Prinzipien und Wege der Entwicklung der Psychologie [2. berichtigte Auflage, Reprint 2021] 9783112570128, 9783112570111


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German Pages 296 [302] Year 1969

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Prinzipien und Wege der Entwicklung der Psychologie [2. berichtigte Auflage, Reprint 2021]
 9783112570128, 9783112570111

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S. L. R U B I N S T E I N

Prinzipien

und Wege der Entwicklung

der

Psychologie

S. L. RUBINSTEIN

PRINZIPIEN UND WEGE DER ENTWICKLUNG DER PSYCHOLOGIE

2. berichtigte Auflage

AKADEMIE-VERLAG • BERLIN 1969

G. JI. PyBHHUITEftH IIpHHqnnii h nyTH pasBHTHH ncHxonorHH Herausgegeben vom Verlag der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, Moskau 1959 Aus dem Russischen übersetzt von Peter G. Klemm, Berlin

Erschienen im Akademie-Verlag GmbH. 108 Berlin, Leipziger Straße 3—4 Copyright 1963 b y Akademie -Verlag GmbH Lizenznummer: 202 • 100/563/69 Herstellung: IV,'2/14 V E B Wcrkdruck, 445 Gräfenliainiehen • 3180 Bestellnummer: 5491 • E S 3 C 1

INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort

7

A. Fragen der Theorie 1. Allgemeine Probleme a) Uber die Stellung des Psychischen im Gesamtzusammenhang der Erscheinungen der materiellen Welt b) Fragen der psychologischen Theorie

9 22

2. Uber die Empfindung Einige philosophische Probleme der Empfindungstheorie und das Prinzip des Determinismus

39

3. Über das Denken a) Das Prinzip des Determinismus und die psychologische Denktheorie . . . b) Denken, Sprache und Sprechen

46 89

4. Uber die Persönlichkeit Das Prinzip des Determinismus und das Persönlichkeitsproblem a) Das Persönlichkeitsproblem ß) Probleme der Erziehung

102 102 120

5. Uber das Bewußtsein a) Zwei Betrachtungsweisen des Bewußtseinsproblems b) Grundthesen der Bewußtseinstheorie

125 132

6. Uber die psychologische Erkenntnis Zum Problem der psychologischen Methoden B. Fragen der

140

Geschichte

1. Allgemeine Probleme a) Über die philosophischen Grundlagen der Psychologie. Die Marxschen Frühschriften und die Probleme der Psychologie b) Lenins „Materialismus und Empiriokritizismus" und die Reflextheorie . . c) Die Reflextheorie I. M. Setschenows und I. P. Pawlows

158 176 184

6

Inhaltsverzeichnis 2. Aus der Geschichte unserer nationalen Psychologie a) Der Kampf um die Reflextheorie I. M. Setschenows in der Geschichte der russischen Psychologie

201

b) Das Problem der Beziehungen zwischen Bewußtsein und Tätigkeit in der Geschichte der Sowjetpsychologie

208

3. Aus der Geschichte der ausländischen Psychologie a) Der Machismus und die Krise der Psychologie. Das Problem des Bewußtseins und Verhaltens in der ausländischen Psychologie a) Der Machismus und der Beginn der Krise der Bewußtseinspsychologie . ß) Behaviorismus und Neorealismus y) Pragmatismus, Semantik und „Sozialbehaviorismus" (5) Der Neobehaviorismus Tolmans (Behaviorismus und Introspektion) . .

214 214 223 233 240

b) Das Problem des Individuellen und Gesellschaftlichen im Bewußtsein des Menschen (Die psychologische Konzeption der französischen soziologischen Schule)

258

c) Uber das sogenannte „psychophysische Problem" in der Geschichte der ausländischen Philosophie und Psychologie Schlußwort Namenregister Sachregister

277 287 289 292

VORWORT

Das vorliegende Buch hängt eng mit meiner unlängst erschienenen Arbeit „Sein und Bewußtsein" zusammen. Die dort entwickelten Prinzipien und speziell das Prinzip des Determinismus in seiner dialektisch-materialistischen Interpretation habe ich in dieser neuen Arbeit auf einige Grundprobleme angewandt. Das Buch „Prinzipien und Wege der Entwicklung der Psychologie", das ich dem Leser mit der Bitte um wohlwollende Aufmerksamkeit übergebe, besteht aus zwei Teilen. Der erste Teil des Buches umfaßt solche grundlegenden und philosophisch-weltanschaulich bedeutsamen Probleme wie die Stellung der psychischen Erscheinungen im allgemeinen Zusammenhang der Erscheinungen der materiellen Welt, das Wesen der Empfindung und des Denkens sowie das Persönlichkeits- und Bewußtseinsproblem. Die Darstellung der Mehrzahl dieser Probleme hat ein gemeinsames theoretisches Kernstück: die dialektisch-materialistische Interpretation der Determination psychischer Erscheinungen. Im zweiten Teil des Buches werden prinzipielle Probleme, die die philosophischen Grundlagen sowie die naturwissenschaftlichen Voraussetzungen der Psychologie betreffen, in ihren historischen Erscheinungsformen betrachtet. Dieser Teil des Buches besteht aus einzelnen Studien. Es liegt eine gewisse objektive Logik darin, daß der Verfasser mit einer Analyse der psychologischen Ansichten von Karl Marx beginnt, dann, von Lenins „Materialismus und Empiriokritizismus" ausgehend, zur reflektorischen Konzeption I. M. Setschenows und I. P. Pawlows überleitet und sich anschließend der Sowjetpsychologie zuwendet, von deren Standpunkt aus dann schließlich einige Richtungen der ausländischen Psychologie des 20. Jahrhunderts und deren Grundprobleme analysiert werden. Hauptziel des Buches ist es, die Grundthesen zu popularisieren, zu denen ich auf Grund meiner bisherigen Arbeiten gelangt bin (von denen einige hier auch unmittelbar herangezogen werden). Ich hoffe, daß dieses Buch bei einem größeren Leserkreis Verständnis finden wird als meine bisherigen Arbeiten, vor allem bei der Jugend, die sich für die Psychologie interessiert und sie studiert. Zur Entwicklung der Wissenschaft beizutragen ist eine gute Sache, aber nicht minder wichtig ist es, die Wissenschaft den Menschen nahezubringen. Zur Lösung dieser beiden Aufgaben beizutragen - und sei es auch nur in bescheidenem Maße — ist mein größter Wunsch. S. Rubinstein

A. FRAGEN DER THEORIE

1. Allgemeine Probleme a) Über die Stellung

des Psychischen

im Gesamtzusammenhang

nungen der materiellen

der

Erschei-

Welt

Die Beziehung des Bewußtseins, des Denkens, überhaupt der psychischen Erscheinungen, zur materiellen Welt ist eines der schwierigsten und akutesten Probleme, wenn nicht gar überhaupt das schwierigste und akuteste Problem, vor denen das menschliche Denken je gestanden hat. Eben dies Problem ist auch sei jeher und bis in unsere Tage der Brennpunkt des Kampfes der Weltanschauungen. Die Schwierigkeit des Problems liegt darin, daß das menschliche Denken, das an sich auf die Natur, die materielle Welt gerichtet ist, sich selbst zum Objekt seines Forschens machen, sein eigenes Wesen bestimmen und seine eigene Beziehung zu den anderen Erscheinungen der materiellen Welt und seine Stellung in dieser Welt ermitteln muß. Auch ist die Schwierigkeit des Problems durch die Kompliziertheit des Denkens, des Bewußtseins selbst bedingt, das ja das höchste Entwicklungsprodukt der Welt ist. Der Ursprung des Lebens, die Beziehimg zwischen lebender, organischer und anorganischer Materie sowie der Ursprung des Bewußtseins, die Beziehung der psychischen Erscheinungen, des Bewußtseins zur materiellen Welt sind im ganzen System der wissenschaftlichen Erkenntnis zwei Hauptknotenpunkte von prinzipieller Bedeutung. Von diesen beiden Problemen ist das zweite, mit Verlaub, noch schwieriger und weltanschaulich bedeutsamer als das erste. Wie bedeutsam dieses Problem ist, kann man aus dem Kampf der beiden polaren Hauptrichtungen der Philosophie, des Materialismus und des Idealismus, ersehen, die in der Geschichte des philosophischen Denkens in unterschiedlichen Formen auftreten, die jeweils mit der Entwicklung der Naturwissenschaften zusammenhängen und durch den Verlauf der sozial-historischen Entwicklung bedingt sind. Im Zusammenhang damit tritt auch das eigentliche Problem, von dem hier die Rede ist, in verschiedenen Formen oder Formulierungen auf, sei es als sogenanntes psychologisches Grundproblem, als Leib-Seele-Problem oder als Problem der äußeren und inneren Erfahrung usw. Bei der Lösung dieses Problems, ja schon bei der eigentlichen Problemstellung, fällt von Anfang an ganz natürlich die qualitative Eigenart des Psychischen, des Denkens, des Bewußtseins auf. Das Bewußtwerden dieser Eigenart führt nämlich erst dazu, daß man die Frage nach der Beziehung des Bewußtseins zur materiellen Welt aufwirft. Die einseitige Betonung dieser Eigenart hat das philosophische Denken mehr als einmal zu dem folgenschweren Versuch verleitet, das Psychische, Geistige, und

10

Theorie

das Physische, Materielle, einander gegenüberzustellen und die Welt in zwei Teile aufzuspalten. Vom Descartesschen Dualismus ging das philosophische Denken einerseits zum spiritualistischen Monismus, also zum Idealismus über und andererseits zum mechanistischen Materialismus, der die höheren Seinsformen auf die niederen zurückführte. In den letzten Jahrzehnten hat man unter der Flagge des „neutralen Monismus" im Machismus, Neorealismus und Pragmatismus versucht, Materie und Bewußtsein in der idealistisch interpretierten „ E r f a h r u n g " aufzulösen. Summa summarum war also das philosophische Denken in der nicht- und vor-marxistischen Philosophie, solange den verschiedenen Spielarten des Idealismus lediglich der mechanistische Materialismus entgegenstand, unfähig, dieses Problem zu lösen und die spezifischen Eigenarten der psychischen Erscheinungen zu erfassen, ohne diese Erscheinungen von der materiellen Welt zu isolieren. Die Frage nach der Beziehung zwischen Materie und Bewußtsein, zwischen der materiellen Welt und den psychischen Erscheinungen ist in einem Problem-Knotenpunkt konzentriert, der zunächst einmal einer Analyse bedarf. Gemäß dem dialektischen Materialismus besteht die Einheit der Welt in ihrer Materialität. Die Ontologie, als Lehre des dialektischen Materialismus vom Sein, betrachtet diese These als Grundthese. Von dieser These gehen auch diejenigen aus, die immer häufiger und immer nachdrücklicher behaupten, das Psychische sei materiell. Die Vertreter dieser Ansicht, die in der letzten Zeit in unserer philosophischen Literatur gewisse Verbreitung gefunden hat, beschränken sich auf den ontologischen Aspekt und machen sich nicht die Mühe, ihn zum gnoseologischen in Beziehung zu setzen. Andererseits behaupten diejenigen, die bei der Betrachtung des Materie-BewußtseinProblems vom gnoseologischen Aspekt ausgehen, mit vollem Recht, das Psychische sei ideell insofern, als es das Abbild eines Dinges, nicht das Ding selbst, sondern seine Widerspiegelung ist. Der Satz ist richtig. E r liefert aber keine erschöpfende Lösung des Grundproblems, solange der gnoseologische Aspekt nicht zum ontologischen, zur dialektisch-materialistischen Seinslehre, in Beziehung gesetzt wird und man nicht die Forderungen berücksichtigt, die aus ihr resultieren. Diese Forderungen bestehen in folgendem: Das Psychische als Ideelles darf nicht nach jenseits der Grenzen der materiellen Welt verlagert werden, man darf also das Ideelle nicht vom Materiellen isolieren und beides einander äußerlich, dualistisch gegenüberstellen. Der erste Schritt zur Lösung des Problems und zur Beseitigung der hier entstandenen Kollision besteht in einer Abgrenzung beider Forschungsrichtungen. Lenin hat bekanntlich darauf hingewiesen, daß es nur im Hinblick auf gnoseologische Forschungen gerechtfertigt sei, Materie und Geist einander gegenüberzustellen. „Außerhalb dieser Grenzen", so schreibt er, „mit der Gegensätzlichkeit von Materie und Geist, von Physischem und Psychischem als mit einer absoluten Gegensätzlichkeit zu operieren wäre ein gewaltiger Fehler." 1 U m schließlich zu einer endgültigen Lösung zu gelangen, muß man ferner beide Aspekte, den gnoseologischen und den ontologischen, nachdem man sie gegeneinander 1

W. I. Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus. Dietz Verlag, Berlin 1949, S. 236.

Allgemeine Probleme

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abgegrenzt hat, auch noch zueinander in Beziehung setzen und sowohl die Folgerungen berücksichtigen, die sich aus dem einen, dem gnoseologischen Aspekt, ergeben, als auch die Forderungen, die aus dem anderen, dem ontologischen, resultieren. Der Schlüssel zur Lösung des Problems liegt darin, daß, mit einem Wort Hegels gesprochen, das Lenin besonders betont, ein und dasselbe Ding sowohl es selbst als auch etwas anderes ist, insofern es in verschiedenen Zusammenhängen und Beziehungen auftritt. Konkreter heißt das: Die psychischen Erscheinungen — wie auch alle übrigen — treten in verschiedenen Systemen f ü r sie wesentlicher Zusammenhänge und Beziehungen in verschiedenen Qualitäten auf, d. h. jeweils andere Qualitäten, Eigenschaften oder Aspekte werden führend und bestimmend. Im gnoseologischen Bereich tritt das Psychische als Ideelles auf; das Ideelle ist seine führende und bestimmende Eigenschaft. Dennoch ist das Ideelle dabei keine erschöpfende Charakteristik des Psychischen und kann nicht als vollgültiges Äquivalent, das es vollständig zu ersetzen vermöchte, an seine Stelle gesetzt werden. Die psychische Tätigkeit ist als Erkenntnistätigkeit des Menschen ideell, insofern als ihr resultativer Ausdruck ein Abbild, eine Widerspiegelung der objektiven Realität ist (ideell ist also das eigentliche Abbild, die Idee). Als reflektorische Tätigkeit eines materiellen Organs, nämlich des Gehirns, ist die psychische Tätigkeit höhere Nerventätigkeit, sie ist also nicht nur psychische, sondern auch nervale Tätigkeit. Die Qualität des Ideellen behält das Psychische auch in diesem Zusammenhang von Psychischem und Nervalem, aber nicht die Gegenüberstellung von Psychischem als ideellem Abbild und materiellem Ding tritt hier als führend in den Vordergrund, sondern die Untrennbarkeit der psychischen Tätigkeit von dem materiellen Organ, dem Gehirn, und seiner materiellen Nerventätigkeit. Aber damit erschöpft sich das Problem noch nicht. Es genügt nicht, wenn man die These von dem Ideellen des Psychischen, die es im gnoseologischen Bereich charakterisiert, und die These von der Materialität der Welt als Grundlage ihrer Einheit zunächst äußerlich voneinander abgrenzt und sie dann zueinander in Beziehung setzt. Diese letztere These muß vielmehr auch berücksichtigt werden, wenn man die Widerspiegelung als ideell darstellt. Um dieser Forderung zu genügen, muß man jene im vormarxistischen Materialismus herrschende Vorstellung überwinden, daß die Widerspiegelung als unmittelbare Beziehung von Abbild und Ding zu denken sei, ohne daß man die Widerspiegelungstätigkeit des Subjektes berücksichtigte, so daß das Abbild, das Ideelle als selbständiges Glied der gnoseologischen Grundbeziehung in Erscheinung tritt. Stellt man die Widerspiegelung so dar, dann gerät man unausweichlich in die Gefahr, das Ideelle dem Materiellen dualistisch gegenüberzustellen und das erste aus dem Bereich des zweiten herauszulösen. In Wirklichkeit aber sind die primären Glieder der gnoseologischen Grundbeziehung nicht Abbild und Ding, sondern das die objektive Realität erkennende bzw. widerspiegelnde Subjekt und die objektive Realität, mit der das Subjekt in Wechselwirkung steht. Das heißt natürlich nicht, daß die Frage nach der Beziehung zwischen Abbild und Ding als solche aufgehoben wird; es bedeutet lediglich, daß sich hinter dieser Beziehung eine andere, grundlegendere und primäre verbirgt.

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Theorie

Insofern als die Widerspiegelung tatsächlich ein Prozeß der Wechselwirkung zweier materieller Realitäten ist, behält die psychische Tätigkeit, deren resultativer Ausdruck das Abbild des Dinges ist, als Erkenntnistätigkeit eines Subjektes ihren ideellen Charakter, ohne daß deshalb das Ideelle nach außerhalb der Grenzen der materiellen Welt verlagert, von ihr isoliert oder ihr gegenübergestellt würde. Die Grundthese der Ontologie des dialektischen Materialismus, daß die Grundlage der Einheit der Welt in ihrer Materialität liegt, bleibt also nach wie vor gültig. Die Interpretation der Widerspiegelung als Erkenntnistätigkeit eines Subjektes, im Verhältnis zu der das Ideelle (das Abbild, die Idee) etwas Abgeleitetes ist, und die Berücksichtigung der These, daß die psychische Tätigkeit als Erkenntnistätigkeit des Menschen und als Widerspiegelungstätigkeit des Gehirns in verschiedenen Qualitäten in Erscheinung treten kann, daß also in verschiedenen Zusammenhängen unterschiedliche Qualitäten als führend in den Vordergrund treten können, das sind die beiden ersten Voraussetzungen f ü r die richtige Lösung des Problems des Ideellen und des Materiellen, in der sowohl die Forderungen der Gnoseologie (der Erkenntnistheorie) als auch die der Ontologie (der Seinslehre) des dialektischen Materialismus vereinigt sind. Wir haben also das Ideelle als spezifischen Zug des Psychischen anerkannt. Die psychische Tätigkeit ist ideell als Erkenntnistätigkeit des Menschen, deren resultativer Ausdruck ein „Abbild" des Gegenstandes (oder der Erscheinung) ist. Zugleich haben wir uns davon überzeugt, daß die Anerkennung des Ideellen der psychischen Tätigkeit sie nicht in etwas rein geistiges verwandelt, sie nicht aus den Grenzen der materiellen Welt entfernt, das Ideelle nicht vom Materiellen isoliert und nicht das eine dem anderen gegenüberstellt. Nun liegt f ü r uns der Weg offen, um die mannigfaltigen Zusammenhänge des Psychischen bzw. des Bewußtseins mit der materiellen Welt aufzuhellen. Lassen Sie uns mit den Zügen oder Eigenschaften des Bewußtseins beginnen, die es mit der gesamten materiellen Welt gemein hat. Lenin hielt es bekanntlich durchaus f ü r logisch, die Eigenschaft der Widerspiegelung als fundamental f ü r die gesamte materielle Welt anzunehmen. Was aber ist die Widerspiegelung als allgemeine Eigenschaft der materiellen Welt, und was vermag uns die Anerkennung bzw. Berücksichtigung dieser allgemeinen Eigenschaft f ü r die Fundierung des Psychischen als Widerspiegelung zu geben? Wenn man die Widerspiegelung als allgemeine Eigenschaft der materiellen Welt bezeichnet, muß man zunächst diesem mehr bildhaften, metaphorischen Ausdruck einen exakt definierten wissenschaftlichen Sinn geben. Die Widerspiegelung als allgemeine Eigenschaft der Materie, aller Bereiche der Wechselwirkung in der materiellen Welt, besteht erstens darin, daß die äußeren Einwirkungen auch das eigentliche innere Wesen der Dinge und Erscheinungen bedingen, sich in diesem Wesen gleichsam niederschlagen, so daß jede Erscheinung alle mit ihr in Wechselwirkung stehenden Objekte durch die Resultate ihrer Einwirkungen gleichsam „repräsentiert", widerspiegelt; dabei wird zweitens jede Einwirkung einer Erscheinung auf eine andere durch die inneren Eigenschaften derjenigen Erscheinung „gebrochen",' auf die diese Einwirkung erfolgt. Das Resultat einer Einwirkung auf

Allgemeine Probleme

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eine Erscheinung oder einen Gegenstand hängt nicht nur von der einwirkenden Erscheinung bzw. dem einwirkenden Körper ab, sondern auch von der Natur, von den eigenen inneren Eigenschaften desjenigen Gegenstandes oder derjenigen Erscheinung, die dieser Einwirkung ausgesetzt ist. Alles in der Welt hängt wechselseitig zusammen und ist wechselseitig bedingt, und in diesem Sinne ist alles determiniert, aber das heißt nicht, daß alles eindeutig aus Ursachen abgeleitet werden kann, die als äußeren Anstoß, losgelöst von den inneren Eigenschaften und wechselseitigen Zusammenhängen der Erscheinungen, wirken. Diese Sätze, deren Richtigkeit von der gesamten modernen Forschungspraxis auf allen möglichen Wissensgebieten bestätigt wird, bestimmen auch den klaren und präzisen Sinn des Inhalts, den wir in den Begriff der „Widerspiegelung" als allgemeiner Eigenschaft der materiellen Welt legen. Die „Widerspiegelung", die Wechselwirkung, bei der die einen Erscheinungen durch ihre Einwirkungen in anderen repräsentiert oder widergespiegelt werden, ist ein gewisses Analogon zur psychischen Widerspiegelung. Das besagt selbstverständlich nicht, daß die Materie in ihren einfachsten Formen etwa Bewußtsein, Psyche hätte, aber es bedeutet doch, daß es in der materiellen Welt Züge gibt, die dem Bewußtsein oder der Psyche zumindest formal ähnlich sind, gewisse primäre Voraussetzungen für ihre Entwicklung. Das Bewußtsein als Widerspiegelung ist in der Welt nicht fremdartig und „alleinstehend"; auch die allereinfachsten Formen der Materie haben ihm analoge Eigenschaften, Voraussetzungen für seine natürliche und gesetzmäßige Entwicklung. Die Existenz der „Widerspiegelung" im obenerwähnten Sinne in der materiellen Welt findet ihren Niederschlag im dialektisch-materialistischen Prinzip des Determinismus, dem methodologischen Grundprinzip der wissenschaftlichen Erkenntnis psychischer Erscheinungen. Im Unterschied zum mechanistischen Determinismus, bei dem die äußeren Ursachen unmittelbar den Effekt ihrer Einwirkung determinieren, und zwar unabhängig von den eigenen Eigenschaften des Körpers oder der Erscheinung, auf die diese Einwirkung erfolgt, ist für den dialektisch-materialistischen Determinismus jede Wirkung Wechselwirkung, d. h. die äußeren Ursachen wirken über die inneren Bedingungen. Das so verstandene Prinzip des Determinismus ist eigentlich nichts anderes als der den Aufbau einer wissenschaftlichen Theorie bestimmende praktische, operative, methodologische Ausdruck des eben ermittelten wechselseitigen Zusammenhanges und der Wechselwirkung der Erscheinungen in der materiellen Welt. Wie wir ferner noch sehen werden, ist diese Interpretation des Determinismus speziell auch für die reflektorische Theorie der (Widerspiegelungs-) Tätigkeit des Gehirns und für die Theorie der Widerspiegelung in der Erkenntnistheorie entscheidend. Das allgemeine Prinzip der Wechselwirkung der Erscheinungen (die allgemeine Eigenschaft der Widerspiegelung) realisiert sich in ebenso mannigfaltigen Formen, wie die Natur der in Wechselwirkung tretenden Erscheinungen mannigfaltig ist. Die lebende Natur hat ihre spezifische Form der Widerspiegelung, nämlich die Reizbarkeit. Bei der höchstorganisierten Materie äußert sich dieses Prinzip in Form des reflektorischen Charakters der Hirntätigkeit.

14

Theorie

Reflektorische Tätigkeit ist, ganz allgemein gesprochen, Antworttätigkeit auf die Einwirkung eines Reizes, es ist jene Hirntätigkeit, die die Wechselwirkung zwischen Organismus bzw. Individuum und Umwelt bewerkstelligt. Das Reflexprinzip, das man zunächst nur auf die niederen Abschnitte des Nervensystems angewandt hatte, wurde erstmalig von Setschenow ernsthaft und mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen auch auf die Hirntätigkeit übertragen. Als Setschenow die Besonderheiten der Hirnreflexe (der „erlernten", d. h. zeitweiligen, bedingten bzw. erworbenen Reflexe) ermittelte, stellte er fest, daß sie nicht mit ein für allemal morphologisch fixierten Bahnen zusammenhängen. Er betonte vor allem, daß die Reflexe des Gehirns Reflexe „mit psychischer Komplexion" seien, der psychische Prozeß also „integraler Bestandteil" der reflektorischen Hirntätigkeit ist. Da die psychischen Prozesse zur reflektorischen Tätigkeit gehören, verlaufen sie auch nach dem Reflexprinzip. Damit reduzierte Setschenow die psychische Tätigkeit nicht auf die nervale, sondern er dehnte das reflektorische Prinzip auf die psychische Tätigkeit aus. Reflektorische Tätigkeit ist demnach gleichzeitig sowohl nervale als auch psychische Tätigkeit. Dieser Hauptgedanke wurde in der Lehre Pawlows von der höheren Nerventätigkeit weiterentwickelt. Die Erforschung der reflektorischen Tätigkeit der Analysatoren zeigt, daß bei ihrer reflektorischen nervalen Funktion gesetzmäßig auch Empfindungen entstehen, also psychische Erscheinungen. Keinesfalls darf man also die psychische Tätigkeit als angeblich ihrem Wesen nach rein geistige Funktion mit der materiellen, nervalen Tätigkeit eines materiellen Organs, nämlich des Gehirns, nur rein äußerlich in Zusammenhang bringen; das eine ist vielmehr vom anderen untrennbar. Die Anwendung des reflektorischen Prinzips auf die psychische Tätigkeit (bzw. auf die Himtätigkeit in ihrer psychischen Qualität) bedeutet, daß psychische Erscheinungen nicht durch passive Rezeption mechanisch wirkender Außenreize entstehen, sondern als durch diese Einwirkungen bedingte Antworttätigkeit des Gehirns, die der Wechselwirkung des Menschen als Subjekt mit der Umwelt dient. Die Abhängigkeit der psychischen Erscheinungen von äußeren Einwirkungen wird durch die Antworttätigkeit des Gehirns vermittelt. Die reflektorische Theorie der psychischen Tätigkeit in dieser umfassenden Interpretation ist somit nichts anderes als die Anwendung des dialektisch-materialistischen Prinzips des Determinismus auf die psychische Tätigkeit des Gehirns. Es ist nicht unmittelbar jene reflektorische Theorie, wie sie von Setschenow und Pawlow formuliert wurde, sondern vielmehr ihre mehr oder weniger weitgehende Verallgemeinerung. Die reflektorische Tätigkeit, als deren Ergebnis die psychischen Erscheinungen entstehen, beginnt mit der Einwirkung von Reizen auf den Menschen, also von Dingen und Erscheinungen der Außenwelt. Der reflektorische Charakter der psychischen Hirntätigkeit bedeutet, daß die Dinge und Erscheinungen der materiellen Welt von Anfang an am Ursprung der psychischen Erscheinungen beteiligt sind, daß die psychischen Erscheinungen in ihrer Genese mit ihnen verknüpft sind. Betrachtet man die psychischen Erscheinungen zunächst als rein subjektive Erscheinungen, dann sind alle Versuche, anschließend von außen einen Zusammenhang zur objektiven Welt herzustellen, ein müßiges Unterfangen. Nun sind aber in Wirklichkeit

Allgemeine Probleme

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die psychischen Erscheinungen von Anfang an hinsichtlich ihrer unmittelbaren Genese keine rein subjektiven Erzeugnisse der Sinnesorgane und des Gehirns; ihre Beziehung zur Welt und ihren Zusammenhang mit der Welt braucht man nicht zusätzlich herzustellen, braucht man nicht in die psychischen Erscheinungen von außen hineinzutragen. Die psychischen Erscheinungen sind ein Produkt des mit der Welt in Wechselwirkung stehenden Gehirns; also ist der Zusammenhang der psychischen Erscheinungen mit dem Gehirn auch ihr Zusammenhang mit der Welt. Das Psychische, das Bewußtsein ist „eine Funktion des Gehirns, die Widerspiegelung der Außenwelt". 2 Infolge des reflektorischen Charakters der Hirntätigkeit sind die durch die Hirntätigkeit erzeugten psychischen Erscheinungen zugleich auch eine Widerspiegelung der Welt. Die reflektorische Theorie der psychischen Tätigkeit ist das Bindeglied zwischen der einen These, nach der die psychischen Erscheinungen — hinsichtlich ihres Ursprungs - ein Produkt der Hirntätigkeit sind, und jener andern, nach der sie als Widerspiegelung der objektiven Realität anzusehen sind. Mit Entstehung der Empfindungen, also psychischer Erscheinungen, im Verlauf der reflektorischen Tätigkeit entsteht auch eine gnostische Beziehung zur objektiven Realität; die psychische Tätigkeit, die sich zunächst nur als reflektorische Hirntätigkeit dargeboten hat, zeigt sich in diesem Zusammenhang auch als Erkenntnistätigkeit des Menschen. In welcher Beziehung steht nun die Erkenntnistätigkeit des Menschen zur objektiven Realität? Die Antwort auf diese Frage gibt die Widerspiegelungstheorie des dialektischen Materialismus. Auf der Stufe der psychischen Tätigkeit als Erkenntnistätigkeit des Menschen geht die allgemeine Theorie der Widerspiegelung (d. h. die Theorie der Wechselwirkung in der obenerwähnten Interpretation), deren grundlegende allgemeine Züge im oben dargestellten Prinzip des Determinismus ihren Ausdruck finden, in die spezielle Widerspiegelungstheorie als Prinzip der Gnoseologie über. Unter „Widerspiegelung" verstehen wir nicht so sehr eine Widerspiegelung des Objektes im, Subjekt, bei der das Abbild des Objektes unmittelbar infolge der mechanischen Einwirkung des Objektes entstehen soll, das auf diese Weise im Subjekt reproduziert wird, als vielmehr eine Widerspiegelung des Objektes durch das Subjekt, bei der die Einwirkungen des Objektes durch das Subjekt gebrochen, also durch seine Tätigkeit vermittelt werden. Am allerwenigsten bedeutet Widerspiegelung einseitige Einwirkung und passive Reproduktion des Realen im Bewußtsein, im Denken, im Ideellen. Der Terminus „Widerspiegelung" fixiert zwei Sachverhalte: erstens behauptet er entgegen dem Agnostizismus die Möglichkeit einer adäquaten Erkenntnis, also der ideellen — sinnlichen oder gedanklichen — Reproduktion des Objektes, und zweitens weist er auf die Tatsache hin, daß diese Erkenntnis durch Brechung der Einwirkung des Objektes durch das Subjekt, durch seine Tätigkeit erfolgt, daß also Erkennen und Handeln untrennbar miteinander verbunden sind. Das Abbild des Dinges ist ein Resultat der Wechselwirkung von Subjekt und Objekt. Der Prozeß der „Wider2

W. I. Lenin, Materialismus..., a. a. O., S. 79.

16

Theorie

Spiegelung" folgt dem Prinzip des Determinismus in seiner obenerwähnten dialektischmaterialistischen Interpretation. Die Widerspiegelungstheorie des dialektischen Materialismus ist die Anwendung des dialektisch-materialistischen Prinzips des Determinismus auf die Erkenntnistätigkeit des Menschen, so wie die reflektorische Theorie die Anwendung desselben dialektisch-materialistischen Prinzips auf die psychische Tätigkeit des Menschen ist. Nach der Widerspiegelungstheorie wird die Erkenntnis durch das Objekt determiniert, das außerhalb und unabhängig vom Bewußtsein existiert, also unabhängig davon, wie es erkannt wird (und ob es überhaupt erkannt wird). Aber das Objekt determiniert das Resultat der Erkenntnistätigkeit nicht immittelbar, nicht mechanisch, sondern mittelbar über die objektiven Gesetzmäßigkeiten unterworfene reflektorische Hirntätigkeit, über die analytisch-synthetische Erkenntnistätigkeit des Menschen. Hinsichtlich der psychischen Tätigkeit als reflektorischer Hirntätigkeit werden die Reizwirkungen durch die Antworttätigkeit des Gehirns vermittelt. Dem analog fungiert hinsichtlich der psychischen Tätigkeit als Erkenntnistätigkeit des Menschen die praktische Tätigkeit als Vermittler der Einwirkungen der objektiven Welt. Dieser Satz ist von grundlegender Bedeutung für das Verständnis der Erkenntnis der Wirklichkeit durch den Menschen. Bei mechanischer, unmittelbarer Determination der Erkenntnis durch das Objekt wäre - entgegen dem ersten Eindruck - eine dem Objekt adäquate Erkenntnis unmöglich. Der thomistischen 3 Wahrnehmungstheorie des Mittelalters stellte Descartes, entsprechend dem naturwissenschaftlichen Denken seiner Zeit, die kausale Wahrnehmungstheorie gegenüber. Nach dieser Theorie hat das in uns entstehende sinnliche Abbild die auf uns (auf unsere Sinnesorgane) einwirkende Realität zur Ursache. Und aus diesem Satz zog dann die spätere idealistische Philosophie den subjektivistischen Schluß, wir erkennten nicht die Objekte, sondern lediglich den Effekt ihrer Einwirkung auf uns. Aus der Tatsache, daß das Ding Ursache der Wahrnehmung sein soll, zieht man den Schluß, es könne nicht Objekt der Wahrnehmung sein. Gegenwärtig verficht Russell nachdrücklich die „Kausaltheorie" der Wahrnehmung und benutzt sie, um die Möglichkeit der Wahrnehmung als sensorische Erkenntnis der Dinge zu bestreiten. Dabei geht er davon aus, daß zwischen dem Objekt und dem von ihm „ursprünglich bedingten" Abbild eine Kausalbeziehung bestehe (Näheres dazu siehe weiter unten). Dieser subjektivistische Schluß resultiert tatsächlich aus der angenommenen Kausalbeziehung zwischen dem Objekt und dem in uns erzeugten sinnlichen Abbild, wenn man von der mechanistischen Interpretation der Ursache ausgeht und die durch die äußeren Einwirkungen bedingte Antworttätigkeit des Subjektes bzw. seines Gehirns in ihrer physiologischen wie auch psychologischen Erscheinungsform unberücksichtigt läßt. In Wirklichkeit schließt die Sinneserkenntnis, die Wahrnehmung, auch die äußerlich bedingte Antworttätigkeit ein: Die äußeren Einwirkungen werden ununterbrochen einer auf reflektorischem Wege vollzogenen Analyse, Synthese und Verallgemeinerung unterzogen, und eben dadurch erfolgt die Widerspiegelung der objektiven Realität. !

Auf der Philosophie des Thomas von Aquino

aufbauend. (Anm. d. Übers.)

Allgemeine Probleme

17

Die immer tiefer gehende gedankliche Reproduktion des Objektes wird durch die Tätigkeit der Analyse, Synthese, Abstraktion und Verallgemeinerung vermittelt, die jene primären sensorischen Gegebenheiten umgestaltet, die außerstande sind, das „Wesen" des Objektes in Abstraktion von den es verhüllenden unwesentlichen Nebenumständen aufzudecken. Beim Erkenntnisprozeß werden die äußeren Einwirkungen, Ursachen bzw. Bedingungen durch die inneren Gesetzmäßigkeiten der Erkenntnistätigkeit vermittelt, die auf die gedankliche Reproduktion des Objektes gerichtet ist. Die Widerspiegelungstheorie des dialektischen Materialismus stellt im Grunde die Anwendung des oben formulierten dialektisch-materialistischen Prinzips des Determinismus auf die Erkenntnistheorie dar. (Die reflektorische Theorie ist die Anwendung des dialektisch aufgefaßten Prinzips des Determinismus auf die psychische Tätigkeit als Hirntätigkeit; die Widerspiegelungstheorie ist die Anwendung desselben Prinzips auf die psychische Tätigkeit als Erkenntnistätigkeit des Menschen.) Wenn wir hier von der Widerspiegelungstheorie des dialektischen Materialismus sprechen, halten wir es für erforderlich, vor allem noch auf zwei Züge dieser Theorie hinzuweisen. Die erste dieser Besonderheiten äußert sich darin, daß sie jene dualistische Isolierung des Abbildes vom Ding bzw. Objekt überwindet, wie sie f ü r die Bildertheorie (Picture theory) des sogenannten repräsentativen Realismus der Nachfolger von Locke und auch Descartes charakteristisch ist. Nach dieser Theorie dachte man sich das Abbild als primär rein subjektives Gebilde, das in der angeblich in sich abgeschlossenen Innenwelt des Bewußtseins existieren sollte, als ideelles Ding, so wie das materielle Ding in der Außenwelt existiert. Zugleich behauptet man, das Abbild repräsentiere irgendwie das Ding, entspreche ihm irgendwie. Die Ausgangsprämissen dieser Theorie isolieren das Abbild vom Objekt, so daß das Abbild in dieser Darstellungsweise eigentlich aufhört, Abbild eines Objektes, d. h. also überhaupt Abbild im eigentlichen Sinne des Wortes zu sein; denn nur über seine Beziehung zu einem Gegenstand, zu einem Abgebildeten kann etwas zu einem Abbild im wahren Sinne des Wortes werden. Diese Ausgangsprämissen des repräsentativen Realismus schließen die Möglichkeit aus, das Abbild mit dem Objekt, dem Gegenstand, zu „kollationieren". 4 Die Wahrheit wird unter diesen Bedingungen zu einer „Entsprechung" der Glieder zweier heterogener, innerlich und dem Wesen nach unzusammenhängender Reihen: Man hat also die dualistische Theorie des Parallelismus, der zunächst nur die psychischen und physiologischen Prozesse zueinander in Beziehung setzte, auch auf das Gebiet der Gnoseologie übertragen, also auf die Beziehung von Abbild bzw. Gedanke und Objekt. Die Wahrheit präsentierte sich als Entsprechung zwischen dem, was wir von den Gedanken behaupten, und dem, was im Sein vorhanden ist: In Wirklichkeit ist sie dagegen Adäquatheit dessen, was wir in Gedanken von ihrem Objekt, vom Sein, behaupten, gegenüber dem, was im Sein ist. Die Bildertheorie des alten sogenannten repräsentativen Realismus fußte auf einer dualistischen Grundlage, die Widerspiegelungstheorie des dialektischen Materialismus dagegen beruht auf dem 4 In der Polygraphie svw. „eine Kopie mit dem Original vergleichen". (Anm. d. Ubers.). 2

Prinzipien und Wege

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materialistischen Monismus. Darin (und in allem, was daraus resultiert) liegt der erste Wesenszug der Widerspiegelungstheorie des dialektischen Materialismus. Der zweite Zug, der sie von der Bildertheorie des vormarxistischen Materialismus unterscheidet, ist die Anwendung der Dialektik auf den Erkenntnisprozeß. Das hängt unmittelbar mit der These zusammen, daß die gnoseologische Crundbeziehung in der Beziehung des erkennenden Subjektes zur objektiven Realität zu sehen ist, da die Dialektik, von der hier die Rede ist, die Dialektik von Subjekt und Objekt, also ihrer Wechselbeziehungen, ist. Dialektisch ist nicht nur die Realität, die von der Erkenntnis widergespiegelt wird, sondern dialektisch ist auch der Erkenntnisprozeß selbst. Im Erkenntnisprozeß werden die verschiedenen Bestimmungen eine nach der anderen im Abbild als objektive niedergelegt, dann im Fortgang der Erkenntnis als subjektive aufgehoben und dabei durch neue und immer objektivere ersetzt. Die Dialektik von Objektivem und Subjektivem, von Objekt und Subjekt, durchzieht den ganzen Erkenntnisprozeß. Für den vormarxistischen Materialismus, der das Subjekt und seine Tätigkeit ignorierte, reduzierte sich die Widerspiegelung auf eine statische Beziehung von Objekt und Abbild. In Wirklichkeit aber existiert das Abbild nur in der Widerspiegelungstätigkeit des Subjektes bzw. seines Gehirns, also nur im Erkenntnisprozeß. Es ist das Resultat der Wechselwirkung von Subjekt und Wirklichkeit (objektiver Realität). Bei dieser Wechselwirkung wird jeweils das eine Abbild durch das nächste, dem Objekt adäquatere, aufgehoben, was das Ergebnis einer auf jeweils neuer Stufe erfolgenden Verbindung von äußeren und inneren Bedingungen der Erkenntnistätigkeit ist. Die objektiven Bedingungen (die Einwirkung des Objekts) werden durch immer neue innere Bedingungen gebrochen, die durch die vorhergegangene Wechselwirkung von äußeren und inneren Bedingungen umgestaltet worden sind. Mit dieser Auffassung der Erkenntnis als Prozeß der Wechselwirkung von Subjekt und objektiver Welt hängt auch die führende Rolle der Praxis in der Erkenntnis zusammen, die die Eigenschaften der Objekte immer gründlicher aufdeckt, indem sie sie miteinander in Wechselwirkung bringt. Hinter der statischen Beziehung von Abbild und Objekt steht also die Dialektik der Wechselbeziehungen von Subjekt und objektiver Realität. Damit ist es, wie wir gesehen haben, unmöglich geworden, das Ideelle außerhalb der materiellen Welt suchen zu wollen, beide voneinander zu isolieren und das eine dem anderen gegenüberzustellen; vielmehr wird damit der materialistische Monismus bestätigt. Wir sehen also, daß auch im Bereich der Erkenntnis, wo die relative Gegenüberstellung von Subjektivem und Objektivem wesentliche Bedeutung hat, der innere Zusammenhang der psychischen Tätigkeit als Erkenntnistätigkeit des Menschen mit der objektiven Realität erhalten bleibt. Die Erkentnistätigkeit spielt sich im Lebensprozeß der Menschen und auf seiner Grundlage ab. Auch die reflektorische Hirntätigkeit - und in dieser Form tritt ja die psychische Tätigkeit ursprünglich auf — ist die Tätigkeit eines Organs, das der Wechselwirkung von Organismus bzw. Individuum und Umwelt dient, einer Wechselwirkung, die den Lebensprozeß ausmacht. Will man also die Frage nach der Stellung der psychischen Erscheinungen im Universalzusammenhang der materiellen

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Welt klären, dann kann man nicht umhin, als letzte und in diesem Sinne wichtigste Frage auch noch die zu stellen, welchen Platz die psychischen Erscheinungen im Leben des Menschen einnehmen und welchen Anteil sie daran haben. Vor allem erweisen sich die psychischen Erscheinungen, die psychische Tätigkeit, die psychischen Eigenschaften der Menschen als d u r c h die Lebensbedingungen (und die Lebensweise) determiniert. Dabei folgt die Determinierung der psychischen Erscheinungen dem uns bereits bekannten Schema: Die äußeren Einwirkungen manifestieren sich über die inneren Bedingungen. Das mechanistische Schema ist hier noch weniger anwendbar als in jedem anderen Bereich. Hier erleidet man damit eindeutig Schiffbruch. Diese offenkundige Unhaltbarkeit des mechanistischen Schemas f ü r die Erklärung psychischer Erscheinungen machte sich j a gerade der Indeterminismus zunutze, um sich in der Psychologie einzunisten. Extremer Ausdruck der mechanistischen Interpretation der Determinierung in der Psychologie ist das „Reiz-Reaktions-Schema" des ursprünglichen JFafsonschen Behaviorismus. Mechanistisch ist dieses Schema deshalb, weil es bei der Determinierung des menschlichen Verhaltens bzw. der menschlichen Tätigkeit durch die objektiven Lebensbedingungen nicht die Mittlerrolle der psychischen Erscheinungen berücksichtigt. Die psychischen Erscheinungen treten im Leben des Menschen nicht nur als bedingte, sondern auch als bedingende Erscheinungen a u f ; durch die Lebensumstände bedingt, bedingen die psychischen Erscheinungen das Verhalten und die Tätigkeit des Menschen. Mit allem Nachdruck sei gesagt: Nicht die Anerkennung des Anteils der psychischen Erscheinungen an der Determinierung des menschlichen Verhaltens f ü h r t zum Indeterminismus, sondern seine Leugnung und Ignorierung. Der sogenannte Epiphänomenalismus — also jene Konzeption, nach der die psychischen Erscheinungen lediglich wirkungslose Begleiterscheinungen der einzig realen und wirksamen physischen Erscheinungen sind und, mit einem Bilde von James gesprochen, den realen Lebensweg ebensowenig beeinflussen wie der Schatten, den der Wandersmann wirft, seinen Weg beeinflußt —, dieser Epiphänomenalismus ist nichts anderes als die Kehrseite des Vulgärmechanizismus. Das eine ist ebenso unhaltbar wie das andere. Niemals kann man zu einer wirklich deterministischen Darstellung des menschlichen Verhaltens gelangen, wenn man nicht den Anteil der psychischen Erscheinungen an dieser Determination berücksichtigt. Wie die Forschung nachgewiesen hat, wird die Bewegung in der Regel durch Empfindungen bzw. sensorische Signale gesteuert, die sowohl aus der Umwelt als auch aus dem sich bewegenden Organ stammen. Schon Setschenow formulierte den, wie er sich ausdrückte, „Grundsatz" der Übereinstimmung von Bewegung und Empfindung. Pawlow erhellte den Anteil der sensorischen Signale an der Entstehung von Willkürbewegungen. Moderne Untersuchungen der menschlichen „Bewegungsstruktur" haben erwiesen, daß kompliziertere Handlungen durch immer höhere psychische Erscheinungen gesteuert werden. So werden die Bewegungen der schreibenden Hand, jene Bewegungen, mit deren Hilfe das schriftliche Sprechen erfolgt - wenn wir zunächst nur einmal von der graphischen Form der entsprechenden Wörter reden - , durch phonomatische Verallgemeinerungen gesteuert („afferenziert"), die den Sinnzusammenhängen untergeordnet sind. (Ein Phonem ist bekanntlich ein Laut, der in der jewei-

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ligen Sprache die Funktion hat, Bedeutungen und grammatikalische Formen der Wörter zu unterscheiden.) Als sich James mit der Theorie des sogenannten „Automatismus" auseinandersetzte (also mit dem mechanistischen Determinismus und dem Epiphänomenalismus), schrieb er, daß man nach dieser Theorie, wenn man nur das Nervensystem Shakespeares und alle Umwelteinwirkungen erschöpfend kennte, restlos erklären könnte, weshalb seine Hand in einer bestimmten Periode seines Lebens eine gewisse Anzahl von Blättern mit irgendwelchen unleserlichen, kleinen schwarzen Zeichen gefüllt hat, die wir der Kürze halber als Manuskript des „Hamlet" bezeichnen. Wir könnten auch die Ursache jeder Korrektur und Änderung erklären und würden alles das begreifen, ohne im Kopf Shakespeares dabei auch nur die Spur eines Bewußtseins vorauszusetzen. Nach James fallen also die psychischen Erscheinungen aus dem Universalzusammenhang aller Erscheinungen der materiellen Welt heraus; die auf den ersten Blick streng deterministische Konzeption des „Automatismus" hat mithin den epiphänomenalistischen Indeterminismus zur Kehrseite. In Wirklichkeit ist aber, wie bereits gesagt, der Sinngehalt an der „Afferentation", also an der Steuerung der Bewegungen beteiligt, und die Bewegungen der Hand Shakespeares, mit denen er den Text seines unsterblichen Werkes schrieb, sind ohne Berücksichtigung des Sinngehalts nicht zu erklären. Der gedankliche Entwurf des „Hamlet" ging in die Afferentation der Bewegungen ein, mit denen der Text geschrieben wurde; die Entwicklung des Sinngehalts von „Hamlet" und die Niederschrift des Textes stellen den „Afferentations-" und den Ausführungsteil eines einheitlichen Prozesses dar. Zahlreiche psychopathologische Untersuchungen haben erwiesen, daß hinter der Apraxie, d. h. hinter der Störung des volitiven, des sogenannten Willkürverhaltens, für gewöhnlich eine Agnosie steckt, also eine Störung der Erkenntnis, des Denkens. Am Aufbau der Willkürhandlungen ist ihr Sinngehalt, also das menschliche Denken beteiligt. 0 Wenn der Idealist den Anteil der Idee am Leben des Menschen betont und behauptet, die Gedanken und Überlegungen der Menschen steuerten ihr Verhalten, dann liegt sein Fehler durchaus nicht darin, daß er die aktive Rolle der Ideen anerkennt; Ideen, Gedanken und Überlegungen, so wie sie in der Wirklichkeit vorkommen, gesättigt von menschlichen Gefühlen und durchdrungen von Leidenschaft, steuern tatsächlich das Verhalten der Menschen; der Fehler des Idealismus besteht darin, daß er die Ideen als primär ansieht und ihren sekundären Charakter nicht bemerkt, daß er nicht berücksichtigt, daß die in das menschliche Leben bedingend eingreifenden Ideen, Gedanken, psychischen Erscheinungen selbst durch den bisherigen Lebensweg bedingt sind. 5

K. Goldstein und A. Gelb, Psychologische Analyse hirnpathologischer Fälle. 1920; Head, Aphasia and Kindred Disorders of Speech. Cambridge 1926, Vol. I, II; s. auch den Sammelband „Neue Gedanken in der Lehre von der Apraxie, Agnosie und Aphasie". Moskau 1934 (russ.), vor allem den Artikel von M. B. Kroll „Die alten und neuen Ansichten über die Apraxie"; A. R. Lnrija, Die traumatische Aphasie. Moskau 1947 (russ.), S. 1 8 8 - 1 9 6 ; Gritchley, Partial Lob. London 1953.

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Ziehen wir aus dem bisher Gesagten das Fazit, dann sehen wir: Die psychischen Erscheinungen bzw. das Bewußtsein sind in bezug auf die materielle Welt nicht etwas völlig Fremdartiges und von ihr isoliert; die allgemeine Eigenschaft der Widerspiegelung vereinigt sie vielmehr mit der gesamten materiellen Welt. Die reflektorische Widerspiegelungstätigkeit des Gehirns ist selbst sowohl materielle Nerventätigkeit eines materiellen Organs, nämlich des Gehirns, als auch zugleich psychische Tätigkeit. Betrachten wir die psychische Tätigkeit als Erkenntnistätigkeit des Menschen, dann finden wir in der Erkenntnis wiederum den wechselseitigen Zusammenhang von äußeren Einwirkungen und inneren Bedingungen: Die Erkenntnis -wird durch das Objekt determiniert, und die Einwirkung des Objektes, das die Erkenntnis determiniert, wird durch die objektiven Gesetzmäßigkeiten unterworfene Erkenntnistätigkeit gebrochen. Diese Erkenntnistätigkeit gestaltet die sensorischen Informationen um, die die wesentlichen Eigenschaften des Objektes nicht aufzudecken vermögen, und f ü h r t durch Analyse und Synthese zur gedanklichen Reproduktion des Objektes. Betrachten wir schließlich das Leben des Menschen, dann sehen wir, wie die psychischen Erscheinungen in dieses Leben verwoben sind, und zwar sowohl als bedingte als auch als bedingende Erscheinungen, als von den Lebensbedingungen abhängende und als das menschliche Verhalten bedingende, das diese Bedingungen wiederum verändert. Das Bewußtsein bedingt das Verhalten und die Tätigkeit der Menschen; die Tätigkeit aber verändert die Natur und gestaltet die Gesellschaft um. Somit geht das menschliche Bewußtsein als bedingendes Element in all das ein, worauf sich die menschliche Tätigkeit erstreckt, in die ganze unendliche Kette von Ereignissen, die die menschliche Tätigkeit im Leben der Welt und in der Menschheitsgeschichte erzeugt hat. Wir haben die spezifischen Eigenarten des Psychischen bzw. des Bewußtseins dargestellt, aber nirgendwo führt diese Eigenart des Bewußtseins, des Ideellen, zu einer Aufspaltung der Welt in zwei Teile; die Einheit der Welt, die auf ihrer Materialität beruht, bleibt in jeder Richtung und unter jedem Aspekt gewahrt, unter dem sich uns bei konkreter Untersuchung das hier behandelte Problem der Beziehungen von Sein bzw. materieller Welt und Bewußtsein darbietet. Dieses umfassende theoretische Problem ist, wie alle Probleme der großen Theorie, nicht nur von abstrakt theoretischer, sondern auch von praktischer Bedeutung f ü r das Leben. Die richtig gestellte Frage nach der Erkenntnis der Welt hängt letzten Endes mit den Aufgaben der Umgestaltung dieser Welt zusammen. Die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Psychischem und Materiellem, nach der Abhängigkeit des Psychischen von den materiellen Bedingungen zielt nicht nur auf die Erkenntnis der psychischen Prozesse ab, sondern auch auf ihre Lenkung. Löst man die Frage, wie ein bestimmter Verlauf psychischer Prozesse bzw. die Entwicklung bestimmter psychischer Eigenschaften von objektiven Bedingungen abhängt, dann gewinnt m a n damit die Einsicht, auf welchem Wege sich die Psyche der Menschen zielgerichtet verändern läßt, auf welchem Wege man sie also erziehen kann.

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b) Fragen

der psychologischen

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1 Der grundlegende Akt, der die Existenzberechtigung eines neuen Zweiges der Wissenschaft fixiert, besteht in der Ermittlung oder Ausgliederung eines bestimmten Kreises von Erscheinungen, die nach ihren eigenen inneren Gesetzmäßigkeiten funktionieren und sich entwickeln. Der Marxismus hat sich als Wissenschaft von den gesellschaftlichen Erscheinungen deshalb bestätigt, weil er die spezifischen Gesetze ihrer Determination aufgedeckt hat. Ebenso liegen die Dinge mit jeder Disziplin, die sich zur selbständigen Wissenschaft aufschwingt. Hauptaufgabe jeder Theorie, also auch der psychologischen, ist es, die grundlegenden spezifischen Gesetzmäßigkeiten der untersuchten Erscheinungen aufzudecken. Jede Theorie beruht auf einer bestimmten Auffassung von der Determination der Erscheinungen. 6 Das theoretische Fundament, von dem aus wir an die Entwicklung der psychologischen Theorie herangehen, ist das Prinzip des Determinismus in seiner dialektisch-materialistischen Interpretation. Wie bereits erwähnt, kann man es in einem einzigen Satz formulieren: Die äußeren Ursachen wirken über die inneren Bedingungen. Damit wird die Antithese zwischen der äußeren Bedingtheit und der inneren Entwicklung oder Selbstentfaltung (Eigenbewegung) aufgehoben. Denn ihr innerer wechselseitiger Zusammenhang bildet die Grundlage f ü r die Erklärung aller Erscheinungen, also auch der psychischen. Mit dem Begriff des Determinismus verbindet man häufig die mechanistische Konzeption, die in der Wissenschaft des 17. und 18. Jahrhunderts herrschte. Sie ging vom Begriff der Ursache aus, die sie als äußeren Anstoß auffaßte, der den in einem anderen Körper oder in einer anderen Erscheinung hervorgerufenen Effekt unmittelbar bestimmen sollte. Diese mechanistische Theorie des Determinismus war n u r scheinbar, mit gewisser Annäherung, in der klassischen Mechanik auf die mechanische Bewegung eines Punktes anwendbar. Schon in der Quantenmechanik war sie aber in 6

Die Kybernetik, soweit sie Lehre von der „Information" bzw. von den rückläufigen Verbindungen ist, ist eigentlich die Lehre von einer Art oder einem Aspekt der Determination von Prozessen. Dadurch ist auch ihre universale Anwendbarkeit auf alle möglichen Gebiete bedingt. Sie ist die Lehre von der Determination von Prozessen, bei denen jeder nachfolgende durch die Resultate des vorhergehenden bedingt ist. Bei den vorkybernetischen Maschinen, also den Maschinen ohne rückläufige Verbindungen, war jede Aktion der Maschine durch die Konstruktion bedingt und hing nicht von den vorhergegangenen Aktionen ab; bei den kybernetischen Maschinen werden dagegen die „Informationen" über die Resultate jeder Aktion der Maschine, also über die bewirkten Veränderungen, in die Bedingungen einbezogen, von denen die folgende Aktion der Maschine abhängt. Der Anspruch der Kybernetik, daß ihre alle möglichen Wissensgebiete (Maschinentheorie, Hirnphysiologie, Gesellschaftswissenschaften) bzw. Arten der von diesen untersuchten Prozesse „untergeordnet" seien, stützt sich auf die Tatsache bzw. bedeutet nur, daß es in all diesen Bereichen Prozesse gibt, deren Determination diese Abhängigkeit jeder folgenden Aktion von den Ergebnissen der

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dieser Form nicht mehr immer anwendbar. Die Erscheinungen des organischen Lebens zu erklären ist sie aber eindeutig außerstande. Hier liefert ein und dieselbe Einwirkung bei Organismen mit verschiedenen Eigenschaften bzw. bei ein und demselben Organismus unter verschiedenen Bedingungen unterschiedliche Effekte. Der Effekt der äußeren Einwirkung hängt vom inneren Zustand des Organismus ab, auf den die Einwirkung hinzielt. Dieser Satz, der sich auf alle organischen Erscheinungen bezieht, gilt in noch größerem Maße f ü r die psychischen Erscheinungen. Der grundlegende Mangel des mechanistischen Determinismus besteht also darin, daß er — erfolglos — versuchte, eine unmittelbare Abhängigkeit des Endergebnisses der äußeren Einwirkung von dieser letzteren herzustellen, und dabei die inneren Bedingungen derjenigen Erscheinungen (oder desjenigen Körpers) außer acht ließ, auf die diese Einwirkung erfolgte. Ein Ausdruck der mechanistischen Konzeption des Determinismus in der Psychologie ist, wie bereits erwähnt, das ursprüngliche „ReizReaktions-Schema" des konsequenten JFafsonschen Behaviorismus. Die Schwäche der mechanistischen Interpretation des Determinismus macht sich auch der Indeterminismus zunutze, der sich schon seit langem in der Psychologie festgesetzt hat und nunmehr auch, wie bekannt, in die Physik eindringt, nämlich in die Quantenmechanik. Der Determinismus in seiner materialistischen Interpretation, der den mechanistischen Determinismus überwindet, die Bedeutung der inneren Bedingungen klarmacht und ihren wechselseitigen Zusammenhang mit den führenden äußeren Bedingungen betont, entzieht damit dem Indeterminismus auch den Nährboden, indem er ihn seiner Hauptargumente beraubt. Als Beispiel f ü r diesen neuen Determinismus kann auch die Pawlowache Lehre dienen. Damit das klar wird, müssen wie (vielleicht stärker als üblich) einen Aspekt der Pawlowschen Konzeption hervorheben, den man sich nicht immer klar genug bewußt macht und der auch nicht immer gebührend gewürdigt wird. Wenn man von der Lehre Pawlows spricht, betont man üblicherweise, daß sie von den äußeren Beziehungen des Organismus zum Milieu, also zu den Lebensbedingungen, ausgeht und daß das Gehirn bzw. — nach Pawlow — seine höchsten Abschnitte diese äußeren Beziehungen herstellen. Aber Pawlow vermochte seine wissenschaftliche Theorie, seine zuverlässige Lehre von diesen äußeren Beziehungen des Organismus zum Milieu nur zu begründen und die Gesetzmäßigkeiten, denen sie unterliegen, nur zu ermitteln, weil er auch die inneren Gesetzmäßigkeiten der Hirntätigkeit untersuchte, vorhergehenden zeigt; die Veränderungen, die durch das Resultat des einen Prozesses bzw. der einen Aktion hervorgerufen werden, gehen in die Bedingungen ein, von denen der folgende bestimmt wird. Die Lehre von der Information bzw. den rückläufigen Verbindungen, also die Kybernetik, ist die Lehre von einer bestimmten Art bzw. einem bestimmten Aspekt der Determination. Das ist jedenfalls ihr Kern, ihr Wesen, der Rest ist Technik. Die Kybernetik ist nur ein Spezialfall der allgemeinen Lehre von der Determination der Prozesse und Erscheinungen. Die Entwicklung dieser letzteren Lehre birgt ungeahnte Möglichkeiten und eröffnet unendliche Perspektiven. Die Entwicklung der Lehre von der Determination ist eine der grandiosesten Aufgaben der Wissenschaft. Wir sehen hier prinzipielle Möglichkeiten für die Entwicklung eines ganzen Systems von Algorithmen für alle möglichen Seiten oder Momente der Determination von Erscheinungen.

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die den Zusammenhang zwischen den äußeren Einwirkungen auf den Organismus und seinen Reaktionen vermitteln. 7 Die Pawlowsche Lehre kann die Gesetzmäßigkeiten der äußeren Beziehungen des Organismus zu seinen Lebensbedingungen eben deshalb aufdecken, weil sie die inneren Wechselbeziehungen der Prozesse klärt, die diese äußeren Beziehungen vermitteln. Die Lehre Pawlows hat für dieses allgemeine Prinzip jene spezifische Ausdrucksform gefunden, die den Aufgaben der physiologischen Erforschung der höheren Nerventätigkeit gerecht wird. Aufgabe der Psychologie ist es, für dieselben philosophischen Prinzipien, die der Lehre von der höheren Nerventätigkeit zugrunde liegen, eine neue, und zwar spezifisch psychologische Ausdrucksform zu finden. Die Allgemeinheit der Prinzipien, die sich in der Lehre von der höheren Nerventätigkeit und in der Psychologie jeweils in spezifischer Weise äußern, ist der einzig erfolgverheißende Ansatz, um die Psychologie mit der Lehre von der höheren Nerventätigkeit „zur Deckung" zu bringen und zusammenzuschließen, ohne der Spezifik dieser beiden Wissenschaften Abbruch zu tun. Die „reflektorische" Interpretation der psychischen Tätigkeit bedeutet, wie eben erwähnt, daß die psychische Tätigkeit eine äußerlich bedingte Antworttätigkeit ist, und zwar ist es die äußerlich bedingte Antworttätigkeit des menschlichen Gehirns. Das heißt, daß die psychischen Erscheinungen durch die Wechselwirkung des Menschen als Subjekt mit der objektiven Welt bestimmt werden. Dieser Satz enthält in spezieller und nicht ausgeführter Form jenen Gedanken, der in der dialektisch-materialistischen Auffassung des Prinzips des Determinismus seinen entfalteten und verallgemeinerten Ausdruck gefunden hat. Dieses allgemeine Prinzip realisiert sich in ebenso mannigfaltigen Formen, wie die Natur der Erscheinungen mannigfaltig ist, die in Wechselwirkung treten. In dieser allgemeinen Form des philosophischen Prinzips bezieht es sich nicht auf irgendeinen speziellen Bereich von Erscheinungen, sondern vielmehr auf alle Erscheinungen. F ü r jedes spezielle Gebiet von Erscheinungen und für jede spezielle Form der Wechselwirkung muß es daher seine spezielle Form erhalten. Will man also die Psychologie auf dem dialektischen Materialismus aufbauen, dann muß man jene spezielle Erscheinungsform finden, die das dialektisch-materialistische Prinzip des Determinismus erhält, wenn man es auf die psychischen Erscheinungen anwendet. Die Lösung der Frage nach dieser spezifischen Erscheinungsform fußt auf dem Problem der Wechselbeziehungen von Physiologischem und Psychologischem, der Wechselbeziehung der Lehre von der höheren Nerventätigkeit und der Psychologie. 2 Im Verlauf der Entwicklung der reflektorischen Hirntätigkeit entstehen neue psychische — Erscheinungen: Empfindungen, Wahrnehmungen usw. Damit entsteht 7

Näheres dazu s. in dem Kapitel „Über die reflektorische Theorie" von I. M.

und I. P. Pawlow.

Setschenow

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auch gesetzmäßig ein neues Forschungsobjekt, ergeben sich neue Aufgaben seiner Untersuchung, eben die Aufgaben der Psychologie. Die reflektorische Tätigkeit der Großhirnrinde ist gleichzeitig sowohl nervale (physiologische) als auch psychische Tätigkeit (insofern als es ein und dieselbe Tätigkeit ist, die sich in unterschiedlichen Beziehungen darbietet). Damit ergibt sich die Aufgabe, sie erstens als Nerventätigkeit zu untersuchen, die von den physiologischen Gesetzen der nervalen Dynamik bestimmt wird (der Irradiation, Konzentration und wechselseitigen Induktion von Erregung und Hemmung), und zweitens als psychische Tätigkeit (als Wahrnehmung und Beobachtung, als Einprägen, Denken usw.). Hier wie überall wird der Gegenstand der Wissenschaft von der höheren, also der spezifischeren Charakteristik bestimmt. Jede Wissenschaft untersucht Erscheinungen der Wirklichkeit in den f ü r die jeweilige Wissenschaft spezifischen Beziehungen. F ü r die Physiologie ist die Wirklichkeit die Gesamtheit der Reize, die auf das Gehirn bzw. auf die Analysatoren einwirken; f ü r die Psychologie dagegen besteht die Wirklichkeit aus Objekten der Erkenntnis und des Handelns, aus Objekten, mit denen der Mensch als Subjekt in Wechselwirkung tritt. Anfangs — vor der Entstehung von Organismen, die fähig sind, auf Reize zu reagieren - existiert das Sein, die Realität in Form von Prozessen und Dingen. Mit Entstehung der Organismen fungieren die Erscheinungen der materiellen Welt (die Dinge und Prozesse) gegenüber den Organismen, auf die sie einwirken, auch als Reize. Diese Wechselwirkung spielt sich im „ontologischen" Bereich ab. Solange die Dinge nur als Reize fungieren, fehlt noch der gnoseologische Bereich; hier gibt es bisher weder Objekte noch ein Subjekt im eigentlichen Sinne des Wortes. Im Prozeß der Einwirkung der Reize auf Organismen, die Rezeptoren haben (Analysatoren, Sinnesorgane), und deren Antworttätigkeit entstehen die Empfindungen. Reize, die sich in Empfindungen widerspiegeln, können als Signale wirken, ohne als Objekte bewußt zu werden. Ein experimenteller Beweis f ü r diese These sind jene Versuche, in denen eine Versuchsperson richtig auf ein sensorisches Signal reagieren kann, ohne daß ihr das Signal zum Bewußtsein kommt, auf das sie antwortet (E. Thorndike, L. I. Kotljarewski u. a.). Erscheinungen (Dinge, Prozesse), die als Reize fungieren und gegenüber dem Organismus und seinen Organen (Analysatoren) als solche auftreten, werden bewußt, wenn sie als Objekte in Erscheinung treten. Das Bewußtsein eines Dinges oder einer Erscheinung als Objekt hängt mit dem Übergang von jener Empfindung, die nur als Signal f ü r eine H a n d l u n g oder Reaktion dient, zur Empfindung und Wahrnehmung als Abbild des Gegenstandes (oder der Erscheinung) zusammen. Das eigentliche Bewußtsein (im Unterschied zum Psychischen schlechthin) beginnt mit dem Auftreten des Abbildes eines Gegenstandes (oder Objektes) in der speziellen gnoseologischen Bedeutung dieses Terminus. Reize, die in Empfindungen, im Bewußtsein widergespiegelt werden, treten als Objekte in Erscheinung. Der Begriff des Objektes ist eine gnoseologische Kategorie, der des Reizes dagegen eine physiologische. Da m a n nicht die gesamte wissenschaftliche Betrachtung der Welt auf die physiologische Betrachtungsweise reduzieren kann,

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vielmehr auch die gnoseologischen (und psychologischen) Aspekte einbeziehen muß, kann man den Begriff des Objektes auch nicht auf den des Reizes reduzieren. 8 Die Beziehung zum Objekt ist sowohl für den gnoseologischen als auch für den psychologische Aspekt wesentlich. Der Unterschied zwischen diesen beiden Aspekten besteht darin, daß die Gnoseologie diese Beziehung zum Objekt selbst zum Gegenstande ihrer Forschung macht, wogegen die Psychologie den psychischen Prozeß in seiner Beziehung zum Objekt betrachtet. Die spezifischen Aufgaben der Psychologie beginnen mit dem Übergang zur Untersuchung der vom Gehirn vollzogenen psychischen Tätigkeit des Menschen. Die Psychologie, die die psychische Tätigkeit der Menschen untersucht, ist eine Humanwissenschaft. Es ist die Wissenschaft von den Gesetzmäßigkeiten der vom Gehirn vollzogenen psychischen Tätigkeit des Menschen. Zwei prinzipielle Thesen bestimmen unsere Einstellung zur Psychologie des Menschen. Erstens fassen wir die psychischen Erscheinungen schlechthin als Entwicklungsprodukt der materiellen Welt auf, und zweitens sehen wir in der Psyche des Menschen mit all ihren spezifischen Besonderheiten ein gesellschaftlich bedingtes Produkt der Geschichte s

Diese Unterscheidung der Begriffe „Reiz" und „Objekt", die mit dem Unterschied zwischen dem physiologischen Aspekt der wissenschaftlichen Betrachtung der Wechselbeziehungen von Individuum und Umwelt einerseits und dem gnoseologischen und psychologischen Aspekt andererseits zusammenhängt, ist von prinzipieller Bedeutung. Es dürfte daher von simplem Unverständnis für den Sinn dieser Unterscheidung der Begriffe und Aspekte zeugen, wenn man zwar zugibt, es sei unmöglich, an die Stelle des Objektes einen einfachen Reiz zu setzen, aber dafür versucht, es durch einen Komplexreiz zu ersetzen. Der Komplexreiz gehört nämlich zum selben Bereich der physiologischen Beziehungen wie der einfache Reiz; er ist also ebensowenig wie der einfache Reiz in der Lage, den gnoseologischen Aspekt des Problems (mit dem auch der psychologische Aspekt zusammenhängt) zu ersetzen und aus der Welt zu schaffen. Auch die Tatsache, daß die Pawlowsche Physiologie es nicht nur mit Reizen als solchen zu tun hat, sondern auch mit ihrer Signalbedeutung, vermag daran nichts zu ändern. Gewiß ist dieser letztere Umstand von großer Bedeutung. Er enthüllt uns nämlich den physiologischen Mechanismus der Wahrnehmung jener besonders wichtigen „funktionellen" Eigenschaften des Objektes, die es in seiner praktischen Beziehung zum Leben und zur Tätigkeit des Individuums charakterisieren. Aber auch hier bleiben wir im Bereich der physiologischen Beziehungen und der physiologischen Untersuchung der Objektwahrnehmung. Aber muß denn die Erklärung eines Faktums gleichbedeutend sein mit seiner Liquidierung? Natürlich gibt es Fälle, da bei Erklärung irgendeiner Sache, die man für ein Faktum gehalten hatte, dieses angenommene Faktum sich als illusorisch erweist. Aber die physiologische Erklärung der Objektwahrnehmung kann man nicht zu einer Negierung der gnoseologischen Beziehungen machen, die da physiologisch analysiert werden. Der wirkliche, wissenschaftliche Sinn der Pauilowsch&a Begriffe und Gesetze besteht natürlich nicht darin, daß sie die gnoseologischen (und die damit zusammenhängenden psychologischen) Kategorien ersetzen und damit eliminieren.

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Näheres über die prinzipiellen Grundsätze, die die marxistische Interpretation der Psyche des Menschen bestimmen, findet man im Kapitel über die philosophischen Grundlag™.

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Die Frage nach der Stellung der Psychologie im System der Wissenschaften wird für gewöhnlich dadurch noch komplizierter, daß man bei ihrer Lösung von einer Gegenüberstellung von Natur- und Gesellschaftswissenschaften auszugehen versucht und alle Übergänge zwischen ihnen ausschließt. Im Terminus „Gesellschaftswissenschaften" verwischt man dabei alle feineren Unterschiede zwischen den eigentlichen Wissenschaften von der Gesellschaft und den Wissenschaften von gesellschaftlich bedingten Erscheinungen, zu denen auch die Psychologie des Menschen gehört. Die Psychologie ist eine der Wissenschaften von der Natur des Menschen, von einem gesellschaftlich bedingten Produkt der Geschichte. Dadurch ist der Zusammenhang der Psychologie sowohl mit den TVatarwissenschaften (vor allem mit der Lehre von der höheren Nerventätigkeit) als auch mit den sozial-historischen Wissenschaften bedingt. Insofern als die psychische Tätigkeit eine vom Gehirn vollzogene Tätigkeit ist, unterliegt sie auch allen Gesetzen der Neurodynamik. Ohne Bezug auf diese Gesetze kann man die psychischen Erscheinungen nicht vollständig erklären. Die psychologische Forschung kann nicht der physiologischen Untersuchung der Neurodynamik gegenübergestellt und von ihr isoliert werden. Vielmehr muß man bei der Erklärung psychischer Erscheinungen alle Ergebnisse der physiologischen Erforschung der Neurodynamik anwenden. Dabei bedingen die Produkte dieser Neurodynamik, die durch die Neurodynamik entstehenden neuen — psychischen - Erscheinungen, auch den neuen Bereich der psychologischen Forschung, innerhalb dessen die Prozesse, die die physiologische Lehre von der höheren Nerventätigkeit untersucht, in neuer, spezifischer Qualität in Erscheinung treten. In dieser Qualität erfaßt, werden sie durch Beziehungen determiniert, von denen die Physiologie abstrahiert. Das Lernen beispielsweise, also das in bestimmter Weise organisierte Einprägen, läuft physiologisch betrachtet darauf hinaus, das „Setzen" von auf das Gehirn wirkenden Reizen in bestimmter Weise zu organisieren. Deshalb unterliegt es auch allen Gesetzen der Neurodynamik corticaler Prozesse. Wenn wir aber das Lernergebnis aus der Wirkung dieser Gesetzmäßigkeiten erklären, abstrahieren wir von einer ganzen Reihe von Wechselbeziehungen, die für das Lernen als besondere Art der psychischen Tätigkeit charakteristisch sind. Wenn man denselben Prozeß, der im physiologischen Bereich eine Antwort des Gehirns auf das in bestimmter Weise organisierte „Setzen" von Reizen darstellt, bei der psychologischen Untersuchung als Lernen betrachtet, werden zwangsläufig neue Abhängigkeiten deutlich: die Abhängigkeit von der Tätigkeit des Menschen, von den Beziehungen, die er bei dieser Tätigkeit zu dem, was er lernt (zum Lehrstoff, zu anderen Menschen, zum Lehrer, zum Schulkollektiv usw.), eingeht. In diesen neuen Abhängigkeiten wird der entsprechende Prozeß auch von der Psychologie untersucht. Jede psychologische Untersuchung deckt irgendeine derartige Abhängigkeit auf. Die Physiologie dagegen abstrahiert von ihnen. Für die Organisation der menschlichen Tätigkeit ist aber die Kenntnis gerade dieser Abhängigkeiten und der Gesetzmäßigkeiten, denen sie unterliegen, besonders wichtig. Sie aufzudecken obliegt der Psychologie. Wir haben gesagt, daß die Physiologie von den Beziehungen abstrahiert, die für die psychischen Erscheinungen als solche wesentlich sind. Das bedeutet, daß die physiologischen Erscheinungen in bezug auf die psychischen mehrdeutig sind, wenn

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man die letzteren in ihren spezifischen Eigenschaften und Beziehungen sieht. In ihrer konkreten Erscheinungsform unterschiedliche psychische Erscheinungen entsprechen ein und demselben physiologischen Prozeß. Zudem gibt es auch keine starre Korrelation zwischen psychischen und physiologischen Prozessen oder Erscheinungen. Jeder konkrete psychische Prozeß stellt physiologisch ein mehr oder weniger kompliziertes dynamisches System oder einen Komplex verschiedener physiologischer Prozesse dar. Infolgedessen ist es auch völlig unmöglich, an die Stelle irgendeiner psychischen Erscheinung die ihr „entsprechende" physiologische als vollwertiges Äquivalent zu setzen, das etwa fähig wäre, die entsprechende psychische Erscheinung von anderen zu differenzieren, die sich psychologisch von ihr unterscheiden, ohne daß dabei die spezifischen Unterschiede des einen psychischen Prozesses oder der einen psychischen Erscheinung von anderen verlorengehen. Ein und derselben physiologischen Bedeutung der Variablen, die in den Formeln der physiologischen Gesetze vorkommen, entspricht immer eine ganze Skala verschiedener psychologischer Bedeutungen. Wenn die psychischen Erscheinungen auch von physiologischen Prozessen untrennbar sind, so unterscheiden sie sich doch von ihnen. Physiologische und psychologische Gesetze kann man nicht einfach dadurch zur Deckung bringen, daß man in die psychologischen Gesetze physiologische Termini einsetzt. Die physiologischen Termini sind den Beziehungen nicht adäquat, die in den psychologischen Gesetzen ausgedrückt werden. Da die psychischen Phänomene den physiologischen Gesetzen der höheren Nerventätigkeit unterliegen (den Gesetzen der Dynamik der Nervenprozesse), treten sie also als Effekt physiologischer Gesetze auf, so wie die physiologischen - und überhaupt alle biologischen — Erscheinungen beispielsweise den Gesetzen der Chemie unterliegen und infolgedessen als Effekt chemischer Gesetzmäßigkeiten in Erscheinung treten. Jedoch stellen die physiologischen Prozesse eine neue, spezifische Erscheinungsform der chemischen Gesetzmäßigkeiten dar, und eben diese neue, spezifische Erscheinungsform wird in den Gesetzen der Physiologie deutlich. Dementsprechend stellen die psychischen Erscheinungen eine neue, spezifische Erscheinungsform der physiologischen Gesetze der Neurodynamik dar. Diese Spezifität findet in den Gesetzen der Psychologie ihren Ausdruck. Anders gesagt, die psychischen Erscheinungen bleiben spezifisch psychische Phänomene und bieten sich zugleich als Erscheinungsform physiologischer Gesetzmäßigkeiten dar, so wie die physiologischen Erscheinungen eben physiologische bleiben, wenn sie auf Grund biochemischer Forschungen auch als Erscheinungsform chemischer Gesetze auftreten. Die niederen Gesetzmäßigkeiten gehen in die höheren Bereiche mit ein, aber nur als untergeordnetes Moment, das die Spezifität nicht bestimmt. Das ist ganz generell die Beziehung zwischen „niederen" und „höheren" Bereichen der wissenschaftlichen Forschung. Die allgemeineren Gesetze der niederen Bereiche gelten auch für die höheren, erschöpfen aber ihre Gesetzmäßigkeiten nicht. Die führenden Gesetzmäßigkeiten jedes Bereichs sind die jeweils spezifischen Gesetzmäßigkeiten, die die führenden spezifischen Eigenschaften des jeweiligen Bereichs von Erscheinungen bestimmen. Infolge der Entdeckung der biochemischen Natur der physiologischen Erscheinungen verschwinden diese nicht etwa als spezifische Erscheinungen, vielmehr vertiefen sich

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nur unsere Kenntnisse über sie. Mögen wir auch noch so tief in die biochemischen Gesetzmäßigkeiten der Schließung corticaler Verbindungen eindringen, die Reflexe werden doch Reflexe bleiben; das gleiche gilt auch für alle anderen physiologischen Erscheinungen. Mit dem Fortschritt der Biochemie der Verdauung beispielsweise vertieft sich unser Wissen von diesem Prozeß, und er bietet sich als spezifischer Effekt chemischer Reaktionen dar, bleibt aber dabei eine spezifische Erscheinungsform dieser Reaktionen, eben der Verdauungsprozeß, der in dieser spezifischen Form für die Existenz von Lebewesen charakteristisch ist, nicht aber für die Reaktionen chemischer Elemente. Das eigentliche Wesen der Erscheinungen wird immer durch ihre spezifischen Gesetzmäßigkeiten bestimmt. Dem analog bieten sich die psychischen Erscheinungen auf Grund einer neurodynamischen Analyse als Effekt der neurodynamischen Gesetze der Widerspiegelungstätigkeit des Gehirns dar. Damit ist aber die Spezifik der psychischen Erscheinungen nicht beseitigt. Die Kenntnis der durch psychologische Forschungen ermittelten Gesetze verliert nichts an Bedeutung dadurch, daß sich die psychischen Erscheinungen als Effekt darbieten, der aus der Wirkung der Gesetzmäßigkeiten der höheren Nerventätigkeit resultiert. Die Wechselbeziehung zwischen der Psychologie und der Lehre von der höheren Nerventätigkeit liegt im allgemeinen Rahmen der Wechselbeziehungen zwischen „niederen" und „höheren" Wissenschaftsgebieten. Die Beziehung zwischen Psychologie und Lehre von der höheren Nerventätigkeit ist nicht der zwischen Biologie und Chemie analog, sondern der zwischen Biologie und Biochemie. Auch die Lehre von der höheren Nerventätigkeit untersucht die psychische Tätigkeit, aber unter speziellem Aspekt. Die Gesetze der höheren Nerventätigkeit spielen eine wichtige Rolle bei der Erklärung der psychischen Tätigkeit. Aber sie erschöpfen ihre Gesetzmäßigkeiten nicht und stellen auch nicht ihre spezifischen Gesetzmäßigkeiten dar, sind also keine Gesetzmäßigkeiten, die ihre führenden spezifischen Eigenschaften bestimmen. Das sind vielmehr die Gesetze der Psychologie. Aus dieser Auffassung von den Beziehungen zwischen physiologischen und psychologischen Gesetzmäßigkeiten bzw. zwischen physiologischer und psychologischer Charakteristik der Hirntätigkeit erhellt die Unvertretbarkeit einer Reihe von Formulierungen, die im Laufe der Zeit gebräuchlich geworden sind. Offensichtlich unhaltbar ist vor allem die Formulierung, wonach das Psychische und das Physiologische zwei koordinierte Seiten eines Prozesses darstellen. Ihr Fehler liegt darin, daß sie die Hierarchie von Primärem und Abgeleitetem, von Grundlage und Erscheinungsform verschleiert, die das Wesen der Beziehung zwischen physiologischer und psychologischer Charakteristik ausmacht, und sie fälschlicherweise als gleichberechtigt koordinierte, als parallele Erscheinungen darstellt. Ihr Fehler liegt somit darin, daß sie nur die verschiedenen „Seiten", nicht aber ihre Beziehung zueinander darstellt. Unhaltbar ist auch jene These, die man manchmal dieser Formel entgegenhält, daß die physiologische und die psychologische Charakteristik gleichgeordnete „Komponenten" der Charakteristik seien, die die Psychologie den psychischen Erscheinungen gibt, während sich die Physiologie auf deren partielle (physiologische) Charakteristik beschränkt. Diese These entspricht in ihrem theoretischen Gehalt der alten „physio-

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logischen Psychologie", die sowohl mechanistisch als auch idealistisch war. Faßt man die physiologische und die psychologische Charakteristik als gleichgeordnet auf oder bezieht man die erstere in die letztere ein, dann verliert die physiologische Charakteristik der Erscheinungen ihren Sinn, da die psychischen Erscheinungen bei dieser Gleichstellung von physiologischen und psychologischen Gegebenheiten nicht in ihrer Spezifik als neue, spezifische Erscheinungsform der physiologischen Gesetzmäßigkeiten auftreten, die in den Gesetzen der Psychologie ihren Ausdruck findet. Die Suche nach der Spezifik der psychologischen Gesetzmäßigkeiten wird bei dieser Ausgangsposition zur prinzipiell falschen Gegenüberstellung von psychologischen und physiologischen Gesetzmäßigkeiten. Die ungerechtfertigte Gegenüberstellung dieser Gesetzmäßigkeiten und ihre Isolierung voneinander ist nur ein anderer Ausdruck für ihre ursprünglich äußerliche gleichgeordnete Koppelung. Sehr weit verbreitet, aber dennoch falsch ist auch jene Formel, daß sich die physiologischen Gesetze der Neurodynamik nur auf die materielle Grundlage der psychischen Erscheinungen bezögen, während die psychologischen Gesetze für die psychischen Erscheinungen gälten, die den „Überbau" dieser materiellen, physiologischen Basis darstellen. Diese Formel ist besonders gefährlich, weil sie dem äußeren Anschein nach der richtigen Interpretation der Beziehungen zwischen physiologischen Gesetzmäßigkeiten und Psychologie nahekommt, insofern sie die physiologischen Gesetzmäßigkeiten der höheren Nerventätigkeit als „Grundlage" der Psychologie bezeichnet. In Wirklichkeit aber ist sie hinsichtlich ihres tieferen Sinnes und ihrer tatsächlichen Tendenz Ausdruck eines extremen Dualismus. Sie stellt gleichsam in vertikaler Richtung (von der physiologischen „Basis" zum „Überbau" der psychischen Erscheinungen) dasselbe äußere Nebeneinander zwischen beiden her, wie es die vorherigen Formeln in „horizontaler" Richtung herstellen. Gemäß dem Sinn dieser Formel beziehen sich die Gesetze der höheren Nerventätigkeit überhaupt nicht auf die psychischen Erscheinungen, sondern lediglich auf ihre physiologische „Basis", auf die physiologischen Erscheinungen. Die psychischen Erscheinungen figurieren nach dieser Formel überhaupt nicht als Erscheinungsform neurodynamischer Gesetze. Der Zusammenhang zwischen ihnen ist zerrissen. Es ist die Restauration des alten gleichermaßen mechanistischen wie idealistischen Schemas. Der ganze Inhalt der Pawlowschen Lehre von der höheren Nerventätigkeit und die ganze wissenschaftliche Entwicklung widerlegen die in dieser Formel verborgene Konzeption. 3 Die Wege der psychologischen wie überhaupt jeder wissenschaftlichen Forschung werden immer, mehr oder weniger bewußt, von der theoretischen Konzeption bestimmt, die der Forschung zugrunde liegt. Diese theoretische Konzeption bestimmt den Forschungsansatz. Wie müssen nun die Forschungsansätze und Forschungswege auf dem Gebiete der Psychologie beschaffen sein? Entscheidend muß hier die dialektisch-materialistische Interpretation des Determinismus sein. Unmittelbarer Ausdruck dieser Interpretation ist die These, daß die äußeren Ursachen über die inneren Bedingungen wirken.

Allgemeine Probleme

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Es läßt sich unschwer nachweisen, daß gerade diese These das „ForschungsmodelF' bestimmt hat, das Pawlow in seiner Lehre von der höheren Nerventätigkeit realisierte. Üblicherweise — und mit vollem Recht — betont man, daß Pawlow die Hirntätigkeit so auffaßte, daß sie die äußeren Wechselbeziehungen von Organismus und Lebensbedingungen realisiere. Nicht weniger wichtig ist es aber, noch etwas anderes zu betonen: Pawlow vermochte die Gesetzmäßigkeiten dieser äußeren Wechselbeziehungen nur deshalb aufzudecken, weil er dabei auch die inneren Gesetzmäßigkeiten der Neurodynamik der corticalen Prozesse ermittelte, die Gesetze ihres eigenen Verlaufs (die Gesetze der Irradition und Konzentration) und ihrer Wechselbeziehung (das Gesetz der Induktion). Ohne Kenntnis dieser inneren Gesetze könnte man lediglich deskriptiv konstatieren, daß eine bestimmte äußere Einwirkung im vorliegenden Falle eine bestimmte Reaktion ausgelöst hat (man würde sie also unmittelbar nach dem Reiz-Reaktions-Schema in Beziehung bringen). Bestenfalls könnte man Gruppen oder Typen von Einwirkungen ermitteln, indem man wiederum deskriptiv ermittelte Gruppen oder Typen von Reaktionen zu ihnen in Beziehung setzte. Eben diesen Weg geht bekanntlich der Behaviorismus. Im Gegensatz zu Pawlow folgt er dem mechanistischen Reiz-Reaktions-Schema. Die Beschreibung der äußeren Beziehungen von Reiz und Reaktion genügt der pragmatischen bzw. überhaupt positivistischen Methodologie, von der die Behavioristen ausgehen. Zur Ermittlung echter Gesetzmäßigkeiten führt dieser Weg nicht. Bei den Pawlow sehen Untersuchungen werden die untersuchten Erscheinungen (die Speichelabsonderungen als Antwort auf einen Reiz, die Bildung einer bedingten Verbindung) zu Indikatoren für die ihnen zugrunde liegenden Gesetzmäßigkeiten gemacht. Nachdem die äußeren Beziehungen des Organismus zu seinen Lebensbedingungen durch die inneren Wechselbeziehungen, also durch die inneren Gesetzmäßigkeiten der Hirntätigkeit gebrochen sind, bieten sie sich bei Pawlow in ihrer effektiven Gesetzmäßigkeit dar. Nur dieser Weg führt zu einer wirklich wissenschaftlichen Erkenntnis. Nur weil er die inneren Gesetze der Neurodynamik der corticalen Prozesse aufdeckte, konnte Pawlow eine exakte wissenschaftliche Theorie schaffen, nämlich die Lehre von der höheren Nerventätigkeit. Nicht anders muß es auch in der Psychologie zugehen. Auf einem anderen Wege, auf Grund eines anderen „Modells" läßt sich auch die psychologische Wissenschaft nicht aufbauen. Die Hauptschwäche der psychologischen Theorie hat sich nämlich darin bemerkbar gemacht, daß die Psychologie bisher noch nicht bewußt diese Richtung des Forschungsansatzes verfolgt hat. Nehmen wir als Beispiel die Denkforschung. In der Literatur, speziell in der Literatur über das Denken der Schüler, finden wir Fälle, in denen die Lösung einer Aufgabe auf eine andere, analoge entweder übertragen wurde oder nicht. Das sind Fakten, auf die der Lehrer bei seiner Arbeit mit den Schülern dauernd stößt. Fakten, die außerordentlich wichtig sind, wenn man sich ein Urteil über die Denktätigkeit bilden will. Als Ursache dafür, daß die Übertragung das eine Mal erfolgt und das andere Mal nicht, gibt man üblicherweise variierende Bedingungen bei der Darbietung der Aufgabe an. Das Ergebnis derartiger Untersuchungen kann man grob schematisch und daher auch extrem vereinfacht als Abhängigkeit der Übertragung von den variierenden Bedingungen darstellen. Aber die „Übertragung" ist doch eigentlich nur

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Theorie

eine methaphorische Beschreibung von irgend etwas, das äußerlich abläuft, ohne daß man seinen inneren psychologischen Inhalt aufdeckt. Psychologisch gesehen ist die Übertragung eine Verallgemeinerung. Mit „Variation der Bedingungen", unter denen man dem Schüler die Aufgabe stellt, umschreibt man aber nicht etwa Handlungen des Schülers, sondern vielmehr solche des Lehrers. Die Übertragung mit dem Variieren in Zusammenhang zu bringen heißt also, die äußere Einwirkung (die Tätigkeit des Lehrers hinsichtlich der Variation der Aufgabenbedingungen) mit dem Resultat der Denktätigkeit des Schülers unmitttelbar in Verbindung zu bringen, wobei man die Denktätigkeit des Schülers selbst unberücksichtigt läßt; man richtet sich bei seiner Erklärung also nach dem Schema Reiz-Reaktion, ohne den inneren Gehalt der Denktätigkeit, also ihre inneren Gesetzmäßigkeiten, aufzudecken. Was kann nun die Variation der Bedingungen für die Denktätigkeit des Schülers bedeuten? Nur das eine: Die Variation schafft günstigste Voraussetzungen für die Analyse, für die Abgrenzungen der wesentlichen Bedingungen von den unwesentlichen, d. h. der Bedingungen der Aufgabe im eigentlichen, exakten Sinne von den Nebenumständen, mit denen die Aufgabe im jeweiligen Spezialfall behaftet ist. Hinter der Abhängigkeit Variation-Übertragung finden wir also die andere Abhängigkeit: Analyse-Verallgemeinerung. Hier noch ein anderes Beispiel, das einen anderen Gedankengang verdeutlicht. Das Denken wird als Gesamtheit geistiger Handlungen dargestellt und diese geistigen Handlungen wiederum als eine Reihe von Lösungsverfahren für theoretische Aufgaben, die im Verlauf der Entwicklung der Wissenschaft gesellschaftlich ausgearbeitet und im Unterricht angeeignet worden sind (wir beschreiben diesen Gedankengang ebenso vereinfacht und grob schematisch wie den ersten). Hier wird also die Aneignung der Kenntnisse und Praktiken (der Lösungsverfahren für Aufgaben) im Bildungsprozeß in den Vordergrund der Lehre vom Denken gerückt. Darüber läßt sich nun tatsächlich nicht streiten: Die Aneignung von Kenntnissen und Fertigkeiten ist eine Angelegenheit von eminenter Wichtigkeit, und ohne sie wäre auch die Entwicklung des Denkens unmöglich. Aber was bedeutet denn nun eigentlich diese im Unterricht erfolgende Aneignung? Es ist ein bestimmtes pädagogisches Faktum. Beschränkt man sich nun auf die unmittelbare Untersuchung dieses Faktums, dann sieht die Forschung ganz natürlich ihre Hauptaufgabe darin, die Etappen der Aneignung sowie die Bedingungen zu beschreiben, von denen der Erfolg abhängt. Damit droht der Forschung die Gefahr, im wesentlichen im Bereich der pädagogischen Problematik steckenzubleiben. Will man zur eigentlichen psychologischen Forschung übergehen, dann muß man klären, was „Aneignung" eigentlich psychologisch bedeutet, d. h., man muß den inneren psychologischen Gehalt, die inneren Gesetzmäßigkeiten der Denktätigkeit des Schülers aufdecken, die zur Aneignung führt. Psychologisch aber ist die Aneignung eine unter den Bedingungen des Unterrichtes ablaufende Denktätigkeit der Analyse, Synthese, Abstraktion und Verallgemeinerung. Die elementaren Denkoperationen verlaufen im Bereich des praktischen Handelns (Fingerrechnen) und gehen erst später in den intellektuellen Bereich über (Kopfrechnen), aber das ist nur die Konstatierung eines Faktums. Bei der psychologischen Untersuchung muß man es zunächst einmal psychologisch analysieren. Psychologisch

Allgemeine Probleme

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ist der Übergang von der „äußeren" zur „inneren" Handlung ein Prozeß der Verallgemeinerung und Abstraktion, dessen Fortschreiten man verfolgen muß. Die Denktätigkeit tritt unmittelbar in Form einer Vielzahl mannigialtiger Operationen in Erscheinung. Jede dieser Operationen muß speziell untersucht und unter Berücksichtigung ihrer Eigenart erklärt werden. Damit alle diese speziellen Erklärungen spezieller Operationen schließlich zu einer allgemeinen Theorie der Denktätigkeit zusammengefaßt werden können, muß man alle speziellen Operationen, ohne ihren Besonderheiten Abbruch zu tun, als Akte der Analyse und Synthese und davon abhängende Prozesse der Verallgemeinerung und Abstraktion auffassen, die unter jeweils verschiedenen Bedingungen, an unterschiedlichem Material und auf verschiedenen Stufen ablaufen. Diese Akte der Analyse usw. stellen gleichsam die „gemeinsamen Nenner" der mannigfaltigen Denktätigkeit dar, die es erlauben, sie zusammengefaßt abzuhandeln. Analyse und Synthese sowie die von ihnen abgeleitete Abstraktion und Verallgemeinerung sind notwendige Begriffe einer allgemeinen Theorie der Denktätigkeit. Bei der Untersuchung der Denktätigkeit muß man ihr Fortschreiten verfolgen. Eine beliebige geistige Tätigkeit in der Psychologie charakterisieren bedeutet letzten Endes, sie als Derivat der Analyse, Synthese usw. darzustellen. Andererseits nehmen Analyse, Synthese und Verallgemeinerung verschiedene Formen an und liefern unterschiedliche Resultate j e nachdem, in welcher konkreten Denktätigkeit sie auftreten. Die gesetzmäßigen Wechselbeziehungen zwischen Analyse und Synthese sowie ihren Derivaten — Verallgemeinerung und Abstraktion — stellen die inneren Grundgesetzmäßigkeiten des Denkens dar. Die Aufgabe der psychologischen Forschung besteht darin, diese inneren Grundgesetzmäßigkeiten aufzuhellen, in denen sich zwar noch nicht alles erschöpft, was zur Erklärung der Denktätigkeit erforderlich ist, die aber dennoch für diese Erklärung absolut unumgänglich sind. Die Denktätigkeit - wie überhaupt jede Tätigkeit des Menschen — muß so verstanden werden, daß man von den äußeren Wechselbeziehungen ausgeht, die sich beim Individuum im Verlauf der Aneignung der von der Menschheit akkumulierten Kenntnisse herausbilden, von der Beziehung zu den Aufgaben, die sich für den einzelnen im gesellschaftlichen Leben, im Schulunterricht usw. ergeben. Hat man aber nicht die inneren Gesetzmäßigkeiten und die inneren Beziehungen ermittelt, durch die diese äußeren Wechselbeziehungen gebrochen werden, dann kann man auch die Denktätigkeit und die Gesetzmäßigkeiten eben dieser Wechselbeziehungen nicht begreifen. E s gibt keine zwei möglichen Wege für den Aufbau einer psychologischen Theorie, von denen sich der eine auf die inneren Beziehungen der Denktätigkeiten stützt und der andere sich auf die äußeren Beziehungen des Denkens zum Objekt orientiert. E s gibt nur einen Weg der psychologischen Forschung und der Entwicklung einer zuverlässigen Theorie des Denkens. Er besteht darin, daß man die äußeren Wechselbeziehungen der Denktätigkeit zu ihrem Objekt, also zu den Aufgaben untersucht, die in diesen Fällen gestellt werden, und damit ihre inneren Gesetze aufdeckt, um dann die äußeren Wechselbeziehungen durch diese inneren Gesetze der Denktätigkeit zu brechen und so auch diese Wechselbeziehungen in ihrer Gesetzmäßigkeit zu erfassen. 3

Prinzipien und Wege

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Theorie

Geht man nur von den inneren Gesetzen der Generalisation (Verallgemeinerung) an sich aus, dann kann man unmöglich ermitteln, was denn eigentlich und nach welchen Merkmalen generalisiert wird. Das hängt von den Besonderheiten der Objekte und von den äußeren Wechselbeziehungen ab, die sich zwischen Subjekt und Objekt herausbilden. Ohne die inneren Gesetzmäßigkeiten kann man dagegen nicht erfassen, wie die Generalisation vor sich geht und welches Resultat sie liefern wird. Die äußeren Wechselbeziehungen bieten sich nur dann als gesetzmäßige Wechselbeziehungen dar, wenn man auch die inneren Wechselbeziehungen und deren Gesetzmäßigkeiten ermittelt. (Näheres über die Gesetzmäßigkeiten der Denktätigkeit findet man weiter unten im Kapitel „Über das Denken".) Prinzipiell ebenso ist auch die Sachlage im Hinblick auf die psychologische Theorie überhaupt: Man muß die Lebenserscheinungen in psychologischen Begriffen ausdrücken, indem man diejenige Seite an ihnen hervorhebt, die den speziellen Gegenstand der psychologischen Forschung ausmacht. Man muß die Abhängigkeit zwischen ihnen durch innere psychologische Gesetzmäßigkeiten ausdrücken und auf diese Weise zur psychologischen Interpretation der Gesetzmäßigkeit der primären äußeren Wechselbeziehungen des Menschen zur objektiven Welt, zu anderen Menschen, zur gesellschaftlichen Erfahrung, zu den Kenntnissen, die er sich im Laufe der Ausbildung aneignet, usw. gelangen. 4 Nachdem wir nun in allgemeinen Zügen die Struktur der psychologischen Theorie umrissen haben, erhebt sich die Frage, was eigentlich ihren Inhalt ausmachen soll. Auch ihn müssen wir, wenn auch nur schematisch, skizzieren. Im Mittelpunkt des psychologischen Systems muß das Psychische als Prozeß, als Tätigkeit stehen. (Diese These Setschenows gilt nach wie vor.) Unter dem Psychischen als Tätigkeit verstehen wir einen psychischen Prozeß oder eine Gesamtheit von Prozessen, die irgendein Lebensbedürfnis des Menschen befriedigen und auf ein bestimmtes Ziel gerichtet sind, das mehr oder minder unmittelbar mit der Befriedigung dieses Bedürfnisses zusammenhängt. Es geht hier also um die Tätigkeit des Menschen, des Subjektes, der Persönlichkeit und nicht einfach um die irgendeines Organs (und sei es auch des Gehirns), es geht also um die durch das Gehirn vollzogene Tätigkeit des Menschen. Eine solche Tätigkeit kann etwa eine ästhetische Wahrnehmung oder das Denken sein, insofern sie ein ästhetisches oder gnostisches Bedürfnis des Menschen befriedigen und auf dieses Ziel gerichtet sind. Der psychische Prozeß, der selbst keine Tätigkeit des Menschen in diesem Sinne ist, geht immer in irgendeine Tätigkeit ein und hängt von ihr ab. Die Untersuchung des Psychischen als Prozeß oder Tätigkeit ist die erste Aufgabe der Psychologie. Dazu gehört auch die Untersuchung des Bewußtseins als Prozeß des Bewußtwerdens der Welt. Die richtig verstandene Untersuchimg des Psychischen als Prozeß oder Tätigkeit macht mit der abstrakten idealistischen funktionellen Konzeption der Psychologie Schluß. Die „Funktionen" der sogenannten funktionellen Psychologie - seien es das Gedächtnis oder die Phantasie, die Aufmerksamkeit oder der Wille - sind in psychische Akteure verwandelte psychische Prozesse. Während in der idealistischen

Allgemeine Probleme

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Psychologie schlechthin als Subjekt bzw. Akteur an Stelle des Menschen sein Bewußtsein fungiert, werden in der idealistischen funktionellen Psychologie die einzelnen Seiten der psychischen Tätigkeit zu speziellen Akteuren oder Subjekten der entsprechenden Tätigkeiten. Das Bewußtsein wird zur Szene, auf der diese Akteure auftreten und äußerliche Wechselbeziehungen aufnehmen. Die Entwicklung einer wissenschaftlichen Psychologie verlangt, diese „Akteure" zu beseitigen und jene Gesetzmäßigkeiten der psychischen Tätigkeit, ihre verschiedenen Aspekte oder Seiten aufzudecken, die von diesen fiktiven Akteuren verdeckt werden. Nehmen wir als Beispiel die Phantasie. Für die funktionelle Psychologie ist sie ein besonderer Akteur; als spezifische Eigenschaften projiziert man in sie die Gesetzmäßigkeiten oder die speziellen Operationen einer umgestaltenden Widerspiegelungstätigkeit hinein. Jeder Akt der Widerspiegelung eines Objektes durch ein Subjekt, der durch Analyse und Synthese, Abstraktion und Generalisation erfolgt, ist notwendigerweise keine mechanische Reproduktion des Objektes, sondern vielmehr eine mehr oder weniger beträchtliche ideelle — sensorische (. der intellektuelle - Umgestaltung des Objektes. Im Abbild des Objektes werden die einen Seiten akzentuiert und treten in den Vordergrund, während die Wahrnehmung anderer infolge negativer Induktion seitens der „starken" Reize gehemmt wird. Sie werden „maskiert" und unterdrückt. Das Abbild des Gegenstandes wird also im eigentlichen Wahrnehmungsprozeß retuschiert, modelliert, und zwar in Abhängigkeit von den Wechselbeziehungen zwischen Subjekt und widergespiegeltem Objekt, von der Lebensbedeutung dieses Objektes für das Subjekt und von der Einstellung des Subjektes zu ihm. Die „Phantasie", also der Umgestaltungsprozeß des Abbildes eines Objektes, ist also ein Aspekt, eine Seite, und zwar eine notwendige Seite jedes sensorischen Widerspiegelungsprozesses der Wirklichkeit. Ist diese Umgestaltung zunächst unwillkürlich, so wird sie doch später zu einem sogenannten willkürlichen Akt, der entsprechend einer bestimmten Absicht bewußt gesteuert wird, und geht aus dem Bereich der Wahrnehmung in den der Vorstellung über. Aufgabe der wissenschaftlichen Forschung ist es nun, die allgemeinen und speziellen Gesetzmäßigkeiten dieses Umgestaltungsprozesses zu untersuchen (der einen Aspekt, eine Seite des einheitlichen Gesamtprozesses der psychischen Widerspiegelung der Welt durch den Menschen darstellt). Die Verwandlung der Phantasie aus einem Prozeß oder genauer, aus einer spezifischen Seite, aus einem Aspekt des psychischen Widerspiegelungsprozesses der Welt durch den Menschen in einen besonderen Akteur ist eine zumindest nutzlose und müßige Beschäftigung, da man ja die „Eigenschaften" dieses Akteurs doch nur bestimmen kann, nachdem man die Gesetzmäßigkeiten der entsprechenden Tätigkeit oder des entsprechenden Prozesses aufgehellt hat. Es ist eine schädliche und mystifikatorische Angelegenheit, da der Hinweis auf die Phantasie (wie auch auf jede andere „Funktion") den Eindruck erweckt, man brauchte die Gesetzmäßigkeiten des Prozesses nicht zu erforschen, vielmehr gees, auf den entsprechenden „Akteur" zu verweisen, um alles, was man nur will, mit dem Hinweis auf die ihm zu diesem Zweck speziell beigelegten Eigenschaften zu „erklären", wobei man im Prinzip aber gar nichts untersucht und erklärt. Der philosophische Sinn der funktionellen Psychologie besteht darin, daß man an die Stelle des Menschen als Subjekt die verschiedenen Seiten seiner Psyche, seines 3*

36

Theorie

Bewußtseins setzt (und darin liegt auch ihr fundamentaler Fehler). Die funktionelle Psychologie ist die spezielle psychologische Erscheinungsform der allgemeinen Tendenz des Idealismus, das Bewußtsein, das Denken, den Geist usw. als Subjekt an die Stelle des Menschen zu setzen. (Über die Marx sehe Kritik zu dieser Fragestellung bei Hegp.l siehe weiter unten.) Selbstverständlich muß man mit der so aufgefaßten funktionellen Psychologie radikal Schluß machen, wenn man eine wissenschaftliche Psychologie aufbauen will. Zudem ist auch zu bedenken, daß der Begriff der Funktion wie auch der Begriff der Tätigkeit und des Prozesses eine bestimmte Auffassung von der Determination psychischer Prozesse ausdrückt. Mit dem Begriff der Funktion ist die Vorstellung verknüpft, der gesamte Prozeß werde nur von innen, heraus determiniert. In der sogenannten psychomorphologischen Konzeption (wie auch in der Auffassung des Vulgärmaterialismus) bedeutete die Interpretation des Psychischen als Funktion des Gehirns, daß man es als Aktion des Zellgewebes auffaßte, die durch die morphologische Struktur dieses Gewebes bestimmt wurde; in der idealistischen funktionellen Psychologie bezeichnete der Begriff der Funktion die Determiniertheit des psychischen Prozesses durch die Eigenschaften des entsprechenden „Akteurs", die also wiederum ausschließlich von innen heraus und ohne Beziehung zur Außenwelt erfolgen sollte. Im Unterschied zur Funktion, die als restlos von innen heraus determinierte Aktion aufgefaßt wurde, bietet die Interpretation des Psychischen als Prozeß oder Tätigkeit die Möglichkeit, die psychischen Erscheinungen als Resultat der Wechselwirkung von Mensch und Umwelt aufzufassen. Dadurch, daß wir bei der Untersuchung eines psychischen Prozesses (s. Näheres im Abschnitt über das Denken) den Anteil der „inneren" Bedingungen, etwa der Denktätigkeit, besonders betonen, schaffen wir die Voraussetzungen für den Übergang von der funktionellen zur personalen Betrachtung des Denkens. Nicht das Denken denkt, sondern der Mensch, er und nicht sein Denken ist das Subjekt der Denktätigkeit. Jeder psychische Prozeß ist in die Wechselwirkung von Mensch und Umwelt eingeschlossen und an der Steuerung seines Handelns bzw. Verhaltens beteiligt; jede psychische Erscheinung ist sowohl Widerspiegelung des Seins als auch Glied in der Steuerung des Verhaltens bzw. des Handelns der Menschen. Das, was in funktioneller Sicht als Aufmerksamkeit und Wille auftritt, ist eigentlich der Steuerungsaspekt der psychischen Tätigkeit des Menschen (Näheres dazu s. „Sein und Bewußtsein", Kap. 4). Zum Bereich der psychologischen Forschung gehören daher auch die Bewegungen, Handlungen und Verhaltensweisen der Menschen, also nicht nur die „psychische", geistige Tätigkeit, sondern auch jene praktische Tätigkeit, mittels derer die Menschen die Natur verändern und die Gesellschaft umgestalten. Freilich ist nur ihr spezifisch psychologischer Gehalt Gegenstand der psychologischen Untersuchung, also ihre Motivation und Steuerung, durch die die Handlungen mit den in Empfindung, Wahrnehmung, Bewußtsein widergespiegelten objektiven Bedingungen in Einklang gebracht werden, denen sie unterliegen. Jeder psychische Prozeß und jede psychische Tätigkeit ist immer eine Verbindung zwischen Individuum und Umwelt. In der psychischen Tätigkeit entsteht immer etwas,

Allgemeine Probleme

37

das die objektive Realität als Widerspiegelung repräsentiert, also ein Abbild. Das Abbild an sich kann natürlich außerhalb des psychischen Prozesses bzw. der psychischen Tätigkeit nicht Gegenstand der psychologischen Forschung sein. Außerhalb jeglichen Prozesses kann es auch nicht existieren. Unter gewissen Bedingungen erscheint es jedoch für das Subjekt außerhalb des Prozesses, insofern der Prozeß, in dem das Abbild entsteht, selbst dem Subjekt nicht zum Bewußtsein kommt. In diesen Fällen besteht die Aufgabe der psychologischen Forschung darin, den Prozeß dennoch aufzudecken, indem sie die Verlaufsbedingungen des Wahrnehmungsprozesses verändert und die entsprechende Tätigkeit in ihrer Genese verfolgt. Unter erschwerten Bedingungen werden ebenso wie auf den Anfangsetappen der Genese der entsprechenden Tätigkeit (etwa der optischen Wahrnehmung eines Gegenstandes oder einer Situation) die optische Analyse, Synthese und Verallgemeinerung sowie auf ihrer Grundlage die Interpretation, mit einem Wort sämtliche psychischen Komponenten des Wahrnehmungsprozesses, deutlich. Gegenstand der psychologischen Forschung ist also das Abbild nur in untrennbarem Zusammenhang mit der psychischen Tätigkeit. Zugleich können auch die psychischen Prozesse bzw. die psychische Tätigkeit in ihrer Spezifik nur erfaßt werden, wenn man sie im Zusammenhang mit dem Abbild sieht, das im Verlauf dieser Prozesse entsteht. Die optische Wahrnehmung zum Beispiel wird in ihrer Spezifik nur im Zusammenhang mit dem Abbild deutlich, das im Wahrnehmungsprozeß entsteht. Insofern jeder psychische Prozeß seinen konkreten Ausdruck in einem Abbild findet, das die objektive Welt als Widerspiegelung repräsentiert, setzt er andererseits auch ein Subjekt voraus, das wiederum immer mit der objektiven Welt zusammenhängt. Die Lehre von den psychischen Prozessen und von der psychischen Tätigkeit führt zu unlösbaren Widersprüchen, wenn sie, entgegen ihrer Interpretation als Form des Zusammenhanges von Subjekt und objektiver Welt, nicht mit der Lehre von den psychischen Eigenschaften des Menschen verknüpft wird, wenn also die psychischen Prozesse ihren Ausdruck nur im Abbild des Gegenstandes und nicht auch in der Charakteristik des Subjektes finden. Die Frage nach dem Zusammenhang zwischen der psychischen Tätigkeit und den psychischen Eigenschaften des Menschen ist eines der Grundprobleme der psychologischen Theorie. Nur über den Zusammenhang der psychischen Eigenschaften des Menschen mit seiner Tätigkeit führt der Weg ihrer Formung. Von der richtigen Lösung dieser Frage hängt vor allem ab, ob die Psychologie irgendeinen wesentlichen, und zwar spezifischen Beitrag zu dem großen Werk der Menschenerziehung und der Ausbildung ihrer Fähigkeiten leisten kann. Indessen ist die Lehre von den Fähigkeiten, von den psychischen Eigenschaften der Persönlichkeit, überhaupt von ihrer psychologischen Charakteristik gegenwärtig der am wenigsten entwickelte Teil der Psychologie. Hier ist die Substanzialisierung des Psychischen stärker als irgendwo anders in der Psychologie ausgeprägt; zudem erhält sie durch ihren primitiven Psychomorphologismus auch noch einen scheinwissenschaftlichen Anstrich, werden doch die Fähigkeiten unmittelbar mit morphologischen Hirnstrukturen in Zusammenhang gebracht, ohne daß man die" Dynamik der reflektorischen Tätigkeit berücksichtigte.

38

Theorie

Die reflektorische Interpretation des Psychischen gilt nicht nur für die psychischen Prozesse, sondern auch für die psychischen Eigenschaften. Eine psychische Eigenschaft ist die Fähigkeit, unter gewissen Bedingungen auf in bestimmter Weise zu generalisierende Einwirkungen mit einer bestimmten psychischen Tätigkeit zu antworten. Die Anwendung der reflektorischen Konzeption auf die psychischen Eigenschaften führt zwangsläufig zur Verknüpfung der Lehre von den psychischen Eigenschaften mit der Lehre von den psychischen Prozessen. Nach traditionellem Standpunkt verstand man unter Persönlichkeitseigenschaften gewöhnlich lediglich die Charakterzüge oder die Fähigkeiten für kompliziertere berufliche Tätigkeiten (des Musikers, des Mathematikers usw.). Diese Eigenschaften wurden als individuelle Besonderheiten dargestellt, die den einen von den übrigen abheben sollten. Indessen darf man die Betrachtung der herausragenden individuellen Eigenarten nicht von der Untersuchung der elementaren „Arteigenschaften" trennen, die allen Menschen gemein sind. Löst man die überragenden Fähigkeiten einzelner von dieser Grundlage, dann mystifiziert man sie unausweichlich und verbaut sich den Weg zu ihrer Erforschung. Tatsächlich aber muß man im Gegensatz dazu alle Eigenschaften des Menschen in ihrem wechselseitigen Zusammenhang sehen und dabei von den allen Menschen gemeinsamen „Arteigenschaften" ausgehen. Eine solche primäre allgemeine Eigenschaft ist die Sensibilität in der ganzen Mannigfaltigkeit ihrer Formen und Ausprägungsgrade, und zwar nicht als Größe aufgefaßt, die den Schwellen umgekehrt proportional ist, sondern vor allem als Fähigkeit, auf bestimmte Einwirkungen unter bestimmten objektiven Bedingungen mit Empfindungen und Wahrnehmungen zu reagieren. Ihr liegt eine „Legierung" unbedingter und bedingter Verbindungen zugrunde. Dabei funktioniert jede auch nur irgendwie komplizierte sensorische Tätigkeit - sagen wir, die optische Wahrnehmung der räumlichen Eigenschaften und Relationen der Objekte - als Ganzes, das sowohl angeborene unbedingt-reflektorische als auch erworbene und im Verlauf der entsprechenden Tätigkeit ausgebildete bedingt-reflektorische Komponenten enthält. Die Ausbildung der entsprechenden Tätigkeit erfolgt notwendig zusammen mit der Ausbildung des entsprechenden „funktionellen Organs" (Uchtomski), also des funktionellen Systems, das auf den Vollzug der entsprechenden Funktion (im vorliegenden Falle auf die optische Wahrnehmung der räumlichen Eigenschaften der Gegenstände) abgestimmt ist. Bei der Lösung dieser Aufgabe, die in der Formung eines Abbildes des Gegenstandes besteht, bilden sich sowohl die entsprechende psychische Tätigkeit als auch das „Organ" für ihren Vollzug aus, also ein funktionelles System, das selektiv morphologisch (in den Analysatoren) fixierte Funktionen und die sich auf ihrer Grundlage im Verlauf der entsprechenden Tätigkeit bildenden Verbindungen umfaßt. Ein solches „funktionelles Organ" bildet auch die Grundlage einer psychischen Eigenschaft; es ist sogar die Fähigkeit oder Eigenschaft in ihrer physiologischen Erscheinungsform. Die Ausbildung psychischer sensorischer Tätigkeiten und der entsprechenden Eigenschaften stellen zwei Erscheinungsweisen eines im Grunde einheitlichen Prozesses dar. Physiologisch als System nervaler Verbindungen in Erscheinung tretend, existieren die psychischen Eigenschaften als solche in Form der gesetzmäßig auftretenden psychischen Tätigkeit.

Über die Empfindung

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Dem muß notwendigerweise noch etwas hinzugefügt werden. Die psychologische Charakteristik eines Menschen (einer Persönlichkeit) kann offensichtlich nicht aus einer einfachen Summe von Eigenschaften bestehen, von denen jede psychologisch durch eine spezifische Antwort auf eine entsprechende Einwirkung dargestellt würde. Das würde die vollständige Zersplitterung der Persönlichkeit bedeuten und zu der falschen mechanistischen Vorstellung führen, daß jede Einwirkung auf den Menschen ihren Effekt „stückweise" bestimmen würde, d. h. unabhängig von der durch andere Einwirkungen bedingten dynamischen Situation, in der diese Einwirkung geschieht. Die inneren Gesetzmäßigkeiten der dynamischen Wechselbeziehungen aufzudecken, durch die im Menschen alle äußeren Einwirkungen gebrochen werden, ist die allerwichtigste aller wichtigen Aufgaben der Psychologie. 10

Einiiie

philosophische

Probleme des

der Empfindungstheorie

und das

Prinzip

Determinismus

Die philosophischen Grundprobleme der Empfindungstheorie hängen untrennbar mit den Problemen der Determination der Tätigkeit der „Sinnesorgane" 11 und ihres Produktes, der Empfindung, zusammen. Davon kann man sich leicht überzeugen. 10

11

Welche Bedeutung die Einstellung auf die Ermittlung der inneren Bedingungen eines Prozesses in ihrer Wechselwirkung mit den äußeren hat, werden wir weiter unten am Beispiel der Denkforschung zeigen. Die reflektorische Konzeption von Setschenow und Pawlow hat auch den Begriff des „Sinnesorgans" wesentlich verändert. Für die vorpawlowsche Physiologie war das der periphere Rezeptor als solcher, und für die moderne nicht-pawlowsche Physiologie ist er es in erheblichem Maße auch noch heute. Nach der Setschenowschen und Pawlowschen Konzeption dagegen ist er nur das periphere Ende eines einheitlichen Apparates, des Analysators, der auch über einen zentralen, corticalen Teil verfügt (sowie über Leitungsbahnen, die den corticalen und peripheren Teil des Apparates vereinigen). Natürlich erkennt auch die auf dem Standpunkt der peripheren Theorie stehende Physiologie die Beteiligung des Gehirns bzw. des Kortex an der Entstehung von Empfindungen an. Aber nach dieser peripheren Konzeption ist das Gehirn entweder nur ein Feld, über das die Erregung einfach vom peripheren scnsorischen auf den peripheren motorischen Apparat übergeleitet wird, oder aber eine Instanz, in der die für die Entstehung einer Empfindung notwendige Registrierung der von der Peripherie stammenden Impulse erfolgt, oder aber schließlich die höchste Stufe, die die auf den untersten Etagen unabhängig vom Gehirn geleistete Arbeit ergänzt. Entscheidend für die neue Konzeption ist, daß der Analysator als einheitlicher Apparat angesehen wird, bei dem der zentrale Teil bereits an dem beteiligt ist, was an der Peripherie vor sich geht. Die Frage, was ein „Sinnesorgan" hinsichtlich seiner morphologischen Struktur sei, wird einer anderen, funktioneilen, Frage untergeordnet: Nach welchem. Prinzip arbeitet, es? Der rezeptorischen Konzeption stellt man hier die reflektorische gegenüber. Die Rezeption selbst, sowohl die Extero- als auch die Interorezeption, richtet sich nach dem reflektorischen Prinzip. Als Bestätigung für diese These hat die moderne Wissenschaft zahlreiche Befunde zusammengetragen, und zwar sowohl morphologische, die die Existenz efferenter Fasern in den Rezeptoren belegen, die die Einwirkungen des Zentrums zur Peripherie leiten (Befunde von Ramon y Cajal, Schkolnik-Jarros, Granit und Grünstein, Hunt, Kwassow u. a.),

Über die Empfindung

39

Dem muß notwendigerweise noch etwas hinzugefügt werden. Die psychologische Charakteristik eines Menschen (einer Persönlichkeit) kann offensichtlich nicht aus einer einfachen Summe von Eigenschaften bestehen, von denen jede psychologisch durch eine spezifische Antwort auf eine entsprechende Einwirkung dargestellt würde. Das würde die vollständige Zersplitterung der Persönlichkeit bedeuten und zu der falschen mechanistischen Vorstellung führen, daß jede Einwirkung auf den Menschen ihren Effekt „stückweise" bestimmen würde, d. h. unabhängig von der durch andere Einwirkungen bedingten dynamischen Situation, in der diese Einwirkung geschieht. Die inneren Gesetzmäßigkeiten der dynamischen Wechselbeziehungen aufzudecken, durch die im Menschen alle äußeren Einwirkungen gebrochen werden, ist die allerwichtigste aller wichtigen Aufgaben der Psychologie. 10

Einiiie

philosophische

Probleme des

der Empfindungstheorie

und das

Prinzip

Determinismus

Die philosophischen Grundprobleme der Empfindungstheorie hängen untrennbar mit den Problemen der Determination der Tätigkeit der „Sinnesorgane" 11 und ihres Produktes, der Empfindung, zusammen. Davon kann man sich leicht überzeugen. 10

11

Welche Bedeutung die Einstellung auf die Ermittlung der inneren Bedingungen eines Prozesses in ihrer Wechselwirkung mit den äußeren hat, werden wir weiter unten am Beispiel der Denkforschung zeigen. Die reflektorische Konzeption von Setschenow und Pawlow hat auch den Begriff des „Sinnesorgans" wesentlich verändert. Für die vorpawlowsche Physiologie war das der periphere Rezeptor als solcher, und für die moderne nicht-pawlowsche Physiologie ist er es in erheblichem Maße auch noch heute. Nach der Setschenowschen und Pawlowschen Konzeption dagegen ist er nur das periphere Ende eines einheitlichen Apparates, des Analysators, der auch über einen zentralen, corticalen Teil verfügt (sowie über Leitungsbahnen, die den corticalen und peripheren Teil des Apparates vereinigen). Natürlich erkennt auch die auf dem Standpunkt der peripheren Theorie stehende Physiologie die Beteiligung des Gehirns bzw. des Kortex an der Entstehung von Empfindungen an. Aber nach dieser peripheren Konzeption ist das Gehirn entweder nur ein Feld, über das die Erregung einfach vom peripheren scnsorischen auf den peripheren motorischen Apparat übergeleitet wird, oder aber eine Instanz, in der die für die Entstehung einer Empfindung notwendige Registrierung der von der Peripherie stammenden Impulse erfolgt, oder aber schließlich die höchste Stufe, die die auf den untersten Etagen unabhängig vom Gehirn geleistete Arbeit ergänzt. Entscheidend für die neue Konzeption ist, daß der Analysator als einheitlicher Apparat angesehen wird, bei dem der zentrale Teil bereits an dem beteiligt ist, was an der Peripherie vor sich geht. Die Frage, was ein „Sinnesorgan" hinsichtlich seiner morphologischen Struktur sei, wird einer anderen, funktioneilen, Frage untergeordnet: Nach welchem. Prinzip arbeitet, es? Der rezeptorischen Konzeption stellt man hier die reflektorische gegenüber. Die Rezeption selbst, sowohl die Extero- als auch die Interorezeption, richtet sich nach dem reflektorischen Prinzip. Als Bestätigung für diese These hat die moderne Wissenschaft zahlreiche Befunde zusammengetragen, und zwar sowohl morphologische, die die Existenz efferenter Fasern in den Rezeptoren belegen, die die Einwirkungen des Zentrums zur Peripherie leiten (Befunde von Ramon y Cajal, Schkolnik-Jarros, Granit und Grünstein, Hunt, Kwassow u. a.),

Theorie

40

Man braucht sich nur einmal den vor langem angestellten Überlegungen ]. zuzuwenden, die auch heute noch nicht ihre Bedeutung verloren haben. Die

Müllers Müllersche

Darstellung der spezifischen Sinnesenergie führte dadurch zum „physiologischen Idealismus", daß Müller

das Problem der Determination falsch löste. Diese Konzeption

betrachtet die Empfindungen als Funktionen der Sinnesorgane, die voll und ganz von innen heraus determiniert sind; der eigentliche Reiz wird aus der Determination der Empfindung eliminiert, denn er löst nur eine Entladung der spezifischen Sinnesenergie aus, die sich in einer Empfindung äußert. In seinem „Handbuch der Physiologie des Menschen" schrieb Müller:

„Ein

und dieselbe

äußere

Ursache

ruft

verschiedene

Empfindungen in verschiedenen Sinnesorganen in Abhängigkeit von ihrer Natur hervor." Damit lehnte Müller

ganz zu Recht die mechanistische Determination der Empfindung

durch äußere Ursachen ab, die die inneren Bedingungen nicht berücksichtigt. Ebenda schrieb er ferner: „Wir können keinerlei Empfindungen haben, die durch äußere Ursachen ausgelöst werden, außer denen, die auch ohne diese Ursachen durch den Zustand unserer Sinnesnerven ausgelöst werden können." Damit klammerte Müller

die

äußere Determination ganz aus und reduzierte das Ganze auf die innere. Daraus ergibt sich nun als Schlußfolgerung der Satz: „Die Empfindung vermittelt dem Bewußtsein nicht die Qualitäten oder Zustände der äußeren Körper, sondern die Qualitäten oder Zustände der Sinnesnerven, die durch die äußere Ursache bestimmt werden, und diese Qualitäten sind für verschiedene Sinnesnerven verschieden." 1 2 Der Fehler Müllers

bestand selbstverständlich nicht darin, daß er die Spezifik der

Sinnesorgane anerkannte, denn damit erkannte er die Existenz innerer Bedingungen ihres Funktionierens an, die zu negieren falsch wäre. Der Fehler Müllers

lag vielmehr

darin, daß er nur von den inneren Bedingungen ausging und sie von den äußeren trennte. Diese Trennung äußerte sich bei ihm sowohl in genetischer als auch in funktioneller Sicht. Unter genetischem Aspekt berücksichtigte Müller Spezifik

eines

Organs

im

Verlauf

der

Entwicklung

durch

nicht, daß sich die

äußere

Einwirkungen

herausbildet, so daß man, wenn man das Problem genetisch sieht, von einer Adäquatheit des sich ausbildenden Organs gegenüber den Reizen sprechen kann, unter deren Einwirkung es sich ausbildet, und nicht nur von der Adäquatheit der Reize gegenüber dem ausgebildeten Organ sprechen darf. In funktioneller Sicht bestand die Isolierung und Verabsolutierung der inneren Bedingungen

— der spezifischen Sinnes-

energie — darin, daß der Außenreiz im Grunde vollkommen aus der Determination der Empfindungen eliminiert und nur als Startsignal angesehen wurde, das der Entladung der spezifischen Sinnesenergie diente, die einzig und allein die Qualität der Empfindung determinieren sollte. Das ist die eine Seite des Problems. Aber ohne seine Kehrseite aufzudecken, werden wir nicht zum Wesen

des Problems vorstoßen, werden wir seine eigentlichen

nicht finden. Die Ausgangsposition von Helmholtz war in einer Hinsicht der Müllerschen

diametral entgegengesetzt, aber das Endergeb-

nis, zu dem er kam, deckte sich praktisch mit der Konzeption Müllers. als auch funktionelle,

Zu der ihnen

die den Anteil motorischer und überhaupt eflektorischer Reaktionen

an der Genese der Empfindung nachweisen. 12

Wurzeln

— und das gilt es zu beachten —

}. Müller, Handbuch der Physiologie des Menschen. Coblenz 1837-1840, Bd. 2.

Über das Denken

gemeinsamen Manischen dualistischen Konzeption, wonach Idee und Objekt zwei verschiedenen Welten angehören und die Empfindung bestenfalls ein Symbol oder Zeichen des Objekts ist, gelangten Müller und Helmholtz physiologisch auf verschiedenen Wegen. In seiner „Physiologischen Optik" und „Physiologischen Akustik" - seinen großen Hauptwerken - steckte sich Helmholtz bekanntlich das Ziel, eine unmittelbare eindeutige Abhängigkeit der Empfindung vom Reiz, also vom auslösenden physikalischen Agens, nachzuweisen. In dieser Grundfrage steht er auf einem deterministischen, materialistischen Standpunkt. Als primäre Determination sieht Helmholtz die Determination von außen an, faßt sie aber mechanistisch als unmittelbare Determination der Empfindung durch das physikalische Agens und sieht dabei von jeder inneren Vermittlung seiner Einwirkung durch die wechselseitig verbundene Analyse und Synthese, Generalisation usw. ab, wie wir es in der reflektorischen Theorie von Setschenotv und Pawlow finden. Infolgedessen erweist sich die Empfindung, die mechanisch den sich in Abhängigkeit von den Bedingungen verändernden äußeren Reizeinwirkungen folgt, auf Schritt und Tritt als inadäquat gegenüber den konstanten Eigenschaften des Objektes. Die Interpretation der Empfindung als Symbol oder Zeichen ist bei Helmholtz und seinen Nachfolgern ein Sekundärprodukt der mechanistischen Interpretation der Determinierung der Empfindung durch den Reiz. Helmholtz selbst enthüllt diesen Zusammenhang, wenn er sagt, unsere Empfindungen seien Qualitäten, die wir den Gegenständen „zuschreiben", und drückten lediglich die Wirkung der Gegenstände auf unsere Sinnesorgane aus. Eben deshalb seien sie auch nur Zeichen der Gegenstände. Hier wiederholt sich in einem speziellen Bereich» nämlich dem psychophysiologischen, dasselbe, was im philosophischen Bereich einer der Brennpunkte der Philosophie der Neuzeit war, von Descartes bis Berkeley und weiter bis zu so modernen Philosophen wie Russell. Als Gegengewicht zur scholastischen Wahrnehmungstheorie stellte Descartes seine kausale Theorie der Wahrnehmung auf. Die progressive Tendenz dieser Theorie, die mit der naturwissenschaftlichen Theorie des Sehens und mit den Forschungen zur „Dioptrik" zusammenhängt, steht außer Zweifel. Aber ebenso zweifelsfrei ist auch, daß die kausale Wahrnehmungstheorie infolge ihrer mechanistischen Interpretation der Kausalität, die mit der allgemeinen Konzeption des mechanistischen Determinismus zusammenhing, von den Idealisten seit Berkeley als Argument für den Idealismus benutzt werden konnte und auch benutzt wurde. Wenn das Ding die Ursache unserer Empfindungen ist und die Empfindung das Resultat seiner Einwirkung auf uns, auf unsere Sinnesorgane, heißt das dann nicht, daß wir nicht die Dinge empfinden und wahrnehmen, sondern lediglich das Resultat ihrer Einwirkung auf uns, also die Veränderungen, die sie in uns bewirken, daß also die Empfindungen lediglich die Modifikation ausdrücken, die die Dinge in unseren Sinnesorganen erzeugen? Bei mechanistischer Deutung der kausalen Abhängigkeit kommt das tatsächlich heraus. Diese Argumente, die seinerzeit Berkeley ins Feld führte, findet man in der modernen Philosophie ganz unverhüllt bei Russell wieder. Seine in der modernen angloamerikanischen gnoseologischen Literatur weitverbreitete Theorie der sogenannten Sense-data, die er gemeinsam mit G. Moore entwickelte, ist eine Wiedergeburt der

Theorie

Berkeleyscheri These, daß das einzige uns zugängliche Objekt unsere eigenen Empfindungen (die Sense-data) seien. Diese These begründet Rüssel direkt mit der kausalen Wahrnehmungstheorie, als deren Anhänger er sich deshalb auch bekennt. 1 3 Rüssel leitet sozusagen Berkeley von Descartes ab und bedient sich dabei dessen mechanistischer Interpretation der Kausalität und des Determinismus überhaupt. Somit wird also die Adäquatheit der Empfindung und Wahrnehmung, überhaupt der Erkenntnis, gegenüber dem Objekt (die Widerspiegelungstheorie) nicht nur durch die Müllersche Behauptung untergraben, die Empfindungen hingen ausschließlich innerlich von der spezifischen Sinnesenergie ab, also durch die Negierung der äußeren Determination, sondern auch durch die mechanistische Interpretation dieser letzteren. Die mechanistische Determination von außen macht eine adäquate Erkenntnis der objektiven Welt unmöglich. Sie ist mit der Widerspiegelungstheorie unvereinbar. Unter dem Aspekt der Helmholtzschen Konzeption wird die Empfindung zwangsläufig „akonstant". Denn wenn die Empfindung der sich mit jeder Veränderung der Bedingungen ebenfalls verändernden Wirkung der Reize folgt, wird sie zwangsläufig den Eigenschaften des Gegenstandes inadäquat, die auch unter sich ändernden Bedingungen unverändert, konstant bleiben. Damit erhebt sich das Konstanzproblem. Das Faktum der Wahrnehmungskonstanz, d. h. der adäquaten Wahrnehmung der konstant bleibenden beständigen Eigenschaften des Gegenstandes bei — in gewissen Grenzen — variierenden Wahrnehmungsbedingungen (also bei Veränderung der Betrachtungsentfernung, des Sehwinkels, der Beleuchtung usw.) wird zum geheimnisvollen Konstanzproblem. Solange die Psychologie und Psychophysiologie der Sinnesorgane nun auf der mechanistischen Interpretation der Reizwirkung fußen, sind sie außerstande, dieses Problem irgendwie zu bewältigen. Um nun die adäquate Wahrnehmung des Objektes - bei gewissen Grenzen variierenden Wahrnehmungsbedingungen - zu erklären, nahmen die alte Psychologie und Psychophysiologie der Sinnesorgane eine besondere, der physiologischen Analyse unzugängliche „Seelentätigkeit" - nach Helmholtz14 - an, die die akonstante Empfindung in eine konstante Wahrnehmung „transformieren" sollte. Damit fußte also die Wahrnehmungslehre auf der Zweifaktorentheorie: Sie wird von zwei heterogenen Komponenten abgeleitet, von denen die eine, die Empfindung, nur von außen, nämlich durch den Reiz, determiniert ist, die andere dagegen, die Denktätigkeit des Subjektes, nur von innen. Mit dieser Konzeption, bei der die Wahrnehmung in ihren spezifischen Eigenarten, die sie von der Empfindung unterscheiden, vom Denken (im weitesten Sinne des Wortes) abgeleitet wird, hängt auch die noch auf Wundt, einen Schüler von Helmholtz, zurückgehende Interpretation der Wahrnehmung — im Unterschied zur Empfindung — als Vorstellung zusammen. Die Empfindung dagegen, die dem Objekt inadäquat sein sollte, da sie ja mechanisch dem Reiz folge, wurde zu etwas La13

Bertrand Russell, The Analysis of Matter. In: „Dover Publications", New York 1954. part 11, XX. The Causal Theory of Perception. p. 1 9 7 - 2 1 7 . " H. Helmholtz, Handbuch der Physiologischen Optik. Hamburg und Leipzig 1910, Bd. III, S. 26. Uber die Wahrnehmung im Allgemeinen.

Über die Empfindung

tentem gemacht, das eigentlich im Regelfalle nirgends in Erscheinung trat und nur beim Blick durch eine Reduzierblende nachweisbar war. Damit wurde aber sogar die Existenz der Empfindung in Frage gestellt. Den Weg ihrer Liquidierung beschritt auch die Gestaltpsychologie. In einem Aufwasch wurde mit der Empfindung zusammen auch gleich noch jeglicher Zusammenhang der Wahrnehmung mit dem Außenreiz beseitigt. Die ganze Determination der Wahrnehmung wurde in die inneren dynamischen Wechselbeziehungen des Wahrnehmungsinhalts verlagert. Die Gestalt-These enthält keineswegs nur die Attribute der Ganzheit und Struktureinheit, sondern vielmehr auch eine bestimmte Auffassung von der Determination der Wahrnehmung, und das ist das eigentlich Wesentliche an ihr. Die Behauptung, die Struktur des Ganzen - des ganzen Wahrnehmungs„feldes" - bestimme jedes in diese Ganzheit eingehende Element, hebt die äußere Determination der Empfindung durch den Reiz überhaupt auf. Die Determination wird vielmehr voll und ganz in die inneren strukturellen Wechselbeziehungen der Wahrnehmung verlagert. Damit wird in der Gestaltpsychologie die Abhängigkeit der Wahrnehmung vom Objekt beseitigt. Sie wird durch die Reduktion des Objektes auf den Wahrnehmungsinhalt aufgehoben. Alle Gesetzmäßigkeiten der Wahrnehmung führt man auf dynamische Wechselbeziehungen der „Wahrnehmungsfelder" zurück, die den Übergang von einer phänomenalen Situation zur nächsten immanent bedingen sollen. Die Dynamik dieser phänomenalen Felder bzw. Situationen leitet man aus ihrer Beziehung zu den Bedürfnissen des Subjektes ab. Die ganze Determination der Wahrnehmung wird also auf die inneren Bedingungen, losgelöst von den äußeren, zurückgeführt. Darin bestehen auch der Grundmangel der Gestalttheorie und die Hauptursache dafür, daß die Wahrnehmungslehre bei dieser Theorie restlos in eine Sackgasse gerät. Unter dem Aspekt der alten, traditionellen peripheren Rezeptortheorie von der Tätigkeit der Sinnesorgane, die das Abbild des Gegenstandes unmittelbar mit dem peripheren Netzhautbild in Beziehung brachte, war die Wahrnehmungskonstanz unerklärbar. Die konstante Wahrnehmung, d. h. die adäquate Wahrnehmung der bestandigen Eigenschaften der Dinge bei in gewissen Grenzen variierenden Wahrnehmungsbedingungen (also bei variierenden Bedingungen ihrer Einwirkung auf den Wahrnehmenden), ist dadurch bedingt, daß die Einwirkung der Reize durch eine reflektorische Analyse vermittelt wird. Das ist die Ausgangshedingung. Neurologisch stellt das Abbild ein mehr oder weniger kompliziertes System reflektorischer Verbindungen dar. Um die Wahrnehmungskonstanz erklären zu können, muß man noch ermitteln, was und wie analysiert wird. Zur Beantwortung der ersten Frage muß man vor allem einsehen und berücksichtigen, daß die Wahrnehmung die sensorische Erkenntnis eines Objektes ist, also eines Dinges, einer Erscheinung oder eines Gegenstandes; die Wahrnehmung ist ein Prozeß der Determination (im Sinne der Abgrenzung, Ermittlung) der Eigenschaften des Objektes und seiner Beziehungen gegenüber anderen Objekten. Bei jeder Determination im Wahrnehmungsprozeß werden nicht etwa die Eigenschaften der Wahrnehmung abgegrenzt, definiert, sondern die des Objektes, nicht die des Abbildes, sondern die des Gegenstandes dieses Abbildes. So geht es etwa bei der Größenwahrnehmung um die Größe des Gegenstandes und nicht um die des Abbildes. Die Größe des Gegenstandes wird durch Korrelation einer ganzen Reihe, wenn nicht gar aller (variablen)

Theorie

Kriterien bestimmt, die sich auf den Gegenstand beziehen (seiner Größe, seiner Entfernung usw.). Für sich genommen, ist die Größe bei Abstraktion von den übrigen Informationen über den Gegenstand überhaupt nicht eindeutig bestimmt; sie ist eine Variable, deren Wert durch Korrelation einer ganzen Reihe von Kenngrößen des Gegenstandes bestimmt wird, wie etwa seiner Entfernung usw. Die von den übrigen Informationen über den Gegenstand losgelöste Information über seine Größe ist genau das, was man in der traditionellen dualistischen und idealistischen Psychologie f ü r die subjektiv gesehene Größe des Abbildes hält, die von der objektiven Größe des Gegenstandes losgelöst ist. Bei der Größenwahrnehmung meint man immer die Größe des Gegenstandes; eine andere Größe - die Bildgröße - gibt es nicht und kann es auch nicht geben. Das, was man für die Abbildgröße hält, die angeblich der des Gegenstandes adäquat sein soll oder nicht, ist in Wirklichkeit eine Information über die Größe des Gegenstandes und nicht über die des Abbildes, wobei man diese Information losgelöst von denen über die anderen Eigenschaften des Gegenstandes betrachtet. Unter gewöhnlichen Wahrnehmungsbedingungen sind nicht etwa diese Größe plus ihre Transformation oder Korrektion jeweils einzeln gegeben; bei der Wahrnehmung der Wirklichkeit ist vielmehr unmittelbar das Endergebnis der reflektorischen Korrelation aller Informationen gegeben, von denen die Wahrnehmung der Objektgröße abhängt. Das, was ich im Augenblick sehe, kann - wenn ich mich nur von den Ausmaßen leiten lasse und von den übrigen Informationen abstrahiere — gleichermaßen ein kleiner, naher wie auch ein großer, ferner Gegenstand sein. Die Frage nach den größeren oder kleineren Ausmaßen (der Größe) des Gegenstandes wird zusammen mit der Frage nach seiner Entfernung entschieden. Dasselbe gilt für die Beziehung der Veränderung von Umfang und Bewegung, Farbe und Beleuchtung usw. Das ganze Wahrnehmungsproblem im allgemeinen und das Problem, der Wahrnehmungskonstanz im besonderen läuft im Grunde auf die Frage nach der Determiniertheit der Wahrnehmung hinaus, auf die Ermittlung derjenigen Determinanten (Kriterien), durch deren Korrelation die adäquate Wahrnehmung der Objekteigenschaften bestimmt wird. Schon das Obengesagte zeigt wohl zur Genüge, daß der Hauptknotenpunkt der Empfindungs- und Wahrnehmungstheorie mit dem Determinationsproblem zusammenhängt. Hier liegt die Wurzel der Hauptschwierigkeiten, auf die die Wahrnehmungspsychologie stieß. Der Schlüssel zur Lösung der sich auf diesem Gebiet ergebenden Probleme liegt in der richtigen Fragestellung hinsichtlich der Determination von Empfindung und Wahrnehmung. 1 5 Entscheidend für die richtige Fragestellung zu diesem Thema sind zwei Thesen. Die erste besagt, daß die Wirkung von - einfachen und komplexen — Reizen auf die Sinnesorgane durch die Antworttätigkeit des Gehirns 15

Wir haben hier einige Grundfragen der Theorie der Empfindung und Wahrnehmung unter dem Gesichtspunkt ihrer Determination betrachtet. Unter demselben Gesichtspunkt muß auch die Theorie der anderen psychischen Prozesse entwickelt werden. Dabei gilt das Augenmerk sowohl der Determiniertheit der psychischen Prozesse durch die Lebensbedingungen als auch ihrem Anteil an der Determination des Verhaltens und der Tätigkeit der Menschen. Bei der Betrachtung der Empfindung haben wir uns mit dem ersten Aspekt des Problems befaßt. Die Bedeutung des zweiten läßt sich unschwer etwa an der Lehre

Über die Empfindung

45

vermittelt wird, daß Empfindungen und Wahrnehmungen Produkte der reflektorischen Tätigkeit der Analysatoren des Nervensystems sind. Infolge dieser reflektorischen Tätigkeit bieten sich die Dinge, die auf die Analysatoren als Reize einwirken, dem Menschen als Objekte dar. Die Abhängigkeit der Wahrnehmung vom Objekt wird durch den praktischen Umgang des Menschen mit den Dingen vermittelt: Das ist die zweite und wichtigere der beiden Grundthesen, die die richtige Auffassung von der Determination der Sinneserkenntnis bestimmen. Infolge dieses Zusammenhanges mit der Praxis treten bei der Wahrnehmung von Dingen, die gleichermaßen Objekte wie Werkzeuge der praktischen Tätigkeit sind (nQayfiaxa, wie die Griechen sie nannten), ihre führenden Eigenschaften in den Vordergrund (die Merkmale, die das charakterisieren, was an ihnen praktisch wesentlich ist), während alle übrigen in den Hintergrund treten, alle Bedeutung einbüßen. Die Praxis retuschiert und modelliert also gleichsam die Wahrnehmung der Dinge und bestimmt, wie plastisch die einzelnen Eigenschaften in der Wahrnehmung hervortreten. (Dieser Satz gilt nicht nur für die Wahrnehmung, sondern auch für den Erkenntnisprozeß als Ganzes.) Der Schlüssel zur richtigen Lösung der Streitfragen, die die Tätigkeit der „Sinnesorgane" und die Erkenntnistheorie wie auch eine Reihe anderer wichtiger und heftig diskutierter Probleme aus anderen Zweigen der modernen Wissenschaft betreffen (wie etwa aus der Quantenmechanik oder der Biologie, wo das Zentralproblem die Determination der Mutationen durch äußere Bedingungen ist), liegt in der richtigen Interpretation der Determination der Erscheinungen, in der Überwindung des Indeterminismus und des mechanistischen Determinismus, in der Realisierung des dialektischmaterialistischen Determinismus, demgemäß — kurz gesagt — die äußeren Ursachen über die inneren Bedingungen wirken.*® vom Gedächtnis zeigen. Das Gedächtnis ist ein natürlicher Mechanismus, der auf der Stufe der psychischen Determination die Ausbildung innerer Bedingungen für das menschliche Verhalten gewährleistet. Dank dem Gedächtnis können die Resultate aller früheren Handlungen des Menschen, also seine ganze Erfahrung, in die Bedingungen einbezogen werden, die jede spätere Handlung determinieren. (Diese Auffassung vom Gedächtnis liegt unter anderem auch der Verwendung dieses Terminus in der Kybernetik zugrunde.) In diesem kurzen, thesenartigen Abriß haben wir nur ein Problem der allgemeinen Theorie der Empfindung und Wahrnehmung berührt, nämlich das methodologische. Näheres über Empfindung und Wahrnehmung findet man in meinem Buche „Sein und Bewußtsein", Kap. II, 4. „Der Erkenntnisprozeß. Die Wahrnehmung als sensorische Erkenntnis der Außenwelt". Verallgemeinerte Schlußfolgerungen aus den Arbeiten sowjetischer Psychologen über Probleme der Empfindung und Wahrnehmung findet man in dem Buche „Ergebnisse der sowjetischen Psychologie" (Akademie-Verlag, Berlin 1967) in den Artikeln: B. G. Ananjew, Der Beitrag der sowjetischen psychologischen Wissenschaft zur Theorie der Empfindungen; J. N. Sokolow, Die reflektorischen Grundlagen der Wahrnehmung; / . N. Semjonowskaja, Uber einige physiologische Gesetzmäßigkeiten und Mechanismen der optischen Empfin-

Theorie

3. Über das Denken a) Das Prinzip

und die psychologische

des Determinismus

Denktheorie

1 Die These, die wir bei der Analyse philosophischer Probleme der Empfindungstheorie formuliert haben, ist auch für die psychologische Denktheorie, der wir uns nunmehr zuwenden wollen, von fundamentaler Bedeutung. Die inneren und äußeren Bedingungen des Denkens hängen wechselseitig zusammen. Primär sind die äußeren Bedingungen, aber sie wirken über die inneren. Der untrennbare wechselseitige Zusammenhang von äußeren und inneren Bedingungen der Denktätigkeit ist die Grundlage der Denktheorie. 17 Das Denken wird durch sein Objekt bestimmt, aber das Objekt determiniert das Denken nicht direkt, nicht unmittelbar und mechanisch, sondern mittelbar über die Prozesse des Analysierens, Synthetisierens und des Verallgemeinerns, die die sensorischen Informationen umgestalten, welch letztere die wesentlichen Eigenschaften des Objektes nicht in reiner Form darbieten. Die Erkenntnis schreitet also zur immer vollständigeren, tiefgreifenderen und vielseitigeren gedanklichen Reproduktion der objektiven Realität fort, wobei sie von den sensorischen Informationen ausgeht, die durch die Einwirkung des Objektes auf den Menschen entstehen. Das Prinzip des Determinismus in seiner dialektisch-materialistischen Interpretation auf das Denken anzuwenden, heißt zugleich, auch die reflektorische Theorie der psychischen Tätigkeit auf das Denken anzuwenden, ist sie doch nur die spezielle Erscheinungsform des obenerwähnten Prinzips in seiner Anwendung auf die Widerspiegelungstätigkeit des Gehirns. Prinzipiell ebenso wie Empfindung und Wahrnehmung ist auch das Denken reflektorische Hirntätigkeit, wenn auch eine sehr spezifische. Mag sich das Denken auch in noch so komplizierten Prozessen immer höherer Ordnung äußern, so ist es doch im Prinzip der neurologischen Analyse zugänglich (in welchem Maße die Physiologie derzeit dazu in der Lage ist, steht jedoch auf einem anderen Blatt). Die inneren Bedingungen, über die das Denken mittelbar determiniert wird, haben sowohl eine physiologischen als auch einen psychologischen Aspekt. Die Spezifik des menschlichen Denkens äußert sich dabei in der Tatsache, daß es nicht nur Wechselwirkung des denkenden Menschen mit der unmittelbar sinnlich wahrnehmbaren Realität ist, sondern auch Wechselwirkung mit dem im Wort objektivierten, von der Gesellschaft geschaffenen System von Kenntnissen; es ist also Kommunikation des einzelnen mit der Menschheit. Die soziale Bedingtheit des menschlichen Denkens äußert sich konkret darin, daß seine Entwicklung beim Individuum auf dem Erwerb von Kenntnissen beruht, die

17

düngen; P. A. Schewarjow, Untersuchungen aus dem Bereich der Wahrnehmung; D. G. Elkin, Die Zeitwahrnehmung. Eine von diesem Standpunkt aus angesetzte Kritik an der weitestverbreiteten psychologischen Denktheorie findet man im 1. Kap. des Buches „Das Denken und die Wege zu seiner Erforschung". VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1961.

Über das Denken

47

sich die Menschheit in ihrer sozial-historischen Entwicklung angeeignet hat. Der Erwerb von Kenntnissen und die Entwicklung des Denkens ist ein dialektischer Prozeß, in dem Ursache und Wirkung ununterbrochen die Plätze wechseln. Jeder Akt des Erwerbs irgendwelcher Kenntnisse setzt als innere Bedingung einen entsprechenden Entwicklungsstand des Denkens voraus, der für ihren Erwerb unerläßlich ist, und führt seinerseits zur Entstehung neuer innerer Bedingungen für den Erwerb weiterer Kenntnisse. Bei der Aneignung eines bestimmten elementaren Systems von Kenntnissen, das eine bestimmte objektive Logik des entsprechenden Gegenstandes enthält, formt sich beim Menschen die logische Struktur des Denkens, die notwendige innere Voraussetzung für den Erwerb eines Kenntnissystems von höherer Ordnung ist. Die ganze geistige Entwicklung des Menschen vollzieht sich als spiralförmiger Prozeß der Wechselwirkung zwischen dem sich entwickelnden Menschen und dem objektivierten Inhalt des Systems gesellschaftlich erworbener Kenntnisse. In diesen Kenntnissen sind die Ergebnisse der sozialen Praxis fixiert. Bei der Individualentwicklung spielen zunächst, in den Frühstadien der Entwicklung, Manipulationen des Kindes mit solchen Gegenständen eine besonders große Rolle, die die gesellschaftlich entwickelten Operationsverfahren mit diesen Gegenständen reproduzieren, auf die Eigenschaften der Gegenstände abgestimmt sind und zu ihrer Erkenntnis dienen; später spielt dann die mittelbare Aneignung der Ergebnisse der gesellschaftlichen Praxis durch Aneignung eines Systems von Kenntnissen eine immer größere Rolle. Die vom Individuum erworbenen Kenntnisse, die im Verlauf der sozial-historischen Entwicklung entstanden sind, werden in den Denkprozeß des Individuums einbezogen und funktionieren ununterbrochen in diesem Prozeß. Somit ist also nicht nur die Entwicklung des individuellen Denkens, sondern auch sein Funktionieren gesellschaftlich bedingt; der ganze Denkprozeß ist ein Operieren mit gesellschaftlich entstandenen Kenntnissen. Denken ist Erkenntnis (obwohl sich natürlich die Erkenntnis nicht auf das Denken beschränkt). Grundlegend für das Denken ist eine Beziehung zum Sein. Im echten Sinne des Wortes heißt denken, in neue Schichten des Seienden eindringen und etwas ans Tageslicht fördern, das bis dahin in unergründlichen Tiefen verborgen war; Probleme des Seins und des Lebens aufgreifen und lösen; Antwort auf die Frage: „Wie ist es in Wirklichkeit?" suchen und finden, eine Antwort, die wir brauchen, um zu wissen, wie wir richtig zu leben und was wir zu tun haben. Das Denken geht von einer Problemsituation aus. Das ist eine Situation, die implizit etwas enthält und voraussetzt, das jedoch unbestimmt und unbekannt, also explizit nicht gegeben, sondern nur durch seine Beziehung zum Gegebenen aufgegeben ist. Die Beziehung des Unbekannten, Aufgegebenen, Gesuchten zu den Ausgangsdaten des Problems bestimmt die Richtung des Denkprozesses. Die Einheitlichkeit dieser Richtung bedingt die Einheitlichkeit des Denkprozesses, der auf die Lösung eines bestimmten Problems gerichtet ist. Hauptgegenstand der psychologischen Forschung ist das Denken der Individuen als Prozeß, dessen Resultate kausal von den Bedingungen abhängen. Der Denkprozeß und seine Resultate hängen natürlich wechselseitig zusammen. Die Resultate der Denktätigkeit, die Begriffe und Kenntnisse, überhaupt sämtliche Verallgemeinerungen werden selbst in den Denkprozeß einbezogen, bereichern ihn und

48

Theorie

bedingen seinen weiteren Verlauf. Die Beziehung des Prozesses zu seinen Resultaten ändert sich im Verlauf des Prozesses infolge der sich ändernden Beziehung zwischen Analyse und Verallgemeinerung. Wird die durch Analyse und Synthese gewonnene Verallgemeinerung in den Prozeß einbezogen, dann bedingt sie den weiteren Verlauf der Analyse und Synthese. Die mit der Synthese verbundene Analyse und die Verallgemeinerung bedingen einander also wechselseitig. Der Denkprozeß — Analyse und Synthese — ist gleichzeitig auch Bewegung der Kenntnisse im Denkprozeß; das nämlich ist die inhaltliche Seite des Denkens. Die Resultate des Denkens, und zwar nicht nur die des individuellen, sondern auch die des gesellschaftlichen, funktionieren also innerhalb des Denkens des Individuums. Die Hauptexistenzweise des Psychischen ist seine Existenz als Prozeß oder Tätigkeit. Dementsprechend ist der Hauptgegenstand der psychologischen Forschung schlechthin der psychische Prozeß, die psychische Tätigkeit; speziell ist der Hauptgegenstand der psychologischen Denkforschung das Denken als Prozeß, als Tätigkeit. (Damit setzen wir die Linie Setschenows fort.) Die Einstellung auf die Erforschung des Prozesses ist ein prinzipieller Zug unserer Untersuchungen. Die Mehrzahl der vorliegenden Arbeiten über das Denken ist darauf gerichtet, die äußeren Resultate des Denkens zu konstatieren und zu beschreiben: Wurde die Aufgabe gelöst oder nicht, wurden die Begriffe erlernt und die Kenntnisse von einem Fall auf einen anderen übertragen usw. ? Bei ausländischen Arbeiten erklärt sich das aus der pragmatischen Methodologie, von der sie ausgehen. Bei unseren sowjetischen Untersuchungen erklärt sich die Vorliebe f ü r das Resultat des Prozesses größtenteils aus der praktischen Abstimmung der Arbeiten auf den Schulunterricht, dessen Aufgabe man vorzugsweise darin sieht, die Schüler dazu zu befähigen, daß sie möglichst leicht mit fertigen oder festeingeprägten Verallgemeinerungen operieren können. Im Unterschied zu den meisten vorhandenen Arbeiten zielen unsere Forschungen darauf ab, den Prozeß aufzudecken, der sich hinter diesen Resultaten verbirgt und zu ihnen führt. Wir stellen uns dabei die Aufgabe, das Denken nicht nur, j a nicht einmal so sehr, dann anzugehen, wenn der einzelne mehr oder weniger automatisch mit fertig ausgebildeten Verallgemeinerungen operiert, als vielmehr dann, wenn er objektive Relationen erstmalig analysiert und so selbst auf diese Verallgemeinerungen kommt. Wir dringen also in das innere Laboratorium des echten Denkens ein, das zu neuen Resultaten gelangt. Das Denken tritt vorzugsweise als Tätigkeit auf, wenn man es in seiner Beziehung zum Subjekt und zu den Aufgaben betrachtet, die das Subjekt löst. Im Denken als Tätigkeit wird nicht nur die Gesetzmäßigkeit seines prozessualen Verlaufs als Denken (als Analyse, Synthese, Verallgemeinerung usw.) sichtbar, sondern auch die personale Seite, die Motivation, die das Denken mit jeder anderen menschlichen Tätigkeit gemein hat. Das Denken bietet sich als Prozeß dar, wenn die Frage seiner Verlaufsgesetzmäßigkeiten im Vordergründe steht. Dieser Prozeß gliedert sich in einzelne Glieder oder Akte auf (in Denkhandlungen, wenn man sich von der Analogie zwischen intellektueller und praktischer Tätigkeit leiten l ä ß t ) . Die einzelnen Denkakte (Analyse usw.) gliedern sich

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Über das Denken

nach den Objekten, auf die sie gerichtet sind, oder nach den Resultaten, zu denen sie führen. Der Übergang von einem Glied des Denkprozesses (von einer Denkhandlung) zum nächsten vollzieht sich, wenn der Denkprozeß (etwa die Analyse) von einem Objekt zum nächsten übergeht oder aber von der Betrachtung des Objektes und seiner Eigenschaften in einer bestimmten Beziehung zu seiner Betrachtung in anderen Zusammenhängen und Beziehungen. Diese Akte (Handlungen oder Operationen) folgen gesetzmäßig aufeinander und bilden so den einheitlichen Denkprozeß. Im Verlauf dieses Prozesses werden die Bedingungen und Forderungen der Aufgabe durch den synthetischen Akt ihrer Korrelation auf immer neue Weise analysiert. Denken als Prozeß und Denken als Tätigkeit sind zwei Aspekte ein und derselben Erscheinung. Denktätigkeit ist immer auch ein Denkprozeß, und der Denkprozeß ist entweder selbst diese Tätigkeit unter einem bestimmten Aspekt oder eine ihrer Komponenten. Die personale Seite tritt in beiden Aspekten des Denkens hervor. Im Denken als Prozeß zeigt sie sich ganz allgemein im Anteil der inneren Bedingungen, im Denken als Tätigkeit speziell auch noch im Anteil der Motive, Einstellungen, Beziehungen der Persönlichkeit zur Umwelt. Die These vom Denken als Prozeß richtet sich gegen die in der letzen Zeit in der Psychologie weitverbreiteten bewußten oder unbewußten behavioristischen, pragmatischen und positivistischen Tendenzen, die sich darin äußern, daß man die psychologische Forschung auf die „reine Beschreibung" des äußeren Ganges der Ereignisse reduziert, also etwa auf die Beschreibung der Etappen, die der Kenntniserwerb bei der Ausbildung bestimmter Operationen durchläuft, ohne daß man den inneren Verlauf des Prozesses aufdeckt, der hinter diesen Fakten steht und zu ihnen führt. Wir bemühen uns ständig, von objektiv kontrollierbaren „äußeren" Fakten auszugehen, sehen aber die Aufgabe der psychologischen Forschung darin, die inneren Bedingungen und Gesetzmäßigkeiten jenes unsichtbaren, nicht unmittelbar in Erscheinung tretenden Prozesses aufzudecken, der zu diesen Fakten führt. 1 8 Zwei Grundthesen bestimmen unsere Behandlung des Denkproblems, und zwar 1. das 10

Beobachtet man den äußeren Verlauf der Denktätigkeit, dann kann man zum Beispiel konstatieren, daß der Denkprozeß in den Frühstadien in entfalteter, dann aber in immer reduzierterer Form verläuft. Schließlich verschwindet der eigentliche Prozeß sogar ganz aus dem Blickfeld,

und der unmittelbaren Beobachtung ist

nur noch das scheinbar

unver-

mittelt auftretende Resultat zugänglich, hinter dem man sich hypothetisch so etwas wie einen Momentanakt vorstellen kann. Die Denkforschung findet jedoch in Wahrheit hinter diesem äußerlichen Unterschied zwischen reduziertem und entfaltetem Prozeß ein unterschiedliches Verhältnis von Analyse und Verallgemeinerung. J e stärker der Denkprozeß „reduziert" ist, um so mehr operiert er mit bereits fertigen Verallgemeinerungen, und je entfalteter er ist, um so weniger fertige Verallgemeinerungen lassen sich in ihm nachweisen und um so größer ist die Notwendigkeit, zunächst einmal durch Analyse der gegenständlichen Beziehungen, die den Verallgemeinerungen zugrunde liegen, zu den entsprechenden Verallgemeinerungen zu gelangen. Für die psychologische Erforschung des Denkens ist die Ermittlung dieser inneren Beziehungen das Wichtigste.

Die Formulierungen Saussures zu diesem Problem sind nicht eindeutig. So schreibt er auf S. 38 der russischen Ubersetzung: „Wenn wir Sprache und Sprechen unterscheiden, trennen wir damit auch: 1. das Soziale vom Individuellen." Daneben finden wir auf S. 34 den richtigen Satz: „Die Sprechtätigkeit hat sowohl eine individuelle als auch eine soziale Seite, wobei das eine ohne das andere nicht zu erfassen ist." 36 Vgl. z. B. F. N. Schemjakin, Probleme der Sprache und des Denkens im Lichte der Veröffentlichungen / . W. Stalins über die Sprachwissenschaft. In: „Die Lehre I. P. Pawlows und die philosophischen Fragen der Psychologie", Verlag Volk und Gesundheit, Berlin 1955. Ganz zu Recht weist Schemjakin den Versuch zurück, Sprechen und Sprache als Individuelles und Soziales einander gegenüberzustellen. Indessen resultiert aus der Unhaltbarkeit dieser Trennung unserer Meinung nach noch nicht der von Schemjakin gezogene Schluß, der jede Unterscheidung von Sprechen und Sprache aufhebt.

92

Theorie

schaft ist dabei, die Gesetze der Sprache (der Grammatik usw.) aufzudecken, nach denen sich das Sprechen aufbaut. Wir unterscheiden sprachliche Erscheinungen und sprachwissenschaftliche Kategorien. Die sprachwissenschaftlichen Kategorien resultieren aus der Untersuchung sprachlicher Erscheinungen. Die hier vollzogene Unterscheidung von Sprache und Sprechen soll und kann natürlich keinesfalls bedeuten, daß wir beides einander gegenüberstellen oder das eine vom anderen lösen. Sprache und Sprechen hängen wechselseitig zusammen: Das Sprechen bedarf der Mittel der Sprache, und die Sprache existiert real nur im Sprechen. Die Unterscheidung von Sprache und Sprechen darf man keinesfalls (wie es auf Schritt und Tritt geschieht) mit der Beziehung zwischen dem sprachwissenschaftlichen und dem psychologischen Ansatz gegenüber dem Komplex Sprache-Sprechen verwechseln. Ein psychologischer Ansatz ist nur bezüglich des Sprechens möglich; und auch dabei ist das Sprechen vor allem eine sprachwissenschaftliche und keine psychologische Kategorie. Eine psychologische Betrachtung der Sprache ist dagegen schlechthin inpraktikabel und führt nur zur ungerechtfertigten Psychologisierung sprachwissenschaftlicher Erscheinungen. Das Problem des Sprechens ist unter psychologischem Aspekt in erster Linie ein Problem der Kommunikation vermittels der Sprache (und das Problem des Denkens beim Sprechenlernen und unter Anwendung des Sprechens) - 37 Die psychologische Untersuchung der Sprechentwicklung zeigt, wie sich das Kind durch Kommunikation und Unterweisung die Sprache, also die lexikalischen und grammatikalischen Verallgemeinerungen, aneignet, indem es aus sprachlichem Material entsprechende verbale „Produkte" schafft. 3 8 Nachdem wir die Beziehungen zwischen Sprache und Sprechen dargelegt haben, muß nun die Frage nach den Beziehungen der Sprache wie auch des Sprechens zum Denken aufgeworfen werden. Die Sprache, die vom Volk geschaffen und von jedem zugehörigen Individuum als gesellschaftlich ausgearbeitete und von ihm selbst unabhängige „objektive Realität" aufgenommen wird, ist die notwendige sprachliche (im weiteren Sinne des Wortes) Basis des abstrakten menschlichen Denkens. Abstraktes menschliches Denken ist sprachliches Denken. Die Sprache, das Wort ist notwendige Bedingung seiner Entstehung und Existenz. Erst mit dem Erscheinen des Wortes, das ermöglicht, von einem Ding irgendeine Eigenschaft zu abstrahieren und die Vorstellung oder den Begriff dieser Eigenschaft im Wort zu objektivieren, erst nachdem man also das Produkt der Analyse fixiert hat, erscheinen auch erstmalig von den Dingen abstrahierte „ideelle" Objekte des Denkens als „theoretische" Tätigkeit und damit auch diese Tätigkeit selbst. Die Anwendung der Analyse, Synthese und Generalisierung auf diese „Objekte", die selbst Produkte der Analyse, Synthese und Generalisierung sind, ermöglicht dann, die Grenzen des primären sensorischen Inhalts zu überschreiten, in den Bereich des abstrakten Denkens 17

38

Eine Übersicht über die sowjetische psychologische Literatur zum Problem des Sprechens findet man bei A. N. Rajewski, Die Psychologie des Sprechens in der sowjetischen psychologischen Wissenschaft. Kiew 1958. Das Adjektiv „sprachlich" verwenden wir in bezug auf die Sprache, das Adjektiv „verbal" in bezug auf das Sprechen. (Anm. d. Ubers.)

Über das Denken

93

überzugehen und Seiten und Eigenschaften des Seins zu enthüllen, die der unmittelbaren Sinneswahrnehmung unzugänglich sind. Die Sprache, die vor allem Bedingung für die Entstehung des Denkens ist, fungiert zugleich auch als notwendige materielle Hülle des Gedankens, als seine unmittelbare Realität für andere und für uns selbst. 39 Beim Menschen mit seinem ausgebildeten sprachlichen Denken beruht faktisch jedes Denken auf sprachlicher Basis. In seiner unmittelbaren Genese, sogar noch bevor bestimmte Gedanken erzeugt und ausgeformt sind, erfolgt das Denken auf Grund des grammatikalischen Satzschemas als Aussage von etwas über etwas. 40 Die Gedanken selbst, die sich im Denkprozeß herausbilden, entstehen auf der Basis von Wörtern, werden in Wörtern gedacht. Falsch wäre es jedoch, wollte man auf Grund dessen behaupten, Sprache und Denken bilden in Form und Inhalt eine Einheit, wenn man darunter verstehen will, daß das Denken sich auf den Inhalt der Sprache reduziert, also auf die Wortbedeutungen, die Form des Gedankens dagegen auf die Sprache, auf die sprachlichen Formen. Das Denken hat seine Form, nämlich die logische, und die Sprache hat ihren Inhalt, nämlich die Wortbedeutungen, deren fixierte Semantik, die sich nicht durch jeden Denkakt des Individuums verändert, sondern die stabile Grundlage darstellt, von der die Denktätigkeit ausgeht und deren Hilfe sie sich bedient. Die Semantik einer Sprache, die Bedeutungen der Wörter, die zum Wortschatz gehören, stellt das fixierte Ergebnis der vorhergegangenen Gedankenarbeit des Volkes dar. Jede Sprache fixiert in den Wortbedeutungen die Resultate der Erkenntnis der Wirklichkeit, analysiert sie aber auf ihre Weise, synthetisiert die durch die Analyse ermittelten Seiten der Wirklichkeit auf ihre Weise in den Wortbedeutungen und differenziert und generalisiert sie auf ihre Weise je nach den Bedingungen, unter denen sich die entsprechende Sprache herausgebildet hat. Der unterschiedliche Verallgemeinerungs- und Differenzierungsgrad von Erscheinungen im System einer Sprache wird besonders deutlich, wenn man Sprachen vergleicht, die sich unter sehr heterogenen Bedingungen herausgebildet haben, und dabei Wörter betrachtet, die diese Bedingungen unmittelbar bezeichnen. So gibt es zum Beispiel in der Sprache der Saamen 4 1 11 Wörter für Kälte, 20 verschiedene Wörter für alle möglichen Formen und Sorten von Eis und 41 Wörter für Schnee. Der unterschiedliche Differenzierungsgrad der Erscheinungen, der im Wortschatz der Sprache fixiert ist, wird im vorliegenden Falle besonders eindringlich klar. Wenn man den Verlauf der historischen Entwicklung der Erkenntnis der Welt durch den Menschen 39

40

41

Andererseits hat natürlich auch die Entstehung der Sprache das Denken zur Bedingung. Das elementare Denken jedoch, das vor Entstehung der Sprache existierte, ist natürlich nicht jenes abstrakte Denken, das erst nach ihrer Entstehung möglich wird. Diese Schlußfolgerung legt eine unter unserer Anleitung durchgeführte Arbeit von L. I. Kaplan nahe (s. L. I. Kaplan, Psychologische Analyse des Verstehens eines wissenschaftlichen Textes. Autoref. d. Kand. Diss., Moskau 1953) ; für diese These sprechen auch die Befunde, die G. Revesz in seinem Artikel „Denken und Sprechen" mitteilt (s. Acta psychologica Amsterdam 1954, vol. X, Nr. 1 - 2 ) . Volksstamm der Lappländer, der auf der Halbinsel Kola lebt. Ihre Sprache gehört zur finnischen Gruppe der finnisch-ugrischen Sprachen. (Anm. d. Übers.)

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Theorie

verfolgt, wie er in den Sprachen verschiedener Völker fixiert ist, dann kann man unserer Meinung nach nicht nur Unterschiede im Grad, sondern auch in den Formen, in der Struktur der Verallgemeinerung feststellen, die für die verschiedenen Sprachen charakteristisch ist. Dabei bedeuten die Unterschiede in der Form und im Grad der Verallgemeinerung, die sich den verschiedenen Sprachen eingeprägt haben, natürlich nicht, daß die Völker, bei denen sich im Laufe der Entwicklung ein bestimmtes System der Sprache herausgebildet hat, bei Verwendung dieses Systems nicht in der Lage sind, heutzutage entsprechend dem logischen Bau der modernen wissenschaftlichen Erkenntnis zu denken. Sie müssen nur im Sprechen die Resultate eines Denkens fixieren, das eine höhere Stufe erreicht hat als diejenige, die im System der Bedeutungen ihrer Sprache fixiert ist. Unterschiede in der Art des Analysierens und Synthetisierens von Erscheinungen lassen sich auch an speziellen Beispielen verdeutlichen. So fixieren einige Sprachen, zum Beispiel die russische, im Wortschatz den Unterschied zwischen Sprechen und Sprache (pe*H> und H3HK) dadurch, daß sie sie mit verschiedenen Wörtern bezeichnen. Im Deutschen gibt es dagegen die Wörter „Sprache", „sprechen" und „Rede". Davon entspricht das erste dem russischen „hblik", während sich das zweite und dritte auf„pem>" beziehen; aber davon ist „sprechen" ein Verb, während „Rede" nur einer ganz bestimmten Bedeutung von „ p e i b " gerecht wird, nämlich der Bedeutung „BbiCTynjieHne",also dem öffentlichen Auftreten (der für irgend jemand oder aus einem bestimmten Anlaß gehaltenen Rede). Die russische Sprache differenziert in ihrem Wortschatz nicht die Rede als einmaliges Auftreten vom Sprechen als Tätigkeit, das die Sprache zur Kommunikation benutzt und sich in einer unendlichen Vielzahl einzelner Reden und einzelner Äußerungen darstellt, fixiert aber dafür in der Sprache selbst den obenerwähnten Unterschied von Sprache und Sprechen. In der russischen und deutschen Sprache haben sich also verschiedene analytische Abgrenzungen der sprachlichen Erscheinungen niedergeschlagen. Selbstverständlich schließt dieser Unterschied der Sprachen nicht die Möglichkeit aus, in Deutsch und Russisch dieselben Gedanken über das Verhältnis von Sprache und Sprechen zu äußern und denselben Standpunkt zu vertreten. Nur ist im Russischen der Unterschied zwischen Sprache und Sprechen unmittelbar in der Sprache fixiert, während man ihn im Deutschen erst verbal verdeutlichen muß. 42 Die konkrete Beziehung von Sprache und Sprechen gestaltet sich also in bezug auf verschiedene Sprachen in unterschiedlicher Weise. Die Bedeutung der Wörter verschiedener Sprachen fixiert auch das Synthetisieren von Erscheinungen unterschiedlich. So vereinigt und synthetisiert zu einem einheitlichen Ganzen das russische Wort „pyna" dasselbe, was die französische, englische und deutsche Sprache analysieren und in zwei Bestandteile aufgliedern: bras - main, hand - arm und Hand - Arm. Das schließt natürlich wiederum nicht die Möglichkeit aus, auf Russisch die verschiedenen Teile der vorderen Extremität zu differenzieren oder auf Französisch, Deutsch oder Englisch etwas über die gesamte vordere Extremität auszusagen. Nur muß man das, was in der einen Sprache Um dieser Notwendigkeit zumindest im Bereich der Psychologie zu entgehen, wo ja der Unterschied zwischen Sprache und Sprechen besonders bedeutsam ist, hat man - nicht ohne langwierige Diskussionen - dem Wort „Sprechen" den Charakter eines psychologischen terminus technicus verliehen, dessen Begriffsinhalt sich partiell mit dem des russischen „ p e i b " deckt, und zwar innerhalb des für die Psychologie wesentlichen Bereichs. Der Gesamtinhalt des russischen Begriffes „ p e i b " wird also im Deutschen von zwei Begriffen erfaßt, nämlich dem „Sprechen" und der „Rede", wobei der russische Kontext entscheidet, welche Ubersetzung zu wählen ist. (Anm. d. Übers.)

Uber das Denken bereits unmittelbar fixiert ist, in anderen mit den Mitteln der Sprache durch Sprechen verdeutlichen.43 Dasselbe gilt auch für die Generalisierung. So gibt es zum Beispiel im Russischen und Englischen die verallgemeinerten Bezeichnungen aus dem Bereich der Erkenntnistätigkeit : 3 H a T b (englisch : know) und n o H H M a T b (englisch : understand). Im Deutschen und Französischen gibt es diese Allgemeinbezeichnungen nicht. Dafür gibt es zur Bezeichnung von „ 3 H a T b ' im Französischen „savoir" und „connaître" und im Deutschen „wissen" und „kennen". Von diesen Wortpaaren bezeichnet jeweils das erste Wort „3HaTb" im Sinne von „erkannt haben" und das zweite von „bekannt sein". Dem analog gibt es im Deutschen auch kein Wort, das hinsichtlich seiner Allgemeinheit dem russischen „ n o H H M a T b " (französisch: comprendre; englisch: understand) entspräche. Statt dessen gibt es im Deutschen lediglich zwei speziellere Begriffe: „verstehen" und „begreifen". Davon bezeichnet das erste „ n o H H M a T b " im Sinne von „den Sinn erfassen" und das zweite im Sinne von „einsehen" (z. B. eine Notwendigkeit). Das bedeutet aber wiederum selbstverständlich nicht, daß man nicht in jeder dieser Sprachen dieselbe Erkenntnistheorie formulieren und dieselben Gedanken über das Wesen von Wissen und Kennen bzw. Verstehen und Begreifen, sei es in verallgemeinerter, sei es in differenzierter Auffassung darlegen kann. Nur muß man das, was in der einen Sprache bereits als Verallgemeinerung oder Differenzierung im Wortschatz fixiert ist, in einer anderen verbal verdeutlichen, indem man sich der Mittel der Sprache und der Ergebnisse einer zusätzlichen Gedankenarbeit bedient. Auf der Grundlage verschiedener Sprachen, in denen bestimmte Ergebnisse der Analyse und Synthese, Differenzierung und Generalisierung fixiert sind, bedarf es unterschiedlicher zusätzlicher Gedankenarbeit, die im Sprechen formuliert wird. Mit den Mitteln der verschiedenen Nationalsprachen mit unterschiedlicher historisch entwickelter Semantik des Wortschatzes (der Lexika) kann man mit den Mitteln der Stilistik ein und denselben allgemein-menschlichen Inhalt des Denkens ausdrücken. 44

44

Es sei erwähnt, daß auch die Quantität in den Wortbedeutungen verschiedener Sprachen unterschiedlich analysiert und synthetisiert wird. So heißt zum Beispiel die 95 auf Russisch „ReBHHOCTO n H T f e " (90 + 5), auf Deutsch „fünfundneunzig" (5 + 90) und auf Französisch „quatre-vingt quinze" (4 X 20 + 15). Ein und dieselbe Zahl wird also in verschiedenen Sprachen durch unterschiedliche Systeme von Wortbedeutungen ausgedrückt, wobei der Begriffsinhalt jedoch immer derselbe ist. Bekanntlich hat schon W. v. Humboldt behauptet, die Strukturunterschiede der Sprachen hingen mit Nationalunterschieden der Weltanschauung" zusammen, mit Unterschieden des „Nationalgeistes" (W. von Humboldt, Über den Unterschied der Organismen der menschlichen Sprache und über den Einfluß dieses Unterschiedes auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechtes. Petersburg 1859). Die Ideen Humboldts werden in verstärktem Maße von der modernen neohumboldtianischen idealistischen Ethnolinguistik weiterentwickelt, die beweisen will, daß die verschiedenen Sprachen unterschiedliche „Weltbilder" darstellen, daß also die Weltauffassung des Menschen von seiner Muttersprache determiniert wird (s. Johann L. Weisgerber, Muttersprache und Geistbildung. Göttingen 1929; Vom Weltbild der deutschen Sprache. 1950). Ähnliche Gedanken hat auch der amerikanische Ethnolinguist B. Whorph geäußert, der behauptete, der Mensch nehme die Wirklichkeit durch das Prisma der Sprachstruktur bzw. sprachliche Kategorien wahr. Die Grammatik jeder Sprache, schrieb Whorph, sei nicht einfach ein Reproduktionsinstrument für geäußerte Ideen (for voicing ideas), vielmehr schaffe und forme sie die Ideen (it is shaper of ideas), sie sei

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Theorie

Somit ergibt sich: Die Sprache ist ein bestimmtes, im Laufe der historischen Entwicklung eines Volkes fixiertes System der Analyse, Synthese und Verallgemeinerung der Erscheinungen. Wenn das Kind im Laufe seiner gelenkten Entwicklung die Muttersprache erlernt, dann erwirbt es damit auf geistigem Gebiet ein bestimmtes System der Analyse, Synthese und Verallgemeinerung der Umwelterscheinungen. 45 In der Sprache liegt — im Unterschied zum Sprechen — ein relativ fixiertes Resultat der Erkenntnistätigkeit vergangener Generationen vor, das Resultat einer vergangenen Gedankenarbeit mit einem darin fixierten System der Analyse, Synthese und Verallgemeinerung der Erscheinungen. (Daher ist auch jede Sprache relativ zum Denken mehr oder weniger archaisch.) Das Denken des Menschen ist nicht auf die in der Sprache niedergelegten Resultate der Analyse, Synthese und Generalisierung von Erscheinungen der Wirklichkeit beschränkt, wie sie im System der Sprache fixiert sind. Auf diese gestützt, analysiert, synthetisiert und verallgemeinert das Denken ständig weiter, indem es diese Arbeit ununterbrochen vertieft und ihre Resultate im Sprechen formuliert. Daher kann man ein und dieselbe logische Struktur des modernen wissenschaftlichen Denkens mit den Mitteln einer ihr gegenüber mehr oder weniger rückständigen unterschiedlichen grammatikalischen Struktur realisieren. Das Denken beruht auf der Grundlage der Sprache, und der Gedanke wird im Sprechen geformt. Er existiert nicht ohne sprachliche Hülle, die er beim Sprechen Programm und Leitfaden (guide) für die intellektuelle (mental) Tätigkeit des Individuums, für seine Analyse der Eindrücke (impressions). Die Ausbildung der Ideen sei kein unabhängiger, streng rationaler Prozeß im alten Sinne; dieser Prozeß sei vielmehr Teil der jeweiligen (particular) Grammatik. „Wir zerlegen (dissect) die Natur nach Teilungslinien, die von unserer Muttersprache vorgeschrieben sind" (B. L. Whorth, Language, Thought and Reality. Chicago 1956. S. 212-213). Diese Thesen, die im Kontext des Problems „Sprache, Bewußstein und Kultur" aufgestellt wurden, waren Gegenstand einer speziellen Diskussion auf einer Konferenz von Sprachwissenschaftlern, Ethnographen und Psychologen im Jahre 1953 (H. Hoijer [ed.], Language in Culture, Proceeding of a Conferenc on the Interrelations of Language and other Aspects of Culture. Chicago 1954). Diese Konzeption berücksichtigt nicht, daß die sprachlichen Gebilde, die grammatikalische Funktionen erfüllen, im Laufe der Entwicklung formalisiert werden. Wenn sie zu rein grammatischen Mitteln für die Gestaltung des Ausdrucks werden und in die Grammatik der Sprache eingehen, verschwinden sie allmählich aus dem Bewußtsein des Volkes, und ihre grammatikalische Funktionen verdrängen ihren semantischen Inhalt. Sie verlieren ihren ursprünglichen semantischen Inhalt. Wenn also die Grammatik - natürlich auch nicht unmittelbar - die Weltauffassung und das Denken des Volkes in gewissem Maße zu dem Zeitpunkt ausdrückte, als sich die grammatikalische Struktur der Sprache auszubilden begann, ist dennoch jede Theorie falsch, die da unterstellt, die Grammatik der Muttersprache bestimme das Denken des einzelnen, der sich dieser Sprache bedient. 45 Aussichtslos ist daher auch der Versuch der Anhänger des modernen semantischen Idealismus und aller ihrer Vorgänger (der Nominalisten u. ä.), das Denken auf die Sprache oder das Sprechen zu reduzieren, also auf die Gesamtheit der Wörter und Sätze, und diese letzteren wiederum auf Zeichen und Zeichenkombinationen ohne jeden Sinngehalt. Man kann den Gedanken nicht auf die Sprache reduzieren und ihn auf diese Weise loswerden, weil wir nämlich in der Sprache wiederum den Gedanken vorfinden; er macht ihren gnostischen Inhalt aus.

Uber das Denken

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erhält. Dennoch sind Denken und Sprechen nicht deckungsgleich. Reden heißt noch nicht denken. (Das ist eine banale Wahrheit, die nur allzu häufig vom Leben bestätigt wird.) Denken heißt erkennen; reden heißt sich mitteilen. Denken setzt das Sprechen voraus; Sprechen setzt Gedankenarbeit voraus: Verbale Kommunikation vermittels der Sprache ist Gedankenaustausch zum Zwecke der gegenseitigen Verständigung. Wenn der Mensch denkt, benutzt er das sprachliche Material, und er formt seinen Gedanken, indem er ihn in verbale Formulierungen gießt, aber die Aufgabe, die das Denken löst, ist eine gnostische Aufgabe. Die gnostische Arbeit an den in verbale Form gekleideten Gedanken ist eine andere als die am eigentlichen Ausdruck, am Text, der diese Gedanken ausdrückt. Die Arbeit am Text bzw. am Ausdruck ist eine Ausgestaltung der sprachlichen Hülle der Gedanken mit dem Ziel, diese letzteren zu Objekten der sich sprachlicher Mittel bedienenden verbalen Kommunikation zu machen. In diesem Zusammenhang läßt sich auch die Frage nach den „Funktionen" des Sprechens lösen. Unhaltbar ist jene Konzeption (die besonders prägnant von Karl Bühler46 formuliert wurde), daß das Sprechen mehrere, zumindest zwei gleichberechtigte Funktionen habe: 1. Darstellungsfunktion oder, allgemein, semantische Funktion und 2. kommunikative bzw. Verkehrsfunktion. 4 7 Das Sprechen hat eine Hauptfunktion; seine Zweckbestimmung ist es, als Mittel der Kommunikation zu dienen. Freilich ist die verbale Kommunikation, die Kommunikation vermittels der Sprache, spezifisch. Ihre Spezifik besteht darin, daß es eine Kommunikation mit Gedanken ist; der Zusammenhang zwischen Sprechen und Denken ist Ausdruck der spezifischen Natur der durch das Sprechen erfolgenden Kommunikation. Andererseits hat auch das Denken eine „Funktion", eine Zweckbestimmung, nämlich die Erkenntnis des Seins; sein Zusammenhang mit dem Sprechen bzw. mit der Sprache verleiht dem Denken keine neue „Funktion", sondern drückt nur die Spezifik des menschlichen Denkens als sozial bedingte Erscheinung aus und schafft neue Bedingungen für die Denktätigkeit. Die Hauptfunktion des Sprechens umfaßt eine Reihe von kommunikativen TeilFunktionen", die der Mitteilung, des Gedankenaustausches zum Zwecke der gegenseitigen Verständigung, die expressive (Ausdrucks-) und die Einwirkungs- (Anregungs-) Funktion. Es wäre falsch, wollte man das Sprechen vollkommen intellektualisieren. Das lebendige menschliche Sprechen ist nicht nur die „reine" Form des abstrakten Denkens; es reduziert sich nicht einfach auf die Gesamtheit der Bedeutungen. Für w

1,1

7

Darstellungen der Bählerschen Lehre von deu Funktionen des Sprechens findet man in folgenden Werken: K. Bühler, Uber den Begriff der sprachlichen Darstellung. „Psychologische Forschung", Berlin 1923, Bd. III, Heft 3; Die Symbolik der Sprache. „Kantstudien", Berlin 1928, Bd. XXX, Heft 3 - 4 ; Zur Grundlegung der Sprachpsychologie. In: „VHI-th International Congress of Psychology", Groningen 1927; Die Krise der Psychologie, Jena 1927 (2. Aufl. 1929) (s. in diesem Buche speziell das Kapitel über das Sprechen) ; Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache, Jena 1934 (das Hauptwerk des Autors) u. a. In der modernen sowjetischen linguistischen Literatur findet man diesen Standpunkt bei Tschikobawa vertreten (s. A. S. Tschikobawa, Die Lehre J. W. Stalins über die Sprache als gesellschaftliche Erscheinung. In: „Fragen der Sprachwissenschaft im Lichte der Arbeiten J. W. Stalins", Moskau 1950; speziell S. 4 7 - 5 0 ) . Prinzipien und Wege

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Theorie

gewöhnlich drückt es vielmehr auch die emotionale Beziehung des Menschen zu dem aus, wovon er spricht und an wen er sich wendet. Als Ausdrucksmittel ist das Sprechen zugleich auch Einwirkungsmittel. Der Mensch spricht, um - wenn auch nicht unmittelbar auf das Verhalten, so doch auf das Denken oder die Gefühle - auf das Bewußtsein anderer einzuwirken. Das Sprechen hat eine soziale Zweckbestimmung, es ist Kommunikationsmittel, und diese Funktion erfüllt es in erster Linie dadurch, daß es als Mittel der Einwirkung dient. Das Sprechen im wahren Sinne des Wortes ist ein Mittel der bewußten Einwirkung und Mitteilung, die auf Grund des semantischen Inhalts des Sprechens erfolgen; darin liegt die Spezifik des Sprechens im wahren Sinne des Wortes, des Sprechens des Menschen. Die These von der Einheit von Denken und Sprechen, von ihrem notwendigen wechselseitigen Zusammenhang, die da behauptet, abstraktes menschliches Denken sei sprachliches, verbales Denken, gerät mit einer Reihe fundamentaler psychologischer Tatsachen in Konflikt, die scheinbar gegen sie sprechen. So kommt es zum Beispiel vor — wie jedem aus eigener Erfahrung bekannt sein dürfte - , daß wir nach der verbalen Formulierung eines Gedankens gleichsam suchen; es scheint, als sei der Gedanke bereits da, nur sein verbaler Ausdruck müsse noch gesucht werden. Bei dieser Suche akzeptieren wir durchaus nicht jede verbale Formulierung, die uns unterkommt; manchmal verwerfen wie diejenige, die uns als erste eingefallen ist, weil sie unserem Gedanken nicht entspricht, und haben dann für mehr oder weniger lange Zeit mit beachtlichen Schwierigkeiten zu kämpfen, um eine adäquate verbale Formulierung für unseren Gedanken zu finden. Wenn der Gedanke, der noch keine verbale Formulierung erhalten hat, überhaupt fehlte, könnte er die für ihn gewählte verbale Formulierung nicht kontrollieren. Die Vorstellung, es gebe einen primär absolut körperlosen, „reinen" Gedanken, der dann nur in eine verbale Hülle gekleidet werde, erhält dadurch scheinbar eine gewisse Unterstützung. Was stellt aber nun ein Gedanke dar, bevor er im Sprechen ausgedrückt wird? Es ist ein erst aufgegebener Gedanke, d. h. ein nur „implizit" gegebener, der nur über seine Beziehung zu einem bereits explizit im Sprechen gegebenen Gedanken selbst gegeben ist. In dem Maße, wie der Gedanke explizit festgelegt wird, erhält er auch seine verbale Formulierung. Nur dasjenige am Gedanken erhält keine verbale Formulierung, was überhaupt nicht explizit gegeben ist. Der Prozeß, der sich zunächst als zusätzliche - post factum - Einkleidung eines auch ohnedies schon fertigen Gedankens in verbale Formen darstellt, ist in Wirklichkeit nicht nur ein verbaler, sondern auch ein gedanklicher Prozeß: Es ist der Übergang von der „Propositionalfunktion" 4 8 zum Satz, vom implizit zum explizit gegebenen Gedanken, ein Prozeß, bei dem der eigentliche Inhalt des Gedankens, von den Beziehungen ausgehend, durch die er zunächst aufgegeben war, aufgedeckt und explizit festgelegt wird. 49 Der Einkleidungsprozeß des Gedankens /,K

Unter „Propositionalfunktion" versteht man einen Ausdruck (eine Formel), der zum (richtigen oder falschen) Satz wird, wenn man die in ihm vorhandenen Variablen durch bestimmte Bedeutungen ersetzt. Es besteht eine gewisse Analogie zwischen den beiden Vorgängen, wie ein im Sprechen nicht gegebener Gedanke seine Formulierung und ein vergessener Gedanke den Erinnerungspro-

Über das Denken

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in Worte ist ein Prozeß der Entwicklung und der gehaltvolleren Festsetzung des Gedankens selbst. Jedes abstrakte, diskursive Denken des Menschen geschieht im Sprechen; vollkommen ohne Sprechen ist es unmöglich. Damit behaupten wir lediglich, daß das abstrakte Denken nicht ganz ohne verbale Stütze ablaufen kann, wir behaupten aber keinesfalls, das Denken, und sei es auch das abstrakte, diskurse Denken, stütze sich nur auf das Sprechen, und anschaulich-bildhafte Elemente könnten daran keinen — und zwar manchmal sogar recht beträchtlichen — Anteil haben. Dazu haben wir uns ja schon oben im Kapitel über das Denken geäußert. Insofern die Abbilder beim Menschen gegenständliche Bedeutung haben, also einen semantischen Gehalt, können sie ebenso wie das Sprechen im Denkprozeß eine dem Sprechen analoge Funktion erfüllen. Schließlich ist ja auch das Wort ein akustisches oder optisches Abbild und damit Träger des Sinngehalts, der Bedeutung; und nur, weil das Wort ein ganz prägnanter Träger einer abstrakten, begrifflichen Bedeutung sein soll, nimmt man als sinnliche, anschauliche Grundlage ein Abbild, das keine eigene gegenständliche Bedeutung hat; die Abbilder dagegen schöpfen ihre Bedeutung unmittelbar aus ihrer Beziehung zu dem Gegenstand, dessen Abbild sie sind. Zudem muß man auch berücksichtigen, daß ein sinnlich gegebener, ja überhaupt jeder Gegenstand, der im Sprechen figuriert, im Regelfalle nur durch das Wort genannt (oder bezeichnet) wird. Das bedeutet jedoch nicht, daß sein ganzer Gehalt im Sprechen ausgedrückt, vom Sprechen absorbiert wird. In Wirklichkeit schleppt alles mit einem Wort Bezeichnete noch eine Unmenge von nicht im Sprechen Absorbiertem hinter sich zeß kontrolliert. Wenn wir uns an etwas Vergessenes erinnern wollen und es fällt uns etwas Falsches ein, dann konstatieren wir üblicherweise sofort: „Nein, das ist es n i c h t ! " Diese Möglichkeit, die Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung dessen, was u n s eingefallen ist, mit dem, woran wir uns zu erinnern suchen, konstatieren zu können, zeugt davon, daß uns auch das Vergessene, auf das wir uns besinnen wollen, in gewissem Sinne gegeben ist, und zwar ungeachtet der Tatsache, daß wir es vergessen haben. In diesen Fällen ist f ü r gewöhnlich eine gewisse funktionelle Kenntnis von den Zusammenhängen wirksam, in denen das Vergessene steht. Wenn wir uns an etwas Vergessenes erinnern wollen, suchen wir den Träger bestimmter Beziehungen, etwas, das zu uns Bekanntem in bestimmten Verbindungen steht. Beim Erinnerungsprozeß erkennen wir die Ubereinstimmung oder Nichtübereinstimmung dessen, was uns eingefallen ist, mit dem, woran wir uns erinnern wollen, daran, ob das, was uns eingefallen ist, den Zusammenhängen und Beziehungen entspricht, von denen wir beim Erinnern ausgegangen sind. Zahlreiche Tatsachen bestätigen den Anteil dieses „funktionellen" Prinzips am Erinnerungsprozeß. Ich habe einige Zeit in der Ukraine in Odessa gelebt und mußte ziemlich oft zum Volkskommissariat f ü r Volksbildung nach Charkow fahren. Wenn ich später, nach meiner Ubersiedlung nach Leningrad, zum Volkskommissariat f ü r Volksbildung oder zum Hochschulkomitee nach Moskau fahren mußte, sagte ich anfänglich nicht selten, ich f ü h r e nach Charkow. Auf jeden Fall f u h r ich in die Hauptstadt. Die Stadt, in die ich reiste, war „funktionell" in erster Linie als Hauptstadt festgelegt; ob das nun Moskau oder Charkow war, erschien im vorliegenden Falle als sekundärer Umstand, der in den allgemeinen Bereich paßte, der durch diese „funktionale", implizite Definition abgesteckt wurde. (Vgl.: Grundlagen der allgemeinen Psychologie. Volk und Wissen Volkseigener Verlag, Berlin 1958, S. 369 f.) 7-

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Theorie

her; der Inhalt des Wortes ist nicht nur Lichtpunkt auf dem im Schatten verbleibenden Massiv dessen, was es bezeichnet. Was mit einem Wort bezeichnet wird, ist nur implizit durch den expliziten Inhalt des Wortes gegeben. Wenn wir im Denkprozeß mit Wörtern operieren, haben wir es auch mit dem in den verbalen Formulierungen nicht explizit ausgedrückten Gesamtinhalt zu tun. (Dieser Satz ist das auf das Sprechen bezogene Äquivalent jener anderen These, daß wir im Urteilsprozeß nicht Sätze an sich zueinander in Beziehung bringen; vielmehr korrelieren wir, wenn wir Sätze zueinander in Beziehung bringen, die Objekte dieser Sätze oder Gedanken, ihre Eigenschaften und Beziehungen.) Die Abbilder, mit denen der Mensch operiert, sind „benannte", also gleichsam verbale Abbilder. Daher können im Denken neben dem Sprechen, neben dem Wort auch Abbilder funktionieren und eine analoge Funktion ausüben wie die Wörter. Anschauliche Abbilder spielen bei den verschiedenen Menschen eine unterschiedliche Rolle, bei den einen eine größere, bei den anderen eine kleinere, aber niemals sind die Abbilder, die im Denken irgendwelche Funktionen tragen, „erstsignalisch", vielmehr sind es immer in gewissem Maße benannte und bezeichnende Abbilder. Der Anteil bildhafter Elemente im Denken ist auch auf den verschiedenen Entwicklungsetappen des Denkens unterschiedlich. Besonders groß ist er in den Anfangsstadien. Im Anfangsstadium ist ein großer Teil des Gedankens lediglich implizit über seine Beziehung zu anderen Teilen des Kontextes gegeben, in dem sich der Gedanke bewegt. Diese Wechselbeziehungen treten (das ist zumindest meine persönliche Erfahrung) in Form intuitiver Schemata auf: In einem solchen Schema wird der Gedanke, der sich noch im Anfangsstadium seiner expliziten Entwicklung befindet, durch so etwas wie einen leuchtenden Nebelfleck repräsentiert, der sich an einer Stelle befindet, die durch ihre Beziehungen zur Gesamtheit der Punkte definiert ist, über die der Gedanke aufgegeben, also implizit gegeben ist. Intuitiv, anschaulich ist im Schema gleichsam die „Dislokation" des in statu nascendi befindlichen, explizit noch nicht gegebenen und im Sprechen noch nicht ausgeformten Gedankens gegenüber den im Sprechen bezeichneten anderen Bestimmungen des Gedankenobjektes, gegenüber anderen Gedanken und gegenüber Stützpunkten des gegebenen Kontextes repräsentiert, die als „Ausgangskoordinaten" dienen. In seinen Anfangsstadien äußert sich der Denkprozeß gleichsam in Gedankenbewegungen, die nach diesem Schema verlaufen, in Umgestaltungen des Schemas. Das „intuitive" Erfassen eines komplizierten geistigen Ganzen, das also noch nicht im Bereich des Sprechens ausgeformt ist, geschieht dadurch, daß uns seine Gesamtkonzeption zum Bewußtsein kommt. Ein intuitiv gegebenes Ganzes stellt ein Ganzes dar, das implizit durch seine „Konzeption" gegeben ist, oder es ist die Konzeption dieses Ganzen in ihrem nicht nur expliziten, sondern auch impliziten Gehalt. (Zur „Konzeption" s. o. im Kapitel über das Denken.) Wenden wir uns nun einer anderen Seite des Problems der Wechselbeziehungen von Denken und Sprechen zu. Beobachtungen bei Experimenten haben gezeigt, daß gewisse Versuchspersonen Schwierigkeiten haben, eine Aufgabe zu lösen, solange sie ihre Überlegungen nicht laut verbal formulieren. Die Formulierung ihres Gedankenganges erleichtert ihnen die Aufgabenlösungs; sobald sie erfolgt, beobachtet man einen

Uber das Denken

10:1

merklichen Fortschritt. Wenn der Mensch seine Überlegungen laut f ü r andere formuliert, dann formuliert er sie auch f ü r sich selbst. Diese Formulierung, die Fixierung des Gedankens in Worten, bedeutet zwangsläufig auch eine Aufgliederung des Gedankens, also eine Analyse, und ist zugleich mit einer Verallgemeinerung des Gedankeninhalts verbunden, da jedes Wort stets Allgemeines ausdrückt. Die Formulierung eines Gedankens im Sprechen ist also zugleich Analyse und Verallgemeinerung. Mit dem wörtlichen Ausdruck geht zugleich auch die Apperzeption 5 0 einher, da die Apperzeption stets durch Korrelation mit einem Wort ausgelöst wird, also über den Ausdruck des apperzipierten vermittels des gesellschaftlich entwickelten Wissensinhaltes, der im Wort objektiviert ist. Im Wort, in der Formulierung des Gedankens, liegen also die notwendigen Voraussetzungen f ü r das diskursive, d. h. f ü r das gegliederte und klar apperzipierte Denken. Verbale Formulierung bedeutet zudem auch Objektivierung des Denkens, also Aussonderung des prozessualen Ergebnisses — des im Wort objektivierten Gedankens — aus dem Denkprozeß. Diese Objektivierung des Gedankens, also die Umwandlung des bereits erreichten Resultats des Denkprozesses in ein Objekt der weiteren Analyse, auf das man, wenn erforderlich, jederzeit zurückkommen kann, um das, was noch unklar geblieben ist, aufzuklären und zu analysieren, erleichtert den Fortgang des Denkens. Daher ist die Formulierung des Denkens im Sprechen notwendige Bedingung seines Fortganges. Der wechselseitige Zusammenhang von Denken und Sprechen zeigt sich im ganzen Verlauf des Denkprozesses; dieser wechselseitige Zusammenhang äußert sich konkret - wie sich bei unseren Denkforschungen herausgestellt hat — in Umformulierungen der Aufgabe (s. o.). Einerseits äußert sich das Resultat der Analyse der Aufgabe und der neuen Synthese (Korrelation) ihrer Elemente in einer Umformulierung der Aufgabe; andererseits bedingt jede Umformulierung den weiteren Verlauf des Denkprozesses. Was sich auf dieses Weise als wechselseitige Abhängigkeit von Sprechen u n d Denken darbietet, tritt andererseits auch als Abhängigkeit des weiteren Denkverlaufs vom bisherigen auf, da jede Neu- oder Umformulierung der Denkaufgabe nicht nur ein verbales, sondern auch ein intellektuelles F a k t u m ist. Die Umformulierung l ä u f t freilich nicht etwa nur darauf hinaus, daß sich derselbe Denkinhalt in neuer Form darbietet (die „Umzentrierung" usw. der gestaltspsychologischen Konzeption). Das Wesen der Sache besteht vielmehr gerade darin, daß bei jeder Umformulierung ein neuer Inhalt in den Vordergrund gerückt wird; in den Umformulierungen spiegelt sich der Fortgang des Denkens wider, die voranschreitende Aufgabenlösung. Zusammengefaßt ergibt sich: Denken und Sprechen hängen wechselseitig zusammen, aber ihr Zusammenhang ist kein mechanisches Zusammenfallen. Aus diesem Grunde ist die Frage nach ihren Wechselbeziehungen — wie wir sehen — ein inhaltsreiches Problem, das einer tiefschürfenden und allseitigen Analyse bedarf. 50

Wir verwenden „Apperzeption" hier als Ubersetzung für den russischen Begriff „0C03HaHHe" (das Sich-Bewußt-Machen, das Zum-Bewußtsein-Kommen) im Sinne der im „Fremdwörterbuch" (VEB Bibliographisches Institut, Leipzig 1954) gegebenen Definition: „Bewußtes, willentliches Erfassen eines neuen Bewußtseinsinhaltes." (Anm., d. Ubers.).

Theorie

102

4. Über die Persönlichkeit Das Prinzip

des Determinismus

und das

Persönlichkeitsproblem

a) Das Persönlichkeitsproblem 5 1 Die Problemstellung und -lösung des Persönlichkeitsproblems in der Psychologie hängt wesentlich von den allgemeinen theoretischen Einstellungen ab, von denen man dabei ausgeht. Andererseits bestimmt die jeweilige Lösung des Persönlichkeitsproblems auch wesentlich die allgemeine theoretische Konzeption der Psychologie. Die theoretischen Voraussetzungen, von denen wir ausgehen, haben dieses Problem zwangsläufig in den Vordergrund gerückt, und die konkrete Analyse von Problemen des Denkens, in der unsere theoretischen Voraussetzungen ihre experimentelle Realisierung gefunden hat, ergab, daß die Untersuchung psychischer Prozesse, also die Ermittlung ihrer inneren Bedingungen, mit Notwendigkeit in den Persönlichkeitsbereich übergeht und ihn voraussetzt. Nur wenn man die Persönlichkeit, den Menschen, als reales gesellschaftliches Individuum in die psychologische Betrachtung einbezieht, kann man zur Untersuchung seines Bewußtseins gelangen. Die Einführung des Persönlichkeitsbegriffes in die Psychologie bedeutet vor allem, daß man bei der Erklärung psychischer Erscheinungen vom realen Sein des Menschen als materielles Wesen und damit auch von seinen Wechselbeziehungen mit der materiellen Welt ausgehen muß. Alle psychischen Erscheinungen in ihren wechselseitigen Zusammenhängen gehören jeweils zu einem konkreten, lebenden und handelnden Menschen; alle sind sie vom natürlichen und gesellschaftlichen Sein des Menschen und den es bestimmenden Gesetzmäßigkeiten abhängig und abgeleitet. Diese These wird in der dialektisch-materialistischen Interpretation der Determinierung psychischer Erscheinungen präzisiert und weiterentwickelt. Die Persönlichkeitspsychologie ist bei der Erklärung psychischer Erscheinungen nicht selten von einem Standpunkt ausgegangen, der die diametrale Antithese zur Position des mechanistischen Materalismus darstellte. Der Mechanizismus will die psychischen Erscheinungen unmittelbar aus den äußeren Einwirkungen ableiten. Die personalistische Psychologie dagegen gleitet leicht auf eine Position ab, die dem mechanistischen Determinismus diametral entgegengesetzt ist, indem sie bei der Erklärung psychischer Erscheinungen von den inneren Eigenschaften oder Tendenzen der Persönlichkeit ausgeht. Daher sind die Lösung des Problems und die Überwindung dieser Antithese auch nicht darin zu suchen, daß man beide Standpunkte vereinigt und behauptet, man müsse sowohl die äußeren Einwirkungen als auch die innere Bedingtheit der psychischen Erscheinungen durch die Persönlichkeit in Betracht ziehen, daß man also die Zweifaktorentheorie 51

Eine Übersicht über die Behandlung des Persönlichkeitsproblems in der Sowjetpsychologie findet man in: „Referate der Tagung zu Problemen der Persönlichkeitspsychologie" (gekürzte Texte). Moskau-Leningrad 1956.

Uber die Persönlichkeit

103

akzeptiert. Die äußeren Einwirkungen und die inneren Bedingungen müssen in bestimmter Weise zueinander in Beziehung gesetzt werden. Wir gehen davon aus, daß die äußeren Ursachen (die äußeren Einwirkungen) immer nur mittelbar über die inneren Bedingungen wirken. Bei dieser Auffassung vom Determinismus erlangt auch die Persönlichkeit als ganzheitlicher Komplex der inneren Bedingungen ihre wirkliche Bedeutung für die Interpretation der Gesetzmäßigkeiten psychischer Prozesse. Nur bei dieser Interpretation des Determinismus wird die Problemstellung des Persönlichkeitsproblems frei von Metaphysik und Subjektivismus, frei von allem, was mit echter Wissenschaft unvereinbar ist, und erhält so ihre eigentliche Bedeutung für die Psychologie. Bei der Erklärung irgendwelcher psychischer Erscheinungen fungieren die Eigenschaften und Zustände der Persönlichkeit als einheitlicher Komplex innerer Bedingungen, durch die alle äußeren Einwirkungen gebrochen werden. Eine wichtige physiologische Komponente dieser inneren Bedingungen sind die Eigenschaften des Nervensystems. Die Einbeziehung der Persönlichkeit in die Psychologie ist notwendige Voraussetzung für die Erklärung psychischer Erscheinungen. Die Untersuchung jedes psychischen Prozesses muß seine inneren Bedingungen ermitteln. (Unsere Untersuchungen haben das konkret hinsichtlich des Denkens gezeigt. Derselbe Satz gilt aber auch für alle anderen psychischen Prozesse.) Die Ermittlung der inneren Bedingungen eines Prozesses verknüpft ihn aber mit der Persönlichkeit. Die psychologische Analyse von allem, was mit dem Menschen geschieht, setzt einen Bezug auf die inneren Bedingungen voraus, die durch die bisherige Entwicklung der Persönlichkeit geschaffen worden sind. In ihren Erinnerungen an Lenin schrieb N. K. Krupskaja: „Das Schicksal des Bruders hatte zweifellos tiefen Einfluß auf Wladimir Iljitsch. Eine große Rolle spielte, dabei, daß Wladimir Iljitsch zu jener Zeit schon in vielem selbständig dachte und die Frage der Notwendigkeit des revolutionären Kampfes für sich bereits entschieden hatte. Wäre es anders gewesen, dann hätte ihm das Schicksal des Bruders wahrscheinlich nur tiefen Kummer verursacht oder bestenfalls in ihm die Entschlossenheit und das Bestreben geweckt, dem Weg des Bruders zu folgen. Unter den gegebenen Bedingungen verschärfte das Schicksal des Brudes lediglich seine Gedankenarbeit, erzeugte in ihm eine ungewöhnliche Nüchternheit, die Fähigkeit, der Wahrheit ins Angesicht zu blicken und sich auch nicht für eine Minute von einer Phrase oder Illusion hinreißen zu lassen, es veranlaßte ihn zu höchster Ehrlichkeit gegenüber allen Problemen." 5 2 Die Wirkung, die irgendein Ereignis im Leben auf uns hat, ist immer dadurch bedingt, was wir bisher erlebt und gedacht, welche innere Arbeit wir geleistet haben. Die These, daß die äußeren Einwirkungen mit ihrem psychischen Effekt nur mittelbar über die Persönlichkeit verknüpft sind, ist die Zentralthese, von der aus alle Probleme der Persönlichkeitspsychologie - wie überhaupt der Psychologie - angegangen werden müssen. Auch die Gesetzmäßigkeiten der psychischen Erscheinungen — und sogar noch mehr als die aller übrigen - kann man nur ermitteln, wenn man von der dialektisch52

N. K. Krupskaja,

Erinnerungen an Lenin. Moskau 1947, S. 12.

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materialistischen Interpretation des Determinismus ausgeht. Diese Auffassung von den psychologischen Gesetzmäßigkeiten und die Einbeziehung der Persönlichkeit als notwendiges Glied in die Psychologie sind in gewissem Sinne äquivalente Sätze. Insofern die inneren Bedingungen, durch die im jeweils gegebenen Augenblick die äußeren Einwirkungen auf die Persönlichkeit gebrochen werden, ihrerseits in Abhängigkeit von den bisherigen äußeren Einwirkungen geformt worden sind, bedeutet die These von der Brechung der äußeren Einwirkungen durch die inneren Bedingungen zugleich, daß der psychologische Effekt jeder äußeren (damit also auch jeder pädagogischen) Einwirkung auf die Persönlichkeit durch ihre Entwicklungsgeschichte bedingt ist. Wenn man von der Entwicklungsgeschichte spricht, die die Persönlichkeitsstruktur bedingt, dann muß man sie im weiteren Sinne auffassen: Sie umfaßt sowohl den Evolutionsprozeß der Lebewesen und die eigentliche Geschichte der Menschheit als auch ausschließlich die persönliche Entwicklungsgeschichte des jeweiligen Menschen. Infolge dieser historischen Bedingtheit findet man in der Persönlichkeit Komponenten von unterschiedlicher Allgemeinheit und Stabilität, die sich mit verschiedener Geschwindigkeit verändern. So enthält die Psychologie jedes Individuums Züge, die durch natürliche Voraussetzungen bedingt und allen Menschen gemeinsam sind. Dazu gehören beispielsweise die Eigenschaften des Gesichtssinnes, die durch die Ausbreitung der Sonnenstrahlen auf der Erde und den dadurch determinierten Bau des Auges bedingt sind. Da diese Bedingungen unveränderlich sind und sich in Struktur und Funktion des Sehorgans fixiert haben, sind auch die entsprechenden Eigenschaften des Gesichtssinnes allen Menschen gemeinsam. Andere Züge verändern sich im Laufe der historischen Entwicklung der Menschheit. Dazu gehören etwa die Eigenarten des phonomatischen Gehörs, die durch den phonematischen Bau der Muttersprache bedingt sind. Sie sind nicht nur bei Völkern verschiedener Sprache unterschiedlich, sondern verändern sich auch im Laufe der Entwicklung eines Volkes. So gingen im 12.—15. Jahrhundert wesentliche Veränderungen in der phonematischen Struktur der russischen Sprache vor sich. In dieser Periode entstand die Korrelativität von stimmlosen und stimmhaften Konsonanten, die zu dieser Zeit erschienenen harten und weichen Konsonanten wurden zu selbständigen Phonemen usw. Dementsprechend bildeten sich bei den russischen Menschen auch jene Eigenarten des phonematischen Gehörs heraus, die heute f ü r sie charakteristisch sind. Die Formen der Sensorik — im vorliegenden Falle die des sprachlichen Gehörs - ändern sich also durch die historische Entwicklung. Dasselbe gilt auch f ü r das musikalische Gehör. Zu wesentlichen Verschiebungen und Veränderungen im psychischen Habitus der Menschen kommt es bei Veränderung der Gesellschaftsordnung. Wenn auch allen Menschen gemeinsame Gesetze der Motivation existieren, so ändern sich doch der konkrete Inhalt der Motive und das Verhältnis der gesellschaftlichen zu den persönlichen Motiven mit der Veränderung der Gesellschaftsordnung. Es handelt sich dabei um typische Veränderungen, die allen Menschen gemein sind, die in einer bestimmten Gesellschaftsordnung leben. Damit kombiniert sich nun noch die indviduelle Entwicklungsgeschichte der Persönlichkeit, die durch die Relation der f ü r sie spezifischen äußeren und inneren Bedingungen bedingt ist. Infolgedessen erweisen sich gleiche äußere Bedingungen (etwa die Lebens- und Erziehungsbedingungen der Kinder einer

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Familie) im Prinzip hinsichtlich ihrer Lebensbedeutung für das Individuum als unterschiedlich. In dieser indivduellen Entwicklungsgeschichte bilden sich die individuellen Eigenschaften oder Persönlichkeitseigentümlichkeiten heraus. Die Eigenschaften der Persönlichkeit lassen sich also keinesfalls auf ihre individuellen Eigentümlichkeiten reduzieren. Sie umfassen sowohl Allgemeines als auch Besonderes und Einzelnes. Die Persönlichkeit ist um so bedeutender, je mehr in ihr das Allgemeine in individueller Brechung repräsentiert ist. Die individuellen Eigenschaften der Persönlichkeit sind etwas anderes als die Persönlichkeitseigenschaften des Individuums, also diejenigen Eigenschaften, die das Individuum als Persönlichkeit charakterisieren. Zu den eigentlichen Persönlichkeitseigenschaften rechnet man aus der ganzen Mannigfaltigkeit menschlicher Eigenschaften gewöhnlich diejenigen, die ein gesellschaftlich bedeutsames Verhalten oder Handeln des Menschen bedingen. Im Mittelpunkt stehen daher das System von Motiven und Aufgaben, die sich der einzelne stellt, die Eigenschaften seines Charakters, die das Verhalten bedingen (also diejenigen Handlungen, in denen sich die Einstellung des einzelnen zu anderen Menschen realisiert oder äußert), und die Fähigkeiten, d. h. jene Eigenschaften, die ihn für historisch entstandene Formen gesellschaftlich nützlicher Tätigkeit geeignet machen. Wir können es uns hier ersparen, in aller Ausführlichkeit auf die Geschichte des Persönlichkeitsbegriffes einzugehen. Sie ist in einer Reihe von Arbeiten abgehandelt worden (Trendelenburg, 1903, Reinfelder, 1928, u. a.; eine kurze Zusammenfassung findet man bei Allport)Diese Forschungen haben ergeben, daß das Wort „Person" zunächst die Maske bezeichnete, die der Schauspieler trug, dann den Schauspieler selbst und seine Rolle. Bei den Römern wurde das Wort „persona" ausschließlich im Kontext „persona patris, regis, accusatoris" usw. verwendet (die Person des Vaters, des Königs, des Anklägers usw.). Unter Hinweis auf die vorhandenen Untersuchungen behauptete Karl Bühlerder Begriff der „Persönlichkeit" habe sich heutzutage grundlegend gewandelt; er bezeichne nicht mehr die gesellschaftliche Funktion des Menschen, sondern seine „Wesensart". Diese rein äußerliche Gegenüberstellung von Wesensart und gesellschaftlicher Funktion der Persönlichkeit, die Biihler metaphysisch vollzieht, ist jedoch falsch. Natürlich kann man die Persönlichkeit eines Menschen nicht unmittelbar mit seinen gesellschaftlichen — juridischen oder ökonomischen — Funktionen identifizieren. Eine juristische Person braucht zum Beispiel durchaus nicht ein Mensch als Individuum und Persönlichkeit zu sein. Andererseits braucht der einzelne (das Individuum, die Persönlichkeit) durchaus nicht als juristische Persönlichkeit in Erscheinung zu treten, und auf jeden Fall ist er niemals nur juristische Person, also personifizierte juridische Funktion. Analog spricht Marx in der Politökonomie zwar auch von den „ökonomischen Charaktermasken der Personen" und betont, „. . . daß die ökonomischen Charaktermasken der Personen nur die Personifikationen der ökonomischen Verhältnisse sind, 53

54

A. Trendelenburg, Zur Geschichte des Wortes „Person". Kantstudien, 1908, 13, 4 - 5 . Rheinfelder, Das Wort „Person". Zschr. f. Rom. Phil., 1928, Beiheft, 77, S. 2 2 - 2 5 . G. W. Allport, Personality. A Psychological Interpretation. New York 1938, Ch. II. K. Bühler, Die Krise der Psychologie. Jena 1929.

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als deren Träger sie sich gegenübertreten" 5o , weist aber anschließend darauf hin, es sei ungerechtfertigt, die Personen nur als personifizierte soziale Kategorien zu betrachten und nicht auch als Individuen. „Unsre Verlegenheit stammt vielleicht daher", schreibt Marx, „daß wir die Personen nur als personifizierte Kategorien, nicht individuell, gefaßt haben." 5 6 Dennoch muß von jeder Persönlichkeitsvorstellung, die auf der ursprünglichen Bedeutung des Wortes fußt und auf die Rolle hinweist, die der Schauspieler im Stück spielt (und später auch auf jene reale Rolle, die der Mensch im Leben spielt), ein wesentlicher Zug beibehalten werden. Er besteht darin, daß die Persönlichkeit durch ihre Beziehungen zur Umwelt, zur Gesellschaft und zu den Mitmenschen bestimmt wird. Diese Beziehungen werden im Handeln der Menschen realisiert, also in jener realen Tätigkeit, durch die die Menschen die Welt (Natur und Gesellschaft) erkennen und verändern. Keinesfalls darf man die Persönlichkeit völlig von der realen Rolle isolieren, die sie im Leben spielt. Die Bedeutung einer Persönlichkeit wird nicht nur durch ihre Eigenschaften an sich bestimmt, sondern auch durch die Bedeutung jener sozial-historischen Kräfte, als deren Träger die Persönlichkeit in Erscheinung tritt. Die Distanz, die die historische Persönlichkeit vom Alltagsmenschen trennt, ist nicht durch die Relation ihrer natürlichen Fähigkeiten an sich bedingt, sondern durch die Bedeutung der Taten, die der zur historischen Persönlichkeit gewordene Mensch nicht nur auf Grund seiner primären, natürlichen Fähigkeiten zu vollbringen vermochte, sondern auch auf Grund des Zusammentreffens günstiger Umstände der historischen Entwicklung und seines eigenen Lebens. Die Rolle des großen Mannes in der Geschichte, und nicht einfach seine für sich genommenen Fähigkeiten, bestimmen das Verhältnis der Maßstäbe seiner Persönlichkeit und der des Durchschnittsmenschen. Bucht man diese Unterschiede zwischen der historischen Persönlichkeit und dem „einfachen" Menschen ausschließlich ä conto der Unterschiede ihrer ursprünglichen Gegebenheiten, dann gelangt man zur falschen Gegenüberstellung von Genie und Masse und gewinnt falsche Perspektiven bei der Beurteilung der Möglichkeiten, die jedem einzelnen offenstehen. Die Persönlichkeit formt sich in der Wechselwirkung von Mensch und Umwelt. In der Wechselwirkung mit der Welt, in der von ihm vollzogenen Tätigkeit äußert sich der Mensch nicht nur, sondern formt er sich auch. Daher hat auch die Tätigkeit des Menschen so fundamentale Bedeutung für die Psychologie. Die menschliche Persönlichkeit, d. h. jene objektive Realität, die man mit dem Begriff der Persönlichkeit bezeichnet, ist letzten Endes ein reales Individuum, ein lebender und handelnder Mensch. Weder gibt es eine Persönlichkeit als psychophysisches „Neutrum" (W. Stern) 5 7 noch als rein geistiges Gebilde, noch eine irgendwie geartete besondere Wissenschaft von der so aufgefaßten „Persönlichkeit". Als Persönlichkeit tritt der Mensch als „Einheit" (im mathematischen Sinne - Anm. d. Übers.) im System der gesellschaftlichen Beziehungen in Erscheinung, als realer Träger dieser Beziehungen. Darin liegt der positive Kern der Behauptung, der Per55 5(i 57

K. Marx, Das Kapital. Dietz Verlag, Berlin 1951, Bd. I. S. 91. Ebenda, S. 170. W. Stern, Person und Sache. System des Kritischen Personalismus. Bd. 2. Die Menschliche Persönlichkeit. Leipzig 1923.

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sönlichkeitsbegriff sei eine gesellschaftliche und keine psychologische Kategorie. Das schließt natürlich nicht aus, daß die Persönlichkeit als Realität mit allen möglichen Eigenschaften — auch natürlichen und nicht nur gesellschaftlichen — Untersuchungsgegenstand verschiedener Wissenschaften ist, von denen jede sie in den für die jeweilige Wissenschaft spezifischen Zusammenhänge und Beziehungen untersucht. Zu diesen Wissenschaften gehört notwendig auch die Psychologie, da es keine Persönlichkeit ohne Psyche, ja ohne Bewußtsein gibt. Dabei ist der psychische Aspekt den anderen nicht einfach gleichgeordnet: Die psychischen Erscheinungen sind organisch in das ganzheitliche Leben der Persönlichkeit verflochten, insofern die Hauptfunktion aller psychischen Erscheinungen und Prozesse in der Steuerung des menschlichen Handelns besteht. Selbst durch die äußeren Einwirkungen bedingt, bedingen die psychischen Prozesse das Verhalten, indem sie die Abhängigkeit des Verhaltens des Subjekts von den objektiven Bedingungen vermitteln. 58 Der Mensch ist eine Individualität, weil er besondere, einzelne und unwiederholbare Eigenschaften hat; er ist eine Persönlichkeit, weil er seine Beziehung zur Umwelt bewußt gestaltet. Er ist in maximalem Ausmaß Persönlichkeit, wenn er ein Minimum an Neutralität, Indifferenz und Gleichgültigkeit und ein Maximum an „Parteilichkeit" gegenüber allem gesellschaftlich Bedeutsamen aufweist. Daher rührt auch die fundamentale Bedeutung des Bewußtseins für den Menschen als Persönlichkeit, und zwar Bewußtseins nicht nur im Sinne des Wissens, sondern auch im Sinne der Stellungnahme. Ohne Bewußtsein, also ohne die Fähigkeit, bewußt einen bestimmten Standpunkt zu beziehen, gibt es auch keine Persönlichkeit. Wenn man auch die Bedeutung des Bewußtseins betont, so darf man dabei doch nicht die Vielschichtigkeit des Psychischen, also den Verlauf der psychischen Prozesse auf unterschiedlichen Stufen, vernachlässigen. Eine einschichtige Betrachtungsweise der Psyche der Persönlichkeit ist immer eine oberflächliche Betrachtungsweise, wenn man dabei auch eine „Tiefenschicht" annimmt. Bei dieser Vielschichtigkeit wird die Ganzheit der psychischen Struktur durch den wechselseitigen Zusammenhang aller — manchmal sogar widersprüchlichen — Eigenschaften und Tendenzen gewahrt. Die These vom Verlauf der psychischen Prozesse auf verschiedenen Stufen ist von grundlegender Bedeutung für das Verständnis der psychischen Struktur der Persönlichkeit. Speziell hängt das Problem der Persönlichkeit als psychologisches Subjekt unmittelbar mit der Beziehung zwischen unwillkürlichen und sogenannten Willkürprozessen zusammen. Das Subjekt im spezifischen Sinne des Wortes (als „Ich") ist das Subjekt der bewußten, „willkürlichen" Tätigkeit. Seinen Kern machen apperzipierte Handlungsimpulse, also die Motive bewußter Handlungen, aus. Jede Persönlichkeit ist Subjekt im Sinne des „Ich"; dennoch läßt sich der Persönlichkeitsbegriff auch in der Psychologie 58

Häufig sagt man, die Persönlichkeit gehöre nicht zum Bereich der Psychologie. Das ist natürlich in dem Sinne richtig, daß die Persönlichkeit als Ganzes kein psychisches Gebilde ist und deshalb auch nicht nur Gegenstand der Psychologie sein kann. Ebenso richtig ist aber auch, daß die psychischen Erscheinungen - und zwar notwendig - zur Persönlichkeit gehören. Daher ist eine allseitige Erforschung der Persönlichkeit ohne Psychologie unmöglich.

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nicht auf den Begriff des Subjektes in diesem engen, spezifischen Sinne reduzieren. Der psychische Inhalt der Persönlichkeit erschöpft sich nicht in den Motiven des bewußten Handelns; er umfaßt vielmehr auch die ganze Vielfalt der nicht apperzipierten Tendenzen, also der Impulse ihres unbewußten Tuns. Das „Ich" als Subjekt ist ein Gebilde, das von der vielschichtigen Gesamtheit der Tendenzen untrennbar ist, die als Ganzes die psychische Struktur der Persönlichkeit ausmachen. Bei der allgemeinen Charakteristik der Persönlichkeit muß man vor allem ihre „Ideologie" berücksichtigen, also die Ideen, die der einzelne als Prinzipien für die Beurteilung eigener und fremder Verhaltensweisen akzeptiert, die durch bestimmte Handlungsimpulse bedingt sind. Eine erschöpfende Untersuchung psychischer Prozesse, der Wahrnehmung, des Denkens (und nicht nur etwa der Gefühle), muß auch den „Persönlichkeits"- und vor allem den Motivationsaspekt des entsprechenden Handelns umfassen, d. h. in diesen Prozessen die Beziehung der Persönlichkeit zu den Aufgaben ermitteln, die sich f ü r sie ergeben. Das heißt jedoch keinesfalls, daß man Wahrnehmung, Denken usw. nur als spezielle Äußerung der sich von Fall zu Fall ändernden Beziehung der Persönlichkeit zur Situation ansehen kann. 5 9 Selbstverständlich darf man die Dynamik dieser Beziehungen bei der Betrachtung psychischer Prozesse nicht ignorieren, aber ebensowenig darf man alles in dieser Dynamik der Beziehungen auflösen und die Statik der relativ stabilen Eigenschaften vollkommen außer acht lassen.®) Löst man alles in der Dynamik der persönlichen Beziehungen auf, dann ignoriert man damit die Existenz von stabilen Eigenschaften der Persönlichkeit, die sich im Laufe der Geschichte herausgebildet und fixiert haben. Alles in der Psychologie auf die Dyamik der Beziehungen der Persönlichkeit zur Umwelt reduzieren ist nicht weniger falsch und einseitig, als sich nur auf die Statik der Eigenschaften zu beschränken und die Dynamik der Beziehungen vollkommen zu ignorieren. Man kann beispielsweise nicht die Wahrnehmung nur als Ausdruck der Beziehung des Menschen zum Wahrgenommenen auffassen und dabei die für alle Menschen und Situationen gemeinsamen psycho-physiologischen Gesetzmäßigkeiten der Sensorik, also der Funktion der Wahrnehmungsapparate, ignorieren. Man kann Ganzheit und Dynamik nicht so interpretieren, daß man damit jede Statik (alles Beständige) und jede relative Selbständigkeit 59

(i0

Wenn wir auch der Ansicht sind, daß nicht nur Gefühl und Wille, sondern auch Wahrnehmung und Denken, konkret gefaßt, die Beziehung der Persönlichkeit zur Situation mit umfassen, so scheint uns doch Skepsis gegenüber Formulierungen angebracht, wie man sie bei K. Gottschaidt findet, der beispielsweise die Wahrnehmungen in mehr oder weniger selbständige Momente bei der Realisierung der Beziehungen des Menschen zu einer bestimmten Lebenssituation verwandelt. (Vgl. K. Gottschaidt, Zur Theorie der Persönlichkeit und ihrer Entwicklung. „Zeitschrift für Psychologie", Leipzig 1954, Bd. 157, H. 1 - 2 . ) Wenn wir es also auch mit W. N. Mjassistschew für unerläßlich erachten, in die Persönlichkeitspsychologie die Dynamik der Beziehungen aufzunehmen, scheint uns doch Zurückhaltung gegenüber der These geboten, die da fordert, die statische Charakterologie der Eigenschaft zugunsten einer dynamischen Charakterologie der Beziehungen aufzugeben (s. W. N. Mjassistschew, Die Struktur der Persönlichkeit und die Beziehung des Menschen zur Wirklichkeit. In: „Referate auf der Tagung zu Problemen der Persönlichkeitspsychologie", Moskau-Leningrad 1956, S. 13).

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der Teile (der Analysatoren usw.) ablehnt. Die Motive, Beziehungen und Einstellungen sind ein notwendiger Aspekt, der bei der Untersuchung von Wahrnehmung, Denken usw. berücksichtigt werden muß; sonst ist jegliche erschöpfende, konkrete Untersuchung irgendeines Prozesses unmöglich. Dessen unbeschadet bleibt es aber nur ein Aspekt, und ihn zum einzigen machen heißt, sich den Weg zur Ermittlung aller und vor allem der ganz allgemeinen Gesetzmäßigkeiten der psychischen Tätigkeit verbauen. Den Zusammenhang mit der Persönlichkeit stellt man bei der Untersuchung der Wahrnehmung, des Denkens usw. schon dann her, wenn man die inneren Bedingungen für den gesetzmäßigen Verlauf dieser Prozesse ermittelt. Die psychischen Prozesse haben ebenso wie die Persönlichkeit allgemeinere und speziellere Eigenschaften. Die einen wie die anderen zu ermitteln ist legitime Aufgabe der Forschung. Je nachdem, welche davon im jeweiligen Einzelfall untersucht werden sollen, muß der Forscher die Bedingungen so wählen, daß der jeweils gewünschte - allgemeinere oder speziellere - Aspekt in den Vordergrund tritt. Bei der Untersuchung psychischer Prozesse steht für gewöhnlich die Gesetzmäßigkeit im Vordergrund, die bestimmt, wie die Wahrnehmung, das Denken usw. verläuft. Aber Wahrnehmung und Denken als konkretes Erlebnis, als Lebensinhalt der Persönlichkeit, enthält im Regelfalle nicht nur die Widerspiegelung bestimmter Erscheinungen oder gegenständlicher Beziehungen, sondern sie zeigen auch deren Sinn oder deren Bedeutung für den Menschen. Eben das kennzeichnet nämlich das seelische oder geistige Leben des Menschen. Dieses letztere stellt eine im Laufe des Lebens ständig variierende Verlagerung der Akzente oder Betonungen dar, d. h. eine ständig wechselnde Hervorhebung der Lebensaspekte, eine ununterbrochene Umwertung der Werte. Diese geistige oder seelische Tätigkeit ist es auch, die der Künstler beschreibt; denn sie ist von eigentlichem menschlichen Lebensinteresse. (Die sogenannte psychische Tätigkeit ist lediglich der prozessuale oder funktionelle Aspekt dieser umfassenderen und lebensvolleren seelischen oder geistigen Tätigkeit.) Dem Bereich der Persönlichkeitspsychologie weist man gewöhnlich vor allem die Gesamtheit der psychischen Eigenschaften des Menschen zu (vor allem die Charaktereigenschaften und die Fähigkeiten), die wechselseitig zusammenhängen, einander wechselseitig bedingen und zueinander im Verhältnis einer bestimmten Subordination stehen. (Wesentlich ist nicht nur, über welches „Inventar" an psychischen Eigenschaften ein bestimmter Mensch verfügt, sondern auch, welche Rolle - eine über- oder untergeordnete - jede dieser Eigenschaften in der allgemeinen Struktur der entsprechenden Persönlichkeit spielt.) Unzutreffend wäre jedoch die Vorstellung, daß die Psychologie der Persönlichkeit, die man dabei auf die Gesamtheit ihrer psychischen Eigenschaften reduziert, und die Psychologie der psychischen Prozesse zwei isolierte Wissenschaftsgebiete darstellen. Die Vorstellung von einer Persönlichkeitspsychologie, die nichts mit der Erforschung der psychischen Prozesse zu tun hat, und die Vorstellung von psychischen Prozessen als abstrakte Funktionen, die nichts mit der Persönlichkeit zu tun haben, sind Seiten ein und derselben falschen Konzeption. In Wirklichkeit kann man weder eine Lehre von den psychischen Eigenschaften des Menschen entwickeln, ohne seine psychische Tätigkeit zu erforschen, noch eine Lehre von der psychischen Tätigkeit, von den Ver-

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laufsgesetzmäßigkeiten der psychischen Prozesse, ohne ihre Abhängigkeit von den psychischen Eigenschaften der Persönlichkeit zu berücksichtigen. Jede Konfrontierung der allgemeinen Psychologie (der psychischen Prozesse und ihrer Gesetzmäßigkeiten) mit irgendeiner von ihr isolierten Persönlichkeitspsychologie, die man manchmal bei unseren Autoren findet, ist grundfalsch. 6 1 Die psychische Tätigkeit ist jenes „Baumaterial", aus dem sich die psychischen Eigenschaften und die Fähigkeiten des Menschen aufbauen. Fähigkeiten62 sind im Individuum fixierte Systeme generalisierter psychischer Tätigkeiten. Im Unterschied zu den Fertigkeiten sind die Fähigkeiten nicht Resultate einer Fixierung von Handlungsweisen, sondern von psychischen Prozessen („Tätigkeiten"), durch die das Handeln und die Tätigkeit reguliert werden. Dem analog ist auch der Charakter nicht die verallgemeinerte und in der Persönlichkeit fixierte Gesamtheit der Verhaltensweisen, sondern der Impulse, von denen sie gesteuert werden. Zur Ausbildung von Fähigkeiten ist es also erforderlich, daß die entsprechenden psychischen Tätigkeiten verallgemeinert werden und sich, nachdem sie auf diese Weise von einem Material auf anderes übertragungsfähig geworden sind, im Individuum fixieren. Die Qualität einer Fähigkeit, also ihr mehr oder weniger schöpferischer Charakter, hängt wesentlich davon ab, wie diese Generalisierung vor sich geht. Jeder psychische Prozeß bzw. jede psychische Tätigkeit setzt - als Form der Verbindung von Subjekt und objektiver Welt - eine entsprechende psychische Eigenschaft oder „Fähigkeit" im weiteren Sinne des Wortes voraus. Eine Fähigkeit in diesem Sinne ist beispielsweise die Sensibilität, also die Fähigkeit zur Empfindung und Wahrnehmung (s. dazu oben im Kapitel „Fragen der psychologischen Theorie"). Fähigkeiten bilden sich als Ergebnis einer in der psychischen Tätigkeit hergestellten Verbindung zwischen dem Subjekt und den Objekten der Tätigkeit heraus, die für das Subjekt lebenswichtig sind. Unter Fähigkeit im speziellen Sinne des Wortes versteht man üblicherweise ein kompliziertes Gebilde, einen Komplex psychischer Eigenschaften, die den Menschen für eine bestimmte, historisch ausgebildete Art gesellschaftlich nützlicher Tätigkeit geeignet machen, Daher ist das Problem der Fähigkeiten und ihrer Ausbildung heutzutage von besonderer Bedeutung. Während in einer Gesellschaft, die auf individualistischen Prinzipien aufgebaut ist, das Problem der Fähigkeiten lediglich das persönIU

Siehe etwa den redaktionellen Artikel der Zeitschrift „Fragen der Philosophie" aus Nr. 4/54 mit dem Titel: „Uber philosophische Fragen der Psychologie (zu den Diskussionsergebnissen)". Denselben Standpunkt hat auch K. N. Kornilow vertreten (s. K. N. Kornilow, Untersuchungsprinzipien der Psychologie des Sowjetmenschen. Referate der Tagung zu Fragen der Persönlichkeitspsychologie (gekürzte Texte). Moskau 1956, S. 7 und 9). Gegen die Gegenüberstellung von allgemeiner und Persönlichkeitspsychologie opponiert mit Recht A. S. Prangischwili (s. „Über einige Fragen der allgemeinpsychologischen Persönlichkeitstheorie". Berichte der Akademie der Wissenschaften der Grusinischen SSR, Bd. XVII, Nr. 9, 1956).

02

Allgemeines über das Problem der Fähigkeiten und unsere Stellungnahme dazu findet man im § 2, Kap. IV des Buches „Sein und Bewußtsein". Über das Verhältnis von Fähigkeiten und Tätigkeit des Menschen s. auch Kap. 18 der „Grundlagen der allgemeinen Psychologie".

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liehe Fortkommen berührt, bekommt es in der sozialistischen bzw. kommunistischen Gesellschaft gesellschaftlichen Sinn; die Schaffung von Voraussetzungen für die umfassende und allseitige Entwicklung der Fähigkeiten wird zu einer Angelegenheit von erstrangiger Bedeutung. Die Fähigkeit im speziellen Sinn kann man nicht definieren, ohne zugleich anzugeben, um welche Art von Fähigkeit (also „Fähigkeit wofür?") es sich handelt, ohne sich also auf die gesellschaftliche Arbeitsorganisation und das ihr angepaßte Bildungssystem zu beziehen. Das Problem der Fähigkeiten des Menschen ist untrennbar mit dem Problem seiner Rolle und Stellung im gesellschaftlichen Leben verknüpft. Wenn ein Mensch einen ganz bestimmten Beruf ergreift oder sich darauf vorzubereiten beginnt, kommt es zunächst einmal zu einer Auswahl oder Zusammenstellung derjenigen „psychischen Tätigkeiten" (oder ausgebildeten Elementarfähigkeiten), die die entsprechende Tätigkeit objektiv erfordert. Das Problem der Fähigkeiten ist eines der kritischsten, wenn nicht gar das kritischste Problem der Psychologie überhaupt. In der Lösung dieses Problems zeigt sich ganz besonders deutlich der Klassenstandpunkt der reaktionären Richtungen der bürgerlichen Psychologie, speziell in den USA. Durch unwissenschaftlich angesetzte Testuntersuchungen einen „Beweis" für die höhere Begabung der herrschenden Ausbeuterklassen der kapitalistischen Gesellschaft und der Vertreter der imperialistischen Großmächte zu liefern, ist - vor allem in den letzten Jahrzehnten — Hauptanliegen einer ganzen Reihe offener Apologeten der kapitalistischen Gesellschaftsordnung geworden. Die theoretische Grundlage der reaktionären — speziell der rassistischen — Darstellungen des Fähigkeitsproblems ist der Psychomorphologismus. Er äußert sich in einer speziellen Anlagenkonzeption, nach der für jede Fähigkeit eine eigene Anlage vorgebildet ist, die in fixierten Eigenarten der morphologischen Struktur von Hirn, Nervensystem und Organismus besteht. Auf diese Weise wird die Fähigkeit als kompliziertes Gebilde, das die Eignung des Menschen für eine bestimmte Art gesellschaftlich nützlicher Berufstätigkeit bedingt, unmittelbar in die morphologischen Eigenarten des Organismus projiziert. Die Bedeutung der Eigenschaften des Gehirns oder bestimmter Analysatoren (etwa des akustischen Analysators für die Entwicklung musikalischer Fähigkeiten) als erbliche Voraussetzungen der Fähigkeiten ist keineswegs zu leugnen, aber sie bedingen die Entwicklung der Fähigkeiten lediglich, prädeterminieren sie aber nicht schicksalhaft. In diesem Sinne ist auch die Existenz und Bedeutung der Anlagen63 nicht zu leugnen. Falsch ist an der Anlagenlehre nicht, daß man die Existenz angeborener organischer Voraussetzungen der Fähigkeiten anerkennt, sondern wie man sie abhandelt. 0:1

Mögen die Forschungen auf dem Gebiete der experimentellen Genetik auch noch so weit vorankommen, so können sie doch lediglich die physiko-chemischen Mechanismen der Vererbung ermitteln, aber nichts an der These ändern, daß Heredität und Variabilität wechselseitig zusammenhängen, daß sich also der Mensch und seine geistigen Fähigkeiten in seiner Wechselwirkung mit der Welt entwickeln. Der Begriff des „geistigen Gens", mit dem bezüglich des Menschen und seiner Rolle im Gesellschaftsleben zum Beispiel Thorndike operiert (s. E. Thorndike, Man and his Works. Harvard University Press, 1943, pp. 3 - 2 1 ) , hat wenig mit diesen experimentellen Errungenschaften der modernen Genetik gemein.

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Falsch ist an der Anlagenlehre, daß man die Fähigkeiten, die den Menschen für eine bestimmte berufliche Tätigkeit geeignet machen, in die Anlagen hineinprojiziert und damit die Vorstellung gewinnt, der Mensch sei auf Grund seiner angeborenen Organisation dazu vorherbestimmt, ein f ü r allemal an einen Beruf gekettet zu sein und entsprechend der gesellschaftlichen Wertschätzung dieses Berufes einen bestimmten Platz in der Hierarchie der Klassengesellschaft einzunehmen. Das ist der springende Punkt. Ihn muß man überwinden. Die unmittelbaren psychomorphologischen Korrelationen in der Fähigkeiten- und Anlagenlehre zu überwinden ist erste Voraussetzung für die Entwicklung einer wirklich wissenschaftlichen Theorie der Fähigkeiten. Bei der psychomorphologischen Konzeption, die, wie wir gesehen haben, die Fähigkeiten, die den Menschen für einen bestimmten Beruf geeignet machen, in die Anlagen, in die morphologischen Besonderheiten seines Organismus projiziert, wird der Mensch so dargestellt, als sei er durch seine Organisation unmittelbar für einen bestimmten Beruf vorherbestimmt. Damit waren die theoretischen Voraussetzungen dafür geschaffen, sich der Sorge um die Ausbildung der Menschen, um die Entwicklung ihrer Fähigkeiten zu entziehen und die Aufmerksamkeit auf die Auswahl von Menschen zu konzentrieren, die auf Grund irgendwelcher spontan entstandenen Voraussetzungen für den jeweiligen Beruf geeignet sein sollen. In dieser Auswahl besteht auch die gesellschaftliche Hauptfunktion des Psychologen in der kapitalistischen Gesellschaft. Möglich ist diese Praxis, weil es in der kapitalistischen Gesellschaft eine ständige Armee von Arbeitslosen gibt. Der Mensch wird damit zu einem besonderen Rohstoff der Produktion, deren Ziel die Gewinnung von Maximalprofit ist. 64 Die falsche theoretische Konzeption der Fähigkeiten, die auf psychomorphologischen Korrelationen fußt und die Fähigkeiten bzw. ihre Anlagen in „geistige Gene" verwandelt, ist untrennbar mit der kapitalistischen Ausbeutergesellschaft und ihren Praktiken verbunden. In der sozialistischen Gesellschaft, die voll und ganz darauf abzielt, die maximale Befriedigung der ständig wachsenden materiellen und kulturellen Bedürfnisse der Menschen zu sichern, ist nicht der Mensch der Produktion untergeordnet, sondern die Produktion dem Menschen und seinen Interessen. Die allseitige Entwicklung der Fähigkeiten aller Mitglieder der Gesellschaft, die jedem einzelnen den Zugang zu verschiedenen Berufen öffnet, wird zur wichtigsten Aufgabe. Und eine wirklich wissenschaftliche Theorie der Fähigkeiten und ihrer Entwicklungsmöglichkeiten legt den Weg zu ihrer Lösung frei. Fähigkeiten formen sich im Prozeß der Wechselwirkung eines Menschen, der über bestimmte angeborene Gegebenheiten verfügt, mit der Umwelt. Die Resultate menschlichen Handelns werden verallgemeinert und fixiert und gehen als „Baumaterial" in die Struktur der Fähigkeiten ein. Diese stellen eine Legierung von primären natürlichen Gegebenheiten des Menschen und Resultaten seines Handelns dar. Wirkliche Errungenschaften des Menschen schlagen sich nicht nur in der Außenwelt nieder, also in irgendwelchen von ihm geschaffenen Objekten, sondern auch in ihm selbst. Wenn 64

Die Psychologie kann natürlich und soll auch angewandt werden, um die Arbeitskräfte rationell einzusetzen. Ihre wesentlichste Anwendung besteht aber darin, Wege zur rationellen Ausbildung von Arbeitskräften zu weisen.

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der Mensch etwas Bedeutendes schafft, wächst er auch selbst daran. In den schöpferischen und heldenhaften Taten des Menschen liegt die wichtigste Quelle seines eigenen Wachstums. Die Fähigkeiten des Menschen sind Rüstzeug, das er selbst mit schmieden helfen muß. In dem Maße, wie die Fähigkeiten sich ausformen, bedingen sie ihrerseits die Tätigkeit des Menschen und öffnen ihm immer größere Möglichkeiten zu noch höheren Leistungen. Die reflektorische Interpretation des Psychischen gilt auch für die psychischen Eigenschaften. Eine psychische Eigenschaft ist die Fähigkeit des Menschen, auf bestimmte objektive Einwirkungen gesetzmäßig mit bestimmten psychischen Tätigkeiten zu reagieren. Die Anwendung der reflektorischen Konzeption auf die psychischen Eigenschaften führt zwangsläufig auch zur Verschmelzung der Lehre von den psychischen Eigenschaften mit der von den psychischen Prozessen. Das materielle, organische „Substrat" der menschlichen Fähigkeiten ist in den Eigenschaften der analytisch-synthetischen Hirntätigkeit zu suchen, in den an die Hirnstruktur geknüpften Besonderheiten der Dynamik seiner höheren Nerventätigkeit, die die Typen kennzeichnen (Stärke, Ausgeglichenheit und Beweglichkeit der Nervenprozesse, vor allem das erste und das letzte). Die sogenannte Allgemeinbegabung des Menschen hängt mit den Eigenschaften seiner höheren Nerventätigkeit zusammen und mit dem dadurch bedingten Verlaufsniveau der psychischen Prozesse. Dabei sind die Eigenschaften der höheren Nerventätigkeit nicht selbst die Fähigkeiten, sondern lediglich die inneren physiologischen Voraussetzungen für deren Ausbildung. Das Problem der Ausbildung der Fähigkeiten hängt untrennbar mit dem Problem ihrer Determinierung zusammen. Eigentlich ist jede echte Entwicklung des Menschen Genese oder Entwicklung seiner Fähigkeiten, und die Entwicklung etwa seiner geistigen Fähigkeiten ist nichts anderes als geistige Entwicklung des Menschen (im Unterschied zum einfachen Kenntniserwerb). Die Entwicklung geistiger Fähigkeiten bzw. die geistige Entwicklung des Menschen geht einher mit dem Kenntniserwerb (oder allgemeiner mit der Aneignung der historisch entwickelten Kultur), aber der Prozeß des Kenntniserwerbs und der Entwicklungsprozeß decken sich nicht, obzwar sie wechselseitig zusammenhängen und sich gegenseitig bedingen. Die Aneignung irgendwelcher Kenntnisse setzt bestimmte innere Bedingungen voraus und führt zur Entstehung neuer innerer Bedingungen für die Aneignung weiterer Kenntnisse. Die Fähigkeiten des Menschen werden durch die Spannweite jener neuen Möglichkeiten zum Erwerb neuer Kenntnisse und zu ihrer Anwendung auf die schöpferische Entwicklung bestimmt, die die Aneignung gegebener Kenntnisse eröffnet. Die Entwicklung jeder Fähigkeit ist Spiralbewegung: Die Realisierung der Möglichkeiten, die eine Fähigkeit von gegebener Höhe bietet, eröffnet neue Möglichkeiten für die Entwicklung höherer Fähigkeiten. Eine Fähigkeit äußert sich vor allem in der Möglichkeit, Kenntnisse als Methoden, also die Ergebnisse der bisherigen Denkarbeit als Mittel ihrer aktiven Entwicklung zu verwenden. Der Ausgangspunkt für die Entwicklung vielfältiger Fähigkeiten des Menschen ist die funktionelle Spezifik der verschiedenen Modalitäten der Sensorik. Ihre Weiterentwicklung geht aus von der funktionellen Spezifik der entsprechenden Art der Sensorik bei der Wechselwirkung von Mensch und Umwelt. So bildet sich beim Menschen auf der 8

Prinzipiell u n d W e g e

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Grundlage der allgemeinen akustischen Sensibilität im sprachlichen Kommunikationsprozeß mit anderen das verbale, phonetische Gehör heraus, das durch die phonomatische Struktur der Muttersprache determiniert ist. Der wesentlichste „Mechanismus" für die Formung des verbalen (phonematischen) Gehörs als fixierte Fähigkeit der entsprechenden Personen (und nicht einfach als diese oder jene akustische Wahrnehmung - als Prozeß — ) ist das im Gehör fixierte generalisierte System bestimmter phonetischer Beziehungen. Die Generalisierung der entsprechenden Beziehungen, die immer umfassender ist als die Generalisierung ihrer Glieder, ist Voraussetzung für die Möglichkeit, die allgemeinen Eigenschaften der Sensorik von den jeweiligen konkreten Wahrnehmungen zu sondern und diese Eigenschaften der Sensorik (im vorliegenden Falle die der akustischen Sensibilität) im Individuum als Fähigkeiten zu fixieren. Das Gerichtetsein der Generalisierung und dementsprechend auch die Differenzierung ganz bestimmter Laute (Phoneme), wie sie für die jeweilige Sprache eigentümlich ist, bestimmt den spezifischen Inhalt bzw. das Gepräge dieser Fähigkeit. Wesentlichen Anteil an der Ausbildung der Fähigkeit zum Erwerb einer Sprache hat nicht nur die Generalisierung (und Differenzierung) phonetischer Beziehungen. Nicht weniger bedeutsam ist auch die Generalisierung grammatikalischer Beziehungen; eine wesentliche Komponente der Fähigkeit zum Sprachenerwerb ist die Fähigkeit zur Generalisierung der Beziehungen, die der Wortbildung und -Veränderung zugrunde liegen. Zum Erwerb einer Sprache ist derjenige befähigt, bei dem es leicht und rasch, auf Grund weniger Fälle, zu einer Generalisierung der Beziehungen kommt, die der Wortbildung und -Veränderung zugrunde liegen, und damit auch zur Übertragung dieser Beziehungen auf andere Fälle. Die Generalisierung bestimmter Beziehungen setzt natürlich eine Analyse voraus, die diese Beziehungen erst einmal aussondert. Die dem jeweiligen Individuum eigene Feinheit der Analyse und Weite der Generalisierung, die Leichtigkeit und Geschwindigkeit, mit der diese Prozesse ablaufen, sind der Ausgangspunkt, die primäre Voraussetzung für die Ausbildung seiner — sprachlichen, mathematischen, usw. — Fähigkeiten. 6 5 Mit dem Anteil, den die Generalisierung von Beziehungen als allgemeine Komponente an allen möglichen Fähigkeiten hat, von denen jede ihre spezifischen Eigenarten aufweist, hängt auch die Rolle zusammen, die die auf diesen Beziehungen beruhenden Operationen spielen. 85

Erst nachdem diese Überlegungen hinsichtlich der Fähigkeiten niedergeschrieben waren und sich dieses Buch bereits in Vorbereitung befand, stießen wir auf die Arbeit von W. A. Krutezki: „Versuch einer Analyse der Fähigkeiten von Schülern zur Aneignung der Mathematik" („Fragen der Psychologie", Nr. 1/59). In diesem Artikel äußert der Verfasser auf Grund einer Untersuchung mehrerer Schülergruppen die Vermutung, daß für die mathematischen Fähigkeiten die Geschwindigkeit entscheidend sei, mit der das mathematische Material verallgemeinert wird und sich der Denkprozeß „reduziert", sowie die Leichtigkeit des Übergangs von direkten zu entgegengesetzten Operationen. Dieses letzte Kriterium wollen wir zunächst beiseite lassen und vor allem darauf hinweisen, daß die Reduktion des Urteilsprozesses eine äußerliche Sekundärerscheinung der Verallgemeinerung ist. Der reduzierte Prozeß unterscheidet sich vom entfalteten durch eine andere Beziehung zwischen Analyse und Verallgemeinerung; reduziert ist ein Prozeß, der mit fertigen, bereits ausgebildeten oder sich rasch

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Die Generalisierung von Beziehungen — von phonetischen und grammatikalischen oder von Zahlen- und Ordnungsbeziehungen — bildet die innere Bedingung für die Ausbildung der entsprechenden - sprachlichen oder mathematischen — Operationen. Der Intellekt, d. h. das Denken als Fälligkeit, bietet sich auf den ersten Blick als mehr oder minder gut organisiertes und mehr oder weniger korrekt funktionierendes einstellenden Verallgemeinerungen nur Schritt für Schritt durch Analyse gewonnen wird. Die beiden empirisch ermittelten Kriterien der Fähigkeit werden also durch die theoretische Analyse des Denkprozesses zusammengefaßt und auf ein Kriterium reduziert. Was nun die These über die Verallgemeinerung des mathematischen Materials als Kernstück der mathematischen Fähigkeiten betrifft, so können wir mit Befriedigung die empirische Bestätigung unserer These zur Kenntnis nehmen und hinzufügen, daß dieser Sachverhalt nicht nur empirisch konstatiert, sondern auch theoretisch gedeutet werden kann. Die Fähigkeit als Eigenschaft der Persönlichkeit muß sich in Handlungen äußern, die eine Übertragung von den einen Bedingungen auf andere und von einem auf anderes Material zulassen. Daher muß der Fähigkeit eine Verallgemeinerung zugrunde liegen. Wenn wir von Verallgemeinerung sprechen, dann meinen wir dabei nicht nur die Verallgemeinerung des Materials, sondern halten es für unerläßlich, vor allem die Verallgemeinerung (oder Generalisierung) von Beziehungen zu betonen, da die Generalisierung von Beziehungen besonders weitreichende Übertragungen ermöglicht. (Von daher kommt man auch zur Umkehrbarkeit von Operationen.) Die Generalisierung schlechthin und speziell die Generalisierung von Beziehungen setzt jedoch die Möglichkeit voraus, sowohl diese Beziehungen als auch die Glieder, zwischen denen sie bestehen, auszusondern. Von daher nehmen wir auch unsere Antwort auf die Frage, die Krutezki am Ende seines Artikels stellt. Er fragt, ob die Verallgemeinerung Komponente jeder Fähigkeit sei oder nur eine der mathematischen, und entscheidet sich für die zweite Annahme. Zur Bestätigung verweist er auf Beobachtungen, wonach Versuchspersonen, die Fähigkeiten zur Verallgemeinerung von mathematischem Material haben erkennen lassen, diese auf anderen Gebieten nicht aufwiesen. Unter voller Berücksichtigimg dieser Fakten möchten wir, zunächst freilich nur von theoretischen Überlegungen geleitet, die noch der experimentellen Uberprüfung bedürfen, die von Krutezki aufgeworfene Frage anders beantworten: Die Verallgemeinerung oder Generalisierung bestimmter Beziehungen ist notwendige Komponente aller Fähigkeiten, aber an den einzelnen Fähigkeiten hat jeweils die Verallgemeinerung anderer Beziehungen und anderen Materials Anteil. Die Verallgemeinerung setzt eine Analyse voraus, nämlich die Aussonderung derjenigen Beziehungen, die der Verallgemeinerung unterliegen, und der Glieder, zwischen denen sie bestehen. Aus der Tatsache, daß Schüler mit guten mathematischen Fähigkeiten mathematisches Material leicht verallgemeinem, das Material anderer Wissensgebiete jedoch schlecht, folgt nicht, daß die Fähigkeit zur Verallgemeinerung nicht in die Struktur anderer Fähigkeiten außer mathematischen eingeht; hieraus kann und dürfte wohl auch, wie anzunehmen ist, folgen, daß andere spezielle Fähigkeiten die Fähigkeit zur Verallgemeinerung anderer Beziehungen voraussetzen Die Fähigkeit zu rascher und umfassender Verallgemeinerung auf einem Gebiet und ihr Fehlen auf anderen Gebieten erklärt sich aus der Tatsache, daß wohl die Verallgemeinerung durch eine Analyse bedingt ist, der Grad der Analysiertheit und Differenziertheit verschiedener Gebiete bei jedem Menschen aber mehr oder weniger unterschiedlich ist. Die Lehre von den Fähigkeiten bedarf noch zahlreicher experimenteller Untersuchungen, und zwar Untersuchungen, die mit einer theoretischen Analyse gekoppelt sind.

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System von Operationen dar. Das jeweilige System von Operationen, das jemand beherrscht, bedingt nämlich seine Produktivität in dem von ihm erwählten Tätigkeitsbereich. Die grundlegenden Handlungsweisen, deren sich die Menschen in ihrer täglichen praktischen und theoretischen Tätigkeit bedienen, werden von der gesamten Menschheit ausgearbeitet und vom Individuum durch Kommunikation, Unterweisung und Erziehung erworben. Diese gesellschaftlich ausgearbeiteten Handlungsweisen gehen in die natürlichen Fähigkeiten des Individuums in dem Maße ein, wie sie stereotypisiert werden und sich in ein im Hirn fixiertes generalisiertes System reflektorischer Verbindungen verwandeln. Die natürlichen Fähigkeiten des Menschen erweisen sich also ganz konkret als Produkt der gesellschaftlichen Entwicklung. Infolgedessen hängen die geistige und physische Leistungsfähigkeit des Menschen und das Niveau seiner Tätigkeit in wesentlichem Maße nicht nur unmittelbar von den anatomisch-physiologischen Eigenarten seines Gehirns ab, sondern in hohem Grade auch von dem Niveau, das die Menschheit in ihrer sozial-historischen Entwicklung erreicht hat. In dem Maße, wie diese Entwicklung fortschreitet, verändern, vervollkommnen sich auch die natürlichen Fähigkeiten des Menschen, die sich in der obenerwähnten Weise im Laufe der ontogenetischen Individualentwicklung herausbilden. Durch die Aneignung dieser gesellschaftlich entwickelten Handlungsweisen - der Technik der körperlichen wie der geistigen Tätigkeit — wird es praktisch jedem, der nicht an irgendwelchen organischen Defekten leidet, möglich, alle gängigen Arten der menschlichen Tätigkeit zu vollziehen. Zwei Thesen müssen wir hier noch hervorheben. Die erste besagt, daß in die Fähigkeiten des Menschen gesellschaftlich ausgearbeitete, historisch entwickelte Operationen eingehen, die auf der Generalisierung der für das entsprechende Gebiet wesentlichen Beziehungen beruhen. Indessen - und das ist die zweite These — stellen die Fähigkeiten an sich keine Kollektion von Operationen dar, die in diese Fähigkeiten eingehen, sondern sie repräsentieren den Charakter der Prozesse (der Generalisierung von Beziehungen usw.), die die innere Bedingung für die Umwandlung dieser Operationen in Fähigkeiten sind. Hier sind also miteinander korreliert: 1. die Eigenschaften der höheren Nerventätigkeit, der Charakter (die Geschwindigkeit usw.) der Generalisierung von Beziehungen; 2. historisch entstandene Operationen bzw. Handlungsweisen; 3. die für den jeweiligen Gegenstandsbereich grundlegenden Beziehungen, auf deren Generalisierung die entsprechenden Operationen beruhen. Keine einzige Fähigkeit ist aktuelle Fähigkeit zu einer bestimmten Tätigkeit, solange sie nicht das System der entsprechenden Operationen in sich aufgenommen und sich einverleibt hat, aber dennoch kann man die Fähigkeit keinesfalls auf dieses bloße System von Operationen reduzieren. Ihre notwendigen Ausgangskomponenten sind die Prozesse der Generalisierung von Beziehungen, die die innere Bedingung für die erfolgreiche Aneignung der Operationen darstellen. Eine aktuelle Fähigkeit umfaßt notwendigerweise beide Komponenten. Die Produktivität hängt unmittelbar vom Vorhandensein der entsprechenden Operationen ab, aber Voraussetzung für das Funktionieren dieser Operationen selbst sind die obenerwähnten inneren Bedingungen; vom Charakter

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dieser letzteren hängt die Effektivität der Aneignung und des Funktionierens (der Anwendung) der Operationen ab, die zur Fähigkeitsstruktur gehören. Aus dieser Struktur der Fähigkeiten erklären sich die Schwierigkeiten, mit denen man es zu tun hat, wenn man die Fähigkeiten anderer beurteilen soll. Üblicherweise beurteilt man die Fähigkeiten eines Menschen nach seiner Produktivität. Diese hängt aber unmittelbar vom Vorhandensein eines gut organisierten und korrekt funktionierenden Systems der entsprechenden Operationen oder Handlungsweisen auf dem entsprechenden Gebiete ab. Beobachtet man aber Menschen in der Praxis, dann kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß Produktivität und Begabung nicht unmittelbar, mechanisch zusammenfallen, daß also allem Anschein nach außerordentlich begabte Menschen manchmal nicht sonderlich produktiv sind und nicht halten, was man sich von ihnen verspricht, während andererseits dem Anschein nach nicht übermäßig talentierte Menschen sehr produktiv sind. Diese Diskrepanz erklärt sich aus unterschiedlichen Beziehungen zwischen der Vollkommenheit, mit der beim einzelnen die Analyse und Generalisation der für den entsprechenden Tätigkeitsbereich wesentlichen Beziehungen erfolgt, und dem Entwicklungsstand der aus dieser Grundlage erwachsenden Operationen, die sich das Individuum angeeignet hat. Manchmal kommt es vor, daß sich auf der Grundlage generalisierter Prozesse, die große Möglichkeiten bieten, ein wenig durchgearbeitetes und schlecht organisiertes System von Operationen erhebt, so daß infolge der Unvollkommenheit dieser Komponente der Fähigkeiten die Produktivität erreicht, weil die auf dieser Grundlage beruhenden Operationen sehr gut nur mäßiger (analytisch-synthetischer) Generalisationsprozesse doch eine relativ hohe Produktivität relativ gering bleibt; in anderen Fällen dagegen wird auf der Grundlage entwickelt sind. Die Produktivität ist natürlich an sich wichtig, aber sie bestimmt nicht unmittelbar und eindeutig die inneren Möglichkeiten des Menschen. Im Prinzip ebenso muß man auch die zweite Gruppe der Persönlichkeitseigenschaften, die Charaktereigenschaften, angehen. Der Charakter des Menschen ist ein im Individuum fixiertes System generalisierter Handlungsantriebe. Wenn man die Beziehung zwischen Motiven und Charakter betrachtet, betont man zumeist die Abhängigkeit der Antriebe bzw. Motive des Menschen von seinem Charakter: Das Verhalten des einzelnen, so sagt man, rühre deshalb von bestimmten Motiven her (von edlen, eigennützigen oder ehrgeizigen Motiven), weil sein Charakter nun einmal so sei. Indessen bietet sich das Verhältnis von Charakter und Motiven nur dann in dieser Form dar, wenn man sie statisch sieht. Beschränkt man sich auf diese Betrachtungsweise des Charakters und seiner Beziehung zu den Motiven, dann verbaut man sich den Weg zur Erkenntnis der Genese des Charakters. Will man sich den Weg zum Verständnis der Genese des Charakters frei machen, dann muß man diese Beziehung zwischen Charakter und Antrieben bzw. Motiven umkehren und die Antriebe bzw. Motive nicht sosehr unter personalem, als vielmehr unter situativem Aspekt betrachten, sich also nicht sosehr auf ihre Abhängigkeit von der inneren Logik des Charakters orientieren, als vielmehr auf ihre Abhängigkeit vom Zusammentreffen äußerer Umstände. Auch ein Feigling kann tapfer sein, wenn ihn die Umstände dazu veranlassen. Nur wenn man sich Motiven zuwendet, als deren Quelle sich unmittelbar äußere Umstände erweisen, kann man den circulus vitiosus durchbrechen, in den man

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gerät, wenn man sich nur auf die inneren Wechselbeziehungen der Charaktereigenschaften der Persönlichkeit und der durch sie bedingten Motive orientiert. Das Kernproblem ist die Frage, wie die Motive (Antriebe), die nicht sosehr die Persönlichkeit, als vielmehr die Umstände charakterisieren, unter denen die Persönlichkeit bisher gelebt hat, zu jenen stabilen Gegebenheiten werden, die die entsprechende Persönlichkeit kennzeichnen. Auf diese Frage läuft nämlich letzten Endes die Frage nach Genese und Entwicklung des Charakters im Laufe des Lebens hinaus. Die Antriebe, die von den Lebensumständen erzeugt werden, sind das „Baumaterial" des Charakters. Ein Antrieb, ein Motiv ist eine Charaktereigenschaft in statu nascendi. Damit ein Motiv (ein Antrieb) zur „stereotypisierten" Persönlichkeitseigenschaft wird, muß es, von der Situation ausgehend, in der es zum ersten Male auftrat, generalisiert und auf alle Situationen ausgedehnt werden, die in ihren f ü r die Persönlichkeit wesentlichen Zügen homogen sind. Eine Charaktereigenschaft ist letztlich eine Tendenz, ein Antrieb, ein Motiv, das sich unter gleichartigen Bedingungen bei dem entsprechenden Menschen gesetzmäßig einstellt. Diese Interpretation des Charakters, die ihn mit den Antrieben in Zusammenhang bringt, steht scheinbar zu gewissen Alltagsbeobachtungen im Widerspruch. Manchmal haben nämlich sehr profilierte Persönlichkeiten, die von hohen und edlen Motiven bewegt werden, einen schwierigen Charakter, so daß sie im täglichen Umgang keine besonders angenehmen Mitmenschen sind, während man andererseits nicht selten Menschen trifft, von denen jeder sagt: „Was hat er doch für einen guten und angenehmen Charakter!", bei denen man aber weder hohe Ziele noch wirklich echte innere Begeisterung findet. Die Erklärung dafür hat man nicht nur in der Tatsache zu suchen, daß Menschen der einen und der anderen Art seelisch auf anderes ausgerichtet sind, sondern auch in folgenden Sachverhalt: So wie in den Fähigkeiten gesellschaftlich ausgearbeitete Operationen oder Handlungsweisen verkörpert sind, werden in den Charakter gesellschaftlich ausgearbeitete Verhaltensweisen gleichsam inkrustiert, die den Forderungen entsprechen, die die Gesellschaft an ihre Mitglieder stellt. Diese Verhaltensweisen, die nicht unmittelbar die entsprechenden persönlichen Antriebe des einzelnen ausdrücken, übernimmt er auf Grund andersartiger Antriebe oder Erwägungen. Zwischen den Verhaltensweisen und den Antrieben des Menschen, die Regulatoren seines Verhaltens sind, gibt es daher keine unmittelbare Kongruenz oder Entsprechung. Infolgedessen kommt es (oder kann es kommen) zu Diskrepanzen zwischen den Antrieben, die als Regulatoren des Verhaltens fungieren, und den aus beiläufigen Erwägungen übernommenen Antrieben bzw. fertigen Verhaltensweisen. Der Charakter des Menschen besteht also aus einer Legierung von Antrieben und nicht unmittelbar von diesen erzeugten Verhaltensweisen, die der einzelne nur übernommen hat. Grundlage des Charakters sind nicht die Verhaltensweisen selbst, sondern die die entsprechenden Verhaltensweisen steuernden generalisierten Antriebe, die auf Grund ihrer Generalisiertheit von speziellen Einzelsituationen abstrahiert und in der Persönlichkeit fixiert werden können. Ihnen sind die vom einzelnen übernommenen Verhaltensschablonen überlagert, die ebenfalls in den Charakter eingehen. Wer hinter diesen nicht die Grundlagen sieht und die Menschen nur nach ihren „Manieren" beurteilt, der urteilt falsch.

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Die Erforschung des Charakters und seiner Entwicklung, die bisher nur wenig vorangekommen ist, müßte sich in erster Linie auf dieses Problem konzentrieren, also auf den Übergang von situativ, durch das Zusammentreffen von Umständen, erzeugten Motiven (Antrieben) in stabile Antriebe der Persönlichkeit. Damit wird auch die Hauptlinie der Erziehungsarbeit zur Formung des Charakters im Bereich der Pädagogik festgelegt. Primär ist dabei die Auswahl und „Inokulierung" geeigneter Motive durch Generalisierung und Stereotypisierung, also die Umwandlung der Motive in Gewohnheiten. Die Quellen des Charakters und der Schlüssel zu seiner Entwicklung liegen in den Antrieben und Motiven der Tätigkeit des Menschen. Ein situativ bedingtes Motiv oder ein entsprechender Antrieb zu einem bestimmten Verhalten ist ein Charakterzug der Persönlichkeit in statu nascendi. Wer daher die Charakterologie zur speziellen, von der Psychologie isolierten Disziplin machen will, geht den falschen Weg. Dem analog ist es im Hinblick auf den Intellekt falsch, Überprüfungen der Intelligenz als Fähigkeit von der Denkpsychologie zu trennen. Bei den Testprüfungen der Intelligenz als Fähigkeit beurteilt man sie an Hand der Resultate, die der einzelne bei der Prüfung liefert, und läßt den Prozeß außer acht, der zu diesen Resultaten führt. Natürlich muß man das Tätigkeitsergebnis berücksichtigen, aber es ist kein eindeutiges Kriterium für die Beurteilung der Intelligenz als Fähigkeit. Psychologisch ist das Ergebnis als resultativer Ausdruck des Denkprozesses wesentlich. Geht man nur von dem Resultat aus, dann kann man sich kein zuverlässiges Urteil darüber bilden, wie der entsprechende Mensch denkt (und ob er überhaupt denkt), der bei der Prüfung eine bestimmte Note erreicht hat, welche durch seine Leistung bestimmt wird. Nicht nur die Diagnostik, sondern auch die Formung der Fähigkeiten wäre unmöglich, wenn die Fähigkeiten bzw. Persönlichkeitseigenschaften von den psychischen Prozessen und von der Tätigkeit der Persönlichkeit isoliert wären: Die Resultate der - gnostisclien, ästhetischen usw. - Tätigkeit des Menschen fixieren sich in seiner Persönlichkeit, schlagen sich gleichsam in ihr nieder und gehen so in die Fähigkeiten ein. Vor allem können dynamische psychische Zustände der Persönlichkeit auf keinen Fall vom Prozeß isoliert werden. Die psychischen Zustände des Menschen sind der unmittelbare dynamische Effekt seiner Tätigkeit und der Untergrund, auf dem die psychischen Prozesse entstehen. Dazu gehören vor allem die affektiven Zustände bei Erfolg oder Mißerfolg. Die Dynamik dieser Zustände und die Gesetzmäßigkeiten, denen sie unterliegen, sind zweifellos eine wichtige Komponente der Persönlichkeitspsychologie, zugleich aber auch ganz offensichtlich von der Dynamik der psychischen Prozesse untrennbar. Diese wiederum können nicht von den psychischen Eigenschaften oder Zuständen der Persönlichkeit isoliert werden, von den Beziehungen zwischen dem Leistungsniveau und dem im Verlauf der bisherigen Tätigkeit ausgebildeten Anspruchsniveau. Hinter der Isolierung der psychischen Eigenschaften von den psychischen Prozessen und damit von der Tätigkeit, die von ihnen gesteuert wird, verbirgt sich der Gedanke, das Verhalten des Menschen sei nur von innen her, nur durch die inneren Bedingungen determiniert. Die Isolierung der psychischen Prozesse von den psychischen Eigenschaften und Zuständen der Persönlichkeit dagegen birgt im Grunde eine Negierung des Anteils der inneren Bedingungen an der Determination der psychischen Prozesse. Die Bedeutung, die die Persönlichkeit als Gesamtheit der inneren Bedingungen

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aller psychischen Prozesse hat, schließt eine derartige Isolierung der psychischen Prozesse von der Persönlicheit bzw. ihren Eigenschaften und Zuständen aus. Die Isolierung der psychischen Eigenschaften und der psychischen Prozesse voneinander ist ein Sekundärergebnis der Trennung von äußeren und inneren Bedingungen im Bereich des Psychischen. In Wirklichkeit aber hängt alles im Leben der Persönlichkeit wechselseitig zusammen. ß) P r o b l e m e d e r E r z i e h u n g Die allgemeine Konzeption, daß die äußeren Ursachen mittelbar über die inneren Bedingungen wirken, die unsere Auffassung von der psychologischen Erforschung der menschlichen Persönlichkeit bestimmt, beeinflußt auch unsere Vorstellung von den möglichen Wegen zur Entwicklung und Formung der Persönlichkeit. Infolge der Tatsache, daß die äußeren Ursachen über die inneren Bedingungen wirken, kombiniert sich die äußere Bedingtheit der Persönlichkeitsentwicklung gesetzmäßig mit der personalen „Spontaneität". Alles in der Psychologie der sich entwickelnden Persönlichkeit ist äußerlich bedingt, aber nichts läßt sich unmittelbar aus den äußeren Einwirkungen ableiten. Die inneren Bedingungen, die sich unter der Einwirkung äußerer ausbilden, sind freilich nicht deren unmittelbare mechanische Projektion. Die inneren Bedingungen, die sich im Entwicklungsprozeß herausbilden und verändern, bedingen selbst den spezifischen Kreis äußerer Einwirkungen, die die entsprechende Erscheinung beeinflussen können. Davon muß man ausgehen, wenn man das so wichtige Problem der Entwicklung und Bildung bzw. Entwicklung und Erziehung richtig lösen will. Nicht selten geht man bei uns noch von der naiven mechanistischen Vorstellung aus, die pädagogischen Einwirkungen würden unmittelbar in das Kind projiziert. Mit dieser Vorstellung entfällt die Notwendigkeit, speziell an der Entwicklung des Kindes zu arbeiten und die pädagogische Arbeit so aufzubauen, daß der Unterricht auch einen echten Bildungseffekt liefert, nicht nur Wissen vermittelt, sondern auch das Denken entwickelt, und daß die Erziehung nicht nur Verhaltensregeln beibringt, sondern auch den Charakter formt, also das innere Verhältnis des Menschen zur Umwelt und zu den Einwirkungen, denen er ausgesetzt ist. Der falsche Ansatz bei der Lösung dieses Problems und seine mangelhafte Bearbeitung in unserer Pädagogik bilden eines der größten Hindernisse bei der Erziehung der heranwachsenden Generation. Die richtige Lösung dieses Problems ist nicht nur für die Erziehung der Kinder wichtig; nicht geringere, sondern eher noch größere Bedeutung hat sie für die Entwicklung von Jugendlichen und Erwachsenen. Bei der Erziehungsarbeit muß man (und gewöhnlich tut man das auch) von den Forderungen ausgehen, die die Gesellschaft bzw. die gesellschaftliche Moral stellt. Aber die gesellschaftlichen Forderungen werden nicht mechanisch in den Menschen projiziert. Der Effekt aller äußeren Einwirkungen, also auch der gesellschaftlichen, hängt von den innneren Bedingungen ab, von dem „Boden", auf den diese Einwirkungen fallen. Jede wirksame Erziehungsarbeit hat eigenes moralisches Bemühen des zu Erziehenden zur inneren Voraussetzung. Dieses Bemühen um das eigene Verhalten und das anderer entsteht natürlich bei jedem auch nur halbwegs ernsthaften und feinfühli-

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gen Menschen, wenn er die Folgen menschlicher Verhaltensweisen beobachtet, sich also darüber klar wird, wie sich das eigene Verhalten auf andere und wie sich fremdes Verhalten auf ihn selbst auswirkt. Der Erfolg der Arbeit zur Formung des geistigen Habitus eines Menschen hängt von diesem inneren Bemühen ab, davon, inwieweit die Erziehung in der Lage ist, es zu stimulieren und zu lenken. Das ist der Kernpunkt. Eine Erziehungsarbeit, die sich darauf beschränkt, bestimmte gesellschaftliche Forderungen zu stellen, übersieht, daß man Forderungen ohne weiteres rein äußerlich Genüge tun kann. Das Ziel darf jedoch nicht in der lediglich formalen Entsprechung von Verhalten und gesellschaftlichen Forderungen bestehen, in der rein äußerlichen Anpassung an diese Forderungen. Ziel muß vielmehr die Ausbildung solcher inneren Strebungen sein, die nicht dem Buchstaben, sondern dem Geist der moralischen Forderungen der Gesellschaft genügen, aus denen als innere Gesetzmäßigkeiten moralisches Verhalten entspringt. 6 6 Das muß eine wirkliche Erziehungsarbeit erreichen. Zur Ausbildung dieser inneren Einstellung bedarf es intensiver innerer Bemühungen. Ohne echte innere Einstellung ist die Entsprechung von Verhalten und Forderungen eine sehr labile und wenig zukunftsträchtige Angelegenheit. Zudem kann auch, wenn sich die Erziehung darauf beschränkt, bloße Forderungen zu stellen, das Ergebnis noch übler ausfallen (und nicht selten passiert das auch) : Rein äußerliche Forderungen, die in demjenigen, an den sie gestellt werden, keine innere Stütze finden, können Abweisung und mehr oder weniger entschlossenen Protest erzeugen und werden, ganz natürlich, kaum akzeptiert. Das ganze Problem liegt eben darin, die moralischen Forderungen für die Menschen innerlich bedeutsam zu machen, die Forderungen also nicht einfach zu stellen, sondern sie so zu fassen, daß derjenige, an den man sich richtet, sie auch akzeptiert. Das ist der springende Punkt. Dazu muß man aber einen inneren Anknüpfungspunkt finden. Erfolgreich wird der Kampf gegen schwache und schlechte Seiten des Menschen dann am ehesten, wenn man Fingerspitzengefühl für seine starken Seiten hat, wenn man also diejenigen Stärken an ihm entdeckt, die bei entsprechender Lenkung dem guten Zweck dienen können. Hinter ausgelassenen Streichen stehen nicht selten überschüssige Kräfte, die man nur nicht rechtzeitig zweckvoll einzusetzen verstanden hat. Einzig auf der Kenntnis von Schwächen und Mängeln kann man nichts aufbauen. Daher ist eine Erziehung, die nur diese negativen Erscheinungen sieht und nur sie hervorhebt, ein aussichtsloses Unterfangen. Wer die Mängel eines Menschen korrigieren will, muß auch seine Vorzüge — und seien es auch nur potentielle — suchen, also diejenigen Eigen00

Dasselbe gilt auch für die Forderungen, die die Gesellschaft an den Künstler stellt (etwa die Forderung, im Geiste des sozialistischen Realismus zu schreiben). Die Schwierigkeit besteht für den Künstler nicht darin, sich an die daraus resultierenden äußeren Forderungen zu halten; die Schwierigkeit liegt für den echten Künstler, der seine Kunst liebt, darin, seinen eigenen, aus intensivem Suchen und ernstem innerem Bemühen resultierenden schöpferischen Weg zu finden, der seinem künstlerischen Stil gerecht wird, um die Forderungen, die die Gesellschaft an ihn stellt, zu realisieren, ohne der Schablone zu verfallen. Bei unseren Denk Forschungen konnten wir uns davon überzeugen, daß es zur Aktualisierung und Anwendung irgendwelcher allgemeiner Prinzipien und sogai direkter „Hilfestellungen" bestimmter innerer Bedingungen bedarf, also einer selbständigen Arbeit an der zu lösenden Aufgabe. Dieser Satz bleibt auch für die schöpferische Tätigkeit des Künstlers gültig.

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Theorie

schaiten, die bei entsprechender Lenkung der in ihnen liegenden Kräfte zu Vorzügen gemacht werden können. Auf sie muß man sich beim Kampf gegen die Mängel eines Menschen stützen. Wenn man gegen die Mängel eines Menschen den Kampf aufnimmt, muß man ihn selbst zum Bundesgenossen machen. So wirkt sich in der Erziehungspraxis die Bedeutung der allgemeinen Sätze über die Rolle der inneren Bedingungen aus. Die sozialistische Gesellschaftsordnung, die die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen beseitigt hat, hat auch ungeahnte Möglichkeiten f ü r die Umgestaltung des inneren moralischen Habitus des Menschen geschaffen. Freilich darf man nicht glauben, diese Umgestaltung komme von selbst, ohne besondere bewußte Anstrengungen. Die utopischen Sozialisten setzten bekanntlich all ihre Hoffnungen einzig auf die Erziehung und hielten sie gewissermaßen f ü r unabhängig von den gesellschaftlichen Lebensbedingungen. Sie wollten zunächst innerhalb der alten Gesellschaft durch Erziehung einen neuen, idealen Menschen schaffen und erst dann mit seinen Händen die neue, vollkommene Gesellschaft aufbauen. Das war eine Utopie. Der wissenschaftliche Sozialismus ist einen anderen Weg gegangen. Lenin betonte besonders, daß man die neue Gesellschaft mit den Kräften der vorhandenen Menschen aufbauen müsse (und seien sie durch die jahrhundertelange Sklaverei und Ausbeutung auch noch so ruiniert). Die Umerziehung der Massen ist nur im Kampf f ü r die neue Gesellschaft, beim A u f b a u der neuen, sozialistischen Gesellschaft möglich. Die Erziehung hängt selbst von den allgemeinen gesellschaftlichen Lebensbedingungen ab. Innerhalb ein und derselben Gesellschaftsordnung gibt es aber, wie jeder weiß, Menschen mit sehr unterschiedlichem inneren Habitus; wenn sie auch in ein und derselben sozialistischen Gesellschaft leben, so ist doch ihr Verhalten unterschiedlich wie sie selbst. Die Gesellschaftsordnung formt die Menschen nicht zusätzlich zur Erziehung, sondern vermittels der Erziehung. M a n kann keine moralischen Forderungen an die Menschen stellen, wenn man sich nicht u m ihre objektiven Lebensbedingungen kümmert. Ebenso falsch wäre es aber auch anzunehmen, die Veränderung der äußeren Lebensbedingungen an sich schaffe mechanisch, ohne Erziehung und ohne innere Arbeit der Menschen an sich selbst, den neuen inneren Habitus der Menschen. Die gesellschaftlichen Lebensbedingungen sind notwendige, aber nicht einzige Bedingung f ü r die Formung des moralischen Habitus. Vor dem A u f b a u der sozialistischen Gesellschaft war die Massenerziehung der Menschen im Geiste der sozialistischen Beziehungen zwischen den Menschen unmöglich; das heißt aber nicht, daß nach dem A u f b a u der sozialistischen Gesellschaft die Arbeit zur Ausbildung des inneren moralischen Habitus der Menschen überflüssig wird. Dennoch ist diese Ansicht bei uns durchaus noch aktuell. So waren junge, sehr gebildete Mitglieder eines wissenschaftlichen Kollektivs bei der Diskussion über das unkorrekte Verhalten einiger Mitglieder des Kollektivs geneigt, die Ursache dieser Mängel darin zu suchen, daß die Menschen in der sozialistischen Gesellschaft die Güter noch nicht nach ihren Bedürfnissen erhalten. Sie setzten ihre Hoffnungen darauf, daß mit dem Übergang vom Sozialismus zum Kommunismus alle Mängel von selbst, mechanisch und automatisch, verschwinden würden. Eine bequeme Theorie, die es einem in Erwartung des Kommunismus erspart, an sich selbst zu arbeiten! Das sind jedoch trügerische Hoffnungen: Auch im Kommunismus wird man an sich selbst arbeiten müssen! Wenn jeder nach seinen Bedürfnissen erhalten soll, müssen die Menschen die richtige Einstellung zu ihren Bedürfnissen

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haben, sie müssen also wissen, was m a n als B e d ü r f n i s ansehen k a n n und w a s nicht. B e d ü r f n i s und B e d ü r f n i s ist zweierlei. W i r b a u e n den K o m m u n i s m u s nicht a u f , u m die ungezügelten B e d ü r f n i s s e amoralischer Junker zu b e f r i e d i g e n . Einen -

positiven oder negativen — erzieherischen E f f e k t hat nicht nur eine T ä t i g -

keit, die speziell auf die E r z i e h u n g als unmittelbares Z i e l gerichtet ist. D e r Haupterzieher ist das L e b e n . W i c h t i g ist, daß es gut erzieht. Jedes V e r h a l t e n des M e n s c h e n birgt einen positiven oder negativen moralischen K e r n , insofern es sich in bestimmter W e i s e auf das S c h i c k s a l anderer M e n s c h e n auswirkt u n d auf sie positiv oder negativ erzieherisch einwirkt. D a h e r m u ß alles T u n der M e n s c h e n — unbeschadet seiner unmittelbaren praktischen Zielsetzung — a u c h unter dem G e s i c h t s p u n k t der erzieherischen, moralischen W i r k u n g auf andere betrachtet und beurteilt werden. N i c h t von u n g e f ä h r wird daher a u c h j e d e staatliche M a ß n a h m e -

was a u c h immer ihre unmittelbare prak-

tische Zielsetzung sei — unter dem A s p e k t der erzieherischen E i n w i r k u n g

bewertet,

die sie auf die M a s s e n hat. Erziehen m u ß — ohne g r o ß e s Moralisieren -

das ganze L e b e n . H a u p t a n l i e g e n der

E r z i e h u n g muß es n ä m l i c h sein, den M e n s c h e n mit T a u s e n d e n F ä d e n an das L e b e n zu k n ü p f e n , so daß er rings um sich her A u f g a b e n sieht, die f ü r ihn b e d e u t s a m

und

interessant sind, zu denen er sich b e r u f e n fühlt und an deren L ö s u n g er aktiv A n t e i l nimmt. D a s ist vor a l l e m deshalb wichtig, weil die H a u p t q u e l l e

aller

moralischen

M ä n g e l , aller k r a m p f i g e n „ E x t r a v a g a n z e n " j e n e innere L e e r e ist, die sich b e i Menschen

einstellt, w e n n

sie dem

sie u m g e b e n d e n

Leben

gegenüber

den

teilnahmslos

werden, wenn sie sich abseits stellen, sich als unbeteiligte B e o b a c h t e r f ü h l e n und von nichts mehr etwas erhoffen, denn dann wird ihnen alles g l e i c h g ü l t i g . D e r M e n s c h m u ß fühlen, daß m a n ihn braucht, daß der G a n g u n d E r f o l g der D i n g e r e a l von ihm abhängt. U n s e r e Jugend u n d alle M i t b ü r g e r d ü r f e n in der sozialistischen Gesellschaft nicht wie S p i e ß e r in den vier W ä n d e n eines H a u s e s leben, das andere ohne ihre H i l f e a u f g e b a u t h a b e n und das irgend j e m a n d ohne sie weiter a u s b a u e n wird. W e n n die Ideale der neuen G e s e l l s c h a f t s o r d n u n g dem M e n s c h e n in F l e i s c h u n d B l u t ü b e r g e h e n sollen, muß er d u r c h eigene T ä t i g k e i t in sie eindringen u n d sie in sich a u f n e h m e n . Die leuchtenden V o r b i l d e r der Revolutionäre, die ihr ganzes L e b e n d e m W o h l des V o l k e s hingegeben haben, sind im Kampf

f ü r die neue G e s e l l s c h a f t entstanden;

der

innere H a b i t u s unserer J u g e n d und aller unserer M e n s c h e n läßt sich a m besten d u r c h ihre B e t e i l i g u n g a m Aufbau

einer G e s e l l s c h a f t s o r d n u n g formen, die die A u s b e u t u n g

des M e n s c h e n d u r c h den M e n s c h e n ausschließt, und im K a m p f g e g e n die d a b e i auftretenden Schwierigkeiten. D a z u müssen sowohl die a l l g e m e i n e A u f g a b e des A u f b a u e s der neuen G e s e l l s c h a f t als a u c h die konkreteren T e i l a u f g a b e n , in die sich im L a u f e der Zeit diese allgemeine A u f g a b e a u f g l i e d e r t , f ü r j e d e n einzelnen zur ureigensten A n gelegenheit werden, deren B e w ä l t i g u n g in gewissem M a ß e von ihm a b h ä n g t und f ü r die er sich deshalb persönlich verantwortlich fühlt. D i e

S c h a f f u n g der

objektiven

B e d i n g u n g e n , die das gewährleisten, ist die wichtigste V o r a u s s e t z u n g f ü r die erfolgreiche L ö s u n g der A u f g a b e n , die wir bei der F o r m u n g des inneren moralischen H a b i t u s der M e n s c h e n zu b e w ä l t i g e n haben. Im V e r l a u f der E n t w i c k l u n g und im Erziehungsprozeß ist die zunehmende B e w u ß t heit von entscheidender B e d e u t u n g . W i r sprechen von der zunehmenden

Bewußtheit

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Theorie

der Menschen im Sozialismus. Bewußtheit setzt voraus und bedeutet Kenntnis und Verständnis für die Entwicklungswege und -gesetzmäßigkeiten der sozialistischen Gesellschaft sowie für die Ursachen entstehender Schwierigkeiten und die Wege zu ihrer Beseitigung. Freilich reduziert sich die Bewußtheit nicht einfach auf Wissen und Einsicht. Bewußtheit ist zugleich auch Unversöhnlichkeit gegenüber allem, was das Leben des Menschen verbittern, verderben und zerstören kann. Bewußt ist derjenige, für den alles, was das menschliche Leben beschmutzt und ruiniert, ein Feind ist, mit dem es keine Versöhnung geben kann. Diese Einstellung zum Leben anzuerziehen ist wichtigste Aufgabe der Erziehung. Diese Einstellung zum Leben anzuerziehen heißt, aktiv zum Aufbau der neuen Gesellschaft und zur Schaffung neuer, menschlicher Beziehungen zwischen den Menschen beizutragen. Drei Grundsätze können wir zum Abschluß formulieren. Erstens. Es ist unmöglich, die Formung des neuen Menschen von der Formung der neuen Gesellschaft zu trennen, aber der Aufbau der neuen Gesellschaft und neuer gesellschaftlicher Lebensbedingungen hat nicht automatisch oder mechanisch die Entstehung eines neuen moralischen Habitus der Menschen zur Folge. Es bedarf spezieller Anstrengungen, um, von den Lebensbedingungen ausgehend und auf sie gestützt, den neuen moralischen Habitus der Menschen zu formen. Innerhalb ein und derselben Gesellschaft gibt es Menschen von ganz verschiedenem moralischem Habitus. Die Lebensbedingungen der sozialistischen und kommunistischen Gesellschaft — wie auch die jeder anderer - projizieren sich nicht von sich aus mechanisch in den Menschen. Die Einwirkung der äußeren gesellschaftlichen Lebensbedingungen auf den Menschen wird durch die innere Einstellung zu ihnen vermittelt. Dabei muß man sich auch noch darüber klar sein, daß man zwar die Ethik nicht von der Politik trennen kann, die Politik aber dennoch die Ethik nicht absorbiert; diese beiden Bereiche decken sich nicht vollkommen. Die Forderungen der Politik beziehen sich auf den Menschen, insofern er die Verkörperung oder der Träger einer bestimmten gesellschaftlichen Funktion ist (insofern er, mit Marx gesprochen, eine „Maske" bzw. eine personifizierte gesellschaftliche Kategorie ist). Die Forderungen der Ethik beziehen sich auf sämtliche Beziehungen der menschlichen Individuen zueinander. Sie umfassen auch jenes Gebiet, auf das sich die Politik nicht erstreckt. Jedoch haben alle politischen Handlungen als menschliche Verhaltensweisen auch ethischen Sinn. Wenn wir also auch die Reduzierung der Ethik auf die Politik ablehnen, so betrachten wir dennoch den Menschen nicht als bloße „Privatperson" und isolieren sein Privatleben nicht vom gesellschaftlichen; alles Gesellschaftliche ist zugleich auch Persönliches, freilich nicht „Privates". Zweitens. Die Gesellschaft stellt an ihre Mitglieder bestimmte Forderungen. Freilich genügt es nicht, moralische Forderungen nur zu stellen; es genügt nicht einmal (wenn es auch notwendig ist), darauf zu dringen, daß sie nicht verletzt werden, daß man sie also äußerlich einhält und formell erfüllt (das kann gegebenenfalls rein äußerliche Anpassung sein) ; sie müssen vielmehr innerlich akzeptiert werden, so daß das Verhalten nicht nur äußerlich, formal, sondern auch dem Wesen nach aus eigenen inneren Antrieben des Menschen entspringt. Die Erziehung kann nur dann wirklich erfolgreich sein, wenn sie mit Fingerspitzengefühl im Menschen selbst Stützpunkte für die an ihn

Uber das Bewußtsein

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gestellten moralischen Forderungen teils aufspürt und entwickelt, teils auch erst erzeugt. Drittens. Wenn man von Erziehung spricht — zumindest bei Erwachsenen —, dann muß man sich von der Vorstellung frei machen, der Mensch sei nur Objekt der erzieherischen Einwirkungen, denn diese Vorstellung unterteilt implizit die Menschen in zwei Kategorien: Erzieher und Erzogene. Jeder Mensch ist nicht nur Objekt, sondern auch Subjekt der Erziehung, und der Erziehungsprozeß ist vom Leben der Menschen untrennbar. Jedes menschliche Verhalten, das sich j a irgendwie auf das Schicksal anderer auswirkt, birgt einen positiven oder negativen ethischen Kern und einen gewissen erzieherischen Effekt. Darüber muß sich jeder klar sein und sein Handeln deshalb nicht nur unter dem Aspekt des objektiven, äußeren Effektes betrachten, sondern auch bedenken, was er damit zu den Wechselbeziehungen der Menschen beiträgt (hinter den Beziehungen der Dinge muß man jene Beziehungen der Menschen sehen, die hinter den Dingen stehen und mittels der Dinge realisiert werden). Eines der wichtigsten Glieder dieses Prozesses ist jenes innere Bemühen, das ganz natürlich und unausweichlich bei jedem auch nur halbwegs ernsthaften und nicht hoffnungslos abgestumpften Menschen einsetzt, wenn er tagtäglich beobachtet, wie sich das Verhalten der einen auf das Leben der anderen auswirkt. Hier liegt die empirische Grundlage der Ethik. In dieser täglichen ethischen Erfahrung, in dem inneren ethischen Bemühen, das sie auslöst, liegt ein unversiegbarer Quell, der die inneren Voraussetzungen schafft, welche die Einstellung des Menschen zu den moralischen Ideen und Forderungen der Gesellschaft bedingen, also diejenigen inneren Bedingungen, von denen es abhängt, wie der einzelne mit den moralischen Anforderungen fertig wird, die das Leben an ihn stellt.

5. Über das Bewußtsein a) Zwei Betrachtungsweisen

des

Bewußtseinsproblems

Der Hauptfehler der idealistischen Psychologie, die von der idealistischen Philosophie ausgeht, besteht darin, daß ihre Vertreter die Psyche in eine besondere Sphäre des Ideellen verwandeln, die von der materiellen Wirklichkeit isoliert ist. Diese „Isolierung" des Psychischen hat eine lange Geschichte und zieht sich durch die ganze idealistische Philosophie. Ihre abgerundete philosophische Form erhielt sie in der Bewußtseinskonzeption Descartes', ihren extremen Ausdruck in der Gegenüberstellung von Bewußtsein und Verhalten, von äußerem und innerem Sein des Menschen. Die idealistische Bewußtseinskonzeption isoliert das Bewußtsein vom realen Sein des Menschen und betrachtet es als ideelles, geistiges Subjekt; als Subjekt figuriert also nicht der Mensch, sondern sein Bewußtsein. In Wirklichkeit aber ist der Mensch das Subjekt, und sein Bewußtsein wird nur verständlich, wenn man vom realen Sein ausgeht; das Bewußtsein ist das Sein, in das Leben des Menschen sowohl als bedingter als auch als bedingender Faktor verflochten; durch die Lebensverhältnisse des Menschen bedingt, steuert das Bewußtsein zugleich sein Verhalten.

Uber das Bewußtsein

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gestellten moralischen Forderungen teils aufspürt und entwickelt, teils auch erst erzeugt. Drittens. Wenn man von Erziehung spricht — zumindest bei Erwachsenen —, dann muß man sich von der Vorstellung frei machen, der Mensch sei nur Objekt der erzieherischen Einwirkungen, denn diese Vorstellung unterteilt implizit die Menschen in zwei Kategorien: Erzieher und Erzogene. Jeder Mensch ist nicht nur Objekt, sondern auch Subjekt der Erziehung, und der Erziehungsprozeß ist vom Leben der Menschen untrennbar. Jedes menschliche Verhalten, das sich j a irgendwie auf das Schicksal anderer auswirkt, birgt einen positiven oder negativen ethischen Kern und einen gewissen erzieherischen Effekt. Darüber muß sich jeder klar sein und sein Handeln deshalb nicht nur unter dem Aspekt des objektiven, äußeren Effektes betrachten, sondern auch bedenken, was er damit zu den Wechselbeziehungen der Menschen beiträgt (hinter den Beziehungen der Dinge muß man jene Beziehungen der Menschen sehen, die hinter den Dingen stehen und mittels der Dinge realisiert werden). Eines der wichtigsten Glieder dieses Prozesses ist jenes innere Bemühen, das ganz natürlich und unausweichlich bei jedem auch nur halbwegs ernsthaften und nicht hoffnungslos abgestumpften Menschen einsetzt, wenn er tagtäglich beobachtet, wie sich das Verhalten der einen auf das Leben der anderen auswirkt. Hier liegt die empirische Grundlage der Ethik. In dieser täglichen ethischen Erfahrung, in dem inneren ethischen Bemühen, das sie auslöst, liegt ein unversiegbarer Quell, der die inneren Voraussetzungen schafft, welche die Einstellung des Menschen zu den moralischen Ideen und Forderungen der Gesellschaft bedingen, also diejenigen inneren Bedingungen, von denen es abhängt, wie der einzelne mit den moralischen Anforderungen fertig wird, die das Leben an ihn stellt.

5. Über das Bewußtsein a) Zwei Betrachtungsweisen

des

Bewußtseinsproblems

Der Hauptfehler der idealistischen Psychologie, die von der idealistischen Philosophie ausgeht, besteht darin, daß ihre Vertreter die Psyche in eine besondere Sphäre des Ideellen verwandeln, die von der materiellen Wirklichkeit isoliert ist. Diese „Isolierung" des Psychischen hat eine lange Geschichte und zieht sich durch die ganze idealistische Philosophie. Ihre abgerundete philosophische Form erhielt sie in der Bewußtseinskonzeption Descartes', ihren extremen Ausdruck in der Gegenüberstellung von Bewußtsein und Verhalten, von äußerem und innerem Sein des Menschen. Die idealistische Bewußtseinskonzeption isoliert das Bewußtsein vom realen Sein des Menschen und betrachtet es als ideelles, geistiges Subjekt; als Subjekt figuriert also nicht der Mensch, sondern sein Bewußtsein. In Wirklichkeit aber ist der Mensch das Subjekt, und sein Bewußtsein wird nur verständlich, wenn man vom realen Sein ausgeht; das Bewußtsein ist das Sein, in das Leben des Menschen sowohl als bedingter als auch als bedingender Faktor verflochten; durch die Lebensverhältnisse des Menschen bedingt, steuert das Bewußtsein zugleich sein Verhalten.

Theorie

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In der idealistischen Bewußtseinskonzeption treten folgende Züge besonders deutlich zutage: 1. Das Bewußtsein ist nicht auf die objektive Welt gerichtet, sondern auf sich selbst. Es wird zur Introspektion und geht ins Selbstbewußtsein über. Dabei tritt die idealistische Konzeption bald in rationalistischer Form auf, die das Bewußtsein, den „Geist", in einen „Gedanken des Gedankens" verwandelt, bald in empiristischer nach Art der Lockeschen Reflektion oder nach Art der Selbstbeobachtung der späteren Psychologie. Historisch wird diese introspektive Bewußtseinskonzeption, durch die bisherige Entwicklung vorbereitet, bei Descartes formuliert, der „mens" unmittelbar als „alles, was in uns so vorgeht, daß wir selbst es unmittelbar in uns selbst wahrnehmen" 6 7 , definiert. Diese, von Locke empirisch interpretierte Konzeption bestimmt die Traditionen der späteren empirischen Psychologie. Dabei erscheint das Selbstbewußtsein entweder, wie bei Descartes, als Ausgangspunkt und Grundlage jedes zuverlässigen Wissens oder, wie bei Hegel, als Ende und Krönung der Selbsterkenntnis, die alles gegenständliche Wissen von der Außenwelt im Selbstbewußtsein des Subjektes „aufhebt". Das Bewußtsein wird also wiederum vom Selbstbewußtsein absorbiert, und zwar bei Hegel vom Selbstbewußtsein des „absoluten Geistes". Nach der ersten, Descartesschen Tradition, die für die idealistische Psychologie bestimmend wurde, fällt die Existenz des Psychischen mit seiner Bewußtheit zusammen® 8 ; das Wesen der Psyche besteht darin, daß sie unmittelbares Wissen von sich selbst ist; das Psychische wird mit dem Bewußtsein identifiziert, das Bewußtsein mit dem Selbstbewußtsein. Demnach wird das Psychische auf den Bereich des Bewußten und seine Erkenntnis auf den Inhalt des unmittelbar Gegebenen beschränkt. Dementsprechend nimmt die introspektive Psychologie die Angaben des Selbstbewußtseins (der Selbstbeobachtung) so, wie sie unmittelbar gegeben sind, und nimmt sie für das, wofür sie sich selbst ausgeben und als was sie sich unmittelbar darstellen; sie ermittelt nicht, was sie in Wirklichkeit bedeuten, wenn man sie mit den realen Sachverhalten konfrontiert, durch die sie in Wirklichkeit bedingt sind. Diese Konzeption der Bewußtseinstatsachen führt zu einem eindeutigen Widerspruch mit dem Leben: In Wirklichkeit findet man auf Schritt und Tritt, daß die Menschen anders sind, als sie erscheinen. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, die Bewußtseinstatsachen prinzipiell anders aufzufassen. Da die introspektive Psychologie das Bewußtsein in sich selbst einschloß, isolierte sie es vom objektiven Sein, vom Verhalten und von der praktischen Tätigkeit, in deren Verlauf sich die realen, materiellen Beziehungen des Menschen zur objektiven Außenwelt herausbilden. Infolgedessen stellte man das vom Bewußtsein isolierte Verhalten des Menschen lediglich als Gesamtheit von Reaktionen dar. Die ganze „Verhaltens"psychologie aller Spielarten und Richtungen (sowohl die Bechterewsche „Reflexologie" als auch der amerikanische „Behaviorismus"), die sich selbst als Gegenpol der idealistischen Bewußtseinspsychologie betrachtete, war in Wahrheit lediglich die Kehrseite eben dieser introspektiven idealistischen Bewußtseinspsychologie. Die unwirksame Bewußtheit einerseits und die unbewußte Wirksamkeit blinder Reaktionen und „FertigB7

Descartes, Principia. 1, § 9.

158

Ebenda.

Über das Bewußtsein

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keiten" andererseits waren lediglich zwei Erscheinungsformen ein und derselben „Isolierung" des Bewußtseins. Die Isolierung des Bewußtseins vom realen Sein des Individuums, die Eliminierung jedes Lebensinhaltes aus dem Bewußtsein führt somit letzten Endes zur Liquidation des Bewußtseins und macht damit den Weg für den das Bewußtsein leugnenden Mechanizismus der „Behavioristen" aller Spielarten frei. 2. Das der Welt ab- und sich selbst zugewandte Bewußtsein des Subjekts wird in der idealistischen Konzeption nicht nur von der objektiven Realität „isoliert", sondern auch vom eigenen realen Sein des Subjekts. Als Subjekt figuriert nicht das reale Individuum, sondern lediglich sein Bewußtsein. Konkret äußert sich diese Trennung des Bewußtsein das Erleben von irgend etwas Bedeutsamen eliminiert wird, das als Motiv Bewußtseins das Erleben von irgend etwas Bedeutsamem eliminiert wird, das als Motiv des Verhaltens dient, gleichermaßen wie die praktische Beziehung des Menschen zur Welt eliminiert wird, auf Grund welcher er von den ihm gestellten Aufgaben diejenigen aussondert, die er nicht nur versteht, sondern auch akzeptiert, indem er innerlich an ihrer Lösung Anteil nimmt. Der ganze innere Bereich des menschlichen Lebens wird auf die Gesamtheit der „Vorstellungen" oder „Ideen" reduziert. Das Bewußtsein selbst wird zum Gefäß oder zum idealen Raum, in dem diese Vorstellungen oder Ideen vorbeiziehen, von assoziativen oder irgendwelchen anderen Verbindungen gesteuert. Erhalten bleibt der Psychologie lediglich das Problem der „Mechanismen", die den Wechsel der „Vorstellungen" und „Ideen" auf dieser ideellen Schaubühne bewirken; eliminiert wird aus ihr, wie man es in der „klassischen" intellektualistischen Psychologie des 19. Jahrhunderts beobachten kann, die Frage nach den Motiven, nach den Triebkräften des Verhaltens, die mit den realen Bedürfnissen und Interessen des Menschen zusammenhängen. Das Bewußtsein des Menschen, dieser scharfsinnige und leidenschaftliche Teilhaber seines ganzen Lebens und Kämpfens, wird als teilnahmslose, abstrakte Kontemplation dargestellt und auf die eine, lediglich hypostasierte Funktion der vom Leben isolierten „reinen" Erkenntnis reduziert. 3. Die Isolierung des Bewußtseins vom realen Leben des Menschen äußert sich schließlich auch noch in einer eigenartigen „Entfremdung" des eigentlichen Wissens vom realen Bewußtsein des Menschen. Aus einer theoretischen Tätigkeit des realen Subjekts, die von bestimmten Motiven gesteuert wird, die ihrerseits mit realen Bedürfnissen des Menschen zusammenhängen, wird das Denken, in Form der „Idee", zum selbständigen ideellen Subjekt, das mit der Fähigkeit zur Selbstbewegung ausgestattet ist (wie wir es bei Hegel finden). Andererseits tritt in den verschiedenen alten und neuen Spielarten des Piatonismus der Inhalt des Denkens in Form des „ideellen Seins" auf, das dem allen objektiven Inhalts beraubten Bewußtsein des Individuums gegenübersteht. Damit verliert der objektive Inhalt des Wissens, der nichts mehr mit der menschlichen Tätigkeit zu tun hat, jede Lebendigkeit und aktive Kraft, und das Bewußtsein des realen Individuums, jeden objektiven ideellen Inhalts beraubt, wird zum leeren Gebilde, das auf die Subjektivität eines gegenstandslosen Erlebens hinausläuft. Besonders instruktiv zeigte sich das in der Entfremdung des objektiven gesellschaftlichen Inhalts der Motive des menschlichen Verhaltens. In der idealistischen Ethik, besonders deutlich in der Konischen Ethik, die das Kategorische dem Seienden, die

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Theorie

Pflicht dem Trieb gegenüberstellte, ist der gesellschaftlich bedeutsame Inhalt des menschlichen Willens dem realen Individuum entfremdet und wird entweder in ein transzendentales Subjekt (in den „intelligiblen Charakter" bei Kant) oder in ein allen realen Trieben des Menschen gegenüberstehendes ideales Sollen verwandelt. Damit verbleiben in der Sphäre der realen Motive des menschlichen Verhaltens nur die individuellen elementaren sinnlichen Triebe und die organischen Bedürfnisse. Mag es auch auf den ersten Blick noch so paradox erscheinen, aber die primitiv-naturalistische Position jener Psychologie, die Anfang des 20. Jahrhunderts die dynamische Seite der Psyche untersuchte und die Verhaltensmotive auf elementare sinnliche Triebe und organische Bedürfnisse reduzierte (Freud,), war tatsächlich nichts als die Kehrseite der idealistischen Lehre der Platonschen oder Kaatschen Richtung über die Transzendenz des Kategorischen. Das äußerlich dem individuellen Bewußtsein gegenübergestellte Moralische, gesellschaftlich Bedeutsame, entfiel gerade deshalb aus dem Bereich der psychischen Realität und der psychologischen Forschung. Die Entfremdung des gesellschaftlichen Hauptinhalts des menschlichen Bewußtseins hatte zwangsläufig zur Folge, daß alles Lebenswichtige, der wirkliche Inhalt der Psyche, der die Motive des Verhaltens und seine dynamischen Tendenzen umfaßt, in die dunklen Tiefen des Instinktiven, Irrationalen, Unbewußten versenkt wurde (Bergson, Freud). Der Hauptweg zur Überwindung dieser äußeren Gegenüberstellung besteht in der Aufhellung der Genese der neuen, spezifisch menschlichen Formen der Motivation. Die spezifisch menschlichen, gesellschaftlichen, moralischen Verhaltensmotive müssen in ihrer qualitativen Eigenart verstanden werden, allerdings nicht isoliert von den organisch bedingten Bedürfnissen und Trieben. Da wir diese Frage hier nicht speziell in aller Ausführlichkeit abhandeln wollen, sei lediglich darauf hingewiesen, daß allein schon die Tatsache des gesellschaftlichen Lebens und der gesellschaftlichen Arbeitsteilung gesetzmäßig, mit innerer Notwendigkeit dazu führt, daß die Tätigkeit des Menschen nicht unmittelbar auf die Befriedigung seiner eigenen, individuellen, sondern auf die Befriedigung gesellschaftlicher Bedürfnisse gerichtet ist. Damit seine eigenen Bedürfnisse befriedigt werden, muß der Mensch die Befriedigung gesellschaftlicher Bedürfnisse zum unmittelbaren Ziel seines Handelns machen. Die Ziele der menschlichen Tätigkeit lösen sich also vom unmittelbaren Zusammenhang mit seinen individuellen Bedürfnissen, und das für die Gesellschaft Bedeutsame beginnt - und sei es zunächst auch nur mittelbar — das menschliche Verhalten zu bestimmen. Hierin liegt im Prinzip der Übergang zu den neuen, spezifisch menschlichen Formen der Motivation, die zugleich sowohl genetisch mit den organisch bedingten Bedürfnissen zusammenhängen als auch von ihnen qualitativ verschieden sind. Über seine gesellschaftlich organisierte Tätigkeit wird der Mensch zum Mitglied und Repräsentanten des gesellschaftlichen Ganzen: Die gesellschaftlichen Motive werden zu seinen persönlichen Motiven, insofern er selbst zum Mitglied und Repräsentanten des Kollektivs wird. Er erhebt sich somit über den Bereich der lediglich organischen Existenz und wird in den Bereich des gesellschaftlichen Seins einbezogen. Mit diesem neuen Bereich des gesellschaftlichen Seins hängen auch die neuen, rein menschlichen Verhaltens- und Motivationsformen zusammen. Charakter und Triebkraft der moralischen Motive sind durch die Formen des gesellschaftlichen Lebens und

Über das Bewußtsein

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durch die Beziehung des Individuums zu ihnen bedingt. Das gesellschaftlich Bedeutsame, das zum individuell Bedeutsamen wird, ohne dabei jedoch im geringsten aufzuhören, gesellschaftlich bedeutsam zu sein, gebiert im Individuum reale Tendenzen und Kräfte von enormer Wirksamkeit. Unbestreitbare, schon fast alltäglich gewordene Lebenserfahrungen zeigen uns, wie gesellschaftlich Bedeutsames, das für den Menschen zum persönlich Bedeutsamen wird, in ihm Kräfte weckt, die realer, mächtiger und intensiver sind als alle individuellen Triebe, Kräfte, die sich von diesen in Inhalt, Ursprung und Bedeutung unterscheiden, ihnen aber im dynamischen Effekt analog sind. Aufgabe der Psychologie - und zwar eine ihrer größten Aufgaben - ist es in diesem Zusammenhang, zu untersuchen, a) wie diese moralischen Motive erzeugt werden und wirken, wie das Individuum vom rein persönlichen zum gesellschaftlich Bedeutsamen aufsteigt und wie das gesellschaftlich Bedeutsame für das Individuum zum persönlich Bedeutsamen wird, und b) auf welche Weise im Laufe der Persönlichkeitsentwicklung diese Motive sowohl als Ergebnis wie als Voraussetzung für die Prägung der moralischen Eigenschaften der Persönlichkeit auftreten. Die Eliminierung des Bewußtseins aus dem realen Sein des Individuums, aus seinem Leben und aus seiner Tätigkeit die „Isolierung" des Bewußtseins führte, wie wir gesehen haben, auf allen Wegen zu seiner Verzerrung und Zerstörung, zum Zerfall seines Inhalts. Diese theoretische Zerstörung war die mehr oder weniger mittelbare Widerspiegelung der faktischen Zerstörung des menschlichen Lebens in einer Gesellschaft, die auf Privateigentum und Ausbeutung fußte. Die Interessen der herrschenden Klassen dieser Gesellschaft verstärkten den Subjektivismus und die Einseitigkeit der idealistischen Konzeption, die ihre, von Lenin aufgedeckten, gnoseologischen Wurzeln hat. 6 9 Diese in Jahrhunderten entwickelte idealistische Bewußtseinskonzeption wird heute vom modernen sowjetischen philosophisch-psychologischen Denken zerschlagen, das sich auf die marxistisch-leninistische Philosophie stützt. Die Entwicklung einer neuen Bewußtseinslehre auf dieser Grundlage ist wichtigstes Anliegen und erstrangige Aufgabe des modernen sowjetischen philosophisch-psychologischen Denkens. 1. Das Bewußtsein ist Bewußtwerden der von ihm unabhängigen objektiven Welt; die Abwendung des Bewußtseins von der Welt, die in Empfindungen, Vorstellungen usw. erkannt wird, und die Zuwendung des Bewußtseins auf eben diese Empfindungen, Vorstellungen usw. ist eine lediglich sekundäre Betrachtungsmöglichkeit. Der Mensch erkennt auch sich selbst nur mittelbar, über andere, indem er in Handlungen und Verhaltensweisen seine Beziehung zu diesen anderen und deren Beziehung zu sich offenbart. Unsere eigenen Erlebnisse, mögen sie auch noch so unmittelbar erlebt werden, werden nur mittelbar, über ihre Beziehung zum Objekt erkannt und bewußt. Das Bewußtwerden eines Erlebnisses heißt also nicht, es in die innere Welt einzuschließen, sondern es mit der äußeren, objektiven, materiellen Welt in Beziehung zu setzen, mit jener Welt, die seine Grundlage und Quelle ist. Die Gegenständlichkeit des Bewußtseins wird, im Gegensatz zu Hegels Auffassung, in Wirklichkeit auch im Selbstbewußtsein nicht aufgehoben. Diese These, die in den Früharbeiten von Marx einer der wichtigsten Ausgangspunkte für die Kritik der Hegeischen Konzeption und 69 W. I. Lenin, Aus dem philosophischen Nachlaß. Dietz Verlag, Berlin 1954, S. 289. 9

Prinzipien und Wege

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Theorie

für den Aufbau der Marxschen Dialektik und Erkenntnistheorie war, bleibt auch speziell für die Theorie der psychologischen Erkenntnis gültig. Sowohl in der Erkenntnis der Psyche anderer Menschen als auch im Selbstbewußtsein und in der Selbstbeobachtung bleibt die Beziehung der unmittelbaren Bewußtseinsinhalte zu der Außenwelt, die ihre Bedeutung bestimmt, erhalten. Infolgedessen bedürfen die Befunde der Selbstbeobachtung der Interpretation, erlauben eine Überprüfung und können sich auch als Täuschung erweisen, insofern das, was sie unmittelbar behaupten, und das, wovon sie faktisch zeugen, wenn man sie in ihrer realen Bedingtheit durch die Umstände betrachtet, unter denen sie entstehen, erheblich divergent sein kann. Seinem Wesen nach ist das Bewußtsein keine rein individuelle Errungenschaft, die in der inneren Welt des Individuums ruht, sondern ein gesellschaftliches Gebilde. In seiner psychologischen Erscheinungsform ist das Bewußtsein der Prozeß, in dem das objektive Sein, das sich außerhalb des Bewußtseins befindet, dem Subjekt bewußt wird; das Bewußtsein ist ins Sein eingeschlossen und auf das Sein gerichtet; aus dem Sein schöpft das Bewußtsein seinen Inhalt und betrachtet es als einen von ihm selbst unabhängigen Gegenstand. Der Prozeß des Bewußtwerdens erfolgt durch Korrelation der unmittelbar gegebenen Eindrücke mit der im Wort fixierten gesellschaftlich entwickelten Kenntnis, die in der Wortbedeutung enthalten ist. Etwas wird dadurch bewußt, daß es durch das System der gesellschaftlich entwickelten Kenntnisse ausgedrückt wird. Darin äußert sich im letzten Ursprung die gesellschaftliche Bedingtheit jedes menschlichen Bewußtseins. Das individuelle Bewußtsein des Menschen, das heißt das Bewußtsein eines Menschen, eines Individuums, ist immer ein gesellschaftliches Produkt. 2. Das reale Bewußtsein des Menschen ist nicht nur theoretisches, sondern primär praktisches Bewußtsein. Es ist untrennbar mit der bewußten, praktischen Tätigkeit verknüpft, durch die der Mensch die Welt umgestaltet. „Das Bewußtsein des Menschen widerspiegelt nicht nur die objektive Welt, sondern schafft sie auch." 70 Als Widerspiegelung des Seins ist das Bewußtsein auch praktische Beziehung des Individuums zum Sein. Das Bewußtsein des Menschen umfaßt daher nicht nur die Kenntnis, sondern auch das Erleben dessen, was in der Welt für den Menschen infolge der Beziehungen zu seinen Bedürfnissen, Interessen usw. bedeutsam ist. Daher rühren in der Psyche die dynamischen Tendenzen und Kräfte; daraus erwachsen Aktivität und Selektivität, infolge deren das Bewußtsein keine passive Widerspiegelung, sondern auch Beziehung, nicht nur Erkenntnis, sondern auch Bewertung, Bejahung oder Verneinung, Zu- oder Abneigung ist. Das wirkliche Bewußtsein ähnelt am allerwenigsten der leeren Abstraktion des „reinen" Bewußtseins der Idealisten, die nur die Hypostasierung der abstrakt gefaßten Erkenntnisfunktion ist. Es umfaßt in Form des Erlebens die Motive der praktischen und theoretischen Tätigkeit des Menschen. 3. Im Bewußtsein des Individuums lebt der objektive Inhalt des Wissens und der gesellschaftlichen Moral in der ganzen Fülle des konkreten individuellen Lebens, in untrennbarem Zusammenhang mit diesen Motiven und Antrieben. Das Wissen, der Inhalt des gesellschaftlichen Bewußtseins, hört damit auf, entfremdet und formal, und das Bewußtsein des Individuums hört auf, ein rein subjektives Gebilde zu sein. Der 70

W. I. Lenin, Nachlaß . . . a. a. O., S. 134.

Über das Bewußtsein

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Übergang ins individuelle Bewußtsein bedeutet nicht Subjektivierung oder „Psychologisierung" des objektiven Wissensinhaltes, sondern seine Einbeziehung in den determinierenden und integrierenden Persönlichkeitskontext der Motive und Ziele (Aufgaben) der menschlichen Tätigkeit, der diesen Inhalt ins Leben transformiert und ihm aktive K r a f t verleiht. (Damit wird übrigens auch die falsche Antithese vom Psychologismus und Antipsychologismus prinzipiell aufgehoben, die das idealistische philosophische und psychologische Denken zu Beginn des 20. J a h r h u n d e r t s zersetzte.) Das Erleben ist durch die realen Lebensverhältnisse bedingt, in denen das Leben des Individuums verläuft, durch den realen Kontext seines Lebens und seiner Tätigkeit. Im Zusammenhang mit dem bekannten Ausspruch, das menschliche Bewußtsein könnte nichts anderes sein, als das bewußtgewordene Sein, fährt Marx f o r t : „ . . . und das Sein der Menschen ist ihr wirklicher L e b e n s p r o z e ß . " J e d e s Erlebnis, jede Bewußtseinserscheinung ist Zeugnis und Information nicht nur über das Sein, das sein Objekt ist, sondern auch über das Subjekt selbst: Das Bewußtsein spiegelt das Sein des Objektes wider und drückt das Leben des Subjekts in seinem Verhältnis zum Objekt aus. Die Aufgabe einer wahrhaft psychologischen Erkenntnis besteht darin, das Erleben des Menschen als Information über das Leben des Subjekts aufzudecken. Dazu muß man zwangsläufig seinen Inhalt und inneren Sinn enträtseln, wobei man vom Kontext des realen Lebens und der Tätigkeit ausgeht, der das Erleben des Subjekts bestimmt. Diese Untersuchung des Bewußtseins, die den Sinn der Bewußtseinsinhalte — durch Korrelation von Motiven und Zielen — als Beleg f ü r das Leben des Subjekts aufdeckt, ist die wichtigste, spezifische Aufgabe der psychologischen Erforschung des Bewußtseins. Die Bewußtseinsdaten, die „unmittelbaren Gegebenheiten" des Erlebens, müssen, wenn man sie wirklich verstehen will, ebenso interpretiert werden wie der Text einer Rede. Um eine Rede nicht als Gegenstand grammatikalischer Übungen, sondern als Lebenstatsache in ihrer wirklichen Bedeutung zu verstehen, um also den Redner zu verstehen und nicht nur den formalen Text seiner Rede, muß man hinter dem Text den „Subtext" entziffern, indem man nicht nur feststellt, was der Mensch formal gesagt hat, sondern auch, was er sagen wollte oder zu sagen beabsichtigte, also Motiv und Ziel seiner Rede, die ihren inneren Sinn bestimmen. Ebenso ermitteln wir auch den wahren Sinn der Erlebnisse des Menschen, der Erscheinungen seines Bewußtseins. Ebenso geht übrigens auch der psychologische Praktiker, etwa der Schauspieler und Regisseur, bei seiner beruflichen Tätigkeit vor. Von dem im Manuskript festgelegten Text der Äußerungen einer handelnden Person ausgehend, in dem der Held seine Gedanken und Gefühle ausdrückt, verfaßt der Regisseur, wie es K. S. Stanislawski praktizierte, dazu einen „Subtext". I m „Subtext" ergibt sich die Psychologie der handelnden Person aus der Beziehung des Inhalts der geäußerten Gedanken und Gefühle der handelnden Person zur realen Lebenssituation, in der sie sich befindet, zur Gesamtheit der Lebensbeziehungen, in die sie durch ihr Handeln und Verhalten eingeordnet wird. Die Psychologie der Menschen in ihren komplizierten, ganzheitlichen Erscheinungsformen, in ihren lebenswichtigen Erlebnissen und Verhaltensweisen läßt sich aus 71 9*

Marx/Engels, Die deutsche Ideologie, Dietz Verlag, Berlin 1953, S. 22.

Theorie

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dem Kontext ihres Lebens und ihrer Tätigkeit ermitteln. Nur auf dieser Grundlage ist praktisch brauchbare psychologische Erkenntnis möglich. Die richtige Interpretation psychischer Fakten setzt voraus, daß man sie nicht vom materiellen Lebenskontext „isoliert", sondern sie vielmehr in diesen Kontext einordnet, weil dieser reale Kontext des Lebens und der Tätigkeit des Menschen sie in Wahrheit bestimmt und umschließt: Das Sein der Menschen, ihr wirklicher Lebensprozeß, bestimmt ihr Bewußtsein. b) Grundtliesen

der

Bewußtseinstheorie

Das Bewußtsein tritt real in der Form auf, daß dem Subjekt die objektive Realität bewußt wird. Bewußtsein ist Wissen von etwas, das außerhalb des Bewußtseins existiert, von einem Objekt, das dem erkennenden Subjekt gegenübersteht. Bewußtsein ist Widerspiegelung eines Objekts, Wissen von ihm und Lebensform des Subjekts. Der Mensch hat Bewußtsein, insofern er sich als Subjekt aus der Umwelt aussondert und die Umwelt für ihn und ihm gegenüber als Objekt oder Gegenstand in Erscheinung tritt. Psychische Prozesse, die nicht ins Bewußtsein eingehen, steuern das Handeln des Menschen unmittelbar in ihrer Eigenschaft als Signale. Für das Bewußtsein sind die Tätigkeitsbedingungen nicht einfach Signale, die das Handeln unabhängig vom Bewußtsein steuern, sondern objektive Sachverhalte, die beim Handeln berücksichtigt werden. Die Emanzipierung des Bewußtseins hängt mit dem Übergang zur verallgemeinerten Widerspiegelung der Umwelt und mit der Fixierung der Verallgemeinerungen im Wort, in der Sprache zusammen, die ein Produkt des sozial-historischen Prozesses ist. Das Bewußtsein ist ein System oder eine Gesamtheit im Wort objektivierter Kenntnisse. Dieses System oder diese Gesamtheit bildet sich beim Menschen im Prozeß des Bewußtwerdens der Wirklichkeit heraus. Das bewußte Erfassen der Umwelt erfolgt durch Korrelation der unmittelbaren Eindrücke mit den gesellschaftlich entwickelten und im Wort, in der Sprache fixierten Bedeutungen sowie durch Ausdruck der ersteren durch die letzteren. Eben darin äußert sich der gesellschaftliche Charakter des menschlichen Bewußtseins. Das menschliche Bewußtsein ist sowohl hinsichtlich seines Inhalts als auch hinsichtlich seiner Determination gesellschaftlich. Der gesellschaftliche Charakter des menschlichen Bewußtseins, seine gesellschaftliche Bedingtheit, beseitigt nicht die Unterschiede zwischen individuellem und gesellschaftlichem Bewußtsein. Unter gesellschaftlichem Bewußtsein versteht man jenes System von Ideen, vermittels dessen die Gesellschaft oder eine Klasse das gesellschaftliche Sein bewußt erfaßt. In das gesellschaftliche Bewußtsein geht alles das und nur das ein, was aus den gesellschaftlichen Lebensbedingungen resultiert und von ihnen bestimmt wird. Der Mensch ist ein gesellschaftliches Individuum; jedes Individuum lebt unter den Bedingungen eines in bestimmter Weise organisierten gesellschaftlichen Lebens. Dennoch erschöpfen die Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens, die für alle Mitglieder der entsprechenden Gesellschaft, Klasse usw. gemeinsam sind, nicht die konkreten Le-

Über das Bewußtsein

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bensbedingungen des jeweiligen Individuums. Deshalb besteht auch zwischen gesellschaftlichem und individuellem Bewußtsein keine automatische, mechanische Kongruenz. Das Bewußtsein des Individuums formt sich unter dem Einfluß des gesellschaftlichen Bewußtseins, aber das gesellschaftliche Bewußtsein wird nicht einfach unmittelbar ins individuelle projiziert. Das gesellschaftliche Bewußtsein, die in der jeweiligen Gesellschaft herrschenden Ideen werden vom Individuum akzeptiert oder nicht akzeptiert bzw. in einer bestimmten Brechung akzeptiert, und zwar j e nach den Eigenarten des eigenen Lebensweges. Aus der Analyse der Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens kann man das Vorhandensein bestimmter Traditionen, bestimmter Überreste der alten Gesellschaft bzw. bestimmter Einflüsse im Bewußtsein der entsprechenden Gesellschaft ableiten, aber keinesfalls kann man aus den bloßen Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens folgern, weshalb ein bestimmter Mensch gerade f ü r diese und keine anderen Einflüsse empfänglich ist. Das hängt von den konkreten Bedingungen seines eigenen Lebens ab, von seinem persönlichen Lebensweg, davon, was er selbst darstellt. Das allgemeine wird immer durch das Besondere und Einzelne gebrochen, das Gesellschaftliche also durch das Persönliche, Individuelle. Seinem Wesen gemäß ist das Bewußtsein mit der objektiven Außenwelt korreliert. In der idealistischen Erkenntnistheorie nimmt m a n die Existenz des Bewußtseins gewöhnlich als gegebene Tatsache hin, wogegen man die Existenz der Außenwelt f ü r fraglich hält. Sie muß zwar existieren, aber unter den gegebenen Voraussetzungen kann das nicht bewiesen werden! Diese idealistische Konzeption, die das Bewußtsein als ursprünglich, als unmittelbar gegeben hinnimmt und dann fragt, ob die „Außenwelt" existiert, ignoriert das eigentliche Wesen des Bewußtseins. Die Frage, wie die Erkenntnis die Grenzen des Bewußtseins überschreiten kann, wird gelöst oder erledigt sich sogar von selbst, wenn m a n die F r a g e löst, die man rechtens als erste stellen m u ß : Wie entsteht aus dem Sein mit Entstehung des Subjekts in seiner Polarität zum Objekt, mit der Abhebung des Subjekts von der Umwelt erstmalig das Bewußtsein? Jeder Versuch, die Existenz eines vom Bewußtsein unabhängigen Seins als unbeweisbar und zweifelhaft zu eliminieren, f ü h r t unausweichlich in letzter Konsequenz zur Selbstliquidation des Bewußtseins. Die Existenz des Seins als vom Bewußtsein unabhängiges Objekt ist notwendige Voraussetzung f ü r die Möglichkeit des Bewußtseins selbst. (Die Geschichte des „neutralen Monismus" beweist das schlagend: Auf die These „Die Materie ist verschwunden" folgte gesetzmäßig die B e h a u p t u n g : „Das Bewußtsein hat sich verflüchtigt" 7 2 .) Jede Aussage über das Bewußtsein enthält zwangsläufig „ontologische" oder, genauer, ontische Voraussetzungen, also Voraussetzungen, die sich auf das Sein seines Objekts (sowie auch auf das Wesen des Subjekts) beziehen. Objekte, also die Dinge oder Körper, die kein Bewußtsein haben und infolgedessen n u r als Objekte der Erkenntnis und des Handelns fungieren können, und „ S u b j e k t e " , d. h. Körper oder Wesen, die auch als Subjekt fungieren können, sind real so wechselseitig miteinander verbunden, daß sie die ganzheitliche, einheitliche „Welt" bilden. 72

Näheres dazu s. in dem Abschnitt „Der Machismus und die Krise der Bewußtseinspsychologie".

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Theorie

Die uns umgebenden Gegenstände, die Produkte (und Werkzeuge) der menschlichen Tätigkeit, die Praktiken (die Griechen nannten sie „pragmata") sind ihrem Wesen nach organisch in das System der menschlichen Beziehungen verflochten. Die sie bestimmenden Eigenschaften, die in den Wortbedeutungen fixiert sind, drücken ihre Zweckbestimmung aus, die Rolle, die sie im System der menschlichen Tätigkeit und der menschlichen Beziehungen spielen. Zweckbestimmung vieler Dinge ist es, als Kommunikationsmittel zu dienen (das Buch, das den Leser, das Telefon, das den Gesprächspartner voraussetzt, usw.) oder als Mittel für den Vollzug einer gemeinsamen Tätigkeit. Die Existenz solcher Dinge setzt auf Grund ihres eigentlichen objektiven Inhalts die Existenz anderer Menschen als Subjekte voraus. (Deshalb ist es auch nicht richtig, die Existenz anderer Subjekte für problematischer als die Existenz von Dingen zu halten.) Die Beziehungen zwischen den Menschen werden durch Dinge realisiert, hinter den Beziehungen von Dingen verbergen sich Beziehungen der Menschen. (Daher bekommt auch die Mehrheit menschlicher Handlungen mit Dingen zwangsläufig den Sinn von Verhaltensweisen, die eine Beziehung zu anderen Menschen ausdrücken.) Unzählige unüberwindliche Schwierigkeiten ergeben sich in der ontologischen Bewußtseinslehre und in der Erkenntnistheorie, wenn man das Bewußtsein und nicht den Menschen, der die objektive Welt bewußt erfaßt, als Subjekt, als einen der Ausgangstermini der gnoseologischen Grundrelation betrachtet. Bei dieser Fragestellung wird das Bewußtsein vollkommen ungerechtfertigt aus dem Sein hinausverlegt, hinauskomplimentiert. In Wahrheit aber ist im gnoseologischen Bereich die Beziehung zwischen dem Menschen als erkennendem Subjekt, das die Umwelt und sich selbst bewußt erfaßt, und der von ihm bewußt erfaßten, erkannten Realität das Primäre. Damit entfällt auch jeglicher Grund, das Bewußtsein aus dem Sein zu eliminieren, also auch jeglicher Anlaß für eine dualistische Gegenüberstellung von Bewußtsein als Ideellem und Sein. Dieser erste Schritt ermöglicht nun auch den zweiten. Dem Zusammenhang von Bewußtsein und Sein im ideellen Erkenntnisbereich liegt der reale Zusammenhang des Menschen mit der realen Außenwelt zugrunde, wobei der Mensch als Subjekt des Erkennens und Handelns im Bereich des Seins, des Lebens, im Bereich der Praxis auftritt, die die spezifisch menschliche Art der Wechselwirkung von Mensch und realer Außenwelt ist. Damit eröffnet sich auch der Weg zum Verständnis der prinzipiellen Bedeutung der Praxis als Grundlage und Kriterium der Erkenntnis. Die Begriffe Subjekt und Objekt, die der Definition des Bewußtseins zugrunde liegen, sind, wie wir noch sehen werden, funktionelle Begriffe. Sie bezeichnen die Funktion, die irgendwelche Dinge oder Erscheinungen der Welt im Erkenntnisprozeß haben. Diese funktionellen gnoseologischen Begriffe haben ontologische Voraussetzungen, da nicht jedes Seiende in jeder dieser Funktionen auftreten kann: So kann nur der Mensch Subjekt sein, da er Bewußtsein hat; die Materie (ohne Bewußtsein) kann im Erkenntnisprozeß nur Objekt, nur objektive Realität sein. Freilich bezeichnen die Begriffe Subjekt und Objekt nur, welche Rolle etwas im Erkenntnisprozeß spielt. Daher kann die Funktion des Erkenntnisobjekts von einer Erscheinung auf eine andere übergehen. Die gnoselogische Charakteristik der Materie als außerhalb des Bewußtseins und un-

Uber das Bewußtsein

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abhängig von ihm existierende objektive Realität bedeutet durchaus nicht, daß das Bewußtsein eines konkreten Individuums, das von seinem Sein untrennbar ist, für ein anderes Individuum nicht selbst objektive Realität sein kann. Von der falschen, metaphysischen Interpretation der Beziehung von Subjekt und Objekt ausgehend, hat man letzthin in der ausländischen Philosophie wiederholt den falschen Schluß gezogen, der objektiven Erkenntnis sei nur die von der Naturwissenschaft erforschte Welt der Naturerscheinungen zugänglich; die Philosophie solle deshalb überhaupt darauf verzichten, nach Objektivität der Erkenntnis zu streben, da wir, solange wir auf diesem Standpunkt verharren, angeblich die Möglichkeit ausschließen, das Subjekt, die menschliche Persönlichkeit, zu erkennen. Das schreiben sowohl der Existentialist Jaspers als auch der Anhänger der ontologischen Dialektik Marc u. a. Ihrer Meinung nach kann das Sein weder Objekt sein noch werden; denn um zum Objekt zu werden, müßte es einem außerhalb des Seins befindlichen Subjekt gegenübergestellt werden, während in Wahrheit das Sein auch alle Subjekte umfasse. In Wirklichkeit aber kann auch das Subjekt zum Objekt der Erkenntnis werden, also jenes reale, bewußte Wesen (der Mensch), das bei bestimmten Akten der Erkenntnis in der Funktion oder Rolle des Subjekts auftritt (man darf nur die funktionellen Begriffe Subjekt und Objekt nicht mystifizieren und substantialisieren). Auch das Sein als Ganzes kann Gegenstand der philosophischen, ontologischen Erkenntnis sein, die nicht weniger objektiv ist als die der Spezialwissenschaften, weil das Sein „als Ganzes" eben das Sein in seinen allgemeinsten Eigenschaften und Zusammenhängen ist, die ebenfalls Gegenstand der objektiven Erkenntnis seitens eines innerhalb des Seins befindlichen Subjekts (wo könnte es sich denn noch befinden?!) sein können wie alle anderen, spezielleren Eigenschaften und Zusammenhänge des Seins, die von den Spezialwissenschaften untersucht werden. Strenggenommen bedeutet die Forderung, daß das zu Erkennende als Objekt unabhängig vom Bewußtsein des Subjekts sein muß, die obligatorische Unabhängigkeit des zu erkennenden Objekts vom Akt oder Prozeß der Erkenntnis. Diese Forderung bedeutet keinesfalls, daß das Bewußtsein eines konkreten Individuums nicht zum materiellen Sein gehört und eine besondere Sphäre hinsichtlich der von ihm unabhängigen Sphäre des materiellen Seins bildet. Das Bewußtsein ist gesetzmäßig in den Zusammenhang der Erscheinungen der materiellen Welt einbezogen und tritt als Bewußtsein von Individuen innerhalb der materiellen Welt in Erscheinung. Der Begriff des Seins ist ein allgemeinerer Begriff als der der Materie oder des materiellen Seins: Nicht nur die Materie existiert, sondern auch das Bewußtsein. Der Begriff der Materie ist eine speziellere und dementsprechend auch konkretere Bestimmung des Seienden als der Begriff der Materie, ist für die Körper das, was der Begriff des Seins für alles Existierende ist. Im gnoseologischen Bereich tritt die Materie für die Erkenntnis immer als objektive Realität in Erscheinung; das ist ihre gnoseologische Definition. Dabei kennzeichnet diese Definition eine Eigenschaft, die die Materie immer hat, aber die nicht nur die Materie hat. Diese gnoseologische Definition der Materie schließt eine „ontologische" Charakteristik nicht etwa aus, sondern setzt sie notwendig voraus. Diese Charakteristik ändert sich im Laufe der Entwicklung der Wissenschaft (für die moderne Physik ist die Materie Stoff und Feld; beide haben Masse und Energie). Man kann der

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Theorie

Materie eine verschiedene inhaltliche Charakteristik geben, aber irgendeine Charakteristik muß auf jeden Fall sein. Irgendeine inhaltliche Charakteristik geht notwendig in den wissenschaftlichen Begriff der Materie ein. Der reale Träger aller „ontologischen" Begriffscharakteristiken ist die Welt, der Kosmos, das All. Das Universum hat seine reale Geschichte. Im Laufe dieser Geschichte erfolgt der Übergang von der anorganischen Materie zur organischen, zu immer höheren und komplizierteren Lebensformen, von denen jede ihre eigene Existenzweise h a t ; in dieser aufsteigenden Reihe steht auch das bewußte Leben des Menschen. In seiner inhaltlichen Ausprägung ist das Sein der Lebensprozeß des Universums in der ganzen Mannigfaltigkeit der Formen und der entsprechenden Daseinsweisen, die im Laufe der Geschichte des Universums entstehen. Erscheinungen und Ereignisse bewußt erfassen heißt, sie gedanklich in den Zusammenhang der objektiven Welt einzuordnen, sie in diesem Zusammenhang zu sehen und wahrzunehmen. Darin besteht die Hauptfunktion des Bewußtseins. Die Pathologie des Bewußtseins äußert sich vor allem in Störungen der Fähigkeit, Ereignisse in den Zusammenhang der objektiven Welt einzuordnen, in der das Leben des Menschen verläuft, und in damit zusammenhängende Desorientierung. Der Verlust der Orientierung in den räumlichen und zeitlichen Relationen der objektiven Realität, worin sich zumeist eine Bewußtseinsstörung äußert, ist Erscheinungsform dieser grundlegenden Bewußtseinsstörung.^ Was der Mensch in seiner Umwelt bewußt erfaßt, hängt in erster Linie von den „Stärkeverhältnissen" zwischen den bewußt erfaßten bzw. nicht erfaßten Erscheinungen ab. Diese Stärkeverhältnisse werden durch die Bedeutung der Erscheinungen f ü r den Menschen entsprechend seinen Bedürfnissen und Interessen bestimmt. Bewußtsein ist nicht n u r Widerspiegelung der Umwelt, sondern auch Beziehung des Menschen zur Umwelt; dabei sind Widerspiegelung und Beziehung nicht nebeneinander bestehende Erscheinungen. Die Widerspiegelung selbst enthält auch die Beziehung zu den widergespiegelten Erscheinungen. Das reale Bewußtsein des Menschen ist — im Unterschied zur theoretischen Abstraktion des Bewußtseins „schlechthin" - immer praktisches Bewußtsein; die Beziehung der Dinge zu den Bedürfnissen und Handlungen des Subjekts als eines gesellschaftlichen Individuums und seine Beziehung zur Umwelt spielen eine wesentliche Rolle im Bewußtsein. Im Alltagsleben werden die Dinge vor allem in ihren f ü r das Leben und f ü r die Gesellschaft wesentlichen Eigenschaften bewußt, die durch die Praxis fixiert sind. Diese „starken" Eigenschaften oder Seiten der Gegenstände hemmen nach dem Gesetz der negativen Induktion das Bewußtwerden ihrer anderen Seiten oder Eigenschaften. Das Nichtbewußtwerden bestimmter Erscheinungen bedeutet nicht einfach ein negatives Faktum, nämlich das Fehlen ihres Bewußtwerdens. So wie Hemmung nicht einfach fehlende Erregung ist, so ist auch durch eine Hemmung bedingtes Nicht73

Wir unterscheiden Psychisches und Bewußtes, fassen also das Bewußtsein als besonderes Gebilde. Dementsprechend neigen wir auch zu jener Ansicht, welche psychische Störungen und Bewußtseinsstörungen nicht identifiziert und nicht jede psychische Störung auch für eine Bewußtseinsstörung hält, die also das Bewußtsein als spezifische Erscheinung mit spezifischen Merkmalen auffaßt.

Über das Bewußtsein

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bewußtwerden nicht einfach fehlendes Bewußtwerden, sondern vielmehr ein aktiver Prozeß, der durch den Zusammenstoß antagonistischer Kräfte im Leben des Menschen hervorgerufen wird. Erscheinungen, die für das Subjekt antagonistisch wirkende Kräfte sind, hemmen ihr Bewußtwerden wechselseitig. Dadurch ist die Schwierigkeit bedingt, auf die das bewußte Erfassen intensiv emotional wirkender Erscheinungen stößt, die immer positiv oder negativ „geladen" sind und manchmal sogar beides zugleich. Daher rührt auch die häufig auftretende Schwierigkeit, sich seiner Antriebe bewußt zu werden, und zwar dann, wenn diese speziellen Antriebe für eine bestimmte Verhaltensweise im Widerspruch zu stabilen Einstellungen und Gefühlen des Menschen stehen. Das bewußte Erfassen der Umwelt ist ins Leben verflochten. Die ganze Widersprüchlichkeit des Lebens und der Beziehungen des Menschen zum Leben zeigt sich darin, was der einzelne bewußt erfaßt und was in seinem Bewußtsein keinen Platz hat. Die Dynamik der bewußten Erfassung der verschiedenen Seiten und Erscheinungen der Wirklichkeit durch den Menschen hängt eng mit der Veränderung ihrer Bedeutung für den Menschen zusammen. Diese Veränderungen des Sinnes, den die Erscheinungen und Ereignisse für den Menschen haben, die Bedeutungsverschiebung, die sie im Laufe des Lebens erfahren, die Veränderung der Akzente, die auf bestimmten Stellen der „Partitur" der Ereignisse fallen, machen den Hauptinhalt dessen aus, was man gemeinhin unter dem geistigen Leben des Menschen versteht. Sie bilden den wichtigsten Aspekt der „Psychologie" des Menschen, der die Mitmenschen aus gutem Grunde am meisten interessiert. Vor allem diese „Psychologie", das geistige Leben des Menschen, stellt auch der Künstler und Schriftsteller dar. Das Wesen des bewußten Erfassens findet seinen instruktiven Ausdruck im Bewußtwerden psychischer Erscheinungen, also von Gefühlen und Erlebnissen. Bekanntlich gibt es unbewußte oder inadäquat erfaßte Gefühle. Ein Gefühl kann existieren und braucht dennoch nicht bewußt zu werden; die Realität seiner Existenz liegt in seiner Wirksamkeit, in seinem realen Anteil an der Steuerung des Handelns und Verhaltens des Menschen. Unbewußt oder nicht bewußt sind zumeist junge, erst aufkeimende Gefühle (vor allem bei jungen, unerfahrenen Menschen). Ein unbewußtes oder nicht bewußtes Gefühl ist selbstverständlich nicht etwa ein Gefühl, das der Mensch nicht erlebt oder verspürt, sondern ein Gefühl, das nicht oder nur inadäquat mit der objektiven Welt in Beziehung gesetzt wird. Dem analog ist auch eine nicht bewußte Verhaltensweise nicht etwa eine Verhaltensweise, von der der Mensch überhaupt nicht weiß, daß er sie vollzogen hat, sondern eine Verhaltensweise, die der einzelne nicht zu ihren Folgen in Beziehung gesetzt hat: Solange der Mensch sein Verhalten nicht mit den objektiven Resultaten korreliert hat, weiß er auch nicht, was er eigentlich getan hat. Ebenso ist ein nicht bewußtes oder unbewußtes Begehren das Begehren eines Gegenstandes, den man noch nicht bewußt erfaßt hat. Das bewußte Begehren hängt demnach mit dem Übergang des Begehrens in einen Wunsch zusammen, wobei dieser Übergang dadurch erfolgt, daß das Objekt des Begehrens bewußt wird. Das Bewußtwerden einer Verhaltensweise vollzieht sich durch ihre Korrelation mit den objektiven Ursachen und Folgen, das Bewußtwerden eines Erlebnisses oder Gefühls durch Korrelation mit den objektiven Ursachen, die es hervorgerufen haben, mit dem Objekt oder der Person, auf die es gerichtet ist. Ein Gefühl bewußt erfassen bedeutet nicht einfach, die da-

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Theorie

mit zusammenhängende Gefühlswallung verspüren, sondern sie zu der Ursache und dem Objekt in Beziehung setzen, die sie hervorrufen. Solange mir nicht bewußt geworden ist, woher das Erlebnis rührt, das ich habe, solange werde ich mir auch nicht meines Erlebens bewußt, insofern ich nicht weiß, was ich eigentlich erlebe. Die Erlebnisse werden nicht dadurch bewußt, daß man sie in der angeblich unzugänglichen Innenwelt einsperrt, sondern dadurch, daß1 man sie adäquatzurobjektivenAußenweltin Beziehung setzt. A l l e psychischen Prozesse, die j a die Wirklichkeit widerspiegeln, haben Steuerungsfunktion bezüglich der Bewegungen, Handlungen oder Verhaltensweisen. Diese Funktion hat auch das Bewußtsein. Auf dieser Steuerungsfunktion des Bewußtseins beruht sein realer Zusammenhang mit dem Handeln. Handlungen, die durch das Bewußtsein gesteuert werden, sind bewußte Handlungen. Bewußte oder bewußt erfaßte Handlungen sind nicht obligatorisch Handlungen, die sozusagen durch und durch bewußt erfaßt sind, in denen alles bewußt geworden ist. Niemand wird eine Handlung als unbewußt bezeichnen, nur weil der entsprechende Mensch nicht über jede Bewegung, mit der er sie vollzogen hat, bewußt Rechenschaft ablegen kann. Der Mechanismus eines Handlungsvollzuges kann automatisiert sein (d. h. nicht bewußt werden), aber dennoch wird jeder eine Handlung, die auf so automatisierte Weise vollzogen wurde, als bewußt bezeichnen, wenn dem Betreffenden das Ziel seiner Handlung bewußt ist; umgekehrt wird niemand eine Handlung bewußt nennen, von der nur die Vollzugsweise bewußt ist. Für die Lösung der Frage nach der Bewußtheit oder Unbewußtheit eines Menschen ist wichtig, was er bewußt erfaßt. Nicht von ungefähr nennt man auch für gewöhnlich einen Menschen dann bewußt im eigentlichen Sinne des Wortes, wenn er sich der objektiven Bedeutung seiner Ziele und Motive bewußt ist und sich in seinem Verhalten eben von dieser Bedeutung leiten läßt. Die Tatsache, daß das bewußte Erfassen und damit auch das Erkennen eine Beziehung zwischen Subjekt und Objekt voraussetzt, schafft auf den ersten Blick unüberwindliche Schwierigkeiten für die Erkenntnis des Subjekts, geht es dabei doch scheinbar um eine Umwandlung des Subjekts in ein Objekt. Oben haben wir bereits gezeigt, wie sich diese Schwierigkeiten hinsichtlich der philosophischen Erkenntnis von selbst erledigen. In analoger Weise erledigen sie sich auch hinsichtlich der psychologischen Erkenntnis, hinsichtlich der Selbsterkenntnis. Wenn auch die Funktion oder der Begriff des Subjekts als solche nicht mit der Funktion oder dem Begriff des Objekts als solchen identifiziert werden können, so können dennoch die verschiedenen Seiten oder Eigenschaften jener objektiven Realität, die als Subjekt figuriert, durchaus zum Objekt der Erkenntnis gemacht werden. Man braucht nur nicht über das Objekt und Subjekt der Erkenntnis „schlechthin" im Sinne metaphysischer Wesenheiten zu meditieren, denen gegenüber jede Realität ein für allemal als das eine oder andere festgelegt ist, sondern über die konkreten

Erkenntnisakte und ihr Objekt.

Da sich der Prozeß des Bewußtwerdens in eine Reihe konkreter A k t e aufgliedert, kann er auch die verschiedenen Eigenschaften des Subjekts (d. h. jenes realen Wesens, das als solches fungieren kann) nacheinander zum Objekt der Erkenntnis machen. Objekt des Selbstbewußtseins und der Selbsterkenntnis ist nicht das „reine" Bewußtsein, d. h. ein vom realen, materiellen Sein des Menschen isoliertes Bewußtsein, sondern der Mensch selbst in der unmittelbaren Ganzheit seines Wesens. Das zeigt sich deut-

Uber das Bewußtsein

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lieh in der Tatsache, daß die psychologische Selbsterkenntnis oder Selbstbeobachtung nur dann zuverlässige Resultate liefern kann, wenn sie ebenso wie bei der objektiven Erkenntnis anderer Menschen mittelbar durch Korrelation der Befunde der Selbstbeobachtung mit den Gegebenheiten des objektiven äußeren Verhaltens und ihrer Interpretation, ausgehend von dem Aspekt der realen Beziehungen des Subjekts zur Umwelt, abläuft. Nicht nur Objekt, sondern auch Subjekt der Selbsterkenntnis ist nicht das „reine" Bewußtsein, sondern der Mensch als reales Subjekt. Das äußert sich auch deutlich in der Abhängigkeit des realen Sinnes aller Aussagen des Subjekts von der realen Situation und von der Position des Subjekts in dieser Situation. Diese Sätze gelten nicht nur für die Selbsterkenntnis, sondern überhaupt für jede Erkenntnis. Was ein Mensch bewußt erfaßt und wie er es erfaßt, ist durch die realen Wechselbeziehungen des Menschen zur Umwelt bedingt. Das Bewußtsein ist Widerspiegelung eines bewußt gewordenen Objekts, die durch die Beziehung des Subjekt zum Objekt vermittelt wird. Durch seine Beziehung zur Umwelt und zu anderen Menschen offenbart sich der einzelne. Das eröffnet auch den grundlegenden Weg zur mittelbaren Erkenntnis eines Subjekts durch andere. Das Vorhandensein des Bewußtseins beim Menschen ist ein fundamentales Faktum im gesamten Weltbild. Das bedeutet, daß es unter allem vorhandenem Seienden Wesen gibt, die, bildlich gesprochen, über „Spiegel"qualitäten verfügen, durch die in ihnen — in diesen Einzelwesen — die ganze Welt, alles Seiende eine ideelle Daseinsform annehmen kann. Im Prozeß des Bewußtwerdens kann alles, was in der Welt existiert, in widergespiegelter oder ideeller Form im Menschen repräsentiert werden. Als die Welt bewußt erfassendes Wesen überschreitet der Mensch die Grenzen seiner isolierten Individualität und gewinnt Allgemeinheit. Der Mensch, der die Welt bewußt erfaßt, ist ein konkretes und zugleich auch allgemeines Wesen. Das Bewußtsein ist der allgemeine Zusammenhang des Menschen mit der Welt. Der Zusammenhang des Menschen mit der Welt, der im Prozeß der bewußten Erfassung der Welt durch die Menschen realisiert wird, zeigt sich von einer anderen Seite in Form des Handelns. Das Handeln ist mit dem Bewußtsein dadurch verknüpft, daß das Bewußtsein dem Handeln gegenüber Steuerungsfunktion hat. So geht das, was im Prozeß des Bewußtwerdens der Welt aus dem Sein ins Bewußtsein übergeht, anschließend, durch das Subjekt gebrochen, über das Handeln wieder in die objektive Welt ein, indem es sie umgestaltet. Während das Materielle über den Prozeß des Bewußtwerdens ins Ideelle übergeht und ideelle Daseinsweise annimmt, gehen durch das Handeln die Ideen, Gedanken und Absichten des Menschen in Wirklichkeit über, werden in ihr verkörpert und nehmen materielle Existenzform an. Sowohl im Bewußtsein als auch im Handeln realisieren sich — in verschiedenen Richtungen - die Einheit, der wechselseitige Zusammenhang und die Dialektik von Subjektivem und Objektivem. In der praktischen Tätigkeit verwirklicht der Mensch sein Ziel und verändert das Objekt, wobei er dem eigentlichen Wesen des Objekts Rechnung trägt (dem analog besteht bei der Erkenntnis die Tätigkeit des Subjekts darin, das eigentliche Wesen des Objekts aufzudecken). Insofern nun das Objekt die auf es gerichtete Handlung determiniert, wird das Subjekt in der Tätigkeit real vom Objekt determiniert. Und da die Tätigkeit des Menschen

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Theorie

prinzipiell auf gesellschaftliche Objekte gerichtet ist, auf Kulturbereiche, die sich im Laufe der historischen Entwicklung herausgebildet haben, ist diese Tätigkeit mit objektivem gesellschaftlichem Inhalt gefüllt und fungiert als Übertragungsmechanismus, durch den das ganze Leben des Menschen mit objektivem gesellschaftlichem Inhalt gefüllt wird. Und eben darin, in der Fülle des objektiven und vor allem gesellschaftlichen, menschlichen Inhalts, der über das Handeln in das Subjekt eindringt, und nicht im einfachen Tun oder in der subjektiven Aktivität besteht die Bedeutung des Handelns für die Formung des Menschen und seines Bewußtseins. Das Handeln ist die Verbindung des Subjekts mit der objektiven Welt; durch das Handeln, mit dem das Subjekt seine Absichten, sein Ziel verwirklicht und das Objekt verändert, prägt die objektive Welt, die auch die ganze Kultur umfaßt, die sich im Laufe der historischen Entwicklung herausgebildet hat, dem Subjekt die Logik seines Inhalts ein. Bewußtsein und Tätigkeit, bewußtes Erfassen und Verändern der Welt bilden das Hauptcharakteristikum der spezifischen Daseinsweise, die dem Menschen zu eigen ist. Eben durch das Handeln wird der Mensch mit der Welt verbunden, und indem er an ihrer Veränderung teilnimmt, verändert er auch sich selbst. Als Objekt, das außerhalb des Bewußtseins und unabhängig von ihm existiert, stellt sich das Sein dem Bewußtsein als etwas Gegebenes und Fertiges dar. In Wahrheit aber ist das Sein Werden und Veränderung, es ist der Lebensprozeß des Universums in der ganzen unendlichen Mannigfaltigkeit seiner Formen. In diesem Fluß des Seins steht der Mensch, das Subjekt des Erkennens und Handelns, als „Brennpunkt" der Widerspiegelung, in dem die Strahlen von allen Enden der Welt zusammenlaufen, und als Wellenzentrum, von dem in wachsenden konzentrischen Kreisen die von ihm bewirkten Veränderungen der Welt ausgehen. Der Mensch ist ein Einzelwesen, Seiendes unter Seiendem, und zugleich ist sein Bewußtsein die ideelle, widergespiegelte Daseinsweise alles Seienden. Erkennen und Umgestalten der Welt, das ist die Daseinsweise des Menschen als bewußtes Wesen.

6. Uber die psychologische Erkenntnis Zum Problem der psychologischen

Methoden

Die Analyse des Bewußtseinsproblems schafft die notwendigen Voraussetzungen f ü r die Lösung der Fragen, die mit der psychologischen Erkenntnis zuammenhängen. Die Problematik der Theorie der psychologischen Erkenntnis konzentriert sich f ü r gewöhnlich vor allem um die Fragen nach der Selbstbeobachtung und nach der objektiven Beobachtung in der Psychologie. 74 Auf dieses Problem, das die Problematik der ''' Der Frage nach der „objektiven" und „subjektiven" Methode in der Psychologie war eine Arbeit B. M. Teplows gewidmet: „Uber die objektive Methode in der Psychologie", über die er auf der Psychologie-Tagung im Jahre 1952 referierte. (Vgl. „Mitteilungen der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften der RSFSR", Nr. 45. Materialien der PsychologieTagung. Stenographisches Protokoll. Moskau 1953, S 4 9 - 7 4 . ) Zu unserer Konzeption des Objektiven und Subjektiven s. „Sein und Bewußtsein".

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Theorie

prinzipiell auf gesellschaftliche Objekte gerichtet ist, auf Kulturbereiche, die sich im Laufe der historischen Entwicklung herausgebildet haben, ist diese Tätigkeit mit objektivem gesellschaftlichem Inhalt gefüllt und fungiert als Übertragungsmechanismus, durch den das ganze Leben des Menschen mit objektivem gesellschaftlichem Inhalt gefüllt wird. Und eben darin, in der Fülle des objektiven und vor allem gesellschaftlichen, menschlichen Inhalts, der über das Handeln in das Subjekt eindringt, und nicht im einfachen Tun oder in der subjektiven Aktivität besteht die Bedeutung des Handelns für die Formung des Menschen und seines Bewußtseins. Das Handeln ist die Verbindung des Subjekts mit der objektiven Welt; durch das Handeln, mit dem das Subjekt seine Absichten, sein Ziel verwirklicht und das Objekt verändert, prägt die objektive Welt, die auch die ganze Kultur umfaßt, die sich im Laufe der historischen Entwicklung herausgebildet hat, dem Subjekt die Logik seines Inhalts ein. Bewußtsein und Tätigkeit, bewußtes Erfassen und Verändern der Welt bilden das Hauptcharakteristikum der spezifischen Daseinsweise, die dem Menschen zu eigen ist. Eben durch das Handeln wird der Mensch mit der Welt verbunden, und indem er an ihrer Veränderung teilnimmt, verändert er auch sich selbst. Als Objekt, das außerhalb des Bewußtseins und unabhängig von ihm existiert, stellt sich das Sein dem Bewußtsein als etwas Gegebenes und Fertiges dar. In Wahrheit aber ist das Sein Werden und Veränderung, es ist der Lebensprozeß des Universums in der ganzen unendlichen Mannigfaltigkeit seiner Formen. In diesem Fluß des Seins steht der Mensch, das Subjekt des Erkennens und Handelns, als „Brennpunkt" der Widerspiegelung, in dem die Strahlen von allen Enden der Welt zusammenlaufen, und als Wellenzentrum, von dem in wachsenden konzentrischen Kreisen die von ihm bewirkten Veränderungen der Welt ausgehen. Der Mensch ist ein Einzelwesen, Seiendes unter Seiendem, und zugleich ist sein Bewußtsein die ideelle, widergespiegelte Daseinsweise alles Seienden. Erkennen und Umgestalten der Welt, das ist die Daseinsweise des Menschen als bewußtes Wesen.

6. Uber die psychologische Erkenntnis Zum Problem der psychologischen

Methoden

Die Analyse des Bewußtseinsproblems schafft die notwendigen Voraussetzungen f ü r die Lösung der Fragen, die mit der psychologischen Erkenntnis zuammenhängen. Die Problematik der Theorie der psychologischen Erkenntnis konzentriert sich f ü r gewöhnlich vor allem um die Fragen nach der Selbstbeobachtung und nach der objektiven Beobachtung in der Psychologie. 74 Auf dieses Problem, das die Problematik der ''' Der Frage nach der „objektiven" und „subjektiven" Methode in der Psychologie war eine Arbeit B. M. Teplows gewidmet: „Uber die objektive Methode in der Psychologie", über die er auf der Psychologie-Tagung im Jahre 1952 referierte. (Vgl. „Mitteilungen der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften der RSFSR", Nr. 45. Materialien der PsychologieTagung. Stenographisches Protokoll. Moskau 1953, S 4 9 - 7 4 . ) Zu unserer Konzeption des Objektiven und Subjektiven s. „Sein und Bewußtsein".

Uber die psychologische Erkenntnis

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Theorie der psychologischen Erkenntnis freilich keineswegs erschöpft, werden wir uns auch hier beschränken. Die Tatsachen, von denen die psychologische Erkenntnis ausgeht, können in Bewußtseinstatsachen und Verhaltenstatsachen unterteilt werden. Erstere unterteilt man weiter in Informationen des Bewußtseins über das Subjekt selbst und über die objektive Welt. Im ersten Falle ist das Subjekt Objekt der Selbsterkenntnis, im zweiten Falle offenbart sich das Subjekt, ohne Objekt der Selbsterkenntnis zu sein, darin, wie es die Umwelt widerspiegelt und sich zu ihr verhält. Am strittigsten ist gemeinhin die Frage der Selbstbeobachtung. A. Comte leugnete sogar ihre Möglichkeit. Er verspottete sie als törichten Versuch des Menschen, aus dem Fenster zu blicken, um zu sehen, wie er selbst die Straße entlanggeht. Comte hielt es demnach für ein sinnloses Unterfangen, das Subjekt zum Objekt der Erkenntnis zu machen. Er behauptete, die Selbstbeobachtung sei deshalb unmöglich, weil der Mensch entweder mit der Selbstbeobachtung beschäftigt sei, dann sei da zwar jemand, der beobachtet, aber es sei nichts zu beobachten, oder er gebe sich seinen Erlebnissen hin, dann sei da zwar etwas zu beobachten, aber es fehle der Beobachter. Das ist eine typisch metaphysische Spekulation, für die das Bewußtsein eine unteilbare Wesenheit ist und die nicht sieht, daß in Wirklichkeit der Prozeß des Bewußtwerdens aus einer ganzen Reihe von Akten besteht, deren Objekt ständig wechseln kann. Wenn man von der Erkenntnis des Subjekts spricht, muß man das Subjekt als bestimmte Realität, den Menschen als bewußtes Wesen, d. h. denjenigen, der Subjekt ist, vom Begriff des Subjekts unterscheiden, also von der Funktion des Subjekts, die er im Erkenntnisprozeß vollzieht. Wenn auch die Funktion oder der Begriff des Subjekts als solche keinesfalls mit der Funktion oder dem Begriff des Objekts als solchen identifiziert werden können, ist es dennoch durchaus möglich, die verschiedenen Seiten oder Eigenschaften des Subjekts zum Objekt zu machen. Das ist aber nur möglich, wenn man nicht über Objekt und Subjekt schlechthin räsoniert, in der Annahme, jede Realität sei ein für allemal auf eine dieser Positionen oder Funktionen festgelegt, sondern sich mit konkreten Erkenntnisakten und ihrem Objekt befaßt. Die Möglichkeit der Selbstbeobachtung leugnen heißt letzten Endes, das Selbstbewußtsein des Menschen leugnen, die Möglichkeit, daß er sich selbst darüber Rechenschaft ablegt, was er denkt und fühlt. Das steht aber in eindeutigem Widerspruch zu aller Erfahrung der Menschheit. Die Frage nach der Möglichkeit der Selbstbeobachtung ist also falsch gestellt; die Frage kann nur lauten, wie die Selbstbeobachtung genau zu interpretieren ist, und im Zusammenhang damit, ob man sie bei der psychologischen Forschung benutzen kann oder, genauer, wie man sie einsetzen muß, ohne den objektiven, wissenschaftlichen Charakter der psychologischen Erkenntnis zu tangieren. Die Selbstbeobachtung als Methode oder Weg der psychologischen Erkenntnis muß vor allem von jener Auswertung der Bewußtseinsdaten abgegrenzt werden, deren Objekt nicht der Beobachter selbst und seine Erlebnisse sind, sondern Gegenstände oder Erscheinungen der Umwelt (Methode der sprachlichen Mitteilung usw.). Unter Selbstbeobachtung werden wir die Auswertung von Bewußtseinsdaten verstehen, deren Objekt das Subjekt selbst ist, seine psychischen Eigenschaften und Erlebnisse. Ferner muß man

Theorie

M2

die Selbstbeobachtung als Beobachtung, die auf einen selbst, auf die Selbsterkenntnis gerichtet ist, von der Introspektion unterscheiden, d. h. von einer bestimmten fehlerhaften Interpretation der Selbstbeobachtung. Keinesfall darf man beide in einen Topf werfen, wie das gemeinhin geschieht. Weder darf man sie undifferenziert gemeinsam akzeptieren, noch auch sie mitsamt verdammen. In allen Hauptpunkten unterscheidet sich die Selbstbeobachtung als reale Tatsache im Leben des Individuums grundlegend von der Selbstbeobachtung der Introspektionisten. Zunächst kurz gesagt: Introspektion ist Selbstbewußtheit, Widerspiegelung der reinen Psyche in sich selbst

(das Psychische wird dadurch „cogitabel" nach

Descartes);

Selbstbeobachtung, Selbsterkenntnis (die tatsächliche, wie sie im Leben wirklich vorkommt) ist Selbstbewußtheit eines realen Individuums. Entscheidend für die introspektiv aufgefaßte Selbstbeobachtung ist nicht, daß sie auf das Individuum selbst gerichtet ist, sondern ihr angeblich unmittelbarer Charakter, die Möglichkeit der Widerspiegelung der Psyche in sich selbst, in der abgeschlossenen Innenwelt des Bewußtseins, wobei jede Mittlerfunktion äußerer, materieller Gegebenheiten außer acht gelassen wird. Im Hinblick auf die Fremderkenntnis ist ganz offensichtlich, daß sie nur mittelbar über das Verhalten der anderen möglich ist, über ihr Tun und Lassen. Im Hinblick auf die eigene Psyche bot sich dagegen anscheinend die Möglichkeit, sie unmittelbar zu erkennen, ohne die Grenzen des Psychischen zu überschreiten. Deshalb wurde die Selbstbeobachtung auch von den Introspektionisten auserwählt, um ihre idealistische Konzeption vom Bewußtsein zu realisieren, das sie als in sich abgeschlossene und von der materiellen Außenwelt isolierte geistige Innenwelt auffaßten. Indessen muß das Bewußtsein in doppelter Hinsicht seine eigenen Grenzen überschreiten. Jedes Bewußtsein ist seinem Wesen nach immer bewußtes Erfassen eines außerhalb seiner selbst befindlichen Objekts. Zugleich ist jedes Bewußtsein auch Äußerung oder Erscheinungsweise eines erkennenden Subjekts, eines realen Individuums, ist es eine Form seines realen Lebens. Daher ist auch kein Bewußtseinsphänomen losgelöst von seiner Beziehung zu einem Objekt und unabhängig von den objektiven Umständen, von der realen Lebenssituation erfaßbar, die dieses Bewußtseinsphänomen bedingen und hervorrufen. Eine psychische Erscheinung erkennen heißt also, diese Erscheinung in ihrer Beziehung zu dem Objekt erfassen, das von dieser Erscheinung widergespiegelt wird; die Widerspiegelung des Objekts wird aber durch das Leben und die Tätigkeit des Subjekts, also eines realen Individuums, vermittelt, das dieses Objekt widerspiegelt. Die spezifische Aufgabe der Psychologie besteht darin, die psychischen Erscheinungen bzw. die Bewußtseinsphänomene, ohne sie aus ihrer Beziehung zum Objekt zu lösen (was j a auch unmöglich ist), vor allem als Erscheinungsweise, als Lebensform eines individuellen Subjekts zu untersuchen. Die Introspektion bietet sich immer als Operieren mit psychischen Gegebenheiten dar, die die eigenen Grenzen des Bewußtseins weder überschreiten noch über sie hinausgeführt werden können und nichts außerhalb des Bewußtseins

Existierendes

bezeichnen. Die echte Selbsterkenntnis setzt dagegen immer eine Korrelation

der

psychischen Gegebenheiten mit den außerhalb des Psychischen befindlichen, bewußt erfaßten realen Lebens- und Tätigkeitsbedingungen des Menschen voraus. Damit hängt

Über die psychologische Erkenntnis

143

auch folgendes untrennbar zusammen: Die Hauptforderung, der die Befunde der Introspektion im spezifischen introspektionistischen Sinne dieses Wortes genügen müssen, besteht darin, daß aus ihnen jede gegenständliche Bezogenheit eliminiert wird, daß sie als reine, unmittelbare Gegebenheit in Erscheinung treten, die nichts bezeichnet, was die Grenzen dieser Gegebenheit überschreitet. In Wahrheit aber haben die Bewußtseinsdaten immer gegenständliche Bedeutung. Die Beziehung zu etwas außerhalb seiner selbst Befindlichem ist zwangsläufig mit dem Wesen des Bewußtseins verknüpft. Nicht von ungefähr mußten auch die Introspektionisten einen so schweren und im Prinzip aussichtslosen Kampf gegen jenen Fehler führen, den einer von den ganz orthodoxen Vertretern der introspektiven Psychologie, nämlich Titchener, als „stimulus-error" bezeichnete. Von dieser Konzeption ungenügend durchdrungene Versuchspersonen wiesen andauernd auf das entsprechende Objekt hin, statt das „reine" Bewußtseinsphänomen zu beschreiben, wie es die introspektive Methode fordert. Der Gegenstand des Abbildes drängte sich immer wieder in den Vordergrund. Die Introspektion im spezifischen Sinne des Wortes verlangt aber gerade, von diesem Gegenstand zu abstrahieren und die Bewußtseinsphänomene als solche in ihrer reinen Gegebenheit oder Phänomenalität zu erfassen. Wenn aber ein Subjekt, um diesen Forderungen zu genügen, sagt: „kalt" und nicht „ein kaltes Zimmer" oder „kaltes Wetter" usw., und so gleichsam die „reine" Kälteempfindung erfaßt, kann diese Angabe nur den einen Sinn haben: „Mir ist kalt." Statt der Bezogenheit auf ein bestimmtes Objekt tritt die Bezogenheit auf ein bestimmtes Subjekt in den Vordergrund; dabei bleibt jedoch die Bezogenheit auf die reale Welt vollkommen erhalten. Wenn die Versuchsperson die eigene Empfindung als Kälteempfindung bezeichnet, so bezieht sie diese Empfindung auf ihre Weise auf ein reales Individuum mit einer bestimmten Organisation, sagt sie etwas über ihren nicht nur psychischen, sondern auch physiologischen Zustand aus, verknüpft sie diesen Zustand des Organismus mit bestimmten physikalischen, thermischen Milieubedingungen und setzt sie die Möglichkeit ihrer Veränderung oder Beseitigung durch reale physikalische Einwirkungen voraus, die auf eine Veränderung dieser thermischen Bedingungen oder auf den Schutz vor ihrer Einwirkung abzielen. Wenn ich aus der Behauptung: „Mir ist kalt" all das eliminiere, was sich dabei um verborgene, nicht bewußt erfaßte, aber objektiv hinzuzudenkende Voraussetzungen handelt, dann entfällt jede Grundlage, die von mir erlebte Empfindung als Kälteempfindung zu qualifizieren. Analog gilt: Wenn ich meine Erlebnisse als Hungerempfindungen qualifiziere, so schließt das zwangsläufig eine Aussage über den Zustand meines Organismus ein, über physikalische, materielle Bedingungen und Prozesse, die diesen Zustand erzeugt haben, über physikalische, reale Handlungen, die auf reale, materielle Gegenstände gerichtet sind, mit denen dieser Zustand beseitigt werden kann. Jede Definition, die wir irgendeinem psychischen Prozeß geben, wenn wir ihn erkennen und bewußt erfassen, hat immer eine Bedeutung, die über die Grenzen der bloßen psychischen Gegebenheit hinausgeht. Innerhalb der Grenzen der isolierten, „reinen" Psyche oder des reinen Bewußtseins ist eine wirkliche Selbsterkenntnis ebensowenig realisierbar wie die psychologische Fremderkenntnis. In den Fällen, da die „Informationen" des Bewußtseins sich auf Gegenstände und Erscheinungen der Außenwelt beziehen, bestimmen wir die eigene Natur der Bewußtseinsphänomene mittelbar dadurch, wie sich in ihnen die Natur des Objekts widerspiegelt.

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Theorie

Bei der Selbstbeobachtung erreichen wir eine wirkliche Selbsterkenntnis durch Interpretation der psychischen Gegebenheiten, auf die sie gerichtet ist, auf Grund des realen Kontextes des Lebens und der Tätigkeit des Subjekts. Um das Wesen der Selbstbeobachtung wirklich zu erfassen, muß man auch berücksichtigen, daß bei der Selbstbeobachtung nicht nur Objekt, sondern auch Subjekt der Selbstbeobachtung nicht das „reine", isolierte Bewußtsein ist, in dem die Psyche wie in einem Spiegel abgebildet wird, sondern das Bewußtsein eines realen Individuums, das sich in seinem realen Sein äußert. Die realen Lebensbeziehungen, in die der einzelne in Wahrheit eingeordnet ist, und keinesfalls nur diejenigen, die in seinem Bewußtsein repräsentiert sind, bedingen, von welchen realen Standpunkten aus, also wie er sich bewußt erfaßt. Und weil das, was dem einzelnen nicht bewußt wird, auch nicht besonders berücksichtigt und vom übrigen abgehoben werden kann, überlagert es sich dem Gegebenen, wird darin einbezogen und tritt so ebenfalls als unmittelbar in Erscheinung: Die „unmittelbaren Gegebenheiten" der Selbstbeobachtung schließen immer auch eine nicht bewußt erfaßte Interpretation ein. Um sie bewußt zu erfassen, genügt es beileibe nicht, sich nur an die unmittelbaren Gegebenheiten der Selbstbeobachtung zu halten: Man muß vielmehr über sie hinausgehen und sich über ihre reale Bedingtheit durch die realen Lebensumstände klar werden. Daher stoßen auch Selbstbeobachtung und Selbsterkenntnis auf erhebliche Schwierigkeiten, zumindest wenn es um irgendwelche tiefgreifende, bedeutsame Erlebnisse der Persönlichkeit geht. Um die eigenen Erlebnisse objektiv zu erfassen, darf man nicht nur das registrieren, was unmittelbar in den Bewußtseinsphänomenen gegeben ist, sondern man muß auch mit offenen Augen die eigene reale Lebensposition betrachten, durch die diese Erlebnisse bedingt sind, und sich darüber ungeschminkte Rechenschaft ablegen. Das ist oft nicht nur eine Frage der intellektuellen, sondern auch eine der moralischen Ehrlichkeit und der moralischen Reife. Infolgedessen ist es in gewisser Hinsicht schwieriger, sich selbst als einen anderen richtig zu erkennen. Die Informationen des Bewußtseins und die „unmittelbaren Gegebenheiten" der Erlebnisse müssen, wenn man sie richtig erkennen will, ebenso interpretiert werden wie der Text einer Rede. Um eine Rede nicht als Gegenstand grammatikalischer Übungen, sondern als Lebenstatsache in ihrer wirklichen Bedeutung zu verstehen, um also den Redner zu verstehen und nicht nur den formalen Text seiner Rede, muß man hinter dem Text den „Subtext" entziffern, indem man nicht nur feststellt, was der Mensch formal gesagt hat, sondern auch, was er sagen wollte oder zu sagen beabsichtigte, also Motiv und Ziel seiner Rede, die ihren inneren Sinn bestimmen. Dazu muß man notwendigerweise die objektiven Umstände der Situation berücksichtigen, in der sie gehalten wird. So macht man es f ü r gewöhnlich auch, wenn man im täglichen Leben den Sinn einer Rede entschlüsseln soll, mag es sich dabei um ein diplomatisches Dokument oder um die Äußerung eines anderen handeln, die f ü r uns von lebenswichtiger Bedeutung ist. Ebenso entschlüsseln wir auch den wahren Sinn der Erlebnisse eines Menschen, der Erscheinungen seines Bewußtseins. Wie die Ideologie, der Inhalt des gesellschaftlichen Bewußtseins, real durch den historischen Verlauf der gesellschaftlichen Entwicklung bedingt ist, so ist auch analog die Psychologie, der Inhalt des individuellen Bewußtseins, durch den realen Lebens-

Uber die psychologische Erkenntnis

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prozeß des Individuums bedingt. Untersuchen wir also die Psychologie eines Individuums und wollen wir sie wirklich wissenschaftlich erkennen, dann müssen wir die Bedingtheit des Bewußtseins des Individuums durch seine realen Lebensbedingungen aufhellen und somit über die Grenzen seines Bewußtseins hinausgehen, ebenso wie wir, wenn wir die Ideologie einer bestimmten Gesellschaft oder Klasse untersuchen und sie wissenschaftlich erkennen und erklären wollen, ihre Bedingtheit durch den Verlauf der gesellschaftlichen Entwicklung, die diese Ideologie erzeugt hat, aufhellen und damit ebenfalls die Grenzen der Ideologie überschreiten müssen. In der mangelnden Einsicht in diesen Satz liegt der Hauptirrtum der introspektiven Psychologie begründet, der jenem Irrtum analog ist, in dem sich der Vertreter einer bestimmten Ideologie befindet, der nicht die Bedingtheit dieser Ideologie durch die realen gesellschaftlichen Bedingungen einsieht, die diese Ideologie erzeugt haben. Die Ergebnisse der Selbstbeobachtung enthalten ihrem Wesen nach eine Beziehung (die nicht immer bewußt erfaßt wird) zu den objektiven materiellen Lebensumständen und zur Tätigkeit des Menschen, die über die Grenzen des „reinen" Bewußtseins hinausgehen, beziehen sich auf sie und enthalten in latenter Form Behauptungen über das Verhalten des Subjekts. Beispielsweise enthält die Behauptung, ich verspürte Vaterlandsliebe oder Liebe zu einem anderen Menschen, in latenter Form auch eine Behauptung über mein Verhalten unter bestimmten Bedingungen, und an Hand meines Verhaltens wird sie im kritischen Augenblick auch auf ihren Wahrheitsgehalt überprüft. Daher beleuchtet auch eine bestimmte Verhaltensweise manchmal unsere eigenen Erlebnisse auf ganz neue Art und zeigt sie uns in ganz unerwarteter Sicht. Auf Grund einer bestimmten Verhaltensweise werden wir uns manchmal des Gefühls, das diese Verhaltensweise bewirkt hat, viel umfassender und richtiger bewußt. Dadurch, daß der Mensch sich im Handeln offenbart, erkennt er sich besser, als wenn er sich nur auf die Selbstbetrachtung beschränkt. Der Mensch erkennt auch sich selbst mittelbar, widerspiegelt über andere, indem er in seinem Tun und Lassen seine Einstellung zu anderen und deren Einstellung zu sich selbst enthüllt. Mögen unsere eigenen Erlebnisse auch noch so unmittelbar sein, wir erkennen und erfassen sie doch nur mittelbar, nämlich über ihre Beziehung zur objektiven Welt. Ein Erlebnis bewußt erfassen heißt also immer und zwangsläufig, es nicht in die Innenwelt einschließen, sondern es auf andere Menschen, auf die objektive materielle Außenwelt beziehen, die seine Grundlage und Quelle ist. Gegen die Vorstellung von der unmittelbaren Zuverlässigkeit der Selbstbeobachtung sprechen schon recht überzeugend allgemein bekannte Tatsachen aus dem Alltag: Wie ein Mensch in Wirklichkeit ist und wie er zu sein glaubt, deckt sich bekanntlich bei weitem nicht immer. Zwischen der Vorstellung eines Menschen von sich selbst und seinem wahren Wesen liegt nur allzuoft eine riesige Distanz. Die eigene Version eines Menschen über sich selbst ist bei weitem nicht immer die zuverlässigste. Die gegenständliche Bedeutung und der reale Sinn der Daten der Selbstbeobachtung beziehen sich auf die Realität, die über die Grenzen der Bewußtseinserscheinungen hinausgeht. Auch für die Informationen der Selbstbeobachtung gibt es daher Kontrollinstanzen in der objektiven Realität, von denen ihre Zuverlässigkeit bestimmt und überprüft wird. Sie können nicht jene besondere, absolute Zuverlässigkeit bean10

Prinzipien und W e g e

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spruchen, die ihnen der Introspektionist zuzuschreiben geneigt ist, der da annimmt, daß bei der Selbstbeobachtung Objekt und Subjekt der Erkenntnis unmittelbar zusammenfallen, daß also in den Informationen der Selbstbeobachtung als Gegebenes das zu erkennende Objekt in seiner echten Unmittelbarkeit auftritt. Sogar für die Daten der Selbstbeobachtung ist die Gleichung von Berkeley „esse est percipi", zu deutsch: „Sein heißt wahrgenommen sein", die das Sein auf die Bewußtseinsphänomene reduziert, unhaltbar. „Erscheinung" und „Wesen" sind auch in der Psychologie nicht deckungsgleich. Insofern die Informationen der Selbstbeobachtung eine Interpretation ihrer Daten enthalten, ergibt sich für den Forscher, der sich die Informationen der Selbstbeobachtung seiner Versuchsperson dienlich macht, zwangsläufig die Aufgabe, diese Interpretation zu überprüfen. Die Informationen der Selbstbeobachtung der Versuchsperson können vom Forscher nicht als Lösung der vor ihm stehenden Erkenntnisaufgabe angesehen werden, sondern nur als Indikator f ü r das, was mit der Versuchsperson geschieht, als Material, das einer Analyse bedarf. Die psychologische Erkenntnis auf den Informationen der Selbstbeobachtung aufbauen und von der Versuchsperson verlangen, sie solle feststellen, wie ein bestimmter Prozeß bei ihr abläuft, heißt im Grunde, der Versuchsperson die Forschungsaufgabe übertragen und den Forscher selbst auf die Rolle des Registrators oder Protokollanten beschränken. Die psychologische Forschung in dieser Weise auf die Selbstbeobachtung aufbauen heißt, auf die Forschung verzichten. Wenn also auch die Selbsterkenntnis und Selbstbeobachtung im Prinzip möglich und im Leben auch gang und gäbe sind, so ist es dennoch ungerechtfertigt, die Informationen aus der Selbstbeobachtung der Versuchsperson als Antwort auf die zu erforschende Frage aufzufassen und in der psychologischen Forschung die Methode der Selbstbeobachtung so anzuwenden, wie es die introspektive Psychologie tat. Der Fehler der unkritischen Übernahme der Ergebnisse der Selbstbeobachtung der Versuchspersonen durch den Forscher besteht vor allem in dem spezifischen Wechsel der Funktionen, kurz gesagt darin, daß der Forscher dabei seine Funktionen der Versuchsperson anvertraut und selbst zum Protokollanten wird, der Befunde registriert, die nicht Ergebnisse seiner Untersuchung sind. Die Informationen der Selbstbeobachtung der Versuchspersonen, die sich ja keine Forschungsziele stecken, genügen zumeist nicht den Forderungen, die an eine wirklich wissenschaftliche Beobachtung zu stellen sind, und enthalten keine zureichende Analyse der Beobachtungsdaten, die auf ihrem allseitigen Vergleich beruht. Die Aussagen des Subjekts — die Informationen seiner Selbstbeobachtung — dürfen nicht als Gesamtheit von Sätzen genommen werden, die die fertige Wahrheit über das Subjekt enthalten, sondern müssen als mehr oder weniger symptomatische Äußerungen angesehen werden, deren wahres Wesen vom Forscher durch Vergleich mit entsprechenden objektiven Befunden aufzuklären bleibt. Eine objektive Analyse der Aussagen der Versuchsperson führt nicht selten zu Ergebnissen, die sich von ihrem unmittelbaren Inhalt erheblich unterscheiden oder ihm sogar diametral entgegenstehen. Die sogenannten unmittelbaren Gegebenheiten des Bewußtseins sind immer objektiv vermittelt. Die ganze Frage besteht nur darin, ob diese Vermittlung bewußt erfaßt

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wird oder nicht. Psychologische Erkenntnis durch Auswertung von Befunden der Selbstbeobachtung ist nur zu gewinnen, wenn diese Vermittlung bewußt erfaßt wird; das gilt auch für die Selbsterkenntnis. Selbstbeobachtung führt nur insoweit zur Selbsterkenntnis, als sie, von den unmittelbaren Gegebenheiten des Bewußtseins ausgehend, auf den realen Kontext des Lebens und der Tätigkeit des einzelnen gerichtet wird, der den wirklichen Sinn, den objektiven Inhalt der Informationen der Selbstbeobachtung und des Selbstbewußtseins bestimmt. Bei der Arbeit mit Versuchspersonen, bei Explorationen usw. muß man das notwendigerweise einkalkulieren. Was man von der Versuchsperson selbst in dieser Hinsicht erfahren kann, ist durchaus nicht das Zuverlässigste, und sich unmittelbar an sie zu wenden ist nicht der kürzeste Weg zur Lösung psychologischer Probleme. Wenn etwa ermittelt werden soll, wie jemand die Bedeutung eines Wortes auffaßt, wie er den Inhalt eines Terminus klärt, welche Rolle dabei die gegenständliche Bezogenheit des Wortes, der begriffliche oder wörtliche Kontext usw. spielt, dann gibt es zur objektiven Lösung dieser Frage eigentlich nur einen aussichtsreichen Weg: die Arbeit mit der Versuchsperson so anzulegen, daß sie im Verlauf der Untersuchung mit dem Wort operieren muß (und zwar unter Bedingungen, die in den Faktoren variieren, deren Rolle bei der Aufdeckung des semantischen Gehalts zu klären ist). Bei diesem Operieren kann der Forscher objektiv feststellen, wie der entsprechende Prozeß verläuft. Das Bild, das sich während des Prozesses oder durch ihn ergibt, kann auch für die Versuchsperson unerwartet sein, so daß diese selbst auch mittelbar, nämlich an Hand der Tatsache, wie sie unter bestimmten objektiven Bedingungen mit dem Wort operiert, erfährt, welche Bedeutung dieses Wort in Wahrheit für sie hat. Die Selbstbeobachtung ist als Form der psychologischen Erkenntnis kein absoluter äußerer Gegenpol zur objektiven psychologischen Fremdbeobachtung. Die Informationen der Selbstbeobachtung darf man nicht als Ergebnis der psychologischen Selbsterkenntnis hinnehmen, in denen die Versuchspersonen etwas über sich selbst berichten, sondern als Äußerungen, in denen sie sich enthüllen und die insofern als Indikatoren oder Ausgangsbefunde für die psychologische Erkenntnis seitens des Forschers dienen können. Selbsterkenntnis und Selbstbewußtheit, also die Fähigkeit, sich Rechenschaft über das eigene Verhalten und die eigenen Motive ablegen zu können, dienen der Selbstkontrolle, die der bewußte Mensch ausübt, wobei er von den gesellschaftlich entwickelten moralischen Normen ausgeht. Welche Schlußfolgerungen ergeben sich aus dieser Auffassung vom Wesen der Selbstbeobachtung für die Beurteilung ihrer Rolle im Leben des Subjekts als Weg zur Selbsterkenntnis und als Voraussetzung der Selbstkontrolle? Will man diese Frage beantworten, dann muß man vor allem berücksichtigen, daß es um die Selbstkontrolle im Grunde ebenso steht wie um die Selbsterkenntnis: Sie erfolgt nur unmittelbar. Tiefgreifende affektive Erlebnisse, Gefühle und Leidenschaften, die als Motive des Verhaltens der Kontrolle unterliegen, sind am wenigsten der unmittelbaren Einwirkung zugänglich: Auf Befehl - schon gar nicht auf fremden, aber auch nicht auf eigenen — wird man niemals und nichts lieben oder zu lieben aufhören; durch direkte Einwirkung ist da nichts zu erreichen. Das heißt ntürlich nicht, daß die Selbstkontrolle unmöglich ist. Es gibt sie tatsächlich, nur wird sie anders aus10*

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geübt: nicht direkt und unmittelbar, sondern mittelbar. Man kann sich nicht befehlen, daß ein bestimmtes Gefühl auftreten soll, und kann es auch nicht auf Aufforderung hin direkt hervorrufen, aber man kann, ohne sich direkt das Ziel zu stellen, das entsprechende Gefühl hervorzurufen, bewußt sein Leben so einrichten, daß man es auf ganz andere, objektive Ziele richtet, so daß die entsprechenden Gefühle unwillkürlich, ganz natürlich entstehen, so daß sie also, ohne direktes Ziel des Handelns zu sein, dennoch zum notwendigen Resultat der Lebensweise werden. Um die Motive des Handelns, auch die nicht bewußten, einer mehr oder weniger wirksamen bewußten Kontrolle zu unterwerfen, muß man sich nicht diese Motive bewußt machen, nicht diese affektiven Erlebnisse, die als Motive wirken, sondern neue bedeutsame Ziele und Aufgaben. Dadurch, daß man praktisch an ihre Lösung herangeht, formt und verändert man seine Motive. Manchmal beteiligt sich jemand an irgendeiner gesellschaftlichen Angelegenheit zunächst unter dem Einfluß zufälliger, situationsbedingter Motive, ohne bewußte Einstellung und Einsicht in die Bedeutung der Angelegenheit, und im Endergebnis wird sie dann zu seiner eigenen, persönlichen, den Kern seines Wesens berührenden Angelegenheit. Es bildet sich bei ihm die entsprechende Einstellung zur gesellschaftlichen Sache heraus: Durch das Handeln entstehen beim Menschen die entsprechenden Motive für diese Verhaltensweise. So erfolgt über das bewußte Erfassen der Aufgaben und Ziele eine wirksame Kontrolle auch der unbewußten Motive. Im Zusammenhang mit dem Problem der Selbstkontrolle sagt man oft, der Mensch müsse bewußt an sich arbeiten. Das ist natürlich in dem Sinne richtig, daß zur Formung eines Menschen hartnäckige und zielstrebige Mühe seinerseits notwendig ist. Aber in welchem Sinne soll das Arbeit an sich selbst sein? Die eigentliche Arbeit an sich selbst, also eine Arbeit, deren unmittelbares Ziel die Ausbildung bestimmter Eigenschaften an einem selbst ist, kann nur dann zum Ziel führen, wenn man sich einem Werk, einer Tätigkeit anschließt, die unmittelbar auf die Lösung lebenswichtiger Aufgaben abzielt. Die ersten und wichtigsten Grundlagen für die Ausbildung von Willens- und Charaktereigenschaften schafft man nicht durch Training, also nicht durch eine Tätigkeit, deren einziges und unmittelbares Ziel darin besteht, bei sich selbst die entsprechenden Eigenschaften auszuarbeiten. Durch ein solches Training kann man zwar gegebenenfalls einiges erreichen, aber ihren letzten Schliff müssen die trainierten Eigenschaften dennoch in einer Tätigkeit bekommen, die ernsthaft auf die Lösung lebenswichtiger Aufgaben gerichtet ist, nicht aber in diesem absichtlichen Training. In einer solchen Tätigkeit werden im Grunde Willens- und Charaktereigenschaften ausgebildet, und zwar lassen sie sich am besten in einer Tätigkeit entwickeln, in der sie, ohne direktes und beabsichtigtes Ziel des Subjekts zu sein, als Resultat dieser Tätigkeit in Erscheinung treten. Wer sich die Selbstvervollkommnung zum unmittelbaren Ziel seines Mühens und Handelns macht, der dürfte dieses Ziel zumeist kaum erreichen. Am fruchtbarsten erweist sich in dieser Hinsicht eine Arbeit, der man sich im buchstäblichen Sinne des Wortes selbstvergessen hingibt. Der Mensch muß zur Selbst Vervollkommnung gelangen; sein Streben darf aber nicht vor allem darauf gerichtet sein, selbst ein guter Mensch zu werden, sondern muß darauf abzielen, etwas objektiv Gutes im Leben zu tun. Dadurch nämlich vervollkommnet er sich wirklich, nicht aber dadurch, daß er sich mit sich selbst beschäftigt. So wird die Selbstvervollkommnung zum natürlichen Resultat seines Lebens und seiner Tätigkeit. Eigener Arbeit bedarf es natürlich auch zur Ausbildung der eigenen Fähigkeiten. Von den Anlagen ausgehend, die die Fähigkeiten bedingen, aber nicht prädeterminieren, werden sie in

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der Tätigkeit geformt und ausgeprägt. Indem der Mensch sich durch sein Schaffen den Weg zu neuen Erfolgen bahnt, entwickelt er gleichzeitig neue Methoden des Handelns, schmiedet er sich gleichsam das Rüstzeug für seine Tätigkeit, formt er seine Fähigkeiten. Diese Formung der Fähigkeiten beruht im Grunde nicht auf dem Training mit dem unmittelbaren Ziel, die entsprechenden Fähigkeiten zu entwickeln, sondern auf der Tätigkeit, die ernsthaft auf die Lösung objektiv bedeutsamer Aufgaben gerichtet ist. Die Entwicklung der Fähigkeiten im Verlauf dieser Tätigkeit ist ihr natürliches Resultat, ohne das unmittelbare Ziel des Handelns zu sein. Wenn man sich eine bestimmte Richtung der Betätigung wählt, muß man natürlich auch seine Fähigkeiten berücksichtigen, aber man erkennt seine Fähigkeiten nur dadurch, daß man sie in der Tätigkeit erprobt, in der sie auch hervorgerufen und entwickelt werden. Soweit Selbsterkenntnis Erkenntnis der eigenen Fähigkeiten ist, kann sie schon auf gar keinen Fall Selbstbetrachtung und unmittelbare Erfassung der inneren Eigenschaften sein. Sie ist nur mittelbar durch Ermittlung der Fähigkeiten in der Tätigkeit möglich. Das heißt nun aber keineswegs, daß man die Ausbildung der gewünschten Eigenschaften eines Menschen dem Selbstlauf überlassen kann. Das schmälert die Rolle der Bewußtheit nicht im geringsten und enthebt uns auch nicht der Notwendigkeit der Selbsterkenntnis zum Zwecke der Selbstkontrolle. Echte Bewußtheit besteht vor allem darin, das zu erfassen, was im Leben objektiv bedeutsam ist, und das individuell Bedeutsame mit dem objektiv Bedeutsamen in Einklang zu bringen. Das bewußte Erfassen ist für die Selbstkontrolle unumgänglich, aber was bewußt erfaßt werden muß, das ist hier die Frage. Es gibt Situationen, in denen man sich über seine Gefühle klar werden und sich über sie konsequent Rechenschaft ablegen muß, ohne Ausflüchte, Vorbehalte und Beschönigungen. Aber dennoch sind das Bewußtsein der Aufgaben und Ziele des Lebens und der Tätigkeit, vor allem der lebenswichtigen Aufgaben, und die Gewinnung der richtigen Einstellung zu ihnen wesentlicher als alle Konzentration auf die restlose Aufhellung jeder flüchtigen, unterbewußten Spur eines Erlebens. Die wirkliche Kontrolle über die unbewußten Motive erfolgt durch bewußtes Erfassen der Ziele der Tätigkeit, an der man teilnimmt. Das Unbewußte wird somit über das bewußt Gefaßte kontrolliert, ohne selbst bewußt erfaßt zu werden. Zur wirklichen Selbsterkenntnis, wie sie für die Selbstkontrolle notwendig ist, gelangt der Mensch am ehesten und besten, wenn er handelt und sich in kritischen Lebenssituationen überprüft, statt sich auf die bloße Selbstbetrachtung zu konzentrieren. Je mehr er sich bei seiner Erkenntnis und Betrachtung auf das objektiv Bedeutsame in der Welt konzentriert, zu einem um so reicheren, wertvolleren und würdigeren Erkenntnisobjekt wird der innere Gehalt seines Lebens. Je mehr man sich dagegen auf die bloße Selbsterkenntnis konzentriert, auf sich selbst, um so mehr verliert man an Profil und verkümmert, und um so mehr verliert man als Objekt der Erkenntnis und Selbsterkenntnis an Bedeutung. Am meisten gewinnt derjenige aus der Selbsterkenntnis, der sich am wenigsten unmittelbar und ausschließlich mit ihr befaßt. Die Analyse der Bedingungen für die gerechtfertigte Auswertung von Informationen der Selbstbeobachtung führt zwangsläufig über die Grenzen der eigentlichen Selbstbeobachtung hinaus zur Frage nach der Auswertung von Bewußtseinsdaten über ein vom Bewußtsein verschiedenes Objekt in der psychologischen Erkenntnis. Der Hauptweg der psychologischen Erkenntnis besteht darin, zu untersuchen, wie sich ein Subjekt in seiner Beziehung zur Umwelt zeigt. Wie sich ihm die objektive Umwelt darbietet und wie er sich praktisch zu ihr verhält, das ist der Ausgangspunkt für die mittelbare psychologische Erkenntnis seiner selbst. Der Forscher ermittelt das wahre Wesen der psychischen Gebilde an Hand der Tatsache, wie sie in der prak-

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tischen und theoretischen Tätigkeit funktionieren, und verläßt sich nicht darauf, wie sie unmittelbar vom Subjekt erlebt werden oder sich ihm darbieten. Im Bereich der konkreteren Forschungsmethodik bedeutet das die Notwendigkeit, eine Untersuchung, die auf der Auswertung von Bewußtseinsdaten fußt, so anzusetzen, daß die Versuchsperson im Laufe der Untersuchung (der Exploration) sich nicht hauptsächlich über sich selbst ausläßt, sondern sich dadurch enthüllt, daß sie sich über andere Menschen oder Gegenstände äußert, zu denen ihre eigene Einstellung bezeichnend und unter dem Gesichtspunkt der Forschungsaufgabe wesentlich ist. Speziell sagen uns die Urteile eines Menschen über andere häufig weitaus mehr und erheblich Wahreres über ihn selbst (sie enthüllen ihn und verraten ihn sogar manchmal) als seine Angaben über sich selbst, die nur zeigen, wie er sich selbst sieht, oder manchmal auch nur, wie er von anderen gesehen werden möchte. Sie lassen aber durchaus nicht notwendigerweise erkennen, wie er in Wahrheit ist. Auch dort, wo wir es mit Aussagen einer Versuchsperson über sich selbst zu tun haben, müssen wir sie als bloße Äußerung auffassen, nicht aber als zuverlässige Aussage, d. h. wir dürfen sie nicht in ihrem unmittelbaren Inhalt f ü r bare Münze nehmen, sondern müssen sie als Symptome interpretieren, als Äußerungen eines Menschen, deren wahrer Sinn sich aus dem objektiven Kontext seines Lebens und seiner Tätigkeit ergibt. Wir erkennen die Psyche eines Subjekts mittelbar, indem wir feststellen, wie es die Welt erkennt und sich zu ihr verhält, und zwar so, daß wir seine Erlebnisse mit der realen Situation konfrontieren, mit den objektiven Umständen, unter denen er sich befindet. Die Fragestellung der psychologischen Forschung braucht also die gegenständliche Bezogenheit durchaus nicht zu eliminieren, wie es die Introspektionisten (Titchener) fordern, die die gegenständliche Bezogenheit als Fehler ansehen (als sogenannten stimulus-error), durch den die Untersuchung zwangsläufig aus dem Psychologischen ins Unspychologische abgleitet. In Wahrheit aber liefert die Antwort auf die Frage, wie ein bestimmter Gegenstand beschaffen sei (Größe, Form, Farbe usw.), nicht unbrauchbareres, sondern brauchbareres Material für die mittelbare, auf dem Vergleich mit einer ganzen Reihe objektiver Befunde basierenden Erfassung der Empfindungen des entsprechenden Subjekts als seine unmittelbare Antwort auf die Frage, von welcher Art die Empfindungen seien, die er bei der Exposition dieses Gegenstandes verspüre. Die Antwort auf die erste Frage läßt alle real an der Erkenntnis des betreffenden Gegenstandes beteiligten Empfindungen erkennen; dagegen enthüllt die Antwort auf die zweite Frage nicht notwendig alle Empfindungen, die tatsächlich an der Erkenntnis des Gegenstandes beteiligt sind, sondern nur diejenigen, die durch die sekundäre, auf sie gerichtete Reflexion des Subjekts zu Bewußtsein kommen, und zwar in der Form, in der sie ihm zu Bewußtsein gekommen sind oder sich ihm dargestellt haben. Das schließt zwar nicht aus, daß es möglich und in gewissen Fällen zweckmäßig ist, der Versuchsperson auch eine Frage zu stellen, die unmittelbar auf die von ihr erlebten Empfindungen abzielt, aber damit wird doch die Ansicht widerlegt, daß nur eine solche Frage zur spezifisch psychologischen Erkenntnis führe. Insofern es im Interesse der psychologischen Forschung oft wünschenswert ist, die Versuchsperson in eine Situation zu versetzen, in der sie sich nicht unmittelbar über sich äußert, sondern sich in ihrer Beziehung zur Umwelt enthüllt, muß die Untersu-

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chung (Exploration) — auf jeden Fall bei komplizierten psychischen Prozessen und Persönlichkeitseigenschaften - so angesetzt werden, daß die Tätigkeit der Versuchsperson im Laufe der Untersuchung für sie ein sinnvolles Ziel bekommt. Dadurch wird die betreffende Person von der Rolle einer bloßen Versuchsperson befreit, die durch ihre Tätigkeit im Experiment keinerlei Aufgaben löst, die sie selbst etwas angingen. Um in der Versuchssituation nicht Erscheinungen zu beobachten, die durch die Versuchssituation künstlich erzeugt werden („Artefakte") und die Erscheinungen des wirklichen Lebens nur wie durch einen Zerrspiegel wiedergeben, muß man bei einer psychologischen Untersuchung in der Versuchsperson lebensechte Motive für die Tätigkeit wecken, die sie zu leisten hat. Unterläßt der Forscher das, dann unterstellt die Versuchsperson ihrer Tätigkeit zwangsläufig selbst eine bestimmte Aufgabe, die aus den Motiven entspringt, die sie veranlaßt haben, sich für das Experiment zur Verfügung zu stellen. Letzten Endes hat die Aufgabe dann für die Versuchsperson einen anderen Sinn als der Forscher ihr zuschreibt. Wenn der Forscher mit den Antworten der Versuchsperson operiert, ohne den inneren Gehalt der Aufgabe zu berücksichtigen, dann riskiert er immer, sie falsch zu interpretieren. Die Tätigkeit des Individuums im Laufe des Versuchs (soweit dieser eine Kommunikation mit dem Versuchsleiter voraussetzt) ist offensichtlich dann besonders lebensnah und intensiv motiviert, wenn das Tun des Versuchsleiters im Verlaufe des Experiments, der Exploration usw. für die Versuchsperson einen bestimmten lebensnahen Sinn hat, der sich nicht einfach darauf reduziert, daß der Gesprächspartner sie studiert oder untersucht. Um die Versuchsperson aus der Situation der direkten Aussagen über sich selbst hinauszubringen, muß der Untersucher aus der Stellung des Ausfragers in die Stellung des Mitarbeiters übergehen, der mit der Versuchsperson zusammen an der Lösung einer gemeinsamen Aufgabe arbeitet. Die psychologische Erkenntnis muß sich dort, wo es sich um tiefgreifende Persönlichkeitserlebnisse und Eigenschaften des Individuums handelt, als Resultat einer Tätigkeit ergeben, deren unmittelbares Ziel eine lebensechte Aufgabe ist, die über den Rahmen der Aufgabe hinausgeht, Untersuchungsobjekt zu sein. Am besten lassen sich diese Bedingungen offensichtlich dann realisieren, wenn die psychologische Erkenntnis im Laufe einer Tätigkeit eintritt, deren unmittelbares Ziel darin besteht, der Versuchsperson bei der Beseitigung von Schwierigkeiten und bei der Befriedigung von Bedürfnissen behilflich zu sein, die durch ihren realen Lebensweg bedingt und nicht einfach künstlich in der Versuchssituation geschaffen worden sind. Besonders gründlich kann man einen Menschen daher in seinen komplizierten ganzheitlichen Eigenschaften und Erlebnissen etwa bei der Erziehungsarbeit erkennen. Besonders tiefgehende und wahrhaft durchdringende psychologische Erkenntnis ließe sich zweifellos in der Tätigkeit eines Menschen gewinnen, der für die Versuchsperson — seinen Partner — sokratische Hebamme ihrer gerade entstehenden Gedanken wäre, Arzt ihrer seelischen Leiden, Führender bei der Lösung von Lebenskonflikten und Helfer bei der Überwindung von Schwierigkeiten, über die sie gestrauchelt ist. Wenn wir uns nunmehr der sogenannten objektiven, äußeren Verhaltensbeobachtung zuwenden, dann wird man sich unschwer davon überzeugen können, daß sie in der Psychologie nicht allein auf die äußere Seite des Verhaltens gerichtet sein kann

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und daß es keinerlei Bruch zwischen der psychologischen Untersuchung, die von Informationen des Bewußtseins oder gar der Selbsterkenntnis (Selbstbeobachtung) ausgeht, und der psychologischen Untersuchung des Verhaltens gibt oder geben kann. Grundlegend und entscheidend f ü r die Einsicht in das Wesen der objektiven Beobachtung als Methode der psychologischen Erkenntnis ist die richtige Definition des Gegenstandes der objektiven psychologischen Beobachtung im Unterschied zu ihrem bloßen Ausgangs materiell. Die Vertreter der sogenannten objektiven Beobachtung aus dem Lager der Verhaltenspsychologie haben die äußere, objektive Beobachtung jeglicher Zuwendung zum inneren psychologischen Inhalt gegenübergestellt und die Außenseite des Verhaltens zum Gegenstand der objektiven Beobachtung erklärt. In Wahrheit aber ist die Außenseite des Verhaltens nur der Ausgangspunkt, von dem die objektive psychologische Beobachtung ausgeht; gerichtet ist sie aber auf seinen inneren psychologischen Gehalt. Nicht von ungefähr konnten auch die extremsten Vertreter der Verhaltenspsychologie, die in ihrer Theorie das Psychische radikal eliminierten (wie etwa Watson), bei der Beschreibung des Verhaltens und der Bewegungen der Versuchspersonen nicht umhin, Termini wie „er versuchte", „er vermied" u. ä. zu verwenden, die bereits eine gewisse psychologische Interpretation des Handelns enthalten. Tatsächlich braucht man j a aus einer Verhaltensbeschreibung nur die Termini mit psychologischem Inhalt zu eliminieren, und sie wird zur Registrierung der Ortsveränderung oder Bewegung eines physikalischen Körpers. Das Verhalten schließt den psychologischen Inhalt als notwendige Komponente mit ein. Die wahre Grundlage der objektiven psychologischen Erkenntnis ist das fundamentale Faktum, daß die psychischen Erscheinungen, die die Wirklichkeit widerspiegeln, zugleich als Regulator der menschlichen Handlungen dienen, also Steuerungsfunktion haben. Eben darin besteht der Zusammenhang, der die psychischen Erscheinungen und die Äußerungen des Menschen verbindet. Eben darauf beruht auch die Methode der objektiven wissenschaftlichen Erkenntnis der psychischen Erscheinungen. Hauptmethode der objektiven wissenschaftlichen psychologischen Erkenntnis ist die Erkenntnis der psychischen Erscheinungen über die Bewegungen, Handlungen und Verhaltensweisen, generell über die Äußerungen des Menschen, die von diesen psychischen Erscheinungen gesteuert werden. Diese generelle Methode tritt bei konkreten psychologischen Untersuchungen in mannigfaltigen Formen auf, je nach der Art der zu untersuchenden psychischen Erscheinungen. Freilich bestimmt die äußere Seite des Verhaltens, f ü r sich genommen, nicht eindeutig den psychologischen Inhalt. Die Notwendigkeit, das zu berücksichtigen, wird f ü r den Forscher auf Schritt und Tritt und auf den verschiedensten Gebieten deutlich. So handelt es sich bei der Verwendung von Stöcken, Besen, Handfegern und ähnlichen „Werkzeugen" durch Affen rein äußerlich gesehen um Akte, die den entsprechenden Handlungen des Menschen durchaus analog sind. Die Analyse der inneren, psychologischen Seite läßt jedoch einen tiefgehenden, grundlegenden qualitativen Unterschied der äußerlich scheinbar gleichartigen Handlungen von Affe und Mensch erkennen. Die Ermittlung des inneren psychologischen Wesens einer Verhaltensweise ist bei

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jeder genetischen Untersuchung unumgänglich, die das wahre Wesen äußerlich scheinbar analoger, dem inneren Wesen nach aber verschiedener Verhaltensweisen von Kindern auf verschiedenen Entwicklungsstufen klären will. Die Mehrdeutigkeit äußerlich scheinbar identischer Verhaltensweisen, die aus Unterschieden des psychologischen Inhalts herrührt, muß man stets berücksichtigen, wenn man den Charakter eines Menschen nach seinem Verhalten beurteilen will. Äußerlich gleichartige und scheinbar identische Verhaltensweisen können ganz unterschiedlichen Motiven entspringen und ganz verschiedenartige Charakterzüge oder Einstellungen des Menschen ausdrücken, ebenso wie äußerlich verschiedene und scheinbar sogar konträre Verhaltensweisen sich im Hinblick auf die konkreten Bedingungen in verschiedenen Situationen als Ausdruck ein und derselben Eigenschaften und Einstellungen der Persönlichkeit erweisen können. Um das wirkliche Wesen einer Verhaltensweise beurteilen zu können, muß man ihre Motive, ihren inneren psychologischen Gehalt ermitteln. Manchmal genügt eine scheinbar belanglose Verschiebung in der durch die Handlung zu lösenden Aufgabe, und schon bekommt eine äußerlich gleichbleibende Handlung einen anderen psychologischen Sinn; und damit verändert sich auch ihr Verlauf. „Zwei nicht miteinander vergleichbare psychologische Zustände", schreibt M. A. Tschechow in seinen Erinnerungen, „erlebt ein Mensch, wenn er etwas nur vormacht, oder wenn er es selbst tut. Ein Mensch, der etwas vormacht, hat eine gewisse Sicherheit und Leichtigkeit und es fehlt ihm die Verantwortlichkeit, die derjenige trägt, der etwas selbst macht. Deshalb ist es immer leichter, etwas vorzumachen, als es selbst zu tun, und das Vormachen gelingt fast immer. J. B. Wachtangow beherrschte die Psychologie des Vormachens zur Vollkommenheit. Eines Tages, als er mit mir Billard spielte, demonstrierte er mir seine verblüffende Fähigkeit. Wir spielten beide nicht besonders gut und brachten unsere Bälle nur recht selten in die Löcher. Da sagte Wachtangow plötzlich: „Jetzt werde ich dir einmal zeigen, wie man Billard spielen muß!" und nachdem er seine Psychologie umgestellt hatte, brachte er mit Eleganz und Meisterschaft drei oder vier Bälle nacheinander in die Löcher. Dann brach er das Experiment ab und setzte das Spiel wie vorher fort, so daß die Bälle nur noch selten ins Ziel kamen." 75 Im Leben kann man sich auf Schritt und Tritt davon überzeugen, wie vieldeutig das Verhalten der Menschen ist, genauer, seine Außenseite, und welch weites Feld der isoliert genommene Verhaltensakt f ü r alle möglichen Interpretationen läßt. Wenn wir im Alltag mit Menschen umgehen, orientieren wir uns in ihrem Verhalten, indem wir es „lesen", d. h., indem wir die Bedeutung der äußeren Gegebenheiten entschlüsseln und den Sinn des so gewonnenen Textes in einem Kontext ermitteln, der seinen inneren psychologischen P l a n hat. Dieses „Lesen" geht fließend vor sich, da wir im Umgang mit unserer Umgebung einen bestimmten, mehr oder weniger automatisch funktionierenden Subtext zu ihrem Verhalten entwickeln. In gewöhnlichen, mehr oder weniger trivialen Lebenssituationen, in denen wir darüber hinaus auch nicht besonders daran interessiert sind, in den wahren Sinn des Verhaltens der uns umgebenden Men75

M. A. Tschechow, Der Weg eines Schauspielers. Moskau 1928, S. 90 f. (russ.). In diesem Falle kam es nur zu einer kleinen Verschiebung in der Aufgabe, die durch äußerlich ein und dieselbe Handlung gelöst wird, und schon wirkte sich das ganz augenfällig aus. Manchmal kann eine Veränderung der Aufgabe, die in verschiedenen Fällen äußerlich durch ein und dieselbe Handlung gelöst wird, das Wesen der Verhaltensweisen radikal ändern.

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sehen recht tief einzudringen und ihre wahren Motive und Ziele genau zu erfassen, wird der Prozeß der Interpretation ihres Verhaltens, der seinen psychologischen Gehalt aufdeckt, nicht speziell ausgesondert. Es braucht uns aber nur ein unerwartetes Verhalten eines uns nicht gleichgültigen Menschen zu begegnen, dann stellen wir uns unwillkürlich die Frage, was es wohl bedeuten könnte, daß der entsprechende sich so verhält: Weshalb er nicht zur vereinbarten Zeit erschienen ist, als wir ihn erwarteten, weshalb er irgendwo hingegangen ist, wo er eigentlich nicht hingehen sollte usw. Die Frage nach der psychologischen Qualifizierung der Verhaltensweise hebt sich in diesem Falle eindeutig von der einfachen Registrierung seiner Außenseite ab. Um diese Frage nach dem inneren psychologischen Gehalt, nach den Motiven des Verhaltens usw. zu entscheiden, beobachten wir das weitere äußere Verhalten dieses Menschen besonders sorgfältig dahingehend, wie er sich in anderen Fällen verhalten wird, um durch Vergleich der Befunde über sein äußeres Verhalten unter verschiedenen Bedingungen die eine zunächst als möglich erscheinende psychologische Interpretation seines Verhaltens auszuschließen und eine andere zu bestätigen. Die objektive psychologische Beobachtung als Methode der psychologischen wissenschaftlichen Erkenntnis löst im Prinzip dieselbe Aufgabe, freilich systematischer. Der wahre Gegenstand der objektiven Beobachtung in der Humanpsychologie sind die Handlungen und Verhaltensweisen der Menschen, die immer einen gewissen inneren psychologischen Gehalt haben. Um eine Verhaltensweise zu erfassen, muß man diesen inneren, psychologischen Motivationsgehalt aufdecken. Die äußere, resultative Seite des Handelns oder Verhaltens ist noch nicht das eigentliche Verhalten, sondern nur seine äußere Form. Verhaltensweisen kann man nur im Kontext erfassen, der auch psychologische Komponenten enthält. Die Außenseite einer einzelnen Verhaltensweise enthält für gewöhnlich noch keine Informationen zu ihrer eindeutigen Festlegung im Hinblick auf ihren inneren psychologischen Gehalt. Dieser ist zwar immer in den Gegebenheiten des äußeren Verhaltens repräsentiert, aber größtenteils in Form von Variablen, denen man mehrere verschiedene Bedeutungen zuschreiben kann, obwohl sie in dem gegebenen Verhalten als realer Erscheinung nur eine bestimmte Bedeutung haben. Erste Aufgabe der psychologischen Erkenntnis ist es, den inneren psychischen Gehalt des Verhaltens zu bestimmen. Zu ihrer Lösung geht die psychologische Erkenntnis unter Anwendung der objektiven psychologischen Beobachtung ebenso vor wie jede andere wissenschaftliche Erkenntnis auch: Sie geht von den Befunden zu Hypothesen über und überprüft diese an neuen Kontrollbefunden; sie geht von den Fakten, die übrigens immer schon eine gewisse theoretische Interpretation einschließen, zu ihrer eigentlichen Interpretation über, um diese Interpretation dann an neuen Fakten zu überprüfen. Diese wiederum können eine neue Interpretation erfordern, ebenso wie die neue Interpretation ihrerseits die Hinzunahme neuer Fakten erfordern kann. Im vorliegenden Falle der objektiven psychologischen Beobachtung besteht die Aufgabe darin, nachdem man hypothetisch eine bestimmte psychologische Interpretation des ursprünglichen äußerlichen Verhaltens angenommen hat, neue Befunde über eben dieses Verhalten zu erheben, die dann durch Überprüfung (Bestätigung, Ablehnung oder Modifizierung) der zunächst mehr oder weniger hypothetisch angenommenen psychologischen Interpretation letzten

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Endes ermöglichen, das Verhalten in seinem inneren psychologischen Gehalt zu bestimmen. Die psychologische Interpretation des äußeren Verhaltens ist richtig, wenn die darin enthaltene Auffassung vom inneren psychologischen Wesen der Verhaltensakte eine gesetzmäßige Erklärung für den äußeren Ablauf des Verhaltens unter verschiedenen Bedingungen liefert. In den Fällen, in denen es nicht gelingt, durch Vergleich der einfachen Beobachtungsbefunde hinsichtlich des äußeren Verhaltens das psychologische Wesen der konstituierenden Verhaltensakte eindeutig zu bestimmen, geht die psychologische Erkenntnis zur experimentellen Beobachtung über. Die Aufgabe des psychologischen Experiments besteht letzten Endes darin, durch Variation der Bedingungen, unter denen eine bestimmte Verhaltensweise auftritt, von der Außenseite ausgehend, den inneren Gehalt aufzuhellen und so die Verhaltensweise oder das Handeln eindeutig festzulegen. Ausgangs- und Kontrollinstanzen der psychologischen Erkenntnis sind bei der objektiven Beobachtung die äußeren Verhaltensbefunde. Aber wenn auch die psychologische Erkenntnis von diesen ausgeht und sie als Ausgangsmaterial ansieht, das die Bedingungen der durch die psychologische Erkenntnis zu lösenden Aufgabe enthält, so zielt die psychologische Erkenntnis dennoch auf das Handeln und auf die Verhaltensweisen der Menschen in ihrem inneren psychologischen Gehalt ab, und das ist auch ihr eigentliches Objekt. Damit erweist sich, daß beide, die psychologische Erkenntnis, die von der Selbstbeobachtung ausgeht, und jene psychologische Erkenntnis, die von den äußeren Befunden des Verhaltens ausgeht, uns lediglich von verschiedenen Seiten her in ein und denselben Kontext führen, in den Kontext des Lebens und der Tätigkeit der Menschen, der sowohl das Verhalten als auch die Erlebnisse in untrennbarem Zusammenhang umfaßt. Unhaltbar ist sowohl die Vorstellung der traditionellen introspektiven Psychologie, daß der Gegenstand der Selbstbeobachtung die in sich abgeschlossene, isolierte, Innenwelt sei, als auch die Vorstellung der Verhaltenspsychologie, wonach das äußere Verhalten Gegenstand der objektiven Beobachtung sein soll. In Wirklichkeit gehen sowohl die Selbstbeobachtung als auch die objektive Fremdbeobachtung als Methoden der psychologischen Erkenntnis lediglich von verschiedenen Gegebenheiten aus, haben aber ein und denselben Gegenstand. Sie kommen zur Erkenntnis, indem sie ein und dieselben Befunde korrelieren; und nur wenn man die Verhaltensbefunde und die Erlebnisbeschreibungen in Zusammenhang bringt, kann man den Gegenstand der psychologischen Erkenntnis definieren. Weder die „unmittelbaren Gegebenheiten" des Bewußtseins noch die „unmittelbaren Gegebenheiten" des Verhaltens an sich machen den Gegenstand der psychologischen Erkenntnis aus; die einen wie die anderen liefern nur das Ausgangsmaterial, von dem aus die psychologische Erkenntnis ihren eigentlichen Gegenstand aufdeckt. So werden in den Methoden die Ausgangspositionen realisiert und bestätigt, die den Gegenstand der Psychologie bestimmen: Weder die in sich abgeschlossene Innenwelt des auf sich selbst gerichteten Bewußtseins noch allein das äußere Verhalten, sondern der innere, psychologische Gehalt des Lebens und der Tätigkeit der Menschen ist der wahre Gegenstand der Psychologie.

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Theorie

Somit ergibt sich: 1. Die objektive psychologische Beobachtung, wie wir sie täglich im Alltag und in spezialisierteren Formen in der Wissenschaft erleben, unterscheidet sich ebenso grundlegend von der Verhaltenspsychologie wie die Selbstbeobachtung, die eine echte Selbsterkenntnis bewirkt, von der Introspektion der Introspektionisten. 2. Das Wesen der objektiven Beobachtung als Methode der psychologischen Erkenntnis wird durch das Wesen des Gegenstandes bestimmt, auf den sie gerichtet ist. Die objektive psychologische Beobachtung ist - auf die Humanpsychologie angewandt — eine Beobachtung, die das Verhalten der Menschen zum Gegenstand hat. Die Verhaltensweisen oder Handlungen eines Menschen haben aber immer einen bestimmten inneren psychologischen Gehalt. Von der Außenseite des Verhaltens ausgehend, zielt die Beobachtung auf das Handeln oder die Verhaltensweisen ab, die immer einen bestimmten psychologischen Inhalt haben. 3. Die unmittelbar beobachtbare Außenseite des Verhaltens, sozusagen seine äußere Kontur oder sein Skelett, wird vom einzelnen auf Grund des Kontextes der zwischenmenschlichen Beziehungen wahrgenommen und sozusagen „gelesen". In diesem Kontext bekommen die äußeren Gegebenheiten des Verhaltens eine bestimmte innere, psychologische Bedeutung und werden als Verhaltensweisen oder Handlungen gelesen. 4. Unter gewohnten Alltagsbedingungen erfolgt dieses „Lesen" automatisch. Jedes Tun oder Handeln eines Menschen, das sich der Fremdbeobachtung primär mit seiner Außenseite darbietet, wird unmittelbar als Verhaltensweise mit bestimmtem inneren Gehalt wahrgenommen. Die psychologische Erkenntnis der Menschen erfolgt in diesen Fällen unmittelbar, intuitiv. Die Außenseite eines isoliert genommenen Aktes bestimmt jedoch seinen inneren Gehalt nicht eindeutig. Die Aufgabe der Beobachtung im Alltag und der systematischen Beobachtung und des Experiments bei der wissenschaftlichen Erkenntnis besteht darin, die Beziehung zwischen äußerem Ablauf des Verhaltens und seinem inneren Gehalt aus einer mehrdeutigen zu einer eindeutigen zu machen und so die Verhaltensweise in ihrem inneren Gehalt zu bestimmen. Die objektive Beobachtung als Mittel der psychologischen Erkenntnis wählt zu diesem Zweck solche Bedingungen aus, unter denen der äußere Verhaltensakt den psychologischen Gehalt des äußeren Handelns enthüllt, und das Experiment setzt die Versuchsperson unter Bedingungen, unter denen ihr Handeln nur eine eindeutig bestimmte psychologische Interpretation zuläßt. 5. Die Analyse der objektiven psychologischen Beobachtung, der einfachen wie der experimentellen, zeigt, daß die echte objektive Beobachtung als Weg der psychologischen Erkenntnis durchaus nicht (wie es den Vertretern der mechanistischen Verhaltenslehre scheinen möchte) der äußere Gegenpol zu den Methoden ist, die vom Bewußtsein ausgehen und sich der Selbstbeobachtung bedienen. In Wahrheit führen die äußere „objektive" psychologische Beobachtung und die Selbstbeobachtung lediglich von verschiedenen Seiten und von verschiedenen Ausgangspunkten her in ein und denselben Kontext: In diesem Kontext enthält das Verhalten in der Regel auch psychische Komponenten, und das Psychische tritt als spezifischer Bestandteil der gegenständlichen Tätigkeit auf.

Über die psychologische Erkenntnis

157

Bei der psychologischen Analyse des Verhaltens wie auch bei der Analyse der Bewußtseinsformationen zeigt sich also gleichermaßen die Einheit von Äußerem und Innerem. Diese Einheit ist die Grundlage der wahrhaft wissenschaftlichen, objektiven Erkenntnis des Psychischen. Sie bietet die Möglichkeit, vom äußeren Verhalten, vom Tun und Lassen ausgehend, zur Erkenntnis des inneren Gehalts der Persönlichkeit vorzustoßen. Sie bietet die Möglichkeit, über die äußere Erscheinung eines Menschen, über seine Handlungen und Verhaltensweisen zu seinem Bewußtsein vorzudringen und zugleich auch die psychologischen Besonderheiten seines Verhaltens zu beleuchten. Bestünde diese Beziehung zwischen dem inneren psychologischen Wesen des Aktes und seinem äußeren Verlauf nicht, dann wäre auch die objektive psychologische Erkenntnis unmöglich; wäre diese Beziehung immer adäquat, so daß jeder vollzogene Akt keinerlei Interpretation erforderte, um sein inneres Wesen zu ermitteln, dann wäre die psychologische Erkenntnis überflüssig. Aber diese Beziehung existiert, und sie ist nicht eindeutig; daher ist die psychologische Erkenntnis sowohl möglich als auch notwendig. Jede Erkenntnis, mag sie auch noch so theoretisch sein, hat Beziehung zum Leben, zur Praxis, zum Schicksal der Menschen, da sie uns als Erkenntnis die Wirklichkeit enthüllt und die Möglichkeit eröffnet, in ihr zu handeln. Theoretische Erkenntnis ist demnach zugleich praktisches Wissen, allerdings mit einer ferneren und größeren Perspektive. Der richtige Ansatz der psychologischen Erkenntnis ist daher nicht nur eine Frage der abstrakten Theorie, sondern auch eine Angelegenheit mit realem, praktischem Sinn. Die richtig angesetzte psychologische Erkenntnis geht vom Leben und seinen Anforderungen aus und setzt sich das Ziel, Probleme des Lebens zu lösen. Erkenntnis und Veränderung des Lebens sind zwangsläufig wechselseitig miteinander verbunden. Die Verbindung zwischen der psychologischen Erkenntnis und der praktischen Tätigkeit, in der sie Anwendung findet, ist zweiseitig. Einerseits muß man zur Lösung von Fragen des praktischen Lebens, die mit der Einwirkung auf Menschen, mit ihrer Bildung und Erziehung zusammenhängen, unbedingt den inneren psychologischen Gehalt ihres Handelns aufdecken können. Andererseits gelangt man gerade bei der Einwirkung auf Menschen zu einer besonders tiefschürfenden und lebenswahren Erkenntnis ihrer Psychologie. Der Zusammenhang von psychologischer Wissenschaft und Praxis muß schon in den Grundlagen der Theorie begründet sein. Um Erscheinungen zu verändern, um die Entwicklung zu lenken und bestimmte Eigenschaften auszubilden, muß man wissen, wodurch sie determiniert sind. Die richtige Lösung der Frage nach der Determination der psychischen Erscheinungen ist die theoretische Hauptvoraussetzung für den Aufbau und die Entwicklung einer psychologischen Wissenschaft, die mit der Praxis und mit dem Leben verbunden und fähig ist, zu seiner aktiven Veränderung und Vervollkommnung beizutragen. Die Beteiligung der Psychologie an der Lösung der Aufgaben, die uns das Leben stellt, wird in unserer Zeit tiefgreifender Umwandlungen der Gesellschaft mit ihrer Notwendigkeit, den Menchen, ihren Erbauer, zu erziehen, besonders dringlich.

B. FRAGEN DER GESCHICHTE

1. Allgemeine Probleme a) Über die philosophischen Grundlagen der Psychologie. Die Marxschen

Frühschriften und die Probleme der Psychologie

Die Sowjetpsychologie fußt auf der marxistischen Philosophie. Damit werden ihr Weg und ihre Richtung festgelegt. Jedoch kann man die psychologische Wissenschaft nicht in fertiger

Form, in irgendeinem Werk der Begründer des Marxismus-Leninismus

finden. Weder Marx noch Lenin

haben bekanntlich spezielle psychologische Traktate

geschrieben. Daher gibt es nur einen Weg für den Aufbau der Sowjetpsychologie, den Weg der schöpferischen Forschung. In den Werken von Marx gibt es nur eine Arbeit, die ein ganzes System von Äußerungen enthält, die sich unmittelbar auf die Psychologie beziehen. Wir meinen eine der Manischen Frühschriften,

die „ökonomisch-philosophischen

Manuskripte". 1 In der

letzten Zeit haben diese Manuskripte das lebhafte Interesse ausländischer Interpreten der marxistischen Philosophie geweckt, und zwar größtenteils von Gegnern des Marxismus. 2 Da es sich um das einzige Werk handelt, das eine ganze Reihe von Sätzen enthält, 1

2

Marx/Engels, Kleine ökonomische Schriften. Dietz Verlag, Berlin 1955. Das Schlußkapitel dieser Manuskripte „Kritik der Hegeischen Dialektik und Philosophie überhaupt" ist in dem Sammelband Marx/Engels, „Die heilige Familie und andere philosophische Frühschriften", Dietz Verlag, Berlin 1953, veröffentlicht. (Anm. d. Übers.) Vgl. z. B. Konrad Bekker, Marx' philosophische Entwicklung, sein Verhältnis zu Hegel. Zürich-New York, 1940 (s. speziell Kap. 2 : Die Pariser Manuskripte) ; Auguste Cornu, Karl Marx et la pensée moderne. Contribution à l'Étude de la Formation du Marxisme. Paris 1948; Jean Hypolite, Logique et Existence. P. U. F., 1953 (s. das letzte Kapitel über Marx) ; s. a. seine Études sur Hegel et Marx, Rivière 1955, und seine anderen Artikel über Marx; Jean Calvez, La Pensée de Karl Marx. Paris 1956 usw. Zahlreiche ausländische un- oder (zum größten Teile) antimarxistische Arbeiten über die Manuskripte von 1844 stellen vor allem die These auf, dieses Manuskript sei (von den kurzen Thesen über Feuerbach abgesehen) die einzige Arbeit von Marx, die sich mit eigentlich philosophischen Problemen befaßt. Aus diesem Grunde wird diese Früharbeit von Marx in gewissem Sinne stark „überbewertet". Nur sie erlaube, nach Meinung dieser Autoren, von Marx als Philosophen im eigentlichen Sinne des Wortes zu reden. Die Tatsache, daß man dieses Werk als einzige unmittelbar von Marx stammende Darlegung seiner Philosophie anerkennt, macht man sich zunutze, uin erstens die Bedeutung der späteren Arbeiten von Marx herabzusetzen und zweitens die Arbeiten aller späteren Vertreter des Marxismus zu nichtauthentischen Quellen der wirklichen Philosophie von Marx zu erklären, indem man ihnen den Marx von 1844 entgegenstellt. In den Fällen, da auch spätere Arbeiten von Marx, speziell das „Kapital", unter philosophischem Aspekt betrachtet werden, wie etwa bei

Allgemeine Probleme

159

die unmittelbar die Psychologie betreffen, hat es auch schon seit langem das lebhafte Interesse sowjetischer Psychologen erregt. Auch einer unserer ersten Artikel, „Probleme der Psychologie in den Werken von K. Marx", stützte sich vor allem darauf. 3 Hinweise auf diese Arbeit von Marx und auf die darin enthaltenen Äußerungen findet man auch heutzutage zumeist in Arbeiten sowjetischer Psychologen. Die Manuskripte von 1844 sind in der Tat von großem Interesse. Es ist der erste und sehr bedeutsame Schritt des jungen Marx auf dem Wege von Hegel zum Marxismus. Durch das ganze Manuskript zieht sich, in jeder Zeile spürbar, der Kampf gegen das Alte, der es nicht erlaubt, sich vom Gegner zu lösen, und der unmittelbaren kämpferischen Kontakt mit ihm verlangt. Gleichzeitig spürt man ständig den Hauch des Neuen, die sich vor unseren Augen vollziehende Geburt großer neuer Gedanken, die in die Zukunft weisen. Sie finden sich hier in jener Unmittelbarkeit, Frische und Leidenschaftlichkeit, die nur dem neu Entstehenden und mit dem Vergangenen um seine Daseinsberechtigung Ringenden eigen ist. Ein Manuskript, dessen Zeilen diesen Kampf widerspiegeln, ist natürlich ein Dokument, das zwangsläufig Aufsehen erregen muß. Für die Psychologie ist dabei nicht nur das von wesentlichem Interesse, was unmittelbar zur Psychologie gesagt wird, sondern auch das, was darin über den MenHypolite und Bigaud, werden die späteren Arbeiten von den Frühwerken ausgehend interpretiert, statt daß man die früheren Arbeiten im Lichte der späteren sieht. Diese Früharbeit, in der Marx sich noch in weitem Umfange der Hege/sehen Terminologie bedient und in der Auseinandersetzung mit ihm noch unmittelbar von ihm ausgeht, wird von einigen (z. B. wiederum Hypolite) benutzt, um Marx und Hegel einander möglichst weitgehend anzunähern und dabei ein vorgebliches Übergewicht Hegels über Marx nachzuweisen. Noch weiter gehen die Vertreter der katholischen Philosophie, die ebenfalls den Pariser Manuskripten von Marx besonderes Interesse entgegenbringen, wie etwa Calvez. In seinem umfangreichen Buch über das Denken von Marx („La Pensée de Karl Marx") legt er bis ins einzelne die Konzeption des Manuskripts von 1844 dar, als hätte Marx niemals etwas anderes geschaffen. Dabei ist er den Marxschen Konzeptionen von 1844 durchaus wohlgesonnen, nicht nur der eigentlich philosophischen, sondern auch der sozialen oder soziologischen. Er billigt fast alles und ist mit allem einverstanden, mit Ausnahme einer „Kleinigkeit", die er erst ganz am Schluß aufs Tapet bringt. Diese „Kleinigkeit", in der er mit Marx nicht konform geht, besteht nur in einem: Die Aufgaben, die philosophischen, historischen und allgemein menschlichen, die, seiner Meinung nach, Marx ganz zu Recht stellt, löst in Wirklichkeit die katholische Kirche und kann nur sie allein lösen; die Lösung dieser Aufgaben ist nicht die Mission des Proletariats, sondern die des Messias, Christi, und der christlichen katholischen Kirche. So hat Calvez seinen Marx verstanden! Auf Hunderten von Seiten stellt er mit extremer Gründlichkeit und vorsätzlicher Scheinobjektivität Marx dar (die „Ökonomisch-philosophischen Manuskripte") und gibt sich den Anstrich eines Anhängers von Marx, und erst ganz am Schluß erweist er sich als Wolf im Schafspelz, als sein erbitterter, unversöhnlicher Gegner.

3

Daß dieses Manuskript von Marx auf solche Weise von dem Marxismus feindlichen Kräften ausgenutzt wird, dürfte für uns, so meinen wir, kein Grund sein, ihm nicht die gebührende Aufmerksamkeit zu schenken und dieses Werk von Marx der monopolistischen Ausbeutung durch die Gegner des Marxismus zu überlassen. Im Gegenteil, wir müssen es zum Gegenstand einer sorgfältigen Analyse unter unserem Aspekt machen. Vgl. „Sowjetische Psychotechnik", 1934, Nr 1, Bd. VII (russ.).

160

Geschichte

sehen schlechthin steht, denn das Problem des Menschen bildet den Kernpunkt dieses Manuskripts. In dem Manuskript von 1844 sind von Marx zumindest drei Grundgedanken erstmalig formuliert worden, die von entscheidender Bedeutung für die Psychologie sind. Der erste dieser Gedanken besteht in der Anerkennung des Anteils der praktischen (und theoretischen) Tätigkeit des Menschen, seiner Arbeit an der Entwicklung des Menschen und seiner Psyche. In der Interpretation des Menschen als Resultat seiner eigenen Arbeit — sei es auch in falscher, mystifizierter Form - sieht Marx „das Große an der Hegelschen Phänomenologie und ihrem Endresultate". 4 In der Darlegung dieser These in ihrem wahren, nicht mystifizierten Inhalt sieht Marx seine erste Aufgabe. Diese These wird bekanntlich fester und dauerhafter Bestandteil der marxistischen Philosophie. Schon in den „Thesen über Feuerbach" (Frühjahr 1845) schreibt Marx: „Der Hauptmangel alles bisherigen Materialismus - den Feuerbachschen mit eingerechnet — ist, daß der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit, nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung gefaßt wird; nicht aber als menschliche sinnliche Tätigkeit, Praxis, nicht subjektiv" (1. These). 5 Die These über die Bedeutung der Tätigkeit für die Herausbildung der psychischen Eigenschaften des Menschen ist seit den 30er Jahren auch fester Bestandteil der Sowjetpsychologie geworden. Mit diesem ersten Gedanken hängt untrennbar der zweite zusammen: Die durch die menschliche Tätigkeit geschaffene gegenständliche Welt bedingt die ganze Entwicklung der menschlichen Gefühle, der menschlichen Psychologie, des menschlichen Bewußtseins. Marx lehnt speziell den Gedanken ab, daß der Mensch mit der „reinen Tätigkeit" beginnt (das ist eine Tätigkeit, die nur vom Subjekt ohne Beziehung zu einem Objekt bestimmt wird) und dann zum „Schaffen des Gegenstandes" übergeht. 6 Die Tätigkeit des Menschen stellt f ü r Marx die Dialektik von Subjekt und Objekt dar. Die Beziehung zu einem Objekt geht in die Definition des Subjekts selbst ein. In der Terminologie des jungen Marx gesprochen: „Vergegenständlichung" ist zugleich auch „Entgegenständlichung". Bei seiner Analyse der Arbeit im „Kapital" sagt der reife Marx, der die von Hegel entlehnte Terminologie verworfen, aber den im Prinzip von ihm schon im Pariser Manuskript von 1844 geäußerten Gedanken beibehalten hat, daß in der Arbeit die Tätigkeit des Subjekts und der Gegenstand einander wechselseitig 4

„Das Große an der Hegelschen Phänomenologie und ihrem Endresultate - der Dialektik der Negativität als dem bewegenden und erzeugenden Prinzip - " , schreibt Marx, „ist also . . daß Hegel die Selbsterzeugung des Menschen als einen Prozeß faßt, die Vergegenständlichung als Entgegenständlichung, als Entäußerung und als Aufhebung dieser Entäußerung; daß er also das Wesen der Arbeit faßt und den gegenständlichen Menschen, wahren, weil wirklichen Menschen, als Resultat seiner eignen Arbeit begreift." Marx/Engels, Die heilige Familie . . . a. a. O., S. 80.

5

Marx/Engels, Werke. Dietz Verlag, Berlin 1958, Bd. 3, S. 533. In der Sprache jener Zeit schreibt Marx: „In dem Akt des Setzens fällt es (das „gegenständliche Wesen" - S. R.) also nicht aus seiner „reinen Tätigkeit" in ein Schaffen des Gegenstandes, sondern sein gegenständliches Produkt bestätigt nur seine gegenständliche Tätigkeit, seine Tätigkeit als eine Tätigkeit eines gegenständlichen natürlichen Wesens." (Marx/Engels, Die heilige Familie . . . , a. a. 0 . , S. 84.)

6

Allgemeine Probleme

161

durchdringen. In der Tat ist einerseits das Produkt der Arbeit ein Erzeugnis des Menschen bzw. seiner Tätigkeit, aber zugleich ist eben diese Tätigkeit auch integrierend durch ihr Produkt bedingt, durch die Eigenschaft des materiellen Objekts, mit dem es der Mensch zu tun hat, und durch die objektiven Forderungen, die von dem Produkt ausgehen, das als Ergebnis dieser Tätigkeit entstehen soll. Deshalb sind die Erzeugnisse der menschlichen Tätigkeit einerseits eine Erscheinungsform, eine objektive Äußerung seiner selbst. Mit den Worten des Pariser Manuskripts gesprochen: „Man sieht, wie die Geschichte der Industrie und das gewordene gegenständliche Dasein der Industrie das aufgeschlagene Buch der menschlichen Wesenskräfte, die sinnlich vorliegende menschliche Psychologie i s t . . . " 7 Daraus folgt: „Eine Psychologie, für welche dies Buch, also gerade der sinnlich gegenwärtigste, zugänglichste Teil der Geschichte zugeschlagen ist, kann nicht zur wirklichen inhaltvollen und reellen Wissenschaft werden."® Denn eben aus der Beziehung zu einem Objekt (und wie wir noch weiter unten sehen werden, auch zu anderen Menschen) schöpft die menschliche Tätigkeit, die Tätigkeit des Subjekts, ihren Gehalt, jenen objektiven Inhalt, der sich von der „reinen", lediglich subjektiven, leeren und bloßen Aktivität unterscheidet, auf die der Idealist die menschliche Tätigkeit reduziert. Andererseits ist der Mensch selbst, seine Psychologie, inhaltlich gesehen, durch die Produkte bzw. Resultate der menschlichen Tätigkeit bedingt. „Erst durch den gegenständlich entfalteten Reichtum des menschlichen Wesens wird der Reichtum der subjektiven menschlichen Sinnlichkeit, wird ein musikalisches Ohr, ein Auge für die Schönheit der Form, kurz, werden erst menschlicher Genüsse fähige Sinne, Sinne, welche als menschliche Wesenskräfte sich bestätigen, teils erst ausgebildet, teils erst erzeugt. Denn nicht nur die fünf Sinne, sondern auch die sogenannten geistigen Sinne, die praktischen Sinne (Wille, Liebe etc.), mit einem Wort der menschliche Sinn, die Menschlichkeit der Sinne, wird erst durch das Dasein seines Gegenstandes, durch die vermenschlichte N a t u r . " 9 Und ferner: „Also die Vergegenständlichung des menschlichen Wesens, sowohl in theoretischer als praktischer Hinsicht, gehört dazu, sowohl um den Sinn des Menschen menschlich zu machen als um für den ganzen Reichtum des menschlichen und natürlichen Wesens entsprechenden menschlichen Sinn zu schaffen." 1 0 Der Kern auch dieses Gedankens bleibt bei Marx auch in seinen späteren Werken erhalten. Im „Kapital" schreibt er: „Indem er (der Mensch) . . . auf die Natur außer ihm wirkt und sie verändert, verändert er zugleich seine eigne Natur." 1 1 Eine Fortsetzung der im Grunde gleichen Linie finden wir auch in dem bekannten Gedanken von Marx, daß die Bedürfnisse des Menschen, die die Notwendigkeit der Produktion bedingen, selbst in ihrer Entwicklung durch die Produktion und ihre Produkte bedingt sind, also durch die Gegenstände, die die Produktion zur Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse schafft. Die These, daß die Tätigkeit in der Psychologie des Menschen durch seine Beziehung zum Objekt, zur Natur bedingt ist und aus dieser Beziehung ihren Gehalt schöpft, wird 7 8 10 11

11

Marx/Engels, Kleine ökonomische Schriften, a. a. O., S. 135. s Ebenda. Ebenda, S. 134. Ebenda. Karl Marx, Das Kapital, Bd. 1, Dietz Verlag, Berlin 1951, S. 185. Prinzipien und Wege

162

Geschichte

wesentlich durch einen Gedanken vervollständigt, der mit voller Deutlichkeit bereits im Pariser Manuskript von 1844 ausgesprochen ist. Nach diesem Gedanken schöpfen die Psychologie des Menschen und seine Tätigkeit ihren objektiven Gehalt aus der Beziehung des Menschen zum anderen, zur Gesellschaft. Darum sind „. . . die Sinne des gesellschaftlichen Menschen andre Sinne wie des ungesellschaftlichen." 1 2 Die gesellschaftliche Beziehung zu anderen Menschen vermittelt dem Menschen auch seine Beziehung zur Natur bzw. zum Objekt überhaupt. Der Mensch existiert als Mensch nur dank seiner Beziehung zum anderen Menschen. Im „Kapital" sagt Marx: „Erst durch die Beziehung auf den Menschen P a u l als seinesgleichen, bezieht sich der Mensch Peter auf sich selbst als Mensch. Damit gilt ihm aber auch der P a u l mit Haut und Haaren, in seiner paulinischen Leiblichkeit, als Erscheinungsform des genus Mensch." « In den „ökonomisch-philosophischen Manuskripten" schrieb Marx: „Wir haben gesehen, wie . . . der Mensch den Menschen produziert, sich selbst und den andren Menschen; wie der Gegenstand, welcher die unmittelbare Betätigung seiner Individualität, zugleich sein eignes Dasein f ü r den andern Menschen, dessen Dasein, und dessen Dasein f ü r ihn ist." 1 4 „Also ist der gesellschaftliche Charakter der allgemeine Charakter der ganzen Bewegung; wie die Gesellschaft selbst den Menschen als Menschen produziert, so ist sie durch ihn produziert. Die Tätigkeit und der Genuß, wie i h r Inhalt, sind auch der Existenzweise nach gesellschaftlich, gesellschaftliche Tätigkeit und gesellschaftlicher Genuß." 1 5 Und ferner: „Die gesellschaftliche Tätigkeit und der gesellschaftliche Genuß existieren keineswegs allein in der Form einer unmittelbar gemeinschaftlichen Tätigkeit und eines unmittelbar gemeinschaftlichen Genusses, obgleich die gemeinschaftliche Tätigkeit und der gemeinschaftliche Genuß, d. h. die Tätigkeit und der Genuß, die unmittelbar in wirklicher Gesellschaft mit andren Menschen sich äußert und bestätigt, überall da stattfinden werden, wo jener unmittelbare Ausdruck der Gesellschaftlichkeit im Wesen ihres Inhalts begründet und seiner N a t u r angemessen ist. Allein auch wenn ich wissenschaftlich etc. tätig bin, eine Tätigkeit, die ich selten in unmittelbarer Gemeinschaft mit andern ausführen kann, so bin ich gesellschaftlich, weil als Mensch tätig. Nicht nur das Material meiner Tätigkeit ist mir - wie selbst die Sprache, in der der Denker tätig ist - als gesellschaftliches Produkt gegeben, mein eignes Dasein ist gesellschaftliche Tätigkeit; darum das, was ich aus mir mache, ich aus mir f ü r die Gesellschaft mache und mit dem Bewußtsein meiner als eines gesellschaftlichen Wesens." 1 6 Wenn wir diese Äußerungen von Marx anführen, speziell das letzte Zitat, in der d a s Sein des Menschen („mein eignes Dasein") als „gesellschaftliche Tätigkeit" dargestellt wird, müssen wir sogleich anmerken, daß man sie nur dann richtig verstehen kann, wenn man berücksichtigt, wie Marx in diesem Manuskript das Problem der Beziehungen 12 13 14 15 16

Marx/Engels, Kleine ökonomische Schriften, a. a. O., S. 134. Karl Marx, Das Kapital, Bd. 1, a. a. O., S. 58, Fußnote. Marx/Engels: Kleine ökonomische Schriften, a. a. O., S. 129. Ebenda. Ebenda, S. 129 f.

Allgemeine Probleme

1G3

zwischen Mensch und Natur, zwischen Gesellschaftlichem und Natürlichem abhandelt, ein Problem, auf das wir noch näher eingehen werden. Der gesellschaftlichen Natur des Menschen entspringt auch die Abhängigkeit seiner „Sinne" von den Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens. Die Veränderung der „Sinne" des Menschen beim Übergang von einer Gesellschaftsordnung, die auf dem Privateigentum beruht, zum Kommunismus ist das wichtigste Thema des Manuskripts von 1844. Aus der Anerkennung der gesellschaftlichen Bedingtheit der menschlichen Psychologie folgt gesetzmäßig die dritte These: Die menschliche Psychologie, die menschlichen Sinne sind ein Produkt der Geschichte. „Die Bildung der fünf Sinne ist eine Arbeit der ganzen bisherigen Weltgeschichte." 1 7 Diese historische Bedingtheit der menschlichen Eigenschaften zeigt Marx dann konkret am Verhältnis der Fähigkeiten. Schon im Manuskript von 1844 schreibt Marx im Zusammenhang mit den Ansichten von A. Smith: „Die Differenz der natürlichen Talente unter den Individuen ist nicht sowohl die Ursache als der Effekt der Teilung der A r b e i t . . . " 1 8 Diese These, die erstmalig im Pariser Manuskript formuliert wurde, wird dann im „Elend der Philosophie" 19 wiederholt und im „Kapital" weiterentwickelt. Im „Kapital" schreibt Marx: „Die verschiedenen Operationen, die der Produzent einer Ware abwechselnd verrichtet und die sich im ganzen seines Arbeitsprozesses verschlingen, nehmen ihn verschiedenartig in Anspruch. In der einen muß er mehr Kraft entwickeln, in der anderen mehr Gewandtheit, in der dritten mehr geistige Aufmerksamkeit usw., und dasselbe Individuum besitzt diese Eigenschaften nicht in gleichem Grad. Nach der Trennung, Verselbständigung und Isolierung der verschiedenen Operationen werden die Arbeiter ihren vorwiegenden Eigenschaften gemäß geteilt, klassifiziert und gruppiert. Bilden ihre Naturbesonderheiten 2 0 die Grundlage, worauf sich die Teilung der Arbeit pfropft, so entwickelt die Manufaktur, einmal eingeführt, Arbeitskräfte, die von Natur nur zu einseitiger Sonderfunktion taugen." 2 1 Die „Naturbesonderheiten" der Arbeiter bilden also „die Grundlage, worauf sich die Teilung der Arbeit pfropft", aber die einmal eingeführte Arbeitsteilung formiert 17

Ebenda, S. 134.

19

In „Elend der Philosophie" führt Marx bei seiner Polemik mit Proudhon

18

Ebenda, S. 154. einen Auszug aus

den Arbeiten von A. Smith an, der da schreibt: „Diese so verschiedenen Anlagen, welche die Angehörigen der verschiedenen Professionen zu unterscheiden scheinen, Leute, die bereits in das reife Alter getreten sind, sind nicht sowohl die Ursache als die Wirkung

der Arbeits-

teilung." Der Meinung von Smith beipflichtend, daß „die Verschiedenheit der natürlichen Anlagen zwischen den Individuen weit geringer ist, als wir glauben", fügt Marx

hinzu:

„Ursprünglich unterscheidet sich ein Lastträger weniger von einem Philosophen als ein Kettenhund von einem Windhund. E s ist die Arbeitsteilung, welche einen Abgrund zwischen beiden aufgetan hat." Marx/Engels, 20

a. a. O., Bd. 4, S. 145 f.

In den „Ökonomisch-philosophischen Manuskripten" betont Marx lage der Fähigkeiten besonders: „Der Mensch

diese natürliche Grund-

ist unmittelbar Naturwesen.

und als lebendiges Naturwesen ist e r . . . mit natürlichen

Kräften,

Als Naturwesen

mit Lebenskräften

aus-

gerüstet, ein tätiges Naturwesen; diese Kräfte existieren in ihm als Anlagen und Fähigkeiten . . ( M a r x / E n g e l s , Die heilige F a m i l i e . . ., a. a. O., S. 84.) 21

Karl Marx, Das Kapital, a. a. O., Bd. I, S. 3 6 5 f.

11«

164

Geschichte

und transformiert die menschlichen Fähigkeiten. Sie entstehen zwar auf dem Boden der „Naturbesonderheiten", sind aber nicht unveränderlich, sie verändern sich mit den Veränderungen, die im gesellschaftlichen Leben vor sich gehen. Marx zeigt die Abhängigkeit der Struktur der menschlichen Fähigkeiten von den historisch wechselnden Formen der Arbeitsteilung, indem er in einer glänzenden und subtilen Analyse konkret die Veränderung der Psychologie des Menschen beim Übergang vom Handwerk zur Manufaktur, von der Manufaktur zur Großindustrie und von ihren Anfangsformen zu den späteren reifen kapitalistischen Formen demonstriert. 2 2 Von zentraler Bedeutung ist hier die Entdeckung, wie die Entwicklung der Manufaktur und die Arbeitsteilung zur extremen Spezialisierung der Fähigkeiten führen, wie sie „das Teilindividuum, den bloßen Träger einer gesellschaftlichen Detailfunktion" schaffen, während die Entwicklung der Automatisierung, bei der die Arbeit den Charakter der Spezialität verliert, zu seiner Ersetzung „durch das total entwickelte Individuum" führt, „ f ü r welches verschiedne gesellschaftliche Funktionen einander ablösende Betätigungsweisen sind". 2 3 Alle drei oben formulierten Thesen (wobei zunächst von den spezifischen Eigenarten einiger der obenangeführten M a n s c h e n Formulierungen abgesehen wird) sind fester Bestandteil des Marxismus geworden und bestimmen unwandelbar die Grundzüge der Sowjetpsychologie. Aber in den Manuskripten von 1844 sind diese Thesen unauflöslich mit anderen verflochten, die nicht nur ihrer Formulierung, sondern auch ihrem konkreten Inhalt ihr unauslöschliches Gepräge verliehen haben. Und es bedarf einer speziellen Analyse, um sich ihren wirklichen Inhalt und die in den Marx sehen Formulierungen dieses Manuskripts enthaltene Problematik klarzumachen. Die Marx sehen Manuskripte von 1844 stellen seine „Abrechnung" mit Hegel dar. 2 4 Wie ein großer Teil ähnlicher Arbeiten ist auch diese Arbeit von Marx mittelbar durch 22 23 24

Ebenda, Kap. XII und XIII. Ebenda, S. 513. Wie jede wirklich große philosophische Konzeption ist auch die von Marx nicht im leeren Raum und nicht in einer Seitengasse entstanden, sondern auf der großen Hauptstraße des philosophischen Denkens. Daher mußte sich Marx, als er seine eigene philosophische Konzeption entwickelte, erst einmal den Weg durch eine Kritik seiner Vorgänger frei machen. Marx begann daher bei der Zusammenstellung seiner philosophischen „Abrechnungen" mit seinem größten und direkten Vorgänger, mit Hegel, und mit Feuerbach. Der Kritik Hegels galt zunächst eine relativ spezielle vorbereitende Arbeit: „Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie. Einleitung" (Werke, Bd. 1, S. 378 ff.) (Ende 1843 - Januar 1844). Dann folgten die „Ökonomisch-philosophischen Manuskripte" (vor allem der Teil, der in der „Heiligen Familie" die Uberschrift „Kritik der Hegeischen Dialektik und Philosophie überhaupt" trägt); die Kritik an Feuerbach, die in diesem Manuskript vorbereitet wurde, fand dann in den kurzen und fundamentalen „Thesen über Feuerbach" ihre Vollendung. (Die späteren kritischen Arbeiten: „Die heilige Familie, oder Kritik der kritischen Kritik. Gegen Bruno Bauer und Konsorten" und „Die deutsche Ideologie. Kritik der neuesten deutschen Philosophie in ihren Repräsentanten Feuerbach, B. Bauer und Stirner, und des deutschen Sozialismus in seinen verschiedenen Propheten", polemische Werke, die gegen Zeitgenossen gerichtet waren, hat Marx bekanntlich schon mit Engels gemeinsam geschrieben.)

Allgemeine Probleme

165

die Position seines Gegners bedingt, und zwar allein schon dadurch, daß er von ihr abgestoßen wird. Wie verschieden auch die Antworten sind, die der eine und der andere auf die vor ihnen stehenden Fragen gibt, so haben sie die Ausgangsfragen doch in gewissem Maße gemein. Ausgangspunkt aller Überlegungen von Marx ist der Begriff „ E n t f r e m d u n g " , den er als Grundbegriff der Hegeischen Konzeption hervorhob (dieser Begriff stand auch im Mittelpunkt der Feuerbachschen Religionskritik). Für die Hegeische Philosophie tritt der Mensch nur in Form des Geistes oder des Selbstbewußtseins auf. Hegel geht vom „reinen" Denken, vom „reinen" Bewußtsein aus; deshalb wird die Natur und die ganze durch die menschliche Tätigkeit geschaffene gegenständliche Welt als Entfremdung des Geistes dargestellt; Gegenständlichkeit und Entfremdung verschmelzen miteinander. Die Aufgabe der Geistesphilosophie besteht darin, im Durchgang durch die unvermeidliche „Vergegenständlichung" die „Entgegenständlichung" des Geistes zu vollziehen, die „ E n t f r e m d u n g " aufzuheben und damit die Natur, die gegenständliche Welt, neuerlich zu fassen und sie in den Schoß des Geistes, des Selbstbewußtseins zurückzubringen. So deckt Marx, ganz kurz dargestellt, den Grundgedanken der Hegeischen Philosophie auf. In seiner Kritik an Hegel trennt Marx vor allem die bei Hegel untrennbar verknüpften Begriffe „Vergegenständlichung" und „ E n t f r e m d u n g " . Bei Hegel waren diese Begriffe deshalb miteinander verschmolzen, weil er an die Stelle des realen Subjekts, des Menschen, die Abstraktion des Denkens, des Bewußtseins, des Geistes als Wesen des Menschen setzte. N u r deshalb war jede Gegenständlichkeit Entfremdung. Marx findet bei Hegel drei Fehler. Der erste, der Hauptfehler besteht in der eben erwähnten Tatsache, daß an die Stelle des Menschen als eines realen Subjekts die Abstraktion des Denkens, des Bewußtseins oder Selbstbewußtseins gesetzt wird; der zweite, damit zusammenhängende, besteht in der Darstellung jeder Gegenständlichkeit als Entfremdung und — im Zusammenhang damit — in dem idealistischen Streben, unter dem Vorwand des Kampfes gegen die E n t f r e m d u n g die ganze gegenständliche Welt aufzuheben, nachdem man sie in die Abstraktion des Denkens verlegt und darin aufgelöst hat. Schließlich besteht der dritte, von Marx besonders nachgewiesene und entlarvte Fehler Hegels darin, daß Hegel, entsprechend der Ausgangsthese der Hegelschen Konzeption, die die Identifizierung von Vergegenständlichung bzw. Gegenständlichkeit und Entfremdung bedingte, die Aufhebung der E n t f r e m d u n g in eine rein geistige Operation verwandelte, die in der Wirklichkeit, in der realen E n t f r e m d u n g der Produkte der menschlichen Tätigkeit, nicht das geringste veränderte. Über die Hegeische Auffassung von der „Aufhebung" sagt Marx: „Hier ist die Wurzel des falschen Positivismus Hegels oder seines nur scheinbaren Kritizismus" jenes Positivismus, der seinen theoretischen Ausdruck in der These f a n d : „Alles Bestehende ist vernünftig" und praktisch zur Rechtfertigung der Wirklichkeit des preußischen monarchistischen Staates führte. Die „Aufhebung" ist bei Hegel eine rein ideelle Operation:

25

Von den kritischen Frühschriften, in denen Marx sich im Kampf den Weg zu seiner philosophischen Konzeption bahnte, erregen die „ökonomisch-philosophischen Manuskripte" heutzutage besonderes Interesse. Marx/Engels, Die heilige Familie, a. a. 0., S. 89.

166

Geschichte

Der Übergang von der niederen Form zur höheren verbindet sich mit der dialektischen Interpretation dieser niederen Form als „unwahr", unvollkommen, eben als tieferstehend. Nach der „Aufhebung" aber bleibt die niedere Form, über der sich jetzt die höhere aufgebaut hat, völlig unangetastet das, was sie war. „Der Mensch, der in Recht, Politik etc. ein entäußertes Leben zu führen erkannt hat, führt in diesem entäußerten Leben als solchem sein wahres menschliches Leben." 2 6 „Also nach Aufhebung z. B. der Religion, nach der Erkennung der Religion als eines Produkts der Selbstentäußerung" findet sich der Mensch „dennoch in der Religion als Religion . . . bestätigt." 2 7 Es bedarf also keiner Umstellung, das Verständnis genügt. Für Marx ist die „Aufhebung" nicht nur eine ideelle Operation, sondern ein Prozeß der realen Umwälzung; es bedarf nicht der „Kritik" (ein Lieblingsterminus der Junghegelianer), sondern der Revolution. Das Zentralglied der Konzeption, die Marx im Pariser Manuskript von 1844 entwickelt und der Hegeischen Konzeption gegenüberstellt, ist die Wiedereinsetzung des Menschen in seine Rechte, die Einsetzung der realen Menschen an die Stelle des abstrakten Denkens, des Geistes bzw. des Selbstbewußtseins. Damit hängt auch die Trennung der Begriffe „Vergegenständlichung" und „Entfremdung" zusammen.28 Unter Entfremdung versteht Marx die Entfremdung im eigentlichen Sinne, die Entfremdung in der auf Privateigentum beruhenden kapitalistischen Gesellschaft, die Entfremdung der Arbeitsprodukte des Arbeiters. 29 Die Aufhebung dieser Entfremdung, die keine ideelle, gedankliche Operation ist, sondern eine reale gesellschaftliche Erscheinung, erfordert dementsprechend keine bloße neue theoretische Interpretation der gesellschaftlichen Erscheinungen, sondern eine reale revolutionäre Veränderung der Gesellschaftsordnung, die diese Entfremdung erzeugt. Die idealistischen hegelianischen Gegner von Marx versuchten zu beweisen, daß in diesem Streit zwischen Marx und Hegel die Wahrheit auf Seiten des letzteren sei. Sie machten Marx vor allem den Vorwurf, er habe ein großes, „ewiges" philosophisches Problem auf ein spezielles ökonomisches Problem reduziert, das auf die Grenzen einer bestimmten Gesellschaftsordnung beschränkt ist. Damit habe Marx sich jenes große, allgemein-menschliche philosophische Problem restlos vom Halse geschafft, das Hegel dem philosophischen Denken gestellt habe. 26 m

29

2 7 Ebenda. Ebenda. Die „Entfremdung" des Menschen in der Religion wurde bekanntlich zum Angelpunkt der Feuerbachschen Religionskritik. Der linke Junghegelianer Heß übertrug diesen Begriff auf die Kritik sozialer Erscheinungen im Kapitalismus, speziell in seinem Artikel „Über das Geldwesen", den Heß zur Veröffentlichung in den „Deutsch-Französischen Jahrbüchern" an Marx sandte. In diesem Artikel versuchte Heß, den fundamentalen und universalen Charakter der „Entfremdung" im ökonomischen und sozialen Leben der kapitalistischen Gesellschaft überhaupt nachzuweisen. Der Begriff „Entfremdung" erfuhr so eine erhebliche Verbreitung. Mit dem Begriff der Entfremdung hängt offensichtlich auch der im „Kapital" auftauchende Begriff des „Warenfetischismus" zusammen, der darin besteht, daß in der Warengesellschaft die durch Dinge erfolgenden Beziehungen zwischen den Menschen als Beziehungen zwischen diesen Dingen selbst dargestellt werden. Hier erhält die Entfremdung der menschlichen Beziehungen bei Marx einen allgemeineren Ausdruck.

Allgemeine Probleme

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Diese Behauptung ist zweifach unrichtig. Vor allem hat Marx die Entfremdung nicht auf die Ausbeutung des Arbeiters beschränkt. Eher sah er darin die H a u p t a r t der Entfremdung, die die reale Grundlage aller übrigen Formen der „ E n t f r e m d u n g " darstellt. Um sich davon zu überzeugen, braucht man sich nur den „Thesen über Feuerbach" zuzuwenden. In der vierten These leugnet Marx das „ F a k t u m der religiösen Selbstentfremdung" nicht, betont aber die Notwendigkeit, es anders als bei Feuerbach (wie auch bei Hegel) anzupacken. Es genügt nicht, die religiöse Welt auf ihre irdische Grundlage zurückzuführen, man muß vielmehr jene irdische Grundlage, jene Widersprüche in ihr verändern, die die religiöse Selbstentfremdung des Menschen erzeugen und bedingen. 3 0 Die Lösung historischer Probleme des gesellschaftlichen Lebens durch die revolutionäre Praxis verdrängt also nicht die Lösung ideologischer, philosophischer Probleme, sondern dient ihnen als Grundlage. Und ferner: Das eigentliche philosophische Problem der Vergegenständlichung, die bei Hegel infolge des Ersetzens des Menschen durch das Denken bzw. den Geist, durch die Reduktion des Menschen auf das Selbstbewußtsein als E n t f r e m d u n g in Erscheinung trat, dieses philosophische Problem wird bei Marx nicht auf die ökonomische Erscheinung der Entfremdung der Arbeitsprodukte des Arbeiters in der kapitalistischen Gesellschaft reduziert, sondern von ihm gesondert. Nicht bei Marx wird das allgemeine philosophische Problem auf ein spezielles ökonomisches reduziert, sondern bei Hegel gehen die realen Probleme des gesellschaftlichen Lebens in abstrakten philosophischen Spekulationen unter und bleiben daher real, praktisch ungelöst. Wenn Marx die Vergegenständlichung von der Entfremdung trennt, bewahrt er auch das völlig spezielle philosophische Problem; er ignoriert es nicht, aber er stellt und löst es auf andere Weise. Man muß die beiden Probleme deshalb trennen, weil es verschiedene Probleme sind. Das Problem der Vergegenständlichung - oder E n t f r e m d u n g — in der Hegeischen Interpretation bezog sich auf das Verhältnis von Denken und N a t u r ; f ü r Hegel stellte sich die Natur als entfremdete Idee dar, als ihr „Anderssein". Diese Hegeische Problemstellung mußte vom Kopf auf die Füße gestellt werden. In bezug auf die theoretische Denktätigkeit ist die „ E n t f r e m d u n g " die Vergegenständlichung der Idee; das ist das Problem des objektiven Idealismus, des Piatonismus, der die Ideen, die P r o d u k t e der Denktätigkeit von Menschen, die die Erscheinungen der Natur erkennen, in hypostasierte Wesenheiten verwandelt, es ist die Frage nach der Überwindung der isolierten Existenz der Idee, die Aristoteles in seinem Kampf gegen den platonischen „objektiven" Idealismus aufwirft. Man muß nicht von der Natur als entfremdeter Idee sprechen, sondern von der E n t f r e m d u n g der Idee, die die Natur widerspiegelt, von der erkannten Natur und dem sie erkennenden Menschen. Die Überwindung dieser „ E n t f r e m d u n g " , die in der Vergegenständlichung der Ideen besteht, ist Aufgabe des theoretischen philosophischen Denkens auf diesem Gebiet. So sieht das Problem der „Vergegenständlichung" bei richtiger Problemstellung aus. Ein ganz anderes Problem wirft Marx auf, wenn er von der „ E n t f r e m d u n g " und ihrer Überwindung spricht. Es ist das Problem des Kommunismus und der nicht nur 30

Vgl. Marx/Engels, Werke, a. a. O., Bd. 3, S. 4.

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Geschichte

ideellen, sondern auch realen Überwindung der Entfremdung, nicht nur in Gedanken, sondern auch in der Wirklichkeit, und zwar nicht allein durch „Kritik" (in ihrer Interpretation durch die Junghegelianer), sondern durch Revolution. Das Problem der Entfremdung der Arbeitsprodukte des Arbeiters ist auch ein philosophisches Problem. Eben als allgemein-philosophisches und nicht als speziell ökonomisches Problem behandelt Marx es in den „ökonomisch-philosophischen Manuskripten". Die Umwandlung der Arbeitsprodukte des Arbeiters in Eigentum des Kapitalisten wird von Marx nicht nur als spezielles ökonomisches Problem angesehen, d a s nur ökonomische Kategorien berührt, nämlich die Umwandlung von Arbeit in W a r e und die ihrer Produkte in Kapital. Diese Erscheinung wird von Marx zugleich als Lebenssituation und als historisch bedingte Daseinsweise des Menschen betrachtet. Gerade hierin liegt der philosophische Sinn dieser Erscheinung, ebenso wie der Kommunismus, der die. Ordnung der kapitalistischen Gesellschaft beseitigt, nicht nur ein neues System von Produktionsverhältnissen ist, das einen neuen Stand der Produktivk r ä f t e voraussetzt und bedingt, sondern der auch vor allem einen neuen Menschen und neue, wahrhaft menschliche Beziehungen zur Natur und zu anderen Menschen bedeutet. „Das Privateigentum hat uns so dumm und einseitig gemacht, daß ein Gegenstand erst der unsrige ist, wenn wir ihn haben, er also als Kapital f ü r uns existiert oder von uns unmittelbar besessen, gegessen, getrunken, an unsrem Leib getragen, von uns bewohnt etc., kurz, gebraucht wird . . . An Stelle aller physischen und geistigen Sinne ist daher die einfache Entfremdung aller dieser Sinne, der Sinn des Habens getreten." 3 * „Die Aufhebung des Privateigentums ist daher die vollständige Emanzipation aller menschlichen Sinne und Eigenschaften; aber sie ist diese Emanzipation gerade dadurch, daß diese Sinne und Eigenschaften menschlich, sowohl subjektiv als objektiv, geworden sind. Das Auge ist zum menschlichen Auge geworden, wie sein Gegenstand zu einem gesellschaftlichen, menschlichen, vom Menschen f ü r den Menschen herrührenden Gegenstand geworden ist. Die Sinne sind daher unmittelbar in ihrer P r a x i s Theoretiker geworden. Sie verhalten sich zu der Sache um der Sache willen, aber die Sache selbst ist ein gegenständliches menschliches Verhalten zu sich selbst und zum Menschen und umgekehrt." 3 2 Das Privateigentum und seine positive Beseitigung, d. h. der Kommunismus, beschränken sich keineswegs auf ökonomische Kategorien. E s geht vielmehr um die Umgestaltung der ganzen menschlichen Existenz, des ganzen menschlichen Lebens. Das ist nicht nur ein philosophisches, sondern es ist auch ein philosophisches, und zwar ein großes philosophisches Problem. Nicht nur als solches, aber auch als solches muß es letztlich auch f ü r uns existieren, jetzt und immerdar. Um das einzusehen, muß man verstehen, daß ich die Philosophie nicht auf jene akademische „Philosophen"-Philosophie und deren Spezialprobleme beschränkt, die 31

32

Marx/Engels, Kleine ökonomische Schriften, a. a. O., S. 132. Marx macht seinen Gedanken dann an folgendem Beispiel klar: „Der sorgenvolle, bedürftige Mensch hat keinen Sinn iür das schönste Schauspiel; der Mineralienkrämer sieht nur den merkantilischen Wert, aber nicht die Schönheit und eigentümliche Natur des Minerals" (ebenda, S. 134). Ebenda, S. 132.

Allgemeine Probleme

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nur den Gelehrten betreffen oder bestenfalls den Menschen als Gelehrten in dieser Spezialfunktion. Eben deshalb, weil die zeitgenössische Philosophie im Ausland zu einer Disziplin geworden ist, die sich nur mit Spezialproblemen aus der Tätigkeit des Wissenschaftlers befaßt, nicht aber mit dem Leben des Menschen, ist sie auch eine so saft- und kraftlose, dürre, gleichsam mumifizierte und inaktive Disziplin geworden, ganz unabhängig davon, um welche philosophische Richtung es sich handelt. Da sie sich nicht f ü r das Leben der Menschen interessiert, interessiert sie ganz natürlich auch die Menschen nicht. E s existiert aber auch eine andere, w a h r h a f t große Philosophie. Probleme dieser Philosophie sind hauptsächlich und vor allem Lebensprobleme, freilich nicht als Alltagsprobleme des Spießers, sondern als w a h r h a f t philosophische, also weltanschauliche Probleme. Diese große Philosophie schließt auch die Probleme nicht aus, die mit der theoretischen Tätigkeit des Menschen als Wissenschaftler, als Denker zusammenhängen. Aber in ihrem Gesamtkontext bekommen sie einen anderen, neuen Sinn. Im Zentrum der philosophischen Konzeption von Marx steht der Mensch, nicht der abstrakte Mensch oder die Abstraktion des Menschen wie bei Feuerbach, sondern der reale, konkrete Mensch, der in einer bestimmten historisch entstandenen Situation lebt und in bestimmten gesellschaftlichen Beziehungen zu anderen Menschen steht. Das Problem des Menschen, seine Wiedereinsetzung in seine Rechte, in alle seine Rechte, das ist das Hauptproblem. Eben weil in seinem Mittelpunkt das Problem des Menschen steht, ist das ganze Manuskript von 1844, und nicht nur diejenigen Äußerungen, die direkt psychische Erscheinungen (die Sinne usw.) betreffen, von unmittelbarem und akutem Interesse f ü r die Psychologie. Mit der Einsetzung des Menschen als eines realen Subjekts an die Stelle des abstrakten Denkens, des Geistes bzw. Selbstbewußtseins beginnt sich die ganze philosophische Problematik der „ökonomisch-philosophischen Manuskripte" zu entfalten. Das primäre Grundproblem ist nicht die Frage nach Geist und Natur, wie bei Hegel, sondern die nach dem Menschen und der Natur, nach dem Subjekt und der gegenständlichen Welt. Die Beziehung zwischen ihnen stellt sich als dialektischer wechselseitiger Zusammenhang und als dialektische wechselseitige Abhängigkeit auf der Basis der Natur als Grundlage dar. Der Mensch als Naturwesen ist voll und ganz durch die gegenständliche Welt, durch die Natur bedingt. „Der Mensch ist unmittelbar N a t u r w e s e n . . ." 3 3 „Gegenständlich, natürlich, sinnlich sein und sowohl Gegenstand, Natur, Sinn außer sich haben oder selbst Gegenstand, Natur, Sinn f ü r ein drittes sein ist i d e n t i s c h . . . " „Ein Wesen, welches seine Natur nicht außer sich hat, ist kein natürliches Wesen, nimmt nicht teil am Wesen der Natur. Ein Wesen, welches keinen Gegenstand außer sich hat, ist kein gegenständliches Wesen. Ein Wesen, welches nicht selbst Gegenstand f ü r ein drittes Wesen ist, hat kein Wesen zu seinem Gegenstand, d. h. verhält sich nicht gegenständlich, sein Sein ist kein gegenständliches. Ein ungegenständliches Wesen ist ein Unwesen." 34 33

Max/Engels, Die heilige Familie, a. a. O., S. 85.

34

Ebenda.

170

Geschichte

Die Wechselbeziehung zwischen Mensch und Natur tritt primär als Verhältnis des Bedürfnisses, also des Bedarfs des Menschen a n etwas auf, das sich außerhalb seiner befindet, als Beziehung zum Objekt dieses Bedürfnisses, das es zu befriedigen fähig ist. Bei der Wechselwirkung von Mensch und Natur tritt einerseits die vom Menschen umgestaltete Natur, die von ihm auf diese Weise geschaffene gegenständliche Welt als nach außen verlegte „Wesenskräfte" des Menschen a u f ; andererseits erzeugt und entwickelt nur die gegenständliche Welt der Natur die „Wesenskräfte" des Menschen. Einerseits ist die vom Menschen umgestaltete Natur die nach außen verlegte, in Form des Objekts auftretende eigene Natur des Menschen, des Subjekts; andererseits wird die Natur des Menschen wiederum von der gegenständlichen Welt teils entwickelt, teils erzeugt; einerseits „werden ihm alle Gegenstände als die Vergegenständlichung seiner selbst, als die seine Individualität bestätigenden und verwirklichenden Gegenstände, als seine Gegenstände, d. h. Gegenstand wird er selbst"; „ . . . . mein Gegenstand" kann „nur die Bestätigung einer meiner Wesenkräfte sein" und „sein gegenständliches Produkt bestätigt nur seine (des Menschen — S. R.) gegenständliche Tätigkeit.. Z'36; „erst durch den gegenständlich entfalteten Reichtum des menschlichen Wesens wird der Reichtum der subjektiven menschlichen S i n n l i c h k e i t . . . teils erst ausgebildet, teils erst e r z e u g t . " 3 7 Der so erfolgende Übergang des „gegenständlich entfalteten Reichtums" aus dem Subjekt ins Objekt und aus dem Objekt ins Subjekt, das eben ist die „Vergegenständlichung" und „Entgegenständlichung", von der Marx in der Sprache Hegels spricht. Die Beziehung zwischen Mensch und Natur tritt also als Dialektik von Subjekt und Objekt in Erscheinung. Damit hängt das große Kernproblem zusammen, das die Wechselbeziehungen zwischen der Natur und dem Menschen als einem gesellschaftlichen Wesen betreffen, also die Dialektik von Mensch und Natur. Um das Problem der Dialektik ist gegenwärtig in der ausländischen nichtmarxistischen Literatur über den Marxismus eine heftige Diskussion im Gange. Im Mittelpunkt dieser Diskussion steht bei einigen Autoren (A. Kojeve, Merleau-Ponty, J. P. Sartre u. a.) die Leugnung der Dialektik der Natur. Die Dialektik der Natur wird mit der Begründung abgelehnt (die angeblich im Manuskript von 1844 ihre Unterstützung findet, der nach Meinung der Kritiker einzigen authentischen Darstellung der Philosophie von Marx durch ihn selbst), daß Dialektik nur dort sein kann, wo auch Bewußtsein ist, die Quelle aller Negativität. Calvez konstatiert nicht ohne Verwunderung, daß Marx dennoch die Absicht seines Freundes Engels billigte, eine Dialektik der Natur auszuarbeiten, obwohl dieses Beginnen doch eigentlich - nach der Meinung von Calvez — der Konzeption von Marx widerspricht, wie er sie aus dem Manuskript von 1844 herausliest. Das Wesen der Sache liegt darin, daß die Dialektik in diesem Manuskript in Form der dialektischen Beziehung von Subjekt und Objekt auftritt. 35 36 37

MarxfEngels, Kleine ökonomische Schriften, a. a. 0., S. 133. Marx/Engels, Die heilige Familie, a. a. O., S. 84. Marx/Engels, Kleine ökonomische Schriften, a. a. 0., S. 134.

Allgemeine Probleme

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Daraus, nämlich aus der Dialektik der Beziehungen von Subjekt und Objekt, zieht man erstens den falschen Schluß, daß nur das Verhältnis von Subjekt und Objekt dialektisch sei; zweitens setzt man wiederum an die Stelle des realen Menschen als Subjekt sein Bewußtsein. Darin liegt der Hauptfehler der Gegner der Dialektik der Natur, die die Dialektik auf die Wechselbeziehungen von Bewußtsein und Natur beschränken. Außerdem berücksichtigen diese Kritiker des Marxismus auch nicht, daß für Marx der Mensch selbst ein Teil der Natur ist; daher ist die Dialektik von Subjekt und Objekt, die Marx betrachtet, selbst schon Dialektik der Natur oder, genauer, ein wesentlicher Teil davon. Man braucht sich also weder darüber zu wundern, daß der Marxismus von der Dialektik der Natur spricht, und erst recht darf man ihre Möglichkeit nicht leugnen. Aber wesentlich ist natürlich, daß Marx die Dialektik der Wechselbeziehungen von Mensch und Natur in den Vordergrund rückte und sie als Dialektik von Subjekt und Objekt auffaßte. Obwohl Marx in den „Ökonomisch-philosophischen Manuskripten" Fragen der Erkenntnistheorie nicht speziell behandelt hat, ergeben sich doch schon aus der Problemstellung der Dialektik von Subjekt und Objekt wesentliche Schlußfolgerungen für die Erkenntnistheorie. Wir möchten hier die Schlußfolgerungen umreißen, die sich zwar nicht aus von Marx direkt formulierten Thesen einer eigentlichen Erkenntnistheorie ergeben, wohl aber aus den allgemeinen Grundlagen seiner Konzeption, wie er sie im Manuskript von 1844 dargelegt hat. Diese Schlußfolgerungen sind zwiefacher Art. Aus der allgemeinen Konzeption von Marx folgt, so meinen wir, vor allem, daß der Ausgangspunkt der Erkenntnistheorie nicht die Beziehungen zwischen dem Denken, dem Bewußtsein oder der Idee und dem Gegenstande sind, sondern die Wechselbeziehungen des Menschen, des Subjekts der praktischen und theoretischen Tätigkeit, und der gegenständlichen Welt. Nur im Rahmen dieser Grundbeziehung und auf ihrer Basis kann die Beziehung der Sinnlichkeit und des Denkens zum Gegenstand, zum Ding verstanden und erklärt werden. Das zum ersten. Und zweitens spricht Marx bekanntlich schon von „Abbildung", womit er die Existenz des Gegenstandes außerhalb des menschlichen Bewußtseins, außerhalb des ihn erkennenden Menschen betont; und wenn Lenin, für den der Kampf gegen den physikalischen und physiologischen Idealismus natürlich im Vordergrund steht, die ideelle, sinnliche oder gedankliche Reproduktion des Dinges im Abbild infolge des Erkenntnisprozesses besonders betont, so wird bei Marx, für den nicht weniger natürlich die Überwindung der Kontemplation des ganzen bisherigen Materialismus besondere Bedeutung hat, hauptsächlich der dialektische Charakter des Prozesses betont, der zu diesem Resultat führt. Bei Marx wird vor allem die Abhängigkeit des Resultats der Erkenntnis nicht nur vom Objekt, sondern auch von der eigenen Tätigkeit des Subjekts deutlich, die immer mit gesellschaftlichem Inhalt gesättigt ist. Wenn sich die Folgerungen aus der Arbeit von Marx auch auf diese Frage erstrecken, so steht doch im Mittelpunkt der Arbeit selbst das Problem: Mensch und Natur. Darauf wollen wir auch eingehen. So werden wir wieder zu Fragen kommen, die unmittelbare Beziehung zur Psychologie haben.

Geschichte

172

Nach der Konzeption des Manuskriptes von 1 8 4 4 sind Natur — die hauptsächlich als vom Menschen umgestaltete Natur betrachtet wird -

und Mensch einander gleich-

sam korrelativ, sie setzen einander wechselseitig voraus

(„implizieren"

einander) :

Natur ist die nach außen getragene Wesenheit des Menschen, die in einen Gegenstand für ihn verwandelt ist; der Mensch ist die „Entgegenständlichung" der Natur, die in ihn, in den Menschen verlagert ist. Deshalb behauptet Marx auch, daß „ . . . der durchgeführte Naturalismus oder Humanismus sich sowohl von dem Idealismus als dem Materialismus unterscheidet und zugleich ihre beide vereinigende Wahrheit i s t . " 3 8 Natürlich erkennt Marx

auch in diesem Manuskript das Primat der Natur, ihre

Existenz vor dem Menschen an, so daß das Werden des Menschen das Werden der Natur durch den Menschen ist. Die eigentliche Existenz der Natur ist also vom Menschen unabhängig; daß die Natur existiert, hängt nicht vom Menschen ab, was sie ist, wird durch ihre Wechselbeziehung zum Menschen bestimmt; ihrem Inhalt nach ist sie das, was sie für ihn ist: „Aber auch die Natur,

abstrakt genommen, für sich in der

Trennung vom Menschen fixiert, ist für den Menschen nichts."39

„ . . . mein Gegen-

stand" kann „nur die Bestätigung einer meiner Wesenskräfte s e i n . . . weil der Sinn eines Gegenstandes für mich . . . grade so weit geht, als mein Sinn geht." 4 0 Diese Korrelativität von Natur und Mensch, die den schwachen Punkt der im Pariser Manuskript entwickelten Konzeption darstellt, macht es auch für die Gegner des dialektischen Materialismus so besonders anziehend. Dieser Darstellung der Wechselbeziehung von Natur und Mensch im Manuskript von 1 8 4 4 liegt die Voraussetzung zugrunde, daß die Natur bei philosophischer Betrachtung von vornherein als vom Menschen umgestaltet, als gegenständliche Welt anzusehen ist, die vom Menschen aus dem Material der Natur geschaffen wurde. Diese Voraussetzung bedingte nun auch andere Züge in der Darstellung der Wechselbeziehungen von Mensch und Natur, die auch der weiteren Abhandlung des Problems „Mensch und Natur" ihren Stempel aufdrückten. Die Natur wird manchmal auf die Rolle der Werkstatt und des Rohstoffs für die Produktionstätigkeit des Menschen beschränkt. Für den Menschen als Produzenten bietet sie sich im System seiner industriellen Tätigkeit tatsächlich in dieser Weise dar. Aber die Natur als solche, als Ganzes, und ihre Bedeutung für das Leben des Menschen kann man nicht auf eine einzige Rolle reduzieren. Die Beziehung des Menschen zur Natur lediglich auf die Beziehung des Produzenten zum Rohstoff reduzieren heißt, das Leben des Menschen extrem verarmen. E s heißt, den ästhetischen Bereich des menschlichen Lebens, der menschlichen Beziehung zur Welt in seinen tiefsten Wurzeln untergraben; mehr noch, es bedeutet, mit dem Verlust der Natur als etwas nicht vom Menschen und von niemandem Geschaffenen, als etwas Ewigen, auch die Möglichkeit zu verlieren, sich als Teil dieses großen Ganzen zu fühlen und ihm gegenüber die eigene Geringfügigkeit und Größe bewußt zu erfassen; es bedeutet, das zu verlieren, was der Mensch niemals verlieren darf, wenn er sich nicht selbst der Grundlagen seines geistigen Lebens berauben will, das nämlich, was den Maßstab des menschDie heilige F a m i l i e . . . , a. a. O., S. 84.

38

Marx/Engels,

39

Ebenda, S. 96.

40

Marx/Engels,

Kleine ökonomische Schriften. . ., a. a. O., S. 133 f.

Allgemeine Probleme

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liehen Lebens abgibt und ermöglicht, belanglose und „große" Kleinigkeiten des Lebens richtig zu beurteilen. Primär determiniert die Natur den Menschen, und der Mensch ist Teil der Natur, ein Naturwesen. Dann beginnt der Mensch in dem Maße, wie die Natur Objekt seiner Tätigkeit wird, die Natur zu determinieren, indem er sie umgestaltet. Als Objekt der menschlichen, gesellschaftlichen Tätigkeit wird die vom Menschen umgestaltete N a t u r in den sozial-historischen Entwicklungsprozeß der menschlichen Produktionstätigkeit einbezogen. Es existiert also auch diese umgekehrte Abhängigkeit der Natur vom Menschen, die mit dem Eindringen des Menschen und seiner Tätigkeit in die Natur und der Aneignung der Natur durch den Menschen zusammenhängt. Keinesfalls darf man aber vergessen, daß das ein Prozeß ist, der nie abgeschlossen wird. Also auch nachdem die Natur angefangen hat, Objekt der Kultur zu werden, bleibt sie dennoch in ihrer primären Qualität als eigentliche Natur bestehen. Der Mensch, f ü r den die Natur restlos zum Objekt der menschlichen wirtschaftlichen oder produktiven Tätigkeit werden und aufhören würde, in ihrer Unberührtheit als Natur zu existieren, würde einer wesentlichen Seite seines menschlichen Lebens verlustig gehen. Eine Kultur, die die Natur restlos aus dem Leben vertrieben hätte, würde sich selbst zerstören und unerträglich werden. In den „Ökonomisch-philosophischen Manuskripten" von Marx wird das MenschNatur-Problem auch noch als F r a g e nach dem Natürlichen und Gesellschaftlichen im 41 Menschen behandelt. „Der Mensch", schreibt Marx, „ist unmittelbar Naturwesen" ; und im Zusammenhang damit: „Der Mensch ist der unmittelbare Gegenstand der Naturwissenschaft." 4 2 Andererseits: „Aber die Natur ist der unmittelbare Gegenstand der Wissenschaft vom Menschen" 4 3 , und insofern die ganze Geschichte der Natur als Prozeß „des Werdens der Natur zum Menschen" dargestellt wird, folgt: „Die Ge44 schichte selbst ist ein wirklicher Teil der Naturgeschichte." Daraus ergibt sich: „Die Naturwissenschaft wird später ebensowohl die Wissenschaft von dem Menschen wie die Wissenschaft von dem Menschen die Naturwissenschaft unter sich subsumieren: E s wird eine Wissenschaft sein. 4 5 Die gesellschaftliche Wirklichkeit der Natur und die menschliche Naturwissenschaft oder die natürliche Wissenschaft vom, Menschen sind identische Ausdrücke." 4 6 Diese These von der Verschmelzung der Natur- und Gesellschaftswissenschaft zu „einer" Wissenschaft ist insofern so verlockend, als sie gleichsam die Perspektive bestimmt und die Richtung für die Weiterentwicklung aller Wissenschaften zu einem einheitlichen Endziel weist. Die Begründung der einheitlichen und unteilbaren Wissenschaft, deren zentraler Gegenstand der Mensch ist, dürfte vor allem f ü r die Psychologie verführerisch sein, insofern diese Wissenschaft, die Wissenschaft von der psychichen Tätigkeit des Menschen, an der Grenze zwischen Natur- und Gesellschaftswissenschaften steht und mit den einen wie mit den anderen verbunden ist. Freilich dürfte es sich hier wohl doch nicht um ihre Verschmelzung, sondern um ihre Zusammenfassung zu einem einheitlichen System der Wissenschaften handeln. 41 42 43

Marx/Engels, Die heilige Familie . .., a. a. O., S. 85. MarxjEngels, Kleine ökonomische Schriften, a. a. O., S. 137. 44 45 46 Ebenda. Ebenda. Ebenda. Ebenda.

174

Geschichte

Um jedoch die These der „Ökonomisch-philosophischen Manuskripte" über die einheitliche Wissenschaft, die Natur- und Gesellschaftswissenschaften vereinigt, richtig verstehen und beurteilen zu können, muß man sich über ihren realen Inhalt klar werden, über die Voraussetzungen der damaligen Konzeption von Marx, auf denen sie beruht. Diese Voraussetzungen sind die Identifizierung der Natur mit der vom Menschen aus der materiellen Welt geschaffenen gegenständlichen Welt und die damit zusammenhängende Vorstellung, die ganze Geschichte der Natur sei lediglich die Geschichte des Werdens der Natur zum Menschen. Mit einem Wort, es ist der ganze Gedankengang, der seinen Ausdruck in der Behauptung fand, der konsequent durchgeführte Naturalismus und der konsequent durchgeführte Humanismus seien deckungsgleich, verschmölzen miteinander und unterschieden sich zwar sowohl vom Idealismus als auch vom Materialismus, seien jedoch „zugleich ihre beide vereinigende Wahrheit". 4 7 Dem ist noch hinzuzufügen, daß die These von der Verschmelzung der Gesellschaftsund Naturwissenschaft zu „einer Wissenschaft" noch vor der Begründung des historischen Materialismus aufgestellt wurde, also vor der Entdeckung der spezifischen Gesetzmäßigkeiten des gesellschaftlichen Lebens, und nur damals, vor ihrer Entdeckung, konnte sie auch aufgestellt werden. Diese Überlegungen wie überhaupt die Analyse des Pariser Manuskripts von Marx zeigen noch einmal, wieviel man aus den Werken von Marx, einschließlich dieser Früharbeit, für die Psychologie entnehmen kann und wie wenig man zugleich Fragen der Wissenschaft schlechthin und der Psychologie im besonderen lösen kann, wenn man blind und mechanisch draufloszitiert. Es unterliegt keinem Zweifel, daß wir es bei der Untersuchung der Psychologie des Menschen mit einem engen wechselseitigen Zusammenhang von Natürlichem und Gesellschaftlichem zu tun haben, aber die Lösung der Frage nach ihren Beziehungen verlangt nicht einfach eine Verschmelzung aller Wissenschaften, sondern zunächst einmal eine sorgfältige Differenzierung, eine eingehende Analyse aller verschiedenen Aspekte des Problems. Wenn man von gesellschaftlichen Erscheinungen und Gesellschaftswissenschaften spricht, muß man vor allem die Wissenschaften von der Gesellschaft und die Wissenschaften von den gesellschaftlich bedingten Erscheinungen unterscheiden: Es ist eine Sache, wenn das gesellschaftliche Leben, das Leben der Gesellschaft, selbst Gegenstand der Untersuchung ist, eine andere, wenn es die Voraussetzung der untersuchten Erscheinungen ist, das, was sie bedingt. Die Psychologie ist keine Wissenschaft von der Gesellschaft, aber sie ist, wie alle Humanwissenschaften, eine Wissenschaft von gesellschaftlich bedingten Erscheinungen; sie umschließt eine gewisse Einheit von Natürlichem und Gesellschaftlichem, insofern sie eine Wissenschaft von gesellschaftlich bedingten natürlichen Erscheinungen ist. Die These, daß es sich bei den psychischen Erscheinungen um natürliche Erscheinungen handelt, findet ihre Konkretisierung in der Interpretation der psychischen Tätigkeit als reflektorische Hirntätigkeit, und die gesellschaftliche Bedingtheit der natürlichen reflektorischen Hirntätigkeit äußert sich in der Existenz des mit dem ersten Signalsystem in Wechselwirkung stehenden zweiten Signalsystems, also in der Tatsache, daß für den 47

Marx/Engels, Die heilige Familie. .., a. a. O., S. 84.

Allgemeine Probleme

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Menschen auch das Wort ein „Reiz" ist, der nicht nur die Denktätigkeit bedingt, sondern auch das Leben des Organismus. Schon einige Formen der Sensorik, der elementarsten Art psychischer Tätigkeit, nämlich das musikalische und das Sprachgehör, sind durch Produkte der Kultur, der sozial-historischen Entwicklung bedingt, durch Musik und Sprache. Wenn man von der gesellschaftlichen Determiniertheit der psychischen Erscheinungen spricht, muß man ferner die Determiniertheit der psychischen Tätigkeit durch die Tatsache des gesellschaftlichen Lebens (die sich vor allem beim Menschen in der Existenz der Sprache äußert, die die Struktur der menschlichen Psyche bzw. des menschlichen Bewußtseins bedingt) und die Abhängigkeit der psychischen Erscheinungen von den verschiedenen Formen des gesellschaftlichen Lebens unterscheiden. Die Abhängigkeit von der eigentlichen Existenz des gesellschaftlichen Lebens überhaupt bedingt die Züge, die allen Menschen gemeinsam sind und sich in allgemeinen Gesetzmäßigkeiten der psychischen Tätigkeit des Menschen äußern; die Abhängigkeit von den verschiedenen Formen des gesellschaftlichen Lebens bedingt die verschiedenen typischen Charaktere einer Epoche. Kurz gesagt, um die Verflechtung und den wechselseitigen Zusammenhang des Natürlichen und Gesellschaftlichen im Menschen, in seiner „Psychologie" zu ermitteln, genügt keine allgemeine Formel, vielmehr ist eine konkrete Analyse erforderlich. Die Äußerungen von Marx zu psychologischen Problemen sind, wie bereits oben gesagt, in seinem Manuskript von 1844 konzentriert; nur hier finden wir ein ganzes System von Sätzen, die sich unmittelbar auf die Psychologie beziehen. In den späteren Werken von Marx, speziell in der mit Engels gemeinsam verfaßten „Deutschen Ideologie" (1845/46), finden sich nur vereinzelt wichtige philosophische Äußerungen zu psychologischen Problemen, die die Weiterentwicklung der marxistischen Konzeption widerspiegeln. Dazu gehören die fundamentalen Sätze über das Bewußtsein in der „Deutschen Ideologie": „Das Bewußtsein kann nie etwas anderes sein als das bewußte Sein, und das Sein der Menschen ist ihr wirklicher Lebensprozeß." 48 Im Zusammenhang damit geht man bei einer „dem wirklichen Leben entsprechenden" Betrachtungsweise von den wirklichen lebendigen Individuen selbst" aus „und betrachtet das Bewußtsein nur als ihr Bewußtsein. Nicht das Bewußtsein bestimmt das Leben, sondern das Leben bestimmt das Bewußtsein." 49 In diesen Sätzen ist bereits die Einstellung des Manuskripts von 1844 überwunden, die dahin ging, daß man durch eine Synthese von Humanismus und Naturalismus den Gegensatz zwischen Idealismus und Materialismus aufheben müsse. Deutlich zeigt sich die materialistische Linie, die weiter zu dem Satz führt, daß das gesellschaftliche Sein das gesellschaftliche Bewußtsein bestimmt. Zugleich wird in diesen Sätzen aber auch Bewußtsein und Sein zu unmittelbar in Beziehung gesetzt, ohne Hinweis auf den mittelbaren Charakter ihres Zusammenhanges. Einseitig wird nur die primäre führende Abhängigkeit des Bewußtseins vom Sein und vom Leben betont, während die umgekehrte Abhängigkeit des Seins bzw. Lebens der Menschen von ihrem Bewußtsein überhaupt unerwähnt bleibt (der neuentdeckte Materialismus drängt gleichsam die Dialektik in den HinterMarx/Engels,

Die deutsche Ideologie, a. a. 0., S. 22.

49

Ebenda, S. 23.

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Geschichte

grund). Engels hat später diese Einseitigkeit dessen bemerkt, was er mit Marx zusammen geschrieben hatte, als sie ihr ganzes Augenmerk und alle ihre Kräfte darauf richteten, vor allem die materialistische Grundthese zu verteidigen. Wir haben oben bereits eine Reihe für die Psychologie wichtiger Sätze aus dem „Kapital" angeführt, so daß wir uns hier auf das Grundlegende beschränken können. Auch Engels hat später für die Psychologie wichtige Sätze formuliert. Es sind das die mit dem Problem der Anthropogenese zusammenhängende These über den Anteil der Arbeit (und der Sprache) am Werden des Menschen und seines Bewußtseins 50 , der Hinweis auf die Notwendigkeit, bei der Erklärung des menschlichen Verhaltens nicht von seinem Denken, sondern von seinen Bedürfnissen auszugehen 51 , die Behauptung hinsichtlich der Abhängigkeit des Denkens selbst von der Tätigkeit des Menschen 5 2 usw. Von eminenter Bedeutung sind schließlich auch noch die Gedanken Lenins, deren Angelpunkt die fundamentale These vom Psychischen als Funktion des Gehirns ist, von der Widerspiegelung der objektiven Realität. Wir finden also bei Marx, Engels und Lenin außerordentlich wichtige Ausgangspunkte für den Aufbau der Psychologie, aber aufbauen müssen wir sie selbst. Niemand wird sie uns fix und fertig überreichen. Es gibt nur einen Weg dahin, den Weg der wahrhaft schöpferischen wissenschaftlichen Forschung. Die wirklich schöpferische Bearbeitung von Problemen der Psychologie muß zugleich - am Material der Psychologie — auch zu einer schöpferischen Weiterentwicklung der Philosophie führen. b) Lenins

„Materialismus und die

und

Empiriokritizismus"

Reflextheorie

Wie jede wirklich große Schöpfung weist Lenins „Materialismus und Empiriokritizismus" die Richtung der weiteren Entwicklung des wissenschaftlichen philosophischen Denkens und bestimmt sie, fixiert es aber nicht in einem bestimmten Punkt. Die Bedeutung des weltanschaulichen Denkens schlechthin und vor allem des Denkens Lenins in diesem grundlegenden philosophischen Werk läßt sich unmittelbar daran ermessen, wie bedeutsam der Weg ist, den die wissenschaftliche Forschung gehen muß, damit ein Gedanke, der zunächst als philosophische Antizipation formuliert worden ist, seine 50 51

52

F. Engels, Dialektik der Natur. Dietz Verlag, Berlin 1952, S. 179 ff. „Die Menschen gewöhnten sich daran", schrieb Engels, „ihr Tun aus ihrem Denken zu erklären, statt aus ihren Bedürfnissen (die dabei allerdings im Kopf sich widerspiegeln, zum Bewußtsein kommen) - und so entstand mit der Zeit jene idealistische Weltanschauung, die namentlich seit Untergang der antiken Welt die Köpfe beherrscht hat." (Ebenda, S. 188.) „Naturwissenschaft wie Philosophie haben den Einfluß der Tätigkeit des Menschen auf sein Denken bisher ganz vernachlässigt, sie kennen nur Natur einerseits, Gedanken andrerseits. Aber gerade die Veränderung der Natur durch den Menschen, nicht die Natur als solche allein, ist die wesentlichste und nächste Grundlage des menschlichen Denkens, und im Verhältnis, wie der Mensch die Natur verändern lernte, in dem Verhältnis wuchs seine Intelligenz." (Ebenda, S. 245.)

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konkrete wissenschaftliche Realisierung erhält und zur Verallgemeinerung gesicherter konkreter Forschungsergebnisse wird. Im Kampf gegen den sogenannten „neutralen", idealistischen Monismus Berkeleys stellte Lenin ihm den materialistischen Monismus der marxistischen Philosophie entgegen und drückte sein Wesen in einer extrem lakonischen, knappen Formel aus: Das Psychische, das Bewußtsein, der Geist ist „eine Funktion des Gehirns, die Widerspiegelung der Außenwelt,"53 Wir haben uns so an diese Formel gewöhnt, sie ist für uns so offenkundig und gleichsam selbstverständlich geworden, daß wir uns nicht immer darüber klar sind, welcher Kraft der Synthese es bedarf, um die beiden Teile dieser Formel zu einem Ganzen zu verschmelzen. Der erste Teil der Formel, demgemäß das Psychische, die Empfindung, der Gedanke eine Funktion oder ein Produkt des Gehirns ist, wenn man ihn vom zweiten Teil trennt, hat wiederholt, wie die Geschichte der Philosophie zeigt, zu der Behauptung geführt, die Empfindung, der Gedanke, das Abbild, die vom Gehirn erzeugt werden, würden auch von ihm determiniert und zeigten das Wesen des sie erzeugenden Organs, nicht aber das ihres Objekts. Besonders deutlich wurde das bezüglich der Empfindung vom sogenannten physiologischen Idealismus geäußert, der zum Objekt der Leninschen Kritik wurde. Die These vom Psychischen als Widerspiegelung der objektiven Realität, der zweite Teil der einheitlichen Leninschen Formel, behauptet die Determiniertheit der Empfindung, der Wahrnehmung, des Gedankens, des Bewußtseins durch ihr Objekt. Um die Möglichkeit eines Antagonismus zwischen diesen beiden Thesen zu beheben, mußte die in der Physiologie der Sinnesorgane entstandene Konzeption tiefgreifend, revolutionär umgestaltet werden, und man mußte von der Vorstellung von der Funktion als Funktionieren eines Organs, das lediglich von innen heraus durch seine morphologische Struktur determiniert sein sollte, zur Vorstellung von der Funktion als Tätigkeit des Gehirns übergehen, die auf die Einwirkung der Außenwelt antwortet und die Wechselwirkung des Individuums mit der Außenwelt vollzieht. Um zu dieser neuen Interpretation der Hirnfunktion übergehen zu können, mußte eine reflektorische Theorie der Hirntätigkeit geschaffen werden. Die psychische Tätigkeit des Gehirns kann eine Widerspiegelung der Welt nur in dem Falle sein, wenn die Tätigkeit des Gehirns selbst reflektorische Tätigkeit ist, d. h. eine Tätigkeit, die auf Einwirkungen der Außenwelt antwortet, durch sie bedingt ist. Die reflektorische Theorie war ein notwendiges Glied, das naturwissenschaftlich den Zusammenhang der beiden Teile der einheitlichen Leninschen Formel, der beiden Thesen vermittelte, die Lenin zur Charakterisierung des materialistischen Monismus zu einer zusammengezogen hatte. Den materialistischen Monismus stellte Lenin dem „neutralen" Monismus des Machismus gegenüber. Zu der Zeit, als Lenin bei seiner Arbeit am „Materialismus und Empiriokritizismus" den Machismus, also den „neutralen" Monismus, der Kritik unterzog und das Wesen des materialistischen Monismus formulierte, zeichneten sich 53

12

W. /. Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus, a. a. O., S. 79. Prinzipien und W e g e

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das Eindringen des Machismus in die Psychologie und die Folgen dieser Tatsache für die Philosophie noch nicht besonders deutlich ab, und die Konzeption des materialistischen Monismus fand noch nicht ihren entfalteten naturwissenschaftlichen Ausdruck in der Lehre Pawlows von der höheren Nerventätigkeit. Die Entstehung des Machismus hing mit der Krise der Physik zusammen. In der Folgezeit drang der Machismus allmählich auch in die Psychologie ein. Nun löste man nicht mehr nur die Materie, sondern auch das Bewußtsein in der doppelsinnig aufgefaßten „Erfahrung" auf. Als Antwort auf die von den machistischen Physikern verkündete Parole „Die Materie ist verschwunden" ertönte wie ein Echo die Losung der machistischen Psychologen: „Das Bewußtsein hat sich verflüchtigt" (James). Als aber das Bewußtsein (die Empfindung, das Denken usw.) gleichsam aus dem Menschen extrahiert, von seinem Gehirn isoliert und als „Erfahrung" nach außen verlagert worden war, blieben im Menschen als Objekt der Psychologie nur noch die Reaktionen übrig. So enthüllte der Machismus restlos die Krise der idealistischen Psychologie des Bewußtseins und bereitete den Boden für den Behaviorismus, auf den sich dann später der Neorealismus, eine andere Spielart des „neutralen" Monismus (Russell u. a.) mit seinen philosophischen Konstruktionen stützte. Das „strategische" Endziel des Neorealismus und Machismus war das gleiche, verschieden war nur ihre Taktik. Letzten Endes auf die Materie zielend, richtete der Neorealismus den ersten Angriff gegen das Bewußtsein; das bot auch den Vertretern dieser Spielart des „neutralen" Monismus die Möglichkeit, sich in das Gewand des Realismus zu hüllen. (Denselben taktischen Zug machte später auch der Pragmatismus, als er mit dem „Sozial"-Behaviorismus paktierte.) In der so entstandenen neuen Situation ergab sich für die Philosophie die Notwendigkeit, die Lage zu berücksichtigen, die sich nicht nur in der Physik, sondern auch in der Psychologie herausgebildet hatte. Die allgemeine philosophische Situation verschärfte sich in den folgenden Jahrzehnten nach dem Erscheinen der Leninschen Arbeit erheblich. Die Reaktion im Ausland, vor allem in den USA, erhob das Haupt. In der bürgerlichen Philosophie und Psychologie erhielt neben dem Positivismus und dem verschämten, maskierten Idealismus des „neutralen" Monismus der offen militante Idealismus des spiritualistischen Monismus immer stärkeres Gewicht. Weite Verbreitung erfuhren die thomistische Philosophie und die thomistische Psychologie (Brennan, Donsiel, Nichol u. a.) Unter diesen Bedingungen bekommen die konkrete naturwissenschaftliche Begründung des materialistischen Monismus und die naturwissenschaftliche Begründung der materialistischen Psychologie besondere Bedeutung. Sie wurde von der Entwicklung der Reflextheorie und von der durch Pawlow begründeten Lehre von der höheren Nerventätigkeit geliefert. Die Begründung dieser Lehre ist eines der größten Ereignisse in der Geschichte der Naturwissenschaft nach dem Erscheinen von „Materialismus und Empiriokritizismus" und zugleich dasjenige der Ereignisse, das unmittelbare Beziehung zur naturwissenschaftlichen Erforschung der psychischen Tätigkeit und zur naturwissenschaftlichen Begründung des materialistischen Monismus hat. Die ersten Grundlagen der reflektorischen Theorie der psychischen Tätigkeit wurden bekanntlich von 1. M. Setschenow geschaffen. Er dehnte den Begriff der reflektorischen

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Tätigkeit auf das Gehirn aus und betonte, daß die reflektorische Tätigkeit des Gehirns ein psychisches „Element" als „integrierenden Bestandteil" enthalte, daß also auch die psychischen Prozesse nach Art eines Reflexes verlaufen. Dieses allgemeine Schema füllte Pawlow mit konkretem physiologischem Inhalt, indem er die „wirkliche Physiologie" des höchsten Hirnabschnitts schuf, die Lehre von der höheren Nerventätigkeit, deren Kern die von ihm entdeckten Gesetze der Neurodynamik sind. Pawlow sah in der höheren Nerventätigkeit, in der bedingt-reflektorischen Tätigkeit der höchsten Hirnabschnitte gleichzeitig sowohl eine nervale (materielle) als auch eine psychische Tätigkeit und unterzog sie einer konsequenten physiologischen Analyse. Im Brennpunkt der philosophischen Problematik, die im Zusammenhang damit in neuer konkreter und zugleich unmittelbar greifbarer Form in Erscheinung trat, stehen die Fragen nach der Konkretisierung des materialistischen Monismus und nach der Interpretation des Determinismus schlechthin und speziell im Hinblick auf die Widerspiegelungstätigkeit des Gehirns. Der methodologische Kern der reflektorischen Theorie ist das Prinzip des Determinismus. Dieses Prinzip in seiner dialektisch-materialistischen Interpretation hat, wie mir scheint und wie ich nachzuweisen versucht habe, die Eigenschaft der Widerspiegelung als allgemeine Eigenschaft der Materie, von der Lenin im „Materialismus und Empiriokritizismus" spricht, zur ontologischen Grundlage und ist selbst methodologische Grundlage sowohl der Widerspiegelungstheorie in ihrer speziellen gnoseologischen Erscheinungsform als auch der Reflextheorie. In Abstraktion von den speziellen physiologischen Mechanismen betrachtet, die Gegenstand der Physiologie sind, bedeutet das reflektorische Prinzip als solches nichts anderes als lediglich eine Determinationsweise der Erscheinungen. Die reflektorische Theorie nimmt, je nachdem, wie man die Determination interpretiert, eine bestimmte Gestalt an. Die Reflextheorie Descartes' war eine spezielle Realisierung des mechanistischen Determinismus, der die Ursache als äußeren Anstoß betrachtete. In seiner Konzeption des Reflexes als eines ideomotorischen Aktes entwarf James eine idealistische, indeterministische Variante der Reflextheorie. Setschenow und Pawlow gingen spontan in Richtung auf eine dialektisch-materialistische Interpretation der Determination der Widerspiegelungstätigkeit des Gehirns vor. Reflektorische Tätigkeit ist eine Tätigkeit, mit der der Organismus auf die Einwirkung eines Reizes antwortet; aber der Außenreiz bestimmt den Endeffekt des Prozesses, den er auslöst, nicht unmittelbar, nicht mechanisch; seine Einwirkung wird vielmehr durch die inneren Bedingungen vermittelt, die er vorfindet. Nach der Lehre Pawlows von der höheren Nerventätigkeit hängt der Effekt eines beliebigen Reizes davon ab, auf welches System bedingter Reflexe er trifft, das sich bei dem entsprechenden Individuum herausgebildet hat, d. h. welcherart die inneren Bedingungen sind, durch die seine Einwirkung gebrochen wird. Innere Gesetze sind auch die von Pawlow entdeckten Hauptgesetze der Neurodynamik, die den eigentlichen Verlauf der Hauptnervenprozesse und ihre Wechselbeziehungen bestimmen. Durch diese Nervenprozesse und ihre inneren Gesetzmäßigkeiten wird nach der Lehre von der höheren Nerventätigkeit die Abhängigkeit der äußeren Reaktionen, der äußeren Beziehungen von Organismus und Milieu, von den Lebensbedingungen des Organismus vermittelt. Die Analyse der Reflextheorie unter dem Aspekt der marxistisch-leninistischen 12*

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Geschichte

Philosophie führt notwendig zur verallgemeinerten Darstellung des dialektisch-materialistischen Prinzips des Determinismus: Die äußeren Ursachen wirken über die inneren Bedingungen. Man kann sich unschwer davon überzeugen, daß das auch die methodologische Struktur der Leninschen Widerspiegelungstheorie ist, insofern sie die Behauptung von der bestimmenden Rolle des Objekts enthält und zugleich betont, daß die Widerspiegelung nicht starr, nicht spiegelartig ist. Nach der Widerspiegelungstheorie determiniert das Objekt die Erkenntnis, aber es bestimmt das Abbild des Gegenstandes nicht unmittelbar, nicht mechanisch, sondern mittelbar über die Tätigkeit der Analyse und Synthese, die auf die gedankliche Reproduktion der objektiven Realität durch Umgestaltung der sinnlichen Gegebenheiten gerichtet ist, die durch die Einwirkung des Objekts auf die Sinnesorgane entstehen, aber die „Wesenheit" des Gegenstandes nicht adäquat darstellen. Die dialektisch-materialistische Interpretation des Determinismus vermittelt den Zusammenhang zwischen der Reflextheorie und der Widerspiegelungstheorie und vereinigt sie gleichsam zu einem Ganzen. Man kann sagen, wie bereits oben ausgeführt, daß die Reflextheorie die Anwendung des Prinzips des Determinismus auf die psychische Tätigkeit als höhere Nerventätigkeit des Gehirns ist, die Widerspiegelungstheorie des dialektischen Materialismus dagegen die Anwendung desselben Prinzips auf die psychische Tätigkeit als Erkenntnistätigkeit des Menschen. Die Reflextheorie, um die es dabei geht, ist nicht einfach die Reflextheorie, wie sie von Setschenow und Pawlow formuliert wurde, sondern ihre schon weit fortgeschrittene Verallgemeinerung. Die nach dem Erscheinen der Leninschen Arbeit „Materialismus und Empiriokritizismus" erfolgte Entwicklung der Naturwissenschaft, vor allem die reflektorische Theorie der Hirntätigkeit, bekräftigte die Leninsche Antizipation, daß die psychische Tätigkeit eine Funktion des Gehirns, eine Widerspiegelung der Wirklichkeit ist, und rückte zugleich die philosophische Analyse des Prinzips des Determinismus in den Vordergrund. Die organische Einbeziehung des Problems des Determinismus in den Problemkomplex der Widerspiegelungstheorie ermöglicht auch, neue Ausdrücke für das zu finden, was Lenin meinte, als er bildhaft vom nicht spiegelartigen, nicht starren Charakter der Widerspiegelung sprach. Zugleich eröffnete die Bearbeitung des Problems der Determination psychischer Erscheinungen unter dem Aspekt des dialektischen Materialismus den Weg zum Aufbau einer gesicherten und aussichtsreichen psychologischen Theorie. Das zeigt sich schon im Aufbau der psychologischen Theorie des Denkens, im Aufwerfen grundlegender prinzipieller Fragen der Empfindung und Wahrnehmung und wird sich auch noch auf die Lösung aller Grundprobleme der Psychologie bis zu den psychologischen Problemen der Erziehung des Menschen auswirken. Hier liegen die Grundlagen für den Aufbau des ganzen Gebäudes einer wissenschaftlichen Psychologie, die auch wirksam zur Lösung von Lebensproblemen herangezogen werden kann. Wie die dialektisch-materialistische Analyse zeigt, sind die psychischen Erscheinungen in das Leben des Menschen sowohl als bedingte wie auch als bedingende verflochten. Von den Lebensbedingungen abhängig, bedingen sie das Verhalten des Menschen: sie vermitteln die Abhängigkeit der menschlichen Tätigkeit von den Lebens-

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bedingungen, sie steuern die menschliche Tätigkeit. Wenn man nicht den Anteil der psychischen Tätigkeit an der Steuerung des Verhaltens anerkennt, ist eine deterministische Interpretation des Verhaltens und der Tätigkeit der Menschen unmöglich. Nicht von ungefähr hat Lenin den Epiphänomenalismus abgelehnt. 5 4 Mit dieser Steuerungsfunktion der psychischen Prozesse hängt auch zusammen, daß jede richtig angesetzte psychologische Forschung praktische Bedeutung haben, der Praxis dienen muß. Im „Materialismus und Empiriokritizismus" f ü h r t Lenin einen Ausspruch von Engels an und erklärt sich darin mit ihm solidarisch, daß nämlich der Materialismus „mit jeder epochemachenden Entdeckung schon auf naturwissenschaftlichem G e b i e t e . . . seine Form ändern m u ß " . 5 5 Dieser Satz läßt sich auch auf den vorliegenden Fall anwenden. Die reflektorische Theorie und die Lehre von der höheren Nerventätigkeit erfordern eine Analyse vom Standpunkt des dialektischen Materialismus, und die Analyse der reflektorischen Theorie liefert ihrerseits Material f ü r die Weiterentwicklung einer Reihe von Thesen des dialektischen Materialismus. Das ist überhaupt die einzige sowohl f ü r die Philosophie als auch f ü r die Naturwissenschaft fruchtbare Wechselbeziehung zwischen ihnen. Die einfache Zuordnung abstrakter philosophischer Kategorien zu naturwissenschaftlichen Tatsachen oder auch die einfache Unterordnung naturwissenschaftlicher Fakten unter philosophische Kategorien, wobei diese um nichts bereichert werden, ist ein nutzloses Unterfangen. Nutzbringend ist nur eine solche wechselseitige Durchdringung und Wechselwirkung, die einerseits die Entwicklung der Theorie, die theoretische Verallgemeinerung der gegebenen Tatsachen bewirkt und andererseits am Material der naturwissenschaftlichen Befunde die Bearbeitung philosophischer Probleme bzw. der philosophischen Theorie voranbringt. Sache des Naturforschers ist es, sich von dem leiten zu lassen, was die marxistisch-leninistische Philosophie f ü r den A u f b a u der Theorie, f ü r die theoretische Deutung der Naturwissenschaft zu geben vermag und gibt, und Aufgabe, j a sogar H a u p t a u f g a b e des Philosophen, der in enger Verbindung mit der Naturwissenschaft arbeitet, ist es, am Material der Naturwissenschaft philosophische Probleme zu lösen, die philosophische Theorie weiterzuentwickeln. So muß es auch im vorliegenden Falle sein. Die nach dem Erscheinen von „Materialismus und Empiriokritizismus" erfolgte Entwicklung der Naturwissenschaft, die sich mit der Erforschung der höheren Nerventätigkeit bzw. der psychischen Tätigkeit des Gehirns befaßt, hat die Aufgabe einer philosophischen Analyse der reflektorischen Theorie und, der Weiterentwicklung der philosophischen Theorie durch Konkretisierung der Leninschen Grundthesen gestellt. Analog liegen die Dinge mit dem materialistischen Monismus als Überwindung des Dualismus von Materie und Bewußtsein bzw. Geist. Auch hier bleiben die Leninschen Thesen voll gültig. Die Lehre von der höheren Nerventätigkeit hat durch ihre Behandlung der psychischen Tätigkeit als höhere Nerventätigkeit entschieden mit dem Dualismus gebrochen. Obwohl Pawlow selbst darauf hingewiesen hat, daß seine Lehre die psychische oder höhere Nerventätigkeit lediglich einer konsequenten physiologischen Analyse unter54 55

W. I. Lenin, Materialismus. .., a. a. O., S. 269 f. Ebenda, S. 241.

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zogen habe, machte sie f ü r einige doch die Existenzberechtigung der psychologischen Wissenschaft fraglich und lieferte ihnen scheinbar die theoretische Begründung f ü r die unter staatlichen Gesichtspunkten so schädliche Unterschätzung der praktischen Bedeutung der Psychologie, die man bei uns immer noch beobachten kann. Darin wirkte sich die fehlende Klarheit in einigen philosophischen Grundproblemen aus. In unzweifelhaftem Zusammenhang mit der Lehre Pawlows von der psychischen Tätigkeit als höherer Nerventätigkeit hat sich bei uns in letzter Zeit - vor allem unter den jungen Philosophen - die Tendenz bemerkbar gemacht, die Materialität des Psychischen im Gegensatz zu seiner gnoseologischen Charakteristik als Ideelles zu verkünden. Die Anhänger dieses ultraradikalen, ultra-„linken" Standpunktes verweisen dabei auf eine von Engels formulierte These des dialektischen Materialismus, wonach die Einheit der Welt auf ihrer Materialität beruht. In der Anerkennung der Idealität des Psychischen sehen die Verteidiger seiner Materialität die Gefahr des Dualismus, die Möglichkeit, man könne das Psychische aus der materiellen Welt herausnehmen und es als Ideelles der materiellen Grundlage der Welt gegenüberstellen. Lenin wies in „Materialismus und Empiriokritizismus" darauf hin, daß man bei der Betrachtung der Frage des Psychischen und Physischen, des Bewußtseins und der Materie die gnoseologische Forschungsrichtung von den anderen Aspekten oder Richtungen unterscheiden müsse. 5 6 Die Gegenüberstellung von Psychischem und Materiellem, die im Bereich der Gnoseologie durchaus berechtigt ist, wird zu einem groben Fehler, wenn man sie auch auf andere Bereiche ausdehnt. Diese These kann in dem Sinne verallgemeinert und zugleich konkretisiert werden, daß die psychischen Erscheinungen — wie alle anderen auch — in verschiedenen Systemen von Zusammenhängen und Beziehungen in verschiedenen Qualitäten in Erscheinung treten; andere Eigenschaften oder Aspekte werden führend und bestimmend: Ideell ist die psychische Tätigkeit in ihrem resultativen Ausdruck als Abbild, als Idee in ihrer gnoseologischen Beziehung zum Ding, zum Objekt. Das schließt keineswegs aus, daß die psychische Tätigkeit zugleich nicht nur psychische, sondern auch nervale Tätigkeit eines materiellen Organs ist, nämlich des Gehirns. Freilich darf man den gnoseologischen und den naturwissenschaftlichen oder „ontologischen" Aspekt sowie die entsprechenden Charakteristiken der psychischen Tätigkeit nicht nur gegeneinander abgrenzen; man muß sie auch „synthetisieren", zueinander in Beziehung setzen. Auch in der Seinslehre darf man den gnoseologischen Aspekt nicht übersehen, und in der Erkentnistheorie muß man auch die Forderungen der „Ontologie", der Seinslehre des dialektischen Materialismus berücksichtigen. Auf dem Gebiet der Gnoseologie heißt das unserer Meinung nach, daß man hinter der Beziehung von Abbild und Ding als Ausgangsbeziehung die des erkennenden Subjekts und des erkannten Objekts, der objektiven Realität, aufdecken muß, d. h. eine Beziehung zweier materieller Realitäten. Die Gegensätzlichkeit von ideellem Abbild und materiellem Ding bleibt also erhalten, zugleich wird aber alle Gefahr der Eliminierung des Ideellen aus der materiellen Welt beseitigt. Die primäre Akzentuierung der SubjektObjekt-Beziehung und ihrer Dialektik in der Erkenntnistheorie ist die unmittelbare 50

Ebenda, S. 235 f.

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Fortsetzung der wichtigsten Gedanken von Marx. Andererseits liefert die Berücksichtigung des gnoseologischen Aspektes der Charakteristik der psychischen Tätigkeit, der in der Leninschen Charakteristik des Psychischen (als Hirnfunktion, als Widerspiegelung der Außenwelt) enthalten ist, den Ausgangspunkt für die Abgrenzung des eigentlich psychologischen Aspekts der einheitlichen Widerspiegelungstätigkeit des Gehirns. Wir fassen die gesamte Hirntätigkeit als einheitliche und als reflektorische Tätigkeit auf. In bezug auf diese Tätigkeit fungieren die Dinge zunächst als Reize, die auf die Sinnesorgane und damit auf das Gehirn einwirken; im Verlauf dieser Tätigkeit entstehen Empfindungen bzw. Wahrnehmungen, und dadurch treten die Dinge für das Individuum in der neuen Eigenschaft von Objekten der Erkenntnis und der Tätigkeit in Erscheinung. Dadurch ist auch der Übergang vom physiologischen Forschungsaspekt zum psychologischen bestimmt. Psychologie und Gnoseologie haben verschiedene Aufgaben: Selbst dann, wenn es sich auch in der Psychologie um Erkenntnisprozesse handelt, geht es in der Psychologie um ihre Verlaufsgesetzmäßigkeiten beim Individuum, in der Gnoseologie dagegen um ihre Wahrheit bzw. um ihre Adäquatheit gegenüber dem Sein. Freilich hat Lenin die gnoseologische These „Widerspiegelung der Außenwelt" nicht von ungefähr in die Grundcharakteristik des Psychischen aufgenommen. Eine gnoseologische Beziehung zum Objekt ist nur dort möglich, wo in der einheitlichen Widerspiegelungstätigkeit des Gehirns bereits der psychische Aspekt in Erscheinung tritt. Demnach bedeutet jeder Versuch, die Widerspiegelungstätigkeit des Gehirns einzig auf ihren physiologischen Aspekt zu reduzieren, nolens volens, bewußt oder unbewußt den Versuch, nicht nur die Psychologie, sondern auch die Gnoseologie zu liquidieren. Die Anerkennung der marxistisch-leninistischen Gnoseologie, schon die ihrer Existenz, zieht zwangsläufig auch die Anerkennung der psychologischen Wissenschaft und ihrer philosophischen Fundiertheit nach sich. Im Zusammenhang damit ergibt sich für uns notwendig die Frage nach den Beziehungen zwischen der Psychologie und der physiologischen Lehre von der höheren Nerventätigkeit. Vor allem behaupten wir ihre untrennbare Gemeinsamkeit. Die aussichtsreichste Grundlage dieser Gemeinsamkeit ist nicht der Versuch, die ganze psychologische Wissenschaft mechanisch einfach auf die physiologische Lehre von der höheren Nerventätigkeit zurückzuführen, sondern die Gemeinsamkeit der philosophischen, methodologischen Prinzipien, die sowohl dem physiologischen als auch dem psychologischen Aspekt der Lehre von der Widerspiegelungstätigkeit des menschlichen Gehirns zugrunde liegen. Auf der Grundlage des materialistischen Monismus und der reflektorischen Theorie in der obenerwähnten Auffassung, d. h. auf dem Prinzip des Determinismus in seiner dialektisch-materialistischen Interpretation baut sich letzten Endes auch das Gebäude der psychologischen Wissenschaft auf. Die Grundfrage der Philosophie ist die Frage nach den Beziehungen zwischen Materie und Bewußtsein, zwischen Physischem und Psychischem. Sie ist nicht zu lösen, wenn man sich nur auf die Befunde der Physik hinsichtlich der Materie stützt, nur auf die Kenntnisse von dem einen Gliede dieser Relation; auf diese Weise läßt sich die Grundfrage der Philosophie nicht lösen, wenn man nicht riskieren will, auf den Standpunkt des mechanischen Materialismus abzugleiten. Will man die Grundfrage der Philosophie

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nach der Beziehung von Materie und Bewußtsein lösen, muß man nicht nur die wissenschaftlichen Befunde über die Materie, sondern auch die über das Bewußtsein berücksichtigen. Die Bearbeitung der philosophischen Grundprobleme dient der Entwicklung der psychologischen Theorie; zugleich erfährt auch die philosophische Theorie am Material der Psychologie eine gewisse Konkretisierung und Weiterentwicklung. Ein Vergleich der Hauptthesen aus „Materialismus und Empiriokritizismus" von Lenin und der Entwicklungswege der psychologischen Wissenschaft liefert dafür stichhaltige Beweise. c) Die Reflextheorie

I. M. Selschenows und I. P. Pawlows

Das Reflexprinzip wurde bekanntlich erstmalig von Descartes formuliert (obwohl der eigentliche Terminus „Reflex" bei ihm noch fehlt). Die Vorstellung vom Reflex trug damals das deutliche Gepräge seiner mechanistischen Weltanschauung. Später, im 18. Jahrhundert, taucht dann, ich glaube erstmalig bei Aspe-Ruch Montpellier, der Terminus „Reflex" auf. Obwohl der Begriff „Reflex" in der Physiologie eine lange Geschichte hinter sich hat, kann man doch mit gutem Grunde jene Reflextheorie, deren Grundprinzipien von Setschenow formuliert und in der Lehre Pawlows weiterentwickelt und konkret realisiert wurden, als prinzipiell neue Konzeption bezeichnen. Setschenow und Pawlow schufen einen neuen Reflexbegriff und wandten, was besonders wichtig ist, die Prinzipien der Reflextheorie auch auf die psychische Tätigkeit an. Von der Geschichte der Reflexlehre wollen wir nur einige Momente erwähnen. Einen besonderen Platz nimmt in der Entwicklungsgeschichte des Reflexbegriffs von Descartes bis zu Setschenow und Pawlow der tschechische Wissenschaftler Jifi Prochaska ein. Mit ihm beginnt der Übergang von der mechanistischen Descartesschen zur biologischen Interpretation des Reflexes. „Die Widerspiegelung sensorischer Eindrücke in Bewegungen, die im gesamten Sensorium auftreten", schreibt Prochaska, „erfolgt nicht nach den einfachen physikalischen Gesetzen, nach denen der Reflexionswinkel gleich dem Einfallswinkel und die Reaktion gleich der Wirkung ist, die sie ausgelöst hat, sondern sie unterliegt spezifischen Gesetzen, die gleichsam von der Natur in die Hirnsubstanz des Sensorismus eingeschrieben sind." 5 7 Hier betont Prochaska (unter Verwendung des Begriffs des „gesamten Sensoriums", den Setschenow später kritisiert hat) den Anteil der inneren biologischen Bedingungen der Reflextätigkeit und skizziert sozusagen eine der „Thesen" der Setschenowschen Dissertation über die Nichtübereinstimmung von Erregung und ausgelöster Bewegung. Zugleich fanden sich bei Prochaska auch die ersten Schritte zur Überwindung der dualistischen Descartesschen Gegenüberstellung von reflektorischen und psychischen (Bewußtseins-) Akten. Prochaska ist der Setschenowschen Reflexkonzeption unserer Meinung nach nähergekommen als irgendeiner der späteren Physiologen. 57

J. Prochaska, 1800, p. 150.

Opera minorum anatomici-physiologici et pathologici argumenti. t. 2, Viennae.

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In der folgenden Periode bildete sich auf Grund der Arbeiten von Charles Bell, François Magendie u. a. in den Werken von Marshall Hall und Johannes Müller, die ihre Aufmerksamkeit auf die strukturellen, anatomischen Eigenarten des Nervensystems konzentrierten, die zu Zeiten Prochaskas nur wenig untersucht worden waren, jene anatomische Konzeption für die Funktion des Nervensystems heraus, die Setschenow später kritisierte und der er seine funktionelle, physiologische Konzeption entgegensetzte; zu dieser Zeit entsteht auch die Vorstellung von der anatomischen Lokalisation der Reflexbögen. Auf eben dieser Grundlage bildet sich auch die bis zu Setschenow und Pawlow vorherrschende Vorstellung heraus, daß der Reflex das Hauptfunktionsprinzip der Rückenmarkzentren sei, wodurch sie sich auch von den Hirnzentren unterscheiden sollten. Besonders ausgeprägt war der Dualismus in der Hallschen Konzeption, wonach die Tätigkeit des Organismus in zwei völlig heterogene Arten aufgespalten sein sollte, deren eine im Rückenmark und deren andere im Gehirn zu lokalisieren wäre. Die erste Funktionsweise sollte lediglich unter der Einwirkung äußerer Stimulantien stehen und durch die morphologisch fixierte Struktur der Nervenbahnen, durch die anatomisch fixierten Reflexbögen determiniert sein; die zweite hingegen unterstand angeblich einzig der Gewalt spontaner psychischer Kräfte. In den Diskussionen, die Mitte des 19. Jahrhunderts um diese Theorien entbrannten, wurden die Konzeptionen von Hall und Müller nicht selten „von rechts" kritisiert, wobei man darauf abzielte, das Wirken der spontanen psychischen Kräfte wiederum auch auf die elementaren unwillkürlichen Bewegungen auszudehnen und die deterministische reflektorische Konzeption aus diesem Bereich zu verdrängen. Ernste Kritik übte der bekannte Physiologe Pflüger an der in der Wissenschaft der damaligen Zeit grundlegenden reflektorischen Konzeption von Hall und Müller, wobei er sich auf seine experimentellen Untersuchungen stützte. E r opponierte gegen die Gegenüberstellung von Rückenmarkreaktionen und Handlungen, die durch sensorische Reaktionen bedingt sind, da, wie er schrieb, nicht bewiesen sei, daß die sensorische Funktion nicht selbst eine Folge bestimmter Gesetze sei und Gesetzmäßigkeiten unterliege. Er hielt es für falsch, aus der Wirkungssphäre der Naturgesetze etwas nur deshalb auszuschließen, weil man es Bewußtsein nennt, und behauptete, daß die Gesetzmäßigkeiten als solche nicht als Kriterium dafür fungieren können, was eine reflektorische und was eine willkürliche Bewegung ist; „ . . . d i e reflektorische Bewegung und die willkürliche", so erklärte er, „sind gleichermaßen gesetzmäßig". Zugleich wies Pflüger nach, daß die Vorstellung von einer ein für allemal anatomisch fixierten und prädisponierten Verbindung zwischen sensorischen und motorischen Nerven, wie sie dem Reflexbegriff von Hall und Müller zugrunde lag, außerstande ist, den Anpassungscharakter der Reaktionen nicht *nur des Gehirns, sondern auch des Rückenmarks zu erklären. Daher postulierte Pflüger nicht nur für das Gehirn, sondern auch für das Rückenmark Gesetzmäßigkeiten, die sich von denen der Reflextätigkeit unterscheiden sollten. Diese Gesetzmäßigkeiten blieben freilich unbekannt. Bei seinem Angriff auf die dualistische Gegenüberstellung der Funktion von Rückenmark und Gehirn, der reflektorischen und der angeblich mit diesen nichts gemein habenden willkürlichen, bewußten Akte, untergräbt Pflüger also auch die damalige anato-

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mistische Reflexkonzeption der spinalen Reaktionen. Auf dieser Grundlage faßt er dann die bewußten und die reflektorischen Akte zusammen, da beide gleichermaßen gesetzmäßig sind und Anpassungsfunktion haben. Verständlicherweise treten daraufhin die Idealisten (Lotze u. a.) in der um den Reflexbegriff entbrannten Diskussion als Verteidiger der Reflexkonzeption für die niederen Akte gegen Pflüger

auf, um unter Ver-

wendung des damaligen Reflexbegriffes die Angleichung von bewußten und reflektorischen Akten zu verhindern. Andererseits hatte die Behauptung Pflügers,

daß die

Konzeption eines Reflexes, der durch eine in der Struktur des Nervensystems fixierte Verkettung sensorischer Nerven definiert werde, weder den Anpassungscharakter der Hirnfunktionen noch auch den der Rückenmarkfunktionen erklären könne, den Vorwurf zur Folge, seine Konzeption führe zur Vorstellung von einer Rückenmarkseele. Um uns nicht unnötig mit der Geschichte der Reflexlehre aufzuhalten, wollen wir uns darauf beschränken, lediglich den Standpunkt Pflügers, des 19. Jahrhunderts, dem Setschenowschen Pflüger

eines der größten Physiologen

gegenüberzustellen. 5 8

akzeptiert den damals gängigen Reflexbegriff als unumstößlich, wobei man

im Reflex einen Akt sah, der durch einen morphologisch fixierten Reflexbogen, durch eine von vornherein gegebene Verkettung sensorischer und motorischer Nerven bestimmt sein sollte. Nachdem Pflüger

sich davon überzeugt hatte, daß dieser Mechanismus un-

tauglich ist, um Anpassungsakte des Organismus an das Milieu zu vollziehen, lehnte er es nicht nur ab, die Gesetzmäßigkeiten der Hirnfunktionen, sondern auch die der Rückenmarkfunktionen auf den Reflexmechanismus zurückzuführen. Setschenow

da-

gegen, der auf dieselbe historisch entstandene Situation stieß, ging einen anderen Weg, der in gewissem Sinne dem Pflügerschea

genau konträr war. E r lehnte nicht die reflek-

torische Natur der Anpassungsreaktionen ab, wie Pflüger,

sondern die in der vorher-

gegangenen anatomischen Physiologie entstandene anatomische Konzeption des Reflexes, die für Pflüger

unantastbar war, und erweiterte die modifizierte — nun nicht mehr

anatomische, sondern funktionelle - Reflexkonzeption auf das Gehirn. Die Anwendung des Reflexbegriffes auf das Gehirn hängt zwangsläufig mit seiner Generalisierung zusammen. Mehr noch: Der Begriff „Reflex" verliert eigentlich seinen bisherigen Inhalt und dient nun nicht mehr zur Bezeichnung dessen, was die Reaktionen der niederen Abschnitte des Nervensystems von den bewußten Akten des Gehirns unterscheidet. Mit der Erweiterung des Geltungsbereichs des Reflexionsbegriffes, mit seiner Anwendung auch auf das Gehirn hängt nicht nur zwangsläufig seine neue Charakteristik zusammen, sondern auch der Verlust seiner bisherigen Funktion zur Bezeichnung der spezifischen Eigenarten der Reaktionen der tieferen Abschnitte des Nervensystems. Welchen Inhalt hat nun der neue Setschenowsche torischen Tätigkeit? Wenn Setschenow

Begriff des Reflexes und der reflek-

die Hirntätigkeit als reflektorisch bezeichnet, so

bedeutet das vor allem, daß diese Tätigkeit gesetzmäßig determiniert ist. Erste naturwissenschaftliche Voraussetzung der Reflextheorie Setschenows

ist die

These über die Einheit von Organismus und Umwelt, über die aktive Wechselwirkung 58

Eine ausführliche, dokumentarische Geschichte der Reflexlehre in der Physiologie des 19. Jahrhunderts und der zugehörigen Diskussionen findet der Leser in dem Artikel M. G. Jaroschewskis „Aus der Geschichte der Reflexlehre im 19. Jahrhundert" („Mittbl. f. intern. Kulturgeschichte", Jan.-Febr. 1958). (russ.)

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von Organismus und Außenwelt. 59 Diese These war die erste allgemein-biologische Voraussetzung der Entdeckung der Reflexe des Gehirns durch Setschenow. Die durch äußere Einwirkungen bedingte reflektorische Tätigkeit des Gehirns ist jener „Mechanismus", der die Verbindung des über ein Nervensystem verfügenden Organismus mit der Außenwelt herstellt. Die zweite — physiologische — Voraussetzung der Reflextheorie war Entdeckung der zentralen Hemmung.

Setschenows

Die prinzipielle Bedeutung der Entdeckung der zentralen Hemmung für den Aufbau der Reflextheorie besteht vor allem darin, daß sie der erste Schritt zur Entdeckung der inneren Gesetzmäßigkeiten der Hirntätigkeit war; die Entdeckung dieser letzteren wiederum war notwendige Voraussetzung für die Überwindung der mechanistischen Auffassung von der Reflextätigkeit nach dem Schema Reiz-Reaktion, faßte doch die mechanistische Theorie die Ursache als bloßen äußeren Anstoß auf, der angeblich die Reaktion eindeutig bestimmen sollte. 60 Die These von der Einheit von Organismus und Existenzbedingungen und die Entdeckung der zentralen Hemmung sind die Hauptschritte auf dem Wege zu den „Reflexen des Gehirns". Der Kernpunkt der reflektorischen Interpretation der psychischen Tätigkeit ist der Satz, daß die psychischen Erscheinungen im Prozeß der durch das Gehirn vollzogenen Wechselwirkung von Individuum und Umwelt entstehen; deshalb können auch die psychischen Prozesse, die von der Dynamik der Nervenprozesse untrennbar sind, weder von der Einwirkung der Außenwelt auf den Menschen noch von seinen Handlungen 59

,i0

Setschenow formuliert diese These folgendermaßen: Ein Organismus ohne Außenwelt, die seine Existenz aufrechterhält, ist unmöglich; daher „muß in die wissenschaftliche Definition des Organismus auch das ihn beeinflussende Milieu eingehen" (/. M. Setschenow, Zwei Abschlußvorlesungen über die Bedeutung der sogenannten vegetativen Akte im Tierleben. Ausgew. Werke, Bd. I. Moskau-Leningrad 1952, S. 533 [russ.]). Später (1878) schreibt Setschenow vom Einfluß „des Milieus, in dem sie leben, oder, genauer, ihrer Existenzbedingungen" auf die Organismen (/. M. Setschenow, Elemente des Denkens. Ausgew. phil. u. psych. Werke Moskau 1947, S. 412 [russ.]). Das Milieu bzw. die Existenzbedingungen gehen also in die Definition des Organismus ein; zugleich werden gegenüber dem Milieu die Existenzbedingungen abgehoben, die durch die Anforderungen bestimmt werden, die der Organismus an seine Umwelt stellt. Schon Punkt 3 der „Thesen", die der Dissertation von Setschenow „Materialien für eine neue Physiologie der Trunkenheit" beilagen, lautete: „Der allgemeinste Charakter der normalen Hirntätigkeit (insofern sie sich in einer Bewegung äußert) ist die fehlende Entsprechung zwischen dem Reiz und der dadurch ausgelösten Handlung bzw. Bewegung" (I. M. Setschenow, Ausgew. Werke, Bd. II, a. a. O., 1956, S. 864 [russ.]). Das bedeutet, daß bereits die Vorgeschichte der Setschenowschen Reflextheorie im Prinzip die Ablehnung des Reiz-Reaktions-Schemas und der mechanistischen Vorstellung von der Fähigkeit der äußeren Ursache (des äußeren Anstoßes) enthielt, das Resultat der Hirntätigkeit unmittelbar zu bestimmen. Die erste Erklärung für die fehlende Ubereinstimmung zwischen der Reaktion und der durch eine äußere Einwirkung hervorgerufenen Erregung war die Hemmung; sie ist die innere Bedingung, die den jeweiligen Effekt der äußeren Einwirkung bedingt.

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und Verhaltensweisen, von seiner praktischen Tätigkeit isoliert werden, zu deren Steuerung sie dienen. Die psychische Tätigkeit ist nicht nur Widerspiegelung der Wirklicheit, sondern sie bestimmt auch die Bedeutung der widergespiegelten Erscheinungen für das Individuum, ihre Beziehung zu seinen Bedürfnissen; daher steuert sie auch das Verhalten. Die „Bewertung" der Erscheinungen, die Beziehung zu ihnen ist mit dem Psychischen vom Augenblick seiner Entstehung an ebenso verknüpft wie ihre Widerspiegelung. Welches sind nun die grundlegenden, spezifischen Züge der Reflexe des Gehirns? Ein Hirnreflex ist nach Setschenow ein erlernter Reflex, also kein angeborener, sondern ein im Laufe der Individualentwicklung erworbener, der von den Bedingungen abhängt, unter denen er entsteht. Denselben Gedanken drückt Pawlow in den Termini seiner Lehre von der höheren Nerventätigkeit aus, wenn er sagt, es sei ein bedingter Reflex, eine zeitweilige Verbindung. Ein Hirnreflex ist eine Verbindung des Organismus mit seinen Existenzbedingungen. Diese Eigenart des Hirnreflexes tritt auch mit allem Nachdruck und mit prinzipieller Schärfe in der Pawlowschen Lehre von den bedingten Reflexen in Erscheinung. Bildhaft charakterisiert Pawlow den bedingten Reflex, die zeitweilige Verbindung als zeitweilige Schließung von Leitungsbahnen zwischen Erscheinungen der Außenwelt und entsprechenden Reaktionen des tierischen Organismus. 61 Reflextätigkeit ist jene Tätigkeit, durch die ein Organismus, der über ein Nervensystem verfügt, seine Verbindung mit den Lebensbedingungen, seine ständig wechselnden Beziehungen zur Außenwelt realisiert. Die bedingt-reflektorische Tätigkeit ist nach Pawlow als Signaltätigkeit darauf gerichtet, „die wesentlichen, für das Tier notwendigen Existenzbedingungen. . ., die als unbedingte Reize dienen" 6 2 , aus dem in ständigem Wechsel befindlichen Milieu herauszusuchen. In der Pawlowschen Gesamtkonzeption der reflektorischen Tätigkeit steht im Zusammenhang damit der Begriff der Bekräftigung im Mittelpunkt: Es erfolgt diejenige reflektorische Tätigkeit, die „bekräftigt" wird. Mit den beiden ersten Zügen des Hirnreflexes ist notwendig auch der dritte verknüpft. Da der Hirnreflex „erlernt", zeitweilig ist und sich mit Veränderung der Bedingungen ebenfalls verändert, kann er nicht durch morphologisch ein für allemal fixierte Bahnen bestimmt sein. 63 Der „anatomischen Physiologie", die bis dato herrschte und in der alles auf die Form, auf die topographische Isoliertheit der Organe zurückgeführt wurde, setzt el (i2 (,i

I. P. Pawlow, Sämtliche Werke. Akademie-Verlag, Berlin 1953, Bd. III/l, S. 79. / . P. Pawlow, a. a. 0 . , Bd. III/2, S. 368. Bei der Darlegung des Wesens seiner Konzeption im Vorwort zur „Physiologie der Nervenzentren" schrieb Setschenow, er wolle „vor allem dem Urteil der Fachleute den Versuch anheimgeben, bei der Beschreibung der zentralen nervalen Erscheinungen ein physiologisches System an die Stelle des bis dato herrschenden anatomischen zu setzen, d. h., nicht die Form in den Vordergrund zu rücken, sondern die Tätigkeit, nicht die topographische Isoliertheit der Organe, sondern die Zusammenfassung der zentralen Prozesse zu natürlichen Gruppen" (/. M. Setschenow, Physiologie der Nervenzentren. Moskau 1952, S. 21 [russ.]).

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Setschenow ein physiologisches System entgegen, bei dem die Funktion, die Koppelung der zentralen Prozesse in den Vordergrund tritt. Diese Tendenz e r f u h r nur bei Pawlow ihre weitere Realisierung. Die Pawlowsche Reflextheorie überwand die Vorstellung, daß der Reflex voll und ganz durch die in der Struktur des Nervensystems morphologisch fixierten Bahnen bestimmt werde, auf die der Reiz gelangt. Sie wies nach, daß die reflektorische Hirntätigkeit (die immer sowohl unbedingte als auch bedingte Reflexe umfaßt) ein Produkt der an die Hirnstrukturen geknüpften Dynamik der Nervenprozesse ist, „die die wechselnde Beziehung des Individuums zur Umwelt ausdrückt".'' 4 Schließlich — und das ist das allerwichtigste — ist der Hirnreflex ein Reflex „mit psychischer Komplikation". Die Anwendung des Reflexprinzips auf das Gehirn f ü h r t e dazu, auch die psychische Tätigkeit in die reflektorische Hirntätigkeit einzubeziehen. Das ist der prinzipiell wichtigste Zug der Setschenowschen Konzeption der Hirnreflexe. Die reflektorische Interpretation der psychischen Tätigkeit kann man in zwei Sätzen ausdrücken: 1. Die psychische Tätigkeit kann nicht von der einheitlichen reflektorischen Hirntätigkeit getrennt werden; sie ist deren „integrierender Bestandteil". 2. Das allgemeine Schema des psychischen Prozesses ist dasselbe wie das jedes beliebigen reflektorischen Aktes: Der psychische Prozeß beginnt — ebenso wie jeder reflektorische Akt — mit einer äußeren Einwirkung, wird durch zentrale Nerventätigkeit fortgesetzt und endet mit einer Antworttätigkeit des Individuums (mit einer Bewegung, einer Verhaltensweise, einer sprachlichen Äußerung). Die psychischen Erscheinungen entstehen durch eine „Begegnung" des Individuums mit der Außenwelt. Die psychischen Erscheinungen können also weder von der objektiven Realität noch von der reflektorischen Hirntätigkeit isoliert werden. Die psychischen Erscheinungen entstehen nach Setschenow im Prozeß der Wechselwirkung von Individuum und Umwelt; sie sind von der materiellen Nerventätigkeit des Gehirns, die diese Wechselwirkung vollzieht, untrennbar. Dadurch, daß Setschenow die psychische Tätigkeit als „Begegnung" des Subjekts mit der objektiven Realität auffaßt, überwindet er nicht nur die „Isolierung" des Psychischen vom materiellen, physiologischen Substrat, sondern auch vom Objekt. Die reflektorische Interpretation der psychischen Tätigkeit steht dem Introspektionismus entgegen, der die psychischen Erscheinungen in die Innenwelt des Bewußtseins verbannt, das seinerseits von der materiellen Außenwelt isoliert ist. Bei seiner Darlegung des Sinns der reflektorischen Interpretation des Psychischen wies Setschenow alle Versuche zurück, den Inhalt des Psychischen aus der Natur des

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Eine analoge Darstellung, bei der der anatomisch-morphologischen Vorstellung von präformierten Nervenbahnen eine funktionelle dynamische Konzeption entgegengesetzt wird, findet sich auch eindeutig in Setschenows „Elemente des Denkens" (/. M. Setschenow: Elemente des Denkens. Ausgew. phil. u. psych. Werke. S. 443 f. [russ.]). Diesen Zug der Pawlowschen Reflextheorie hob auch K. M. Bykow in seinem Referat auf dem 18. Internationalen Physiologenkongreß vom 15.-18. August 1950 in Kopenhagen als entscheidend hervor. Vgl K. M. Bykow, Die Lehre von den bedingten Reflexen und die Reflextheorie. „Mittbl. d. Len. Univ.", 1950, Nr. 9, S. 8 ff. (russ.).

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Gehirns abzuleiten. In seiner Polemik mit Kawelin verteidigte er die reflektorische Theorie und kritisierte die Behauptung Kawelins, er, Setschenow, versuche, das Wesen des Psychischen, seinen Inhalt, aus der „Struktur der Nervenzentren" abzuleiten.'' 5 Der Kernsatz der Setschenoiosehen reflektorischen Interpretation des Psychischen beinhaltet die Anerkennung der Tatsache, daß der Inhalt der psychischen Tätigkeit, da es sich j a um reflektorische Tätigkeit handelt, nicht aus der „Natur der Nervenzentren" ableitbar ist, daß er durch das objektive Sein determiniert wird und dessen Abbild ist. Die Behauptung, das Psychische habe reflektorischen Charakter, hängt gesetzmäßig mit der Anerkennung der psychischen Widerspiegelung des Seins zusammen. 6 ® Setschenow betonte ständig die reale Lebensbedeutung des Psychischen. Als er den reflektorischen Akt analysierte, bezeichnete er dessen ersten Teil, der mit der Wahrnehmung der Sinneserregung beginnt, als Signalteil. „Die Sensorik", so schrieb er, „spielt überall im Prinzip die gleiche Signalrolle." 6 7 Dabei „vorinformieren" die sensorischen Signale über das, was in der Umwelt passiert. Entsprechend den ins Zentralnervensystem gelangenden Signalen vollzieht der zweite Teil des reflektorischen Aktes die Bewegung. Setschenow betont den Anteil der „Sensorik" an der Steuerung der Bewegungen. Die sinnlichen Abbilder - der Anblick eines Wolfes f ü r das Schaf oder der eines Schafes f ü r den Wolf, um ein Beispiel von Setschenow zu verwenden, — haben eine Umstellung aller Lebensfunktionen des Wolfes und des Schafes zur Folge und lÖ6en bei beiden Tieren Bewegungsreaktionen entgegengesetzten Sinnes aus. 6 8 In dieser aktiven Rolle der Sensorik sah Setschenow ihre „Lebensbedeutung", ihren „Sinn". In der Fähigkeit, zur Unterscheidung der „Handlungsbedingungen" zu dienen und damit die Möglichkeit zu „diesen Bedingungen entsprechenden" Handlungen zu eröffnen, fand Setschenow „die beiden allgemeinen Bedeutungen", die die „Sensorik" charakterisieren. 6 9 Im Begriff der Signalbedeutung der Sensorik und ihrer „präinformativen" Rolle antizipierte Setschenow unmittelbar die Pawlowsche Interpretation der Empfindung und Wahrnehmung als Signale der Wirklichkeit. Nachdem Setschenow einmal die These aufgestellt hatte, das psychische „Element" sei „integrierender Bestandteil" der reflektorischen Tätigkeit, mußte er auch die „Stelle" des Psychischen in der reflektorischen Tätigkeit angeben. In den „Reflexen des Gehirns" betonte er vor allem den Zusammenhang des Psychischen mit dem

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/ . M. Setschenow, Bemerkungen zu dem Buche des Herrn Kawelin, „Die Aufgaben der Psychologie". Ausgew. phil. u. psych. Werke, a. a. O., S. 192. In ihrem kritischen Teil war die Polemik Setschenows gegen Kawelin, der die Meinung vertrat, man müsse das Bewußtsein an Hand der Produkte der geistigen Tätigkeit untersuchen, ein Kampf gegen die Linie des „objektiven Idealismus", gegen jenen Weg, den die deutsche Psychologie von Wundt bis zu Diltey und Spranger gegangen war. Die Untersuchung der Produkte der geistigen Tätigkeit, ohne den Prozeß zu berücksichtigen, führte zum Vermengen von individuellem und gesellschaftlichem Bewußtsein und bedeutete die Trennung des Psychischen von seinem materiellen Substrat, von der physiologischen, nervalen Tätigkeit. I. M. I. M. 1952, I. M.

Setschenow: Physiologie der Nervenzentren, a. a. O., S. 27. Setschenow: Erste Vorlesung in der Moskauer Universität. Ausgew. Werke, Bd. I, S. 579 (russ.). Setschenow: Elemente des Denkens. A. a. O., S. 416.

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Zentralglied des Reflexes. Psychische Erscheinungen entstehen nur dann, wenn ein Impuls von der Peripherie die Großhirnrinde erreicht. Nur als Hirnreflexe, bei ihrem Durchgang durch den Kortex, werden Reflexe zu psychischen Akten. Als Setschenow jedoch später (in der Polemik gegen Kawelin) wiederum auf diese Formel zurückkam, die das psychische „Element" mit dem Zentralglied des Reflexes verknüpfte, bemerkte er die darin verborgene Gefahr einer Isolierung des Psychischen vom ganzheitlichen reflektorischen Akt und betonte den Zusammenhang des psychischen „Elements" mit dem ganzen Reflexbogen einschließlich des effektorischen Endes. Die Bedeutung des effektorischen Endes des Reflexbogens zu betonen, war besonders wichtig im Hinblick auf den Anteil am Erkenntnisprozeß, den er den Muskeln zuerkannte, was wiederum mit der Anerkennung des Anteils der Bewegung, des Handelns an der Erkenntnis zusammenhing, mit der Vorstellung vom Menschen als aktivem „Gestalter". Setschenow betonte ständig die Bedeutung der durch die Muskelbewegung ausgelösten Empfindungen. Das Ausführungsorgan, das die Bewegung vollzieht, ist an der Entstehung des Psychischen nicht als Effektor beteiligt, sondern als Rezeptor, der sensorische Signale von der ausgeführten Bewegung liefert. Diese sensorischen Signale bilden die „Kontakte" mit dem Anfang des folgenden Reflexes. Auf diese Weise kam Setschenow zu der wichtigen Behauptung, daß jedem psychischen Gebilde, selbst einem ganz elementaren wie der Empfindung, eine Assoziation von Reflexbögen zugrunde liegt. In diesem Zusammenhang formulierte er erstmalig die neue reflektorische Interpretation der Assoziation. Zwischen den Sätzen, die den Zusammenhang des psychischen „Elements" mit dem zentralen Teil des Reflexbogens, mit dem gesamten Bogen und mit einer Assoziation von Reflexbögen behaupten, besteht keinerlei Widerspruch. Der Satz, daß jedem psychischen Gebilde eine Assoziation von Reflexbögen zugrunde liegt, absorbiert unmittelbar das, was an der Ablehnung einer Isolierung des Psychischen vom Reflexbogen als Ganzem und vor allem an der Anerkennung des Anteils der Bewegung bzw. des Handelns an der Erkenntnis richtig und wichtig ist. Er ändert auch nicht das geringste an dem Satz über die Bedeutung der „zentralen Hirnfunktion". Zugleich betont der Satz über die Assoziation der Reflexbögen die wichtige These, daß jedes psychische „Element", auch das einfachste (die Empfindung), das Produkt einer komplizierten reflektorischen Nerventätigkeit ist. Diese These hat ihre Bedeutung bis heute bewahrt. Wie oben gesagt, behauptete Setschenow, die psychische Tätigkeit habe zwei „Bedeutungen" : Sie spiegele erstens die Wirklichkeit, die sich verändernden Handlungsbedingungen, wider und diene zweitens als Regulator des Handelns. Indem sie die sich ändernden Bedingungen signalisiert, ermöglicht sie, das Handeln darauf zu orientieren. Dabei weist Setschenow ganz eindeutig nach, daß die psychische Tätigkeit das Handeln durch Projektierung des Handlungsverlaufs entsprechend den Handlungsbedingungen nur deshalb steuern kann, weil sie diese Bedingungen analysiert und synthetisiert. Eine reflektorische Theorie, die als Hauptdaseinsweise des Psychischen seine Existenz als Prozeß, als Tätigkeit ansieht, wäre inhaltlos, wenn sie nicht erklärte, worin diese Tätigkeit besteht. Die grundlegende und allgemeinste Charakteristik der psychischen Tätigkeit besteht nach der reflektorischen Theorie Setschenows wie auch nach der Pawlows darin,

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daß es sich um eine analytisch-synthetische Tätigkeit handelt, um eine Tätigkeit der Analyse und Synthese. Auf der Einsicht in die außerordentlich große Bedeutung dieses Satzes fußt nämlich die These Setschenows von der Einheit des Erkenntnisprozesses. Diese Einheit besteht darin, daß sich die Prozesse der Analyse, Synthese und Generalisierung durch alle Glieder des Erkenntnisprozesses hindurchziehen, daß sie ihnen allen gemeinsam sind. Setschenow hat ein allgemeines Schema einer reflektorischen Konzeption der Hirntätigkeit geschaffen und seine Bedeutung für den Aufbau der Psychologie nachgewiesen. Die eigentlichen physiologischen Gesetzmäßigkeiten der Kortikalfunktionen als Ganzes waren Setschenow noch nicht bekannt. Er war dei Ansicht, daß ihre Entdeckung eine Sache der fernen Zukunft sein würde. Diese Gesetze entdeckte dann Pawlow, womit er die reflektorische Theorie mit neuem wissenschaftlichem Inhalt füllte. Zwangsläufig und gesetzmäßig tritt in den Arbeiten Pawlows der physiologische Aspekt der Reflextheorie in den Vordergrund. Dabei erklärt Pawlow mit allem Nachdruck und unmißverständlich, daß der Zentralbegriff seiner ganzen Lehre von der höheren Nerventätigkeit, der bedingte Reflex, eine zugleich physiologische wie psychische Erscheinung sei. Er selbst konzentrierte seine Aufmerksamkeit auf die physiologische Analyse der reflektorischen Tätigkeit und berührte den psychologischen Aspekt der reflektorischen Konzeption zwar mit sehr gewichtigen Worten, aber doch nur beiläufig. Wenn Pawlow, der sich auf die so glänzend gelöste Aufgabe der physiologischen Analyse der Reflextätigkeit konzentrierte, der psychologischen Analyse nicht soviel Aufmerksamkeit schenkte wie Setschenow, dann heißt das nicht, daß er im Gegensatz zu ihm den Anteil der bildhaften Widerspiegelung der Wirklichkeit an der reflektorischen Tätigkeit der Großhirnrinde ignorierte oder gar leugnete. Der für die Pawlowsehe Konzeption grundlegende Satz, daß Empfindung, Wahrnehmung und Vorstellung „die ersten Signale der Wirklichkeit" sind, ist ein direkter und unverbrüchlicher Beweis dafür, daß beide in dieser Frage die gleiche Linie vertraten; es liegt nicht der geringste Anlaß vor, in dieser Hinsicht den einen dem anderen gegenüberzustellen. Die prinzipiellen Ansichten Setschenows und Pawlows zur Frage nach der Stellung der psychischen Widerspiegelung in der Hirntätigkeit sind die gleichen, in dieser Hinsicht vertreten sie eine gemeinsame Linie. Zu diesem gemeinsamen Anliegen leistete Pawlow einen Beitrag, den man schwerlich hoch genug einschätzen kann: Er entdeckte die Gesetze der reflektorischen Rindentätigkeit, er schuf die Lehre von der höheren Nerventätigkeit. Ebenso wie Setschenow betonte auch Pawlow zu Recht die Determiniertheit der reflektorischen Tätigkeit von außen, durch Außenreize. Niemals und nirgends behauptet Pawlow aber eine direkte, mechanische Abhängigkeit des Verhaltens vom Reiz, vom Stimulus, wie es der Behaviorist tut. Seine ganze Lehre zielt darauf ab, die inneren Gesetzmäßigkeiten jener Nervenprozesse aufzudecken, die die Abhängigkeit der Reaktionen von den Reizen, von den äußeren Einwirkungen vermitteln. Solche inneren Gesetze sind die von Pawlow entdeckten Gesetze der Irradiation und Konzentration von Erregung und Hemmung und ihrer wechselseitigen Induktion.

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Sie alle drücken die inneren Wechselbeziehungen der Nervenprozesse aus, durch die die vom Gehirn vollzogenen Wechselbeziehungen des Organismus mit seinen Lebensbedingungen vermittelt werden, also die Einwirkungen der Lebensbedingungen auf den Organismus und seine Antworttätigkeit in Abhängigkeit von den äußeren Bedingungen. Die Vermittlung des Effekts der äußereil Einwirkungen durch die inneren Bedingungen liegt nicht nur in der Charakteristik und Bedeutung der Gesetze der Neurodynamik, sondern auch in der ganzen Lehre von der bedingt-reflektorischen Rindentätigkeit, insofern nach dieser Lehre die Einwirkung jedes bedingten Reizes, wenn sie in den Kortex gelangt, auf ein ganzes System durch E r f a h r u n g entstandener Verbindungen trifft. Infolgedessen ist die reflektorische Antwort des Organismus auf den im Augenblick wirkenden Reiz nicht allein durch diesen bedingt, sondern auch durch das ganze System von Verbindungen, das er bei dem entsprechenden Individuum vorfindet. Die Reize erhalten variable Bedeutung, die sich in Abhängigkeit davon verändert, was sie auf Grund der bisherigen Erfahrung, die sich im Kortex als System bedingter Nervenverbindungen niedergeschlagen hat, f ü r das jeweilige Individuum signalisieren. Die Lehre von der höheren Nerventätigkeit ist eine Disziplin zwischen der Physiologie und Psychologie; ihrer Methode nach eine physiologische Disziplin, gehört sie hinsichtlich ihrer Aufgaben gleichzeitig zum Bereich der Psychologie. Insofern ihr Endziel die Erklärung psychologischer Erscheinungen ist (Entstehung der Empfindungen durch Differenzierung der Reize und Bestimmung der Bedeutung der Gegenstände und Erscheinungen der Wirklichkeit f ü r das Leben und die Tätigkeit des Individuums vermittels der Signalverbindungen), geht die Lehre von der höheren Nerventätigkeit in den Bereich der Psychologie über, wenn sie ihn auch keineswegs ausschöpft. Die Beziehung der Lehre von der höheren Nerventätigkeit zur Psychologie kann man mit der Beziehung der Biochemie (nicht einfach der Chemie) zur Biologie vergleichen. Die Pawlowsche Lehre von der höheren Nerventätigkeit gehört zu den wissenschaftlichen Grenzdisziplinen, die an der Grenzscheide zweier Wissenschaften liegen und den Übergang bilden, die im modernen System der Wissenschaft eine führende Rolle spielen. Die Lehre von der höheren Nerventätigkeit hat insofern eine besondere Bedeutung, als es sich hier um den Übergang von materiellen physiologischen Prozessen zu psychischen handelt, zwischen denen die dualistische Weltanschauung eine Kluft aufreißt. Das Problem der Beziehungen zwischen der Lehre von der höheren Nerventätigkeit und der Psychologie basiert auf dem Problem der Beziehungen zwischen höherer Nerventätigkeit und psychischer Tätigkeit. Pawlow hat sie, wie bekannt, miteinander identifiziert. Er hat wiederholt gesagt, er verstehe unter höherer Nerventätigkeit das, was man gemeinhin psychische Tätigkeit nennt. Wir akzeptieren diese Identifizierung in dem Sinne, daß psychische Tätigkeit und das, was Pawlow höhere Nerventätigkeit nannte, ein und dieselbe Erscheinung, objektiv ein und dieselbe Realität ist. Jedes Ding ist aber, wie Hegel sagte und Lenin unterstrich, immer es selbst und ein anderes, insofern man es in verschiedene Zusammenhänge einordnen kann, wo es sich dann in unterschiedlichen Qualitäten darbietet. Die Begriffe der höheren Nerventätigkeit und der psychischen Tätigkeit sind unterschiedlich: Sie drücken verschiedene Aspekte 13

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ein und derselben Sache oder Erscheinung aus. Unrecht haben sowohl diejenigen, die die Identität des Gegenstandes oder Bereiches von Erscheinungen leugnen, zu denen die beiden Begriffe „höhere Nerventätigkeit" und „psychische Tätigkeit" gehören, wie auch diejenigen, die über diese Identität nicht hinauskommen und die Unterschiedlichkeit der Aspekte leugnen, die durch die Begriffe „höhere Nerventätigkeit" und „psychische Tätigkeit" ausgedrückt werden, und die letztere auf die erstere reduzieren wollen, nachdem sie auf diese Weise die psychischen Erscheinungen als solche überhaupt liquidiert haben. Die fruchtlosen Diskussionen zwischen denen, die den ersten Fehler begehen, und denen, die in den zweiten verfallen, hängen mit der Vermengung der beiden unterschiedlichen Aspekte des Problems und der daraus resultierenden Unmöglichkeit zusammen, das Problem auch nur eindeutig zu stellen, geschweige denn, es richtig zu lösen. Unterscheidet man aber diese verschiedenen, obenerwähnten Aspekte des Problems, dann kann man, ohne in formallogische Widersprüche zu geraten, im oben erwähnten Sinne behaupten, daß psychische Tätigkeit und höhere Nerventätigkeit sowohl miteinander identisch als auch miteinander nicht identisch sind. Darin liegt keinerlei formallogischer Widerspruch. Pawlow hat bekanntlich von der Verschmelzung der psychischen Erscheinungen mit den physiologischen Nervenbeziehungen gesprochen. 7 0 Der allgemeine und grundlegende Sinn dieses Satzes bestand in der Forderung, den Dualismus bei der Darstellung der psychischen Erscheinungen zu überwinden. So verstanden, war und ist die Forderung Pawlows unbestreitbar richtig. Spezieller ist schon die Frage, wie diese Verschmelzung zu erfolgen hat. In den ersten J a h r e n nach der Pawlow-Tagung der beiden Akademien von 1950 erfolgte die „Anpassung" der psychischen Erscheinungen an die physiologischen Gesetzmäßigkeiten der höheren Nerventätigkeit rein äußerlich, indem man den durch Untersuchung ermittelten psychologischen Fakten irgendwelche Gesetzmäßigkeiten der höheren Nerventätigkeit unterschob, mit denen man sie rein äußerlich in Beziehung brachte, ohne daß man jedoch durch die Untersuchung ihre physiologischen „Mechanismen" aufgedeckt hätte. Eine derartige „Anpassung" konnte jedoch die Erklärung psychischer Erscheinungen im Prinzip weder ersetzen noch irgendwie voranbringen. Andererseits fanden sich auch Tendenzen, die Anpassung und Verschmelzung so zu interpretieren, daß man die entsprechenden psychischen Erscheinungen lediglich als subjektive Indikatoren der einzig objektiven physiologischen Prozesse betrachtet; die Annäherung und Verschmelzung wurde so zum Austausch der psychischen Prozesse gegen physiologische, wobei die psychischen Erscheinungen letzten Endes überhaupt aus dem objektiven Inhalt der Wissenschaft eliminiert wurden. (So hat allem Anschein nach auch A. G. Iwanow-Smolenski die Annäherung und Verschmelzung aufgefaßt.) Die Überwindung des Dualismus f ü h r t e hier zum Mechanizismus. Und auch das war keine Realisierung der durch die Lehre Pawlows gebotenen Möglichkeiten, den materialistischen Monismus auf dieses so wichtige Gebiet der Wissenschaft auszudehnen. Im Hinblick auf den Menschen hielt Pawlow es f ü r notwendig, seine Lehre von der höheren Nerventätigkeit, die er ja an Tieren entwickelt hatte, durch den Gedanken des 70

/ . P. Pawlow, Sämtliche Werke, a. a. O., Bd. III/2, S. 402 f.

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zweiten Signalsystems der Wirklichkeit zu vervollständigen, das mit dem ersten in Wechselwirkung steht und nach denselben physiologischen Gesetzen funktioniert. Die Einführung des zweiten Signalsystems in die Lehre von der höheren Nerventätigkeit ist von sehr wesentlicher programmatischer Bedeutung. Sie stellt der Lehre von der höheren Nerventätigkeit die Aufgabe, das Bewußtsein des Menschen als Produkt des gesellschaftlichen Lebens in seinen spezifischen Eigenarten physiologisch zu erklären. Für das zweite Signalsystem ist entscheidend, daß hier als Reiz das Wort fungiert, ein Kommunikationsmittel, der Träger von Abstraktion und Generalisierung, die Realität des Gedankens. Zugleich ist das zweite Signalsystem ebenso wie das erste kein System äußerer Erscheinungen, die als Reize dienen, sondern ein System reflektorischer Verbindungen in ihrer physiologischen Erscheinungsform; das zweite Signalsystem ist weder die Sprache als gesellschaftliche Erscheinung noch die individuelle sprachliche Äußerung oder das Denken, sondern ein Prinzip der Rindentätigkeit, das die physiologische Grundlage für deren Erklärung abgibt. Das zweite Signalsystem ist nicht die Sprache oder das Wort als solches, als sprachliche Elementareinheit, sondern System von Verbindungen und Reaktionen, die auf das Wort als Reiz gebildet werden. Der konkrete faktische Inhalt des Begriffs des zweiten Signalsystems besteht vor allem in dem experimentellen Beweis der Tatsache, daß das Wort fest in der ganzen organischen Lebenstätigkeit des Menschen „verwurzelt" ist. Das vom Menschen ausgesprochene Wort hat zur „Basalkomponente" die sprechmotorische Kinästhesie, die bedingt-reflektorisch mit der gesamten Rindentätigkeit verbunden ist. Das vom Menschen wahrgenommene, gehörte und gesehene Wort ist für ihn ein realer Reiz, der unter bestimmten Bedingungen stärker werden kann als ein „erstsignalischer" Reiz. Diese von der Forschung ermittelte Tatsache ist von fundamentaler Bedeutung für das Verständnis der ganzen Psychologie des Menschen. 71 Freilich ist der Begriff des zweiten Signalsystems, der zur Erklärung der Eigenarten der höheren Nerventätigeit des Menschen eingeführt wurde, bisher in erster Linie noch die Bezeichnung für ein Problem, das zu lösen ist. Um dieses Problem, das Pawlow mit dem Terminus „zweites Signalsystem" bezeichnete und das in der Aufdeckung der physiologischen Grundlagen oder Mechanismen der höchsten Formen des menschlichen Bewußtseins besteht, real zu lösen, muß noch intensiv geforscht werden. Zieht man das Fazit aus dem, was Pawlow geleistet hat, dann kann man vor allem sagen, daß er erstmalig eine Physiologie der höchsten Hirnabschnitte schuf. Für das Verständnis der psychischen Tätigkeit ist das von entscheidender Bedeutung. Vor Pawlow wurde lediglich die Empfindung physiologisch analysiert; die vorpawlowsche 71

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So haben Versuche von K. M. Bykow und A. T. Pschonik folgendes bewiesen: Wenn man etwa an der Hand einen Wärmereiz setzt - vielleicht in Form eines angewärmten Plättchens und zu der Versuchsperson „ k a l t " sagt, dann folgen, wenn das System der entsprechenden bedingten Verbindungen sicher fixiert ist, die vasomotorischen Reaktionen der Versuchsperson entgegen dem unmittelbaren Reiz dem verbalen Reiz. Vgl. K. M. Bykow und A. T. Pschonik, Über die Natur des bedingten Reflexes. Phys. Journ. d. U d S S R , Bd. X X X V , Nr. 5, 1949, S. 509 ff. (russ.). Siehe ferner A. T. Pschonik, Großhirnrinde und Rezeptorfunktion des Organismus. Moskau 1952 (russ.).

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Physiologie war eine Physiologie der Sinnesorgane im Sinne peripherer Rezeptorapparate. Für Pawlow dagegen ist der Kortex selbst ein grandioses Organ der Sensorik, das aus den zentralen, kortikalen Enden der Analysatoren besteht. Bekanntlich betrachtet Pawlow auch die sogenannte motorische Rindenzone als motorischen Analysator, also auch als Organ der Sensorik, das die vom bewegten Organ stammenden Signale analysiert. Andererseits haben die sogenannten sensorischen Rindenzonen zwangsläufig auch insofern motorische Funktionen, als die Rindentätigkeit reflektorische Tätigkeit ist, deren Endglied in motorischen Effektorreaktionen besteht. Dieser Satz folgt zwangsläufig aus allen Arbeiten Pawlows und seiner Schule, die nachweisen, daß die Rindentätigkeit reflektorischen Charakter hat. Die Vorstellung, daß die Rinde ein Organ der Sensorik ist, nämlich die Gesamtheit der zentralen, kortikalen Analysatoren, überwindet die Isolierung des peripheren Rezeptors als Organ der Sensorik. Damit führt sie zur Überwindung der idealistischen Empfindungstheorie von Müller und Helmholtz und schafft die Voraussetzungen für die Beseitigung der Trennung zwischen der Empfindung einerseits und der Wahrnehmung und dem Denken auf der anderen Seite. Dieser Satz überwindet nicht nur die Trennung des peripheren Rezeptors von den zentralen, kortikalen Apparaten, sondern auch die Isolierung der zentralen, kortikalen Apparate von den Einwirkungen auf periphere Rezeptoren. Damit wird die gesamte Rindentätigkeit unter die Kontrolle der Einwirkungen der Außenwelt gestellt und die idealistische Vorstellung von einer angeblich rein „spontanen" Rindentätigkeit ausgeschlossen. Eine Auffassung vorn Kortex, die von der Lehre von den Analysatoren ausgeht, ist notwendige Voraussetzung für die Realisierung des reflektorischen Prinzips in der Hirntätigkeit. Die ganze prinzipielle Bedeutung einer derartigen Konzeption ist leicht einzusehen. Der Unterschied zwischen den Konzeptionen der Hirnphysiologie und denen der peripheren Physiologie der Sinnesorgane ist ein prinzipieller Unterschied. Die „Physiologie der Sinnesorgane", die ihre Kompetenz auf die elementaren Formen der Sensorik beschränkte, ließ die Möglichkeit einer idealistischen Interpretation aller „höheren" psychischen Prozesse durchaus offen. Die „Hirnphysiologie" schließt diese Möglichkeit aus. Nicht von ungefähr richten auch die amerikanischen Behavioristen, die offen (wie etwa Guthrie) oder verdeckt gegen die Lehre Pawlows auftreten, indem sie sich zur „neopawlowschen Schule" rechnen (z. B. Hull und seine Anhänger), ihre Anstrengungen darauf, die Pawlowschen Begriffe der Erregung, Hemmung, Irradiation usw., die bei Pawlow selbst zentrale und kortikale Prozesse bezeichnen, als periphere Erscheinungen darzustellen. Sie machen sich dieselbe periphere Konzeption zunutze, die Müller und Helmholtz in der Lehre von den Rezeptorfunktionen der Sinnesorgane praktizierten. Die an die Stelle der Pawlowschen Lehre gesetzte periphere, mechanistische Interpretation des „conditioning" der Reaktionen führt bei ihrer eindeutigen Unfähigkeit, die komplizierten Verhaltensformen zu erklären, unmittelbar dazu, f ü r diese Verhaltensformen immer unverhüllter idealistische Konzeptionen vom Verhalten zu konstruieren, das angeblich auf „insight" usw. beruhe. Die Hirnphysiologie unterscheidet sich von der peripheren Rezeptor- und Effektorphysiologie nicht nur dadurch, wo nach der jeweiligen Theorie die Haupttätigkeit des

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Nervenapparates erfolgt, sondern auch dadurch, worin sie besteht. Und das ist das wichtigste. Nach der peripheren Theorie läuft die Rolle des Gehirns auf die elementaren Funktionen der einfachen Erregungsübertragung vom Rezeptor auf den Effektor hinaus; die peripheren Apparate aber - Rezeptoren und Effektoren — können ganz offensichtlich nicht die Funktionen leisten, die nach Pawlow dem Gehirn bzw. dem Kortex zukommen. Die Untersuchungen Pawlows und seiner Schule haben gezeigt, daß das Gehirn eine komplizierte Analyse und Synthese, Differenzierung und Generalisierung der Reize durchführt. Eben darin, in der Analyse und Synthese, der Differenzierung und Generalisierung, besteht auch die höhere Nerventätigkeit bzw. die psychische Tätigkeit des Gehirns. Durch Analyse, Synthese usw. werden die Wechselbeziehungen des Organismus bzw. des Individuums mit der Umwelt realisiert. Und zwar ist die vom Kortex geleistete (höhere) Analyse nicht nur eine Analyse der Reize hinsichtlich ihrer Struktur, sondern auch hinsichtlich ihrer Bedeutung für den Organismus. Eben deshalb ist die Pawlowsche Physiologie auch eine Physiologie des Verhaltens, der Tätigkeit, durch die die Wechselbeziehung des Individuums bzw. Organismus mit der Umwelt realisiert wird, und nicht eine bloße Physiologie der einzelnen Reaktionen eines jeweils einzelnen Organs, des Effektors (wie bei den amerikanischen Vertretern der Lehre vom „conditioning"). Objekt der Pawlowschen Forschung war die einheitliche, ganzheitliche Tätigkeit des Kortex, des höchsten Hirnabschnittes, die höhere Nerventätigkeit, die gleichermaßen physiologisch wie psychisch ist. Diese einheitliche höhere Nerventätigkeit untersuchte Pawlow konsequent physiologisch. 72 Ziel seiner Forschungen war es, diese höhere Nerventätigkeit, d. h. die materialistisch aufgefaßte psychische Tätigkeit, physiologisch zu erklären. Deshalb untersuchte er die Dynamik derjenigen Nervenprozesse, mit deren Hilfe die reflektorische Rindentätigkeit erfolgt - Analyse, Synthese, Differenzierung und Generalisierung der Reize - , und schuf seine „echte" Physiologie der höchsten Hirnabschnitte (wie er selbst sie qualifiziert). Erregung und Hemmung — ihre Irradiation, Konzentration und wechselseitige Induktion — sind die physiologischen Prozesse, durch die die Analyse, Synthese usw. erfolgt (das eigentliche Wesen dieser dynamischen Prozesse ist freilich bisher noch hypothetisch und ungeklärt). Die Funktionen, die diese Prozesse vollziehen, spiegeln sich in der physiologischen Charakteristik der kortikalen Prozesse und ihrer Dynamik wider. Der Wechsel der Hauptprozesse — Erregung und Hemmung — hängt von der Aufgabe ab, in deren Lösung sie einbezogen sind, nämlich die Wechselbeziehungen des Individuums mit seinen Lebensbedingungen zu realisieren. Das zeigt sich besonders deutlich in der Tatsache, daß ein physikalisch gleichbleibender Reiz aus einem Auslöser einer bestimmten Reaktion zu ihrem Hemmer werden kann, wenn diese Reaktion nicht „bekräftigt" wurde. Die Eigenschaft eines Reizes, Erreger oder Hemmer bestimmter Reaktionen zu sein, hängt also vom Verhaltenseffekt der Reaktion auf diesen „Wir. . . sind von der Physiologie ausgegangen und stehen auch stets auf einem rein physiologischen Standpunkt. Das gesamte Gebiet wird von uns rein physiologisch untersucht und systematisiert" (/. P. Pawlow, Sämtliche Werke, a. a. O., Bd. IV, S. 6).

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Geschichte

Reiz ab. Darin zeigt sich eindeutig und unmißverständlich die Richtigkeit des so wichtigen Satzes, daß man die Hirntätigkeit nicht außerhalb der Wechselwirkung von Individuum und Umwelt verstehen kann, wenn man also weder die Einwirkungen der Umwelt auf das Gehirn noch die Reaktion des Individuums berücksichtigt. Zudem sind auch alle Pawloivschen Gesetze der Nervenprozesse innere, d. h. spezifische physiologische Gesetze. Die Gesetze der Irradiation, Konzentration und wechselseitigen Induktion bestimmen die inneren Wechselbeziehungen der Nervenprozesse zueinander, und durch die inneren Gesetzmäßigkeiten, die ihr Ausdruck sind, werden alle Reaktionen des Individuums auf äußere Einwirkungen vermittelt. Eben durch die Entdeckung dieser inneren Gesetze der Hirntätigkeit, die den Effekt aller äußeren Einwirkungen vermitteln, bekommt der Determinismus der Pawlowschen Reflextheorie nicht mechanistischen, sondern dialektisch-materialistischen Charakter. Gäbe es keine inneren Gesetze, die die inneren Wechselbeziehungen der kortikalen Nervenprozesse zueinander bestimmen, dann gäbe es auch keine Hirnphysiologie als Wissenschaft. Die Analyse der Lehre Pawlows von der höheren Nerventätigkeit erlaubt ebenso wie die Analyse der Arbeiten Setschenows, aus dem speziellen naturwissenschaftlichen Inhalt das prinzipielle philosophische Skelett einer reflektorischen Theorie herauszupräparieren, die sich (unabhängig von den persönlichen Ansichten Pawlows und Setschenows in ihrer historischen Bedingtheit) gesetzmäßig sowohl mit der Widerspiegelungstheorie als auch mit dem Determinismus, beides dialektisch-materialistisch aufgefaßt, verknüpft. Auf Grund dieser Tatsache nämlich hat die reflektorische Theorie, die diese allgemeinen Prinzipien im konkreten naturwissenschaftlichen Inhalt der Lehre von der Hirntätigkeit realisiert, so grundlegende Bedeutung für die Sowjetpsychologie bekommen. Wenn man die Bedeutung der Lehre Pawlows von der höheren Nerventätigkeit betont, muß man sich notwendig auch über die Problematik klar sein, die sich im Verlauf ihrer Entwicklung herausstellte. Nur wenn man die Leistungen der Vergangenheit richtig beurteilt und auswertet, kann man vorwärtskommen. Die Pawlowsche Lehre hat den Begriff der reflektorischen Tätigkeit, der zunächst zur Charakterisierung der Reaktionen der tieferen Abschnitte des Nervensystems eingeführt worden war, mit einem physiologischen Inhalt gefüllt, der sich auf den höchsten Abschnitt bezieht. Die Entdeckung der bedingten Reflexe (der „erlernten" Reflexe des Gehirns) und die Erforschung der Gesetzmäßigkeiten der höheren Nerventätigkeit schufen die reale Möglichkeit, die physiologische Analyse auch auf die höchsten Formen der Hirntätigkeit auszudehnen und sie physiologischen Gesetzmäßigkeiten unterzuordnen. Dadurch, daß der Begriff der reflektorischen Tätigkeit nun einen Inhalt bekam, der sich auf die höchsten Formen der Hirntätigkeit bezieht, verlor dieser Terminus seine frühere Funktion, als Unterscheidungsmittel der verschiedenen Funktionsniveaus zu dienen, also die niederen und höheren Stufen der menschlichen Tätigkeit voneinander abzugrenzen. Daraus resultierte in der Pawlowschen Schule die Tendenz, die ganze Physiologie der Lehre von der Tätigkeit der Großhirnrinde (und dem, was auf den tieferen Abschnitten des Nervensystems ihrer Kontrolle unterliegt) unterzuordnen oder auf sie zu reduzieren. Die Physiologie lief Gefahr, die ganze Mannigfaltigkeit der physiologischen Funktionen des Organismus und die Erforschung der spezifischen Gesetzmäßig-

Allgemeine Probleme

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keiten der tieferen Abschnitte des Nervensystems aus dem Blick zu verlieren. Mit dieser Reduzierung der ganzen Physiologie auf die alleinige Untersuchung der Rindentätigkeit steht auf der anderen Seite die Tendenz in Zusammenhang, die Psychologie mit der Physiologie dadurch zu verschmelzen, daß man die Psychologie restlos auf die physiologische Lehre von der höheren Nerventätigkeit reduziert. Die Tendenzen der Lehre von der höheren Nerventätigkeit, sich von der allgemeinen Physiologie zu isolieren, und das Bestreben, sich mit der Psychologie zu verschmelzen, sie restlos zu absorbieren, sind zwei wechselseitig miteinander verknüpfte Aspekte der gleichen Tendenz: Eine gewisse „Dephysiologisierung" der Lehre von der höheren Nerventätigkeit erleichterte ihre Verschmelzung mit der Psychologie. (Die Verfechter einer Absorbierung der Psychologie durch die Lehre von der höheren Nerventätigkeit vermeiden es natürlich nicht von ungefähr auf jede nur mögliche Weise, die Lehre von der höheren Nerventätigkeit als physiologische Lehre zu qualifizieren.) Morphologisch äußerte sich die Trennung von der allgemeinen Physiologie in der Verabsolutierung der führenden Rolle des Kortex und in der Unterschätzung des Gehirns als Ganzes, im wechselseitigen Zusammenhang seiner sämtlichen Etagen. In der obenerwähnten Linie, die besonders markant auf der Pawlow-Tagung in Erscheinung trat, liegt der Ursprung einer Reihe von Schwierigkeiten, mit denen die Pawlowsche Schule in den nächsten Jahren zu kämpfen hatte. Damit hängt auch ein ganzer Wust von Problemen zusammen, den die Wissenschaft in der Zukunft noch zu entwirren hat. Die Lehre von der höheren Nerventätigkeit hat das Problem der Neurodynamik und ihrer Gesetzmäßigkeiten aufgeworfen. Das ist ein sehr wichtiger und fruchtbarer Schritt. Freilich darf man dabei folgendes nicht vergessen: Die Ermittlung der Gesetzmäßigkeiten der Dynamik der Nervenprozesse löst nicht die Frage nach ihren anatomisch-physiologischen Mechanismen; und zweitens wird auch durch die Ermittlung der Gesetzmäßigkeiten der Hauptnervenprozesse — Erregung und Hemmung — die Frage nach der Natur dieser Prozesse nicht etwa beantwortet, sondern eigentlich erst aufgeworfen; die Antwort auf die Frage nach der Natur von Erregung und Hemmung kann aber offensichtlich nur durch physiko-chemische Methoden gefunden werden, nicht aber mit der bedingt-reflektorischen Methodik. Die Problematik, die in der Lehre von der höheren Nerventätigkeit liegt, führt also zwangsläufig über die Grenzen eben dieser Lehre hinaus und verknüpft sie vor allem mit der allgemeinen Physiologie, dann auch mit der Biophysik und Biochemie. So liegen die Dinge im Hinblick auf die „tieferliegenden", auf die „Grundwissenschaften". Analog steht es auch um die „höherliegenden" um die „Überbauwissenschaften". Wenn die Lehre von der höheren Nerventätigkeit die Funktionen der Psychologie okkupiert, übernimmt sie damit Aufgaben, zu deren Lösung ihr die zureichenden, adäquaten methodischen Mittel fehlen. Mit diesem Anspruch bringt sich die Lehre von der höheren Nerventätigkeit selbst in unermeßliche Schwierigkeiten und begibt sie sich in die falsche Position einer Wissenschaft, die mit ihren Aufgaben nicht fertig wird. Um die Lehre von der höheren Nerventätigkeit aus dieser Situation herauszubringen, muß man sie vor allem zur Psychologie in Beziehung setzen, sich über ihre eigentlichen Aufgaben klar werden und diese Aufgaben auf das beschränken, was wirklich ihr gemäß ist. Solange man der Lehre von der höheren Nerventätigkeit - ohne Berücksichtigung der Psychologie - die monopolistische Aufgabe

200

Geschichte

zuschreibt, die psychischen Erscheinungen zu erklären, so lange wird sich unausweichlich die Frage erheben, ob die Vertreter dieser Lehre überhaupt fähig sind, die vor ihnen liegenden Aufgaben zu bewältigen. Sobald man diese Aufgaben jedoch dadurch beschränkt, daß man die Rolle der Psychologie bei der Erklärung der psychischen Erscheinungen, der psychischen bzw. höheren Nerventätigkeit anerkennt, wird sofort der, wenn auch begrenzte, so doch absolut unumgängliche und außerordentlich wichtige Anteil der physiologischen Lehre von der höheren Nerventätigkeit an der Erklärung der psychischen Erscheinungen, der psychischen Tätigkeit, der psychischen Eigenschaften des Menschen offensichtlich. 73 Um die psychische Tätigkeit bzw. die höhere Nerventätigkeit des Menschen zu erklären, darf man sich weder auf die physiologische Lehre von der höheren Nerventätigkeit beschränken und die Psychologie ignorieren oder „ersetzen" wollen, noch darf man eine Psychologie sanktionieren, die scharf von der Lehre von der höheren Nerventätigkeit abgegrenzt oder von ihr isoliert ist, vielmehr muß man eine enge Wechselbeziehung zwischen ihnen herstellen, ja, mehr noch, man muß sich die Wechselwirkung eines ganzen Systems wissenschaftlicher Disziplinen mit den zahlreichen und vielfältigen Übergängen zwischen ihnen nutzbar machen. So arbeitet die moderne Wissenschaft prinzipiell; auf diesem Wege gelangt sie heutzutage zur Erklärung der von ihr untersuchten Erscheinungen. Physik und Chemie sind vielfältig miteinander verflochten und gehen ineinander über. Man kann sie unmöglich voneinander trennen, aber dennoch wird keine von beiden etwa mechanisch auf die andere reduziert, vielmehr bewahrt jede ihren spezifischen Aspekt, und eben deshalb ist ihr Zusammenwirken auch so fruchtbar. Bei aller qualitativen Eigenart der biologischen Erscheinungen muß man zu ihrer Erklärung dennoch notwendig die Chemie und Physik hinzuziehen; das führte zwangsläufig zur Entstehung von Grenzdisziplinen zwischen Biologie und Chemie bzw. Biologie und Physik, nämlich zur Entstehung der Biochemie und Biophysik. (Mit dieser Anwendung der Physik und Chemie auf biologische Erscheinungen hängt auch die Erweiterung des Anwendungsbereichs mathematischer Methoden zusammen.) Nicht anders muß sich in der Perspektive auch die Untersuchung der psychischen Erscheinungen entwickeln. Ihre Erklärung kann weder auf die Psychologie noch allein auf die physiologische Lehre von der höheren Nerventätigkeit begrenzt werden; außer diesen beiden Disziplinen - selbstverständlich in engster Wechselbeziehung — müssen zur Untersuchung und Erklärung der psychischen Erscheinungen notwendig auch andere Wissenschaften (wie etwa die Biochemie) 73

Sehr eindrucksvoll ließe sich der Anteil der Lehre von der höheren Nerventätigkeit an der Erklärung psychischer Erscheinungen an der Beziehung zwischen den Eigenschaften der höheren Nerventätigkeit, die deren Typen bestimmen, und den psychischen Eigenschaften des Menschen nachweisen. Die Eigenschaften der höheren Nerventätigkeit und ihre Typen, die eine so große Rolle bei der Bestimmung des Verhaltens von Tieren spielen, an denen Pawlow sie ja auch untersucht hat, stellen, wie sich leicht nachweisen ließe, lediglich notwendige, aber keineswegs

eindeutige

Bedingungen für die Ausbildung der psychischen Eigen-

schaften des Menschen dar: Auf der Grundlage ein und derselben Eigenschaften der höheren Nerventätigkeit bilden sich bei den Menschen ganz unterschiedliche Charaktere heraus, und praktisch gleichartige Charaktere können auf der Grundlage mehr oder weniger unterschiedlicher Eigenschaften des Nervensystems entstehen.

Nationale Psychologie

201

herangezogen werden; bei tiefschürfender und allseitiger Untersuchung ihrer Bedingtheit kommt man allein mit bedingt-reflektorischen Methodiken nicht aus, vielmehr braucht man dazu auch verschiedenartige andere — einerseits eigentlich psychologische und andererseits auch biophysikalische Methodiken. Wenn wir hier die Notwendigkeit betonen, zur Erklärung der psychischen Erscheinungen über die Grenzen der Psychologie wie auch der Lehre von der höheren Nerventätigkeit hinauszugehen, dann sei zugleich unterstrichen, daß die Befunde aller „tieferliegenden" „Grundwissenschaften" mit ihren allgemeineren Gesetzmäßigkeiten nicht die unmittelbaren, sondern nur mehr oder weniger indirekte Bedingungen der psychischen Erscheinungen bestimmen; die Kausalgesetzmäßigkeiten der psychischen Erscheinungen sind jedoch - ebenso wie die aller anderen Erscheinungen - immer „höhere" Gesetzmäßigkeiten, wie sie für den jeweiligen Bereich von Erscheinungen spezifisch sind, d. h. also psychologische Gesetzmäßigkeiten. Zusammenfassend ließe sich über die reflektorische Theorie von Setschenow-Pawlow insgesamt und über die Lehre Pawlows von der höheren Nerventätigkeit folgendes sagen: Die reflektorische Theorie und die Lehre von der höheren Nerventätigkeit sind und bleiben notwendige Grundlage der wissenschaftlichen Psychologie. Ohne sie kann man die psychische Tätigkeit nicht erklären, wenn auch durch sie allein die Erklärung nicht erschöpfend sein kann, und zwar sowohl deshalb, weil auf sie nicht reduzierbare psychologische Gesetzmäßigkeiten existieren, die die spezifischen Eigenarten der psychischen Tätigkeit als solcher ausdrücken, als auch aus dem Grunde, weil der Apparat der Begriffe und Gesetzmäßigkeiten, über die die Lehre von der höheren Nerventätigkeit bisher verfügt, für die Aufdeckung aller Mechanismen aller Erscheinungen des menschlichen Bewußtseins nicht ausreicht. Unter allgemeinerem Aspekt bedeutet die reflektorische Theorie hinsichtlich ihres philosophischen Gehaltes: 1. die Anwendung des Prinzips des Determinismus in seiner dialektisch-materialistischen Interpretation auf die Widerspiegelungstätigkeit des Gehirns und 2. die Realisierung des Prinzips des materialistischen Monismus bei der Interpretation der Widerspiegelungstätigkeit des Gehirns, zwei Ideen, ohne die der Aufbau einer wissenschaftlichen Psychologie unmöglich wäre.

2. Aus der Geschichte unserer nationalen Psychologie a) Der Kampf

um die Reflextheorie

in der Geschichte

der russischen

J. M.

Setschenows

Psychologie

In der russischen Psychologie hatte vor der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution eine scheinbar paradoxe und zugleich fundamentale Tatsache entscheidende und folgenschwere Bedeutung. Sie besteht in folgendem. Betrachtet man die Geschichte der offiziellen Universitätswissenschaft, dann kann leicht der Eindruck entstehen, daß in der Geschichte der russischen Psychologie am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts die einzig bedeutenden Gestalten Trolzki, Wedenski, Grot, Tschelpanow, Bechterew u. a. waren. Man könnte auf den Gedanken kommen, daß Setsche-

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herangezogen werden; bei tiefschürfender und allseitiger Untersuchung ihrer Bedingtheit kommt man allein mit bedingt-reflektorischen Methodiken nicht aus, vielmehr braucht man dazu auch verschiedenartige andere — einerseits eigentlich psychologische und andererseits auch biophysikalische Methodiken. Wenn wir hier die Notwendigkeit betonen, zur Erklärung der psychischen Erscheinungen über die Grenzen der Psychologie wie auch der Lehre von der höheren Nerventätigkeit hinauszugehen, dann sei zugleich unterstrichen, daß die Befunde aller „tieferliegenden" „Grundwissenschaften" mit ihren allgemeineren Gesetzmäßigkeiten nicht die unmittelbaren, sondern nur mehr oder weniger indirekte Bedingungen der psychischen Erscheinungen bestimmen; die Kausalgesetzmäßigkeiten der psychischen Erscheinungen sind jedoch - ebenso wie die aller anderen Erscheinungen - immer „höhere" Gesetzmäßigkeiten, wie sie für den jeweiligen Bereich von Erscheinungen spezifisch sind, d. h. also psychologische Gesetzmäßigkeiten. Zusammenfassend ließe sich über die reflektorische Theorie von Setschenow-Pawlow insgesamt und über die Lehre Pawlows von der höheren Nerventätigkeit folgendes sagen: Die reflektorische Theorie und die Lehre von der höheren Nerventätigkeit sind und bleiben notwendige Grundlage der wissenschaftlichen Psychologie. Ohne sie kann man die psychische Tätigkeit nicht erklären, wenn auch durch sie allein die Erklärung nicht erschöpfend sein kann, und zwar sowohl deshalb, weil auf sie nicht reduzierbare psychologische Gesetzmäßigkeiten existieren, die die spezifischen Eigenarten der psychischen Tätigkeit als solcher ausdrücken, als auch aus dem Grunde, weil der Apparat der Begriffe und Gesetzmäßigkeiten, über die die Lehre von der höheren Nerventätigkeit bisher verfügt, für die Aufdeckung aller Mechanismen aller Erscheinungen des menschlichen Bewußtseins nicht ausreicht. Unter allgemeinerem Aspekt bedeutet die reflektorische Theorie hinsichtlich ihres philosophischen Gehaltes: 1. die Anwendung des Prinzips des Determinismus in seiner dialektisch-materialistischen Interpretation auf die Widerspiegelungstätigkeit des Gehirns und 2. die Realisierung des Prinzips des materialistischen Monismus bei der Interpretation der Widerspiegelungstätigkeit des Gehirns, zwei Ideen, ohne die der Aufbau einer wissenschaftlichen Psychologie unmöglich wäre.

2. Aus der Geschichte unserer nationalen Psychologie a) Der Kampf

um die Reflextheorie

in der Geschichte

der russischen

J. M.

Setschenows

Psychologie

In der russischen Psychologie hatte vor der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution eine scheinbar paradoxe und zugleich fundamentale Tatsache entscheidende und folgenschwere Bedeutung. Sie besteht in folgendem. Betrachtet man die Geschichte der offiziellen Universitätswissenschaft, dann kann leicht der Eindruck entstehen, daß in der Geschichte der russischen Psychologie am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts die einzig bedeutenden Gestalten Trolzki, Wedenski, Grot, Tschelpanow, Bechterew u. a. waren. Man könnte auf den Gedanken kommen, daß Setsche-

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Geschichte

now, der durch sein bemerkenswertes Buch „Die Reflexe des Gehirns" in weiten Kreisen der Öffentlichkeit erhebliches Aufsehen erregt hatte, in der Geschichte der psychologischen Wissenschaft keinen besonderen Platz eingenommen habe. Das stimmt und stimmt auch nicht. Es stimmt ganz und gar nicht, wenn man einmal gründlich die ideelle Entwicklung des psychologischen Denkens untersucht. Wie die Untersuchung zeigt, war die Setschenowsche Reflextheorie der Angelpunkt, um den sich die ganze ideologische Auseinandersetzung drehte, der Kampf zwischen Materialismus und Idealismus im ganzen Verlauf der Geschichte der russischen Psychologie von dem Augenblick an, da Setschenow auftrat, bis zum Vorabend der Oktoberrevolution. Das zeigt die ganze Geschichte der Psychologie dieser Periode. 74 Sofort nach dem Erscheinen der Setschenowschen „Reflexe des Gehirns" lösten sie ungeheure öffentliche Resonanz aus. In scharfer eingängiger Form propagierte Setschenow den Materialismus, die fortschrittliche naturwissenschaftliche Weltanschauung; diese aber war in Rußland seit den Zeiten Radistschews und seiner Anhänger mit revolutionär-demokratischen Ideen verknüpft; daher rührte auch die gesellschaftliche Aktualität der „Reflexe des Gehirns". Aber Setschenow weckte nicht nur diese breite öffentliche Resonanz, seine Ideen erregten auch - was in gewissem Sinne noch schwerer ist — die abgekapselten akademischen Kreise. Die wissenschaftliche Welt spaltete sich in zwei Lager, für und gegen Setschenow. Im Lager seiner Anhänger standen die fortschrittlichsten Naturwissenschaftler seiner Zeit, K. A. Timirjasew, I. I. Metschnikow, S. P. Botkin, A. O. und W. 0. Kowalsjowski, D. I. Mendelejew und N. A. Umow; von den Physiologen waren es I. R. Tarchanow, K. N. Ustimowitsch, N. O. Kowaljowski, später auch N. J. Wedenski, dann die Vertreter der psychiatrischen Kliniken und ihrer psychologischen Laboratorien (5. S. Korsakow, ein direkter Anhänger und Verfechter der Reflextheorie Setschenows, A. A. Tokarski u. a.); im Lager der mehr oder weniger aktiven Gegner Setschenows standen dagegen die meisten offiziellen Hochschulvertreter der idealistischen Psychologie. In dem Maße, wie die Kraft der Ideen Setschenows immer deutlicher zutage trat, griffen auf Seiten der Gegner Setschenows Priester und Theologen in den Kampf ein (Ostroumow, der Erzbischof Nikanor, der Archimandrit Boris, der Klostergeistliche Antoni u. a.). Eine Diskussion folgte der anderen; die Diskussionen begleiteten Setschenow während seiner ganzen wissenschaftlichen Tätigkeit. Ein Vorbote der kommenden großen Auseinandersetzungen war der Disput in der Moskauer Universität anläßlich der Verteidigung der Dissertation G. Struwes75, die mit kritischer Schärfe gegen die Reflextheorie Setschenows gerichtet war. In der Disputation traten zur Widerlegung der „naturwissenschaftlichen" Argumente Struwes gegen den Materialismus der Zoologe S. A. Ussow und der Mathematiker N. W. Bugajew auf. Im Hinblick auf die eindeutige Unhaltbarkeit der Position Struwes waren auch N. Strachow (vgl. „Aus den Auseinandersetzungen über die Seele", Moskau 1870) und /4

Konkret zeigt das eine dieser Periode gewidmete Untersuchung von J. A. Budilowa, die im Sektor Psychologie des Instituts für Philosophie der Akademie der Wissenschaften der UdSSR zum Druck vorbereitet wird benutzt).

(in diesem Kapitel haben wir ihre Untersuchung

G. Struwe, Der selbständige Charakter der seelischen Erscheinungen. Moskau 1870 (russ.).

Nationale Psychologie

203

N. Axakow (vgl. seinen „Verborgenen Materialismus. Zur Dissertation des Herrn Struwe." Moskau 1870) gezwungen, sich von ihm zu distanzieren. Nach dieser Diskussion folgte die Auseinandersetzung Setschenows mit Kawelin, der 1872 den Artikel „Die Aufgaben der Psychologie" im „Europäischen Boten" veröffentlicht hatte. Wir können es uns ersparen, hier auf diese Diskussion einzugehen. Ihr Verlauf ist gut bekannt. Die unter den Schlägen Setschenows deutlich gewordene Schwäche der Position Kawelins führte zu Zerfallserscheinungen im idealistischen Lager: Auch Strachow und Samarin, die auf dem idealistischen Standpunkt verharrt hatten, distanzierten sich von Kawelin. Nach der Diskussion mit Kawelin folgte in den 80er und 90er Jahren noch eine weitere, die um die Setschenowsche Interpretation der Empfindungen und der Erkenntnisprozesse überhaupt entbrannte. Hier stellte man Setschenow Helmholtz gegenüber und versuchte, diesen zur Verteidigung des Idealismus auszunutzen: Der „Physiologie des Gehirns" von Setschenow stellte man die „Physiologie der Sinnesorgane" von Helmholtz gegenüber (der Charkower Theologe Ostroumow). Von den 60er Jahren an bis zum Ende des Jahrhunderts klang also der Lärm der Auseinandersetzungen um Setschenow nicht ab. Am bedeutsamsten von diesen Diskussionen, die sich über Jahrzehnte hinzogen, war die Diskussion zwischen Setschenow und Kawelin, aus der Setschenow als Sieger hervorging. Das konstatierte mit Erregung auch Strachow, ein erbitterter Gegner Setschenows. Diese Diskussion Setschenows mit Kawelin blieb lange Zeit Mittelpunkt des Interesses. Auch die Vertreter der Hochschulwissenschaft äußerten sich dazu, weil sie die Auseinandersetzung einfach nicht mit Stillschweigen übergehen konnten. So befaßte sich M. M. Troizki in einem Referat in der Moskauer Psychologischen Gesellschaft mit dieser Diskussion, das später als Artikel veröffentlicht wurde („Das Russische Denken", 1885, Buch II). Da Troizki die Durchschlagskraft der kritischen Bemerkungen Setschenows gegen Kawelin bemerkte, versuchte er, diese Diskussion als Kampf der idealistischen und materialistischen „Metaphysik" hinzustellen und dahingehend auszunutzen, daß er als Lösung dieses Streites seinen Positivismus vorschlug. Großen Einfluß hatten Setschenow und seine Auseinandersetzung mit Kawelin auf einen der größten Vertreter der idealistischen Psychologie im Rußland der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, auf N. J. Grot. Nach dem Zeugnis des Universitätskollegen und Biographen Grots, W. I. Schönrock, war Grot von der Diskussion zwischen Setschenow und Kawelin „gepackt und begeistert"; dieses „Turnier" zwischen den beiden fachte die Begeisterung Grots für die Philosophie an. 76 Aus dieser Auseinandersetzung zog Grot für sich vor allem den einen allgemeinen Schluß, daß für die Entwicklung der Psychologie die Übernahme der Ideen der zeitgenössischen Naturwissenschaft unerläßlich sei. 77 Aber der Einfluß Setschenows auf Grot beschränkte sich nicht darauf. Die eigene theoretische Konzeption Grots, die er als Theorie des „psychischen Kreislaufs" 7 8 76

W. I. Schönrock,

Zur Biographie N. J. Grots. In: Nikolai Jakowlewitsch Grot in Skizzen,

Erinnerungen und Briefen. Petersburg 1911, S. 18 (russ.). 77

Ebenda, S. 22.

78

Diese Theorie entwickelte er in zwei Hauptarbeiten: „Die Psychologie der Sensorik in ihrer

20'.

Geschichte

bezeichnete, trägt eindeutige Spuren des Einflusses Setschenows; sie stellt eine idealistische Transposition des allgemeinen Schemas der Setschenowschea Reflextheorie dar. Jeder psychische Prozeß besteht nach Grot aus einer Reihe „psychischer" Zyklen, die ineinander übergehen. Der „psychische Kreislauf" ist eine Art der Wechselwirkung des Organismus mit der Umwelt. Rein äußerlich geht Grot. - ebenso wie Setschenow — bei seinen Konstruktionen von der Wechselwirkung zwischen Organismus und Umwelt aus. Grot unterscheidet zwei Arten der Wechselwirkung: Die eine paßt die Materie des Organismus an die Materie des Milieus an und die andere die Kräfte des Organismus an die Kräfte der Umwelt. Die zweite Art der Wechselwirkung äußert sich nach Grot in der „psychischen Existenz" des Organismus; es handelt sich dabei um jene Art der Wechselwirkung mit der Umwelt zum Zwecke der Anpassung der inneren Verhältnisse an die äußeren und der äußeren an die inneren, die im Austausch von Bewegungen (oder Eindrücken) im Gegensatz zum Stoffaustausch besteht.7® Dieser Austausch von Bewegungen oder Eindrücken beruht auf „psychischen Zyklen". Jeder dieser „Zyklen" besteht nach Grot aus folgenden Gliedern: Er beginnt mit äußeren Eindrücken, die in Gefühle oder innere Eindrücke übergehen, in der „Verstandessphäre" kompliziert werden und nach Durchgang durch das Stadium der Willensbestrebungen sich in äußeren Bewegungen lösen. Die Spuren, die im Bewußtsein von jedem „psychischen Kreislauf" zurückbleiben, treten nach den Gesetzen der Assoziation mit den Elementen neuer „Zyklen" in Kontakt, die auf diese Weise immer komplizierter werden. Der Erkenntnisprozeß, der aus „psychischen Zyklen" besteht, behält so Verbindung mit der Außenwelt und bietet sich als Ergebnis der Wechselwirkung des Organismus mit der Umwelt dar. Dadurch aber, daß Grot die inneren, zentralen oder geistigen Empfindungen von den äußeren trennt und der Ansicht ist, daß das zweite Glied des psychischen Kreislaufs der Sensorik oder der,, sekundären Empfindung" bzw. der „Empfindung der Empfindungen" eine subjektive Beurteilung der Eindrücke darstellt, die von der Harmonie der inneren Verhältnisse abhängt, verlagert er die Determination der psychischen Prozesse in diese letzteren. So kommt denn zu guter Letzt heraus, daß der Organismus das Milieu, mit dem er in Wechselwirkung steht, in der sensuellen Erfahrung nur symbolisch in Erscheinungen oder „Formen" seiner eigenen Zustände wahrnimmt und erkennt. 8 0 Die Seelenenergie nimmt in ihren Empfindungen ihre eigenen „Erduldungen" wahr. Schließlich zielen die ganzen Konstruktionen Grots darauf ab, von der Theorie der „psychischen Kreisläufe" ausgehend, in der Psychologie eine „kopernikanische Wendung" zu vollziehen. Diese „kopernikanische Wendung" besteht nach Grot darin, „unseren Geist mit allen unveränderlichen Formen und Gesetzen seines Seins und seinen Beziehungen zur Wirklichkeit des Materiellen als die unbewegliche Sonne anzuerkennen, welche die um sie rotierende und ihr im Raum und Zeit erscheinende Wirk-

79 80

Geschichte und ihren Hauptgrundlagen", Petersburg 1 8 7 9 - 1 8 8 0 (russ.) und „Zur Frage einer Reform der Logik", Leipzig 1882 (russ.). N. J. Grot, Reform der Logik, a. a. O., S. 490 (russ.). N. J. Grot, Uber die Zeit. Fragen der Philosophie und Psychologie, 1894, Bd. 23, S. 389 (russ.).

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lichkeit schafft und erleuchtet". 8 1 Die ihrem allgemeinen Sinn nach extrem idealistische Endkonzeption ist also der materialistischen Konzeption Setschenows diametral konträr. Grot vermochte seine Konzeption auch nur dadurch zu „begründen", sie mit der zeitgenössischen Naturwissenschaft zu verknüpfen und ihr den Anschein der Wissenschaftlichkeit zu verleihen, daß er von der Setschenowschen Idee der Wechselwirkung von Organismus und Umwelt ausging und das Setschenowsche Schema des reflektorischen Aktes benutzte (das er dabei natürlich verfälschte); das Setschenowsche Modell des reflektorischen Prozesses schimmert ganz deutlich durch das Groische Schema des „psychischen Kreislaufs" und seiner Glieder hindurch. Der Begründer des Instituts für Psychologie, G. I. Tschelpanow, der Grot auf dem Lehrstuhl für Psychologie an der Moskauer Universität ablöste, schenkte dem Kampf gegen Setschenow in seinen öffentlichen Vorlesungen und Publikationen große Aufmerksamkeit. 82 Er brauchte nicht, wie Grot, bei Setschenow die wissenschaftlichen Mittel zur Konstruktion seiner Theorie zu entlehnen, weil er überhaupt keine eigene psychologische Theorie hatte. Das bedeutet aber nicht, daß sich der Einfluß Setschenows, dessen Stärke Tschelpanow auch selbst erwähnte (vgl. „Über die modernen philosophischen Richtungen", Kiew 1902, S. 17), nicht auf ihn auswirkte, ungeachtet seiner feindseligen Einstellung gegenüber dem Setschenowschen Materialismus und obwohl ihm dessen wissenschaftliche Konzeption fern stand. Im Verlauf einer Diskussion über die Methode der Psychologie trat Tschelpanoic bald gegen die experimentelle Methode auf (wenn diese — vor allem bei den Anhängern Setschenows - objektiv-materialistisch in Verbindung mit der physiologischen Erforschung der Tätigkeit des Nervensystems abgehandelt wurde), bald war er dafür (nicht nur, wenn sie in Form des Wundtschen Experiment» in Erscheinung trat, das die physiologische Untersuchung der Reaktionen mit der Selbstbeobachtung koppelte, sondern vor allem in Form der experimentellen Selbstbeobachtung durch Vertreter der Würzburger Schule). Dabei hatte er aber allem Anschein nach immer eine und dieselbe Frage Setschenows vor Augen: Wie und durch wen ist die Psychologie zu entwickeln? Durch den Physiologen oder den reinen Psychologen, mit Hilfe der Selbstbeobachtung oder streng objektiv? Bezeichnend ist, daß er selbst diese Frage auch genauso, nach der Setschenowschen Formulierung, stellte. 83 Auch darin machte sich — wenn auch nur äußerlich — die Gewalt bemerkbar, mit der Setschenow selbst diejenigen anzog, die im Grunde ihres Herzens gegen ihn eingestellt waren. 81

02

83

N. J. Grot, Über die Z e i t . . . , a. a. O., S. 393. Tn derselben Arbeit schrieb Grot: „Die Gegenstände und Erscheinungen der Außenwelt, der Organismus und seine Organe, die Sinnesorgane, die Nerven und das Gehirn, all das sind Komplexe meiner Empfindungen, meiner psychischen Zustände, die ich zufolge der Forderung der Natur und der Organisation meines Bewußtseins objektiviere, d. h. aus dem Bewußtsein heraustrage und in eine äußere, von meinem Geist und Bewußtsein unabhängige Wirklichkeit verwandele." G. I. Tschelpanow, Gehirn und Denken (Eine Kritik des Materialismus). Gotteswelt, 1896, Nr. 1 - 2 ; Über die modernen philosophischen Richtungen. Kiew 1902; Bibliographie der neuesten Literatur zur Frage des Materialismus. Universitätsmitteilungen. Kiew 1896, Nr. 9 (sämtl. russ.). Vgl. „Arbeiten des Ersten Allrussischen Kongresses für pädagogische Psychologie". Peters-

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Erwähnt sei, daß der bedeutendste Vertreter der experimentellen Psychologie in Rußland, N. N. Lange, den größten Teil seiner experimentellen Untersuchungen (die er in seinen „Psychologischen Forschungen" veröffentlichte) im Laboratorium Spiros, eines Schülers von Setschenow, ausführte. Und wenn Lange sich auch nur äußerst selten auf Setschenow bezog, so führten seine experimentellen Forschungen doch in einer Reihe von Punkten zu Schlußfolgerungen, die denen Setschenows nahekamen (in der Lehre über den Anteil der motorischen Komponente an den psychischen Akten; in der Auffassung von den Assoziationen, wobei er nicht die Assoziation zwischen sensorischen Elementen in den Vordergrund rückte, sondern die zwischen sensorischen und motorischen; in der Willenstheorie usw.). 8 4 Ganz eng war, wie sich jetzt herausgestellt hat, die Verbindung W. M. Bechterews mit Setschenow. Schon in der ersten Auflage seiner „Objektiven Psychologie" verweist Bechterew auf Setschenow als Begründer der Reflextheorie. In seiner ganzen Bedeutung wird dieser Zusammenhang aber durch ein Dokument deutlich, das S. P. Issajewa im persönlichen Archiv Bechterews entdeckt hat. 8 5 „Eine erste und wesentliche Bresche", schreibt Bechterew in diesem Dokument, „in das Studium der menschlichen Persönlichkeit wurde von unserem auch öffentlich tätigen Physiologen I. M. Setschenow geschlagen, dessen in den 60er Jahren unter dem Titel ,Die Reflexe des Gehirns' erschienenes Buch ein allgemeines Schema der sogenannten psychischen Prozesse entwickelt, indem es sie mit der äußeren Einwirkung in Zusammenhang bringt und sie letzten Endes auf die Bewegung zurückführt" (von mir hervorgehoben - S. R.). Bechterew zitiert dann die bekannte Stelle aus den „Reflexen des Gehirns": „Die ganze unendliche Mannigfaltigkeit der äußeren Erscheinungsweise der Hirntätigkeit läuft auf eine einzige Erscheinung hinaus, auf die muskuläre Bewegung. Ob ein Kind l ä c h e l t . . . usw." Dann fährt Bechterew fort: „Die Subsumierung aller höheren Äußerungen der menschlichen Persönlichkeit unter den Begriff der Hirnreflexe, die auf Bewegung hinauslaufen (von mir hervorgehoben - S. R.), ist ein so gigantischer Höhenflug des menschlichen Denkens im Vergleich zum unermüdlichen Wiederkäuen der subjektiven Erlebnisse, daß man gar nicht umhin kann, diesem russischen Wissenschaftler, der den Grundstein zur wissenschaftlichen Erforschung der menschlichen Persönlichkeit gelegt hat, die gebührende Anerkennung zu zollen. Wir sprechen hier schon gar nicht mehr nur von der Muskelbewegung, die das Endprodukt der höchsten Äußerungen der menschlichen Persönlichkeit ist, sondern auch von vasomotorischen

84

bürg 1906, S. 39. Siehe ferner „Uber das Verhältnis der Psychologie zur Philosophie". Antrittsvorlesung in der Moskauer Universität vom 19. September 1907 in G. J. Tschelpanow, Gesammelte Publikationen (Psychologie und Schule). Moskau 1912, S. 82 (sämtl. russ.). Uber N. N. Lange s. B. M. Teplow, Die Grundgedanken in den psychologischen Arbeiten N. N. Langes (zu seinem 100. Geburtstage). „Fragen d. Philos. u. Psychol.", 1958, Nr. 6 (russ.). Persönliches Archiv W. M. Bechterews im Leningrader Psychoneurologischen BechterewInstitut, Mappe XXII, Blatt 4. Dieses Dokument wurde in der unter unserer Anleitung gefertigten Dissertation S. P. Issajeuias „Die psychologischen Anschauungen W. M. Bechterews in der vorreflexologischen Periode seiner Tätigkeit" (1952) wiedergegeben, woher wir es auch entnommen haben.

Nationale Psychologie

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und kardinalen sowie somatischen Erscheinungen überhaupt, von sekretorischen Erscheinungen und sogar von den galvanischen Erscheinungen an der Hautoberfläche, die die äußeren Erscheinungsformen der Hirnreflexe sein können, aber das sind alles nur Ergänzungen zu dem allgemeinen Schema (von mir hervorgehoben — S. R . ) , das Setschenow erstmalig aufgestellt hat." 8 6 Alles, was er selbst tut, betrachtet Bechterew also lediglich als Ergänzung zum Schema Setschenows. In diesem Dokument betont er wiederholt den Gedanken, daß die Reflexe des Gehirns auf Bewegung „hinauslaufen" und daß auf eben diese nach dem reflektorischen Schema „letzten Endes" auch die sogenannten psychischen Prozesse hinauslaufen (siehe die im Text Bechterews von uns hervorgehobenen Stellen). Im Zusammenhang damit ergibt sich die weitere Hypothese (die auch in der Arbeit von / . A. Budilowa geäußert wird), daß die ganze Reflexologie Bechterews von der Konzeption her nichts anderes ist als die Realisierung der reflektorischen Theorie Setschenows, die bei Bechterew nur deshalb ein anderes Gesicht bekam, weil er dem dritten Glied (hauptsächlich der Bewegung) zum Schaden des Zentralgliedes des Reflexes den wichtigsten Platz einräumte. Wenn man also von der ideologischen Geschichte des psychologischen Denkens spricht, dann ist Setschenow in der ganzen Periode von den 60er J a h r e n des 19. Jahrhunderts bis zum Vorabend der Oktoberrevolution die Zentralfigur, diejenige Figur, der gegenüber die wahre Stellung jedes Psychologen an Hand der Beziehung zu ihr markiert war. Und auch die idealistischen Gegner Setschenows erhielten, wie wir gesehen haben, von ihm Impulse. Faßt man dagegen die Geschichte der Wissenschaft vor allem als Geschichte der offiziellen Universitätswissenschaft auf, dann hat Setschenow hierin tatsächlich so gut wie überhaupt keine Rolle gespielt. Den idealistischen Philosophen und Psychologen, die die Lehrstühle an den Universitäten innehatten, gelang es, Setschenow aus der psychologischen akademischen Wissenschaft zu verdrängen. In der Universität ließ man ihm nur die Möglichkeit, als Physiologe zu arbeiten, während er psychologische Themen in der Regel nur in populärwissenschaftlichen öffentlichen Vorlesungen berühren konnte. Er durfte an der Universität keinen Psychologieunterricht erteilen. Die ideologische Überlegenheit war auf seiner Seite, aber dessenungeachtet wurde er organisatorisch aus den führenden Stellungen auf dem Gebiet der Psychologie verdrängt und hatte nicht die Möglichkeit, Kader im Geiste seiner Ideen auszubilden und seine eigene Schule in der Psychologie zu begründen (nur Naturwissenschaftler und Mediziner schlössen sich ihm a n ) . Seine Gegner, die Idealisten, die sich auf den Lehrstühlen f ü r Philosophie und Psychologie als Vertreter der offiziellen Wissenschaft festgesetzt hatten, drückten das durch und verursachten dadurch der Entwicklung der psychologischen Wissenschaft nicht nur in der zaristischen Zeit, sondern auch in der sowjetischen Periode ungeheuren Schaden. Infolge der Tatsache, daß Setschenow der Möglichkeit beraubt war, an der Universität seine eigene, festgefügte Schule zu begründen und von ihm selbst ausgebildete Kader heranzuziehen, fehlten bei uns in der Zeit nach der Oktoberrevolution Psychologen, die von Setschenows Lehre hätten ausgehen können, 06

Persönliches Archiv W. M. Bechterews, Mappe XXII, Blatt 5 (russ.).

208

Geschichte

wogegen es eine ganze Anzahl von Psychologen gab, die von Tschelpanow kamen. Selbst wenn diese, wie Kornilow u. a., die ihm zunächst gefolgt waren, später gegen Tschelpanow auftraten, so gingen sie eben doch von ihm aus, waren durch seine Schule gegangen und irgendwie von seinen Lehren beeinflußt. 87 Da Psychologen fehlten, die von Setschenow kamen, konnte die Linie Setschenoivs nur von Psychologen fortgesetzt werden, die sich zunächst in anderer Richtung entwickelten, dann aber auf Grund eigenen Suchens, d. h., indem sie über Setschenow hinausgingen, ihren Platz auf diesem, von ihm gebahnten Wege zu finden vermochten. Infolgedessen figurierte Setschenow lange Zeit nur als Physiologe, so daß man seinen Namen als Psychologe erst relativ spät in der Sowjetpsychologie hörte. Weil die Sowjetpsychologie so lange an Setschenow vorbeigegangen war, beurteilte sie auch die Rolle Pawlows, die Bedeutung seiner Lehre für die Psychologie so lange falsch. Die richtige Einschätzung der Rolle Setschenows und Pawlows, die eine wichtige Voraussetzung für die Weiterentwicklung der Psychologie ist, war zugleich das Resultat ihres Fortschreitens. Setschenow, der an der Schwelle der psychologischen Wissenschaft stand, sah ihre allgemeine Entwicklungsrichtung richtig voraus. Nunmehr ist es Sache der psychologischen Wissenschaft, sich ihren weiteren Weg in die Zukunft zu bahnen, nachdem sie sich die fortschrittlichen Traditionen der Vergangenheit schöpferisch angeeignet hat. In der Geschichte des wissenschaftlichen Denkens zeichnen sich immer die großen Begründer und die großen Vollender am deutlichsten ab. Die Rolle der letzteren ist immer besonders dankbar. Sie ziehen das Fazit einer ganzen Epoche in der Geschichte des wissenschaftlichen Denkens und stehen daher gleichsam auf ihrem Gipfel. Aber im Grunde ist vielleicht die Rolle der großen Begründer noch bedeutsamer und fruchtbarer, jener Wissenschaftler und Denker, die am Ursprung eines neuen Gedankenganges stehen und die Schößlinge neuer Ideen pflanzen, die erst in der nächsten Epoche ihre Früchte tragen. Zu diesen gehört Setschenow. In der Hirnphysiologie schuf er eine bestechende Konzeption, deren Realisierung durch Pawlow eine neue Epoche in der Erforschung der Widerspiegelungstätigkeit des Gehirns bedeutete. Setschenow ist der Schöpfer der reflektorischen Theorie der psychischen Tätigkeit. Seine Lehre ist in gewissem Sinne der Ausgangspunkt des Weges, auf dem sich jetzt die Sowjetpsychologie ihre Bahn in die Zukunft bricht.

b) Das Problem

der Beziehungen in der Geschichte

zwischen der

Bewußtsein

und

Tätigkeit

Sowjetpsychologie

Der Satz über die Einheit von Bewußtsein und Tätigkeit wurde auf einer bestimmten Entwicklungsetappe der Sowjetpsychologie (in den 30er bis 40er Jahren) ihr theo87

In den 20er Jahren, als in unserer Psychologie, die sich mit dem alten Introspektionismus auseinandergesetzt hatte, Tendenzen der mechanistischen Verhaltenspsychologie aufkeimten, fand man in der psychologischen Literatur (bei Kornilow, Blonski, Wygotski) nicht selten Verweise auf Setschenow: Man konzipierte seine Gedanken mechanistisch und zog sie als

Nationale Psychologie

209

retisches Grundprinzip. Er wurde in unseren „Grundlagen der Psychologie" (1935), in den „Grundlagen der allgemeinen Psychologie" (1940, 1946) und in einer Reihe unserer Artikel formuliert. Man findet diese These in Arbeiten von B. G. Ananjew, A. N. Leontjew, A. A. Smirnow, B. M. Teplow und vieler anderer Sowjetspsychologen. Von den durch dieses Prinzip markierten Standpunkten aus wurden in der Sowjetpsychologie Probleme der Sensorik, des Gedächtnisses, der Fähigkeiten usw. erfolgreich untersucht. Heute bedarf dieser Satz nun einer - historisch und theoretisch - kritischen Analyse. Der Satz über die Einheit von Bewußtsein und Tätigkeit war durch die Situation bedingt, die sich in der Psychologie ergab, als man der traditionellen introspektiven Bewußtseinspsychologie eine Verhaltenspsychologie gegenüberstellte, die das Verhalten als Gesamtheit von Reaktionen betrachtete, die angeblich keinerlei irgendwie gearteten psychischen („mentalen") Inhalt haben sollten. Auf der vorhergegangenen Entwicklungsetappe der Sowjetpsychologie hatte Kornilow seine Lösung des mit dieser Antithese zusammenhängenden Problems vorgeschlagen. Sie bestand bekanntlich darin, die beiden Ansichten zu vereinigen, die introspektive Psychologie und den Behaviorismus zu „synthetisieren". 8 8 Ihre jeweiligen Mängel sollten angeblich lediglich in ihrer „Einseitigkeit" bestehen. 8 9 Sie seien unzutreffend, solange man die eine ohne die andere berücksichtige. Man brauche sie also nur zu verknüpfen, nachdem man sowohl die introspektive Bewußtseinskonzeption als auch die behavioristische Darstellung des menschlichen Verhaltens als Gesamtheit der Reaktionen akzeptiert hat. Diese Vervollständigung der alten Konzeption durch die behavioristische f ü h r t e zwangsläufig zur Konservierung sowohl der falschen introspektiven Bewußtseinskonzeption als auch der mechanistischen Verhaltenskonzeption. 9 0

88

89

90

14

Stütze für die mechanistischen Tendenzen jener Zeit heran. Infolge derselben falschen Auffassung über Setschenow, so scheint uns, verschwand er nach Überwindung der mechanistischen Tendenzen für einige Zeit ganz vom Horizont der Sowjetpsychologie. Aber auch für die erste Periode gilt, daß Setschenow in der Sowjetpsychologie keine unmittelbaren Nachfahren hatte, es gab keine Vertreter der Setschenowschen „Schule" in der Psychologie. „Ich wage zu behaupten", schrieb Korniloiv, „wie ich auch schon früher behauptet habe (Verweis auf das Buch „Die moderne Psychologie und der Marxismus" von 1924), daß das zukünftige System der marxistischen Psychologie eine Synthese der in allen Ländern derzeit im Widerstreit liegenden Strömungen sein wird: der ältesten und schon recht hinfällig gewordenen sogenannten empirischen oder subjektiven Richtung, die freilich noch immer ihre Adepten findet - das ist die These der modernen Psychologie - und der zweiten, späteren, die schon eher ein Produkt unserer Tage ist - ihre Antithese - , nämlich der Verhaltenspsychologie, der Reflexologie oder, wie man sie auch noch nennt, der objektiven Psychologie." In „Psychologie und Marxismus", Leningrad 1925, S. 9 (russ.). Vgl. „Probleme der modernen Psychologie", Leningrad 1925, S. 16 (russ.). „Diese beiden Richtungen sind einseitig: Die eine ignoriert die subjektive Seite, die andere die objektive, während sie doch nur beide als Einheit (aber nicht Identität) den wirklich ganzen Menschen ergeben." Diese Kritik an der Auffassung von der „Synthese" zwischen der introspektiven und der behavioristischen Konzeption, durch die Kornilow den Aufbau einer marxistischen Psychologie realisieren wollte, bedeutet natürlich nicht, daß wir die außerordentlich bedeutsame Prinzipien und Wege

210

Geschichte

Entsprechend der von ihm formulierten allgemeinen Konzeption stellte Kornilow als marxistische Psychologie seine „Reaktologie" auf. Sie stellte eine „Synthese" existierender Konzeptionen dar, die im Prinzip innerhalb der Grenzen der mechanistischen Verhaltenskonzeption erfolgte. Das Prinzip der Einheit von Bewußtsein und Tätigkeit, wie wir es auffassen, verfolgte dasselbe Endziel, war aber zugleich gegen eine derartige Lösung des Problems gerichtet, vor das sich die Psychologie gestellt sah. Es bedeutete, daß es nicht darum ging, diese beiden konträren Konzeptionen zu vereinigen, sondern vielmehr darum, sowohl die eine als auch die andere zu überwinden, also die alte idealistische Bewußtseinskonzeption wie auch die behavioristische Interpretation der menschlichen Tätigkeit bzw. des menschlichen Verhaltens. Die Betonung der Einheit von Bewußtsein und Tätigkeit bedeutete, daß das Bewußtsein, die Psyche, nicht als passiv, kontemplativ oder rezeptiv aufzufassen ist, sondern als Prozeß, als Tätigkeit eines Subjekts, eines realen Individuums, und daß es gilt, in der menschlichen Tätigkeit bzw. im Verhalten des Menschen seine psychologische Struktur zu ermitteln und damit die Tätigkeit des Menschen zum Gegenstand der psychologischen Forschung zu machen. Gegenstand der psychologischen Forschung sollte nicht nur die innere, geistige bzw. intellektuelle Tätigkeit sein, sondern auch jene reale, praktische Tätigkeit, durch die die Menschen und die Gesellschaft die Natur umgestalten, und zwar unter psychologischem Aspekt. Diese reale Tätigkeit der Menschen kann man nicht auf einen Komplex blinder Reaktionen reduzieren und in den verhaltenspsychologischen Termini des Reizes und der Reaktionen verstehen und erklären, ebensowenig wie man das in die Tätigkeit eingegliederte Bewußtsein der Menschen als in sich abgeschlossene Innenwelt auffassen kann, die von der materiellen Außenwelt isoliert ist, um sie dann mit den methodischen Mitteln der introspektiven Psychologie zu erklären. Diese Sätze sind fester Bestandteil unserer Psychologie und gelten auch heute noch. Freilich muß auch gesagt werden, daß der Ausdruck der theoretischen Positionen der Sowjetpsychologie durch das „Prinzip" der Einheit von Bewußtsein und Tätigkeit eigentlich eher eine Forderung als ihre Realisierung darstellte. Dieser Satz kennzeichnete immer noch die Beziehung zwischen Bewußtsein und Tätigkeit als äußere Relation zweier isolierter Glieder (und zudem auch ohne den Charakter ihrer Wechselbeziehungen anzugeben, ohne darauf hinzuweisen, was primär ist, was woraus folgt). Darin kam die Bedingtheit durch die äußere Situation zum Ausdruck, die im Laufe der historischen Entwicklung der Wissenschaft Bewußtsein und Tätigkeit getrennt hatte, nicht aber das Wesen der Sache, das bei richtigen Ausgangspositionen nicht dazu hätte führen dürfen, sie zunächst voneinander zu trennen, so daß man anschließend gezwungen war, sie äußerlich wieder in Beziehung zu setzen. In Wahrheit sind Bewußtsein und Tätigkeit innerlich wechselseitig miteinander verknüpft. Der positive Grundgehalt des Satzes von der Einheit von Bewußtsein und Tätigkeit besteht in der Betonung ihres wechselseitigen Zusammenhanges und ihrer Rolle übersehen, die Kornilow

auf den Anfangsetappen der Entwicklung der Sowjetpsycho-

logie gespielt hat, und die Tatsache unterschätzen, daß sich Kornilow

auf den A u f b a u einer

Psychologie orientierte, die auf den Prinzipien des dialektischen Materialismus fußen sollte.

Nationale Psychologie

211

wechselseitigen Bedingtheit: Die Tätigkeit des Menschen bedingt die Ausformung seines Bewußtseins, seiner physischen Verbindungen, Prozesse und Eigenschaften, und diese wiederum, die die menschliche Tätigkeit steuern, sind die Bedingung für ihren adäquaten Vollzug. Die Tätigkeit des Menschen ist primär praktische Tätigkeit. Erst später sondert sich von ihr die theoretische, überhaupt die ganze innere geistige Tätigkeit. Aber auch die praktische Tätigkeit des Menschen enthält immer psychische Komponenten, die die Bedingungen widerspiegeln, unter denen sie abläuft, und die sie steuern. Der Übergang von der im äußeren Bereich vollzogenen praktischen Tätigkeit zur im inneren Bereich vollzogenen geistigen Tätigkeit hat die Evolution der psychischen Komponenten des praktischen Handelns zur Voraussetzung, ihre zunehmende Allgemeinheit, wie sie zur Aussonderung der theoretischen Tätigkeit aus der praktischen unumgänglich ist. Aus diesen allgemeinen Sätzen ergibt sich auch unsere Einstellung zum dritten Lösungsversuch des Problems der Beziehungen zwischen dem psychischen Bewußtsein und der Tätigkeit. Die Zentralthese dieses dritten Versuchs ist der Satz, daß die psychische Tätigkeit als Resultat einer „Interiorisierung" der äußeren, materiellen Tätigkeit aufzufassen sei. Jene Konzeption, die die psychische Tätigkeit als Interiorisierung der äußeren Tätigkeit auffaßt, stellt man in der letzten Zeit bei uns als die „Linie" Wygotskis dar, obwohl die vielgestaltige und inhaltreiche psychologische Konzeption Wygotskis keineswegs auf den Satz über die Interiorisierung reduziert werden kann. Die Vorstellung von der Interiorisierung (er nannte es „Hineinwachsen") bezog Wygotski unmittelbar auf das, was ihm das Hauptinstrument für den Aufbau der „höheren" psychischen Funktionen des Menschen zu sein schien, nämlich auf den Begriff des Zeichens. Die Denkprozesse und überhaupt die sogenannten höheren Prozesse unterschieden sich für Wygotski von den assoziativen Prozessen dadurch, daß der Mensch sie vermittels eines Zeichens erwirbt. 9 1 Auf der Verwendung von „Zeichen" als „Werkzeugen" der intellektuellen Tätigkeit beruhte auch die Auffassung Wygotskis von der „kulturellen" Entwicklung, die er der „natürlichen" gegenüberstellte. Deshalb war f ü r ihn das Hauptproblem die Interiorisierung des Zeichens. 92 Bei der Charakterisierung der Entwicklungsstadien stellte „Wie Untersuchungen zeigen, auf die wir hier nicht näher eingehen wollen, werden alle höheren psychischen Funktionen durch das gemeinsame Merkmal gekennzeichnet, daß es unmittelbare Prozesse sind, d. h., daß sie als Zentral- und Hauptteil ihrer ganzen Struktur den Gebrauch eines Zeichens als Hauptmittel der Steuerung und Beherrschung der psychischen Prozesse enthalten." (L. S. Wygotski, Denken und Sprechen. Moskau-Leningrad 1934, S. HO. Ferner Ausgewählte psychologische Forschungen. Moskau 1956, S. 155 f. (beide russ.). Das Hauptmerkmal jeder höheren Form der intellektuellen Tätigkeit besteht nach Wygotski „im Übergang von unmittelbaren intellektuellen Prozessen zu Operationen, die mit Hilfe von Zeichen vermittelt werden" (vom Verf. hervorgehoben - S. R.) (ebenda, S. 164). „Die signifikative Struktur (die mit dem aktiven Gebrauch von Zeichen in Zusammenhang steht)" ist nach Wygotski „ein allgemeines Strukturgesetz der höheren Verhaltensformen. . . " (ebenda). 92

14*

Den Ausweg aus der funktionellen Psychologie, die Wygotski

sich bemühte zu überwinden,

212

Geschichte

Wygotski als höchstes Stadium die „Interiorisierung" (das Hineinwachsen) heraus: „Es ist vor allem dadurch gekennzeichnet, daß äußere Operationen verinnerlicht und zu inneren Operationen werden und im Zusammenhang damit tiefgreifende Veränderungen durchmachen." 9 3 Als Beispiel aus dem Bereich der allgemeinen Psychologie führte er das logische Gedächtnis an, das sich der inneren Wechselbeziehungen „in Form innerer Zeichen bedient". 9 4 So stellt sich bei Wygotski der Übergang äußerer Operationen in innere dar. Diese Konzeption wird in der Sowjetpsychologie heute von A. N. Leontjew und seinen Mitarbeitern vertreten. 9 5 Er stellt die „Interiorisierung" als „Mechanismus" dar, durch den aus der äußeren materiellen Tätigkeit die innere psychische Tätigkeit werden soll. Die oben von uns formulierten Sätze erfahren hier eine Verschiebung, so daß die richtigen und wichtigen Sätze über das Primat der praktischen Tätigkeit und ihren Anteil an der Ausbildung der inneren, geistigen, theoretischen Tätigkeit eine inadäquate Form bekommen. Richtig ist, wie oben gesagt, daß die materielle, praktische Tätigkeit primär ist und daß sich die theoretische, geistige Tätigkeit, die sich nur im inneren Bereich äußert, erst später von ihr sondert (in diesem Sinne findet eine „Interiorisierung", d. h. ein Übergang von der Tätigkeit im äußeren Bereich zur Tätigkeit, die ausschließlich im inneren Bereich erfolgt, tatsächlich statt). Falsch ist es aber, an die Stelle der theoretischen bzw. geistigen, gedanklichen Tätigkeit die psychische Tätigkeit schlechthin zu setzen und dann zu behaupten, daß die geistige Tätigkeit durch „Interiorisierung" dieser letzteren entsteht. Jede äußere, materielle Tätigkeit des Menschen enthält bereits in sich psychische Komponenten (Erscheinungen, Prozesse), durch die sie gesteuert wird. Man kann nicht das Handeln des Menschen lediglich auf den äußeren Vollzugsteil reduzieren, die psychischen Komponenten aus der äußeren praktischen Tätigkeit eliminieren und die „inneren" psychischen Prozesse nach außerhalb der „äußeren" menschlichen Tätigkeit verlagern. Das ist aber bewußt oder unbewußt, explizit oder implizit der Fall, wenn man behauptet, die psychische Tätigkeit entstehe durch Interiorisierung der äußeren Tätigkeit. In Wahrheit führt die Interiorisierung nicht von der äußeren, materiellen Tätigkeit, die bar aller inneren psychischen Komponenten ist, fort, sondern von einer Daseinsweise der psychischen Prozesse - als Komponenten des äußeren, praktischen Handelns - zu einer anderen, vom äußeren, materiellen Hansuchte er nicht in der synthetischen Konzeption der Tätigkeit, sondern in der Lehre vom Struktur- und Systemaufbau des Bewußtseins. Diese bestand im Nachweis der wechselseitigen Zusammenhänge und der gegenseitigen Abhängigkeit zwischen verschiedenen Funktionen und der Behauptung, daß auf verschiedenen Etappen unterschiedliche Funktionen führend werden und der Bewußtseinsstruktur insgesamt ein anderes Gepräge verleihen. Dieser Hinweis auf die interfunktionellen Zusammenhänge sollte die Mängel der funktionellen Konzeption korrigieren, ohne jedoch prinzipiell über sie hinauszugehen. ila Ebenda, S. 138. 'y' Ebenda, S. 139. ,J5

Ihren prinzipiell ausgeprägtesten Ausdruck fand sie bei P. 1. Galperin. Vgl. „Materialien der Psychologietagung". Stenographisches Protokoll. Mitt. d. Akad. d. Päd. Wiss. d. RSFSR, 1953, Nr. 45, S. 93 ff. (russ.).

213

Nationale Psychologie

dein relativ unabhängigen. Nicht nur das innere, sondern auch das sogenannte äußere Hören ist Hören, also ein psychischer und in diesem Sinne innerer P r o z e ß ; nicht nur das Kopfrechnen, sondern auch das Abzählen von Gegenständen mit den Fingern enthält psychische, geistige Prozesse. Bei der Interiorisierung des Sprechens handelt es sich nicht um die Entstehung psychischer Prozesse, einer psychischen Tätigkeit aus einer

(rein)

äußerlichen,

(rein)

materiellen, sondern um den Übergang von einer

Form der Tätigkeit zu einer anderen und von einer Daseinsweise der psychischen Prozesse

(als Komponenten der äußeren, praktischen Tätigkeit)

zu einer anderen

(als

theoretische, geistige Tätigkeit), von psychischen Prozessen der einen Stufe zu psychischen Prozessen einer höheren Stufe und -

im Zusammenhang damit — von einer

Daseinsweise dieser Prozesse zu einer anderen. Dabei ist die „Interiorisierung" kein „Mechanismus", mit dessen Hilfe dieser Übergang erfolgt, sondern lediglich sein resultativer Ausdruck, die Charakteristik der Richtung, in der dieser Prozeß verläuft. Die Konzeption der psychischen Tätigkeit als interiorisierte äußere, materielle Tätigkeit enthält scheinbar die oben formulierten außerordentlich wichtigen prinzipiellen Sätze über den Anteil der praktischen Tätigkeit an der Entwicklung der geistigen Tätigkeit des Menschen, aber sie erhalten in dieser Konzeption einen höchst zweideutigen Sinn. Vom Problem der Wechselbeziehungen zwischen Tätigkeit und Psyche schlechthin wollen wir zum Abschluß noch auf die F r a g e nach den Beziehungen zwischen Tätigkeit und Bewußtsein im eigentlichen Sinne des Wortes übergehen. Ausgangspunkt der Entwicklung des Bewußtseins sind jene psychischen Prozesse, die unmittelbar als Signale in die Handlung eingeschlossen sind und ihren Verlauf steuern. Die Entstehung des Bewußtseins ist mit der Aussonderung des S u b j e k t s der Handlung aus der objektiven Realität verknüpft, auf die die Handlung gerichtet ist, mit der Aussonderung der Reflexion auf die Realität in Form von Kenntnissen von etwas außerhalb des Subjekts Befindlichem. Der Aussonderungsprozeß des Bewußtseins setzt notwendig gesellschaftliche, im Verlauf der Geschichte entwickelte und in Wörtern fixierte Verallgemeinerungen voraus, Kenntnisse, mit deren Hilfe die unmittelbaren Eindrücke ausgedrückt, in deren „ S p r a c h e "

sie beim bewußten

Erfassen

„übersetzt" werden. Das bewußte Erfassen der Umwelt geschieht durch Korrelation der unmittelbaren Eindrücke mit den gesellschaftlich entwickelten und im Wort

fixier-

ten Verallgemeinerungen. Das Bewußtsein ist die Gesamtheit der Kenntnisse, die sich im Prozeß des bewußten Erfassens herausbilden und in diesem Prozeß funktionieren. Das Bewußtsein bzw. die bewußten Prozesse haben, wie alle anderen psychischen Prozesse auch, Steuerungsfunktion der menschlichen Tätigkeit und sind als Regulatoren in das Leben und die Tätigkeit des Menschen, in seine Wechselwirkung mit der Umwelt verflochten. Bewußte Handlungen sind Handlungen, die durch bewußte Prozesse gesteuert werden. Sowohl das Bewußtsein als auch das Handeln sind Verbindungen des Menschen mit der Umwelt. W a s beim bewußten Erfassen aus der Welt in den Menschen übergeht und hier nach Brechung durch das Subjekt in Form von Absichten

und Intentionen ideelle Daseinsweise annimmt, geht dann durch das Handeln

wieder in die W e l t über, gestaltet sie um, wird in ihr vergegenständlicht und nimmt wieder materielle Existenzform an.

Geschichte

214

Jede Handlung in bezug auf ein Objekt muß entsprechend seiner Natur vollzogen werden. Das durch das Objekt determinierte menschliche Handeln, das mit Erscheinungen und Prozessen des gesellschaftlichen Lebens operiert, ist mit gesellschaftlichem Inhalt erfüllt. Und eben darin, in der Reichhaltigkeit des objektiven, gesellschaftlichen, menschlichen Inhalts, der durch das Handeln in das Subjekt eindringt, und nicht in der bloßen subjektiven Aktivität, liegt die wirkliche Bedeutung des Handelns für die Formung des Menschen und seines Bewußtseins.

3. Aus der Geschichte der ausländischen Psychologie a) Der Machismus

und die Krise der

Das Problem des Bewußtseins in der ausländischen

und

Psychologie. Verhaltens

Psychologie

a) Der Machismus und der Beginn der Krise der Bewußtseinspsychologie Die Krise der Psychologie, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts ausbrach, kurz nachdem die Psychologie zur experimentellen Psychologie geworden war, hing mit der Unfähigkeit der herrschenden Richtungen der idealistischen Philosophie zusammen, die für die Psychologie grundlegenden Probleme der Beziehungen des Psychischen als Subjektives zur objektiven Realität und des Zusammenhangs des Psychischen mit der materiellen Hirntätigkeit zu lösen. Die Lösung dieser Grundfragen wurde besonders verwickelt und auf prinzipiell falschen Wegen versucht, als der Machismus in die Psychologie eindrang und der Neorealismus und der Pragmatismus aufkamen. Dieses Kapitel soll nicht die Krise der Psychologie insgesamt abhandeln, sondern nur speziell den Folgen nachgehen, die das Eindringen der verschiedenen Formen des „neutralen Monismus" in die Psychologie hatte. Der Machismus, der sein Los hauptsächlich mit der Physik verband, begann Anfang des 20. Jahrhunderts auch in die Psychologie einzudringen. Das verschärfte die Krise der idealistischen Psychologie in starkem Maße. Die phänomenalistischen Tendenzen des Machismus traten in der Psychologie, ohne jedoch ihr prinzipielles Wesen zu verändern, infolge der Tatsache in neuer Gestalt auf, daß man sie auf die Psyche, auf das Bewußtsein anwandte. „Die Materie ist verschwunden", das war bekanntlich das Feldgeschrei des Machismus, der sich die neue Physik zum Bundesgenossen gewinnen wollte. „Das Bewußtsein hat sich verflüchtigt", das war die andere Losung, die aus der Anwendung des Machismus auf Probleme der Psychologie entsprang. Erstmalig wurde diese Losung von James formuliert, der die Grundlagen des Neorealismus und Pragmatismus legte. Mach und seine Bundesgenossen aus den Reihen der Physiker machten sich unmittelbar über die Materie her und versuchten, sie auf Empfindungen als angeblich „neutrale" Elemente der Erfahrung zu reduzieren. Die Neorealisten Holt, Perry, Russell und ihnen nahestehende Philosophen sowie Pragmatisten vom Schlage eines Mead

Geschichte

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Jede Handlung in bezug auf ein Objekt muß entsprechend seiner Natur vollzogen werden. Das durch das Objekt determinierte menschliche Handeln, das mit Erscheinungen und Prozessen des gesellschaftlichen Lebens operiert, ist mit gesellschaftlichem Inhalt erfüllt. Und eben darin, in der Reichhaltigkeit des objektiven, gesellschaftlichen, menschlichen Inhalts, der durch das Handeln in das Subjekt eindringt, und nicht in der bloßen subjektiven Aktivität, liegt die wirkliche Bedeutung des Handelns für die Formung des Menschen und seines Bewußtseins.

3. Aus der Geschichte der ausländischen Psychologie a) Der Machismus

und die Krise der

Das Problem des Bewußtseins in der ausländischen

und

Psychologie. Verhaltens

Psychologie

a) Der Machismus und der Beginn der Krise der Bewußtseinspsychologie Die Krise der Psychologie, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts ausbrach, kurz nachdem die Psychologie zur experimentellen Psychologie geworden war, hing mit der Unfähigkeit der herrschenden Richtungen der idealistischen Philosophie zusammen, die für die Psychologie grundlegenden Probleme der Beziehungen des Psychischen als Subjektives zur objektiven Realität und des Zusammenhangs des Psychischen mit der materiellen Hirntätigkeit zu lösen. Die Lösung dieser Grundfragen wurde besonders verwickelt und auf prinzipiell falschen Wegen versucht, als der Machismus in die Psychologie eindrang und der Neorealismus und der Pragmatismus aufkamen. Dieses Kapitel soll nicht die Krise der Psychologie insgesamt abhandeln, sondern nur speziell den Folgen nachgehen, die das Eindringen der verschiedenen Formen des „neutralen Monismus" in die Psychologie hatte. Der Machismus, der sein Los hauptsächlich mit der Physik verband, begann Anfang des 20. Jahrhunderts auch in die Psychologie einzudringen. Das verschärfte die Krise der idealistischen Psychologie in starkem Maße. Die phänomenalistischen Tendenzen des Machismus traten in der Psychologie, ohne jedoch ihr prinzipielles Wesen zu verändern, infolge der Tatsache in neuer Gestalt auf, daß man sie auf die Psyche, auf das Bewußtsein anwandte. „Die Materie ist verschwunden", das war bekanntlich das Feldgeschrei des Machismus, der sich die neue Physik zum Bundesgenossen gewinnen wollte. „Das Bewußtsein hat sich verflüchtigt", das war die andere Losung, die aus der Anwendung des Machismus auf Probleme der Psychologie entsprang. Erstmalig wurde diese Losung von James formuliert, der die Grundlagen des Neorealismus und Pragmatismus legte. Mach und seine Bundesgenossen aus den Reihen der Physiker machten sich unmittelbar über die Materie her und versuchten, sie auf Empfindungen als angeblich „neutrale" Elemente der Erfahrung zu reduzieren. Die Neorealisten Holt, Perry, Russell und ihnen nahestehende Philosophen sowie Pragmatisten vom Schlage eines Mead

Ausländische Psychologie

215

richteten ihre Kritik vor allem gegen den Begriff Geist bzw. Bewußtsein. Unter dem Deckmantel des Kampfes gegen den Descartesachen Dualismus setzten sie sich das Ziel, den Geist bzw. das Bewußtsein auf „neutrale" Elemente der Erfahrung zu reduzieren. Diese „Neutralisierung" des Bewußtseins benutzten diese Philosophen, um anschließend den vom Subjekt entfremdeten Bewußtseinsinhalt als einzig wirkliches Sein darzustellen. So gelangten die Neorealisten und Pragmatisten auf einem Umweg zum gleichen Endziel wie die Machisten, nämlich die Empfindung bzw. das Bewußtsein an die Stelle des Seins zu setzen. In der Geschichte der idealistischen Psychologie ist eine folgenschwere Tatsache zu registrieren: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts verlassen führende Vertreter der ausländischen Psychologie — Wundt, Titchener, James — einer nach dem anderen die dualistischen Standpunkte vor allem Descartes' und Lockes, teilweise auch Kants und gehen unverhüllt auf den Standpunkt des Machismus über. Der Machismus, der die Empfindungen in „neutrale Elemente" verwandelte, aus denen angeblich die ganze Welt gewirkt sein sollte, war eindeutig gegen die Anerkennung der Existenz einer vom Bewußtsein unabhängigen materiellen Welt gerichtet. Zunächst schien die machistische Konzeption damit die unbegrenzten Expansionsbestrebungen der Psychologie zu rechtfertigen. Dahin kam es auch zunächst vor allem bei Wundt, dessen Psychologismus alle Gesellschaftswissenschaften in der Psychologie auflöste und absorbierte. Bald aber stellte sich heraus, daß der Machismus indem er den Bereich der Psychologie auf die gesamte Erfahrung erweiterte, die Psychologie ihres spezifischen Bereichs beraubte, also dazu führte, daß die Psychologie ihren eigenen Gegenstand verlor. Das ist die Kehrseite der machistischen Einstellungen zur Psychologie, die schon bei James deutlich wird. Bei den Neorealisten und Pragmatisten wird sie schließlich unübersehbar. Diese Sätze zu belegen bereitet keine besonderen Schwierigkeiten. Seinen „Grundriß der Psychologie" beginnt Wundt mit dem Hinweis, es hätten in der Psychologie bisher zwei Definitionen des Begriffs Psychologie dominiert. Nach der einen sei die Psychologie die „Wissenschaft von der Seele" und nach der anderen die „Wissenschaft von der inneren Erfahrung", also vom Inhalt der Selbstbeobachtung bzw. vom inneren Sinn. Wie die erste, substantialistische Descartessche Konzeption der Psyche lehnt Wundt auch die zweite, Locke sehe Konzeption entschieden ab. Er setzt ihnen den im Prinzip machistischen Satz entgegen, daß Psychologie und Physiologie ein und dieselbe Erfahrung untersuchten, nur unter verschiedenen Aspekten. 96 Die Rolle, die bei Mach die „neutralen" Empfindungen spielen, übernimmt bei Wundt das „Vorstellungsobjekt", sein Grundbegriff, den er sowohl für die Vorstellung von einem Objekt als auch für das Objekt dieser Vorstellung ausgibt. Unter Ausnutzung der Doppeldeutigkeit dieses von ihm nicht ohne Grund eingeführten Terminus reduziert Wundt idealistisch das Objekt auf die Vorstellung. Insofern die Naturwissenschaften, nach Wundt, vom Subjekt zu abstrahieren suchen, haben sie es mit der mittelbaren Erfahrung zu tun, die Psychologie dagegen handelt ;Mi

W. Wundt, Grundriß der Psychologie. Russ. Übers, nach der 9 . - 1 0 . deutschen Auflage, Moskau 1912, 1. Aufl.

216

Geschichte

von der unmittelbaren E r f a h r u n g . 9 7 Aus diesen Definitionen der Psychologie und der Naturwissenschaften als zwei verschiedene Aspekte derselben E r f a h r u n g ergibt sich sofort ein Schluß, der keinerlei Zweifel daran läßt, welcher dieser beiden Aspekte nach Wundt der grundlegende und bestimmende ist. Den Vorrang räumt Wundt der Psychologie ein. Die Naturwissenschaften, die, wie er behauptet, bemüht sind, die E r f a h r u n g vom Subjekt zu abstrahieren, sind gezwungen, sich lediglich auf einen abstrakt isolierten Teil der E r f a h r u n g zu beschränken. Die Psychologie dagegen, die nicht vom Subjekt und all dem Subjektiven, was sich gewöhnlich den wahrgenommenen Objekten „beigesellt", zu abstrahieren braucht, „erforscht dagegen den Inhalt der E r f a h r u n g in seiner vollständigen Wirklichkeit", „die ganze konkrete Wirklichkeit" (Wundt, Grundriß . . . S. 6 ) . Sämtliche Gesellschaftswissenschaften rechnet er zu den „Geisteswissenschaften ". Durch seine Definition der Psychologie (und der Naturwissenschaften) reduziert Wundt erstens subjektivistisch den Unterschied der Untersuchungsobjekte auf einen Unterschied der Standpunkte und vertritt zweitens den reinsten Psychologismus auf dem Gebiet der Gesellschaftswissenschaften. Damit schafft er von vornherein die theoretischen Ausgangsvoraussetzungen f ü r seine „Völkerpsychologie". 9 8 Infolge seines Eklektizismus hat Wundt nicht im entferntesten konsequent seine Konzeption der Psychologie als Wissenschaft von der unmittelbaren E r f a h r u n g im Unterschied zu den Naturwissenschaften realisiert, die die E r f a h r u n g in abstrakten Begriffen deuten. Als Anhänger der „induktiven Metaphysik" errichtete er bald über der „unmittelbaren E r f a h r u n g " der Psychologie seinen metaphysischen Überbau. E r reduziert die Materie auf die Rolle eines Hilfsbegriffs von der Natur und erkennt der 97

Die Definition der Psychologie findet man bei Wundt im „Grundriß der Psychologie", S. 3 - 6 , 276, sowie in seinen „Grundzügen der physiologischen Psychologie", Bd. III, 1903, S. 677 ff., besonders auf S. 751 ff., und in einer Reihe anderer Arbeiten („Naturwissenschaft und Psychologie", „Über empirische und metaphysische Psychologie", „Die Definition der Psychologie", „Kleine Schriften"). "" In seiner wissenschaftlichen Autobiographie erwähnt Wundt, daß schon von Anfang der 60er Jahre an in seinem Bewußtsein die Völkerpsychologie als wichtigster Teil der Psychologie, der das ganze Gebäude der psychologischen Wissenschaft krönen sollte, in den Vordergrund trat. Die Völkerpsychologie hatte für ihn außer speziellem wissenschaftlichem Interesse auch noch besondere politische Bedeutung. Die Hauptaufgabe bestand, nach der eigenen Aussage Wundts, darin, Deutschland und die geistigen Werte des deutschen Volkes zu rühmen, das angeblich berufen sein sollte, als Gegengewicht gegen den englischen Utilitarismus den reinen Idealismus zu behaupten. Speziell werden von Wundt die Erfolge deutscher Forscher auf dem Gebiete der vergleichenden Sprachwissenschaften als Argument gegen die Übergriffe auf die deutschen Kolonien benutzt. Diese wissenschaftlichen Erfolge sollen, nach seiner Lesart, die kulturelle Mission Deutschlands in den afrikanischen Kolonien beweisen. Diese Grundthesen der „Völkerpsychologie" - über den bestimmenden Einfluß der geistigen und kulturellen Güter im Leben der Völker - haben für Wundt auch gewisse Beziehung zu Problemen der Innenpolitik. Auf diese Thesen gestützt, verurteilt er den Klassenkampf, erklärt ihn zur Hauptursache für die Niederlage Deutschlands im ersten Weltkrieg und äußert sich beifällig über die Nachkriegspolitik der deutschen Sozialdemokratie.

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Seele die gleiche Daseinsberechtigung zu, indem er sie lediglich als Hilfsbegriff der Psychologie anerkennt. Da er der Ansicht ist, daß der Substanzbegriff deshalb seine Anwendbarkeit auf die Psychologie verliert, weil der Gegenstand der Psychologie lediglich durch einen bestimmten Standpunkt hinsichtlich der E r f a h r u n g bestimmt wird, f ü h r t er f ü r die Psychologie als Korrelat der Substanz die Kategorie der Aktualität e i n . " Diese soll die metaphysische Grundlage f ü r die wichtigsten Begriffe seiner Psychologie, Apperzeption und Wille, bilden. So errichtet er auf einer hinsichtlich ihres Ursprungs machistischen Grundlage ein Gebäude im Stil Leibniz. Mag Wundt aber auch noch so inkonsequent sein, unstreitig bleibt doch die Tatsache, daß seine Definition der Psychologie den ersten Schritt auf dem Wege zur machistischen Umorientierung der Psychologie bedeutete. Und auch Titchener hatte recht, als er die Ansichten von Wundt und Avenarius in Übereinstimmung zu bringen suchte und bei dieser Gelegenheit im Zusammenhang mit Wundts Kritik an der Immanenzphilosophie des Empiriokritizismus darauf hinwies, daß Wundt nicht so heftig gegen Avenarius polemisiert hätte, wenn nicht zwischen ihnen eine gewisse Verwandtschaft bestanden hätte. 1 0 0 Mit vollem Recht bezeichnet Titchener gerade Wundt und Avenarius (neben Mach) als Stammväter der „Neuorientierung der Psychologie". Avenarius widmete der Frage nach dem Gegenstand der Psychologie eine besondere Arbeit. 1 0 1 In dieser Arbeit behauptet er bekanntlich, daß die Innenwelt (das Psychische) fiktiv durch „Introjektion" erzeugt werde, d. h. durch Verlagerung dessen, was außen unmittelbar wahrgenommen wird, in das Innere des Individuums. Diese Behauptung fußt eindeutig auf einer Vermengung des psychischen Wahrnehmungsprozesses mit dem wahrgenommenen Objekt. Daraus, daß das Objekt von uns in der Außenwelt wahrgenommen wird, schließt Avenarius, daß sich auch der Wahrnehmungsprozeß außen befindet und erst künstlich nach innen verlegt, „introjiziert" wird. Dadurch, daß Avenarius den inneren Charakter des Psychischen leugnet und fordert, daß unsere Wahrnehmungen sozusagen wieder dort angesiedelt werden sollten, wo sie eigentlich hingehören, bereitet er den Boden f ü r die Reduzierung der physikalischen Außenwelt auf die psychische Welt. Die Position Avenarius' fand ihre direkte Fortsetzung bei Titchener. Freilich fand er nicht sofort zu dieser Ansicht. In seinem Buch „An Outline of Psychology", das 1896 veröffentlicht wurde, 1 0 2 betrachtet er die Psychologie noch als Wissenschaft von den seelischen Prozessen. Dabei definiert Titchener den seelischen Prozeß als Prozeß im Bereich unserer inneren E r f a h r u n g . Von den seelischen Prozessen unterscheidet er die physikalischen und betont, daß das Physikalische, das Äußere, von uns unabhängig ist: „Die Bewegung würde fortdauern, auch wenn es uns, die wir sie empfinden, überhaupt nicht gäbe. Der geometrische Raum ist von uns u n a b h ä n g i g ; er wird von einem Gesetz regiert, das unabhängig davon wirkt, ob wir es kennen oder nicht." 9n 100

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W. Wundt, Grundriß . . . S. 276 f. Ed. Br. Titchener, Systematic Psychology. Prolegomena. N. Y. 1929; The Definition of Psychology: Point of View, spez. S. 134. Bemerkungen zum Begriff des Gegenstandes der Psychologie. „Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Philosophie", Jg. XVIII, 1894, und XIX, 1895. Russ. Übers., Petersburg 1898, S. 4.

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In den folgenden Jahren vollzieht Titchener eine jähe Schwenkung. Im „Lehrbuch der Psychologie" 103 steht er bereits auf völlig anderen, eindeutig machistischen Positionen. „Zwischen dem Rohstoff der Physik und dem der Psychologie", lesen wir hier, „kann es keinerlei wesentlichen Unterschied geben. Materie und Geist, wie wir sie nennen, müssen im Prinzip identisch sein . . . Physik und Psychologie haben ein und dasselbe Material; diese Wissenschaften unterscheiden sich voneinander nur und das ist zureichend — durch die ihnen eigenen Aspekte." Das Kapitel über den Gegenstand der Psychologie im Lehrbuch Titcheners stellt im Grunde eine „Popularisierung" der Ansichten Avenarius' dar. Die Seele definiert er als Gesamtheit der menschlichen Erfahrung, insofern diese letztere in ihrer Abhängigkeit vom erkennnenden Individuum oder von seinem Nervensystem betrachtet wird. Dieser enge Zusammenhang von Titchener und Avenarius zeigt sich ganz deutlich und ausgeprägt in der jüngsten theoretischen Arbeit Titcheners „Systematic Psychology. Prolegomena" (1929). Hier stellt Titchener Avenarius immittelbar als den Denker dar, der grundlegenden und bestimmenden Einfluß auf jene Neuorientierung in der Psychologie hatte, als deren Anhänger er sich selbst auch erklärt. Besonders lehrreich ist dabei seine Erklärung zum Problem der Beziehungen zwischen der „Erfahrung" der Psyche und des Nervensystems. Titchener betont, die Abhängigkeit der Psyche vom Nervensystem sei rein logischer Natur, analog der funktionellen Abhängigkeit in der Mathematik (ebenda, S. 134 f.). Er wendet sich gegen die Umwandlung dieser Abhängigkeit in eine reale, materielle Abhängigkeit der psychischen Erscheinungen vom Nervensystem, vom Gehirn. Besonders deutlich und instruktiv zeigen sich die Folgen, die sich für die Psychologie aus dem Übergang auf den Standpunkt des Machismus ergeben, bei James. Anfangs geht James freilich ebenso wie Titchener von der Philosophie Lockes aus. Davon spricht James selbst in seinem Hauptwerk „The Principles of Psychology", das 1890 erschien. „Die Stellung der Psychologie in der Erkenntnis", schreibt er, „wird im folgenden so wesentlich sein, daß wir diese Frage nicht abschließen können, ehe nicht absolute Klarheit darüber geschaffen ist. Es ist der Standpunkt eines durchgängigen Dualismus. Er setzt zwei Elemente voraus - den erkennenden Geist und das zu erkennende Ding - und sieht sie als nicht aufeinander reduzierbar an. Keines von beiden geht über sich selbst hinaus oder in das andere über. Keines von beiden ist irgendein Abbild des anderen, und keines erzeugt das andere. Sie stehen einander von Angesicht zu Angesicht in einer gemeinsamen Welt gegenüber — das eine erkennt einfach, und das andere — sein Korrelat — wird erkannt." Das sind die Ansichten, die James offiziell in seinem psychologischen Hauptwerk verkündet. Es steht außer Zweifel, daß sich auch in den „Prinzipien der Psychologie", die bekanntlich keineswegs ein homogenes Ganzes darstellen, bereits die Verschiebungen in den Ansichten James' ankündigen, die er dann 1904 vollzog. 1904/05 tritt dann in einer Reihe von Artikeln, die später in einem Sammelband unter dem Titel „Essays in Radical Empirism" (1912) zusammengefaßt wurden, eine 103

Ed. Br. Titchener, Textbook of Psychology. 1909-1910.

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radikale Wende ein: James entwickelt seine Konzeption der „reinen Erfahrung". 1 0 4 Er geht auf den machistischen Standpunkt über. E s existiert, so erklärt er, eine einzige Erfahrung; je nach den Zusammenhängen, in denen man die Elemente dieser Erfahrung betrachtet, tritt sie bald als physikalische Welt der Dinge, bald als psychische, subjektive Welt der Gedanken in Erscheinung. Nach James ist das ein und derselbe Inhalt in zwei verschiedenen Kontexten. „Ich behaupte", schreibt er, „daß. . . ein einheitlicher Teil der Erfahrung, in einem bestimmten Kontext betrachtet, die Rolle des erkennenden, seelischen Zustands, des ,Bewußtseins' spielt, während in einem anderen Kontext derselbe einheitliche Teil der Erfahrung die Rolle des erkannten Dinges, des objektiven ,Inhalts' spielt. Mit einem Wort, in dem einen Kontext figuriert er als Gedanke, im anderen als Ding." Er behauptet sogar: „In der einen Gesamtheit ist er nur Bewußtsein, in der anderen nur Inhalt." 1 0 5 Das sind im Prinzip machistische Thesen. Indessen wurde die in den /ameischen Artikeln von 1904/05 dargelegte Konzeption zum Ausgangspunkt für die Entwicklung des Neorealismus und Pragmatismus. Nicht von ungefähr schrieb Lenin: „Der Unterschied zwischen Machismus und Pragmatismus ist vom Standpunkte des Materialismus aus ebenso nichtig und zehntrangig wie der Unterschied zwischen Empiriokritizismus und Empirimonismus." 1 0 6 Im Endergebnis kommt der Pragmatist James ebenso wie die Machisten zur Auflösung der Materie in der reinen Erfahrung. Ausgangspunkt für ihn ist aber die Frage: „Existiert das Bewußtsein?" Das ist auch der Titel seines Hauptartikels, in dem er erstmals seinen wissenschaftlichen Standpunkt fixierte. Ihn als Psychologen beschäftigt diese Frage unmittelbar; seine Zweifel und seine Kritik betreffen vor allem den Bewußtseinsbegriff. Schon in seiner kleinen „Psychologie" schrieb James: „ E s hat Denker gegeben, die die Existenz der Außenwelt leugneten, aber an der Existenz der Innenwelt hat niemand gezweifelt. . . Was mich betrifft, so muß ich bekennen, daß ich von der Existenz eines inneren Prozesses nicht ganz überzeugt bin." 1 0 7 In der phänomenalistischen Lehre von der reinen Erfahrung verschwindet nicht nur die Materie, sondern auch das Bewußtsein als irgendwie spezifische Seinsform. Der Phänomenalismus löst in Erscheinungen der Erfahrung nicht nur das Objekt auf, die materielle Außenwelt, sondern auch das sie erkennende reale Subjekt; in der Erscheinung des Objekts verschwindet für das Subjekt das eine wie das andere. Letzten Endes findet sich, daß es keine Seinssphäre gibt, die das spezifische Objekt der Psychologie wäre; die Psychologie verliert ihren Gegenstand. ' Uber die Entwicklung der Konzeption James' s. R. B. Perry, In the Spirit of William J a m e s . 1938. Perry unterscheidet in dieser Entwicklung drei P h a s e n : die psychologische, die phänomenologische und die metaphysische. Vgl. in dem erwähnten Buch Teil I I I : „ T h e Metaphysics of Experience", S. 75 ff.

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W. James, Existiert das „ B e w u ß t s e i n " ? Neue Ideen in der Philosophie. Petersburg 1913, Nr. 4, S. 107 f., 113 (russ.). „Die Gedanken . . . bestehen aus demselben Material wie die Dinge" (ebenda, S. 127). W. I. Lenin, M a t e r i a l i s m u s . . ., a. a. O., S. 333. W. James, Psychologie. Petersburg 1896, S. 390 (russ.).

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Hier verflechten sich bei James in einem zentralen Knoten die Fäden, die auf den ersten Blick völlig heterogene Strömungen des philosophischen und psychologischen Denkens verknüpfen. James konstatiert selbst ganz richtig, daß die idealistische Gnoseologie der Immanenzphilosophie und der Neokantianismus die Reduzierung des Bewußtseins auf die funktionelle Charakteristik der Erfahrung vorbereitet haben, indem sie das Bewußtsein einzig auf die Erkenntnisfunktion reduzierten. Das „Verschwinden" des Bewußtseins ist somit ein Resultat der idealistischen, phänomenalistischen Erkenntnistheorie. Und ist nicht zugleich die Feststellung, das Bewußtsein „habe sich verflüchtigt", die philosophische Vorbereitung des Behaviorismus? Der Standpunkt, den James in dieser Periode (1904/05) bezog, hat zweifellos die philosophischen Grundlagen der Psychologie, wie sie in seinen „Prinzipien der Psychologie" dargelegt sind, untergraben. Die Philosophie der reineil Erfahrung zerstörte die BewußtseinspsychoVoraussetzungen der traditionellen ZJescar/esschen und Locke sehen logie; in ihr lagen auch bereits die Keime des Neorealismus und Pragmatismus, mit denen zusammen sich auch der Behaviorismus entwickelte. In den programmatischen Artikeln aus den Jahren 1904/05, vor allem in dem wichtigsten: „Existiert das .Bewußtsein'?", waren der Standpunkt James' und sein Begriff der reinen Erfahrung noch mehrdeutig. Der wahre Sinn seiner Konzeption wurde dann in der Folgezeit deutlich. Zunächst sind bei James Bewußtsein und Erfahrung deckungsgleich. In der Erfahrung aufgelöst, absorbiert das Bewußtsein sie vollständig und schließt sie in sich ein. Der Unterschied zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Idee und Ding liegt danach im Innern des Bewußtseins. In dem Artikel „Existiert das ,Bewußtsein' ? " jedoch wird das Bewußtsein als eine bestimmte Struktur, als ein bestimmter Kontext, als eine Relation von Elementen erklärt, die ihrem eigenen inneren Wesen nach nichts Bewußtes, Geistiges oder Psychisches enthalten. Das Bewußtsein wird also gewissermaßen innerhalb der Erfahrung von der nicht bewußt gewordenen Realität abgegrenzt. Zu dieser Abgrenzung findet sich bei James folgendes: 1. Alles, was bewußt, empfunden, erlebt wird, alles, was zur Erfahrung des Subjekts wird, ist Realität, insofern das Bewußtsein unmittelbar aus denjenigen Elementen besteht, die in anderer Struktur diese Realität bilden; jede beliebige Erfahrung jedes beliebigen Individuums ist demnach eine Offenbarung der Realität. 2. Zugleich ist aber auch nicht alles, was real ist, damit zugleich als Bewußtsein des Individuums gegeben, weil die Elemente der Realität bei dem entsprechenden Individuum keine Struktur zu bilden brauchen, die das Bewußtsein ausmacht. Die Welt in ihrer Unendlichkeit und Vielgestaltigkeit geht nur in Teilen in das Bewußtsein des jeweiligen Individuums ein. Die Erfahrung jedes Individuums ist eine vollgültige „Offenbarung der Realität"; sie besteht immer unmittelbar aus Elementen der Realität selbst, aber jede individuelle Erfahrung ist nur eine partielle Offenbarung der Realität. In seiner ganzen Vollständigkeit wird das Universum nur bei pluralistischer Betrachtungsweise deutlich. Da Subjekt und Objekt in den Erscheinungen (Phänomenen) der reinen Erfahrung aufgelöst sind, entfällt nach James das Wahrheitskriterium in Entsprechung zum Objekt; das Erleben ist eine Äußerung der Realität, insofern es ein Lebensfaktum des Subjekts ist. Der Wert des Erlebnisses ist demzufolge rein pragmatisch; er besteht in der Be-

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friedigung, die das entsprechende Erlebnis oder die entsprechende Idee dem Individuum verschafft, in dem Erfolg, der die von dieser Idee geleitete Tätigkeit des Individuums krönt. Der erste Satz öffnet dem Fideismus Tür und Tor. Er macht die ganze „Mannigfaltigkeit der religiösen Erfahrung" der wissenschaftliehen Erkenntnis gleichberechtigt. Weil in der Einheit der Erfahrung die für den Wahrheitsbegriff entscheidende Relation von Subjekt und Objekt aufgehoben ist, enthalten die „Offenbarungen" jeder Mystik, der religiösen Erlebnisse jedes Insassen einer psychiatrischen Klinik, die als Erlebnisse zweifelsfreie und durch klinische Untersuchung bestätigte Fakten sind, „metaphysischen" Sinn. Die Wissenschaft beginnt, indem sie sich selbst verrät, wiederum der Mystik und Religion zu dienen. James, der nach eigener Aussage in seinem Blut „das alte lutherische Gefühl" verspürte, macht sich die dadurch gebotenen Möglichkeiten weidlich zunutze, die Religion in Form der spezifisch protestantischen Gläubigkeit zu verherrlichen. 108 Der zweite Satz in Verbindung mit dem ersten dient als philosophische „Begründung" des Liberalismus. Insofern der Standpunkt jedes Individuums — ein Produkt der freien Wahl — einen jeweils legitimen Aspekt der Realität eröffnet, sind alle Standpunkte gleichberechtigt. Sie müssen alle Anerkennung finden, und keinerlei Ausschließlichkeit und Unduldsamkeit kann befürwortet werden. Hier entfällt oder tritt zumindest zurück die Prävalenz, die auf dem Wesen dessen beruht, was sich einem bestimmten Individuum in der Realität eröffnet hat; es herrscht das Prinzip der formalen Gleichheit. „Nach dieser Philosophie", schrieb James schon 1899, „ist die Wahrheit zu groß, als daß der Verstand eines Individuums... sie ganz erfassen könnte. Um die Fakten und Lebenswerte erfassen zu können, bedarf es einer Vielzahl von Erkennenden... eine praktische Folge dieser Philosophie ist eine gewisse demokratische Anerkennung der Heiligkeit des Individuums." 1 0 9 Der Individualismus und die Freiheit in ihrer formalen, bürgerlichdemokratischen Auffassung sind die Grundprinzipien dieser Philosophie. 110 In Wahrheit ist natürlich der Liberalismus als Ideologie der Bourgeoisie jener Zeit die Grundlage zur individualistischen Interpretation der Erfahrung, die dann ihrerseits benutzt wird, um den Liberalismus selbst zu „begründen"'. Militanter individualistischer Liberalismus - die herrschende Weltanschauung der bürgerlichen Demokratie jener Zeit (Ende des 19. bis Anfang des 20. Jahrhunderts) und gottesfürchtiger Fideismus, wunderlich gekoppelt mit Pragmatismus und Unternehmergeist, das ist der letzte politische und ideologische Sinn der Jamesschen Konzeption. Hinter den quasiwissenschaftlichen Verweisen auf die „Erfahrung" verbirgt sich eine mehr oder weniger getarnte Metaphysik der Erfahrung, die eng mit 108

10U 11U

S. R. B. Perry, The Thought and Charakter of William James. Vol. II, 1935, James' Brief, s. ferner S. 330; W. James, Human Immortality. 1898, S. 50 ff.; W. James, The Varieties of Religious Experience. 1902, S. 515. W. James, Talk with Teachers. S. V. Nach der politischen Konzeption James' die Liberalen und ihre Gegenpartei, die steht; die letzteren kommen, nach der immer unter eine Decke. Die erstere ist samkeit, und das ganze Problem besteht

gibt es in jedem Lande nur zwei Hauptparteien, aus dem Block der „ T o n e s " und der „ M a s s e " beVorstellung James', bei entsprechenden Losungen die Partei der Vernunft, der Mäßigung, der Dulddarin, ihr Schwung und Elan zu verleihen.

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sehr greifbaren Realitäten der Politik zusammenhängt, die sie widerspiegelt und denen sie dient. James zieht das Fazit, oder, genauer, seine eigene Konzeption ist, ohne daß er es will, das vernichtende Fazit der Geschichte der idealistischen Psychologie, die sich untrennbar mit der idealistischen Gnoseologie verquickt hat. Diese Etappe in der Geschichte der Psychologie zeigt, daß der Phänomenalismus nicht nur das objektive, materielle Sein leugnet, indem er es auf den Bewußtseinsinhalt reduziert; indem der Phänomenalismus den Bewußtseinsinhalt für das materielle Sein ausgibt, zerstört er damit auch das Bewußtsein des Subjekts und macht es zunichte. Bei Descartes waren sowohl die Materie als auch der Geist noch vollgültige Realitäten, denen jeweils zudem auch noch der Charakter des substantiellen Seins zugeschrieben wurde. Bei Locke treten das Physische und das Psychische als zwei getrennte Bereiche der Erfahrung auf, als äußere und innere Erfahrung. Die äußere Erfahrung beruht auf den Empfindungen, auf dem äußeren Sinn; die innere Erfahrung auf dem inneren Sinn, auf der Reflexion. Von diesen Lockeschen Positionen geht zunächst die experimentelle Psychologie aus, die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als selbständige Disziplin herausgebildet hatte. Bald aber gehen ihre führenden Vertreter — Wundt, Titchener, James — im Zusammenhang mit der Umwandlung des Positivismus zur herrschenden Weltanschaung der Bourgeoisie auf den Standpunkt des Machismus über. Der Phänomenalismus, der bei Mach besonders stark wird, sucht sein strategisches Endziel — die Vernichtung des Materialismus - durch zwei taktische Züge zu erreichen. Der erste, der zunächst als Linie des Hauptschlags erscheint und die Aufmerksamkeit besonders erregt, realisiert die phänomenalistische These in bezug auf das äußere, materielle Sein. Das materielle Sein wird auf die Erfahrung reduziert, auf das Erleben und damit letzten Endes auf ein Bewußtseinsphänomen. Auf diesen ersten Zug folgt zwangsläufig der zweite, der jedoch anfangs weniger zur Schau gestellt und weniger merklich vollzogen wird: Nach dem Objekt wird auch das Subjekt auf ein ideelles Bewußtseinsphänomen reduziert, das jeglicher Realität entbehrt. Der Phänomenalismus, der in der positivistischen machistischen Philosophie auf den Bereich des objektiven Seins angewandt worden war, wird nun auch auf den Bereich des Bewußtseins, auf den Bereich des Psychischen ausgedehnt. Auf die Frage: „Existiert die Materie?" folgt andererseits die Frage: „Existiert das Bewußtsein?" Nach dem Versuch, die Materie in der Erfahrung aufzulösen, folgt der von einer anderen Seite demselben Ziel zustrebende Versuch, in der Erfahrung das Bewußtsein zu absorbieren. Nach Mach kommt James. Während Mach und seine Mitstreiter im ersten Anlauf die Materie liquidieren wollen, beweisen James und seine Anhänger zunächst, daß sich das „Bewußtsein verflüchtigt" habe, um dann im Endeffekt zu einem analogen Resultat zu gelangen. Der von James aufgestellte Satz: „Das Bewußtsein hat sich verflüchtigt" bereitete zugleich auch den Boden für den Neorealismus in der Philosophie und für den Behaviorismus in der Psychologie. Diese beiden Richtungen, von denen die eine zur Philosophie, die andere zur Psychologie gehört, sind aufs engste miteinander verbunden.

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In dem Maße, wie die Empfindungen bzw. das Bewußtsein in Form der Erfahrung an die Stelle des Seins gesetzt und damit aus dem Subjekt eliminiert werden, bleiben im Subjekt als Gegenstand der Psychologie nur die Reaktionen übrig. So verschärfte das Eindringen des Machismus in die Psychologie die Krise der idealistischen, introspektiven Bewußtseinspsychologie, die auf der dualistischen Philosophie von Descartes, Locke und zum Teil auch Kant beruhte, und machte den Weg für den Behaviorismus frei.

ß) Behaviorismus und Neorealismus Der Behaviorismus oder die Psychologie des Verhaltens entstand in Amerika an der Wende des 19. und 20. Jahrhunderts. Ende des 19. Jahrhunderts wurden in Untersuchungen des tierischen Verhaltens durch Thorndike (1898) die experimentellen Voraussetzungen für die Ausbildung des Behaviorismus zu einer Richtung der Psychologie geschaffen. 1913 formulierte Watson die Position der Verhaltenspsychologie in einem programmatischen Artikel. 1918 entwickelte er sie in seinem Buch „Die Psychologie als Wissenschaft vom Verhalten". Eine Reihe von Psychologen, vor allem in Amerika - Lashley, Hunter, Weiss, Tolman und viele andere - , schlössen sich der neuen Richtung an. Nach Maßgabe seiner Verbreitung wurde der Behaviorismus immer heterogener. Als konkrete, historisch bedingte Richtung ist der Behaviorismus eine komplizierte Erscheinung, in der sich mannigfaltige Tendenzen überkreuzten und miteinander verflochten. Er enthielt eine Reaktion auf den Introspektionismus, der die Umwandlung der Psychologie in eine wissenschaftliche Disziplin unmöglich gemacht hatte, eine Reaktion, die die Form einer vulgären, mechanistischen Reduktion des Psychischen auf das Physische annahm (Lashley, Watson u. a.). Der Behaviorismus war auch ein Versuch, das Studium der psychischen Erscheinungen bzw. des Verhaltens, zu dessen Erklärung die psychischen Erscheinungen gemeinhin dienen, auf den Boden einer wissenschaftlichen Untersuchung objektiv beobachtbarer Fakten zu stellen (Thorndike), ein Versuch, der freilich an das positivistische Dogma gekettet war, die Wissenschaft müsse sich auf die Beschreibung des unmittelbar Beobachtbaren beschränken (Tolman u. a.). Im Behaviorismus (vor allem bei Watson) war die Tendenz stark ausgeprägt, die Wissenschaft vom Verhalten, die Verhaltenspsychologie, in den Dienst der Praxis zu stellen. Da diese Tendenz unter den Bedingungen der kapitalistischen Gesellschaft realisiert wurde, unterwarf sie die Verhaltenspsychologie dem sozialen Auftrag der herrschenden Klassen dieser Gesellschaft. In der philosophischen Konzeption der Behavioristen verflochten sich die verschiedensten Konzeptionen: vulgärer Mechanizismus, Positivismus, und auch der Neorealismus und Pragmatismus spielten bei der Entstehung des Behaviorismus eine bestimmte und gar nicht so kleine Rolle. Diese letzteren bestimmen vor allem die verfeinerten Formen des modernen Behaviorismus. Indessen wurde diese Linie in der Entwicklung der allgemeinen Konzeption des Behaviorismus am allerwenigsten verfolgt und blieb im Schatten. Ihrer Darstellung haben wir deshalb auch das vorliegende Kapitel gewidmet. Der Zusammenhang des Behaviorismus mit dem Neorealismus und Pragmatismus ist dabei von besonderem Interesse; diese Seite

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aus der Geschichte der Philosophie und der Wissenschaft zeigt anschaulich, daß man die Philosophie nicht nur in Verbindung mit der Physik betrachten darf. Solche Richtungen der modernen, vor allem amerikanischen und englischen Philosophie wie Neorealismus und Pragmatismus kann man nur ernsthaft analysieren, wenn man ihren Zusammenhang mit der Entwicklung der Psychologie berücksichtigt. Schon im ersten programmatischen Dokument des Neorealismus, im „Manifest" seiner sechs „Begründer", wurden in Thesenform einige Ausgangssätze des Behaviorismus formuliert. So behauptet Perry: „Etwas (any entity) wird zum Objekt oder Inhalt des Bewußtseins, insofern es seitens eines anderen Wesens (entity) eine spezifische Antwort hervorruft, die durch einen reflektorischen Nervenmechanismus realisiert wird." Perry definiert damit den Bereich des Bewußtseins durch den verhaltenspsychologischen Begriff der „Antwort" bzw. der Antwortreaktion. Diese Sätze werden dann besonders deutlich in einer großen Arbeit. „Über den Bewußtseinsbegriff", die 1914 einer der sechs Autoren des neorealistischen „Manifests", Holt, veröffentlicht. 11,1 Ebenso wie Perry definiert auch Holt das Bewußtsein durch das Verhalten. Das Bewußtsein ist nach Holt ein Teil des Milieus, der sich durch die Antwortreaktionen des Organismus a b h e b t ; das Bewußtsein ist ein Querschnitt (cross section), den der Organismus in der Umwelt durchführt. Diese Sätze sind ein wesentliches Glied bei der Begründung des Neorealismus. Diesen Zusammenhang zwischen Neorealismus und Behaviorismus kann man auch in der Folgezeit sehen. Das grundlegende „Anliegen" des Neorealismus ist der Kampf gegen den Descartesschen Dualismus. Um diesen Dualismus und die durch ihn entstandenen Probleme zu überwinden, greifen die Neorealisten zu einem Radikalmittel: Sie leugnen die Existenz des Bewußtseins als etwas vom materiellen Sein qualitativ Verschiedenes. Mit der Kampfansage an den Dualismus lehnen die Neorealisten in Wahrheit jeden qualitativen Unterschied zwischen dem Psychischen bzw. dem Bewußtsein und dem materiellen Sein überhaupt ab. Ein beliebiger Inhalt wird geistig oder hört auf, es zu sein, je nach seiner Funktion. So lesen wir in der Plattform der Neorealisten: „Der Unterschied zwischen dem Subjekt und dem Objekt des Bewußtseins ist ein Unterschied nicht der Qualität oder Substanz, sondern der Rolle oder des Platzes in der Konfiguration." 1 1 2 Ungeachtet einer Reihe „realistisch" klingender Ausgangsthesen, die scheinbar die Unabhängigkeit des Seins von der Erkenntnis b e h a u p t e n 1 1 3 , ist der Realismus doch Idealismus, der sein wahres Wesen tarnt. Ganz eindeutig zeigt sich das beispielsweise bei Holt in seinem Buch „Über den Bewußtseinsbegriff" (S. 115). Als Hauptaufgabe stellt er die Überwindung der Descariesschen dualistischen Vorstellung vom Geist oder Bewußtsein als besonderer geistiger Wesenheit heraus. .Holt stellt sich das Ziel, das Bewußtsein auf den Inhalt der Erscheinungen zu reduzieren. Zunächst solidarisiert er sich mit dem /amesschen Satz, das Bewußtsein müsse sich verflüchtigen, und „beweist" dann, daß die Materie sich verflüchtigt habe. 111 112 ,l;!

B. Holt, The Concept of Consciousness London 1914. The Program and first Platform of six Realists. New Realism, 1925, Anlage. Ebenda, S. 474, 477.

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Die moderne Naturwissenschaft, behauptet Holt, habe die Materie auf ein System höchst abstrakter Begriffe reduziert. Er verweist dabei auf jene Physiker, die Lenin bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Bundesgenossen des Machismus entlarvt hatte: auf Ostwald, der versucht hatte, im Energiebegriff Materie und Geist zu vereinigen, und auf Oliver Lodge, einen militanten Gegner des Materialismus, der sogar bereit war, den Spiritismus unter seine Fittiche zu nehmen. 1 1 4 Nach der Meinung Holls hat sich in der modernen mathematischen Naturwissenschaft die Materie in ein System mathematischer Gleichungen „verflüchtigt". „Die Materie existiert nicht: Die uns umgebenden Objekte haben eine neutrale Zusammensetzung." 1 1 5 Das Bewußtsein und die physikalischen Objekte bestehen nach Holts Behauptung aus denselben Elementen, die dem Materiellen und dem Geistigen gegenüber neutral sind. Die ursprüngliche Zurückführung des Geistigen auf Nichtgeistiges ergibt sich aus der wechselseitigen Absorption von Geistigem und Materiellem. Die „neutrale" Substanz, aus der nach Holt die ganze Welt bestehen soll — die materiellen Objekte ebenso wie die Psyche —, ist von begrifflicher Natur: Es ist eine logische Wesenheit. Die symbolisierte, mathematische Logik ist für Holt demgemäß auch die Grundwissenschaft, die jene primären Seinselemente untersucht, aus deren Relationen sich die ganze Welt aufbaut. Der zunächst als Hauptaufgabe verkündete Kampf gegen die Descartessche Konzeption des Geistigen als einer besonderen Substanz endet also damit, daß der logische, der begriffliche Inhalt der Kenntnisse zur vom erkennenden Subjekt unabhängigen logischen Substanz erklärt wird. Somit erweist sich der „Neorealismus" als extremer Idealismus: Die ganze Welt ist für ihn aus dem Logos geschöpft! Ungeachtet des extremen Logismus, der - so möchte man doch meinen — Antagonismus gegenüber jeder Art von Empirismus erzeugen müßte, stellt Holt als seinen Vorläufer einen Philosophen heraus, der, wie er meint, die Resultate der neorealistischen Untersuchungen „antizipiert" habe. Dieser Philosoph ist — Avenarius, der die „Introjektion" ausschaltete, um den Inhalt der vom Subjekt entfremdeten Psyche unmittelbar als das in ihr abgebildete Sein auszugeben. Um dieses Resultat überzeugender zu machen, ziehen einige Neorealisten es vor, sich nicht so sehr mit den Empfindungen zu befassen, die zu eng mit dem Leben der Farben und Töne, mit dem lebendigen menschlichen Körper zusammenhängen, als vielmehr mit den Begriffen. Die Begriffe in ihrer Abstraktheit können leichter entfremdet und für vom Menschen und seinem Bewußtsein unabhängige „Wesenheiten" ausgegeben werden. Davon ausgehend, konstruiert der Neorealismus auch seine Theorie der Wahrnehmung, die die Sinnesqualitäten der Empfindungen als ideelle Wesenheiten betrachtet. Ein eigenartiger Zug dieses „neuen" Realismus ist die bei mehreren Vertretern dieser Richtung (vor allem bei Perry und Holt) zu beobachtende Verknüpfung ihrer Bewußtseinskonzeption mit der behavioristischen Verhaltenskonzeption. So behauptet Perry: „Etwas wird zum Objekt oder Inhalt des Bewußtseins, insofern es seitens eines anderen Wesens eine spezifische Antwort hervorruft, die durch einen reflektorischen Nervenmechanismus realisiert wird." 1 1 6 114 115

13

W. I. Lenin, Materialismus..., a. a. O., S. 259 ff., 340 u. a. W. Holt, The Concept of Consciousness. pp. 122, 124. Prinzipien u n d W e g e

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„New Realism", p. 475.

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Holt entwickelt eine analoge Konzeption. Das Bewußtsein einerseits und die materiellen, physischen Objekte andererseits sind angeblich das Resultat verschiedener Schnitte, die durch ein und denselben, seinem Wesen nach „neutralen" — konzeptuellen - Inhalt gelegt werden. Das Bewußtsein ist nach Holt nichts anderes als jener Teil der Welt, der aus der Umwelt durch die Antwortreaktionen des Organismus ausgesondert wird. Der Neorealismus Holts hängt unmittelbar mit dem Behaviorismus zusammen. Das aus dem Menschen extrahierte Bewußtsein wird in die Welt projiziert, und die Welt, das reale, materielle Sein, wird auf den ideellen Inhalt des vom Menschen entfremdeten Bewußtseins reduziert. Dabei wird sein Leben und Handeln des inneren, bewußten Bereichs beraubt und zu einem Komplex von Antwortreaktionen. Auf diese Weise „verflüchtigen" sich sowohl das bewußte Leben des Subjekts als auch das reale, materielle Sein des Objekts. Während zunächst der Neorealismus in der Philosophie, in F o r t f ü h r u n g der machistischen Linie / a m e s ' , den Behaviorismus vorbereitete oder doch auf jeden Fall eine Richtung dieser Strömung, machte sich in der Folgezeit der spätere Neorealismus - in der Gestalt B. Russells - seinerseits den Behaviorismus nutzbar und stützte sich bei seinen philosophischen Konstruktionen auf ihn. Das zeigen seine Arbeiten, vor allem sein Buch über die „Analyse des Geistes". 1 1 7 Dieses Buch und seine Arbeit „Analyse der Materie" 1 1 ® stellen zwei Teile eines einheitlichen Ganzen d a r ; sie lösen gemeinsam ein und dieselbe Aufgabe. Bei Russell zeigt sich besonders unverhüllt das Zusammenlaufen der beiden obenerwähnten Wege, die der Machismus und der Neorealismus einschlugen, um ihre Aufgabe zu lösen. Im Vorwort zur „Analyse des Geistes" wird rundheraus gesagt, das Ziel des Autors bestehe darin, zwei Tendenzen zu vereinigen, von denen die eine mit der Psychologie, die andere mit der Physik zusammenhänge. Wenn auch auf den ersten Blick, so meint er, diese Tendenzen unvereinbar erscheinen, so ständen ihm doch beide gleichermaßen nahe. Einerseits wolle die mit der Psychologie verknüpfte Tendenz des Behaviorismus das Psychische auf das Physische reduzieren; andererseits mache die relativistische Physik seiner Meinung nach die Materie immer weniger materiell, indem sie sie in eine logische Konstruktion verwandele. Beide Tendenzen hätten sich, nach Russell, bei James und bei den amerikanischen Neorealisten miteinander ausgesöhnt, deren Linie er, Russell, fortsetze. 1 1 9 117 118

B. Russell, The Analysis of Mind. London-New York 1924. B. Russell, The Analysis of Matter. London 1927. Neuauflage in der Reihe der Dover Publications, New York 1954. Diesem Buch, das auf seine „Analyse des Geistes" folgte, ging eine Arbeit von Russell „Our Knowledge of the Extemal World" (1926) voraus, in der (vor allem in Kap. III und IV) Russell bereits auf seine Weise die machistische These entwickelte, daß Materie und Geist aus ein und demselben Material bestünden. Unter Hinweis auf das dort Gesagte schreibt Russell in der „Analyse des Geistes", daß im Hinblick auf die Materie diese These bereits geklärt sei, jedoch scheine ihm das Problem im Hinblick auf den Geist komplizierter zu liegen, weshalb er es auch für erforderlich halte, eben diesem Problem - der Verteidigung der machistischen Grundposition des „neutralen Monismus" im Hinblick auf die Interpretation des Geistigen - eine spezielle Arbeit zu 119 widmen. Ebenda, S. 5 ff.

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Das Hauptergebnis, zu dem Russell in der „Analyse des Geistes" kommt, deckt sich im allgemeinen völlig mit den Schlußfolgerungen seiner Vorgänger, James und die amerikanischen Neorealisten. Diese Schlußfolgerungen laufen darauf hinaus, daß sich Physik und Psychologie nicht hinsichtlich des Materials unterscheiden, aus dem ihr Untersuchungsgegenstand besteht. Geist und Materie seien logische Konstruktionen; die speziellen Elemente, aus denen sie aufgebaut oder abgeleitet werden, seien durch verschiedene Relationen verknüpft, von denen die Physik die einen und die Psychologie die anderen untersuche. 120 Während der Bereich der Physik nach Rüssel nur aus logischen Konstruktionen besteht, umfasse die Psychologie auch die Gegebenheiten, aus denen sich alles aufbaue, sowohl das Physische als auch das Geistige, da diese Gegebenheiten für Russell ebenso wie wir für Mach letzten Endes die Empfindungen sind. „Daher sind alle Gegebenheiten der physikalischen Wissenschaften", schreibt Rüssel, „psychologische Gegebenheiten." 121 Und die grundlegende, alles vereinende Wissenschaft, die das leisten könne, was die Metaphysik vergebens versucht habe, nämlich alle Probleme des philosophischen Denkens zu lösen, die mit der Beziehung zwischen Geist und Materie verknüpft sind, und einen abschließenden wissenschaftlichen Rapport über das zu geben, was in der Welt vor sich geht, diese Wissenschaft wäre, so schreibt er, in den entscheidendsten Punkten der Psychologie ähnlicher als der Physik. In bezug auf diese Grundwissenschaft wäre die Physik eine abgeleitete Disziplin. Zugleich wären alle Wissenschaften mit der Psychologie vereinigt, da in die Kompetenz der Psychologie das Grundgewebe der Welt falle, die einzige primäre Gegebenheit, die Empfindungen bzw. die ihnen analogen speziellen Elemente. 122 Der idealistische Charakter der Konzeption Russells liegt also klar auf der Hand, ebenso wie die Unhaltbarkeit seines Anspruchs, es sei ihm gelungen, die Gegensätzlichkeit von Materialismus und Idealismus zu überwinden, und er stehe über ihnen. Die letzten philosophischen Folgerungen, zu denen Russell auf Grund seiner Analyse des Geistes und der Materie gelangt, sind wenig originell. Aber man muß doch einmal den Weg verfolgen, auf dem er zu diesen Schlußfolgerungen gelangt. Seine „Analyse des Geistes" beginnt Russell mit einer Kritik des Bewußtseinsbegriffes. Dabei beschränkt er sich nicht auf eine Kritik der Bewußtseinskonzeption und des Begriffs der Introspektion, sondern unterzieht nacheinander alle psychischen Erscheinungen und alle Begriffe der Psychologie (Instinkte, Fertigkeiten, Wünsche und Gefühle, Empfindungen und Abbilder, Gedächtnis und Denken, Emotionen und Wille) einer Analyse, um seine Konzeption über den ganzen Inhalt des „Geistigen" zu realisieren. In dieser Analyse gliedert Russell den gesamten Inhalt dessen, was man gemeinhin zum Bereich des Psychischen zählt, in zwei Komponenten auf: Die eine läuft auf das Verhalten hinaus, die andere auf die Empfindung. Auf das Verhalten bezieht er vor allem die Wünsche, wobei er sich der Argumentation der Behavioristen und der Lehre der Psychoanalyse vom Unbewußten bedient. Die Wünsche stellen nach Russell nichts wirklich in unserer Psyche Existierendes dar; es ist lediglich ein bildhafter Ausdruck 120 121 122

15*

Ebenda, S. 307. Ebenda, S. 299. Ebenda, S. 305 ff.

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Geschichte

zur Kennzeichnung verschiedener Verhaltensformen. Andererseits sind das „Glauben", das er zum Angelpunkt des Denkaktes machen möchte, das Verlangen, das er vom Wünschen unterscheidet, usw. unter dem Aspekt mehr oder weniger komplexe Gebilde aus verschiedenen Relationen von Empfindungen und Vorstellungen. Die ganze Sphäre dessen, was Russell als „geistig" anerkennt, besteht seiner Meinung nach aus Empfindungen, Vorstellungen und Relationen zwischen ihnen. Die Vorstellungen entstehen ihrerseits aus Empfindungen durch „mnemische" Kausalität, die letzten Endes auf rein physikalische Gesetzmäßigkeiten der Nervenprozesse zurückgeführt werden müsse. Die Kausalanalyse der Vorstellungen schließt also auch sie aus den Grundgegebenheiten der Psychologie aus. Als solche bleiben auf Grund der Analyse nur die Empfindungen übrig. Aber gerade die Empfindungen sind nach Russell zum allerwenigsten etwas spezifisch Psychologisches. „Die Empfindungen", so erklärt er, „sind das, was für die geistige und die physische Welt gemeinsam ist." 1 2 3 Als Fazit der Russellschen „Analyse des Geistes" erweist sich also, daß vom „Geist", vom Psychischen als etwas qualitativ Spezifischem und von der Materie Verschiedenem scheinbar nichts übrigbleibt. Einen Teil dessen, was man gewöhnlich für psychisch hält (die Wünsche, Instinkte und Fertigkeiten), erklärt Russell in voller Übereinstimmung mit dem radikalen Behaviorismus für eine Verhaltensform, die nichts Psychisches enthalte. Den verbleibenden Bereich des Geistigen hält er für eine logische Konstruktion, die aus Empfindungen ableitbar sei. Die Empfindungen aber erklärt er zum „neutralen" Material, aus dem die Erfahrung bestehe, das Objekt der Physik in gleichem Maße wie das der Psychologie. Die Empfindungen, die immer Resultat und Komponente der realen Erkenntnistätigkeit eines Subjekts sind, macht Russell dadurch zu neutralen „Elementen", daß er ihren Inhalt der Tätigkeit des Subjekts entfremdet, die sie unter der Einwirkung der Außenwelt erzeugt. Eben durch diese Entfremdung werden die Empfindungen zu sich selbst genügenden Wesenheiten gemacht. 124 Die „Entfremdung" der Empfindungen bei Rüssel ist eine spezielle Erscheinungsform jener allgemeinen Einstellung, die er in seiner Darstellung des Bewußtseins umrissen hat. Seine Grundthese entwickelt er, indem er von einer Kritik an Brentano und vor allem an dessen Nachfolger Meinong ausgeht. Letzterer unterscheidet in seiner Analyse des Denkens drei Momente: Akt, Inhalt und Objekt. 1 2 5 Seine Kritik an dieser Darstellung des Denkens und des Bewußtseins richtet Russell vor allem gegen die Anerkennung der „Akte". 1 2 6 Ebenda, S. 144. Russell sagt dabei selbst ganz richtig, das sei keine neue Ansicht. Sie sei, nach seinen Worten, bereits 1886 von Mach in seiner „Analyse der Empfindungen" formuliert und von James, Dewey und den amerikanischen Realisten vertreten worden. ry * Die Vertreter des sogenannten kritischen Realismus und speziell Santayana, die die Empfindungen für ideelle Wesenheiten, für Universalien halten, stützten sich in gewisser Hinsicht auf bestimmte Seiten der Konzeption der Neorealisten. 125 Meinong, Uber Gegenstände höherer Ordnung und deren Verhältnis zur inneren Wahrnehmung. Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, Bd. 21, 1899, S. 182 ff. m

B. Russell,

The Analysis of Mind. P. 17.

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T19

Die Interpretation der Erkenntnistätigkeit und überhaupt der psychischen Tätigkeit des Subjekts bei Meinong und Brentano ist tatsächlich unhaltbar und bedarf einer radikalen Kritik. Aber Russell kritisiert ihre Konzeption nicht etwa wegen der Dinge, die daran wirklich falsch sind — das kann er ja auch gar nicht —, also wegen der idealistischen, das ganze Problem mystifizierenden Verwandlung der Elemente, der Seiten der realen Erkenntnistätigkeit des Subjekts in ein System abstrakter Wesenheiten, wie sie sich bei formallogischer Analyse abzeichnen. Wenn Brentano und Meinong nach den Worten Russells das reale Subjekt in ein Phantom verwandelten, dann geht er in dieser Richtung noch weiter: Er zieht gegen die „Akte" zu Felde, weil in den „Akten", wenn auch in Form eines Phantoms, das Subjekt immerhin noch erhalten bleibt. 1 2 7 Als entscheidendes Argument gegen die Anerkennung eines Subjekts in der Denktätigkeit der Akte stellt Russell die Behauptung auf: „Das Auftreten des Gedankeninhalts ist das Auftreten eines Gedankens." Er verwirft also nicht die Darstellung des psychischen Prozesses als „Akt", sondern den psychischen Prozeß selbst, der den Gedanken real erzeugt. Der Gedanke wird lediglich in der Gegebenheit seines Inhalts für den Beobachter gefaßt, losgelöst von jeglicher, ihn erzeugender Denktätigkeit des Subjekts. Rüssel ist der Ansicht, daß die geläufigen Aussagen: „Ich denke", „ihr denkt", „Mister Jones denkt" zu Mißverständnissen führen und daß es richtiger wäre, in der unpersönlichen Form zu sagen: „Es denkt in mir" („It thinks in me", wie man analog ja auch sagt: „It rains here").* 2 8 Russell muß durch Entfremdung des Inhalts des Psychischen vom Subjekt den Anschein der „Neutralität" dieses Inhalts gegenüber Geist und Materie, gegenüber Subjekt und Objekt erwecken und mit einem gewissen Schein von Glaubwürdigkeit die „Elemente" - die Erscheinungen oder Ereignisse, aus denen die Außenwelt besteht — mit den Empfindungen zur Deckung bringen, um die Materie im Flittergewebe der „Erfahrung", der Empfindungen, der unmittelbaren psychischen Gegebenheiten aufzulösen. Die psychischen Erscheinungen werden nur deshalb als „neutral" erklärt, um letzten Endes die Materie um so erfolgreicher in ihnen auflösen zu können. Sofort bei der kritischen Analyse der Konzeption des Denkens und Erkennens von Meinung unternimmt Russell auch die ersten Schritte zur Realisierung dieses Endzieles. Nachdem er zunächst einmal durch Liquidation der „Akte" den Inhalt des Psychischen vom Subjekt gesondert hat, macht er sich das sofort zunutze, um den Unterschied zwischen dem Gedanken bzw. Bewußtsein und dem Objekt aufzuheben. Zu diesem Ziel gelangt er auf zwei Wegen. Einerseits handelt es sich im Falle der optischen oder akustischen Wahrnehmung angeblich um ein Objekt ohne Inhalt, da unter dem Aspekt Russells hier der Inhalt selbst das Objekt ist. Andererseits besteht das „Gefühl", daß der Gedanke ein Objekt hat (da es sich hier nach Russell nur um Gefühl oder Glauben handeln kann), im Bewußtwerden der Beziehung des ursprüng127

138

Ebenda, S. 18. Man kann Russell hier nur in einem beipflichten, daß es nämlich bei Brentano und Meinong kein reales Subjekt gibt. In dem Kapitel seiner „Geschichte der westlichen Philosophie", das sich mit James befaßt, sieht Russell nicht von ungefähr das Hauptverdienst James' als Philosoph darin, daß er die Subjekt-Objekt-Beziehung als Grundlage der Erfahrung bzw. Erkenntnis verwarf (B. Russell, A History of Western Philosophy. New York 1945, S. 812).

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Geschichte

liehen Gedankens zu anderen Gedanken, so daß die Existenz des Objekts, und nicht nur die des Inhalts irgendeines Gedankens auf den Inhalt eines anderen Gedankens zurückzuführen sein soll. Dem Versuch, die objektive materielle Welt auf psychologische Gegebenheiten zurückzuführen und auf diese Weise die idealistische Endtendenz des „neutralen Monismus" zu realisieren — die Materie in den „neutralen" Elementen aufzulösen —, gilt, wie bereits oben erwähnt, unmittelbar das Buch Russells „Analyse der Materie". Es ist jedoch sehr instruktiv, daß bei ihm, wie überhaupt bei den Neorealisten, die Operation zur Liquidation der Materie der Liquidation des Geistes, des Bewußtseins und der Psyche in ihrer wahren Spezifik und Realität vorangeht. Diese letztere Operation gibt Russell nämlich als eine Äußerung der „materialistischen" Tendenz seiner Konzeption aus. In Wahrheit aber liegt ihre Zweckbestimmung darin, die Materie auf einem Umweg nur desto sicherer zu liquidieren und mit dem Materialismus reinen Tisch zu machen. In der „Analyse der Materie" vollendet Russell, was er in der „Analyse des Geistes" begonnen hat. Die Aufgabe besteht hier darin, auf die bisher gewonnenen Resultate gestützt, aber dieses Mal nicht unmittelbar von der Psychologie, sondern von der Physik, nicht vom Geist, sondern von der Materie ausgehend, zu denselben Schlüssen zu gelangen, die auf Grund der „Analyse des Geistes formuliert wurden. Ebenso wie Russell in der „Analyse des Geistes" versuchte, seine Generallinie bei allen Problemen der Psychologie zu halten, so analysiert er auch in der „Analyse der Materie" alle Grundprobleme der Physik - die Lehre von den Elektronen und Protonen, die Quantentheorie, die Relativitätstheorie und die Lehre von R a u m und Materie. Sehen wir wiederum von den komplizierenden Einzelheiten ab, um das allgemeine Vorhaben und den Grundgedanken seiner Überlegungen deutlich zu machen, dann zeigt sich ganz klar folgendes: Die erste Kardinalthese Russells hängt mit seinem logisch mathematischen Formalismus zusammen. Durch Analyse der physikalischen Theorien will Russell vor allem beweisen, daß wir in der Physik etwas Bestimmtes nur über die formale, mathematische Struktur der Welt erfahren können, aber nichts über ihre inneren Eigenschaften. Russell erklärt rundheraus, daß er in der Physik (hinsichtlich der Frage nach den inneren Eigenschaften der Welt) auf dem Standpunkt des Agnostizismus, Skeptizismus und Phänomenalismus stehe. 1 2 9 Die Materie selbst, ausgedrückt in den Termini, in denen die Physik ihre Gesetze formuliert, ist f ü r Russell eine logische Konstruktion, die lediglich die formale Struktur der Welt ausdrückt, wie sie durch die mathematischen Gleichungen bestimmt wird. Die Frage nach dem „Material", aus dem die Welt besteht, überschreite die Grenzen der Physik und stehe, so erklärt er, außerhalb ihrer Kompetenz. Damit wird die idealistische Endthese der „Analyse des Geistes", wonach die einzigen Gegebenheiten, aus denen die Materie ebenso wie der ganze Bereich des Geistigen bestehe, die Empfindungen bzw. ihnen analoge „Elemente" seien, gegen jede Möglichkeit einer Kritik abgeschirmt, die von der physikalischen Erkenntnis der materiel1 J

- B. Russell, The Analysis of Matter. S. 210, 271, 388.

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len Welt ausgeht. Russell gibt ausdrücklich zu, daß sein „neutraler Monismus" hinsichtlich der Zusammensetzung der Welt zum Idealismus neige (s. ebenda, S. 3 8 8 ) . Die unzweideutige Anerkennung einer idealistischen These erscheint Russell jedoch unerwünscht. Sie würde ihm das Recht nehmen, zu behaupten, er stehe über dem Streit zwischen Idealismus und Materialismus, und ihn der Möglichkeit berauben, in diesem Streit als angeblich neutraler Richter aufzutreten. Nachdem er sich in der entscheidenden Frage, der Frage nach der Natur der Welt, auf den Standpunkt des Idealismus gestellt hat, geht Russell bei der Interpretation des Charakters der Gesetzmäßigkeiten, die die Möglichkeit bestimmen, in der Wissenschaft von einer Erscheinung auf eine andere zu schließen, auf den Standpunkt des vulgären Mechanizismus über, den er auch als Äußerung seines „Materialismus" ausgibt. E r behauptet, die Gesetze der Psychologie müßten, wie die aller Wissenschaften, auf Gesetze der Physik zurückgeführt werden. Bei seiner Argumentation zugunsten dieses Satzes geht Russell von der in seiner „Analyse des Geistes" vorgenommenen Aufgliederung des Bereichs der Psychologie in verschiedene Komponenten aus. Vor allem fällt es Russell noch leichter als leicht, die Reduzierung desjenigen Teils der psychologischen Begriffe auf physikalische Gesetze zu motivieren, die er n u r als Bezeichnung f ü r verschiedene Verhaltensformen ansieht, da er hinsichtlich des Verhaltens auf dem Standpunkt des vulgären Behaviorismus steht und aus dem Verhalten jeglichen psychischen Inhalt eliminiert. Selbst wenn die Physik nicht vorhersagen könnte, was wir wahrnehmen oder denken werden, so sei sie doch, sagt Russell, imstande anzugeben, was wir sagen oder schreiben, wohin wir gehen werden, ob wir einen Mord begehen werden usw. All das sind körperliche Bewegungen, und damit fallen sie auch unter physikalische Gesetze (s. ebenda, S. 3 9 2 ) . „Ich will zugeben", schreibt Russell, „daß die Gedanken Shakespeares oder Bachs außerhalb der Sphäre der Physik stehen. Aber ihre Gedanken haben für uns keinerlei Bedeutung (von mir hervorgehoben — S. R . ) : Ihre ganze soziale Bedeutung hängt von irgendwelchen kleinen schwarzen Zeichen ab, die sie auf weißes Papier gemacht haben. Es liegt keinerlei Grund zu der Annahme vor, daß die Physik auf die Produktion dieser Zeichen nicht anwendbar wäre, die ebenso eine Bewegung von Materie sind wie die Bewegung der Erde auf ihrer B a h n . " 1 3 0 „Auf jeden Fall ist unstrittig", f ä h r t er fort, „daß sich der sozial bedeutsame Teil ihrer Gedanken in eindeutiger Relation zu gewissen rein physikalischen Erscheinungen befindet, nämlich zum Erscheinen schwarzer Zeichen auf weißem Papier. Und niemand kann daran zweifeln, daß die Ursache der Gefühle, die wir empfinden, wenn wir Shakespeare lesen oder Bach hören, rein physikalisch ist. Wir brauchen also die Universalität der physikalischen Kausalität nicht zu verlassen" (ebenda, S. 302 f.). So liegen die Dinge nach Russell mit der Komponente der Psychologie, die auf das Verhalten hinausläuft. Die Gesetzmäßigkeiten, die die zweite Komponente bestimmen, die nach Russell den Bereich des Geistigen darstellt, glaubt er letzten Endes auch auf 13U

Russell verteidigt hier eine Konzeption, die James als „Theorie des Automatismus" bezeichnete. Er kennzeichnet sie in fast den gleichen Ausdrücken wie James und illustriert sie teilweise mit denselben Beispielen. Es handelt sich im Prinzip um die Position des mechanistischen Parallelismus.

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Geschichte

Gesetze der Physik zurückführen zu können, indem er sie zunächst unmittelbar auf die physikalischen Gesetzmäßigkeiten des Gehirns reduziert. Als Ausgangspunkt f ü r diese Reduktion dient ihm die „Kausaltheorie der W a h r n e h m u n g " . 1 3 1 Der letzte Sinn all dieser komplizierten Konstruktionen Russells besteht darin, daß er die Wahrnehmung in zwei Komponenten zerlegt. Die Wahrnehmung als Gebilde (percept) identifiziert er mit der wahrgenommenen physischen Erscheinung; die Wahrnehmung als Prozeß (perception) wird auf Grund der Kausaltheorie der Wahrnehmung auf Nervenprozesse „im Gehirn" 1 3 2 reduziert. Diese letzteren sind physiologischen Gesetzmäßigkeiten unterworfen, die im L a u f e der Weiterentwicklung der Wissenschaft auf Gesetze der Physik zurückgeführt werden müssen. Nach Russells Meinung reduziert also die Wissenschaft in ihrer mühseligen Alltagsarbeit die ganze Erkenntnis der Welt Schritt f ü r Schritt auf Gesetze der Physik. Als Ergebnis dieser Arbeit, die angeblich die materialistische Tendenz realisiert, triumphiert aber der Idealismus, da die Ausgangsdaten der Physik selbst nach Russell psychologische Gegebenheiten sind. Was da mit so großer Mühe Teilchen f ü r Teilchen in die Sphäre der Physik einbezogen wird, fällt sofort unterschiedslos, in Bausch und Bogen, automatisch in den Bereich der „ E r f a h r u n g " , die aus dem Material der Empfindungen gewirkt ist. Russell hat einmal von sich selbst gesagt, er sei ein englischer Whig und liebe als echter Engländer den Kompromiß. Und in der Tat, sowohl in der Philosophie als auch in der Politik hat er eifrig den Kompromiß praktiziert: In der Philosophie trat er f ü r einen Kompromiß zwischen Materialismus und Idealismus ein, dessen Frucht sein „neutraler Monismus" sein sollte; in der Politik setzte er sich f ü r einen Kompromiß zwischen dem Liberalismus der englischen Whigs und dem „Sozialismus" in Form jener Mischung von bürgerlichem Demokratismus und anarchistischem Syndikalismus ein, der unter der Bezeichnung „Gildensozialismus" bekannt ist. Als Anhänger des Kompromisses hätte er aber wissen müssen, daß sich der Kompromiß immer f ü r eine Versöhnung zweier widersprüchlicher Tendenzen ausgibt, in Wahrheit aber immer bedeutet, daß die eine der anderen zum Opfer gebracht wird. Es liegt klar auf der Hand, was Russell wem in seiner Kompromißphilosophie opferte, die lediglich eine larvierte Spielart des Idealismus ist. Eine Analyse der philosophischen Konzeption Russells und seiner Zickzack-Argumentation läßt nicht den 131 132

Vgl. ebenda, part II, ch. XX, „The causal Theory of Perception", S. 197 ff. Deshalb behauptet Russell, indem er seine Gedanken absichtlich paradox ausdrückt, wenn ein Physiologe das Gehirn betrachte, so sehe er einen Teil seines eigenen Gehirns, nicht aber das Gehirn, das er betrachtet (ebenda, S. 383). Hier ist die Lösung, wie er die beiden Sätze, den einen „materialistischen" und den anderen „idealistischen", „versöhnt". Einerseits sagt er: „Meine Wahrnehmungen sind in meinem Kopf" und andererseits: „Mein Kopf besteht aus meinen Wahrnehmungen." Russell behauptet, der erste dieser Sätze sei die Folge des zweiten; der zweite dagegen sei der grundlegende und entscheidende. Damit läßt er nicht die geringsten Zweifel an seiner wahren Position, wenn er auch vorgeblich zwischen Materialismus und Idealismus balanciert. Der Wahrnehmungsprozeß (perception) geht in meinem Kopf vor sich, im Gehirn, aber mein Gehirn selbst, mein Kopf besteht nur aus meinen „Percepten", aus dem Inhalt meiner Wahrnehmungen - das ist die Position Russells.

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geringsten Zweifel sowohl an dem engen Zusammenhang zwischen Behaviorismus und Neorealismus als auch an der Tatsache, daß der Neorealismus nur eine verkappte Spielart des Idealismus ist. Der Neorealismus hat sowohl den Behaviorismus vorbereitet als sich dann auch auf ihn gestützt. Sie sind wechselseitig miteinander verbunden.

y) P r a g m a t i s m u s , S e m a n t i k u n d . . S o z i a l b o l i a v i o i - i s m u s " Der Zusammenhang des Behaviorismus, und zwar seiner sozialen Abart, mit dem Pragmatismus, der ebenso wie der Neorealismus in seinen Ursprüngen mit dem Namen James verknüpft ist, dürfte kaum weniger eng sein als mit dem Neorealismus. Wir wollen uns hier nicht in eine allgemeine Charakteristik des Pragmatismus 1 3 3 verlieren, sondern nur auf seine Bewußtseinstheorie eingehen. Nach dem Machismus und Neorealismus stellt auch der Pragmatismus seine, semantische, Spielart des „neutralen" Monismus auf. Die Pragmatisten Dewey und Mead, bemühen sich dabei nach allen Kräften, als „Revolutionäre" der Philosophie aufzutreten, die gegen die traditionelle, von Descartes herrührende „Bifurkation" der Natur ankämpfen. Das Hauptinstrument dieser Spielart des „neutralen" Monismus ist die Semantik: die Begriffe der Bedeutung, des Symbols, der Beziehung von Zeichen und Bezeichnetem. Während bei den Machisten und einigen Neorealisten (Perry) als „neutrales Element" die Empfindung fungierte, während andere Neorealisten (Holt und eine Zeitlang auch Russell) die „logischen Wesenheiten" dafür ausgaben - Begriffe oder, eigentlich, logische Termini - , erklärt der semantische Pragmatismus die Bedeutung, genauer, die Beziehung von Zeichen und Bezeichnetem, die „symbolische Funktion" der Erfahrungsphänomene zum „neutralen Grundelement" des Bewußtseins und des Seins. Die semantische Konzeption des Pragmatismus wurde von Pierce vorbereitet, der schon in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts die „symbolische" Natur des Bewußtseins (des Geistes, „mind") und den Zusammenhang des bewußten Gedankens und des „Symbols" mit dem Handeln betonte. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde die semantische Bewußtseinskonzeption von Woodbridge formuliert, der das Bewußtsein (consciousness) bzw. den Geist (mind) als Gesamtheit natürlicher Objekte oder Erscheinungen definierte, in der die konstituierenden Glieder einander repräsentieren (become representative of each other) . 1 3 4 Ihre Weiterentwicklung erfuhr die „funktionelle" Theorie des Geistes und Bewußtseins bei Dewey135 und Mead136. Bei dem letzteren geht vor allem der Pragmatismus, mit der ,;!3

Uber Pragmatismus s. Lenin, a. a. O., S. 333. ' F. J. E. Woodbridge, The Nature of Consciousness. Journal of Philosophy, II, 1906, pp. 119 ff. la3 / . Dewey, Experience and Nature, pp. 291, 303, 307 f. u. a. ,:l,i G. Mead, A behavioristic Account of the Significant Symbol. Journal of Philosophy, XIX, 1922. Ferner sein Buch „Mind, Seif and Society from the Standpoint of a social Behaviorist." Fifth Impression, 1946, vor allem Teil II „Mind", § 16 „Mind and the Symbol", pp. 117 ff. ,J/

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Semantik gekoppelt, ein immer engeres Bündnis mit dem Behaviorismus 137 ein, in dem sich im Zusammenhang damit die neue Linie des raffinierten Sozialbehaviorismus abzeichnet, der sich vom unsprünglichen JFatsonschen Behaviorismus unterscheidet. Der größte Vertreter des Sozialbehaviorismus ist Mead. Da Mead und Dewey der Ansicht sind, daß sich das Geistige (mental) seiner Natur nach nicht qualitativ vom materiellen Sein unterscheidet, definieren sie die für alles Geistige spezifische Funktion als semantische Funktion, die in der Korrelation von Zeichen und Bezeichnetem besteht. Insofern sich zwischen den Erscheinungen der Welt Relationen des Bezeichnenden und Bezeichneten herstellen, bilden sie auch den Geist bzw. das Bewußtsein und bekommen in eben diesen Beziehungen „Geistigkeit". Der Pragmatismus verteidigt die „funktionelle" Betrachtungsweise des Geistes bzw. Bewußtseins: Das Psychische wird durch die „Werkzeugfunktion" bestimmt, die es für das Verhalten hat; das Bewußtsein bzw. der Geist werden als Resultat funktioneller Beziehungen zwischen den Erscheinungen betrachtet: Schon für die Neorealisten gibt es, wie wir gesehen haben, nichts, was nicht der Natur nach geistig bzw. psychisch wäre; das Geistige unterscheidet sich vom Physischen nur durch die Funktion, die der eine oder andere Inhalt hat. Bei Dewey und Mead werden das Bewußtsein bzw. der Geist durch eine Symbolfunktion definiert, durch die „Bedeutung" (meaning), die eine Erscheinung bekommt, wenn sie eine andere bezeichnet: Eben dadurch wird sie auch „geistig", ohne die Existenz des Psychischen als etwas qualitativ vom physischen Sein Abweichendes vorauszusetzen. Die Erscheinungen erlangen nach Dewey diese Symbolfunktion oder Bedeutung in bezug auf die Erfordernisse des Verhaltens. Dabei betont Dewey, daß die Gegebenheit der Bedeutungen korrelativ zur Aktivität des Organismus ist, nicht aber zum erkennenden Subjekt und seinem Bewußtsein. Mead definiert das Bewußtsein (mind) als „symbolisches" Funktionieren der Erscheinungen bzw. als Funktionieren der Erscheinungen als Symbole; dabei betont er, es gebe keine Bedeutung ohne Beziehung auf ein Subjekt, auf das Selbst (the seif) und auf andere. Für die Entstehung eines Symbols und einer Bedeutung ist nach Mead eine wesentliche Bedingung in der Fähigkeit zu sehen, gegenüber sich selbst die Position eines anderen einzunehmen. 138 In bezug auf sich selbst die Position eines anderen einzunehmen bedeutet nach der behavioristischen Konzeption Meads, gegenüber sich selbst die Stimuli anwenden zu können, die ein anderer anwenden könnte, und auf diese Stimulation mit Reaktionen zu antworten, die die potentiellen Antwortreaktionen berücksichtigen, die sie bei dem anderen hervorrufen könnten. Irgendeine bewußte Beziehung als etwas Spezifisches wird dadurch nicht vorausgesetzt. Nicht von ungefähr erklärt Mead auch rundheraus, irgendeine Form der behavioristischen Psychologie sei notwendiger Bestandteil der pragmatischen Philosophie. Behaviorismus und Pragmatismus seien eng miteinander verbunden. (Besonders deutlich wird dieser Zusammenhang im sogenannten Operationalismus, einer Spielart des Pragmatismus, die von Bridgeman und anderen vertreten wird.) 137

138

Die Geschichte des Problems findet man bei Ch. Morris, Six Theories of Mind. New York 1932, Ch. V, vor allem S. 282 ff. G. Mead, Mind, Seif and Society from the Standpoint of a social Behaviorist. Ed. by Ch. Morris, Chicago 1934.

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235

Bei dieser raffinierten Reduktion des Bewußtseins wird scheinbar die soziale und semantische Natur des Bewußtseins, der Zusammenhang des Bewußtseins mit der Sprache besser berücksichtigt; damit behält das Bewußtsein Züge, die f ü r seine Wesensart charakteristisch sind. Zugleich werden aber letzten Endes auch sehr viele — und zwar die wesentlichsten - Eigenschaften des Bewußtseins dem Subjekt entfremdet und ins Sein projiziert; besondere Bedeutung erlangen sowohl die Reduzierung des inneren Bereichs des Bewußtseins als auch die idealistische Verfälschung des Seins. Der semantische Inhalt des Bewußtseins wird ihm entfremdet und in die Welt projiziert. Die ganze Welt wird mit Phantomen des angeblich verschwundenen Bewußtseins bevölkert, mit Zeichen und Bedeutungen „an sich", und das Sein selbst, in das die semantischen Relationen projiziert sind, erweist sich als umgewandelt ins geistige Sein, in den Geist. Es ist nicht weiter erstaunlich, daß bei Dewey hinter dem Bewußtsein der Geist erscheint. Dabei erweist sich, daß das „Feld des Geistes" als System operativer Bedeutungen „unermeßlich weiter als das Feld des Bewußtseins ist". 1 3 9 Das Bewußtsein hängt mit der Bedeutung spezieller Erscheinungen zusammen, die sozusagen vor den Augen des Individuums im Laufe seiner Tätigkeit in die Beziehung des Bezeichnenden und Bezeichneten treten. Das Bewußtsein ist lediglich „jene P h a s e des Bedeutungssystems, die im gegebenen Augenblick umgestaltet wird". Das ist angeblich ein „Phänomen" des Geistes! „In jedem beliebigen Akt oder Zustand des Bewußtseins ist der größere Teil des Geistes lediglich implizit enthalten." Der Geist „überschreitet die Grenzen" des Bewußtseins und „bedingt" es. Und während das Bewußtsein „fokal und flüchtig ist, bildet der Geist einen stabilen Kontext (contextual and persistent) : er ist sozusagen (so to speak) strukturell und substantionell (structural and substantional)". Nicht von ungefähr begann Dewey seinen an allen möglichen Metamorphosen reichen Weg als objektiver Idealist! Nicht von ungefähr zählt er auch zur Masse seiner Vorgänger Pierce, den Verkünder des Platonschen „Realismus". Dieser idealistischen Konzeption gibt Dewey in Fortsetzung der Linie Pierces eine extrem pragmatische Interpretation. Die Existenz des Geistes als ganzheitliches, „kontextliches", „strukturelles", „substantionelles" usw. System von Bedeutungen erklärt Dewey f ü r korrelativ zum Verhalten: „Der Geist bezeichnet das ganze System von Bedeutungen, wie es in den Funktionen (in the working) des organischen Lebens verkörpert ist." Der „Instrumental"pragmatismus Deweys verbindet die Bedeutung mit ihrer Funktion oder Rolle im Verhalten. Die Erscheinungen bekommen nach seiner Meinung symbolische Funktion oder Bedeutung in Abhängigkeit von den Erfordernissen des Verhaltens bzw. in Relation zu den Reaktionen. Auch hier zeigt sich also die f ü r Dewey charakteristische Dualität: Einerseits reduziert seine „funktionelle" Theorie des Geistes und Bewußtseins alles Geistige auf die symbolische Funktion, die die Phänomene der E r f a h r u n g füreinander h a b e n ; alles Subjektive als Inneres, Psychisches oder Geistiges wird also beseitigt; andererseits wird die Bedeutung der Erscheinungen zu etwas höchst Relativem und in diesem Sinne Subjektivem gemacht, insofern sie von den variablen Erfordernissen des Verhaltens abhängt. 139

J. Dewey, a. a. O., S. 303

23Ü

Geschichte

Der Behaviorismus, die Semantik und der Pragmatismus werden miteinander verschmolzen. In diesem buntgewürfelten Konglomerat findet sich so ungefähr alles, was man sich nur wünschen kann: Einerseits existiert nichts Psychisches,

„Mentales",

das Bewußtsein ist aus demselben „Material" gewirkt wie das Sein (damit sei, so meint man, der Dualismus, die Descartessche

Bifurkation der Natur überwunden!) ; zugleich

ist andererseits das Sein, in das die semantischen Relationen projiziert sind, aus denen das Bewußtsein gewirkt ist, idealisiert und bar aller Materialität. Beim Fehlen alles Psychischen bzw. Mentalen existiert doch der Geist, ein kontextuelles und substantionelles System von Bedeutungen, das die Grenzen der Bewußtseinsphänomene überschreitet. Aber die Bedeutungen, aus denen er besteht, existieren lediglich korrelativ zum Verhalten. Bedeutung hat nur, was für das Verhalten bedeutsam ist. Der semantische Idealismus bricht mit dem Bewußtsein und stellt sich auf den Behaviorismus um. Die behavioristische Psychologie wird zum notwendigen Bestandteil der semantischen Konzeption des Pragmatismus, und so entsteht ein Bündnis von Pragmatismus, semantischem

Idealismus und Behaviorismus.

In seiner

weitestentwickelten

Form findet sich dieses Konglomerat von Pragmatismus, Semantismus und Verhaltenspsychologie im sogenannten Sozialbehaviorismus Der Behaviorismus Meads

Meads.

ist weit entfernt von dem ursprünglichen grob simpli-

fizierten Schema Watsons, dessen Konzeption Mead

heftig kritisiert. Die von ihm ent-

wickelte Variante des Behaviorismus ist wesentlich komplizierter und raffinierter. Die Absage an die Bewußtseinspsychologie und den Übergang auf den Standpunkt des Behaviorismus, der Verhaltenswissenschaft, sucht Mead philosophisch mit dem Kampf gegen die auf Descartes

zurückführende Bifurkation der Natur zu begründen, gegen

den er sich unermüdlich wegen dessen Dualismus, Spiritualismus und Idealismus ereifert. Diesen Kampf, den er vom Standpunkt des „neutralen Monismus" aus führt, stellt Mead

als revolutionären Bruch der von Descartes

herrührenden veralteten Tra-

ditionen dar. Am Bewußtseinsproblem unterscheidet Mead

zwei Aspekte: Einmal geht es um das

Bewußtsein im weiteren Sinne des Wortes, um das Psychische schlechthin, und zum anderen um das Bewußtsein des Menschen als gesellschaftliches Gebilde. In bezug auf das Bewußtsein im weiteren Sinne des Wortes stellt Mead spitzte Formel auf: „das Bewußtsein

ist das Milieu

des Organismus."

die über-

Die stilistische

Struktur dieser Formel legt eine materialistische (und zwar primitive, vulgär-materialistische) Interpretation dieses Satzes nahe, der in Wahrheit idealistischen, machistischen Sinn hat. Statt zu sagen: „Das Milieu ist der Inhalt des Bewußtseins", sagt man: „Der Inhalt des Bewußtseins ist eben das Milieu." Das klingt verschieden, aber der Sinn ist derselbe. Dieser Doppelsinnigkeit bedient man sich, um die eigene Position als angeblich über dem Materialismus und Idealismus stehend und ihrem Kampf gegenüber neutral zu bezeichnen. Diese Linie wird bei Mead in der Lehre über Wahrnehmung und Gedächtnis fortgeführt: Statt zu sagen: „Das Ding ist ein Bild", sagt m a n : „Das Bild ist eben das D i n g " ; statt zu sagen: „Die Welt ist meine Vorstellung", sagt man: „Auch die Vorstellung gehört zum Milieu." Das Ding wird bei Mead, Berkeley,

ebenso wie bei

auf die Zeichenrelation der optischen, taktilen oder osmischen Gegebenheiten

zu den „Kontakt- oder Tastgegebenheiten, die sie signalisieren" reduziert. Schon hier

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fungiert also bei Mead die Beziehung des Zeichens zum Bezeichneten als das die Dinge Konstituierende. Die Kontakt-, Tast- und alle übrigen Sinnesgegebenheiten werden von Mead in den Verhaltensakt einbezogen und in Abhängigkeit von ihm gebracht. Die ganze Auffassung vom Verhaltensakt zielt bei Mead darauf ab, das Primat des Subjekts zu realisieren. Nach Mead bestimmt der vom Subjekt, vom Organismus ausgehende Impuls die Auswahl der Stimuli, deren er bedarf und auf die er antwortet. Für Mead bestimmt nicht so sehr der Stimulus die Reaktion, als vielmehr umgekehrt die Reaktion den Stimulus. Der Stimulus dient nur dazu, den Impuls deutlich zu machen. Das Ding, das als Stimulus dient, ist lediglich eine „Tendenz", die durch die Einstellungen des Individuums erzeugt wird. 140 Die ganze Determination des Verhaltens erfolgt von innen heraus. So liegen die Dinge nach Mead mit dem Bewußtsein, dem Milieu und dem Verhalten auf der Stufe des organischen Lebens. Das Bewußtsein im spezifischen Sinne des Wortes, das Bewußtsein des Menschen bzw. der Geist (mind) werden als Produkt des gesellschaftlichen Lebens anerkannt. Die Entstehung des Subjekts (the seif), des Geistes (mind) und der Gesellschaft ist nach Mead das Produkt ein und derselben Situation, in der das Wesentlichste die Fähigkeit ist, sich auf den „Standpunkt" eines anderen stellen zu können, d. h. gegenüber sich selbst die Rolle eines anderen übernehmen zu können. Diese Meadsche Konzeption hat einen bestimmten politischen Sinn. Er wird in seiner Darstellung der Demokratie deutlich. Unter „Demokratie" versteht Mead eine Gesellschaft, in der es „für die Massen der Gesellschaft möglich ist, die Einstellung des Herrn anzunehmen, während er die Einstellungen seiner Untergebenen übernimmt" (der Arbeiter muß sich auf den Standpunkt des Kapitalisten stellen können, während der Kapitalist sich in die Lage des Arbeiters versetzt!). 1 4 1 Die Gesellschaft ist für Mead in erster Linie Kommunikation, die die Grundlage sowohl der Gesellschaft als auch des geistigen Lebens des Individuums bildet. Diese Kommunikation erfolgt durch die Sprache. Sprechen ist der Mechanismus, der die Sphäre des Geistigen erzeugt. Das Sprechen selbst wird als besondere Art des Verhaltens behandelt, das im Operieren mit Symbolen besteht. In der Kommunikation mit Symbolen werden die Bedeutungen geformt. Auf diese Bedeutungen reduziert Mead auch das gesellschaftliche Milieu. Es wird durch die Bedeutung konstituiert, die Teile der Erfahrung bei der gemeinsamen Tätigkeit der Menschen gewinnen. Ein Ding als Teil des gesellschaftlichen Milieus ist das, was es für das Verhalten bedeutet. Seine pragmatische, semantische und behavioristische Einstellung zu diesem Problem drückt Mead in der Formel aus: „Die Bedeutungen konstituieren die Dinge." So wird lw

141

Auf denselben Prinzipien wie zwischen untergeordneten und herrschenden Klassen innerhalb der Gesellschaft sollten nach Mead auch die Beziehungen zwischen herrschenden und untergeordneten Nationen in dem von Mead so hochgepriesenen Völkerbund beruhen. Alle diese Wechselbeziehungen in der Meadschen „Demokratie" werden von der christlichen Religion untermauert, die jedermann einredet, alle Menschen seien „Brüder", und sie müßten in Frieden miteinander leben, wobei die einen Sklaven und die anderen Kapitalisten usw. bleiben müßten ! G. Mead, Mind, Seif and Society. . ., p. 8.

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Geschichte

also die semantische These, wonach die Dinge von den Bedeutungen konstituiert werden, die zunächst bei Husserl

als Kern seiner Bewußtseinskonzeption auftauchte, bei

auf verhaltenstheoretischer Grundlage wiederbelebt. Vom Bewußtsein

Mead

losgelöst

und

lediglich mit dem Verhalten korreliert, zerfällt die Bedeutung als eigentlicher Inhalt des Wortes zwangsläufig. An ihrer Stelle bleibt nur das Zeichen zurück, das unmittelbar mit dem zu Bezeichnenden korreliert ist. Dieser Prozeß des Zerfalls der Bedeutung und ihrer Reduktion auf das Zeichen wird ganz offen bei Morris Schüler und Nachfolger Meads.

1/12

vollzogen, einem direkten

E r erklärt den Begriff der Bedeutung für die Wurzel

allen Übels des philosophischen Denkens und macht sich konsequent daran, die Bedeutung auf das Zeichen zu reduzieren. Im Zusammenhang damit greift er zu einer höchst formalistischen Darstellung des Sprechens, die sich eng an die Konzeption

Carnaps

anlehnt. Der wechselseitige Zusammenhang von formalistischer Reduktion der Bedeutungen auf ein System von Zeichen und der behavioristischen Konzeption des Verhaltens und des Sprechens als einer Verhaltensweise zeigt sich bei Morris

besonders deutlich.

Die Beziehung von Zeichen und Bezeichnetem und die Sprechreaktionen nahmen auch in den Konzeptionen anderer Behavioristen Tolman

Hunter,

Lashley

und vor allem

- wesentlichen Raum ein.

E s gebe, so schreibt Hunter143,

drei Standpunkte, die sich klar herausgebildet hätten.

Der erste erkennt die Existenz des „Bewußtseins" als besonderer Aspekt der Welt an, spricht ihm aber eine aktive Rolle in bezug auf die physische Welt a b ; der zweite erkennt auch diese Rolle an; der dritte leugnet das Bewußtsein überhaupt und ist der Ansicht, die Psychologie habe sich nur mit der Untersuchung des Verhaltens zu befassen. Als Behaviorist hält Hunter

die beiden ersten Ansichten für ausgeschlossen; sie

sind auch für ihn unhaltbar. Zum dritten bemerkt er ganz vernünftig, das einfache, bloße Leugnen von Fakten, die jahrhundertelang als Grundlage für alle philosophischen Überlegungen über das Bewußtsein gedient haben, könnte kaum als befriedigende Lösung des Problems angesehen werden. „Wo so viel Rauch ist, muß offensichtlich auch Feuer sein." Deshalb befriedigt auch die Position des dogmatischen Behaviorismus, der das Bewußtsein einfach leugnet, Hunter

nicht. E r hält es für notwendig, wenn

man den traditionellen subjektivistischen Bewußtseinsbegriff leugnet, ein objektives Äquivalent dafür zu finden. Schon Lashley

erachtete es für unumgänglich, zu diesem

Zweck die Sprechreaktionen einzusetzen. E r definierte das Bewußtsein als komplizierte Integration und Sukzession solcher körperlichen Tätigkeiten, die Sprechmechanismen enthalten oder eng mit ihnen verbunden sind und daher größtenteils der sozialen Äußerung dienen. 1 4 4 Diese Charakteristik Lashleys

hält Hunter

mit vollem Recht für unzureichend. Grund-

legend für eine objektive Charakteristik dessen, was man meint, wenn man von Bewußtsein spricht, ist nach Hunter

die Tatsache, daß gewisse Arten des Verhaltens als

Information (report) über etwas von ihnen Unterschiedliches dienen. Von dieser Art va 143

144

Ch. Morris, Signs, Language and Behaviour. New York 1950. A. S. Hunter, The Problem of Consciousness. The Philosophical Review, v. 31, Nr. 1. 1924, p. 11. K. S. Lashley, The behavioristic Interpretation of Consciousness, II. Psychological Review, v. 30, Nr. 5, 1923 (vor allem S. 341).

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sind die Sprechreaktionen, die etwas von der Antwortreaktion selbst Abweichendes vertreten bzw. „symbolisieren". Sie sind durch zwei Hauptzüge gekennzeichnet: 1. dadurch, daß sie „symbolischen" Charakter haben, und 2. dadurch, daß sie vom Organismus selbst hervorgerufen werden können und nicht nur durch irgendeinen äußeren Stimulus. Auf diese Definition des Sprechens gestützt, „definiert" Hunter das Bewußtsein als Sprechreaktion auf einen sensorischen Prozeß. 145 Hunter erläutert diese Definition folgendermaßen: „Dem Subjekt wird eine Flagge bewußt, wenn die Flagge als Stimulus eine sprachliche Antwort auslöst. Ihm wird (becomes conscious) die rote Farbe bewußt, es differenziert oder extrahiert das Rot, wenn das Rot sich als Reiz erweist, der die sprachliche Reaktion auslöst." 1 4 6 Eine kuriose Formel, die die Abhängigkeit umkehrt und den Zusammenhang von Sprechen und Bewußtsein benutzt, um das Bewußtsein auf das vom Bewußtsein isolierte Sprechen zurückzuführen. Im weiteren unternimmt Hunter den Versuch, das eigentliche Sprechen (language), das das Bewußtsein bestimmt, von den einfachen verbalen Antworten (verbal response) zu unterscheiden. Wenn das Individuum mit einer Sprechreaktion auf irgendeinen Stimulus antwortet, etwa auf Rot, dann wird ihm das Rot bewußt, aber seine Sprechreaktion braucht ihm nicht bewußt zu werden. Ihm wird dieses letztere nur bewußt, wenn sie ihrerseits eine verbale Reaktion, eine Information über sich, auslösen kann; dann wird auch sie bewußt. Das wirkliche Sprechen, mit dem das Bewußtsein identifiziert wird, ist nach Hunter eine Sprechreaktion auf eine Sprechreaktion, die durch irgendeinen sensorischen Stimulus ausgelöst wurde, oder eine Sprechreaktion, die implizit eine Sprechreaktion enthält. Wir brauchen nicht die ganze Argumentation Hunters in allen Einzelheiten zu verfolgen. Der allgemeine Sinn seiner Überlegungen ist klar. Er läuft darauf hinaus, die Außenseite des bewußten sprachlichen Verhaltens so vollständig wie möglich zu beschreiben, wobei man den inneren Gehalt außer acht läßt, der dieses sprachliche Verhalten qualifiziert und bedingt. Nicht anders liegen die Dinge auch im Schema MeadsA47 Trotz der eingehenderen Bearbeitung der Details liegen die Dinge im Prinzip letzten Endes bei ihm ebenso: Auch bei ihm stoßen wir in noch weiter entwickelter Form auf die gleiche Beschreibung der Außenseite des bewußten Verhaltens und auf die Entfremdung seines inneren Gehalts. Nachdem der Behaviorist infolge dieser mechanistischen Operation die Kriterien für die Qualifizierung des wirklichen inneren Wesens der verschiedenen Verhaltensformen verloren hat, beginnt er zwangsläufig, ein und dieselbe oder eine gleichartige Struktur auf Verhaltensweisen von in Wahrheit ganz verschiedenen Niveaus auszudehnen. Dasselbe sehen wir auch in der Konzeption Tolmans, der, auf die relativ elementaren Signalfunktionen der tierischen Psyche gestützt, die den ihr gebührenden Platz in der PaiüZoiüschen Lehre von den bedingten Reflexen gefunden hat, die Beziehung von 145

A. S. Hunter, a. a. O.

146

Ebenda, S. 2 0 f.

147

G. Mead, A behavioristic Account of the Significant Symbol; ders.: Mind, Seif and Society.

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Geschichte

„Zeichen" und „Bezeichnetem" auf alle Formen des Verhaltens anwendet, von der Ratte bis zum Menschen und vom Menschen bis zur Ratte; als Kehrseite der für die Verhaltenspsychologie charakteristischen mechanistischen Betrachtungsweise des Bewußtseins also eine idealistische Verhaltenskonzeption. d) D e r N e o b e h a v i o r i s m u s

Tolmans

(Behaviorismus und Introspektion) Unsere Vorstellungen vom Behaviorismus sind gewöhnlich vor allem mit dem Namen Watson verknüpft. Dazu kommen dann noch die Namen Thomdike, Lashley, Weiß und Hunter. Zweifellos hat gerade Watson in seinem programmatischen Artikel von 1913 1 4 8 und in der auch ins Russische übersetzten „Psychologie" (1. Aufl. 1918) den Behaviorismus als neue Richtung begründet. Es unterliegt ebenfalls keinem Zweifel, daß der Behaviorismus vor allem bei der erwähnten Gruppe von Forschern seinen radikalen, extremen Ausdruck fand, in diametralen Gegensatz zur traditionellen Psychologie gesetzt wurde und die Krise der Psychologie für jedermann augenfällig machte. Der Psychologie als Wissenschaft vom Bewußtsein stellte man eine Psychologie als Wissenschaft vom Verhalten gegenüber. Das Verhalten wurde als Reaktion auf einen äußeren Reiz des Milieus definiert. Das Reiz-Reaktions-Schema wurde zum allgemeinen Konstruktionsgesetz aller Verhaltensformen erhoben. Das Bewußtsein sollte restlos aus der Psychologie eliminiert werden. Der Behaviorismus ist unstrittig die Hauptantithese der traditionellen introspektiven Bewußtseinspsychologie, wenn auch beide gemeinsame Prämissen haben. Die Analyse ihrer prinzipiellen Positionen und ihres theoretischen Gehalts ist daher von besonderem Interesse. Der Behaviorismus fand in Amerika sehr weite Verbreitung. Die Mehrzahl der amerikanischen Psychologen zählte sich zu den Behavioristen. Aber die weite Verbreitung des Behaviorismus wurde um den Preis seiner Konzeption erkauft. Unter dem gemeinsamen Aushängeschild „Behaviorismus" sind heutzutage ganz verschiedene Richtungen zu finden. Letzten Endes ist ihnen, mit Verlaub, nur das eine gemeinsam, daß sie alle das Verhalten als Hauptobjekt der Psychologie ansehen, wobei sie jedoch in der Interpretation des Verhaltens selbst mehr oder weniger unterschiedlicher Meinung sind. Roback zeigte, welch buntes Bild der amerikanische Behaviorismus schon um 1923 herum bot.* 49 Seitdem ist die Evolution des Behaviorismus weitergegangen. In den letzten Jahren hat in der amerikanischen Psychologie vor allem die Gestalttheorie sehr weite Verbreitung gefunden. Der moderne Behaviorismus stellt in erheblichem Maße eine Mischung von Behaviorismus und Gestalttheorie dar. Den vor allem mechanistischen Tendenzen überlagerten sich in immer stärkerem Maße teleologische, idealistische Elemente. Von den späteren Varianten des Behaviorismus ist die Konzeption Tolmans von besonderem Interesse. Während sich der Behaviorismus ursprünglich (bei Watson) einfach der Bewußtseinspsychologie entgegenstellte, versuchte Tolman, ihre Gegen1/|i! MB

Psychology as the Behaviorist views it. Psychological Review, 1913. A. A. Roback, Behaviorism and Psychology. 1923.

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sätzlichkeit auf behavioristischer Grundlage „aufzuheben", d. h. die Bewußtseinspsychologie gleichsam in die behavioristische Konzeption aufzunehmen. Zu diesem Zweck mußte Tolman die Begriffe der Bewußtseinspsychologie funktionell durch objektive Verhaltensdaten definieren, sie also in den Termini der behavioristischen Konzeption ausdrücken. Das ist zweifellos ein beachtliches Unterfangen. Fragt sich nur, wie die Realisierung gelang. Nachdem Tolman zunächst seine Hauptthesen in einer Reihe von Spezialuntersuchungen entwickelt hatte, faßte er seine Konzeption in einer großen Arbeit zusammen, die den Anspruch erhebt, ein neues, originelles System der Psychologie zu liefern. 1 5 0 Tolman restauriert das gesamte Begriffssystem der introspektiven Psychologie, das Watson ursprünglich der Einfachheit halber verworfen hatte; alle Begriffe dieses Systems projiziert er ins Verhalten. So ergibt sich schließlich eine höchst raffinierte Mischung von Idealismus und Mechanizismus. Aufgabe der Psychologie ist es nach Tolman, die psychischen Erscheinungen auf eine Serie funktioneller Beziehungen zurückzuführen, mit deren Hilfe man sie vorhersagen und kontrollieren kann. So sollen dann schließlich an die Stelle der bunten Mannigfaltigkeit der psychischen Erscheinungen funktionell definierte „Determinanten" des Verhaltens und Anpassungsakte treten. Bei seinem psychologischen Konstruktionen geht Tolman von der Arbeitshypothese aus: „Sowohl die niederen Tiere als auch der Mensch erkennen die Welt nur zu Zwecken des Verhaltens." Wenn daher die Welt irgendwelche anderen Eigenschaften außer denen hat, die den Reaktionen des Organismus auf sie korrelativ sind, werden sie niemals erkannt werden. Physik und behavioristische Psychologie stellen lediglich eine verallgemeinerte Gesamtheit von Hilfseigenschaften f ü r das Verhalten dar, die wir, die Menschen, der „Außenwelt zugeschrieben haben". Die Psychologie dürfte, ebenso wie die anderen Wissenschaften, nicht den Anspruch erheben, daß ihre Sätze etwas über das Wesen der Welt aussagten: „We have been asserting nothing about the ultimate texture of the universe." 1 5 1 Wir haben gesehen, daß am Scheitern der Bewußtseinspsychologie und an der Vorbereitung des Bodens für die Entstehung des Behaviorismus (zumindest einiger seiner Strömungen) zunächst der Neorealismus und dann der Pragmatismus wesentlichen Anteil hatte. Die Philosophie des Tolmanschen Behaviorismus ist der Pragmatismus. 1 5 2 Bei der Darstellung der Eigenart seiner behavioristischen Konzeption beginnt Tolman damit, seinen „molaren" Verhaltensbegriff dem JFaisonschen „molekularen" Verhaltensbegriff gegenüberzustellen. Molekular nennt er die Watsonsche Auffassung des Verhaltens deshalb, weil Watson jeden Verhaltensakt auf einen Komplex von Elementen zurückführt, auf in ihn eingehende und ihm zugrunde liegende physiologische Reaktionen, die als Antworten physiologischer Apparate auf physikalische oder physiologische Stimuli definiert werden. Damit geht Watson im Prinzip des eigentlich spezifisch psychologischen Untersuchungsobjekts verlustig. Diese Position ist als Grundhaltung der Psychologie so widersprüchlich und führt so offensichtlich zur Selbstaufgabe der 150 151 152

1C

Ebenda. Ed. Ch. Tolman, Purposive Behavior in Animals and Men. New York/London 1932. Ebenda, S. 430. Prinzipien und Wege

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Geschichte

Psychologie, daß Watson selbst sich gezwungen sah, einen anderen Verhaltensbegriff zu verwenden, dessen Wesen er jedoch nirgends erläutert. Im Gegensatz zur „molekularen" Definition des Verhaltens bei Watson geht die „molare" Definition Tolmans davon aus, daß der Verhaltensakt als psychologisches Gebilde ein qualitativ spezifisches Ganzes ist, das sich nicht auf die Gesamtheit der physiologischen Komponenten reduzieren läßt, die in ihn eingehen und ihm zugrunde liegen. Aufgabe der Psychologie ist es, das Verhalten in dieser psychologischen Spezifik zu definieren und zu untersuchen, d. h. in den Besonderheiten, die es von den ihm zugrunde liegenden physikalischen und physiologischen Prozessen unterscheiden. Tolman bemerkt, daß diese Ansicht in so allgemeiner Form von einer ganzen Reihe von Behavioristen vertreten wird, darunter auch von Holt, de Laguna und Kantor. Der „molare" Charakter des Verhaltens ist im Prinzip sein ganzheitlicher Charakter. Der molare Behaviorismus Tolmans betrachtet den Verhaltensakt als qualititativ spezifisches Ganzes, das nicht auf ein Aggregat oder eine Summe elementarer physiologischer Reaktionen reduzierbar ist, die in ihn eingehen. Deshalb betont Tolman seine Verbindung zur Gestaltpsychologie. Er bezeichnet sogar seinen Behaviorismus als Abart der Gestalttheorie. Die erste Frage, die sich für einen Psychologen ergibt, der sich auf den erwähnten Standpunkt gestellt hat, besteht darin, die bestimmenden Besonderheiten des Verhaltens zu ermitteln. Die Schwierigkeit dieser Aufgabe für Tolman ist dadurch bedingt, daß er zwar einerseits die Nichtreduzierbarkeit des Verhaltens als Objekt der Psychologie auf physikalische und physiologische Begriffe behauptet hat, andererseits aber die Position des Behaviorismus bezüglich des Bewußtseins beibehalten möchte. Die Anerkennung eines „psychologischen" Verhaltensbegriffes und die Leugnung der Psyche sind die am Anfang und am Ende stehende Antinomie des To/manschen Systems und machen den zentralen Widerspruch des Behaviorismus schlechthin als eines psychologischen Systems deutlich. Den Terminus „psychische Prozesse" verwendet Tolman nur in Anführungsstrichen. Er leugnet sie nicht generell, aber es sind für ihn lediglich „funktionell definierte Aspekte oder Determinanten des Verhaltens". Er betont von vornherein, wobei er den Behaviorismus als Ganzes dem „Mentalismus" gegenüberstellt, es gebe in den psychischen Prozessen „nichts Privates und Inneres" („nothing private or inside"). Es geht also nicht um die Einheit von Innerem und Äußerem, nicht um eine Absage an die Positionen der traditionellen introspektiven Bewußtseinskonzeption, die die Psyche in eine autarke Innenwelt verwandelt, sondern darum, das Innere auf das Äußere zu reduzieren, nachdem man das erstere in einen untergeordneten, abgeleiteten Aspekt des zweiten verwandelt hat. Das innere psychologische Wesen des Verhaltensaktes, aus dem man die spezifischen psychologischen Besonderheiten seines äußeren Verlaufs hätte ableiten können, ist also eliminiert. Daher bleibt Tolman nichts anderes übrig, als die sekundäre Charakteristik des Verhaltens zu seiner Definition zu machen, nachdem er der letzteren rein äußerlichdeskriptiven Charakter verliehen hat. Das tut er auch. Als erste kennzeichnende Besonderheit des Verhaltens sieht er die Tatsache an, daß jeder Akt auf ein Ziel gerichtet ist oder von einer Zielsituation ausgeht. Die eindeutige Festlegung eines Verhaltensaktes verlangt nach Tolman immer die Angabe des Objekts, auf das er gerichtet ist. Der

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zweite kennzeichnende Zug des Verhaltensaktes ist die spezifische Verwendung der Objekte als Mittel; dabei trägt er - und das ist die dritte Eigenart — selektiven Charakter, indem er vorzugsweise die Mittel benutzt, die auf kürzestem Wege zum Ziel führen. Das Grundlegende an der Charakteristik des Verhaltens ist im Prinzip demnach seine Zielgerichtetheit, die nicht als eine der sekundären Eigenschaften der höheren Verhaltensformen angesehen wird, sondern als primäre. Das verleiht der ganzen Konzeption Tolmans eindeutig ausgeprägten teleologischen Charakter. Die teleologischen, d. h. idealistischen Tendenzen beruhen unmittelbar auf der mechanistischen Negierung des Inneren und erwachsen sogar unmittelbar daraus: Die Leugnung der inneren psychologischen Bedingtheit des zweckmäßigen Verhaltens führt dazu, daß die Zweckmäßigkeit zu einer objektiv in der Natur bzw. im Organismus existierenden Teleologie gemacht wird. Tolman will also die psychischen Prozesse (mental processes) nur als sekundäre Aspekte (Determinanten) des Verhaltens ansehen, wogegen er den teleologischen Charakter des Verhaltens f ü r seinen primären, ursprünglichen Zug hält. Diese Betrachtungsweise führt zwangsläufig dazu, daß Tolman die tatsächliche Aufeinanderfolge in der wechselseitigen Abhängigkeit der psychischen Eigenschaften des Verhaltens umkehrt und nun versucht, aus dem teleologischen Charakter des Verhaltens alle übrigen psychischen Besonderheiten als sekundäre Erscheinungen abzuleiten und sie funktionell-objektiv zu definieren. Die Anerkennung des teleologischen Charakters des Verhaltens zwingt Tolman, Schritt f ü r Schritt, nur in umgekehrter Reihenfolge, danach auch alle übrigen psychischen Besonderheiten des Verhaltens zu akzeptieren. Vor allem erkennt er an, daß das Verhalten „intentionalen" (purposive) und „gnostischen" (cognitive) Charakter hat, macht jedoch den Vorbehalt, daß er mit diesen Termini keine „inneren" Prozesse meine, sondern lediglich äußere objektiv konstatierbare und funktionell definierbare Eigenschaften des Verhaltens. Das Zentralfaktum, von dem die Interpretation des Verhaltens ausgehen muß, ist die Übbarkeit. Dieser Sachverhalt äußert sich in zwei korrelativ verknüpften Tatbeständen: 1. darin, daß der Organismus, solange er sein Ziel nicht erreicht hat, über Versuche und Fehler weiter danach strebt, und 2. darin, daß er die Tendenz erkennen läßt, immer rascher und leichter den geeigneten, dem Ziel entsprechenden Akt zu wählen. Diese Plastizität (docility) gegenüber der Aufgabe bzw. dem Ziel, die sich in der Bereitschaft äußert, 1. vermittels Versuchen und Fehlern zum Ziel zu kommen und 2. dabei nach und nach oder auf Anhieb den zweckmäßigsten Weg zu wählen, macht nach Tolman den „intentionalen" Charakter des Verhaltens aus. Die Intention — der erste psychologische Begriff, den er verwenden muß - erhält damit nach Tolman eine objektivfunktionelle Definition. Genauso kann und muß man, behauptet Tolman, auch mit dem zweiten Begriff der traditionellen Psychologie verfahren, mit dem Begriff des Erkenntnisprozesses, ohne den man (wie er selbst zugibt) bei der psychologischen Untersuchung des Verhaltens nicht auskommen kann. Der gnostische Charakter des Verhaltens resultiert wiederum, nach Tolman, aus der Plastizität (docility) bzw. Übbarkeit und wird durch sie bestimmt. Der Verhaltensakt ist eindeutig durch seine Beziehungen zu einem bestimmten Objekt als 16*

Geschichte

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Ziel und zu anderen Objekten als Mittel bestimmt, die in bestimmten Beziehungen zu den Objekten stehen, die als Ziel fungieren. Daher bedeutet an sich schon der bloße Ablauf des Aktes bzw. sein Gelingen, sein Erfolg, daß die Objekte, die als Ziele und Mittel fungieren, sowie die Beziehungen zwischen ihnen tatsächlich so beschaffen sind, wie der entsprechende Verhaltensakt sie behandelt. Dadurch wird der Charakter des Aktes als Erkenntnisprozeß bestimmt, und nur auf diese Weise, also objektiv-funktionell, darf auch nach Tolman der Erkenntnisprozeß definiert werden. Und nichts anderes bedeutet auch die Charakteristik des Verhaltens als Erkenntnisakt. Tolman bezieht also, von einer deskriptiven Charakteristik des Verhaltensaktes ausgehend und in regressiver Richtung vorgehend, in die Charakteristik des Verhaltens zwei Komplexe von Eigenschaften ein: „Intentions-", also Motivationsprozesse und Erkenntnisprozesse. Ihre E i n f ü h r u n g als funktionell definierte Variable verlangt, in der Gleichung, die das Verhalten bestimmt, auch ihre Beziehungen zu den objektiven Ausgangsdaten zu klären. Das Schema, das Tolman zur Beantwortung dieser Frage liefert, sieht folgendermaßen aus: Das Verhalten wird durch die Stimuli des Milieus und durch physiologische Ausgangszustände bestimmt, die die Initialursachen (initiating causes) des Verhaltens 1 sind. Die „Intentionen" und die „Erkenntnis"prozesse werden in der Kausalgleichung zwischen die „Initialursachen" und das Verhalten, das Endergebnis, als mediative Determination eingefügt. Diese „immanenten Determinanten" des Verhaltens, die es unmittelbar determinieren, werden selbst durch die „Initialursachen" determiniert, also durch die Stimuli des Milieus und durch die physiologischen Ausgangszustände. Außer diesen „immanenten" Determinanten, die das Verhalten vermitteln, erkennt Tolman noch zwei weitere Kategorien von Verhaltens„determinanten" an, die zwischen den Stimuli und dem Verhaltensakt wirksam sind. Er bezeichnet sie 1. als „Fähigkeiten" und 2. als Anpassungsakte (behavior-adjustments). Unter „Fähigkeiten" werden Besonderheiten des Individuums oder der Art verstanden, also Individual- und Arteigenschaften des Organismus. Unter „Anpassungsakten" versteht Tolman Akte, die das „aktuelle Verhalten", also die realen Handlungen, ersetzen. „Anpassungsakte" sind die behavioristischen Stellvertreter dessen, was die „Mentalisten" als Bewußtheit (conscious awareness) und Ideen bezeichnen würden. Tolman meint damit Akte, die auf eine adaptative Veränderung der immanenten Determinanten gerichtet sind, also der „primären Intentionen" und der „Erkenntnisprozesse". Diese Anpassungsakte sind also die behavioristische Transkription f ü r die Reflexion bzw. das Bewußtsein. Tolman hat also letztlich f ü r alle Hauptkategorien der traditionellen Psychologie theoretischen „ R a u m " bzw. theoretische „Plätze" vorgesehen. Dabei sind die oben aufgezählten Komponenten, einschließlich der „Intentionen" und der „Erkenntnis", f ü r Tolman allgemeine Kategorien, die jegliches Verhalten bestimmen: „Solche Intentionen und solche Erkenntnisse sind gleichermaßen offensichtlich, ob es sich dabei um ein menschliches Wesen oder um eine Ratte handelt." 1 5 3 Dabei liefert schon die Untersuchung der Ratte, mit der Tolman und seine Mitarbeiter sehr viel experimentiert 103

Tolman,

Purposive Behavior in Animals and Men. P. 20.

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haben, zureichenden Grund, eine ganze Reihe weiterer psychologischer Kategorien zu entwickeln und sie ebenso objektiv-funktionell zu definieren: die Mnemonisation (mnemonisation), aus der sich dann das Gedächtnis (memory) als höhere Kategorie ausgliedert, die Wahrnehmung (perception) und der Schluß (inference). An zentraler Stelle steht im System dieser Kategorien bei Tolman der Begriff des Zeichens (sign) und des Bezeichneten (significate), die in der signifikativen Struktur (sign-gestalt) vereinigt werden. Die Mnemonisation, von der Tolman ausgeht, setzt voraus: 1. den vorhergehenden Gebrauch (enjoyment) eines spezifischen nunmehr fehlenden O b j e k t s ; 2. den in denselben Versuchen vorhergegangenen Gebrauch nunmehr unmittelbar vorhandener Objekte; 3. das Erleben einer Beziehung zwischen den zweiten Objekten, die jetzt unmittelbar vorhanden sind, und den ersten, die jetzt fehlen; 4. im gegebenen Versuch neuerlich Reize zu setzen, die den unmittelbar gegebenen Objekten entsprechen. Die Mnemonisation besteht also darin, daß die Wiederholung von Stimuli, die einem Aspekt des Totalkomplexes entsprechen, mit dem der Organismus sich im Verlauf der Versuche und Irrtümer in effektivem Kontakt befindet, die Erwartung des Gesamtkomplexes hervorruft. Auf seinen Begriff der Mnemonisation gestützt, f ü h r t Tolman dann die nächsten, in ihrer Bedeutung zentralen Begriffe des Zeichens und des Bezeichneten ein. Unter dem Bezeichneten oder Signifikat versteht Tolman das Erinnerungsobjekt. Die unmittelbar vorhandenen Objekte bzw. Aspekte des Komplexes, dessen Stimuli zur Zeit dargeboten werden, nennt Tolman Zeichen oder Signifikanzobjekte. Schließlich wird die auf Grund dieser Definition in die Relation von Mitteln und Zielen eingeschlossene Relation zwischen Zeichen und Bezeichnetem (Signifikat), die sich infolge der vorhergegangenen Tätigkeit nach der Methode von Versuch und Irrtum herausgebildet hat, als signifikative Zielrelation (signified means-end-relation) bezeichnet. Das Zeichen, das Bezeichnete und die signifikative Zielrelation zwischen ihnen bilden ein spezifisches Ganzes, zu dessen Bezeichnung Tolman den Terminus „Signifikativgestalt" (sign-gestalt) einführt. Er benutzt vielfach die gestalttheoretischen Begriffe „Gestalt" und „ F e l d " , aber die Bedeutung dieser Termini unterscheidet sich bei ihm wesentlich von der üblichen gestalttheoretischen: Jedes Feld ist f ü r ihn ein Z i e l f e l d u n d die „Gestalten" sind f ü r ihn Signifikativstrukturen. In dieser Hinsicht ist der Behaviorismus Tolmans in gewissem Maße idealistischer und teleologischer als die Gestaltpsychologie. Diese Signifikativrelation oder -gestalt wird dann in die Definition aller psychologischen Begriffe eingeführt, vor allem in die der Mnemonisation der Wahrnehmung oder Perzeption (perzeption) und aller folgenden, speziell in die des Lernens. Die Wahrnehmung wird f ü r Tolman dadurch bestimmt, daß die Stimuli, die allen Teilen des Totalkomplexes entsprechen, unmittelbar vorhanden sind. Dabei bedeutet die Perzeption im Prinzip nur dieses unmittelbare Vorhandensein der Stimuli. Freilich wird dabei auch in der Wahrnehmung in gewissem Maße eine Verschmelzung von Zeichen, Bezeichnetem und signifikativer Zielrelation vorausgesetzt. Die Empfindung (sensation) dagegen ist „Bereitschaft zur Differenzierung" (readiness to discriminate). Die Vor154

Ebenda, S. 42.

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Geschichte

stellungsbilder (images), die man gemeinhin für durch und durch „innere" Erscheinungen hält, sind nach Tolman nichts anderes als dieselbe Bereitschaft zur Differenzierung bzw. Einstellung auf eine erwartete Differenzierung. Ihr einziger Unterschied von den Empfindungen besteht darin, daß die Stimuli, die sie hervorrufen, nicht außerhalb, sondern innerhalb des Organismus liegen. Daher behauptet Tolman auch, zwischen Empfindung und Vorstellung sei kein wesentlicher Unterschied. Von anderen Prämissen ausgehend, gelangt er also zu demselben Schluß, zu dem Wundt auf Grund seiner subjektivistischen Konzeption gekommen ist. Aus der Mnemonisation als umfassenderem und primärem Gebilde wird als speziellere und abgeleitete Abart das eigentliche Gedächtnis ausgegliedert. Eine mnemonische Erwartung ist dann Gedächtnis, wenn noch eine signifikative Relation zwischen dem, was etwas ins „Gedächtnis" ruft, und dem, woran man sich „erinnert", hinzukommt. Das erste ist das Zeichen, das zweite das Bezeichnete oder Signifikat. Tolman erwähnt, es liege nach den vorhandenen Unterlagen kein Grund dazu vor, die Existenz des Gedächtnisses in diesem speziellen Sinne des Wortes bei Tieren anzunehmen. Es sei, allem Anschein nach, nur beim Menschen vorhanden. Neben der Mnemonisation (einschließlich des Gedächtnisses) und der Wahrnehmung führt Tolman als dritte Abart der Zielerwartung (means-end-expectation) den Schluß (inference) ein. Er definiert ihn als spezifischen Typ der Erwartung einer Signifikativgestalt (sign-gestalt-expectation). Sein Wesen sieht er darin, daß im vorliegenden Falle die Erwartung eines kommenden Signifikats (eines bezeichneten Objekts) nicht auf Grund des unmittelbaren Vorhandenseins von Stimuli eintritt, die von diesem Objekt ausgehen, und nicht als Folge der Tatsache, daß vorher eine spezifische Reihenfolge des entsprechenden Zeichens, des Bezeichneten und ihrer Zielrelation (means-endrelation) gegeben war oder erlebt wurde, sondern auf Grund des Wirkens anderer Signifikativgestalten. Tolman behauptet also, daß die Relation zwischen den Mitteln und den Zielen, die auf Grund der bisherigen Tätigkeit nach der Methode von Versuch und Irrtum erwartet wird, immer den Charakter der Erwartung einer Signifikativgestalt annimmt. Nach der Teleologie der Zielrelation projiziert Tolman also auch noch die „Signifikativrelation" bzw. „Signifikativgestalt" in jeden Verhaltensakt. Tolman bezieht also in sein System einen Zentralbegriff der dem Behaviorismus feindlichen idealistischen („mentalistischen") Konzeption nach dem anderen ein, wobei er sie lediglich transkribiert. Nachdem er von vornherein in die Definition des Verhaltens die Zielrelation der „Intention" aufgenommen hat, geht er denselben Weg regressiv weiter und nimmt auch noch die Signifikativrelation auf. Die Wahrnehmung (Perzeption), die Mnemonisation und den Schluß betrachtet Tolman nur als drei Arten der Signifikativgestalt. Auf den Begriff der Signifikativgestalt, die in die Relation von Mitteln und Zielen einbezogen wird, die sich auf Grund von Versuchen und Irrtümern herausgebildet hat, baut Tolman auch seine Theorie des Lernens (learning) auf. Die Lerntheorien, die auf der Theorie der bedingten Reflexe bzw. auf der Theorie von Versuch und Irrtum in ihrer traditionellen Form beruhen, kritisiert er eingehend. Dabei verwirft er weder die eine noch die andere, sondern schränkt ihre Bedeutung nur vollauf berechtigt ein, da er der Ansicht ist, daß keine von beiden als universell anerkannt werden

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könne und die einzige und alleinige Gesetzmäßigkeit des Lernprozesses erschöpfend bestimme. Er stellt ihnen seine Theorie gegenüber, wobei er im Prinzip von der Theorie der Versuche und Irrtümer ausgeht, aber noch eine neue, zusätzliche Komponente einführt, die Signifikativgestalt. Der Lernprozeß in seineil ganz spezifischen Formen stellt sich Tolman als Konstruktion oder, besser, Präzisierung und Verfeinerung erwarteter Signifikativgestalten (sign-gestalt), also spezifischer Ganzheiten dar, die ein Zeichen, ein Bezeichnetes und eine Signifikativrelation von Mitteln und Zielen enthalten. Tolman betont, seine Kritik richte sich nicht gegen die Lehre von den bedingten Reflexen als physiologische Lehre, wenn auch hier, so schreibt er, neueste Untersuchungen daran zweifeln ließen, daß der bedingte Reflex ein so einfacher und universeller Mechanismus sei. Dem psychologischen, „molaren" Verhaltensbegriff sei dieses Prinzip, das das Verhalten auf einen Komplex elementarer Reaktionen zurückführt, auf jeden Fall nicht adäquat; sei es nun richtig oder falsch, auf jeden Fall gehöre es in einen anderen, physiologischen Bereich. Das Verhalten als spezifisches Objekt der Psychologie, das nicht auf die Summe der es konstituierenden oder ihm zugrunde liegenden physiologischen Prozesse zurückgeführt werden kann, wird nach Tolman eben durch das Phänomen des Erwartens eines Zeichens und eines Bezeichneten bestimmt; dieses Phänomen konstituiert seine psychologische Spezifik. In diesem psychologischen Bereich und angewandt auf das Verhalten als ganzheitlichen Akt, ist das traditionelle behavioristische Reiz-Reaktion-Schema, das auf dem Begriff des Mechanismus des Reflexbogens beruht, nach Tolman unhaltbar. Die Reize als solche bestimmen die Reaktionen nicht unmittelbar. Der „Lernprozeß" besteht nicht darin, daß die geeigneten Verbindungen zwischen Reizen und Reaktionen fixiert und die ungeeigneten durch Hemmung eliminiert werden. Nicht hierin besteht das Lernen nach der Methode von Versuch und Irrtum, sondern in der Bildung, Präzisierung und Umgestaltung differenzierter Signifikationsstrukturen. Wird das als Reiz dienende Objekt in den Weg eingeordnet, der zur falschen Antwort führt, dann wird es zum Zeichen für diejenigen Objekte, die auf diesem falschen Wege erreicht werden können; wird das als Reiz dienende Objekt in den Weg einbezogen, der zur richtigen Antwort führt, dann wird es zum Zeichen für das Objekt, das als Resultat einer richtigen Antwortreaktion erwartet werden kann. Indem der Organismus sowohl richtige als auch falsche Antwortreaktionen ausprobiert, entdeckt er diese Zusammenhänge. Dementsprechend modifiziert oder präzisiert er die jeweiligen differenzierten Signifikativgestalten. Dadurch geht er dann schließlich den einen oder anderen Weg infolge dieser Signifikativrelationen und der Motivationsbedingungen des Augenblicks. Im Zusammenhang mit der Analyse des Lernprozesses stellt Tolman auch das Grundproblem der Entwicklung, indem er die verschiedenen Entwicklungsstufen definiert. Er sagt, die Fähigkeit, eine Relation zwischen Mittel und Ziel herzustellen, sei bei den verschiedenen Arten unterschiedlich. Je höher eine Art in der Entwicklungsreihe steht, um so umfassender und komplizierter sei der Typ der Feldrelationen (fieldrelationship), für die das Individuum „empfänglich" (sensitive) ist. So sei die Ratte zu Wahrnehmungen, Mnemonisationen und „Schlüssen" (inference) von Beziehungen fähig, die in einfache Raum- und Gravitationsfelder eingeordnet sind; die Katze sei zu den aufgezählten Operationen in komplizierteren Situationen fähig, die die Benutzung von

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Hebeln erfordern (Versuche von Adams), die Affen unter noch komplizierteren Bedingungen, die die Herstellung von Stäben und die Benutzung von Kisten erfordern (Versuche Köhlers); der Mensch schließlich sei imstande, richtig und adäquat auf diese Relationen selbst dann zu reagieren, wenn sie in solche „Felder" eingebettet sind wie das rhetorische, soziale oder quantitative. Hier fällt die weitgehende Nivellierung der Entwicklungsstufen auf. Der Unterschied zwischen diesen Entwicklungsstufen, der auf den Unterschied der Objekte oder Situationen reduziert wird, um auf die Individuen, die auf den verschiedenen Entwicklungsstufen stehen, adäquat reagieren zu können, umfaßt aber keinerlei wesentliche Unterschiede der Akte oder Operationen, zu denen sie befähigt sind. Man kann daher keinesfalls sagen, Tolman habe die These realisiert, in der er den Hauptvorzug seiner Lerntheorie sah — die Berücksichtigung der Unterschiede der artgebundenen Fähigkeiten. Dann beleuchtet Tolman das Problem der verschiedenen Lerntypen oder -stufen, bleibt aber bei der Unterscheidung der beiden Lernverfahren stehen, die man f ü r gewöhnlich (seit den Arbeiten Thorndikes und Köhlers) einander gegenüberzustellen pflegt: des blinden, mechanistischen Lernens durch Versuch und Irrtum auf der einen Seite und des „vernünftigen", auf der „Einsicht" (insight) beruhenden andererseits. Diese letztere Art setzt ein spezifisches „bewußtes Erfassen" der Feldrelationen voraus. Tolman behauptet, wobei er wiederum die durch vorhergegangene Untersuchungen ermittelten Unterschiede nivelliert, jeder Lernprozeß setze „Einsicht" voraus oder verlange sie: Schließlich hat Tolman j a die „gnostische" Charakteristik bzw. Determinante in die Definition des Verhaltens einbezogen. Hier macht sich bei ihm wiederum eine Tendenz zur Nivellierung der Unterschiede bemerkbar, die sich auf den verschiedenen Entwicklungsstufen zeigen, und wiederum hat diese Tendenz idealistischen Charakter, insofern die niederen Stufen den höheren angeglichen werden. Das schließt den mechanistischen Charakter dieser ganzen Konzeption nicht aus, da die Interpretation eindeutig mechanistisch ist, die er der „Einsicht" nicht nur auf den niederen, sondern auch auf den höheren Stufen gibt. Aber wie dem auch sei, die innere Logik des Weges, den der Behaviorist Tolman eingeschlagen hat, als er die Bedeutung der „Einsicht" (wenn auch in Anführungsstrichen) anerkannte, schafft die „schmachvolle Notwendigkeit" (shameful necessity) auch das Problem des Bewußtseins (conciousness, concious awareness) und der Ideen bzw. der Ideation aufzuwerfen; der letztere Terminus bezeichnet einen Prozeß, der Bewußtheit einschließt, aber mehr ist als bloßes Bewußtwerden: E r bezeichnet das Denken. Wenn Tolman sich nun an die Untersuchung des Bewußtseins und der Ideation macht, an Fragen, die, wie er selbst bemerkt, vor allem beim Übergang von den Tieren zum Menschen auftreten, dann macht er einige Vorbehalte. Tolman konstatiert, daß die menschlichen Wesen „darauf bestehen, bewußt zu sein und Ideen zu haben, so unwahrscheinlich das auch erscheinen m a g " . Nur deshalb ergibt sich auch die „schmachvolle Notwendigkeit", eine entsprechende Hypothese zu ersinnen. Dabei bemerkt Tolman jedoch, es handele sich bei seinem Versuch lediglich um eine Mut155

Tolman, a. a. O., Kap. XIII, S. 204 ff.

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maßung (mere guesses), um eine einfache Spekulation (mere speculations) ; er bittet den Leser deshalb, diese Überlegungen nicht besonders ernst zu nehmen (treat them lightly). Nach diesen schamhaften Vorbehalten eines verwirrten Behavioristen, der sich gezwungen sieht, das Problem des Bewußtseins aufzuwerfen, wendet sich Tolman dem Versuch einer funktionellen Definition und einer objektiven Interpretation dieses Begriffes zu. Der erste Satz, den er dabei aufstellt (freilich zunächst nur in bezug auf die Ratte), läuft darauf hinaus, daß das Verhalten in dem Augenblick, da es „bewußt" wird, auf jeden Fall nicht wesentlich anders oder unterschiedlich von dem wird, was es war, als es nicht bewußt war. 1 5 6 Man müsse voraussetzen, daß das Individuum, wenn es mit Bewußtsein handelt, dieselbe Art von Relationen benutze, deren es sich bedient, wenn es ohne Bewußtsein handelt. 1 5 7 Hier zeigt sich schon beim ersten Schritt ein grundlegender Widerspruch. Die These, die Tolman aufstellt, wird von der prinzipiellen Grundeinstellung des Behaviorismus diktiert, die Realität des Psychischen bzw. des Bewußtseins nicht anzuerkennen. Deshalb betont er auch nachdrücklich: „Wenn wir im Organismus Intentionen und Erkenntnisse nachgewiesen haben, so haben wir damit keinerlei Behauptungen über die letzte Zusammensetzung der Welt aufgestellt" und auch nichts Neues in den Kontext der Welt eingeführt, insofern zum Beispiel „das F a k t u m der Intention, wie wir es auffassen, ein objektives F a k t u m ist, jenes F a k t u m , daß das Verhalten gegenüber den objektiv ermittelten Zielen plastisch (docile) ist." 1 5 8 Aber diese metaphysische Voraussetzung des Behaviorismus nimmt Tolman die Möglichkeit, sein methodisches Prinzip zu verwirklichen: Insofern die Bewußtheit des Verhaltens, die Veränderung seiner psychologischen Natur, mit keinerlei Veränderung der Gesetzmäßigkeit seines objektiven Verlaufs verbunden ist, entfällt die Möglichkeit, das Bewußtsein funktionell zu definieren und dabei von den Verhaltensdaten auszugehen. Der Standpunkt Tolmans ist im Prinzip Epiphänomenalismus, der gleichermaßen mechanizistisch wie idealistisch (subjektivistisch) ist. U m dennoch zu einer „objektiven", behavioristischen Definition des Verhaltens zu kommen, muß Tolman eine Verhaltensform finden, die als objektives Äquivalent des Bewußtseins dienen könnte. Eine Äußerung des Bewußtseins muß noch am ehesten in den Momenten zu sehen sein, wenn sich das Verhalten im Laufe des Lernprozesses ändert bzw. umorientiert, wenn also neue Verhaltensformen erworben oder die alten modifiziert und präzisiert werden. Wiederum versucht Tolman wie stets, das innere Wesen der Erscheinung aus ihrer Äußerung oder vermittels eines Symptoms nicht n u r zu definieren, sondern auch zu erschöpfen (darin liegt das eigentliche Wesen seiner „Methode", d. h. der Prozedur, mit der er die behavioristische Transkription der psychischen Prozesse besorgt). E r definiert das Bewußtsein durch eben diese Umorientierung des Verhaltens. Das Bewußtsein ist ein objektives Faktum, nämlich die Umorientierung des Verhaltens, der Erwerb neuer Verhaltensweisen. Insofern diese Umorientierung im Anpassungsprozeß von Versuch und I r r t u m abläuft, definiert Tolman VM 157

Ebenda, S. 205. Ebenda, S. 422. Ebenda, S. 423.

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das Bewußtsein direkt als running-back-and-forth-behavior. 159 Das Faktum der Versuche und Irrtümer als solches bestimmt das Bewußtsein. Das Bewußtsein entsteht beim Handeln als sekundäre Anpassungsreaktion auf primäre Verhaltensreaktionen; der Bewußtseinsakt ist ein „Interludium" zwischen realen, „praktischen" Verhaltensakten, die für einige Zeit gehemmt, verzögert werden. Ein bewußter Akt ist teils ein Rekognoszierungs- bzw. Probierakt des Verhaltens, teils ein Kontrollakt; es ist ein Verhaltensakt, der nicht unmittelbar auf das Erreichen eines äußeren Zieles gerichtet ist, sondern auf die Lenkung und Steuerung des Verhaltensaktes, der das zu leisten vermag. Der bewußte Akt ist also ein Überbau über den unmittelbaren, praktischen Verhaltensakten. Seine funktionelle Bedeutung besteht darin, diejenigen Eigenschaften des Feldes zu bestätigen bzw. zu betonen, die auch ohne das Bewußtsein schon in gewissem Maße das Verhalten immanent bestimmt haben. Tolman liefert hier eine recht gute Beschreibung gewisser Erscheinungsformen des Anteils des Bewußtseins am Verhalten. Der Hauptfehler dieser Überlegungen liegt jedoch darin, daß er durch die Symptome bzw. die äußeren Erscheinungsweisen das Wesen der untersuchten Erscheinung ersetzen will. Vom „Bewußtsein" geht Tolman zu den „Ideen" über, zum Prozeß der „Ideation", also zum Denken. Das Bewußtsein war als Umorientierung des unmittelbaren äußeren Verhaltens definiert worden; aber außerdem gibt es bei den höheren Organismen, beim Menschen (im lautlosen Sprechen, in den unterdrückten Gesten) das, was Watson und Weiss „implizites" Verhalten nannten. Das implizite Verhalten ist ein das Verhalten ersetzender, adaptativer Akt (adjustment) bezüglich der „praktischen" Verhaltensreaktion. In diesem Ersatzverhalten sind dieselben Prozesse der Umorientierung möglich, durch die im aktuellen Verhalten das Bewußtsein definiert ist. Durch sie definiert Tolman auch das Denken bzw. die „Ideation". Mittelbar, in Form eines Ersatzprozesses erfüllt sie „mit geringerem Zeit- und Energieaufwand" dieselbe Funktion wie das Bewußtsein. Das Denken führt zu jener Differenzierung und Voraussicht der Feldeigentümlichkeiten, die, wenn sie in Augenblicken des Konflikts verschiedener möglicher Differenzierungen vor sich gehen, den Charakter eines Konflikts zwischen verschiedenen Signifikativgestalten annehmen. Wenn diese Konfliktsituationen Anlaß oder Bedingung für die Entstehung von Akten des Bewußtwerdens und des Denkens bzw. der „Ideation" sind, muß man als ihre Ursachen nach Tolman im Subjekt noch das Vorhandensein einer entsprechenden Fähigkeit (apitude) voraussetzen. Von da ist es nur noch ein Schritt zur Anerkennung auch des Selbstbewußtseins oder der Introspektion. Tolman geht ihn. Die Introspektion wird bei ihm mit dem Sprechen verknüpft. Introspektion und Sprechen sieht Tolman als ausschließliches Prärogativ des Menschen an, während sogar das Bewußtsein und die Ideation, die zunächst als „verschämte" Mutmaßungen eingeführt und dann als wahrscheinliches Attribut anerkannt wurden, in gewissem Grade der ganzen Tierwelt zu eigen sein sollen. Er ist sogar bereit zuzugestehen, daß „die guten alten Psychologen, die sich in ihren Laboratorien ir>9 11,0

Ebenda, S. 206. Ebenda, S. 217.

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mit der Introspektion befaßten und zahllose Seiten ihrer Protokolle mit Berichten über diese Prozesse füllten, immerhin etwas getan haben und dabei nicht ungeschickt waren." Die Frage lautet daher: „Worauf läuft das, was sie getan haben, in unseren Termini hinaus?" 1 6 1 Introspizieren ist nach Tolman vor allem Verbalisieren. Die Hauptfunktionen des Sprechens sieht er schon beim Schrei des Tieres in der Kundgabe (proclamation) als Ausdruck eines Zustandes, der durch die Situation hervorgerufen wurde, und im Kommando (command) als Mittel der Einwirkung; er folgt dabei de Laguna, dem Verfasser einer großen behavioristischen Arbeit über das Sprechen. 1 6 2 Sowohl in der einen wie in der anderen Funktion ist das Sprechen Werkzeug*Verhalten (tool-behavior). Das Sprechen dient nur als Mittel oder Werkzeug, um entweder unmittelbar irgendeinen Akt des äußeren Verhaltens auszulösen oder um beim Zuhörer eine Apperzeption oder „Ideation" zu erzeugen; indirekt ist also das Sprechen auch in diesem Falle nur Werkzeug, das mittelbar auf das Verhalten einwirkt. Durch diese Funktionen ist nach Tolman festgelegt, was das Sprechen f ü r den Sprechenden ist. Damit es aber diese Funktion erfüllen kann, muß es für den Zuhörer eine Gesamtheit von Zeichen sein. „Die gehörte Sprache ist eine Gesamtheit von direkt vorhandenen Objekten, die der Zuhörer als Zeichen irgendeiner späteren Situation aufnimmt." 1 6 3 Beim Sprechen als Mittel der Kundgabe (proclamation) erlebt der Zuhörer die Realisierung der Erwartung einer spezifischen Signifikativgestalt (spezific sign-gestaltexpectation), in der die gehörten Wörter die Zeichenobjekte, die Umweltsituation das Signifikat bzw. das bezeichnete Objekt und die Lage des letzteren in bezug auf den Sprechenden und seine Wörter die signifikative Zielrelation sind (signified means-endrelation). Analog gilt: Wenn der Zuhörer die Sprache als Kommando (command), als Mittel der Einwirkung hört, dann erlebt er das spezifische Erwarten einer Signifikativgestalt, in der die Wörter wiederum die Zeichenobjekte sind und der auszuführende Akt die durch sie bezeichnete signifikative Zielreaktion ist; die Befriedigung des Sprechenden ist in diesem Falle das bezeichnete, signifikative Zielobjekt. Daraus wird folgender Schluß gezogen: „Während das Sprechen für den Sprechenden gleichsam eine Verlängerung seiner Arme und seines Zeigeapparates ist, dient es für den Zuhörer als Erweiterung seiner Augen und Ohren oder anderer sensorischer Apparate." 1 6 4 Im Unterschied zum traditionellen behavioristischen Standpunkt, der das Denken auf das Sprechen reduziert, vertritt Tolman die Ansicht, das Sprechen setze das Denken (die „Ideation") voraus: „Der Organismus kann nicht erfolgreich sprechen, d. h. beim zuhörenden Organismus die Erwartung der geeigneten Signifikativgestalten hervorrufen, wenn er nicht in bezug auf die von ihm selbst erwarteten Signifikativgestalten denken - ,ideieren' - kann. Als erfolgreiches Manipulieren mit einem Werkzeug verlangt das Sprechen, daß ihm die Fähigkeit zur Ideation (zum Denken) vorausgeht." 1 6 5 Das 161 162 1(0 m 165

Ebenda, S. 235. Cr. A. de Laguna, Speech, its Function and Development. New-Haven 1927. Tolman, a. a. O., S. 238. Ebenda, S. 238 f. Ebenda.

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schließt nicht aus, daß das Sprechen, einmal entstanden, in Form des Selbstgesprächs zum Werkzeug des Denkens wird. Bei der Rechtfertigung seiner Ansicht, das Sprechen beruhe auf dem ihm vorangehenden Denken, polemisiert Tolman nicht nur gegen Watson, Weiss und Hunter, die das Sprechen zur Grundlage des Denkens machen, sondern auch gegen Mead. Für Mead166 erzeugt das Sprechen, also die signifikative, die Zeichenfunktion des Wortsymbols, das Denken, das Bewußtsein und in gewissem Maße auch das Gesellschaftliche. Als primäre gesellschaftliche Verbindungen, die das soziale Ganze erzeugen, sieht er die sprachlichen Verbindungen an; die verbale Kommunikation erzeugt die Gesellschaft und damit auch das Bewußtsein und das Denken. Im Gegensatz zu der landläufigen Vorstellung, der Behaviorismus sei ein homogenes System des mechanistischen Materialismus, haben wir es hier offensichtlich mit einer eindeutig idealistischen These im Rahmen der behavioristischen Konzeption zu tun. Tolman zieht gegen die These Meads zu Felde, die das soziale Ganze in ein Produkt des sprachlichen Kontakts verwandelt. „Unter unserem Aspekt", so schreibt er, „ist das Sprechen das Produkt der bereits erfolgten sozialen Einstellung und nicht umgekehrt." Tolman denkt, wie auch Mead, offensichtlich nach dem Schema: „Ja — ja, nein - nein, und was darüber ist, ist vom Übel." Entweder erfolgt die Bildung des sozialen Ganzen ohne die Sprache, und die entsteht erst später, vom Kollektiv erzeugt und ohne irgendwelchen Anteil an seiner Genese, oder es gibt zunächst eine in ihrer Form abgeschlossene Sprache, und erst durch sie, auf ihrer Grundlage entsteht die Gesellschaft. Tolman verwirft zwar die These Meads in den Teilen, die die Beziehungen zwischen Sprechen und Sozietät sowie zwischen Sprechen und Denken bzw. Sprechen und Bewußtsein betreffen, stellt aber dieselbe Beziehung zwischen Sprechen und Selbstbewußtsein, zwischen Sprechen und Introspektion her. Die Introspektion ist für ihn „ein spezieller Typ des Sprechens". Das Bewußtsein läuft bei ihm auf das Sprechen hinaus, während in Wahrheit das Sprechen zwar seinerseits Anteil an der Ausbildung des Bewußtseins hat, aber dennoch das Bewußtsein und Selbstbewußtsein voraussetzt. Die falsche Auffassung von der Beziehung zwischen Sprechen und Selbstbewußtsein hängt mit der falschen Auffassung vom Sprechen selbst und vom Selbstbewußtsein bzw. von der Introspektion zusammen. Weder das eine noch das andere kann Tolman adäquat abhandeln, und zwar deshalb nicht, weil er alle psychologischen Gebilde lediglich als Gegebenheiten für den anderen, für den außenstehenden Beobachter betrachtet, nicht aber als Gegebenheiten für das Individuum selbst, die durch ihre Gegebenheit für den anderen bzw. durch ihre Beziehung zum anderen vermittelt sind. Das Sprechen wird auf ein Zeichen reduziert; das Zeichen aber wird bei Tolman als unmittelbar gegebenes Objekt bzw. als unmittelbar gegebene Eigenschaft definiert, die als Stimulus für die Erwartung eines anderen Objektes bzw. einer anderen Eigenschaft dient. Unter dem Aspekt ist die Feuchtigkeit des Bodens ein Zeichen für die kurz vorhergegangene Beregnung oder Berieselung, ebenso wie das Wort ein Zeichen für das Ereignis ist, über das es informiert. Die Zeichenfunktion, auf die er das Spre1UB

G. H. Mead, A behavioristic Account of the Significant Symbol.

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chen reduziert, ist nur durch die Beziehung der Objekte zueinander außerhalb dei bewußten Beziehung des Subjekts zu ihnen definiert. Die Beziehung des Wortes zu dem Gefühl, das es hervorgerufen hat oder durch das es hervorgerufen worden ist, und die Beziehung des Wortes zu dem Gefühl, das von ihm bezeichnet wird, sind verschiedene Beziehungen. Aber obwohl das unterschiedliche Beziehungen sind, gibt es in der behavioristischen Darstellung - selbst in eine so ausgeklügelten wie der Tolmanschen keine Mittel, sie zu unterscheiden. Daher ist der Behaviorismus auch außerstande, das Problem des Sprechens zu bewältigen. Nach Tolman hat das Sprechen für den Sprechenden die Funktionen der Kundgabe und der Einwirkung, sie ist proclamation und command; für den Zuhörer ist sie eine Gesamtheit von Zeichen oder Anzeichen für das, was im Sprechenden vorgeht, oder für das, was der Sprechende erwartet, wenn er die entsprechenden Erwartungen im Zuhörer wachruft. Das Sprechen des Sprechenden ist also für ihn selbst lediglich eine Entspannung, die für den anderen als Symptom seines Zustandes dienen kann; im eigentlichen Sinne bezeichnet es diesen Zustand nicht, weder für den anderen noch für der Sprechenden selbst. Indessen wird die Lautgebung erst dann zum Sprechen in jenem eigentlichen Sinne, in dem es ausschließliches Attribut des Menschen ist, wenn es nicht nur irgendeinen Zustand des Sprechenden als Entspannung oder unbewußte Begleiterscheinung begleitet, sondern auch etwas bezeichnet. Nur unter dieser Bedingung, die das Zeichen vom Anzeichen differenziert, kann das Wort bzw. die Sprache ein echtes Mittel der Einwirkung werden. Der unwillkürliche Schrei eines Tieres kann auf ein anderes Tier als Signal wirken, das in ihm irgendeine Entladung auslöst. Soll da6 Wort aber dem Sprechenden zur bewußten Einwirkung auf den Zuhörer dienen, dann muß es nicht nur für den Zuhörer eine bestimmte Bedeutung haben, sondern auch für den Sprechenden, und zwar muß diese Bedeutung für beide dieselbe sein. Der Behaviorismus kann, wie bei Tolman, in sein System den Begriff des Zeichens nur deshalb aufnehmen und in diesem System auch nur deshalb Platz für das Sprechen finden, weil er inkonsequent ist. In der Tat setzt der Behaviorismus ja insgeheim beim „anderen", beim außenstehenden Beobachter jene Fähigkeit der Apperzeption schlechthin und speziell der Apperzeption des Zeichens oder zumindest des Anzeichens voraus, die er dem Subjekt abspricht, das Gegenstand der psychologischen Untersuchung ist. Dabei bemerkt er nicht, daß auch beim außenstehenden Beobachter die Bewußtseinsprozesse ebenso innere Prozesse sind wie bei dem, den er beobachtet. Der Behaviorismus ist nun einmal außerstande, das wahre Wesen des Zeichens zu ermitteln und in seinem System dem Sprechen den ihm zukommenden Platz zuzuweisen, weil er das Zeichen und das Sprechen nur in ihrer objektiven Gegebenheit für den anderen sieht, außerhalb der bewußten Beziehung des Subjekts zu ihnen. Aber sie werden auch für den anderen nur dann zur Sprache im eigentlichen Sinnes des Wortes, wenn sie für jeden nicht nur eine äußerliche Gegebenheit für den anderen sein können, sondern auch eine vom Subjekt selbst bewußt erfaßte Beziehung zu dem durch das Zeichen Bezeichneten. Will man aber diese Beziehung als nicht nur für den anderen, sondern auch für einen selbst existent anerkennen, dann muß man auch das Bewußtsein als Inneres anerkennen, und eben das tut der Behaviorist nicht.

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Tolman erachtet es in seinem Behaviorismus für notwendig, scheinbar auch die Introspektion anzuerkennen. Die objektive Analyse führt nämlich zu dem Schluß, daß man sie nicht einfach eliminieren kann. Unter dem Aspekt Tolmans, der ja nicht die Introspektion generell ablehnt, muß man sie lediglich auf neue Weise objektiv-funktionell definieren und dabei von der Funktion ausgehen, die sie für das Verhalten hat. Worin liegt nun die objektive Funktion der Introspektion? Diese Frage beantwortet Tolman wie folgt: Vor allem fungieren bei der Introspektion als Umweltobjekte, um die es geht und auf die vermittels der Sprache die Aufmerksamkeit des Zuhörers gelenkt wird, die eigenen Anpassungsakte des Introspizierenden. Die Introspektion setzt die Möglichkeit von Antwortakten voraus, die auf die eigenen Anpassungsakte gerichtet sind. Die Introspektion ist jene Form des Werkzeugverhaltens (tool-behavior), für die die Wörter als Mittel dienen und deren Ziel darin besteht, dem Zuhörer die eigenen Anpassungsakte des Introspizierenden kundzugeben. Um introspizieren zu können, muß der „Beobachter" imstande sein, die Signifikativgestalten abzubilden, in denen als Zeichenobjekte (oder Mittel) seine eigenen Anpassungsakte und die Wörter fungieren, die zu ihrer Beschreibung dienen, und als bezeichnetes Objekt (oder Ziel) das erwünschte Vorhandensein dieser Anpassungspunkte für den Zuhörer. 1 6 7 Wenn also für Tolman das Selbstbewußtsein auch existiert, so eben doch nur für den anderen, insofern es ihn im Sprechen als Kundgabe erreicht; aus einer inneren Beziehung zu einem selbst vermittels einer Beziehung zu einem anderen wird das Selbstbewußtsein bei den Behavioristen zu einer bloßen Gegebenheit für den anderen. Introspektion und Selbstbewußtsein existieren vorgeblich nur in der für einen anderen bestimmten Mitteilung, d. h. faktisch nur in dem Bericht, den die Versuchsperson im Laboratorium dem Versuchsleiter gibt. So stellt es sich Tolman vor, der auch nicht von ungefähr das Kapitel über die Introspektion dem Teil seines Buches mit dem Titel „Die Psychologie im Laboratorium" zuordnet. Um seine Auffassung von der Introspektion zu präzisieren und ihren Unterschied zu der in der traditionellen introspektiven Psychologie geläufigen Auffassung klarzulegen, geht Tolman von der bei den Introspektionisten üblich gewordenen Unterscheidung zweier Formen der Introspektion aus - der „reinen" Introspektion und der alltäglichen. Zu ihrer Unterscheidung bediente man sich häufig der von Aster herrührenden Termini „Beschreibung" und „Kundgabe". 1 6 8 Die erstere ist, nach Meinung der Introspektionisten, eine reine unmittelbare Beschreibung der „Bewußtseinsinhalte" als solcher. Bei dieser reinen Introspektion braucht man sich nicht um die Bedeutung seiner Vorstellungen, Gedanken und übrigen Bewußtseinserscheinungen zu kümmern, sondern nur ihre unmittelbare Struktur zu beschreiben. Wir würden sagen, daß die Aufgabe dieser reinen Introspektion darin besteht, den Bewußtseinsinhalt außerhalb seiner gegenständlichen Bezogenheit zu sehen. Die Introspektionisten sahen diese Form der Introspektion als einzig „reine" Form an, die auch als Grundmethode der PsychoK1 lli!i

Ebenda, S. 241. E. von Aster, Die psychologische Beobachtung und experimentelle Untersuchung von Denkvorgängen. Zeitschrift für Psychologie, Bd. 49, 1908, S. 56 ff.

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logie kultiviert werden sollte; es ist eine spezifische Operation, die besonderer Übung bedarf. Im Unterschied zu dieser ist die zweite Form, die alltägliche Introspektion (Kundgabe) ein einfacher Bericht des naiven Beobachters über das, was ihm zu Bewußtsein kommt, was er sich vorstellt, denkt usw. Hier wird die Bewußtseinstatsache in ihrer gegenständlichen Bezogenheit gesehen und durch sie bestimmt. Die Grundthese Tolmans läuft darauf hinaus, daß er die Introspektion nur in dieser zweiten Form anerkennt, die die Introspektionisten als Methode der Psychologie verworfen hatten und von der sie ihre reine methodische Introspektion abgrenzen wollten, während er eben diese verwirft. Das kennzeichnende Merkmal der alltäglichen Introspektion, des einfachen Berichts als Kundgabe, besteht nach Tolmans Ansicht darin, daß sie dem Zuhörer im Prinzip nichts mitteilt, was nicht auch durch das Verhalten gegeben sein könnte. „Das bedeutet, daß der Introspizierende, statt zu introspizieren und zu berichten, woran er gedacht hat, seine Gedanken (zumindest theoretisch) auch im aktuellen Verhalten äußern könnte." Die einzige zusätzliche Bedingung, die für die Introspektion notwendig ist, besteht unter dem Aspekt Tolmans in der Empfänglichkeit für soziale Beziehungen (sensibility to social relationship). Freilich könnte die Introspektion dabei dem Zuhörer nichts über das hinaus vermitteln, was er auch aus dem Verhalten entnehmen könnte; sie enthält nichts, was den Bewußtseinsinhalt als solchen kennzeichnet. Die erste Art der Introspektion dagegen „ist ein reines Hirngespinst, eine Illusion, ein Nichts, etwas, das niemals stattgefunden hat noch stattfinden kann." Und die Begründung für diese Behauptung liegt in der Tatsache, daß unter dem Aspekt Tolmans etwas Inneres, Subjektives überhaupt nicht existiert oder zumindest für die Wissenschaft nicht existieren kann - nothing „inside", private and mentalistic. Hier stehen zwei in gleichem Maße unhaltbare Konzeptionen einander gegenüber. Zweifellos ist vor allem die erste fehlerhaft, die traditionelle introspektive Konzeption. Ihr lag die falsche Prämisse zugrunde, der psychische Prozeß oder die Bewußtseinserscheinung könne eindeutig nur außerhalb ihrer Beziehung zu dem von ihr unabhängigen Objekt bestimmt werden. In Wahrheit dagegen wäre die Bewußtseinserscheinung in ihrer „reinen" Unmittelbarkeit, wenn man sie also vollkommen aus ihrer gegenständlichen Bezogenheit löste (was real jedoch unmöglich ist), völlig unbestreitbar, da lediglich diese gegenständliche Bezogenheit sie aus dem mystischen Nebel der reinen Erlebens ausgliedert. Nicht weniger fehlerhaft ist aber auch der Standpunkt des Behaviorismus, der als Gegengewicht gegen die Isolierung des Inneren, Subjektiven vom Äußeren, Objektiven versucht, das erste auf das zweite zu reduzieren, d. h. das Innere, Subjektive überhaupt zu leugnen. Damit führt der Behaviorismus letzten Endes zur Isolierung des Äußeren, Objektiven vom Inneren, Subjektiven. In Wahrheit dagegen ist ein menschlicher Verhaltensakt außerhalb seiner Beziehung zum Psychischen bzw. Bewußtsein überhaupt nicht eindeutig bestimmbar. Diese Einheit ist jedoch keine Identität, die ermöglichen würde, das eine auf das andere zu reduzieren. Wenn wir nun zum Abschluß die ganze Konstruktion Tolmans mit einem Blick umfassen, dann ergibt sich ein sehr instruktives Bild, vor allem wenn man seine Konzeption einmal mit den Ausgangsthesen Watsons vergleicht.

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Vor allem kann man feststellen, daß die Untersuchung des Verhaltens mit innerer Zwangsläufigkeit zur Anerkennung der Unhaltbarkeit und Inadäquatheit des ReizReaktions-Schemas führt, da es sich als völlig unmöglich erweist, eine unmittelbare eindeutige Abhängigkeit zwischen den Reizen und den Reaktionen zu ermitteln. Die eindeutige Festlegung nicht der physiologischen Reaktion, sondern des wirklichen Verhaltensaktes erfordert die Einbeziehung anderer, psychologischer „Determinanten". Ohne Bezug zu psychologischen Gegebenheiten kann der Verhaltensakt nicht eindeutig bestimmt werden. Das ist die erste wesentliche Schlußfolgerung, die der Behaviorismus Tolmans akzeptieren mußte. Ein zweiter, nicht weniger wesentlicher Satz, zu dem der Behaviorismus bei Tolman führte, besagt, daß die Grundbegriöe der Bewußtseinspsychologie nicht beseitigt werden können und dürfen, man müsse sie vielmehr auf neue Weise, nämlich objektiv, definieren. Das ganze Problem besteht nur darin, wie das zu realisieren ist. Darin, wie Tolman diese These realisiert, zeigt sich die Fehlerhaftigkeit der behavioristischen Konzeption, von der er ausgeht. Tolman fordert zu Recht, die psychologischen Begriffe müßten funktionell definiert werden, wobei von objektiven Verhaltensdaten auszugehen sei. Dabei vertritt er aber nicht die Einheit von Äußerem und Innerem, von Verhalten und Bewußtsein, sondern die Reduzierbarkeit des zweiten auf das erste. Er behauptet, das Bewußtsein bringe nichts Neues, nichts qualitativ anderes, und die Introspektion könne nichts am Verhalten ändern. Diese epiphänomenalistische Behauptung, zu der ihn sein behavioristischer Glaube verpflichtet, beraubt ihn im Prinzip der Möglichkeit, seine methodische Grundforderung zu verwirklichen: Wenn das bewußte Erfassen nichts am objektiven Verlauf des Verhaltens ändert, dann kann man offensichtlich, wenn man von objektiven Verhaltensdaten ausgeht, weder das Faktum des Bewußtseins noch die Veränderung seiner Form und seiner Erscheinungsweisen definieren. Will man also die methodische Grundforderung des Objektivismus in der Psychologie realisieren, als dessen Verfechter sich der Behaviorismus ausgibt, dann darf man die behavioristische Leugnung der Bedeutung des Bewußtseins nicht akzeptieren, sondern muß sie vielmehr verwerfen. Will man an Hand des äußeren Verlaufs des Verhaltens seine innere psychologische Natur bestimmen, dann muß das Psychische bzw. das Bewußtsein im echten Sinne des Wortes existieren, d. h. es darf kein wirkungsloses Epiphänomen sein. Behaviorismus ist nicht nur ein Synonym für Objektivismus in der Psychologie, wofür er sich ausgibt, sondern er ist sogar die unmittelbare Negierung seiner Möglichkeiten. Die eingehendere Untersuchung des Verhaltens veranlaßte Tolman, vom Verhalten ausgehend, sein eigenes System der Bewußtseinspsychologie zu entwickeln. Aber dabei zwingt ihn sein Behaviorismus, die objektive Realität des Bewußtseins und der psychischen Prozesse zu leugnen, die er als „Determinanten" des Verhaltens eingeführt hatte. Er verwirft nicht nur den Versuch der introspektiven Psychologie, das Innere vom Äußeren zu isolieren und das Bewußtsein zur sich selbst genügenden und in sich abgeschlossenen Innenwelt zu machen, er leugnet sogar die Existenz des Inneren überhaupt. Nachdem er festgestellt hat, Intention und Erkenntnis seien rein objektive Begriffe, die durch objektive Gegebenheiten des äußeren Verhaltens definierbar sind, und nichts Inneres, Subjektives existiere (nothing inside, private, mentalistic), fährt Tolman

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fort: „Wir sind es, die außenstehenden Beobachter, die sie als immanente Determinanten des Verhaltens entdecken oder, wenn es beliebt, einführen (infer) oder erfinden (invent). Wir sind es, die unabhängigen, neutralen Beobachter, die die streng objektiven Eigenschaften bemerken, die dem Verhalten immanent sind, und so kam es dahin, daß wir für sie als allgemeine Bezeichnung die Termini ,Intention und Erkentnis' gewählt haben." Hinter dem behavioristischen Pseudoobjektivismus in der Psychologie verbirgt sich also eindeutiger gnoseologischer Subjektivismus. Während die traditionelle introspektive Psychologie das Psychische bzw. das Bewußtsein nur in seiner Beziehung zu sich selbst und außerhalb seiner Beziehung zu einem anderen sieht, sieht hier der Behaviorismus das „Bewußtsein" nur in seiner Gegebenheit für den anderen, außerhalb seiner Beziehung zu sich selbst, zum Subjekt: Die psychologischen Termini werden bar jedes inneren psychologischen Gehalts. Dieser Standpunkt ist nicht weniger fehlerhaft als der, gegen den der Behaviorismus ankämpft. Die Aufgabe besteht für den Behavioristen darin, die inneren Bewußtseinsprozesse aus dem untersuchten psychologischen Subjekt zu eliminieren. Aber Kenntnis - und erst recht psychologische Kenntnis — ohne Bewußtsein zu gewinnen, ist natürlich unmöglich. Die Lösung des Problems - offensichtlich eine Scheinlösung - findet man darin, daß man die inneren Erscheinungen, die Bewußtseinsakte aus dem Untersuchten in den Untersucher verlegt und sie so aus dem Untersuchungsfeld eliminiert, sie also in latenter Form beibehält und faktisch im Laufe der Untersuchung auf sie zurückgreift. Das ist ein für die behavioristische Psychologie typisches Verfahren, ohne das sie nicht hätte aufgebaut werden können. Es bedeutet im Prinzip, daß das System der behavioristischen Psychologie seinen Prämissen inadäquat ist und daß sich die Prämissen im System nicht verifizieren lassen. Diese innere Zwiespältigkeit des Behaviorismus zeigt sich besonders unverhüllt, wenn seine Vertreter sich an Problemen der Praxis versuchen, aus deren Anforderungen der Behaviorismus — „ein Produkt des aktiven amerikanischen Geistes" — überhaupt erst erwachsen ist. Als praktisches Ziel der Untersuchung des Verhaltens gilt die „Regulierung des Verhaltens" bzw. seine „Steuerung". Bewußte Regulierung ist aber dort unmöglich, wo alles auf das Reagieren reduziert ist. Wenn das Verhalten ein reaktiver Prozeß ist, der durch Außenreize bestimmt wird, dann ist eine wirkliche Steuerung des Verhaltens durch das Subjekt selbst unmöglich; die Tätigkeit des Subjekts wird nicht von ihm bestimmt: Die Außenreize bestimmen seine Reaktionen. Die Regulierung des Verhaltens setzt in diesem Falle zwangsläufig neben den reagierenden Menschen auch noch andere voraus, die nicht nur fähig sind zu reagieren, sondern auch bewußt die Wege zu wählen, auf die die Tätigkeit des Menschen gelenkt werden soll. Hier zeigt sich wieder praktisch und handgreiflich dieselbe Zwiespältigkeit (die schon im theoretischen Bereich deutlich geworden war) zwischen dem Untersucher — dem außenstehenden Beobachter, bei dem man, ohne es offen zu sagen, die Existenz innerer Prozesse voraussetzt - und der Versuchsperson, bei der man sie leugnet; wiederum, und zwar jetzt im praktischen Bereich, setzt man die Existenz zweier 169

Ebenda, S. 19.

17

Prinzipien und Wege

Geschichte

258

Kategorien von Menschen voraus. Der soziale, der klassengebundene Sinn dieser Theorie enthüllt sich also unübersehbar, und wiederum werden die falschen methodologischen Prämissen deutlich, in denen sich der Mechanizismus mit ausgekochtem Idealismus verfilzt. Summa summarum müssen wir also sagen, daß das Problem der Beziehungen zwischen Bewußtsein und Verhalten, das durch die historische Entwicklung des psychologischen Denkens akut geworden ist, bei Tolman — wie überhaupt in der ausländischen nichtmarxistischen Psychologie — keine irgendwie befriedigende Lösung gefunden hat. b) Das Problem des Individuellen im Bewußtsein (Die psychologische

Konzeption

des

und

Gesellschaftlichen

Menschen

der französischen

soziologischen

Schule)

Als die Psychologie sich zur Experimentaldisziplin entwickelt hatte, trat sie zunächst als Naturwissenschaft auf, die eng mit der Physiologie verbunden war. Die Untersuchungen zur Evolutionspsychologie, die unter dem Einfluß der Verbreitung des Darwinismus besondere Entwicklung erfuhren, hatten noch markanter ausgeprägten naturwissenschaftlichen Charakter. Bei diesen Untersuchungen trat die Psychologie als biologische Disziplin auf. In den aus diesen Untersuchungen erwachsenen theoretischen Konzeptionen wurde die Psychologie prinzipiell als biologische Wissenschaft behandelt. Aber der Zusammenhang des menschlichen Bewußtseins mit sozialen Erscheinungen ist zu offensichtlich, um für längere Zeit völlig unbemerkt zu bleiben. Außerhalb der marxistischen Wissenschaft wurde das Problem der sozialen Natur des menschlichen Bewußtseins in entfalteter Form von der französischen soziologischen Schule gestellt. Diese Problemstellung hat bei den Vertretern der französischen soziologischen Schule eine Vorgeschichte. Die Tendenz, die Psychologie mit den Sozialdisziplinen zu verknüpfen, ist in der französischen Wissenschaft nicht neu. Sie rührt schon von Saint Simon her. August Comte übernahm sie von ihm und bezog sie in seine positivistische Konzeption ein. In seiner Klassifikation der Wissenschaften wies Comte bekanntlich der Psychologie keinen eigenen Platz zu. Seine negative Einstellung zur Psychologie als selbständiger Disziplin richtete sich im Grunde gegen die introspektive, metaphysische Psychologie, die seinerzeit Cousin nach Frankreich verpflanzte. Comte setzte dieser Psychologie den Satz entgegen, die psychischen Prozesse könnten nur insoweit Objekt der Wissenschaft werden, als wir sie von außen, durch objektive Beobachtung feststellen und ermitteln und die außerhalb von ihnen liegenden Ursachen ihrer Entstehung und ihres Verlaufs aufdecken könnten. Um seine Forderung zu verwirklichen, sah Comte keinen anderen Weg, als die Psychologie in zwei Disziplinen aufzugliedern. Die Untersuchung der psychischen Prozesse wies er sowohl der anatomischen Physiologie des Gehirns zu, die ihre physiologischen Bedingungen untersucht, als auch der Soziologie, die ihren Charakter, ihre gegensei-

Ausländische Psychologie

259

tigen Zusammenhänge und ihre Entwicklung im sozialen Milieu untersucht. Die Psychologie ist also nach Comte einerseits Gegenstand einer Disziplin, die man als Psychophysiologie bezeichnen könnte. Ihr überlagert ist jene Psychologie, die das Psychische des Menschen so untersucht, wie es sich infolge des sozialen Lebens und seiner historischen Entwicklung herausbildet. Die Elemente der differentiellen Psychologie schließlich werden von Comte in jene Disziplin eingeordnet, die er Moral nennt. Bei der Realisierung dieser Tendenz läßt sich bei Comte eine gewisse Evolution feststellen. Anfangs, im „Lehrbuch der positiven Philosophie" (Cours de philosophie positive, 1837) ist die Psychologie für Comte vor allem eine biologische Wissenschaft. Hauptaufgabe der Untersuchung der psychischen Funktionen ist die Ermittlung ihrer Lokalisierung, ihrer anatomisch-physiologischen Grundlagen. Sie sind hauptsächlich Gegenstand der Anatomie und Physiologie des Gehirns. Die Soziologie ist lediglich Überbau und Krönung; sie soll zeigen, wie in der historischen Entwicklung der Sitten, der Institutionen und der Wissenschaften jene intellektuellen und moralischen Dispositionen realisiert und modifiziert werden, die durch die anatomisch-physiologischen Bedingungen determiniert sind. In der Folgezeit, mit der Entwicklung der soziologischen Konzeption Comtes, kommt es in seinen Ansichten bezüglich der Psychologie zu einer immer radikaleren Verschiebung in Richtung auf die Anerkennung der „führenden" Rolle des sozialen Elements. Im „System der positiven Politik" (1851) ist das Verhältnis zwischen Biologischem und Sozialem bereits umgekehrt. Comte betont, der Mensch sei hinsichtlich seiner Natur ein soziales Wesen und könne nicht außerhalb der Abhängigkeit vom sozialen Milieu, das ihn forme, verstanden werden; selbst seine Verbindung zur natürlichen Umwelt werde durch das soziale Milieu vermittelt. Dementsprechend ordnet er auch die Psychologie jetzt vorzugsweise in die Soziologie ein, und zwar in die Psychosoziologie. Comte vertritt immer entschiedener den Standpunkt, man könne nur durch soziale Untersuchung der Funktionen, durch Untersuchung ihrer Existenz unter den realen Bedingungen des sozialen Lebens und in verschiedenen, historisch entstandenen Formen der sozialen Tätigkeit der Menschen die Funktionen selbst, ihre Natur, ihre Anzahl und ihre Wechselbeziehungen ermitteln; nur auf dieser Grundlage könne man sich auch daran machen, sie mittelbar zu lokalisieren. Die „soziologische" Untersuchung der Funktionen tritt also in den Vordergrund. Die biologische Problematik der Anatomie und Physiologie des Gehirns und die Lokalisation der Funktionen werden zur sekundären, abgeleiteten und untergeordneten Problematik. Auf den verschiedenen Entwicklungsetappen seines Systems setzt Comte die relative Bedeutung dieser Komponenten der Psychologie jeweils anders fest, verfolgt aber ständig die Tendenz, daß die Erkenntnis der psychologischen Funktion sowohl die Ermittlung ihrer Lokalisation im Gehirn als auch die Feststellung ihrer Entwicklungsbedingungen voraussetze und fordere. Die Anerkennung der sozialen Bedingtheit der Psychologie des Menschen fand lebhaften Widerhall in der französischen psychologischen Literatur. Besonders deutlich 170

17*

Ch. Blondel, Introduction ä la psychologie collective. Paris 1924 (vgl. vor allem den ersten Teil: „La Psychologie de Comte, Dürkheim et Tarde").

260

Geschichte

zeigen sich diese sozialen Motive bei einem der größten französischen Psychologen der vorhergegangenen Generation, bei Ribot. Er stand zwar den Assoziationisten nahe und vertrat im Grunde naturalistische Tendenzen, verband damit aber immer wieder die sozialen Motive. Als er seine physiologische — die sogenannte „motorische" — Aufmerksamkeitstheorie entwickelte, die den Prozeß der Aufmerksamkeit im Grunde auf die motorischen Einstellungsreaktionen reduzierte, mit denen dieser Prozeß gewöhnlich einhergeht, unterschied Ribot jedoch von der unwillkürlichen Aufmerksamkeit die willkürliche und erklärte diese zur „soziologischen" Erscheinung. Die willkürliche Aufmerksamkeit sieht er als „Anpassung an die Bedingungen des höheren sozialen Lebens" an. „Es läßt sich leicht beweisen", bemerkt er, „daß vor der Entstehung der Zivilisation die willkürliche Aufmerksamkeit nicht existierte oder nur für einen Augenblick auftauchte wie das rasche Aufzucken eines Blitzes." 1 7 1 „Die Arbeit ist die konkreteste Form der Aufmerksamkeit." 1 7 2 Dem analog sucht Ribot in seiner „Logik der Gefühle" nachzuweisen, daß es im emotionalen Leben zwei Bereiche gebe, einen individuellen, den er der Physiologie und Biologie zurechnet, und einen sozialen; die letzten Fragen der „Logik der Gefühle" hält Ribot für „eigentlich soziologische Fragen". Hier realisiert er also wiederum seine These, die er wiederholt formuliert hat, wenn er sagt, die Psychologie beginne mit der Biologie, „erhält aber ihre letzte Vollendung in der Soziologie". Ihre systematische Realisierung erfahren diese „soziologischen" Tendenzen unter dem Einfluß der soziologischen Konzeption Dürkheims und der ihm nahestehenden Gruppe von Forschern. In ihren Untersuchungen wird zugleich auch die methodologische Fehlerhaftigkeit ihrer Auffassung vom Sozialen und seiner äußerlichen Kontraposition gegenüber dem Individuellen und Biologischen (die zu Unrecht zusammengefaßt werden) vollkommen deutlich, die schon in den vorhergegangenen Konzeptionen von Comte und Ribot sichtbar geworden war. Im Unterschied zur englischen soziologischen Schule, deren Vertreter (Taylor, Frazer, Lang) von der Prämisse ausgingen, der menschliche Intellekt sei zu allen Zeiten und bei allen Völkern unveränderlich, betrachtet die französische soziologische Schule (Dürkheim und seine Anhänger) die psychischen Funktionen als Produkt der gesellschaftlichen Entwicklung. Aber diese „Soziologisierung" der Psychologie wird bei ihnen paradoxerweise von einer Psychologisierung der Soziologie überlagert. Bei seiner Suche nach dem spezifischen selbständigen Objekt der Soziologie, das Dürkheim unbedingt braucht, um sie zu einer selbständigen Disziplin zu machen, erklärt er hierzu schließlich die „kollektiven Vorstellungen". Sie stehen, seiner Meinung nach, hinter allen sozialen Fakten, hinter allen sozialen Einstellungen. „Alles Soziale", so erklärt er, „besteht aus Vorstellungen und ist folglich ein Produkt der Vorstellungen." Wenn also im weiteren die These entwickelt wird, die Vorstellungen bzw. das Psychische des Menschen seien ein Produkt der Sozietät, dann muß man zur richtigen Beurteilung dieser These bedenken, daß ihr der umgekehrte Satz vorausgeht, nach dem die Sozietät selbst ein Produkt der Vorstellungen ist. Wir müssen daher durchaus zugeben, 171 172

T. Ribot, Psychologie der Aufmerksamkeit. Petersburg 1892, S. 35 (russ.). Ebenda, S. 36.

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daß Dürkheim im Prinzip im Recht war, als er sich gegen den Vorwurf des Materialismus verteidigte und dabei nachwies, daß mehr Grund dazu vorläge, seine Theorie als spiritualistisch zu bezeichnen. Soziale Bedingtheit des Psychischen bedeutet also bei ihm zum wenigsten ihre Abhängigkeit von den Produktionsverhältnissen, von den realen Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens. In seiner Konzeption des Psychischen äußert sich Dürkheim entschieden gegen den Epiphänomenalismus : Das Physische sei nicht auf das Physische reduzierbar und keine passive Begleiterscheinung des Physischen. Man müsse daher, so erklärt er, unbedingt die Autonomie der Psychologie gegenüber der Physiologie anerkennen. Seiner Meinung nach gewinnt die Psychologie diese Autonomie der Physiologie gegenüber nur, wenn sie sich auf die Soziologie stützt. „In uns selbst gibt es einen Teil, der tatsächlich nicht in unmittelbarer Abhängigkeit vom organischen Faktor steht: All das, was in uns die Gesellschaft repräsentiert. Die allgemeinen Ideen, die Religion oder Wissenschaft unserem Geist einverleiben, die intellektuellen Operationen, die diese Ideen voraussetzen, der Glaube und die Gefühle, die die Grundlage unseres moralischen Lebens ausmachen, all diese höheren Formen der psychischen Aktivität, die die Gesellschaft in uns weckt und entwickelt, werden nicht vom Körper gelenkt, wie unsere Empfindungen und kinästhetischen Zustände. Die Welt der Vorstellungen, in der sich das soziale Leben entfaltet, ist, wie wir nachgewiesen haben, ihrem materiellen Substrat überlagert (surajoute), geht aber keinesfalls aus ihm hervor." 1 7 3 „Nach einer bekannten Formel", schreibt Dürkheim ferner, „ist der Mensch eine Zweiheit. In ihm gibt es zwei Wesen: das Individualwesen, dessen Grundlage der Organismus und dessen Tätigkeitsbereich infolgedessen sehr begrenzt ist, und das Sozialwesen, das in uns die höhere Realität im intellektuellen und moralischen Bereich repräsentiert, die unserer Beobachtung zugänglich ist: Ich meine die Gesellschaft." Dürkheim vereinigt also die Grundlagen seiner soziologischen Konzeption mit unverhülltem Dualismus, zu dessen Begründung er seine Theorie ebenfalls benutzt. „Wenn der Mensch, wie wiederholt gesagt, eine Zweiheit ist, dann erklärt sich das aus der Tatsache, daß dem physischen Menschen der soziale Mensch überlagert ist (surajoute)." Daraus zieht Dürkheim den Schluß: „Welche Erfolge die Psychophysiologie auch erreichen mag, sie kann niemals mehr sein als nur ein Teil der Psychologie, weil der größere Teil der psychischen Erscheinungen nicht von organischen Ursachen abhängt." Aber „aus der Tatsache, daß die Genese eines beträchtlichen Teils des Bewußtseins nicht von der Psychophysiologie erklärt werden kann, darf man nicht schließen, daß er von sich aus entstanden und folglich der wissenschaftlichen Erkenntnis nicht zugänglich ist; daraus muß man nur folgern, daß er zu einer anderen positiven Wissenschaft gehört, die man als Psychosoziologie bezeichnen könnte. Die Erscheinungen, die ihren Gegenstand ausmachen, sind von heterogener N a t u r ; sie haben dieselben Wesenseigenschaften wie die übrigen psychischen Fakten, entspringen aber aus sozialen Ursachen." Dürkheim unterscheidet deshalb in der Psychologie zwei Disziplinen — die Psychophysiologie und Psychosoziologie, wobei die Priorität, die führende Rolle, der letzteren zukommt; sie ist im Prinzip die wahre Psychologie. 173

E. Dürkheim,

Les formes élémentaires de la Vie Réligieuse. Paris 1912, p. 389.

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Geschichte

Die Aufgliederung der Psychologie in zwei Disziplinen - Psychophysiologie und Psychosoziologie - ist Ausdruck des unverhüllten Dualismus der Dürkheimsch&n Konzeption. Für Dürkheim sind die komplizierten Formen des psychischen Lebens nicht ohne die sozialen Bedingungen erklärbar; das heißt, daß die Psychologie, wenn sie einen gewissen Punkt ihrer Entwicklung erreicht hat, von der Soziologie untrennbar wird. Zugleich ist bei ihm auch umgekehrt die Soziologie von der Psychologie untrennbar. Wie bereits oben erwähnt, gilt für Dürkheim: „Alles Soziale besteht aus Vorstellungen und ist folglich ein Produkt der Vorstellungen." Dabei bemüht er sich aber doch, den Bereich der Soziologie von dem der Psychologie abzugrenzen und die „Autonomie" und Überordnung der Soziologie nachzuweisen. Dazu dient ihm der Begriff der Kollektivvorstellungen, der das selbständige Objekt der Soziologie bestimmen soll. Die Kollektivvorstellungen sind, nach Dürkheim, vom Individuum und vom individuellen Bewußtsein unabhängig. Das Hauptargument für die Unabhängigkeit der Kollektiworstellungen vom individuellen Bewußtsein entwickelt Dürkheim analog seiner Argumentation gegen den Epiphänomenalismus: „Wenn man", so sagt er, „nichts Ungewöhnliches darin sieht, daß die individuellen Vorstellungen, die durch die Wechselwirkung von Nervenelementen erzeugt werden, nicht in diese Elemente hineingebracht worden sind, was ist dann erstaunliches daran, daß die Kollektiworstellungen, die durch die Wechselwirkung der elementaren Bewußtseine erzeugt werden, aus denen die Gesellschaft besteht (! — S. R.), nicht unmittelbar aus diesen letzteren hervorgehen und ihre Grenzen überschreiten? Die Relation, die nach dieser Konzeption zwischen dem sozialen Leben und seinem sozialen Substrat hergestellt wird, ist in jeder Hinsicht analog der, die zwischen dem physiologischen Substrat und dem psychischen Leben der Individuen anzunehmen ist, wenn man nicht jegliche Psychologie im wahren Sinne des Wortes leugnen will. Man muß folglich hier wie dort dieselben Schlüsse ziehen." Dieser Schluß besteht im vorliegenden Falle darin, daß die Kollektivvorstellungen „unabhängig von den Individuen und ihrem jeweiligen Bewußtsein sind." Die Kollektivvorstellungen, auf die Dürkheim die Sozietät reduziert und die er dem Individualbewußtsein als etwas „Äußeres" gegenüberstellt, sind offensichtlich der Inhalt des „gesellschaftlichen Bewußtseins", die Ideologie. In der Konzeption Dürkheims hängt die These von der sozialen Bedingtheit des menschlichen Bewußtseins einerseits und von dem Unterschied zwischen individuellem und gesellschaftlichem Bewußtsein andererseits mit seiner idealistischen Auffassung von der Sozietät zusammen: Die Gesellschaft „besteht aus den Bewußtseinen" (s. o.) ; die Sozietät wird einzig auf die Ideologie, auf die Kollektivvorstellungen reduziert. Die realen gesellschaftlichen Verhältnisse, die Produktionsverhältnisse werden überhaupt nicht berücksichtigt. Das zum ersten. Zweitens hängt die Anerkennung der sozialen Bedingtheit des menschlichen Bewußtseins bei Dürkheim untrennbar mit seiner ausgeprägt dualistischen Konzeption zusammen: Das Soziale im Menschen ist seiner biologischen Natur äußerlich überlagert (surajoute); das Individuelle wird mit dem Biologischen, dem Organischen identifiziert; das Individuum ist demnach ein Organismus, keine Persönlichkeit. Dieser Dualismus von Sozialem und Biologischem bzw. Sozialem und Individuellem, die mangelnde Einsicht in die Tatsache, daß die Sozietät für den Men-

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sehen nicht n u r ein äußerliches F a k t u m ist, sondern in den Beziehungen besteht, in die er sich selbst einordnet und die seine innere Natur bestimmen, all das ist gleichermaßen kennzeichnend f ü r Dürkheim, wie auch f ü r seine Vorgänger Comte und Ribot und f ü r seine direkten Nachfolger. Ihnen allen ist der Gedanke fremd und u n f a ß b a r , daß der Mensch vor allem ein Naturwesen ist, seine Natur jedoch ein Produkt der Geschichte. Spezifische Schwierigkeiten ergeben sich f ü r Dürkheim aus seiner Interpretation der Kollektiworstellungen als Gegenstand der Soziologie. Infolgedessen hält er sie einerseits f ü r „äußerlich gegenüber den individuellen Bewußtseinen", zählt aber andererseits den ganzen intellektuellen Inhalt des Bewußtseins zum Bereich der Kollektiworstellungen. Damit wird die Psychologie auf die Ideologie reduziert, d. h. sie werden letzten Endes identifiziert. Diese prinzipiell falsche Tendenz zieht sich auch durch alle Konstruktionen der späteren Psychologen, die der soziologischen Konzeption Dürkheims nahestehen. Dürkheim benutzte zusammen mit Mauss seine allgemeine Konzeption vor allem zur Erklärung der intellektuellen Funktionen. Halbwachs dehnte sie auf die Lehre vom Gedächtnis aus, und Blondel, der die Tendenzen der französischen soziologischen Schule mit den Ideen Bergsons kreuzte, bediente sich analoger Ideen zur E r k l ä r u n g des Willens sowie der Wahrnehmung und der Affekte; unter demselben Aspekt entwickelte er auch seine Konzeption des pathologischen Bewußtseins; Levy-Brühl und Piaget äußerten analoge Ideen im genetischen Bereich. Dürkheim geht von dem Grundsatz aus, das ganze intellektuelle Leben des Menschen sei ein soziales Produkt. Das gesellschaftliche Leben erzeuge im Menschen die Fähigkeit, die Natur zu erkennen und zu verstehen. Der Ansicht, wonach „die Fähigkeiten zu definieren und zu schließen - deduktiv und induktiv - als unmittelbar in der Organisation (constitution) des individuellen Denkens gegeben" seien, stellt er die These entgegen: „Die Methoden des wissenschaftlichen Denkens sind echt soziale Institutionen (institutions sociales), deren Genese die Soziologie rekonstruieren und erklären k a n n . " 1 7 4 An Hand der Analyse gewisser Primitivformen der Klassifikation wollen Dürkheim und Mauss nachweisen: „Die ersten logischen Kategorien waren soziale Kategorien; die ersten Klassen von Dingen waren Klassen von Menschen, in die die Dinge eingeordnet waren." 1 7 5 Alle „Kategorien des Denkens sind nicht nur hinsichtlich ihrer Genese, sondern auch hinsichtlich ihres Inhalts sozial". Sie wurden nach dem Vorbild und in Analogie zu sozialen Erscheinungen geschaffen. „Der R a u m der Welt wurde ursprünglich nach dem Vorbild des sozialen Raumes konstruiert, d. h. nach dem Vorbild des Territoriums, das die Gesellschaft einnimmt, und zwar so, wie die Gesellschaft sich es vorstellt." Dem analog „drückt die Zeit den Rhythmus des kollektiven Lebens aus: der Artbegriff war ursprünglich nur ein anderer Aspekt der Idee der menschlichen, sozialen Gruppe", und die K r a f t des Kollektivs und seine Einwirkung auf das Bewußtsein dienten als Prototyp der Begriffe der K r a f t und der Kausalität usw. 1 7 6 E. Dürkheim, et M. Mauss, De quelques formes primitives de classification. Contribution à l'étude de représentations collectives. L'Année sociologique, 1903, p. 1 f. ,7r " Ebenda, S. 67. ,7ti E. Dürkheim: Les formes élémentaires de la Vie Réligieuse. Paris 1912, p. 628.

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Geschichte

Dasselbe gilt auch f ü r den Begriff der Substanz, der Zahl usw. Dürkheim, behauptet, es gehe nicht um äußerliche Analogien, vielmehr hätten die durch die sozialen Beziehungen erzeugten Begriffe deshalb objektive Bedeutung als Kategorien, die die Erkenntnis der Wirklichkeit bestimmen, weil die Objektivität des wissenschaftlichen Denkens nichts anderes sei als im Laufe der Jahrhunderte gesammelte kollektive Erfahrung, nichts anderes als sozial organisierte Erfahrung. Mit dieser subjektivistischen These (die bei uns von Bogdanow weiterentwickelt wurde) begründet er seine Konzeption des Begriffs. Dürkheim hält es f ü r falsch, Begriffe und allgemeine Ideen (Vorstellungen) zu identifizieren. 177 In ihrer Vermengung sieht er unter anderem einen der Hauptfehler Levy-Brühls, der ihn zu der Behauptung veranlaßte, das primitive Denken sei prälogisch und das logische Denken stehe ihm diametral gegenüber. Das Wesen des Begriffs besteht nach Dürkheim durchaus nicht in seiner Verallgemeinertheit (généralité), sondern in seinem überpersönlichen Charakter. Der Begriff ist zumindest relativ unveränderlich, er ist universal. Nicht die Verallgemeinertheit (généralité), sondern die Allgemeinheit (communauté) und die Kommunikabilität (communicabilité) bestimmen nach Dürkheim das Wesen des Begriffs. Er stellt also Verallgemeinertheit und Allgemeinheit bzw. Kommunikabilität gegenüber und verlagert den Schwerpunkt einseitig auf die letztere Abhängigkeit, wobei er die umgekehrte Abhängigkeit - die Verallgemeinertheit als Bedingung der Allgemeinheit und Kommunikabalität - überhaupt nicht berücksichtigt. Da der Begriff allen gemeinsam (commun) ist, ist er auch ein Produkt der Gesellschaft. Die Konzeption Dürkheims kehrt sodann diese These um ; sie geht von diesem richtigen Gedanken aus und dreht ihn dann u m : Was ein Produkt der Sozietät, der gesellschaftlichen E r f a h r u n g ist, ist damit auch eine Kategorie, ein Begriff, der objektive, logische Bedeutsamkeit h a t ; die Objektivität wird also auf die allgemeine Bedeutsamkeit reduziert. In dieser soziologischen Konzeption des begrifflichen Denkens ist W a h r e s mit falschen Behauptungen vermischt, die den positiven Wert der sozialen Konzeption des logischen Denkens im Grunde verfälschen. Positiv ist die Anerkennung der bestimmenden Bedeutung der Sozietät f ü r die Genese des logischen Denkens. Die Entstehung wissenschaftlicher Begriffe und Kategorien ist ein Produkt der sozialhistorischen Entwicklung. Die Bedeutung dieser sozialen Konzeption des Denkens wird bei Dürkheim jedoch durch seine psychologisierte, idealistische Konzeption der Sozietät selbst annulliert. Die Sozietät selbst wird zu einer Gesamtheit „mentaler" Erscheinungen erklärt : „Alles Soziale besteht aus Vorstellungen und ist folglich ein Produkt von Vorstellungen." Einerseits werden also die Kategorien und Begriffe des Denkens hinsichtlich ihres Inhalts als soziale Gebilde angesehen und zu Produkten der Sozietät erklärt, dagegen wird andererseits die Sozietät selbst als aus Vorstellungen bestehend angesehen und f ü r ein Produkt von Vorstellungen erklärt. Infolge des idealistischen Charakters dieser soziologischen Konzeption f ü h r t die These von der sozialen Natur des Denkens zu einer idealistischen, subjektivistischen Interpretation der Kategorien der Wissenschaft. 177

Ebenda, S. 617.

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Eine Reihe von Forschern, die zur selben Schule gehören oder ihr nahestehen, dehnte diese Darstellungsweise auf verschiedene psychische Funktionen aus. In einer speziellen Untersuchung über „Die sozialen Grenzen des Gedächtnisses" versuchte Halbwachs diese „soziologische" These in der Lehre vom Gedächtnis zu realisieren. Er behauptet, unsere Erinnerungen seien eigentlich keine Reproduktion, sondern eine Rekonstruktion des Vergangenen auf Grund der kollektiven Erfahrung und der kollektiven Logik. Wenn wir uns an etwas erinnern wollen, gehen wir von Tatsachen und Begriffen aus, die wir mit der sozialen Gruppe gemein haben, zu der wir gehören, und rekonstruieren, was wir getan oder gesehen haben, wobei wir auf Grund von Begrenzungen operieren, die wir dem sozialen Leben entnommen haben. Erinnerungen sind Vorstellungen, sind reproduzierte Abbilder, die auf einen bestimmten Moment in der Geschichte unseres bisherigen Lebens bezogen, also zeitlich eingeordnet werden. Diese Einordnung unserer Erinnerungen, die sie überhaupt erst zu Erinnerungen im vollen Sinne des Wortes macht, setzt ein Zeitschema sozialen Ursprungs voraus. Die subjektive Einordnung unserer Erinnerungen stützt sich auf die objektive Ordnung des sozialen Lebens des Kollektivs, zu dem wir gehören. Wir rekonstruieren unsere Erinnerungen, indem wir von Fakten des sozialen Lebens ausgehen, an dem wir teilgenommen haben, wobei wir zur zeitlichen Einordnung die Zeitschemata benutzen, die uns das historische Leben liefert, und uns von jeder objektiven Logik leiten lassen, die die Folge der Ereignisse infolge der objektiven Ordnung des Lebens in der Schule, im Beruf usw. festlegt. Die allgemeine These von den sozialen Wurzeln und Voraussetzungen der Gedächtnisfunktion, die die Erinnerungen an unsere Vergangenheit rekonstruiert, birgt zweifellos ein Körnchen Wahrheit. Bei alledem macht Halbwachs aber zweifellos einen Fehler, wenn er den Erinnerungsprozeß völlig auf die durch soziale Gegebenheiten und Schemata vermittelte Rekonstruktion unserer Vergangenheit reduziert, insofern er dabei sämtliche Grenzen zwischen Erinnerungen an unsere persönliche Vergangenheit und der Rekonstruktion der historischen Vergangenheit verwischt, deren Zeuge wir nicht waren. In Wahrheit ist die Erinnerung das Resultat einer engen Verflechtung der mittelbaren Rekonstruktion der Vergangenheit, von der Halbwachs spricht, mit unmittelbar auftauchenden persönlichen Erinnerungen. Bald stellen Dürkheim und seine Schüler das gesellschaftliche Bewußtsein dem individuellen dualistisch gegenüber, bald reduzieren sie das eine auf das andere; einerseits werden Ideologie und Psychologie einander extrem dualistisch gegenübergestellt, voneinander isoliert, und andererseits werden sie miteinander identifiziert. Dualistische Trennung und Identität ersetzen die wahre Einheit und Verschiedenheit von Psychologie und Ideologie. Bei Dürkheim dominiert dabei die Identität, d. h. die Reduzierung des individuellen auf das gesellschaftliche Bewußtsein. Speziell wird von ihm die Untersuchung der höheren intellektuellen Funktionen restlos der Soziologie zugewiesen und aus dem Bereich der Individualpsychologie eliminiert. Blondel, der sich zwar grundsätzlich im Bereich der soziologischen Konzeption Dürkheims hielt, unternahm aber doch einen instruktiven Versuch, die Spezifik des individuellen Bewußtseins zu berücksichtigen. Seine allgemeine Konzeption läuft im Grunde 178

M. Halbwachs,

Les cadres sociaux de la mémoire. Paris 1925.

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Geschichte

auf folgendes hinaus. Er hält sich zunächst im allgemeinen an August Comte und unterscheidet infolgedessen die „Psychophysiologie" oder physiologische Psychologie von der Psychosoziologie oder Kollektivpsychologie, der er das Primat zuerkennt. Freilich beschränkt er sich nicht darauf, sondern stellt als Grundthese den Satz auf, es gebe noch eine dritte Psychologie, die Comte nicht berücksichtigt und Dürkheim nicht gesehen habe, nämlich die Individualpsychologie, die von den beiden ersten abhänge, aber über sie hinausgehe. Unter dem Aspekt Blondeis verteilt sich die Psychologie der Wahrnehmung, des Gedächtnisses, des Willens, der intellektuellen und affektiven Funktionen, kurz, die Untersuchung jeder beliebigen psychischen Erscheinung, auf drei Disziplinen, nämlich auf die Kollektivpsychologie, auf die „spezifische" Psychologie, also auf die physiologische Psychologie, die diejenigen Züge der psychischen Erscheinungen untersucht, die dem ganzen Menschengeschlecht gemein sind, und auf die Individualpsychologie. Auf diese drei Disziplinen verteilt sich vor allem die Wahrnehmungspsychologie. 179 Die Untersuchung der Wahrnehmung muß nach Blondel im Bereich der „Kollektivpsychologie" beginnen; diese hat an der Wahrnehmung festzustellen und auszugliedern, was sich daran von Epoche zu Epoche mit der Entwicklung der Kollektive und der Zivilisation verändert; der invariante Rest, der von der historischen Entwicklung unabhängig ist, soll seinerseits in zwei Komponenten aufgegliedert werden: eine, die durch die allen Menschen gemeinsamen physiologischen Eigenschaften bedingt ist, und eine zweite, die durch die differentiellen psychologischen Besonderheiten des Individuums bestimmt wird. Die „genetische", d. h. generalisierte Wahrnehmung oder, genauer, dieser Aspekt bzw. diese Komponente der Wahrnehmung gehört, insofern sie sich im Begriff, im Wort äußert (die Wahrnehmung des Menschen, des Buches, des Tisches usw.), zur Kollektivpsychologie. Die nicht gattungsmäßige Wahrnehmung, also nicht die des Menschen oder Buches schlechthin, sondern die individualisierte Wahrnehmung dieses bestimmten individuellen Menschen oder dieses bestimmten Buches, d. h. die Wahrnehmung hinsichtlich dieser individualisierten Komponente bzw. dieses individualisierten Aspektes, verlangt die Berücksichtigung der individuellen Erfahrung und der individuellen Entwicklung des wahrnehmenden Subjekts; deshalb gehört sie zum Bereich der Individualpsychologie. Schließlich ist die Wahrnehmung im Hinblick auf ihre durch die Sinnesorgane bestimmten sensorischen Qualitäten und im Hinblick auf ihre Form das allen Menschen gemeinsame, durch die physiologische Organisation des Menschen bedingte Gattungsobjekt der physiologischen Psychologie. Somit wird die einheitliche Wahrnehmung in eine Reihe äußerlich überlagerter Schichten aufgegliedert, die jeweils von einer anderen Disziplin untersucht werden. Ganz genauso werden auch das Gedächtnis, die Affekte und der Wille behandelt. „Die Untersuchung des Gedächtnisses", schreibt Blondel, „muß zwischen der kollektiven, der physiologischen und der differentiellen Psychologie aufgeteilt werden." Analoges gilt auch für die Emotionen und Gefühle: „Die Kollektivpsychologie antizipiert sowohl die différentielle als auch die spezifische (physiologische - S. R.) Psychologie." Comte rechnete die Affektivität ausschließlich zum Bereich des Individuellen, Intellekt und Wille dagegen ausschließlich zum Bereich des Kollektiven. Blondel lehnt es ab, ,7!l

Ch. Blondel,

Introduction à la psychologie collective. Deuxième partie, Ch. I, Paris 1928.

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einen solchen Schnitt durch die menschliche Psychologie zu legen, um das Individuelle vom Kollektiven zu trennen, vollführt aber dafür einen anderen Schnitt, der durch sämtliche Funktionen geht. Die Unzulässigkeit der dualistischen Trennung von Individuellem und Sozialem, wobei das eine jeweils außerhalb des anderen steht, zeigt sich besonders markant in der Willenskonzeption. Mit dem Problem des Willens befaßt sich Blondel in einer speziellen Arbeit. 1 8 0 Der Wille bedeutet nach Blondel die Befreiung des Individuums von der biologischen bzw. organischen und den Übergang zur sozialen Determiniertheit. „Das Bewußtsein hängt also gleichsam zwischen dem organischen und dem sozialen Leben." Dabei stellt er sich das soziale Leben so vor, daß es außerhalb der organischen Grundlagen des individuellen Lebens zu sehen ist. Daraus folgt: „Unter diesem Aspekt hört der Reflex auf, das eine Ende einer Reihe zu sein, an deren anderem Ende der Willensakt zu finden wäre." Zwischen der Willenshandlung und der reflektorischen Bewegung wird jeglicher genetischer Zusammenhang idealistisch zerstört — sie gehören zu verschiedenen Bereichen. Die soziale Natur des Willensaktes bedeutet unter diesem Gesichtspunkt seine Isolierung von seinen organischen bzw. biologischen Grundlagen. Und da außerdem die Sozietät als nicht zum Individuum gehörig gedacht wird, verwandelt sich die soziale Determiniertheit des Willensaktes in eine Unterordnung unter die äußere Notwendigkeit oder unter einen äußeren Zwang, der jedoch nicht den Bedingungen des natürlichen Lebens entspringt, sondern denen des sozialen, sie wird zum „Gehorsam" (obéissance). Das Wesen des Willens und seine Genese bestehen für Blondel in der Ablösung der Naturnotwendigkeit des natürlichen Lebens durch eine Notwendigkeit anderer Art, nämlich durch den sozialen Zwang. „Für die überwiegende Mehrzahl der Menschen ist der Wille passiver Gehorsam gegenüber kollektiven Imperativen." Kaum hat Blondel aber den Willen des Individuums zur Unterordnung unter den sozialen Zwang gemacht, da schränkt er seine These auch schon ein, indem er ganz unverhüllt einen Unterschied zwischen der „Masse" und der „Elite" (l'élite) macht. Nach der Definition Blondels ist die Masse jener riesige Menschenhaufe, der „einen fertig zubereiteten Willen braucht", es sind „in gewissem Sinne Bienen eines Stockes; sie wandeln vom Leben zum Tod auf dunklen Pfaden, die die Gesellschaft ihnen vorgezeichnet hat, wobei sie einem Willen folgen, dessen persönlicher Charakter kaum ausgeprägt und der nur das Echo kollektiver Imperative ist, gewissermaßen eine soziale Anpassung, in der sich weniger Überlegung als vielmehr Disziplin findet." Daher ist auch „der Wille der Menschen proportional der Anzahl und Intensität ihrer Vorurteile". Nachdem Blondel freilich seine ganze Konzeption im Hinblick auf den „Bienenstock", auf die Masse, auf den Menschenhaufen entwickelt hat, ist ihm nicht recht wohl bei dem Gedanken, man könnte diese Konzeption auch auf ihn und seinesgleichen anwenden. E r scheidet davon also die „Elite": Für sie gelten die allgemeinen Gesetze nicht. Sie hat einen Willen, der nicht auf Gehorsam hinausläuft. Der Versuch, die Absorption des individuellen Bewußtseins durch das gesellschaftliche Bewußtsein zu vermeiden, veranlaßte Blondel zu eigenartigen Schlußfolgerungen 180

181

Ch. Blondel, Les voûtions. „Traité de psychologie" par G. Dumas, v. II, 1923, pp. 333 bis 425. Ebenda, S. 391.

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Geschichte

hinsichtlich der Natur des Bewußtseins und seiner Beziehung zum Psychischen. Das gesellschaftliche Leben bedingt die Organisation des Denkens in Begriffen, ohne die eine objektive Erkenntnis unmöglich wäre, ebenso wie die Organisation unseres Verhaltens. Gleichzeitig „nimmt es gewisse Abstriche am individuellen Bewußtsein vor". 1 8 2 „Um sich in die kollektiven Schemata einzufügen, müssen die diskursiven oder motorischen Begriffe, Bewußtseinszustände, die für alle bedeutsam sind, offensichtlich zwangsläufig etwas von dem verlieren, was ihre ursprüngliche Individualität (individualité originale) ausmachte . . . Ein seelischer Zustand, der in spezialisierten affektivmotorischen Reaktionen objektiviert und sprachlich ausgedrückt wurde, ist gleich dem entsprechenden individuellen Zustand minus das, was seine wesentliche Individualität a u s m a c h t . . . Unter dem Einfluß dieses beständigen kollektiven Drucks (von mir hervorgehoben — S. R.), der besonders in der Form des Sprechens spürbar ist, wurde dieses Eliminieren des Individuellen zur unmittelbaren, spontanen und natürlichen Reaktion der bewußten Tätigkeit." 1 8 3 Ebenso wie bei Freud ist auch bei Blondel der grundlegende Bewußtseinsmechanismus die Verdrängung; durch das sozialisierte Bewußtsein wird der ganze wahrhaft individuelle Inhalt unserer Psyche verdrängt. „Daraus ergibt sich", so schließt Blondel, „der folgende unter rein psychologischem Aspekt paradoxe Schluß : Unser bewußtes Leben verläuft also so, daß wir uns über das wahre Wesen unseres individuellen Psychismus (psychisme) irren und uns dort suchen, wo wir nicht sind." Aber „je mehr unser ,Ich' sich über sich selbst klar werden und seine seelischen Zustände bewußt erfassen will, je mehr es sich solcherart regelt, um so mehr verliert es seine individuellen, exklusiven Züge und um so mehr geht es in eine Summe von konzeptualisierten, universalisierten und folglich depersonalisierten Elementen über. Es ist eine massive Täuschung des Bewußtseins, sich einzubilden, es beherrsche sich vollständig, wenn es sich in Begriffe aufgegliedert und mit einer diskursiven Form verdeckt hat" Unter Hinweis auf Bergson legt Blondel dann die praktische Bedeutung dieser „Täuschung" für die Belange des sozialen Lebens dar und fährt, ganz im Sinne Bergsons, fort: „Aber unter spekulativem Aspekt war und ist sie verhängnisvoll, insofern sie auch der Psychologie aufgezwungen wurde und so dazu führte, daß die Psychologie die seelischen Zustände in dem Stadium zum Gegenstand ihrer Untersuchungen machte, in dem die individuelle Psyche ihre Ursprünglichkeit und Reinheit ganz oder zum Teil verloren hat; auf diese Weise wurde die Psychologie von ihrer eigentlichen Aufgabe abgelenkt." 1 8 5 Das „normale Bewußtsein" ist im Gegensatz zum pathologischen sozialisiertes Bewußtsein. Die „Sozialisierung" des Bewußtseins stellt man sich als „Reduktion" vor, die das Resultat einer „Eliminierung" der individuellen psychologischen Momente der reinen Psyche und ihres Übergangs in den Bereich des Unbewußten ist. Das „pathologische Bewußtsein" (la conscience morbide) wird als Bewußtsein dargestellt, das nicht der Sozialisierung unterliegt, weil die „reine Psyche" (la psychologique pure) in ihm nicht verschwindet und nicht mehr ins Unbewußte übergeht, weil also der Widerhall der individuellen psychischen Zustände vollständig erhalten bleibt. Bewußtsein und IK

- Ch. Blondel, La conscience morbide. Essai de psychologie générale. Paris 1928, p. 266185 Ebenda, S. 267. Ebenda, S. 268. Ebenda, S. 269.

183

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269

„reine" Psyche, die das eigentliche Objekt der Psychologie sein soll, werden einander gegenübergestellt. Das sozialisierte Bewußtsein verdeckt und verfälscht nach Blondel nur das innere Wesen der Tiefenperson, die in ihrer natürlichen Individualität nicht von der Sozietät berührt wird. Die „soziologische" Konzeption Blondels berührt sich also aufs engste teils mit den Ideen Freuds, teils mit denen Bergsons, die ihrerseits mit der soziologischen Konzeption Dürkheims verknüpft werden. Die im Prinzip unzulässige Identifizierung des sozialisierten Bewußtseins des gesellschaftlichen Individuums mit dem gesellschaftlichen Bewußtsein, mit den „Kollektivvorstellungen", also mit der Ideologie, führt zwangsläufig dahin, daß die individuelle „reine" Psyche aus dem Bewußtsein „eliminiert" und auf das Unbewußte oder Unterbewußte „reduziert" werden muß. Die Verschmelzung der „soziologischen" Ideen Dürkheims mit den Ideen Bergsons und Freuds in der Psychologie hat ihre innere Logik. Die aus dieser Verschmelzung resultierende Konzeption fand lebhaften Widerhall und beträchtliche Verbreitung in der französischen Psychologie. Anklänge an diese Ideen sind ganz deutlich in den führenden Artikeln der grundlegenden französischen Zeitschrift „Nouveau Traité de Psychologie" zu spüren, die von Dumas unter Beteiligung der größten Psychologen Frankreichs herausgeben wird. So geht etwa Wallon186 davon aus, daß das ganze System den Vorstellungen, vermittels derer das Bewußtsein das formt, was es in seinen Prozessen bewußt erfaßt, vom Individuum dem Kollektiv entlehnt wird, zu dem es gehört; deshalb ist das Bewußtsein auch außerstande, das eigentlich Intime und Persönliche an diesen Vorstellungen zu erfassen. Darauf gestützt, behauptet er unter Verweis auf Blondel: „Das Zeugnis des Bewußtseins kann vom Psychologen nicht als adäquater Ausdruck der psychischen Realität anerkannt werden. 1 8 7 Der Bereich der Psychologie deckt sich also keineswegs mit dem Bewußtsein, vielmehr bleibt er allem verschlossen, was am Bewußtseinsinhalt nicht individuellen Ursprungs ist." Insofern das sozialisierte Bewußtsein des Menschen auf der Eliminierung alles Individuellen und seiner Reduktion auf das Unterbewußte beruht, muß das eigentliche Objekt der Psychologie, die die Psyche des Individuums untersucht, nach der Konzeption dieses Artikels von Walion durch Eliminierung des Bewußtseins wiederhergestellt werden. U m zum eigentlichen Wesen des Menschen vorzudringen, muß die Psychologie ihn aus den sozialen Beziehungen herauslösen und alles eliminieren, was sozialen Ursprungs ist. Auf der Grundlage der äußerlichen Gegenüberstellung von Individuellem und Sozialem ist dieser Schluß unausweichlich: Entweder wird die Psyche des Individuums mit dem gesellschaftlichen Bewußtsein, mit der Ideologie identifiziert, oder sie wird aus dem Bewußtsein eliminiert und in den Bereich des Unter- und Unbewußten verwiesen, oder genauer, das Bewußtsein des Individuums wird auf das gesellschaftliche Bewußtsein, auf die Ideologie reduziert, und damit wird seine Psyche aus seinem Bewußtsein als aus etwas Fremdem (étranger) eliminiert. Die Einwirkung der Sozietät auf das Bewußtsein des Individuums wird zu dem Zweck berücksichtigt, das eliminieren zu ls(i

187

H. Wallon, Du problème biologique de la conscience. „Nouveau Traité de Psychologie" par G. Dumas, vol. I, Paris 1930. Ebenda, S. 329. (In der Folgezeit hat Wallon eine bemerkenswerte Entwicklung durchgemacht und steht heute auf der Position des dialektischen Materialismus.)

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Geschichte

können, was auf das Konto der Gesellschaft kommt. Die prinzipielle Unhaltbarkeit einer solchen Konzeption ist für uns offenkundig. Sehr lehrreich ist der Versuch Blondels, den jeweiligen Anteil des Sozialen und des Individuellen bei der Abhandlung der intellektuellen Funktionen abzugrenzen. Bei Dürkheim, schafft die Gesellschaft die Begriffe, den Inhalt der Gedanken und die Grenzen des Denkens sowie die allgemeinen Prinzipien oder Kategorien der Erkenntnis; die Gesellschaft schafft auch alle intellektuellen Funktionen, wie Klassifikation, Abstraktion, Generalisierung usw. Blondel wendet sich gegen diese „Sozialisierung des Intellekts", wonach alle Kategorien hinsichtlich ihres eigentlichen Inhalts nichts anderes sind als ein auch auf alle Naturerscheinungen übertragbarer, verallgemeinerter Ausdruck des sozialen Lebens, der sozialen Beziehungen. Insofern die religiöse Ideologie eines Volkes der ursprüngliche und primitive Ausdruck des sozialen Lebens ist, nimmt Dürkheim, an, die Wissenschaft sei aus der Religion entstanden. In dieser Auffassung von der Genealogie der wissenschaftlichen Kenntnisse zeigt sich — von allem anderen ganz abgesehen — deutlich, wie wenig in der soziologischen Konzeption der intellektuellen Funktionen die Objektivität und Adäquatheit der wissenschaftlichen Kenntnisse berücksichtigt wird. Der offenkundige Subjektivismus dieser Konzeption dient auch als Ansatzpunkt für die kritischen Einwände Blondels. „Wie kann", so fragt er, „eine inadäquate Vorstellung von der Gesellschaft, wenn man sie auf die Welt ausdehnt, durch Verallgemeinerung ihres objektiv illusionären Inhalts eine exakte Kenntnis von der Welt vermitteln, die geeignet ist, unser Handeln wirksam zu orientieren und real auf die Dinge angewandt zu werden?" Im Zusammenhang damit meint Blondel — und das ist der Kernpunkt seiner Einwände gegen Dürkheim — : „Dürkheim vernachlässigt vorsätzlich und absichtlich ein ganzes Gebiet der intellektuellen Tätigkeit der Primitiven, eine für sie zweifellos fundamentale Tätigkeit, da sie für sie lebensnotwendig ist", nämlich die Arbeit, die Technik. Die praktische, ökonomische Seite des Lebens existiert neben der kultischen. „Weshalb soll man denn das ganze Verdienst an der Entwicklung des menschlichen Intellekts nur der letzteren zuschreiben und sich nicht auch fragen, ob nicht auch die erstere eine gewisse Rolle spiele? Denn schließlich sind ja letzten Endes Ackerbau, Jagd und Fischfang Akte, die den Kontakt mit der Realität herstellen, dabei die Neugierde wecken und so die Möglichkeit bieten können, die Realität zu erkennen . . . Es gibt", so sagt Blondel, „jene Form des technischen und produktiven (technicienne et fabricante) Intellekts, der ausschließlich auf die Materie angewandt wird und von seiner Herkunft her aus der Einwirkung des sozialen Milieus ausgeschlossen ist." Er fügt hinzu, diese Form des Intellekts habe wesentliche Bedeutung, da die objektive wissenschaftliche Erkenntnis allem Anschein nach zumindest teilweise ihre Entstehung dieser Form des Intellekts zu danken habe. Blondel stellt also scheinbar die richtige These vom Anteil der produktiven Arbeit an der Ausbildung des Intellekts auf. Kennzeichnend für das Wesen seiner „Kollektivpsychologie" ist aber, daß die Anerkennung eines Intellekts, der mit der produktiven Arbeit zusammenhängt, mit der Realität in Kontakt steht und ihre objektive Erkenntnis vermittelt, nach der Meinung Blondels voraussetzt, daß diese Form des Intellekts aus dem Einflußbereich des Sozialen ausgeschlossen ist. Bei dem Versuch, diese These

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historisch zu konkretisieren und zu begründen, stellt er folgende Überlegungen an. Die Geschichte bezeugt anscheinend, daß das Leben der australischen Völker beispielsweise zwei Phasen durchläuft: Zeitweilig versammelt sich die Bevölkerung und vollzieht dann religiöse, kultische Zeremonien, zeitweilig zerstreut sie sich und läuft nach verschiedenen Seiten auseinander, um sich mit Jagd, Fischfang usw. zu befassen. Blondel sagt nun, daß nach der Konzeption Dürkheims die intellektuelle Tätigkeit eines Stammes oder einer Klasse ihren höchsten Stand in den ersten Phasen erreichen müßte, wenn die Menschen sich versammelt haben und besonders intensiv sozial leben; in diesen Perioden müßten im Schoß des Kollektivs die ersten Begriffe aufgekeimt sein, die die Menschen sich von sich selbst und von der Natur gebildet haben, also die ersten Keime lichsten Anteil an der Genese des Intellekts die Perioden des aktiven Kontakts mit der Realität haben, wenn das soziale Leben gleichsam in Vergessenheit gerät und das Individuum zu seiner Isoliertheit zurückkehrt. Hierbei ist folgendes bezeichnend: Wenn er in die Genese des Intellekts den aktiven Kontakt mit der Realität einführt, dann wird dieser Kontakt bei ihm sogar in zeitlichei Hinsicht dem Kontakt mit dem sozialen Milieu gegenübergestellt. Das ist ein neuerliches Zeichen für die Fehlerhaftigkeit dieser „soziologischen" Konzeption. In Zusammenhang mit diesen Darlegungen Blondels trat Halbwachs, der den Standpunkts Dürkheims vertritt, in eine lehrreiche Polemik mit Blondel.188 Er weist nach, daß Blondel den Anteil der Sozietät unzulässig einengt : „Keinerlei Kontakt des von der Gesellschaft abgeschnittenen Individuums mit der Natur vermittelt irgendwelche wissenschaftliche Erkenntnis. Jegliche wissenschaftliche Erkenntnis außerhalb der Gesellschaft ist unmöglich. Es gibt keinen Wissenschaftler, der irgend etwas Wesentliches entdeckt hätte, ohne sich nicht zunächst einen beträchtlichen Teil der wissenschaftlichen Kenntnis zu eigen gemacht zu haben, die die Gesellschaft gesammelt hat. Nicht der Kontakt mit der Natur, sondern die Gesellschaft, im Zusammenhang mit den neuen Kontakten, die sich bei ihren Mitgliedern mit der Natur herausbilden, erweitert, begrenzt, korrigiert und modifiziert wissenschaftliche Erkenntnisse." In diesem Streit Dürkheim-Halbwachs-Blondel stellt jeder einen richtigen Satz auf, um damit eine falsche These zu bemänteln. Der Anteil der produktiven Tätigkeit und des Kontakts mit der Realität an der Genese des Bewußtseins ist unstrittig, rundweg falsch ist aber, daß, wie Blondel annimmt, die Erkenntnis vom aus der Gesellschaft ausgeschlossenen, isolierten Individuum erzeugt werde, wie auch, daß sie außerhalb der gesellschaftlichen Vermittlung vor sich gehe. Zweifellos wird der Kontakt mit der Natur, der zur wissenschaftlichen Erkenntnis führt, von der Gesellschaft vermittelt, so daß außerhalb der Gesellschaft die Erkenntnis wie auch die Entwicklung der intellektuellen Funktionen unmöglich ist. Rundweg falsch ist aber, daß, wie Dürkheim und Halbwachs behaupten, die Kategorien der Erkenntnis nur durch den gesellschaftlichen Kontakt erzeugt werden, daß die Kategorien hinsichtlich ihres Inhalts primär lediglich Beziehungen zwischen den Gliedern der Gesellschaft widerspiegeln und erst dann auf die N a t u r übertragen werden. 188

M. Halbwachs,

La psychologie collective d'après C. Blondel, Revue philosophique de la

France et de l'etranger. 1929, Nr. 5 - 6 .

272

Geschichte

Der Ausweglosigkeit dieses prinzipieller Klarheit entbehrenden Streites liegt auf beiden Seiten eine falsche Alternative zugrunde: Entweder beruht die wissenschaftliche Erkenntnis auf dem Kontakt des Individuums mit der Realität, außerhalb der Gesellschaft, oder sie erfolgt durch sozialen Kontakt unabhängig vom Kontakt mit der Realität. Im einen wie im anderen Falle wird fälschlich angenommen, Kontakt mit der Natur und Kontakt mit der Gesellschaft seien unvereinbar. Der ganze Streit erledigt sich von selbst, wenn man sich nur über die fundamentale These klar ist, daß die Beziehung zur Natur beim Menschen durch seine gesellschaftlichen Beziehungen zu anderen Menschen vermittelt wird, während seine gesellschaftlichen Beziehungen zu anderen Menschen über seine Beziehungen zur gegenständlichen Welt der Natur realisiert werden. Unter genetischem Aspekt fanden die Ideen der französischen soziologischen Schule erheblichen Widerhall in den Arbeiten von Levy-Brühl über die Primitivpsyche und von Piaget über das Denken des Kindes. Bei seiner Untersuchung des primitiven Denkens ging Levy-Brühl189 im Prinzip von der Konzeption Dürkheims aus, nahm aber gewisse Veränderungen d a r a n vor. Von Dürkheim entlehnte Levy-Brühl vor allem den Begriff der „Kollektivvorstellungen", auf die er seine ganze Untersuchung des primitiven Denkens konzentriert. Während jedoch Dürkheim als Träger der Kollektivvorstellungen ein kollektives Subjekt postuliert, dessen Bewußtsein sich über dem Bewußtsein der individuellen Subjekte aufbaut, lehnt Levy-Brühl diese metaphysische Hypothese ab. Die Kollektivvorstellungen sind bei ihm nicht die Vorstellungen eines Kollektivsubjekts, sondern Vorstellungen eines Individuums, die vom Kollektiv festgelegt worden sind. Aber ebenso wie bei Dürkheim sind auch bei Levy-Brühl die „Kollektivvorstellungen" die Ideologie, der Inhalt des „gesellschaftlichen Bewußtseins". Die mit der Ablehnung des metaphysischen Kollektivsubjekts zusammenhängende Verlagerung der Kollektivvorstellungen ins individuelle Bewußtsein bedeutet im Grunde, eine mechanische Identität zwischen dem Inhalt des gesellschaftlichen und dem des individuellen Bewußtseins herzustellen; sie bedeutet die Reduzierung der Psychologie auf die Ideologie oder der Ideologie auf die Psychologie. Andererseits reduziert Levy-Brühl ebenso wie Dürkheim auch die Sozietät auf die Ideologie. Er erklärt rundheraus: „Die Institutionen und Sitten sind im Grunde nichts anderes als ein bestimmter Aspekt oder eine Form der Kollektivvorstellungen." Die These von der sozialhistorischen Bedingtheit des Bewußtseins bedeutet bei LevyBrühl also faktisch die Reduzierung der Psychologie auf die Ideologie. Die religiöse Ideologie „primitiver" Völker wählt Levy-Brühl auch als Material f ü r seine Untersuchung des Denkens. Und eben deshalb, weil er das Denken „primitiver" Völker in ihrer Ideologie untersuchte und nicht in den Operationen ihres realen Denkens, das mit ihrer Arbeitspraxis verknüpft ist, k a m er auch zu dem Schluß, das ganze Denken des „primitiven" Menschen sei prälogisch und mystisch, f ü r die Erf a h r u n g undurchdringlich und unempfindlich gegen Widersprüche, d. h., es gebe bei ihnen eigentlich überhaupt kein richtiges Denken, das die objektive Realität irgendwie adäquat widerspiegelt. 109

L. Levy-Brühl, Les fonctions mentales dans les sociétés inférieures. Paris 1910; La mentalité primitive. Paris 1922; L'âme primitive. Paris 1927; Le Surnaturel et la Nature dans la mentalité primitive. La Mythologie primitive. Paris 1927.

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273

Levy-Briihl kommt freilich nicht umhin, zuzugeben, daß der „primitive" Mensch, dessen Denken er als undurchdringlich für die Erfahrung und als unempfindlich für Widersprüche charakterisiert, dennoch durchaus fähig ist, Widersprüche zu vermeiden, wenn es das Handeln erfordert. Beiläufig erkennt er auch die unzweifelhafte Fähigkeit des „primitiven" Menschen an, bei seiner Arbeit auf Grund der Erfahrung sehr geschickt die ursächlichen Abhängigkeiten zwischen den Erscheinungen zu berücksichtigen. Aber alle diese Erscheinungsformen des Intellekts bei der Arbeit des Menschen in Frühstadien der gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklung führt Levy-Brühl ausschließlich auf Spürsinn, auf Intuition und Fertigkeiten, im Prinzip auf Instinkte, zurück. Indem Levy-Brühl den intellektuellen Charakter der Arbeitsoperationen des „primitiven" Menschen leugnet und ihm nicht einmal die Existenz elementarer Formen des eigentlichen Intellekts zubilligt, schließt er im Grunde seinen „primitiven" Menschen - und sei es auch nur im Anfangsstadium — aus der Geschichte der geistigen Entwicklung der Menschheit aus. Damit macht er die Völker, die sich in Frühstadien der sozialhistorischen und kulturellen Entwicklung befinden, im Verhältnis zu gesellschaftlich und kulturell hochentwickelten Völkern gleichsam zu einer besonderen Rasse, wenn sie auch Vertreter verschiedener Nationalitäten umfaßt. Darin liegt das reaktionäre politische Wesen der Lehre Levy-Brühls. Wenn Levy-Brühl die qualitativen Unterschiede „der Primitivformen des Bewußtseins des primitiven Menschen" darstellt, worunter er ohne exakte historische Differenzierung die Vertreter verschiedener gesellschaftlicher Frühformationen versteht, dann macht er aus diesen Unterschieden einen äußeren Gegensatz zweier heterogener, einander konträrer Strukturen. Dabei berücksichtigt er überhaupt nicht, daß die älteren Formen des Bewußtseins im Verlauf der historischen Entwicklung zugleich auch die Vorbereitungsstadien für die Entwicklung der nächsten Stadien waren. Dürkheim gibt ebensowenig wie Levy-Brühl zu, daß „iin Laufe der Geschichte verschiedene Bewußtseinstypen (types de mentalité) aufeinander gefolgt sind". Aber er opponiert dagegen, daß „Levy-Brühl in dem Bestreben, vor allem dieses (primitive — S. R.) Bewußtsein (mentalité) von unserem abzugrenzen, die Unterschiede manchmal bis zur direkten Antithese treibt. Das primitive religiöse Denken einerseits und das moderne wissenschaftliche Denken andererseits werden einander gegenübergestellt, als wären es zwei Gegenpole: Hier die schrankenlose Herrschaft des Prinzips der Identität und die Macht der Erfahrung und dort so gut wie vollständige Gleichgültigkeit gegenüber dem experimentellen Beweis (gegenüber empirischen Gegebenheiten) und dem Widerspruch. Wir dagegen", so schreibt Dürkheim, „glauben, daß diese beiden Formen des menschlichen Bewußtseins, so verschieden sie auch sein mögen, nicht nur nicht aus zwei verschiedenen Quellen entspringen, sondern vielmehr eine aus der anderen hervorgegangen und zwei Momente einer einheitliche Entwicklung sind. Wir haben festgestellt, daß die Grundbegriffe des menschlichen Verstandes, die Begriffe der Zeit, des Raumes, der Gattung und Art, der Kraft und Kausalität, der Persönlichkeit, kurz, alle die Begriffe, denen die Philosophen die Benennung Kategorien gegeben haben und die über das ganze logische Leben herrschen, im Schöße der Religion entstanden sind. Die Wissenschaft hat sie von der Religion übernommen. Zwischen diesen beiden Stadien des i 8 Prinzipien und Wege

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Geschichte

intellektuellen Lebens der Menschheit findet sich nirgendwo eine Unterbrechung der Kontinuität. „Wenn", so fährt Dürkheim fort, „das menschliche Bewußtsein sich mit dem Wechsel der Zeiten und der Gesellschaftsordnung verändert, wenn es sich entwickelt hat, dann sind dabei die verschiedenen aufeinander folgenden Typen auseinander hervorgegangen. Die höchsten und spätesten Formen sind kein Gegensatz zu den primitivsten und niedersten Formen, sondern gehen aus ihnen hervor." Im Gegensatz zu Levy-Briihl, der faktisch jegliche Kontinuität in der geistigen Entwicklung der Menschheit beseitigte, verteidigt Dürkheim, diese Kontinuität. Die Grundthese von der sozialen Genese des wissenschaftlichen Denkens wird bei ihm zu der Behauptung, die Wurzeln und Quellen der Wissenschaft lägen in der Religion. Die Religion ist für Dürkheim die primäre soziale Erscheinung; das wissenschaftliche Denken ist deshalb sozial, weil es im Schoß der Religion entsteht und aus ihr hervorgeht. Indem Dürkheim betont, das ideologische religiöse Denken stelle sich das Ziel, eine Erklärung der Welt zu liefern, gibt er das theoretische Denken bzw. die Wissenschaft für die direkte Fortsetzung des ideologischen Denkens der Religion aus. Zweifellos ist die Position Levy-Brühls unhaltbar, der seinem „primitiven" Menschen einerseits sogar die Existenz elementarer intellektueller Operationen abspricht, die die objektiven Bedingungen der konkreten Situation berücksichtigen, ihm andererseits aber die Existenz einer Ideologie zuerkennt, die sogar die Kosmologie umfaßt, also den Versuch, die Welt zu erklären. Nicht weniger falsch ist natürlich auch die ausgesprochen reaktionäre Konzeption Dürkheims, die die Genealogie des theoretischen Denkens der Wissenschaft in einer geraden, ununterbrochenen Linie vom ideologischen Denken der Religion herleitet. In einem Artikel über diesen Streit zwischen Levy-Brühl und Dürkheim versuchte Piaget 19 °, die entstandene Kollision durch das Unterscheiden von Funktion und Struktur zu bereinigen. „Die Funktion", schreibt Piagel, „kann in allen Stadien der Evolution gleich bleiben, während sich die Struktur oder das Organ verändert. Alle Lebewesen assimilieren beispielsweise. Das ist eine gleichbleibende Funktion, die Grundlage des Lebens. Aber die einen haben einen Magen, die anderen nicht; die Organe bzw. die Struktur der Assimilation variieren unendlich." Vom Standpunkt Piagets aus hat sowohl Dürkheim als auch Levy-Brühl recht, wenn man zugibt, daß die Behauptung des ersteren hinsichtlich der Kontinuität der geistigen Entwicklung der Menschheit sich auf die Denkfunktionen bezieht, die während der ganzen historischen Entwicklung dieselben bleiben, während sich die Position von Levy-Brühl, der das primitive und das moderne Denken als Gegenpole einander gegenüberstellt, auf die Struktur des Denkens bezieht. Auf diese Weise werden bei Piaget Struktur und Funktion des Denkens auseinandergerissen; die qualitativen Unterschiede, die bis zur Antithese gehen, gelten für das eine, wogegen die Einheit, die so zur Identität wird, für das andere gilt. Indessen muß eine stichhaltige Lösung des Problems der Beziehungen zwischen den aufeinanderfolgenden Etappen der historischen Entwicklung des Bewußtseins offensichtlich darin bestehen, daß die ganze historische Entwicklung des Bewußtseins ein einheitlicher Prozeß ist, ,,JU

J. Piaget,

Logique génétique et sociologie. Revue philosophique. 1928, Nr. 3 - 4 .

Ausländische Psychologie

275

innerhalb dessen sich qualitativ unterschiedliche Stufen abheben; jede vorhergehende Stufe, die der folgenden in ihrer qualitativen Spezifik konträr ist, bildet zugleich auch die vorbereitende Stufe f ü r diese und jede nachfolgende Stufe, die sich ebenfalls qualitativ von der vorhergehenden unterscheidet, jedoch auf der Grundlage der vorhergehenden entsteht. Dabei entwickeln sich Struktur und Funktion immer als Einheit und in wechselseitigem Zusammenhang. Dieselben Überlegungen gelten im Prinzip auch f ü r jene Konzeption der Entwicklung des kindlichen Denkens, die Piaget191 in seinen Früharbeiten entwickelte, und zwar, wie er selbst betonte, unter dem unmittelbaren Einfluß der „Sozialpsychologie" Blondeis und Levy-Brühls. Undurchdringlichkeit f ü r die E r f a h r u n g und Unempfindlichkeit gegenüber Widersprüchen kennzeichnet in gleichem Maße das Denken des Kindes in diesen Arbeiten von Piaget wie das Denken des „primitiven" Menschen bei Levy-Brühl. Hier wie dort ersetzt die „Partizipation" die logischen Prinzipien der Identität und des Widerspruchs. Die Grundsätze Levy-Brühls sind bei Piaget noch mit Elementen einer psychoanalytischen Konzeption durchsetzt. Das egozentrische Denken des Kindes wird in den Früharbeiten Piagets als Zwischenstufe zwischen dem autistischen und dem verstandesmäßigen Denken dargestellt. Während aber das autistische Denken dadurch definiert ist, daß es nicht dem Prinzip der Realität unterliegt, wird das egozentrische Denken in der ursprünglichen Konzeption Piagets in erster Linie dadurch bestimmt, daß es nicht dem Prinzip der Sozialität unterliegt; es ist nicht kommunikabel. Die Elemente der psychoanalytischen Konzeption werden durch die Konzeption der französischen soziologischen Schule überdeckt. Seine erste Untersuchung über das kindliche Denken schließt Piaget mit der B e h a u p t u n g : „Der Tag wird kommen, da man das Denken des Kindes relativ zum Denken des normalen, zivilisierten Erwachsenen auf dieselbe Ebene verlegen wird, auf der sich das von Levy-Brühl dargestellte primitive Denken oder das von Freud und seinen Schülern beschriebene autistische, symbolische Denken befindet." Mit der Absicht, die qualitative Eigenart des kindlichen Denkens aufzuhellen, machte Piaget, ebenso wie Levy-Brühl, aus diesem Unterschied des primitiven, egozentrischen und synkretischen Denkens des Kindes gegenüber dem sozialisierten, reifen Denken einen bloßen Gegensatz zweier Strukturen : Man muß aus der einen herauskommen, um in die andere hineinzugelangen, die mit der ersten nichts zu tun hat. Das nachfolgende und das vorhergehende Stadium wird jeweils durch unterschiedliche, konträre Tendenzen definiert, so daß das eine verdrängt werden muß, damit sich das nächste einstellen kann. Jede echte Entwicklung, die die Entstehung des folgenden Stadiums aus dem vorhergehenden oder auf seiner Grundlage voraussetzt, wird damit ausgeschaltet. Das synkretische Denken des Kindes wird nur als Gegensatz des reifen Denkens dargestellt; es wird nicht etwa als Vorbereitungsstufe aufgefaßt, aus der das reife wissenschaftliche Denken des Erwachsenen heranwächst oder auf deren Grundlage es sich bildet. Entscheidenden Anteil an der Entwicklung des logischen Denkens des Kindes h a t nach Piaget die „Sozialisierung". Ursprünglich ist das Denken des Kindes aber ego191

18*

J. Piaget, Le Langage et la Pensée chez l'Enfant. Neuchätel 1923; Le Jugement et le Raisonnement chez l'Enfant. Neuchätel 1924.

276

Geschichte

zentrisch. Der Egozentrismus ist unmittelbar in der Natur des Kindes angelegt. E r ist ein ursprüngliches biologisches Faktum. Das Kind ist primär kein soziales Wesen. Der Prozeß seiner Sozialisierung vollzieht sich unter dem Druck des sozialen Milieus des Kindes, das es allmählich zwingt, sein Denken dem der Mitmenschen anzupassen und den in seiner Natur liegenden Egozentrismus aus dem Denken zu verdrängen. Dabei werden die sozialen Einflüsse, die „in die psychologische Substanz des Kindes" eindringen, „durch das Lebewesen, das ihnen ausgesetzt ist, deformiert". Dabei läuft die Sozialität in der Konzeption von Piaget im Prinzip auf einen Bewußtseinskontakt hinaus, auf eine Begegnung bzw. eine „Zusammenarbeit" im Bereich des Denkens. 1 9 2 Insgesamt ist die Analyse der „Sozial"psychologie verschiedener Vertreter der französischen soziologischen Schule unserer Meinung nach recht lehrreich. Die Vertreter des idealistischen französischen Soziologismus sind mit dem Problem der Beziehungen zwischen Sozialem und Individuellem in Konflikt geraten, haben es aber nicht bewältigt. Entweder psychologisieren sie das gesellschaftliche Bewußtsein, indem sie es fälschlich als Resultat der Wechselwirkung der einzelnen individuellen Bewußtseine auffassen, oder aber sie stellen den Inhalt des individuellen Bewußtseins einfach als Projektion des objektiven Inhalts der Kollektivvorstellungen, der Ideologie bzw. der Begriffe in die Psyche des Menschen dar, wie sie sich in der sozial-historischen Entwicklung herausgebildet haben. Größtenteils treten beide Standpunkte gekoppelt a u f : Einerseits psychologisiert man den Inhalt des gesellschaftlichen Bewußtseins, das System der Ideen, die sich im Laufe der historischen Entwicklung herausgebildet haben, indem man sie aus der Kommunikation, aus dem Kontakt der individuellen Bewußtseine untereinander ableitet, und gleichzeitig macht man andererseits das Bewußtsein des Individuums zu einer Projektion des gesellschaftlichen Bewußtseins. Dieser irrigen Vorstellung von den Beziehungen zwischen individuellem und gesellschaftlichem Bewußtsein liegt die falsche, idealistische Vorstellung von den Beziehungen zwischen Bewußtsein und Sein zugrunde. Wenn man das gesellschaftliche Bewußtsein, die in der Sprache bzw. in der Wissenschaft fixierten Ideen und Begriffe, als Produkte der Wechselwirkung der individuellen Bewußtseine ansieht, dann berücksichtigt man nicht, daß in Wirklichkeit der objektive Inhalt der Sprache bzw. der Wissenschaft durch das gesellschaftliche Sein, durch die gesellschaftliche Praxis bestimmt wird. Wenn man das individuelle Bewußtsein einfach als Projektion des ideellen Inhalts des gesellschaftlichen Bewußtseins betrachtet, dann liegt dieser Vorstellung wiederum eine Trennung des Bewußtseins des Individuums von seinem eigenen materiellen Sein, von seinem realen Lebensprozeß zugrunde. Das Leben des Individuums bestimmt seine Beziehung zu den gesellschaftlichen Ideen, die aus dem Lauf der historischen Entwicklung entsprungen und in der jeweiligen Gesellschaft herrschend geworden sind. Welche Ideen ein Mensch tatsächlich akzeptiert und wie er sie aufnimmt, hängt vom realen Inhalt 192

Wir wollen uns nicht lange mit der Konzeption Piagets und der Kritik daran aufhalten. Das ist überflüssig, insofern die derzeitigen Arbeiten Piagets in wesentlich anderer Richtung verlaufen.

Ausländische Psychologic

277

seines Lebens ab. Man kann einfach nicht das Sein - das gesellschaftliche und das individuelle - umgehen und darf weder das gesellschaftliche Bewußtsein, die Ideologie, die aus dem gesellschaftlichen Sein entsprungenen Ideen aus dem Kontakt der individuellen Bewußtseine ableiten, noch darf man das Bewußtsein des Individuums, in dem Gesellschaftliches und Persönliches in engster wechselseitiger Durchdringung vorliegen, als einfache Projektion des gesellschaftlichen Bewußtseins, unabhängig vom realen Leben des Individuums darstellen. 1 9 3 c) Uber das sogenannte

„psycho physische

der ausländischen

Philosophie

Problem" und

in der

Geschichte

Psychologie

Im Verlauf der letzten Jahrhunderte figuriert als philosophisches Zentralproblem der Psychologie unausgesetzt das sogenannte „psychophysische Problem". Es handelt sich dabei um das Problem der Beziehungen der psychischen Erscheinungen zu den anderen Erscheinungen der materiellen Welt. In der ersten Entwicklungsperiode der modernen Naturwissenschaft, als diese lediglich die anorganische Natur erfaßte, bot sich die materielle Welt dem philosophischen Denken als physische Welt dar, die man damals auf die mechanische Bewegungsform reduzierte (und bei Descartes sogar nur auf die Ausgedehntheit als Grundeigenschaft der materiellen Welt). Die organische Natur und speziell das höchste Entwicklungsprodukt der organischen Materie - das Gehirn - waren damals noch nicht Gegenstand tiefergehender naturwissenschaftlicher Untersuchungen. Unter diesen Bedingungen liefen der Begriff des Materiellen für die Philosophie auf den Begriff des Physischen und das Problem der Beziehungen zwischen den psychischen Erscheinungen und den anderen Erscheinungen der materiellen Welt auf die Beziehung oder Gegenüberstellung von Psychischem und Physischem hinaus; es wurde zum psychophysischen Problem. Dabei wurde das Psychische, das noch nicht Gegenstand der naturwissenschaftlichen Forschung geworden war, als Geist dargestellt, der auf sich selbst gerichtet sein sollte. Wenn die materielle Welt sich also lediglich in ihren Elementarformen — als anorganische Natur — darbot, das Psychische dagegen in seinen höchsten, kompliziertesten und abgeleiteten Formen - als Selbstbewußtsein - , dann mußte sich zwischen diesen beiden Polen zwangsläufig eine unüberbrückbare Kluft auftun, die äußerliche, dualistische Gegenüberstellung von Psychischem bzw. Geistigem und Materiellem bzw. Physischem. Der Dualismus, zu dem man auf diese Weise gelangte, wurde noch durch die Gewohnheiten des metaphysischen Denkens verschärft, wie sie für die Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts so charakteristisch sind. Das Operieren mit den abstrakten Begriffen des Psychischen und Physischen führte unausweichlich zu dem Schluß, daß das Psychische nicht physisch und das Physische nicht psychisch sei. Dadurch verschärfte sich der Dualismus, der im 18. Jahrhundert durch den Stand der Wissenschaft bedingt war, noch mehr. Die Welt war in zwei heterogene Sphären aufgespalten. Bei Descartes treten sie in Form zweier Substanzen auf, der materiellen und der geistigen. t!W

Uber individuelles und gesellschaftliches Bewußtsein siehe oben im Kapitel über das Bewußtsein.

Geschichte

278 Der von üescartes

herrührende Dualismus der beiden Substanzen fand dann bei

Locke

eine neue, empiristische Darstellung in der Gegenüberstellung zweier Äxten der Erfahrung, der äußeren und der inneren. Bei der Grundlegung der experimentellen Psychologie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gingen die größten Vertreter der damaligen Psychologie von dualistischen Einstellungen aus. James194

erklärt direkt, daß er mit seiner Gegenüberstellung

von psychischen und physischen Prozessen auf dem Standpunkt Lockes gilt für Titchener195

stehe. Dasselbe

in der ersten Periode seiner wissenschaftlichen Tätigkeit.

Mit der Entwicklung der Physiologie des Nervensystems und der Sinnesorgane in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts kommt es in der ursprünglichen Fragestellung zu einer wesentlichen Verschiebung: Das psychophysische

Problem, das ursprünglich

die Beziehungen der psychischen Erscheinungen im Menschen zu den physikalischen Erscheinungen in der Umwelt betraf, nimmt die spezielle Form des gischen

psychophysiolo-

Problems an, also der Frage nach den Beziehungen zwischen psychischen und

physiologischen Prozessen. Das Problem des Psychischen tritt in Form der Frage nach der Doppelnatur des Menschen in Erscheinung; der umfassendere, ontologische und gnoseologische Aspekt des Problems entfällt völlig. In der gängigen philosophischpsychologischen Literatur Ende des 19. und Anfangs des 20. Jahrhunderts wird es zum Leib-Seele-Problem (s. Binetm,

Driesch197,

Erdmann198,

Stumpf199

u. a . ) . Man ver-

sucht es zu lösen, indem man von den Beziehungen zwischen psychischen und physiologischen Funktionen ausgeht, ohne daß man dabei die Beziehungen des Menschen und seiner psychischen Tätigkeit zur Umwelt berücksichtigt; das verbaut den Weg zum Verständnis des Lebens des Organismus im allgemeinen und seiner psychischen Tätigkeit im besonderen und macht das Problem unlösbar. Dabei muß man berücksichtigen, daß der Dualismus in der aufstrebenden Experimentalpsychologie einen ganz anderen, wesentlich reaktionäreren Sinn bekommt als bei Descartes. Betrachtet man die Philosophie Descartes'

unter dem Blickwinkel der historischen

Entwicklung, dann lassen sich unschwer die fortschrittlichen Tendenzen nachweisen, mit denen sein Dualismus verknüpft war. Die Untersuchungen Descartes'

trugen zur

damals maximal möglichen Einbeziehung der psychischen Funktionen in den Wirkungsbereich der Naturgesetzmäßigkeiten bei. Der Dualismus Descartes'

fußte auf der Un-

möglichkeit, diesen Prozeß beim damaligen Stand der Naturwissenschaft abzuschließen. Einen ganz anderen Sinn bekommt der Dualismus in der Psychologie und Physiologie Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts. Nunmehr verliert er seine relative Be194

195 1!Ki 197

ulti 199

Vgl. sein psychologisches Hauptwerk: W. James, The Principles of Psychology, 1907, vol. I, p. VI. E. B. Titchener, Grundriß der Psychologie. Petersburg 1912 (russ.). A. Binet, L'âme et le corps. Paris 1908. H. Driesch, Leib und Seele. Eine Untersuchung über das psychophysische Problem. 1920. B. Erdmann, Wissenschaftliche Hypothesen über Seele und Körper. Moskau 1910 K. Stumpf, Seele und Körper. Neue Ideen in der Philosophie. Sammelbd. 8, St. burg 1913 (russ.).

London

Leipzig (russ.). Peters-

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279

rechtigung auf Grund des Standes der Wissenschaft und der von ihr gebotenen Möglichkeiten der wissenschaftlichen Erkenntnis und erlangt immer stärker ausgeprägten agnostischen Sinn. Die Behauptung, die psychischen und alle übrigen Funktionen des Organismus seien heterogen, wird zur Behauptung, ihre Zusammenhänge und Beziehung e n seien prinzipiell unerkennbar; das weltanschaulich wichtigste Problem des wissenschaftlichen, philosophischen Denkens wird f ü r schlechthin unlösbar und jenseits der wissenschaftlichen Erkenntnis liegend erklärt. (Besonders deutlich wird diese agnostische Position bei S her ring ton Als sich nun in der Folgezeit die Forschung der Untersuchung konkreter psychischer Erscheinungen und ihrer Entstehung und Entwicklung zuwandte, wurde sie mit zunehmender Vertiefung der Untersuchungen auf Schritt und Tritt auf den Zusammenhang der psychischen mit verschiedenartigen anderen materiellen Erscheinungen gestoßen. Um diese Zusammenhänge zu erklären, ohne die Grenzen dieser dualistischen Konzeption zu überschreiten, stellte man zwei „Theorien" a u f : 1. die des Parallelismus und 2. die der äußeren Wechselwirkung. F ü r die eine wie f ü r die andere sind Psychisches und Physisches zwei Reihen heterogener Erscheinungen. Die erste, die Theorie des Parallelismus, berücksichtigt diese Heterogenität, schließt die Möglichkeit irgendeiner realen Abhängigkeit zwischen den Gliedern der beiden Reihen aus und behauptet dennoch eine eindeutige Entsprechung zwischen ihnen, von der niemand weiß, worauf sie beruht und wie sie zustande kommt. Die zweite Theorie, die Theorie der Wechselwirkung, versucht, die Tatsachen des wirklichen Lebens zu berücksichtigen, die auf die Existenz realer Abhängigkeiten zwischen physischen (physiologischen) und psychischen Erscheinungen hinweisen, und erkennt eine äußere Wechselwirkung zwischen ihnen an, unbeschadet der in der ursprünglichen Prämisse behaupteten Heterogenität; damit annulliert sie aber jegliche inneren Gesetzmäßigkeiten der psychischen wie auch der physischen, materiellen Erscheinungen. Diese offenkundig unhaltbaren Theorien, die Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts weit verbreitet waren, sind auch heute noch nicht vollständig vom philosophisch-psychologischen Schauplatz verschwunden. 2 0 1 200

Vgl. vor allem Ch. Sherrington, Man of his Nature. Cambridge University Press, 1946. Kapitel IX, das sich mit den Beziehungen zwischen Hirn und Psyche befaßt, trägt die bezeichnende Uberschrift: „Das Gehirn arbeitet mit der Psyche zusammen" („Brain collaborates with Psyche"). Als Motto zu diesem Kapitel wird ein Zitat aus einem Buch von Bradley angeführt (F. H. Bradley, Appearance and Reality), in dem der Autor erklärt, er könne nicht annehmen, daß der Zusammenhang zwischen Seele und Leib faßbar oder erklärbar wäre. Sherrington vertritt hier also nachdrücklich den Dualismus und Agnostizismus. •m Yg] beispielsweise James Pratt, The present Status of the Mind-Body Problem. The Philosophical Review, 1936, vol. XLV, pp. 144-166. Eine Spielart der dualistischen Theorie des Parallelismus, gekoppelt mit der Identitätstheorie, stellt die gestalt-psychologische Theorie des Isomorphismus dar. (S. W. Köhler: Gestalt-Psychology. New York 1947, pp. 61-63.) Nach dieser Theorie des Isomorphismus werden die beiden Reihen von Erscheinungen - die physiologischen Prozesse im Gehirn und die phänomenalen psychischen Prozesse - dadurch vereinigt, daß sie eine gemeinsame dynamische Struktur haben. 19

Prinzipien u n d Wege

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Geschichte

Dem Dualismus, der von Descartes aus in die Philosophie der Neuzeit gelangte, stellte man zu Beginn des 20. Jahrhunderts immer nachdrücklicher einen angeblich „neutralen" Monismus entgegen, der eine Fortsetzung der Berkeleyschen Ideen darstellte und die Empfindung bzw. das Bewußtsein an die Stelle des Seins setzte. Der Machismus ist die erste der dazugehörigen Spielarten. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gehen selbst so große Vertreter der psychologischen Wissenschaft wie Wandt, Titchener und James einer nach dem anderen auf den Standpunkt des Machismus über. Wundt stellt sich schon in seinem „Grundriß der Psychologie" auf den Standpunkt des Machismus und behauptet, Psychologie und Physik untersuchten ein und dieselbe „ E r f a h r u n g " , nur unter jeweils verschiedenem Aspekt. Mit dem idealistischen Monismus bei der Lösung des gnoseologischen Problems koppelt Wundt den dualistischen Parallelismus bei der Behandlung der Beziehungen zwischen psychischen und physiologischen Prozessen. 2 0 2 Titchener behandelt in seinem „Grundriß der Psychologie" diese Wissenschaft noch als Wissenschaft von den seelischen Prozessen. Dabei definiert er den seelischen Prozeß als Prozeß, der sich im Bereich unserer inneren E r f a h r u n g befindet. Von den seelischen Prozessen unterscheidet er die physischen und betont, das Physische sei äußerlich unabhängig von u n s : „Die Bewegung würde weitergehen, auch wenn es uns, die wir sie empfinden, überhaupt nicht g ä b e . . . Oder nehmen wir folgendes Beispiel: Der geometrische Raum ist von uns unabhängig; er wird von Gesetzen regiert, die unabhängig davon wirken, ob wir sie kennen oder nicht." 2 0 3 In den folgenden Jahren vollführt Titchener eine Wendung um 180°. Im „Lehrbuch der Psychologie" 2 0 4 stoßen wir bereits auf ganz andere, eindeutig machistische Ansichten. „Zwischen dem Rohstoff der Physik und dem der Psychologie", so lesen wir hier, „kann es keinerlei wesentlichen Unterschied geben. Materie und Geist, wie wir sie nennen, müssen im Prinzip identisch s e i n . . . . Physik und Psychologie haben ein und dasselbe Material: Diese Wissenschaften unterscheiden sich voneinander nur — und das ist zureichend — durch die ihnen eigenen Aspekte." Das Kapitel über den Gegen-

202 203

-m

Zugleich stehen die Vertreter der Gestaltspsychologie (M. Wertheimer, W. Köhler, K. Koffka, K. Lewin) bei der Darstellung der gnoseologischen Beziehungen zwischen den psychischen Erscheinungen und ihrem jeweiligen Objekt auf eindeutig phänomenalistischem Standpunkt, der die Verbindung über Ehrenjels zum Machismus erkennen läßt: Das Objekt und seine Wahrnehmung verschmelzen im einheitlichen phänomenalen Feld; in diesem phänomenalen Feld löst man sowohl das Objekt als auch das Subjekt auf. Siehe die Hauptarbeiten der führenden Vertreter der Gestaltspsychologie ( W . Köhler, GestaltPsychology. New York 1947, pp. 61-63; K. Koffka, Principles of Gestalt-Psycholgy. New York 1947; s. vor allem auch seinen Artikel: Bemerkungen zur Denkpsychologie. Psychologische Forschung, Bd. 9, 1927; M. Wertheimer, Produktive Thinking. New York-London 1945; K. Lewin, A Dynamic Theory of Personality. New York und London 1935). Vgl. W. Wundt, Grundriß der Psychologie. S. 4 - 6 (russ.). E. B. Titchener, Grundriß der Psychologie. S. 4 (russ.). E. B. Titchener, Textbook of Psychology. New York 1912.

Ausländische Psychologie

281

stand der Psychologie im Lehrbuch Titcheners stellt im Grunde eine „Popularisierung" der Ansichten Avenarius' dar. 2 0 5 In seiner zusammenfassenden historisch-theoretischen Arbeit 206, die einen Versuch darstellt, die machistische „Neuorientierung" der Psychologie systematisch zu begründen, bezeichnet Titchener Wundt neben Avenarius207 und Mach als Stammväter dieser Psychologie. Als besonders folgenschwer erwies sich der Übertritt James' zum Machismus. In seinem psychologischen Hauptwerk „The Principles of Psychology", das 1890 erschien, vertrat James einen unverhüllten, im Prinzip Locke sehen, Dualismus. Die philosophische Plattform seiner Arbeit kennzeichnete James mit den Worten: „Es ist der Standpunkt eines durchgängigen Dualismus. Er setzt zwei Elemente voraus, den erkennenden Geist und das erkannte Ding, und betrachtet sie als nicht aufeinander reduzierbar. Keines von beiden geht über sich selbst hinaus und in das andere über. Keines von beiden ist irgendwie ein Abbild des anderen, und keines erzeugt das andere. Sie stehen einander Angesicht in Angesicht in der gemeinsamen Welt gegenüber — das eine erkennt einfach, und das andere — das Korrelat — wird erkannt." Zu Beginn des 20. Jahrhunderts kommt es zu einer radikalen Veränderung seiner Ansichten. In einer Reihe von Vorträgen und Artikeln der Jahre 1904/05 (die später als Sammelband unter dem Titel „Essays in radical Empiricism", New York 1912, erschienen) formuliert James bereits im Prinzip die machistische Konzeption der „reinen Erfahrung". „Ich behaupte", so schrieb er, „daß ein einheitlicher Teil der Erfahrung, in einem bestimmten Kontext gefaßt, die Rolle des erkennenden, seelischen Zustandes, des ,Bewußtseins' spielt, während in einem anderen Kontext derselbe ein heitliche Ausschnitt der Erfahrung die Rolle des erkannten Dinges, des objektiven Inhalts spielen wird. Mit einem Wort, in der einen Kombination figuriert er als Gedanke, in der anderen als D i n g . " 2 0 8 „Im einen Komplex", schreibt James, „stellt er nur Bewußtsein dar, im anderen nur Inhalt." „Die Gedanken . . . bestehen aus demselben Material (stuff) wie die Dinge." 2 0 9 Während die von der Physik herkommenden Machisten die Losung ausgaben „Die Materie ist verschwunden", verkündete der von der Psychologie herkommende Machisl James in seinem Vortrag „Existiert das ,Bewußtsein'?", den er 1904 auf einem Kongreß in Rom hielt: „Das Bewußtsein hat sich verflüchtigt." Setzt man das Bewußtsein als „Erfahrung" an die Stelle seines Objekts, des Seins, dann „verflüchtigt" es sich tatsächlich zwangsläufig; als Objekt der psychologischen Untersuchung bleiben im Men-05 E. B. Titchener, Lehrbuch der Psychologie, T. I. Moskau 1914, S. 5 und 7 (russ.). E. B. Titchener, Systematic Psychology. Prolegomena. New York 1929. -07 Avenarius befaßte sich mit dem Gegenstand der Psychologie in einer besonderen Arbeit „Uber den Gegenstand der Psychologie" (1911). Lenin schrieb, daß diese Arbeit von Avenarius die „für das Verständnis seiner Philosophie wohl wichtigste" sei (W. I. Lenin, Materialismus... a. a. O., S. 46). 208 W. James, Essays in radical Empiricism. New York 1912, pp. 9 - 1 0 . ^ W. James, Existiert das „Bewußtsein"? Neue Ideen in der Philosophie, Nr. 4, Petersburg 1913, S. 113, 127.

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Geschichte

sehen nur die äußeren Reaktionen übrig, die nun bar jedes eigentlich psychischen Inhalts sind. Die philosophische Entwicklung James' und sein Übertritt zum Machismus zogen also jener Bewußtseinspsychologie, einer deren größter Vertreter er selbst war, den Boden unter den Füßen weg und machten den Weg f ü r den Behaviorismus als Psychologie des Verhaltens frei. In der Philosophie f ü h r t die Linie / a m e s ' zum Neorealismus und dann zum Pragmatismus, die die philosophische Grundlage einiger Strömungen des Behaviorismus sind. Man kann sehr wohl sagen, daß das Schicksal dieser späteren Spielarten des „neutralen" Monismus — des Neorealismus und Pragmatismus — ebenso eng mit den Geschehnissen in der Psychologie verknüpft ist, wie die ursprüngliche Form des „neutralen Monismus" - der Machismus - mit der Entwicklung der Physik zusammenhing. Die Neorealisten — Perry, der den „radikalen Empirismus" James' in der Philosophie fortführte, und Holt - verkünden das Programm des Behaviorismus. 2 1 0 Die Pragmatisten - Dewey und vor allem Mead - vermengen, wie wir gesehen haben, die pragmatische Philosophie und die behavioristische Psychologie miteinander zu einem Brei. 2 1 1 Das Haupt„pathos" ihrer Philosophie sehen die Vertreter des „neutralen" Monismus im Kampf gegen die Descartessche „Bifurkation" der Natur. Wo es nur geht, brüsten sie sich mit ihrem Kampf gegen den Descartesschen Dualismus und versuchen, sich als „revolutionäre" Philosophen auszugeben, die entschlossen mit veralteten Traditionen brechen. Den Kampf gegen die dualistische „Bifurkation" der Natur (um mit ihrer Terminologie zu reden) führen sie vom Standpunkt des gleichen „neutralen" Monismus aus, der als epistemologischer 2 1 2 Monismus fungiert. Er verlegt das Problem des Psychischen vollständig in den Bereich der Erkenntnistheorie. Insofern dabei nun das gnoseologische Problem so gelöst wurde, daß man das Psychische an die Stelle seines Objekts setzte, isolierte man das Psychische zwangsläufig vom Subjekt, d. h. vom Menschen bzw. seinem Gehirn. Bei einer derartigen Behandlung des Problems entfällt der psychophysiologische Aspekt entweder vollständig (der Kampf Avenarius' gegen die „Introjektion"), oder aber der Dualismus bleibt erhalten, der die Psyche vom Gehirn trennt. Diese Koppelung des idealistischen „Monismus" bei der Lösung des Problems des Psychischen im „epistemologischen" Bereich mit dem Dualismus bei der Lösung des „psychophysiologischen" Problems zeigte sich bereits deutlich bei Wundl, der bei der Definition des Gegenstandes der Psychologie, von der machistischen Interpretation der „ E r f a h r u n g " ausgehend, behauptete, Psychologie und Physik untersuchten ein und dieselbe Erfahrung, nur unter verschiedenen Aspekten. Zugleich vertrat er den sogenannten psychophysischen Parallelismus, d. h. einen unverhüllten 210

211

212

R. B. Perry, A realistic Theory of Independence. New Realism. New York 1925, pp. 99 bis 151; E. B. Holt, The Concept of Consciousness. London 1914. G. H. Mead, Mind, Seif and Society from the Standpoint of a Social Behaviorist. Chicago University Press, 1946. Erkenntnistheoretisch (Anm. d. Übers.).

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283

Dualismus hinsichtlich der Beziehungen zwischen psychischen und physiologischen Prozessen. Gegenwärtig wird der „neutrale" Monismus vor allem von Russell repräsentiert, der, nach seiner eigenen Aussage, die Linie James' und der amerikanischen Neorealisten fortsetzt (s. oben). Während zur Zeit der Herrschaft der Bewußtseinspsychologie der „neutrale" epistemologische Monismus bei Wundt und Avenarius zur Lösung des psychophysiologischen Problems mit dem Dualismus gekoppelt wurde, verknüpft Russell den idealistischen Monismus bei der Lösung des gnoseologischen Problems mit der mechanistischen Reduzierung des Psychischen auf das Physiologische bzw. auf das Verhalten, und zwar im Sinne des „radikalen" JFatsonschen Behaviorismus. Die Analyse der verschiedenen Problemstellungen zeigt also, daß bald der gnoseologische, bald der psychophysiologische Aspekt des Problems in den Vordergrund tritt und daß in der Regel ihre richtige Korrelation fehlt. Nach dem Neorealismus brachte dann, wie wir gesehen haben, der Pragmatismus seine Spielart des „neutralen", d. h. im Grunde idealistischen Monismus auf den Plan, indem er sich ebenfalls mit dem Behaviorismus verbündete, freilich nicht mit dem „radikalen" Watsonschen, sondern mit dem verfeinerten „Sozialbehaviorismus" (Mead). Das Hauptinstrument dieser Abart des Monismus, der für sich in Anspruch nimmt, dem Materialismus und Idealismus gegenüber „neutral" zu sein, ist die Semantik, der Begriff der Bedeutung bzw. des Symbols. Die Voraussetzungen für diesen Semantismus schuf, wie bereits oben erwähnt, in der amerikanischen Philosophie Ch. Pierce bereits in den 70er/80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Den nächsten Schritt in dieser Richtung tat Anfang des 20. Jahrhunderts Woodbridge, als er behauptete, der Geist oder das Bewußtsein seien die Erscheinungen selbst, insofern sie einander bezeichneten bzw. repräsentierten. Neben dem vorgeblich „neutralen" Monismus gewinnt auch der unverhüllt spiritualistische Monismus immer mehr an Gewicht. Anfang des 20. Jahrhunderts macht sich eine Reihe führender Vertreter der idealistischen Psychologie und Philosophie zu seinem Fürsprecher (Cassirerii3, Klagest, die Vitalisten Bleuler und Driesch215). Auf Aristoteles216 gestützt, wollten sie den spiritualistischen Monismus dem Descartesschen Dualismus gegenüberstellen. 213

JK 215

216

E. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil. Phänomenologie der Erkenntnis. Kap. III. Die Ausdrucksfunktion und das Leib-Seele-Problem. Berlin 1929, S. 1 0 8 - 1 2 1 . L. Klages, Vom Wesen des Bewußtseins. Leipzig 1933, 3. Aufl. H. Driesch, Leib und Seele. Eine Untersuchung über das psychophysische Problem. Leipzig 1920. „Man braucht gar nicht zu fragen", schrieb Aristoteles im Traktat „Uber die Seele", „ob Leib und Seele eine Einheit oder eine Zweiheit sind - der Mensch ist eine Einheit, er aber ist Seele und Leib". (Uber die Bedeutung dieses Satzes in der Geschichte des „psychophysischen Problems" und seine Stellung in der Psychologie des Aristoteles siehe „Die Geschichte der Philosophie. Lehrbuch der Philosophie" Hrsg. von Max Dessoir. Zweiter Teil, vor allem S. 192 ff.).

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Geschichte

Im Gegensatz zum „neutralen" Monismus, der ein „epistemologischer" Monismus ist, wird in den Konzeptionen des spiritualistischen Monismus das Problem des Psychischen wiederum zur Frage nach den Beziehungen zwischen der geistigen und der materiellen Natur des Menschen: Der gnoseologische Aspekt des Problems des Psychischen, d. h. die Frage nach der gnostischen Beziehung des Psychischen zur Umwelt als objektiver Realität, entfällt wiederum. Erheblichen Anteil an der Entwicklung der spiritualistischen Tendenzen, die sich mit dem Anwachsen der Reaktion immer weiter verbreiteten, hatte James , der den ersten Anstoß zum Auftauchen neuer Spielarten des „neutralen" Monismus gegeben hatte. Die spiritualistischen Tendenzen James' zeigten sich schon in seiner Zustimmung zur Konzeption Bergsons, nach der das Gehirn nicht das Organ des Denkens ist, sondern nur das Instrument, mit dessen Hilfe das Denken in Handeln übergeht. Das Gehirn ist nach Bergson ein Apparat, vermittels dessen das Denken das Handeln steuert und sich in der materiellen Welt manifestiert (Bergson versucht das durch die Interpretation einer Reihe von Fakten bei pathologischen Störungen der Hirntätigkeit zu beweisen, etwa der Apraxie usw.). Das Denken hängt also mit dem Gehirn zusammen; die Existenz dieses Zusammenhanges ist nach Bergson für die irrtümliche Ansicht ursächlich, die materialistische These, daß das Gehirn das Organ des Denkens ist, sei richtig. Dieser Zusammenhang hat jedoch nach seiner Meinung einen ganz anderen Charakter, der nicht der materialistischen, sondern der spiritualistischen Betrachtungsweise entspricht. (Diese philosophische Konzeption bestimmt auch die psychologische Gedächtnis- und Wahrnehmungslehre Bergsons218.) James erklärt sich vollkommen solidarisch mit der Bergsonschen Interpretation der Beziehungen zwischen Denken und Gehirn. Im Zusammenhang mit der zunehmenden politischen und ideologischen Reaktion nach dem ersten Weltkrieg entwickeln sich die spiritualistischen Tendenzen lebhaft. Zum militantesten Verfechter dieser Ideen wird die katholische thomistische Psychologie, die in Frankreich, Italien und vor allem in den USA erheblichen Einfluß gewinnt. Sie erweckt die Ideen der Hauptautorität der mittelalterlichen Scholastik, Thomas von Aquinos, zu neuem Leben. Die thomistische Richtung der Psychologie wird in den USA von Brennan,219 Doncee/ 220 , Nicholl und anderen repräsentiert. Im Zusammenhang mit der zunehmenden politischen und ideologischen Reaktion nach dem ersten Weltkrieg entwickeln sich die spiritualistischen Tendenzen lebhaft. Das Arsenal seiner psychologischen Ideen sucht der Thomismus noch durch ein Bündnis mit dem Freudismus zu untermauern. Als Beleg für dieses Bündnis kann ein Buch von Mortimer Adler dienen. 2 2 1 J17

218

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In der ideologischen Entwicklung James' lassen sich wiederhohe Veränderungen seiner Einstellungen nachweisen. A. Bergson, Materie und Gedächtnis. Ges. Werke, übers, v. W. Basarow. Petersburg 1914, Bd. 3 (russ.). R. E. Brennan, General Psychology. An Interpretation of the Science of Mind based on Thomas Aquino. New York 1937; ders., History of Psychology from the Standpoint of a Thomist. New York 1945. J. F. Donceel: Philosophical Psychology. New York 1955. Mortimer Adler, What Man has made of Man. New York 1938. In diesem Buch lobt der Thomist Adler den Psychoanalytiker Freud über den grünen Klee (s. vor allem Lecture

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Dieses Bündnis der katholischen Kirche mit dem Freudismus wirkt auf den ersten Blick befremdlich, wenn man an die positivistischen Tendenzen Freuds und an die Rolle denkt, die die Sexualität in seinem System spielt. Dennoch ist dieses Bündnis kein Zufall. Die Freudsche Lösung des Problems des Psychischen ist im Prinzip spiritualistisch. In der Tat vertritt Freud ja bekanntlich einen ganz strengen psychologischen „Determinismus"; alles Psychische wird seiner Meinung nach immer wieder durch Psychisches determiniert (Freud braucht das Unbewußte zum Teil auch deshalb, weil im Bereich des Bewußtseins diese Kontinuität der psychischen Erscheinungen eindeutig fehlt) - das zum ersten. Zum zweiten interpretiert Freud Fälle von psychogenen Erkrankungen recht eigenwillig, verallgemeinert sie ungerechtfertigterweise und betrachtet infolgedessen die psychischen Erscheinungen als primär und die semantischen Veränderungen als sekundär, als von den psychischen abgeleitet. Die somatischen Erscheinungen werden also durch psychische bestimmt, und die psychischen immer wieder nur durch psychische. Das ist aber im Prinzip eine spiritualistische Betrachtungsweise des Problems des Psychischen. Eben diese verbindet auch im theoretischen Bereich den Freudismus mit der spiritualistischen religiösen Weltanschauung 2 2 2 , so wie im praktischen Bereich die reaktionären Kreise am Freudismus das anzieht, daß er die angeblich unveränderliche psychologische Natur des Menschen, seine organischen Instinkte und Triebe, f ü r die Ursache des menschlichen Verhaltens nicht nur im persönlichen, sondern auch im gesellschaftlichen Leben ausgibt. Da der Freudismus die Ursache der imperialistischen Kriege in den in der Natur des Menschen liegenden Trieben sieht, nicht aber in den gesellschaftlichen Verhältnissen, ist er die wirksamste Spielart der reaktionären, idealistischen, psychologisierten Soziologie, die unter dem Namen der Sozialpsychologie auftritt. Der Kampf zwischen Materialismus und Idealismus bei der Lösung des Problems der Beziehungen zwischen Geist und Materie, Seele und Körper, Bewußtsein und Natur dauert auch heute noch an. Und wenn es in der Philosophie der kapitalistischen Länder auch sehr starke idealistische Strömungen gibt, so treten in ihr doch auch Denker auf, die einen „neuen", naturwissenschaftlichen Materialismus zu begründen suchen 4. Psychoanalysis as Psychology, pp. 9 4 - 1 2 3 ) , und der Direktor des Psychoanalytischen (freudistischen) Instituts in Chicago, Alexander, schreibt ein Vorwort zu dem Buch Mortimer Adlers, in dem er den Standpunkt seines Verfassers unterstützt (ebenda p. I X - X V I ) . --- Siehe Donald Nicholl, Recent Thought in Focus. A Catholic Looks at recent Developments in Existentialism and logical Positivism. New York 1953; Freudianism and other modern Philosophies. New York 1953. „Freud bemerkte, daß eine große Anzahl physischer Leiden von seelischen Konflikten des Patienten herrührt. Er sah, daß seelische Konflikte zu Erkrankungen des Körpers führen können. Im Gegensatz zur weitverbreiteten Meinung wies Freud also die Unangemessenheit einer rein physischen Betrachtungsweise des Menschen nach, womit er sich in dieser Frage mit Thomas von Aquino solidarisierte" (p. 197). Psychoanalytische Konzeptionen legt auch Donceels thomistische Psychologie der Darstellung der Persönlichkeit zugrunde. Siehe / . F. Donceel, Philosophical Psychology. Part five „Man Person", § 20, New York 1955, pp. 2 8 8 - 3 1 7 .

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Geschichte

(wie etwa Seilars223) ; Walion und andere vertreten unmittelbar den dialektischen Materialismus. 2 2 4 Mit der Behandlung der Frage nach der Stellung des Psychischen im Gesamtzusammenhang der Erscheinungen der materiellen Welt haben wir dieses Buch begonnen. Mit einer Kritik an der Behandlung des psychophysischen Problems in der ausländischen Philosophie und Psychologie beenden wir es. 2r>

R. W. Seilars, The Philosophy of physical Realism. Ch. XVI „Consciousness and the BrainMind", New York 1932, pp. 4 0 6 - 4 4 3 . H. Wallon, Psychologie et matérialisme dialectique. Estratto délia Rivista „Societä". Anno VII, Nr. 2, Giugno, 1951. Siehe auch Encyclopédie Française, t. VIII „La vie Mentale".. Paris 1938; Henri Wallon, Introduction à l'étude de la vie Mentale.

SCHLUSSWORT

Im vorliegenden Buch haben wir versucht, einige Stützpunkte für das nunmehr zu errichtende Gebäude der psychologischen Wissenschaft zu markieren. Das Zentralproblem war dabei die Determination der Erscheinungen. In seiner speziellen Form, auf die Hirntätigkeit angewandt, hängt das Problem der Determination der psychischen Tätigkeit mit der Weiterentwicklung der Reflextheorie, mit der Erforschung der Gesetzmäßigkeiten der Widerspiegelungstätigkeit des Gehirns zusammen. In seiner allgemeinen Form ist das Problem der Determination das Grundproblem für jede Theorie auf jedem beliebigen Wissensgebiet. Die Lösung dieses Problems im Hinblick auf die Determination der psychischen Erscheinungen haben wir in ersten, groben Umrissen angedeutet. Die Lösung dieses Problems im Hinblick auf die psychischen Erscheinungen führte zu einer neuen Problemstellung und damit auch zu einer neuen Lösung des sogenannten psychophysischen Problems als Frage nach der Stellung des Psychischen im Gesamtzusammenhang der Erscheinungen der materiellen Welt, in der die psychischen Erscheinungen sowohl als bedingte wie auch als bedingende auftreten, als von den Lebensbedingungen abhängig und als das Verhalten der Menschen bedingend, durch das diese Bedingungen verändert werden. Der Anteil der inneren Bedingungen der psychischen Prozesse in ihrem wechselseitigen Zusammenhang mit den äußeren läßt es als Hauptbedingung einer wissenschaftlichen, deterministischen Erforschung der psychischen Prozesse (und des menschlichen Verhaltens) erscheinen, sie unter dem Persönlichkeitsaspekt zu untersuchen und dabei vom realen Sein des Menschen auszugehen. In dieselbe Richtung geht auch die Analyse des eigentlichen Kernes des „psychophysischen Problems", der Frage nach den Beziehungen zwischen Ideellem und Materiellem. Erste Voraussetzung für die richtige Lösung dieses Problems ist, wie wir gesehen haben, hinter der Beziehung des Abbildes zum Ding die primäre Beziehung des erkennenden Subjekts zur objektiven Realität zu sehen, da das Abbild bzw. die Idee nicht an sich, außerhalb der Erkenntnistätigkeit des Menschen bzw. außerhalb der reflektorischen Tätigkeit seines Gehirns existiert. Alle Linien laufen also in einem Punkt zusammen, und alle in diesem Buch aufgeworfenen Probleme ordnen sich einem Zentralproblem unter — dem Problem des

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Schlußwort

Menschen. Die ganze Zukunft der Psychologie hängt von der Lösung dieses Zentralproblems ab; ihre wirkliche Bedeutung bemißt sich danach, was sie zur Verbesserung der Arbeit und des Lebens des Menschen, speziell auf dem Gebiet der Erziehung, der Entwicklung des Menschen selbst beizutragen vermag. Bei der Lösung dieser letztgenannten Aufgabe muß die Psychologie gleichermaßen engen Kontakt mit der Ethik wie mit der Erkenntnistheorie halten. Das Problem des Menschen, das sich uns nunmehr als Zentralproblem darbietet, werden wir im Prinzip ebenso angehen, wie wir das Problem des Psychischen angepackt haben, indem wir von dem Satz ausgehen, daß jede Erscheinung sie selbst und etwas anderes ist, insofern sie in verschiedenen für sie wesentlichen Systemen von Verbindungen und Beziehungen auftritt. In den verschiedenen Systemen für ihn wesentlicher Zusammenhänge und Beziehungen tritt der Mensch in unterschiedlicher Qualität in Erscheinung. Nur wenn wir ihn allseitig, in allen für ihn wesentlichen Zusammenhängen mit der Welt untersuchen, können wir sein wahres Wesen und seinen wahren Platz im Leben ermitteln.

NAMENREGISTER

Adams, J. 248 Adler, Mortimer 284 Alexander 285 Allport, G. 105 Ananjew, B. G. 45, 209 Antoni 202 Anzyferowa, L. I. 63 Aristoteles 167, 283 Aster, E. v. 254 Avenarius, R. 217, 225, 281, 283 Axakow, N. 203 Bach, J. S. 231 Bauer, B. 164 Bechterew, B. M. 126, 201, 206, 207 Bekker, K. 158 Bell, Ch. 185 Bergson, A. 128, 263, 268, 269, 284 Berkeley, G. 41, 42, 146, 177, 236 Bigaud 158 Binet, A. 278 Bleuler, E. 283 Blondel, Ch. 259, 263, 265-271, 275 Blonski, P. P. 208 Bogdanow, A. A. 264 Boris 202 Botkin, S. P. 202 Bradley, F. 279 Brennan, R. 178, 284 Brentano, F. 228, 229 Bridgeman, P. 234 Budilowa, J. A. 202, 207 Bugajew, N. W. 202 Bühler, K. 97 Bykow, K. M. 189, 195

Calvez, J . 158, 159, 170 Carnap, R. 238 Cassirer, E. 283 Comte, A. 141, 258, 259, 260, 266 Cornu, A. 158 Cousin, V. 258 Descartes, R. 10, 41, 42, 125, 126, 142, 181, 215, 220, 222, 223, 233, 236, 277 bis 280 Dessoir, M. 283 Dewey, J . 228, 233, 235, 282 Dilthey, W. 190 Donceel, J. 178, 284, 285 Driesch, H. 278, 283 Dumas, G. 269 Dürkheim, E. 260-274 Ehrenfels, H. 280 Elkin, D. G. 46 Engels, F. 131, 158-176, 182 Erdmann, B. 278 Feuerbach, L. 158, 160, 165-167 Frazer, J. 260 Freud, S. 128, 268, 269, 285 Galperin, P. Ja. 212 Gardiner, A. 90 Gelb, A. 20 Goldstein, K. 20 Gottschaidt, K. 108 Granit, R. 39 Gritchley 20

290

Namenregister

Grünstein, A. M. 39 Grot, N. Ja. 201, 203-205 Guthrie, E. 196 Halbwachs, M. 263, 265, 271 Hall, M. 185 Head, H. 20 Hegel, G. F. W. 36, 126, 127, 158-160, 161 bis 169, 193 Helmholtz, H. 4 0 - 4 2 , 196, 203 Hess, M. 166 Hippenreuter, Ju. B. 84 Hoijer, H. 96 Holt, B. 214, 224-226, 233, 242, 282 Humboldt, W. v. 95 Hunt 39 Hunter 223, 238-240, 252 Husserl, E. 238 Hyppolite, J. 158, 159 Issajewa, S. P. 206 Iwanow-Smolenski, A. G. 194 James, W. 19, 20, 178, 214, 215, 218-222, 226-229, 231, 233, 278, 280, 284 Jaroschewski, M. G. 186 Jaspers, K. 135 Kant, I. 41, 127, 128, 215, 223 Kantor, J. 242 Kaplan, L. I. 93 Kawelin, K. D. 191, 203 Klages, L. 284 Koffka, K. 280 Köhler, W. 248, 280 Kojeve, A. 170 Kornilow, K. N. 110, 208-210 Korsakow, S. S. 202 Kotljarewski, L. I. 25 Kowaljowski, A. 0., W. 0., N. O. 202 Krintschik, J. P. 83, 84 Kroll, M. B. 20 Krupskaja, N. K. 103 Krutezki, W. A. 114, 115 Kwassow, D. G. 39 Laguna, G. de 242, 251 Lang, E. 260 Lange, N. N. 206

Lashley, K. 223, 238, 240 Leibniz, G. W. v. 217 Lenin, W. I. 10, 11, 12, 15, 78, 103, 122, 129. 130, 158, 171, 176-184, 193, 219, 225, 281 Leontjew, A. N. 209, 212 Levy-Brühl, L. 263, 272-275 Lewin, K. 280 Locke, J. 126, 215, 218, 220, 222, 223, 278 Lodge, O. 225 Lotze, H. 186 Lurija, A. R. 20 Mach, E. 215, 217, 222, 227, 281 Magendie, F. 185 Mansurow, N. S. 57 Marc, A. 135 Marx, K. 36, 50, 105, 106, 129, 131, 158 bis 176 Matjuschkin, A. M. 79, 80 Mauß, M. 263 Mead, G. 214, 233-239, 252, 282, 283 Meinong, A. 228, 229 Mendelejew, D. I. 202 Merleau-Ponty, M. 170 Metschnikow, I. I. 202 Mjassistschew, W. N. 108 Montpellier, A. 184 Moore, G. 41 Morris, Ch. 234, 238 Müller, J. 40, 41, 185, 196 Nicholl, D. 178, 284, 285 Nikanor 202 Ostroumow, M. 202 Ostwald, W. 225 Pawlow, I. P. 14, 19, 23, 24, 26, 31, 39, 41, 50, 68, 91, 178-208 Perry, R. 214, 219, 221, 224, 225, 233, 282 Pflüger, E. 185, 186 Piaget, J. 263, 272, 274-277 Pierce, Ch. 233, 235, 283 Piaton 128 Ponomarjow, Ja. A. 84 Prangischwili, A. S. 110 Pratt, J. 279

Namenregister Prochaska, J. 184, 185 Proudhon, P. 163 Pschonik, A. T. 195 Radistschew, A. N. 202 Rajewski, A. N. 92 Ramon y Cajal, S. 39 Rev&z, G. 93 Rheinfelder, G. 105 Ribot, T. 260 Roback, A. 240 Rubinstein, S. L. 54, 79, 80 Russell, B. 16, 41, 42, 178, 214, 226-233. 283

Saint-Simon, A. 258 Samarin, N. A. 203 Santayana, D. 228 Sartre, J. 170 Saussure, F. de 90, 91 Schemjakin, F. N. 91 Schewarjow, P. A. 46 Schkolnik-Jarros, J. G. 39 Schönrock, W. I. 203 Sellars, R. 286 Semjonowskaja, J. N. 45 Setschenow, I. M. 14, 19, 24, 34, 39, 41, 48. 50, 178, 201-208 Shakespeare, W. 20, 231 Sherrington, Ch. 279 Shukowa, I. M. 53, 79 Slawskaja, K. A. 74, 76, 82 Smirnow, A. A. 209 Smith, A. 163 Sokolow, J. N. 45 Spranger, E. 190 Spiro, P. A. 206 Stanislawski, K. S. 131 Stern, W. 106 Stimer 164

291

Strachow, N. 202, 203 Struwe, G. 202 Stumpf, K. 278 Szekely, L. 64 Tarchanow, I. R. 202 Taylor, E. 260 Teplow, B. M. 140, 206, 209 Thomas von Aquino 16, 284, 285 Thomdike, E. 25, 111, 223, 240, 248 Timirjasew, K. A. 202 Titchener, E. 143, 150, 215, 217, 218, 222, 278, 280, 281 Tokarski, A. A. 202 Tolman, E. 223, 238, 239, 240-248 Trendelenburg, A. 105 Troizki, M. M. 201, 203 Tschelpanow, G. I. 201, 205 Tschechow, M. A. 153 Tschikobawa, A. S. 97 Turowskaja, D. B. 61 Uchtomski, A. A. 38 Umow, N. A. 202 Ussow, S. A. 202 Ustimowitsch, K. N. 202 Wachtangow, J. B. 153 Wallon, A. 269, 286 Watson, G. 23, 152, 223, 234, 236, 240 bis 242, 252, 255, 283 Wedenski, A. I. 201 Wedenski, N. J. 202 Weisgerber, L. 95 Weiß, A. 223, 240, 250 Wertheimer, M. 280 Whorth, B. 16 Woodbridge, F. 233, 283 Wundt, W. 42, 190, 215-217, 222, 280, 281, 282, 283 Wygotski, L. S. 208, 211, 212

SACHREGISTER

Abbild, Anteil des - an der Steuerung der Tätigkeit 190 - und Gegenstand 10, 12, 13, 17, 54, 99 - und Widerspiegelungstätigkeit 10, 12, 13, 17, 54, 99 Abbildtheorie des dialektischen Materialismus und des repräsentativen Realismus 16 Analyse, Psychologische Interpretation der 48-51 - und Synthese 16, 21, 50, 5 7 - 6 8 , 92, 180 Analyseformen 5 7 - 6 9 Assoziation, Interpretation der - im Zusammenhang mit der Reflextheorie 191, 192 Assoziationstheorie, empirische 260 Aufmerksamkeit, motorische Theorie der 260 Bedürfnis 127, 170, 176, 188 Begehren 136, 137 Begriff, Theorien des 2 6 3 - 2 6 6 Behaviorismus und Neobehaviorismus 19, 126, 127, 178, 209, 210, 2 2 3 - 2 2 6 , 2 3 1 - 2 5 8 , 282, 283 Bewußtsein, allgemeine Gesetzmäßigkeiten des Bewußtwerdens 1 3 6 - 1 4 0 - als Bewußtwerden und als Wissen 129, 130, 132, 213 -.individuelles und gesellschaftliches 127 bis 130, 132, 162, 167, 2 6 2 - 2 7 0 , 275, 276 - , s e i n Anteil am Verhalten 1 3 8 - 1 4 0 - und Bewußtheit 124 Bewußtsein und Psychisches 25, 2 1 3 - 2 3 7 - und Sein s. Sein und Bewußtsein - und Selbstbewußtsein 126, 138, 139 - und Tätigkeit 2 0 9 - 2 1 4 - und Unbewußtes 25, 136, 137, 268, 269

Bewußtseinstheorien 1 2 5 - 1 3 2 , 2 3 2 - 2 4 0 , 247 bis 251, 2 5 5 - 2 5 8 , 265, 2 6 7 - 2 6 9 , 273 Charakter und Motiv 1 1 7 - 1 2 0 Denken, allgemeine Charakteristik 46-49, 72-78 - als analytisch-synthetische Tätigkeit 32, 33, 4 8 - 5 2 , 5 7 - 6 9 Denken als Erkenntnistätigkeit des Menschen 4 7 - 5 2 , 96, 97 - als reflektorische Hirntätigkeit 46, 50 -.theoretische Erkenntnis und Urteil 51, 72 bis 74 - und praktische Tätigkeit 21, 46, 175, 176 - und Wahrnehmung 46, 54 Denkprozeß als Gegenstand der Psychologie 33, 49 -.Determination des 46, 47, 49, 50 - , Prozeß und Operationen des 4 7 - 5 3 -.Spezifik des menschlichen 4 6 - 4 9 , 7 2 - 7 8 Psychologie des - und Logik 51 Determination als philosophisches Prinzip der Reflextheorie 24 - psychische Erscheinungen 12, 13, 19, 21, 22, 46, 174, 175, 232 Determinismus, mechanische Interpretation des 19, 21, 22, 179 Determinismus und Indeterminismus 19, 20, 86, 179 - , ontologische Grundlagen des 12, 13 - und Widerspiegelungstheorie 15, 16, 179 bis 188 Deterministisches Prinzip des dialektischen Materialismus 12, 13, 16, 18, 2 2 - 2 4 , 30, 4 4 - 4 6 , 1 7 9 - 1 8 0 , 183, 287

Sachregister

293

Dialektik und Widerspiegelungstheorie 14, 15, 17, 18, 170, 171 - von Natur und Bewußtsein 170, 171 Dualismus 10, 30, 181, 185, 218, 261-263, 265, 277-283

- und Gesellschaft 173 - und Natur 161-163, 171-175 Monismus, „neutraler" 133, 176-179, 214, 233, 280, 283, 284 Motiv 104, 108, 109, 117-119, 128-130

Empfindung als Abbild und als Signal 18, 25 - und Wahrnehmung 3 9 - 4 5 Empfindungstheorie 3 9 - 4 5 Epiphänomenalismus 19, 20, 181, 256, 261, 262 Erkenntnistheorie des dialektischen Materialismus 1 4 - 1 9 Erziehung 88, 89, 120-125 Ethik und Psychologie 124, 127, 258, 288

Neorealismus 10, 178, 214, 219, 220, 223 bis 236, 282, 283 Nerventätigkeit, höhere, Gesetze 197, 198 - , höhere und ihr Verhältnis zur Psychologie. 27, 28, 198

Fähigkeit als natürliche Eigenschaft 116 - als Produkt der gesellschaftlichen Entwicklung 116, 163, 164 Fähigkeiten, Bildungsmechanismus der 113, 116 - und individuelle Eigenarten 113, 116 Fähigkeiten und Tätigkeit 105, 112, 113, 118, 147-150 Cedächtnistheorien 264, 265 Gefühl, Bewußtwerden des 137, 138 Generalisierung, s. Verallgemeinerung Gesetze, allgemeine und spezielle 23, 24, 26 bis 30 - der physiologischen Lehre der höheren Nerventätigkeit 23, 24, 2 6 - 3 0 - der Psychologie 23, 24, 2 6 - 3 0 Gestaltpsychologie 242, 245 Idealismus 41, 177, 230, 231 - , semantischer 233, 240, 283 Ideelles, s. Psychisches Introspektion, s. Selbstbeobachtung Introspektionismus 126, 254, 255, 258 Machismus 177, 178, 214-227, 280, 281 Materialismus, mechanistischer und metaphysischer 11, 14, 277 Mensch als Gegenstand der Wissenschaft 173 bis 175 - , Natur des 168, 169, 173 - und gegenständliche Welt 171-174

Objekt und Subjekt 14-18, 25, 26, 134-136, 138-141, 170-173, 182, 183, 189 Persönlichkeit, allgemeine Eigenschaften der - und ihre individuellen Besonderheiten 38, 103, 104 - als Gegenstand der psychologischen Forschung 102, 103 - psychische Eigenschaften der 38, 102 bis 120 -- und das Problem der Determination 102 - und Tätigkeit 106 Persönlichkeitstheorien 105-108 Phänomenalismus 142, 214, 222, 249 Phantasie 35 Philosophie, idealistische, moderne Richtungen der 177-179, 214-231, 278, 281, 282 Positivismus 49, 178, 222, 224-234, 259 Pragmatismus 10, 30, 49, 178, 214-222, 224 bis 236, 241 Prozesse, psychische und physiologische 11, 2 5 - 2 8 , 178, 179 Psychisches als Widerspiegelung der Außenwelt 10, 14-16, 24, 25, 142-144, 182 - als Hirnfunktion 11, 14, 176-179, 189 - als Ideelles 11, 12, 139, 182 Psychisches als Prozeß und Gebilde 189 - als reflektorische Hirntätigkeit 14, 15, 20, 21, 23, 37, 174, 179, 180 - als Widerspiegelung der objektiven Welt 11, 15, 20, 21, 176, 177, 182, 189-192, 287, 288 - , ontologische und gnoseologische Charakteristik 9, 10, 24, 25, 134, 182 - , seine Steuerungsfunktion 18-21, 36, 87, 107, 132, 157, 180, 187, 189-192

294

Sachregister

Psychisches und Materielles 2 7 6 - 2 8 7 Psychische Eigenschaften und psychische Prozesse 37, 38, 1 0 8 - 1 1 1 , 113, 1 1 8 - 1 2 0 - Gebilde 189, 190, 228, 229 Psychologie als Prozeß und Tätigkeit 34, 36, 48 - , Aufgaben der 22, 2 5 - 2 7 , 1 2 8 - 1 3 1 , 142, 157, 176, 177 - , Gegenstand der 2 5 - 2 7 , 34, 141, 142, 154 bis 156, 1 7 3 - 1 7 5 - , objektive Methoden der 141, 142, 145 >)is 152, 156, 204 - , soziologische, französische 2 5 8 - 2 7 7 - , thomistische 16, 17, 287 - und andere Wissenschaften 22, 26, 91, 92. 107, 1 7 3 - 1 7 5 , 1 9 9 - 2 0 1 - , Verhältnis der - zur Lehre von der höheren Nerventätigkeit 2 5 - 3 1 , 183, 1 9 1 - 1 9 3 Psychologismus und Antipsychologismus 215, 216, 227, 228, 260, 261 Psychophysisches Problem 277 — 286 Reflextheorie bei Setschenow und Pawlow 12 bis 14, 30, 31, 1 8 6 - 1 8 9 , 1 9 1 - 1 9 5 , 200, 201, 203, 204 - und das Prinzip des Determinismus 16, 17, 23, 24, 1 7 6 - 1 8 1 , 191, 192, 197, 198, 200, 201 - und die Theorie des „psychischen Kreislaufs" 2 0 3 - 2 0 5 Reflextheorie und Kritik der peripheren Theorie der Sinnesorgane 1 9 5 - 1 9 7 Sein und Bewußtsein 9 - 1 3 , 20, 21, 1 3 2 - 1 3 5 , 138-140, 174-176 - und Materie 135 - und Objekt 134, 139, 140

Selbstbeobachtung 1 4 0 - 1 4 9 - und Introspektion 125, 1 3 8 - 1 4 5 , 250, 253 bis 256 Selbsterziehung 148 Selbstkontrolle 1 4 7 - 1 5 0 Sprechen, Theorien des 2 3 7 - 2 4 0 , 2 5 0 - 2 5 3 - und Sprache 54, 55, 59 Subjekt, s. Objekt und Subjekt Synthese, s. Analyse und Synthese Tätigkeit, Anteil der psychischen Prozesse an der Steuerung der 1 7 - 2 1 - , praktische und theoretische 1 5 - 1 8 , 36, 37, 130, 210 Verallgemeinerung, Formen der 78 - , ihre Abhängigkeit von der Analyse 3 1 - 3 3 , 47, 48, 58, 7 8 - 8 3 - von Beziehungen 7 9 - 8 1 , 1 1 3 - 1 1 7 Wahrheit 17, 22 - , Determination der 4 2 - 4 5 Wahrnehmung, Gegenständlichkeit der 4 2 - 4 4 - , Kausaltheorie der 17, 4 0 - 4 2 , 2 3 1 - 2 3 3 , 265 -.reflektorische Natur der 16, 17 Wahrnehmung und Denken 36, 53 - und Empfindung 3 9 - 4 4 Wahrnehmungskonstanz 4 1 - 4 4 Wechselwirkungstheorie 278, 279 Widerspiegelung als allgemeine Eigenschaft der materiellen Welt 10, 16, 17 Widerspiegelungstheorie des dialektischen Materialismus 1 4 - 1 9 - und Determinismus 11, 16 Willenstheorie Blondels 267, 268