philosophie des Geldes in Angriff genommen wurde, konnte daher auch nur am Rande, aber immerhin fruchtbar die im engeren Sinne rhetorische Forschung inspirieren. So untersuchte Gottfried Gabriel in seinem Buch „Logik und Rhetorik des Geldes“ die visuellen Symbole, die Bild-, Schrift- und Materialrhetorik des Geldes unter rhetorischen Aspekten – auch oder gerade jenseits der von Jochen Hörisch postulierten (erotischen, psychologischen, kryptoreligiösen, etc.) ‚Tiefenschichten‘ des Geldes.22 14

15

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18

19

20 21

22

Céline Kaiser: Rhetorik der Entartung. Max Nordau und die Sprache der Verletzung. Bielefeld: Transcript 2007 (= Lettre). Sina Farzin: Die Rhetorik der Exklusion. Zum Zusammenhang zwischen Exklusionsthematik und Sozialtheorie. Weilerswist: Velbrück 2010. Gernot Müller: Kleists Rhetorik der Innerlichkeit. In: Studia Neophilologica 58,2 (2008), S. 231–242. Guido Marc Pruys: Die Rhetorik der Filmsynchronisation: wie ausländische Spielfilme in Deutschland zensiert, verändert und gesehen werden. Tübingen: Gunter Narr 1997 (= Medienbibliothek, Serie B, Bd. 14). Antje Arnold: Rhetorik der Empfindsamkeit. Unterhaltungskunst im 17. und 18. Jahrhundert. Berlin u.a.: De Gruyter 2012. Martin von Koppenfels: Flauberts Hand. Zur Rhetorik der Immunität. In: Eckart Goebel, Eberhard Lämmert (Hg.): „Für Viele stehen, indem man für sich steht“: Formen literarischer Selbstbehauptung in der Moderne. Berlin: Akademie Verlag 2004, S. 83–105. Gottfried Gabriel: Logik und Rhetorik des Geldes. Stuttgart: fromann-holzboog 2002. Vgl. dazu die Rekonstruktionen von Nadja Gernalzick: Kredit und Kultur: Ökonomie- und Geldbegriff bei Jacques Derrida und in der amerikanischen Literaturtheorie. Heidelberg: Winter 2000. Jochen Hörisch: Gott, Geld, Medien – Studien zu den Medien, die die Welt im Innersten zusammenhalten. Frankfurt: Suhrkamp 2004.

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Oder greifen wir das Beispiel einer ‚Rhetorik des Designs‘ heraus:23 Eine entscheidende Differenz zwischen Design und Rhetorik bleibt die Wirkungsintention. Das Design von Möbelstücken folgt zunächst nicht einer ästhetischen oder gar rhetorischen Wirkungsabsicht, sondern ihrer praktischen Funktion. Die Armlehnen eines Stuhls stützen die Arme des Sitzenden. Eine über diese praktische Anwendung hinausgehende Wirkungsfunktion kann nicht grundsätzlich vorausgesetzt werden. Nur selten will Design den Betrachter von irgendetwas überzeugen und erfüllt damit die Grundvoraussetzung rhetorischer Zeichenhaftigkeit. Ohne Wirkungsabsicht aber ist auch die Rede von Rhetorik wenig sinnvoll. Wenn wir zum Beispiel einen Stahlrohr-Stuhl von Marcel Breuer nehmen, können wir zumindest an emotionale Wirkungsdispositionen wie die Evokation von Virilität oder Askese denken, bei einem Stuhl von Charles Eames umgekehrt von Feminität und Wollust. Doch bleiben solche sekundären Zuschreibungen durch den Rezipienten letztlich willkürlich, es sind Interpretationen, weil Stühlen im Unterschied zur Sprache die konventionelle Semantik und wohl letztlich sogar die Zeichenhaftigkeit fehlen. Verwendet zum Beispiel Eames für seine feminin geformten Stühle das in den 1970er Jahren beliebte Material Fiberglass, so weckt er wie Breuer mit seinen Stahlrohren die Assoziation von Kälte (gegenüber den ‚wärmeren‘ Holzstühlen). Sie stünde in einem gewissen Widerspruch zur Weiblichkeit der Formgebung. Sprechen wir von Wirkung ohne Intention, können wir einem kochenden Topf Wasser Bösartigkeit unterstellen, sobald sich ein Mensch die Finger daran verbrennt. Die Überzeugungsleistung von Design ist deshalb so partikulär und limitiert, weil sie lediglich auf oberflächenästhetischen Details beruhen kann. Unterschwellig lautet die Botschaft all dieser oberflächenästhetischen Details nur: finde mich schön, kaufe mich, nutze mich! Design weckt zwar bisweilen über diese drei Rudimentärbotschaften hinaus weitere partikuläre Assoziationen, so etwa die Tannenbaum-Typografie die Assoziation von Konservativität. Die Typografie als Form ersetzt aber bei allen Bedeutungszuschreibungen nicht die in ihr oder durch sie transportierten konventionellen Bedeutungs- und Überzeugungsleistungen. Eine Analyse der Typografie anstelle der durch sie transportierten Inhalte ist deshalb sogar vergleichbar mit der semantischen Interpretation von phonetischen Strukturen in Gedichten, wie sie Roman Jakobson vergeblich zu etablieren suchte:24 Auch die Semantisierung des Designs ist in der Regel als spekulativ zu entlarven. Eine rhetorische Analyse von Design (zumindest im engen Sinn verstanden als ästhetische Form, und nicht etwa als Träger-Medium eigenständiger Inhalts- und Funktionselemente) läuft 23

24

Vgl. Gesche Joost u. Arne Scheuermann (Hg.): Design als Rhetorik. Grundlagen, Postitionen, Fallstudien. Basel: Birkhäuser 2008. Vgl. dazu Hendrik Birus, Sebastian Donat u. Burkhard Meyer-Sickendiek (Hg.): Roman Jakobsons Gedichtanalysen. Eine Herausforderung an die Philologien. Göttingen: Wallstein 2003 (= Münchener Komparatistische Studien, Bd. 3).

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deshalb Gefahr, sich im Spannungsfeld zwischen Affektrhetorik und Interpretation zu verlieren, ähnlich wie schon Johann Wolfgang Goethe den Ausdrucksformen der Natur eine tiefere Bedeutung zu verleihen suchte.

5. Rhetorik der Werbung Auch der Begriff Werbung hat zunächst einmal nichts mit Rhetorik zu tun, er bezeichnet eine Form der stärker noch visuellen als sprachlichen Kommunikation und dann eine Form moderner Massenkommunikation. Wir sprechen von Werbung, abgesehen von Einzelbeispielen und Sonderfällen, im Grunde genommen erst seit der Entstehung der Massenprintmedien. Nicht der Druck in Blei-, Kupfer- oder Messinglettern, sondern erst die ‚Chemische Druckerey‘, heute besser bekannt als Lithografie, bezeichnet den Beginn der modernen Werbekultur. Der scheinbare Tod der Rhetorik, offiziell deklariert spätestens 1812, geht also intrikaterweise Hand in Hand mit der Entwicklung der Massenpresse und damit der modernen Werbung. Die Werbung könnte der rechtmäßige, vielleicht einzig wahre Erbe des Verstorbenen sein. Zumal die Werbung Rhetorizität auf die Spitze treibt, und nur einen dem Gesetz geschuldeten, minimalen Wahrheitsanspruch auf die von ihr gemachten Aussagen erhebt. Priorität der Überzeugung und der Wirkung vor der Wahrheit und Priorität der Topik vor der Logik; das gilt für die Werbung genauso wie für die Rhetorik. Dennoch bleibt zu fragen, wie der Rhetorikforscher sich dem Phänomen „Werbung“ am besten nähern sollte, und auch: warum er (oder sie) es so selten tut. Isabelle Lehn konstatiert in ihrer Studie zu Recht, dass sich der „Stellenwert rhetorischer Werbeforschung als äußerst gering“25 erwiesen hat. In der Tat klafft hier eine Forschungslücke: doch wie ist sie sinnvoll zu füllen? Denn es gilt: Die Werbeforschung hat längst eine eigene Sprache entwickelt, eine nahezu vollständig neue oder zumindest innovativ wirkende Terminologie. Diese Sprache bedient sich zwar nachweislich aus dem Wissensarchiv rhetorischer Kategorien, wird aber auch den veränderten Bedingungen der Kommunikation seit dem 19. Jahrhundert gerecht. Konsequenter Weise ist in der Werbeforschung nur am Rande explizit von rhetorischen Kategorien die Rede. Hier löst sich geradezu demonstrativ eine Trenddisziplin von einer Traditionsdisziplin. Allenfalls geht es im Zusammenhang mit der Gestaltung von Werbung noch um Rhetorisches. Im Übrigen ist mehr englisch als griechisch

25

Isabelle Lehn: Rhetorik der Werbung. Grundzüge einer rhetorischen Werbetheorie. Konstanz: UVK 2011, S. 12.

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oder lateinisch die Rede von Marketingplanung, Marktsegmentierung, Kaufverhalten, Targeting oder Branding. Die von Beginn an interdisziplinär angelegte Werbeforschung holt ihre Erkenntnisse aus Disziplinen wie den Sozialwissenschaften, der Psychologie, den Kommunikationswissenschaften, der Linguistik oder den Wirtschaftswissenschaften. Im derzeit meist verbreiteten multidisziplinären Buch zur Einführung in die Werbeforschung von Schweiger und Schrattenecker26 sucht man das Stichwort Rhetorik schlechterdings vergebens. Die Frage stellt sich also auch beim Kontakt mit der Werbeforschung, wie eine in den Augen vieler antiquierte Disziplin, die Rhetorik, sich im Kontext aktueller Disziplinen wieder ins Gespräch bringen kann, ohne auf die Vertreter der Werbeforschung nur so wirken, als wolle hier eine Nischendisziplin die nach ihr entstandenen Forschungsfelder sprachspielerisch zurückerobern – durch Neudefinitionen und Begriffskonversionen, durch den Versuch, die Wissenschaftsgeschichte von hinten her noch einmal aufzurollen, als hätte sich nicht eine Erkenntnis aus der anderen ergeben, als wären manche Erkenntnisse – bildlich gesprochen – auf der Strecke geblieben. Ein lohnender Zugriff müsste deshalb – so wäre zumindest zu überlegen – prioritär auf historisch vergleichender Ebene ansetzen, das heißt: Die Herkunft und Entwicklung der neuen Disziplinen wäre zunächst vor dem Hintergrund der Rhetorikgeschichte historisch zu rekonstruieren. Erst wenn uns diese Herleitung in kultur- und formgeschichtlicher Hinsicht noch besser gelingt, können auch die offenen Fragen der Terminologie und der Bild-Text-Analyse gezielter erforscht werden. Fragen also wie jene nach dem historischen Transfer zwischen der Rhetorik und der Werbung im 19. Jahrhundert sollten uns im Augenblick dringender beschäftigen als etwa die werbetheoretische Definition des Rhetorischen oder die rhetorische Definition werbetheoretischer Annahmen. Liegt nicht im Historischen letztlich sogar das Proprium der Rhetorik gegenüber den empirischen Wissenschaften? Die Rhetorik mit ihrer langen Tradition könnte der Werbeforschung historische Impulse geben. Denkbar ist aber auch der umgekehrte Weg: Die traditionelle Sprache der Rhetorik wäre zu erweitern um jene Kategorien, für die sie bislang noch keinen Integrationsbedarf gesehen hat. So würde die Rhetorik von der Werbetheorie profitieren. Beide Wege wurden bis heute nicht konsequent beschritten. Sogar die verdienstvolle Arbeit von Lehn,27 die den ersten Weg zum ersten Mal sehr konsequent verfolgt, und die herkömmliche rhetorische Begrifflichkeit für die Werbetheorie fruchtbar zu machen sucht, will dieses Problem nicht endgültig gelöst haben, bescheiden spricht sie im Unterti26

27

Günther Schweiger u. Gertraud Schrattenecker: Werbung: eine Einführung. 8. überarb. u. erw. Aufl. Konstanz: UVK-Verlagsges. 2012. Isabelle Lehn: Rhetorik der Werbung: Grundzüge einer rhetorischen Werbetheorie. Konstanz: UVK 2011.

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tel von „Grundzügen einer rhetorischen Werbetheorie“. Sie leistet aber eigentlich mehr, sie identifiziert weitreichend, und weit über die restringierte Figurenlehre hinaus, mögliche rhetorische Inspirationsquellen oder Erklärungsansätze für die Werbetheorie. Dass sich das gegenseitige Wechselverhältnis zwischen Rhetorik und verwandten Disziplinen derzeit auf wenige Impulse beschränkt, liegt eher im Problem der wissenschaftsgeschichtlichen Paradigmenbildung begründet, als in der Sache. Es ist nicht anzunehmen, dass die Werbetheorie sich von der Rhetorik in ihrer Diktion beeinflussen ließe, oder diese gar unbesehen übernähme, dazu ist die historische Distanz zu groß. Bei allen Synonymien im Vergleich der rhetorischen und der werbetheoretischen Begrifflichkeiten triften die Begrifflichkeiten auf der Ebene der Bezeichnung denkbar weit auseinander. Es ist nicht anzunehmen, dass nach dem eventuellen Studium der rhetorischen Beiträge zur Werbeforschung in den Werbebüros der Welt künftig von der Elocutio des Fließtextes oder vom Ethos des Werbeziels die Rede sein wird. Wenn wir den Werbern erzählen, dass ihre Werbeplanung analog zur inventio der Rhetorik sich gestalte, oder dass die emotive Werbewirkung dem pathos der antiken Rhetorik entspreche, ist es sogar beinahe voraussehbar, wie die Kreativen der Werbung nur freundlich mit den Schultern zucken. Ich hatte eingangs eine Analogie zwischen den künftigen Wegen der rhetorischen Forschung und der Tontechnik evoziert. Diese Analogie mag als Gleichnisrede noch einleuchten, erklärt aber die Zukunft der Rhetorik nicht mittels sachlicher Argumente. Hier müssen wir deutlicher werden: Die Rhetorik ist auch künftig, sei es als Kulturform, sei es als Wissenschaft, sei es als Technik, auf Amplifikation angewiesen. Die rhetorische Wissenschaft bestimmt dabei, welche rhetorische Sachverhalte der Untersuchung Wert sind. Eine weitere Ausdehnung der rhetorischen Wissenschaft jedoch, die über das im Historischen Wörterbuch der Rhetorik abgesteckte Gebiet hinausginge, ist stets mit Vorsicht zu genießen, wenn nicht aus der Verstärkung Verzerrung werden soll. Es ist in jedem Fall Rechenschaft darüber abzulegen, ob sich die Ausdehnung nicht nur rhetorischen Techniken der Amplifikation im unproduktiven Sinn verdankt, ob sie nicht nur in Analogien, Beispielen, Gegensätzen oder Synonymen über Bekanntes spricht. Die Rhetorik ist keine Übersetzungswissenschaft, sondern eine eigenständige Theorie- und Praxisleistung. Sie verfügt über genuine Gegenstände, Fragestellungen und Methoden und kann nur in konstruktiver Konkurrenz und Kollaboration mit benachbarten Fachgebieten neue Gegenstände, Fragestellungen und Methoden hinzugewinnen.

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Literatur Arnold, Antje (2012): Rhetorik der Empfindsamkeit. Unterhaltungskunst im 17. und 18. Jahrhundert. Berlin u.a.: De Gruyter. Barthes, Roland (1964): Rhétorique de l’image. In: Communications 4 (1964), S. 40–51 (dt. Rhetorik des Bildes. In: Ders.: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005, S. 28–46. Birus, Hendrik, Sebastian Donat u. Burkhard Meyer-Sickendiek (Hg.) (2003): Roman Jakobsons Gedichtanalysen. Eine Herausforderung an die Philologien. Göttingen: Wallstein (= Münchener Komparatistische Studien, Bd. 3). Boltanski, Luc (1981): Die Rhetorik des Bildes. In: Pierre Bourdieu u. a (Hg.): Eine illegitime Kunst. Die sozialen Gebrauchsweisen der Fotografie. Frankfurt a.M.: Europäische Verlagsanstalt, S. 137–163 Burke, Kenneth (1931): Applications of the Terminology. In: Counter-Statement. New York: Harcourt, Brace and Company. Berkeley: University of California Press 1968, S. 184–212. Dockhorn, Klaus (1966): Rez. v. H.-G. Gadamer ‚Wahrheit und Methode‘, Göttingische Gelehrte Anzeigen 218. Farzin, Sina (2010): Die Rhetorik der Exklusion. Zum Zusammenhang zwischen Exklusionsthematik und Sozialtheorie. Weilerswist: Velbrück. Gabriel, Gottfried (2002): Logik und Rhetorik des Geldes. Stuttgart: fromann-holzboog. Genette, Gerhard (1970): Die restringierte Rhetorik . In: Anselm Haverkamp (Hg.): Theorie der Metapher. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. 2. Aufl. 1996, S. 229–252. Gernalzick, Nadja (2000): Kredit und Kultur: Ökonomie- und Geldbegriff bei Jacques Derrida und in der amerikanischen Literaturtheorie. Heidelberg: Winter. Günther Schweiger u. Gertraud Schrattenecker (2012): Werbung: eine Einführung. 8. überarb. u. erw. Aufl. Konstanz: UVK-Verlagsges. Hörisch, Jochen (2004): Gott, Geld, Medien – Studien zu den Medien, die die Welt im Innersten zusammenhalten. Frankfurt: Suhrkamp. Joost, Gesche u. Arne Scheuermann (Hg.) (2008): Design als Rhetorik. Grundlagen, Positionen, Fallstudien. Basel: Birkhäuser. Kaiser, Céline (2007): Rhetorik der Entartung. Max Nordau und die Sprache der Verletzung. Bielefeld: Transcript (= Lettre). Koppenfels, Martin von (2004): Flauberts Hand. Zur Rhetorik der Immunität. In: Eckart Goebel, Eberhard Lämmert (Hg.): „Für Viele stehen, indem man für sich steht“: Formen literarischer Selbstbehauptung in der Moderne. Berlin: Akademie Verlag, S. 83–105. Kopperschmidt, Josef (Hg.) (2000): Rhetorische Anthropologie: Studien zum Homo rhetoricus. München: Fink. Lehn, Isabelle (2011): Rhetorik der Werbung: Grundzüge einer rhetorischen Werbetheorie. Konstanz: UVK. Luther; Martin: Weimarer Ausgabe, 40,1; 463,9–464,2. Müller, Adam (1812/1816): Zwölf Reden über die Beredsamkeit und deren Verfall in Deutschland. Müller, Gernot (2008): Kleists Rhetorik der Innerlichkeit. In: Studia Neophilologica 58,2 (2008), S. 231–242. Oesterreich, Peter L. (1990): Fundamentalrhetorik. Untersuchungen zu Person und Rede in der Öffentlichkeit. Hamburg: Meiner 1990 (Paradeigmata, 11). Otto, Gert (1986): Grundlegung de praktischen Theologie. München. Perelman, Chaim u. Lucie Olbrechts-Tyteca (1958): Traité de l’argumentation: La nouvelle rhétorique. Paris: Presses Universitaires.

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Urs Meyer

Pruys, Guido Marc (1997): Die Rhetorik der Filmsynchronisation: wie ausländische Spielfilme in Deutschland zensiert, verändert und gesehen werden. Tübingen: Gunter Narr (= Medienbibliothek, Serie B, Bd. 14). Schlüter, Barbara (2000): Rhetorik für Frauen. Wir sprechen für uns. 6. Aufl. München: LangenMüller. Schmidt-Haberkamp, Barbara: Rhetorizität (2007). Moderne und Postmoderne ab 1970. In: Gert Ueding (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 8, Tübingen: Niemeyer, S. 219–221. Ueding, Gert (Hg.) (1992–2011): Historisches Wörterbuch der Rhetorik. 10 Bde. Tübingen: Max Niemeyer/De Gruyter. Urban, Dieter (1995): Kauf mich! Visuelle Rhetorik in der Werbung. Stuttgart: Schäffer-Poeschel.

Michael Erler

Anstatt eines Nachworts Götteropfer

„Spaß ist gebildeter Übermut.“ (Aristoteles) Ich bin gebeten worden, für die Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats einige Worte über das nun vollendete Werk des Rhetoriklexikons zu sprechen. Obgleich dies eine Ehre ist, habe ich nur mit Zögern zugestimmt. Denn ein Monument steht vor uns: das fertige Handbuch für Rhetorik. Man staunt, man wundert sich, dass heute so etwas möglich ist, im Zeitalter der Kurzfristigkeit, der Beschleunigung, der Häppchen-Publikationen. Man bewundert es, man ist sogar ein wenig stolz, dass man – als Mitglied der Beirates – am Gelingen des Werkes Anteil haben durfte, man vergisst manches Ungemach, auch als Autor, mit der jeweils gestellten Aufgabe. Stolz darf man sein, demütig, ein wenig furchtsam aber auch: Denn ein solcher Achttausender unter den geisteswissenschaftlichen Lexika, ein solches Monument der Geisteswissenschaft, wird nicht nur Bewunderung, sondern wohl gerade deswegen auch Missgunst, ja Neid erwecken – und dies nicht nur bei den Menschen. Die langjährige Lektüre antiker Texte hat mich gelehrt: Es sind die Götter, die solchen menschlichen Produkten großer Vollkommenheit, die dem Glück ihrer Autoren und Herausgeber mit Argwohn gegenüberstehen, die sofort fragen: „Und wo bleiben wir? Wo bleiben die Opfer für uns?“ Was geschieht, wenn Götter sich um Opfer betrogen wähnen, das hören wir bei Homer in der Ilias, bei Aristophanes in den Vögeln, das schildert Lukian aus Sicht der Götter. Opfer also werden verlangt, die uns Menschen, die als unvollkommene Wesen das Vollkommene geschaffen haben, weniger glücklich scheinen lassen. Deshalb wurde bei großen Bauwerken, wie der Brücke von Arta im Epirus, eine Frau eingemauert, wie wir in dem berühmten Gedicht lernen; deshalb haben Architekten wie der Baumeister des Kölner Domes ihr Meisterwerk nicht selten mit dem Leben bezahlt, deshalb gibt es die Opfer immer dann, wenn wir die die Götter mit Vollkommenheit herausfordern. Dies alles also ging mir durch den Sinn, als ich gebeten wurde, meinem Glück – meiner Eudaimonia – über das vollendete Erscheinen des Werkes Ausdruck zu verleihen. Also begann ich zu suchen, in der Hoffnung, etwas zu finden, was die Götter besänftigen könnte. Wo gibt es Unvollkommenheit in diesem Werk, wo

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habe ich die Chance, unglücklich zu sein, als Mitarbeiter, aber auch als Rezipient, auf dass dieser Neid der Götter besänftig werde? So begann ich in dem Werk zu blättern, wie so oft, diesmal jedoch nicht Rat und Belehrung suchend, sondern in der Hoffnung, enttäuscht zu werden, im Wunsch, ein Defizit zu finden, das ich den Göttern als Beweis für die Unvollkommenheit des Werkes und damit als Beleg anbieten könnte, dass es deshalb um meine Eudaimonia doch nicht so gut bestellt sei. So las ich, doch meine Verzweiflung wuchs von Band zu Band: Kein U-Boot konnte ich entdecken, keinen nihil Artikel wie sie bisweilen in große Lexika eingebaut sind – kein Fehler, nichts Langweiliges, nur Anregendes, Aufregendes, Belehrendes, Sachliches, bisweilen sogar Überraschendes. Kurz: alles, was man von einem hervorragendem Lexikon erwartet, was meine Eudaimonie nur steigern konnte und was deshalb meine Demut als eines derjenigen, die an dem Werk beteiligt waren, nicht gerade förderte. Schon fühlte ich Resignation, schon sann ich darüber nach, wie ich als letzten Schritt wie weiland Polykrates durch ein Selbstopfer den Zorn der Götter gleichwohl noch abwenden könnte. Doch da geschah es: Im letzten, dem Ergänzungsband stieß ich auf eine Stelle, die mich aufschrecken ließ, die mich erschütterte, ja die mich empörte. Mit großer Erwartung, ja wiederum mit verbotenem Glück las ich als geborener Kölner mit gewissen Erfahrungen in Sachen Karneval den Artikel ‚Büttenrede‘, freute mich auch hier an Anamnese, stellte sogar fest, dass sogar neue Information in die Seele gelangen kann – Platon möge mir verzeihen. Doch dann musste ich das Kapitel ‚Hochsprache oder Dialekt‘ lesen. Vielversprechend, auch hier hebt der Verfasser an: „Während der Kokolores-Vortrag eher Dialekt verlangt, ist der politisch -literarische Vortrag tendenziell an der Hochsprache ausgerichtet.“ Dies schien mir plausibel, entsprach es auch meinen Erfahrungen. Und richtig schien mir auch, wenn der Autor fortfährt: „Bei Fernsehübertragungen gilt es zu berücksichtigen, dass die Verständlichkeit für alle Zuschauer eines Sendegebietes gewährleistet sein muss.“ Wer wollte dies bestreiten? Doch dann versteigt sich der Autor zu folgender Bemerkung: „So wird der Erfolg des Mainzer Fernsehkarnevals auch auf den im Vergleich zu Köln gefälligeren Dialekt zurückgeführt.“ „Auf den im Vergleich zu Köln gefälligeren Dialekt?“ Hier nun verschlug es mir die Sprache, der man bisweilen einen gewissen kölschen Tonfall nachsagt. Ja, hat denn der Autor nie den herrlichen Wohlklang eines Liedes von BAP, eines Songs der Höhner vernommen, hat er nie Tünnes und Schäl gehört, nie auf den knarrenden Sitzen des Hänneschen-Theaters gesessen? Ja hat denn der Autor nicht das für Verständnis und den Wohlklang des kölnischen Dialektes erhellende und grundlegende Werk von Beikircher ‚Es kütt wie et kütt‘ studiert – wie es seine Pflicht gewesen wäre, wenn er ein solches Urteil abgeben will? Kurz: ich fühlte, wie ein homerischer Held, den Thymos in mir hochsteigen, versuchte, mich gut epikurisch durch Reflexion auf meine Situation zu beruhigen. Vermutlich war

Anstatt eines Nachworts

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ich durch den erneuten Abstieg des FC Köln übersensibilisiert und sollte nicht überreagieren – doch half dies wenig. Bis, ja bis ich mich auf den Grund besann, warum ich denn angefangen hatte, das Werk erneut zu durchstöbern. Und plötzlich verstand ich: die Bemerkung des Verfassers des Büttenredeartikels – wissenschaftlich angeblich belegt durch einen Artikel von G. Schenk (‚Mainz wie es singt du lacht Fastnacht im Fernsehen – Karneval für Millionen 2004, 29‘) – suggeriert zwar wissenschaftliche Ersthaftigkeit, war aber so himmelschreiend und offensichtlich falsch und eine derartige Fehleinschätzung (der Mainzer Dialekt, gefälliger als der Kölner), dass ich erkannte: hier war genau das, was ich suchte, jenes Defizit, das aus einen Monument ein menschliches Werk machte, welches eben auch Problematisches birgt, jenes Defizit, was den Neid der Götter besänftigen sollte und besänftigen wird. Und so schwand mein Zorn über Ignoranz, ja es befiel mich Bewunderung und Dankbarkeit gegenüber dem Autor: Denn dieses Urteil ist so unsinnig, dass Absicht dahinter vermutet werden muss. Da wurde mir klar: Dem Verfasser ging es offensichtlich so wie mir: auf der Suche nach Defiziten nicht fündig geworden, hat er sich offensichtlich entschlossen, eine Unwahrheit, also ein Defizit, eine Fehleinschätzung in das Lexikon einzubauen – also ein Opfer zu bringen, das wir alle bringen müssen, um den Neid der Götter von Vollkommenheit abzulenken. Vorausgesetzt freilich, zu den homerischen Göttern gehört kein Mainzer, der hier gar kein Defizit sähe – doch das ist nicht zu erwarten und auch bei Homer nicht belegt. In voller Dankbarkeit also, angemessen unglücklich und deshalb stolz, gratuliere ich uns allen zur Fertigstellung dieses Opus Maximum.