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German Pages [368] Year 2015
Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie
Herausgegeben von Eberhard Hauschildt, Franz Karl Praßl und Anne M. Steinmeier
Band 82
Wilfried Sturm
»Was soll man da in Gottes Namen sagen?« Der seelsorgerliche Umgang mit ethischen Konfliktsituationen im Bereich der Neonatologie und seine Bedeutung für das Verhältnis von Seelsorge und Ethik
Vandenhoeck & Ruprecht
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-62432-6 ISBN 978-3-647-62432-7 (E-Book) Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Arbeitskreises für Evangelikale Theologie (AfeT) und der Evangelischen Landeskirche in Baden-Württemberg. q 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Druck und Bindung: CPI buchbuecher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einführung in Fragestellung und Konzeption der Untersuchung . .
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I.
II. Der Kontext der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. »Es waren zwei Königskinder« – die Diastase von Seelsorge und Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Neubelebung der Diskussion um das Verhältnis von Seelsorge und Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Die Konjunktur der Ethik als Kehrseite des postmodernen Wertepluralismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Die »Reanimation« der Ethik durch die Medizin . . . . . . 2.3 »Aus alt mach neu« – die Wiederentdeckung ethischer Dimensionen der Seelsorge . . . . . . . . . . . . . . . . .
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III. Probleme und Tendenzen der Verhältnisbestimmung von Seelsorge und Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Verhältnisbestimmung von Seelsorge und Ethik als kategoriales Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Verhältnisbestimmung von Seelsorge und Ethik als methodisches Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Die Pluralität seelsorglicher und ethischer Konzeptionen . . 2.2 Die Zirkularität von Definition und Korrelation . . . . . . . 3. Neuere Modelle der Verhältnisbestimmung von Seelsorge und Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Polarität von Seelsorge und Ethik (Dietrich Stollberg) . . . . 3.2 Ethik als Theorie der Seelsorge (Eilert Herms) . . . . . . . . 3.3 Ethik als Aspekt der Seelsorge (Jürgen Ziemer) . . . . . . . 3.4 Seelsorge als Strukturprinzip der Ethik (Michael Roth) . . . 3.5 Folgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
IV. Konfliktfelder im Bereich der Neonatologie als exemplarischer Schnittpunkt von Seelsorge und Ethik . . . . . . . . . . . . . . . 1. Definition und Abgrenzung des Begriffes »Neonatologie« . . . 2. Neonatologie und Ethik – ein »unvermeidliches Zusammentreffen« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. »Wie im Dampfkochtopf« – die Verdichtung ethischer Fragestellungen im Bereich der Neonatologie . . . . . . . . . . 3.1 Senkung von Mortalität auf Kosten erhöhter Morbidität? – Die Janusköpfigkeit moderner Hochleistungsmedizin . . . 3.2 Die Frage nach der Entscheidungsinstanz . . . . . . . . . 3.3 Die Frage nach den Entscheidungskriterien . . . . . . . . 3.4 Die Frage nach der Entscheidungsgewissheit . . . . . . . . 4. Die Konfrontation der Seelsorge mit ethischen Herausforderungen im Bereich der Neonatologie . . . . . . . . V.
Methodologische und methodische Vorüberlegungen zur Gestalt und Durchführung der empirischen Untersuchung . . . . . . . 1. Wenn Brüche zu Brücken werden – die Relevanz partikularer Erfahrung für die Theoriebildung . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Erhebung der Daten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Methode der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Der Leitfaden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Auswahl der Kliniken und befragten Personen . . . . . . 2.4 Rahmenbedingungen der Interviews . . . . . . . . . . . 2.5 Forschungsethische Überlegungen . . . . . . . . . . . . 3. Aufbereitung der Daten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Auswertung der Daten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
VI. Darstellung der Ergebnisse der empirischen Untersuchung . . . 1. Wahrgenommene ethische Herausforderungen und Konflikte 1.1 Die Frage nach Sinn und Grenze intensivmedizinischer Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Unterschiedliche Perspektiven von Eltern, Pflegekräften und Ärzten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Unzureichende Aufklärung der Eltern . . . . . . . . . . 1.4 Ablehnung eines behinderten Kindes . . . . . . . . . . . 1.5 Würdevoller Umgang mit Sterben und Tod . . . . . . . 1.6 Fragen der Verteilungsgerechtigkeit und Konflikte auf institutioneller Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.7 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
2. Einbezogenheit der Seelsorgerinnen und Seelsorger in Prozesse medizinethischer Entscheidungsfindung . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Spezifische Kompetenzen und Beiträge der Seelsorge in ethischen Konfliktsituationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Seelsorge als »weiter Raum« . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Förderung der Entscheidungsfähigkeit der Eltern . . . . . 3.2.1 Lösung von Fixierungen . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Reflexion unterschiedlicher Optionen . . . . . . . . . 3.2.3 Artikulierung von Gefühlen . . . . . . . . . . . . . . 3.2.4 Hilfe zur Entscheidungsfindung als multipler Prozess von Einzelschritten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.5 Anknüpfung an die Ressourcen der Eltern . . . . . . 3.3 Vertretung von Interessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Vertretung der elterlichen Interessen im ethischen Konsil und im Gespräch mit Ärzten . . . . . . . . . . 3.3.2 Unterstützung der Eltern im Umgang mit ärztlicher Information . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.3 Ermutigung der Pflegekräfte . . . . . . . . . . . . . . 3.3.4 Wahrung der Interessen des Kindes . . . . . . . . . . 3.4 Einbringen spezifisch christlicher Inhalte . . . . . . . . . 3.4.1 Eröffnung des Gotteshorizontes und Verweis auf das christliche Menschenbild . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.2 Rituelle Angebote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.3 Im Spannungsfeld zwischen »advocatus mortui« und »advocatus vitae« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Einbringen ergänzender, nichtempirischer Perspektiven . 3.6 Moderation ethischer Konsile . . . . . . . . . . . . . . . . 3.7 Seelsorge als »Nachsorge« . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.8 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Grundsätzliche Überlegungen und materiale Gesichtspunkte im Blick auf die Vermittlung ethischer Orientierung . . . . . . . . 4.1 Entscheidungsrahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1 Fall- und Situationsbezogenheit . . . . . . . . . . . . 4.1.2 Berücksichtigung systemischer Zusammenhänge . . 4.1.3 Vertrauen und Transparenz . . . . . . . . . . . . . . 4.1.4 Spannung zwischen Abstinenz und Konfrontation . . 4.1.5 Keine »Bauchentscheidungen« . . . . . . . . . . . . . 4.1.6 Rechnen mit dem »Faktor Zeit« . . . . . . . . . . . . 4.2 Entscheidungsgrundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
4.2.1 Die Achtung der Geschöpflichkeit, Würde und Autonomie des Menschen und die Ehrfurcht vor dem Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 »Kein Zuckerschlecken« – Akzeptanz von Leid . . . . . 4.2.3 Differenzierung zwischen Töten und Sterbenlassen . . 4.2.4 Bioethische Prinzipien und medizinethische Leitlinien 4.3 Entscheidungskriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1 Vitalität und Lebenswille bzw. Interesse des Kindes . . 4.3.2 Zur Relevanz der Lebensqualität . . . . . . . . . . . . 4.3.3 Familiäre Situation und soziales Umfeld . . . . . . . . 4.3.4 Die Bedeutung des Gewissens . . . . . . . . . . . . . . 4.3.5 Der Wille Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.6 In dubio pro vita . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Zur Frage der Entscheidungsinstanz . . . . . . . . . . . . . 4.5 Grenzen und Aporien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Spannungsfelder zwischen Seelsorge und Ethik . . . . . . . . . . 5.1 Spagat zwischen eigener ethischer Überzeugung und Respektierung der elterlichen Entscheidungsautonomie . . . 5.2 Instrumentalisierung der seelsorgerlichen Funktion entgegen ethischer Überzeugung . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Konflikt zwischen kindlichen und elterlichen Interessen . . 5.4 Spannung zwischen Nähe und Distanz . . . . . . . . . . . . 5.5 Konflikt zwischen seelsorglicher Begleitung und Moderation ethischer Gespräche . . . . . . . . . . . . . . . 5.6 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Auswirkungen der seelsorgerlich-praktischen Erfahrungen auf die ethische Reflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 »Zwischen Szylla und Charybdis« – Wahrnehmung ethischer Konflikte als Dilemmata . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Mehr Verständnis für Menschen in Konfliktsituationen . . . 6.3 Suche nach einem Weg zwischen apodiktischer und kasuistischer Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Schärfung des Blickes für die Einzigartigkeit und den Wert menschlichen Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5 Sensibilisierung des Gewissens . . . . . . . . . . . . . . . . 6.6 Wahrnehmung von Brüchen zwischen Theorie und Praxis . 6.7 Offenheit für die sich verändernde Situation und das Wirken Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.8 Wahrnehmung von Grenzen und Chancen . . . . . . . . . . 6.9 Mehr Verständnis für intensivmedizinischen Aufwand . . .
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Inhalt
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6.10 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Vorbereitung auf ethische Herausforderungen der klinikseelsorgerlichen Arbeit durch Aus- und Fortbildung . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Konzeptionelle Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1 Zum Verständnis der Seelsorge . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1.1 Komplementarität therapeutischer und kerygmatischer Konzeptionen . . . . . . . . . . . . . . 8.1.2 Seelsorge als Da-Sein und Wegbegleitung . . . . . . . 8.1.3 Seelsorge als Raum ganzheitlicher Wahrnehmung . . . 8.1.4 Seelsorge als Gott-ins-Spiel-Bringen und Eintreten für den Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1.5 Seelsorge als multiples Angebot von Vernetzen, Begleiten, Deuten und rituellem Handeln . . . . . . . . 8.2 Zum Verständnis der Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.1 Forderung einer lebensnahen, situationsbezogenen und praktikablen Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.2 Ethik als Reflexion des Handelns und seiner Beweggründe sowie als Erarbeitung handlungsleitender Kriterien . . . . . . . . . . . . . . 8.2.3 Desiderat der Identifizierbarkeit christlicher Ethik . . 8.3 Zum Verhältnis von Seelsorge und Ethik . . . . . . . . . . . 8.3.1 Gegenüber von »Prophet« und »Heiler« . . . . . . . . 8.3.2 Unterscheidung von Begleiten und Bewerten, von Zweckfreiheit und Zielorientierung, von Nähe und Weite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3.3 Ethik als Rahmen und Voraussetzung einer »guten« Seelsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3.4 Seelsorge als Hilfe zur Wahrnehmung ethischer Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3.5 Gegenseitige Entlastung und Befruchtung von Seelsorge und Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3.6 Aufwertung der Seelsorge durch ethische Kompetenz . 8.4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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VII. Analyse und Reflexion des empirischen Befundes . . . . . . . . . . 1. Die Wahrnehmung von Handlungs- und Entscheidungskonflikten als Ausdruck von Güter- und Wertkonflikten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Der Konflikt zwischen »Sanctity of Life« und »Quality of Life« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
1.2 High Tech kontra High Care . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Der Konflikt zwischen Autonomie und Fürsorge . . . . . . . 1.4 Die Spannung zwischen Kindeswohl und Elternwohl und die ethische Relevanz von Visualität und Emotionen . . . . 2. Spezifische Aspekte der Wahrnehmung ethischer Konfliktsituationen aus seelsorgerlicher Perspektive . . . . . . . 2.1 »Abenteuer in unbekanntem Terrain« – die Singularität des Einzelfalls als Anfrage an die universalistische Tendenz von Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Keine »Tabula rasa« – die Vielschichtigkeit ethischer Konflikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 »Immer im Fluss« – der prozesshafte Charakter ethischer Konflikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 »Zwischen Himmel und Erde« – der aporetische Charakter ethischer Konflikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Multidimensionalität des seelsorgerlichen Vorgehens im Kontext ethischer Konfliktsituationen . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Der Seelsorger als »Joker« (Seelsorge als »Spielraum«) . . . 3.2 Der Seelsorger als Weggefährte (Seelsorge als Präsenz und Begleitung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Der Seelsorger als Klagemauer (Seelsorge als Ermutigung zu Parresia) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Seelsorge als »sounding board« (die rezipierende, reflektierende und strukturierende Funktion der Seelsorge) . 3.5 Seelsorge als Befreiung und Geburtshilfe (die lösende und mäeutische Funktion der Seelsorge) . . . . . . . . . . . . . 3.6 Der Seelsorger als »Grenzgänger« und Dolmetscher (die vermittelnde und hermeneutische Funktion der Seelsorge) . 3.7 Der Seelsorger als »Anwalt« (die parakletisch-advokatorische Funktion der Seelsorge) . . . . 3.8 Seelsorge als Fragezeichen (die prophetisch-kritische Funktion der Seelsorge) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.9 Seelsorge als Wegweiser (die orientierende Funktion der Seelsorge) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.10 Der Seelsorger als Zeuge (die martyrologische Funktion der Seelsorge) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.11 Folgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. »Da red ich dann anders« – der Klinikseelsorger in der Doppelrolle als Seelsorger und Ethiker . . . . . . . . . . . . . . . 4.1. Formen der Doppelfunktion Seelsorger/Ethiker . . . . . . .
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Inhalt
4.1.1 Konzentration auf die »klassischen« Kernkompetenzen der Seelsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2 Übernahme moderierender Funktionen . . . . . . . . 4.1.3 Einbeziehung der Ethik als »Hilfswissenschaft« . . . . 4.1.4 Ethisches Engagement als Teil des Seelsorgeauftrages . 4.2 Chancen ethischer Kompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Ethische Kompetenz als »Türöffner« für die Seelsorge . 4.2.2 Einfluss auf die Rahmenbedingungen der Seelsorge durch Mitwirkung am ethischen Diskurs . . . . . . . . 4.2.3 Entpersonalisierung ethischer Konflikte . . . . . . . . 4.3 Probleme der Doppelfunktion Seelsorger/Ethiker . . . . . . 4.3.1 Rollenwechsel (»Umschalten« vom Seelsorger auf den Ethiker) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2 »Öl oder Sand im Getriebe«? – Die Frage nach der Unabhängigkeit der Seelsorge . . . . . . . . . . . . . . 4.3.3 »Fackel- oder Schleppenträgerin«? – Die Frage nach dem Verhältnis von theologischer und philosophischer Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Seelsorge und Ethik zwischen Rivalität und Komplementarität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.1 Polarität von Empathie und Rigorismus, von Begleitung und Bewertung, von Lebensnähe und abstrakter Theorie, von Partikularismus und Universalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.2 Parallelität von emotionalem Involviertsein und rationaler Distanz, von therapeutischer Funktion (»Heiler«) und kritischer Funktion (»Prophet«) . . . . 4.4.3 Integration der Ethik als »Rahmen«, »Entlastung« oder »prophetische« Dimension der Seelsorge . . . . . 5. Ungetrennt und unvermischt – Impulse für die Bestimmung des Verhältnisses von Seelsorge und Ethik . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Plädoyer für einen praxisgerechten Begriff von Seelsorge und Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Die Untrennbarkeit von Seelsorge und Ethik . . . . . . . . . 5.2.1 Ungetrennt – um ihrer gemeinsamen Bezugspunkte und Anliegen willen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2 Ungetrennt – um ihrer Komplementarität willen . . . . 5.2.3 Ungetrennt – um einer kompetenten Seelsorge willen . 5.2.4 Ungetrennt – um einer inkarnatorischen Ethik willen . 5.3 Die Notwendigkeit der Unterscheidung von Seelsorge und Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
5.3.1 Unvermischt – um ihrer gegenseitigen Befruchtung und Entlastung willen . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.2 Unvermischt – um der orientierenden Funktion der Ethik willen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.3 Unvermischt – um des »Mehrwerts« der Seelsorge willen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Vorwort
In seinem Buch »Moral als Preis der Moderne« plädiert der Philosoph Otfried Höffe für die Lust auf eine »neue Interdisziplinarität«. Dabei geht es ihm um eine intrapersonelle Form der Interdisziplinarität, die über eine rein additive »Personen-Interdisziplinarität« hinausgeht. Er macht daher Mut zu einem »Sichkundigmachen in fremden Forschungsgebieten, das nicht als Last empfunden wird, sondern als eine Lust«.1 Auch wenn vorliegende Dissertation, die im Sommersemester 2013 von der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig angenommen wurde, im Bereich der Praktischen Theologie angesiedelt ist, so spiegelt sie trotzdem etwas wieder von der Lust am Kennenlernen fremder Forschungsgebiete, bewegt sie sich doch im Grenzbereich von Seelsorge, Ethik und Medizin. Vor allem die Beschäftigung mit Fragestellungen der Neugeborenen- und insbesondere der Frühgeborenenmedizin führte mich auf ein Gebiet, das für mich zunächst Neuland war, das mir aber mit der Zeit mehr und mehr vertraut wurde – durch die Möglichkeit der Hospitation auf einer neonatologischen Intensivstation, durch die Teilnahme an ethischen Fallbesprechungen, durch Gespräche mit Ärzten und Pflegekräften, durch den Kontakt mit Eltern und nicht zuletzt durch die Interviews, die ich mit Klinikseelsorgerinnen und -seelsorgern geführt habe. Ich danke daher an dieser Stelle für alle wohlwollende Unterstützung, für das ermutigende Interesse an meinem Forschungsvorhaben und das großzügige Vertrauen, das mir entgegengebracht wurde, vor allem aber für die Bereitschaft, Zeit und Mühe zu investieren in die Interviews, in Informationen und Gespräche, in die Organisation und Begleitung der Hospitationsphase. Gerne hätte ich in diesem Zusammenhang Personen und Kliniken namentlich erwähnt, was jedoch angesichts der Sensibilität der in der Arbeit verwendeten Daten und der damit verbundenen Notwendigkeit der Anonymisierung leider nicht möglich ist. Die erfahrene Unterstützung war nicht nur eine unabdingbare Voraussetzung für die Durchführung meiner Untersuchung, durch den Einblick in ein bislang 1 Höffe, Moral, 256.
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Vorwort
fremdes Forschungsfeld eröffneten sich mir auch neue Horizonte, die mich zu selbstkritischer Reflexion anregten. Darüber hinaus hinterließ die Arbeit in mir einen tiefen Respekt vor der Arbeit von Klinikseelsorgerinnen und -seelsorgern, die sich immer wieder der Herausforderung aporetischer Situationen stellen und an einer Schnittstelle von kirchlichem und säkularem Kontext eine Brückenfunktion wahrnehmen. Geblieben ist auch eine hohe Wertschätzung des Verantwortungsbewusstseins und der Sorgfalt, mit der sich Ärztinnen und Ärzte, Pflegerinnen und Pfleger um die bestmögliche Lösung von Konflikten bemühen. Geblieben ist schließlich die Hochachtung vor Eltern, die sich Entscheidungen nicht leicht machen und sich oft mit dem Mut der Liebe auf einen Weg einlassen, dessen Konsequenzen sie im Voraus nicht abschätzen können. Ein besonderer Dank gilt Prof. Dr. Peter Zimmerling, der das Werden dieser Arbeit begleitete, indem er mir den Freiraum zu eigener Wegfindung gewährte und doch gleichzeitig mit aufmerksamem Interesse den Gang meiner Arbeit verfolgte. Ich danke ihm für allen konstruktiven Rat, für alles freundlich-geduldige Nachfragen und alle Ermutigung, vor allem, dass er mir mehr zutraute als ich mir selbst. Ebenso danke ich Prof. Dr. Rochus Leonhardt für die Erstellung des Zweitgutachtens. Herzlich danke ich meiner Frau Judith für alle Geduld und Unterstützung, nicht zuletzt auch durch Korrekturarbeiten, sowie meinen Kindern für das Verständnis, das sie für die zeitweise nicht nur physische, sondern auch mentale Abwesenheit ihres Vaters aufgebracht haben. Waltraud Hoppenworth danke ich für die sorgfältige Durchsicht der Dissertation für den Druck. Danken möchte ich an dieser Stelle auch dem Arbeitskreis für evangelikale Theologe (AfeT) sowie der Evangelischen Landeskirche in Württemberg für die wohlwollende Unterstützung der Veröffentlichung durch Druckkostenzuschüsse. Für die Drucklegung wurde die Dissertation leicht überarbeitet und aktualisiert. Mir ist bewusst, dass vorliegende Arbeit nicht zustande gekommen wäre, wenn Gott nicht immer wieder neu offene Türen und Durchhaltevermögen geschenkt hätte. Bad Liebenzell, im Januar 2015, Wilfried Sturm
I.
Einführung in Fragestellung und Konzeption der Untersuchung
»Was soll man da in Gottes Namen sagen?« Diese Frage habe sie sich gestellt, als sie die ersten Male an einer Patientenfallbesprechung auf der neonatologischen Intensivstation teilnahm – so rückblickend eine Klinikseelsorgerin.1 Zunächst einmal spiegeln sich in dieser Frage die Aporien wider, mit denen Seelsorge im Bereich der Neonatologie immer wieder konfrontiert wird. In einem tieferen Sinn lässt sich die Frage aber auch als Herausforderung verstehen: Was soll man da im Namen Gottes sagen, d. h., wie ist diesen Aporien vor dem Horizont Gottes zu begegnen, in einer Haltung, die sich der Offenbarung Gottes in Jesus Christus und dem christlichen Menschenbild verpflichtet weiß? Vorliegende Untersuchung geht der Frage nach, wie Klinikseelsorgerinnen und -seelsorger2 aus ihrer Perspektive mit ethischen Herausforderungen und Konfliktsituationen im Bereich der Neu- und Frühgeborenenmedizin umgehen und welche Einsichten sich daraus für das Verhältnis von Seelsorge und Ethik gewinnen lassen.3 Unter einem ethischen Konflikt sollen sowohl der ethische 1 Persönliches Gespräch mit einer Klinikseelsorgerin im Anschluss an eine ethische Fallbesprechung. 2 Um der besseren Lesbarkeit willen wird im weiteren Teil der Untersuchung im Fall von Berufsbezeichnungen in der Regel die männliche Form gebraucht, während dort, wo Seelsorgende oder Angehörige des medizinischen Teams als Personen im Blick sind, die weibliche und männliche Form verwendet wird. 3 Während es eine ganze Reihe qualitativ-empirischer Studien gibt, die sich mit der elterlichen Partizipation bei Entscheidungskonflikten im Bereich der Neonatologie befassen (vgl. die Studie von Brinchmann u. a., What Matters to the Parents? und den Überblick über weitere Studien dort 389 f), sowie Untersuchungen zum ärztlichen und pflegerischen Umgang mit ethischen Fragen der Früh- und Neugeborenenmedizin (vgl. z. B. Brinchmann, We Did what We Could; Gerber, Selbstvergewisserung), ist mir im deutschsprachigen Bereich keine qualitative Studie bekannt, die den Beitrag der Seelsorge im Prozess ethischer Entscheidungsfindung in der Neonatologie thematisiert. Im Blick auf das Design am ehesten vergleichbar ist die qualitativ-empirische Studie von Gwendolin Wanderer zu ethischen Dimensionen der Seelsorge im Bereich der Psychiatrie, vgl. Wanderer, Ethik in der Psychiatrieseelsorge. Zum Alltagserleben von Eltern nach der Krankenhausentlassung ihres frühgeborenen Kindes vgl. die qualitative Studie Frenzel, Frühgeborene. Nicht mehr berücksichtigt werden konnten die Ergebnisse der von der Forschungsstätte der Evangelischen
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Einführung in Fragestellung und Konzeption der Untersuchung
Dissens im Sinne des Widerstreits unterschiedlicher ethischer Konzeptionen wie auch das moralische Dilemma im Sinne konfligierender Werte, Normen und Handlungskriterien innerhalb einer ethischen Theorie verstanden werden.4 Um eine Engführung auf die Thematik des ethischen Dilemmas zu vermeiden, wird der Begriff des ethischen Konflikts – auch mit Rücksicht auf den alltagssprachlichen Gebrauch – um den der ethischen Herausforderung erweitert. Die Klinikseelsorge wird nicht als eine Sonderform von Seelsorge, sondern als »wirkliche« Seelsorge wahrgenommen, nur dass sie – wie alle Seelsorge – in einem spezifischen Kontext geschieht.5 Vergleichbares gilt für die Medizinethik, die üblicherweise der Angewandten Ethik bzw. den Bereichsethiken zugeordnet wird.6 Diese an sich sinnvolle Differenzierung darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch die Diskussion spezieller Fragen der medizinischen Ethik – explizit oder implizit – von ethischen Grundentscheidungen ausgeht.7 Insofern
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Studiengemeinschaft (FEST) Heidelberg und der Evangelischen Akademie zu Berlin durchgeführten empirischen Studie, die Ende 2015 erscheinen wird unter dem Titel: Thorsten Moos/Simone Ehm/Fabian Kliesch/Julia Thiesbonenkamp-Maag, Ethik in der Klinikseelsorge. Empirie, Theologie, Ausbildung, Göttingen 2016. Vgl. Sellmaier, Ethik der Konflikte, 8 f. Ähnlich Gengenbach, Beraten, 103 f im Blick auf die sogenannte »Notfallseelsorge«. M. Klessmann kann die Klinikseelsorge sogar als »exemplarisches Pfarramt« bezeichnen, vgl. den Titel seines Aufsatzes »Krankenhausseelsorge als exemplarisches Pfarramt«. Wenn demgegenüber betont wird, es handle sich bei der Krankenhausseelsorge um »einen eigenständigen kirchlichen Arbeitszweig«, nicht um »eine Variante von Gemeindeseelsorge«, Konferenz für Krankenhausseelsorge, Konzeption, 1, und wenn bei Nauer, Seelsorge, 12 f zwischen Parochial- und Kategorialseelsorge unterschieden wird, so ist zu beachten, dass im Unterschied zu Stellenbeschreibungen Seelsorgekonzepte prinzipiell »nicht arbeitsplatzgebunden« sind, sondern lediglich der kontextuellen Anpassung bedürfen, Nauer, Seelsorgekonzepte, 13. Unbeschadet des Titels seines Standardwerkes »Angewandte Ethik« favorisiert Nida-Rümelin, Theoretische und angewandte Ethik, 63, den Begriff »Bereichsethik«, um das Missverständnis einer »bloße[n] Anwendung normativer Theorie«, unabhängig »von lebensweltlichen Überzeugungen und Intuitionen« zu vermeiden, 57. Auch Fenner, Angewandte Ethik, 21, lehnt »ein einsinniges deduktives Vorgehen« angesichts der Bedeutung der Situationsanalyse für ethische Entscheidungsprozesse ab, sieht aber in dem Begriff der »Angewandten Ethik« eine sinnvolle Klammer, die den inneren Zusammenhang der Bereichsethiken durch die Rückbindung an allgemeine ethische Grundlagen wahrt, vgl. 46. Mit Fenner soll unter Medizinethik eine Bereichsethik verstanden werden, »die sich mit ethischen Problemen beim Umgang mit medizinischen Möglichkeiten im Gesundheitswesen befasst«, 53. Vgl. den Hinweis auf die Gefahr einer Verschleierung ethischer Grundentscheidungen durch das Argument fachlicher Kompetenz bei Spaemann, Wie praktisch ist die Ethik?, 34 f. Leist, Lebensrecht, 161, geht noch einen Schritt weiter, wenn er der Angewandten Ethik vorwirft, sie habe »sich dazu verleiten lassen, dezidiert konkrete und präzise moralische Urteile abzugeben, ohne dazu wirklich legitimiert zu sein«. Dagegen möchten die Herausgeber des »Handbuches Ethik« durch die ausgewogene Berücksichtigung sowohl fundamental- und metaethischer wie auch anwendungsethischer Fragestellungen »deutlich machen, dass die Angewandte Ethik der Sache nach immer an den fundamental- und metaethischen Grundlagendiskurs zurückgebunden bleibt und dass Entwicklungen im einen Bereich stets für neue Herausforderungen im jeweils anderen sorgen«, Düwell u. a. (Hg.), Handbuch Ethik, VII.
Einführung in Fragestellung und Konzeption der Untersuchung
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gehorchen Bereichsethiken nicht einer Eigen- bzw. Sachgesetzlichkeit, sondern bedeuten die Konkretisierung ethischer Reflexion im Blick auf ein bestimmtes Handlungsfeld mit seinen spezifischen Herausforderungen. Die vorliegende Untersuchung versteht sich daher als eine Art Miniatur mit modellhaften Zügen. Sie beleuchtet die grundsätzliche Frage nach dem Verhältnis von Seelsorge und Ethik anhand eines exemplarischen Praxisfeldes, um daraus wiederum Schlüsse für die Theoriebildung zu ziehen. Dabei geht die Untersuchung davon aus, dass Theorie und Praxis keine Gegensätze sind, sondern einander befruchten, indem sie sich gegenseitig durchdringen.8 Zunächst gilt es den größeren Kontext, indem sich die Untersuchung bewegt, zu skizzieren (Kap. II). Er ist gekennzeichnet durch ein neu erwachtes Interesse an ethischen Fragestellungen verbunden mit einem Wiederaufleben der Diskussion um das Verhältnis von Seelsorge und Ethik. Dabei haben medizinethische Fragen geradezu die Rolle eines »Schrittmachers« übernommen. Gerade im Kontext medizinethischer Konflikte stellt sich neu die Frage nach den ethischen Dimensionen von Seelsorge. Vor allem verbindet sich mit der Einbeziehung von Klinikseelsorgerinnen und -seelsorgern in medizinethische Entscheidungsprozesse (sei es durch die Teilnahme an ethischen Fallbesprechungen auf stationärer Ebene, sei es durch die Mitgliedschaft im Ethikkomitee einer Klinik) der Ruf nach ethischer Kompetenz. Bezeichnend ist, dass auf Fortbildungsveranstaltungen bereits »die Doppelrolle als Klinikseelsorger/in und als ›Ethiker/in‹« thematisiert wird.9 Ausgehend von diesen Entwicklungen wird die Arbeit – nach einer Verständigung über die Begriffe »Seelsorge« und »Ethik« und die Schwierigkeiten ihrer Verhältnisbestimmung – einen Überblick über markante, für das Thema relevante Tendenzen in der Diskussion des Verhältnisses von Seelsorge und Ethik geben, wie sie Anfang der 90-iger Jahre des vorigen Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum neu angestoßen wurde (Kap. III).10 Es folgt eine Einführung in die ethischen Konfliktfelder, die sich im Zusammenhang mit der intensivmedizinischen Behandlung von Früh- und Neugebo8 Klessmann, Seelsorge, 9, spricht im Blick auf die Seelsorge von einem »Theorie-PraxisZirkel«, in dem sich Theorie und Praxis gegenseitig kritisch reflektieren und zu Modifikationen anregen. Ähnlich betont Nida-Rümelin, Theoretische und angewandte Ethik, 61, im Blick auf die Ethik: »Theoretische und praktische Fragen der Ethik bilden nicht zwei disjunkte Klassen, sondern ein Kontinuum«. 9 So lautete z. B. das Thema einer Einheit der Medizinethischen Werkwoche für Klinikseelsorgerinnen und Klinikseelsorger vom 21.–24. Januar 2008 in der Evangelischen Akademie Bad Boll. 10 Vgl. dazu vor allem die aus dem Gespräch einer interdisziplinären Arbeitsgruppe hervorgegangenen Beiträge zum Verhältnis von Seelsorge und Ethik in PTh 80, 1991, 3 – 77 sowie die in WzM 58, 2006, 207 – 286 abgedruckten Vorträge, die 2005 auf dem Züricher Symposium über »Ethische Dimensionen der Seelsorge« gehalten wurden.
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Einführung in Fragestellung und Konzeption der Untersuchung
renen auftun (Kap. IV). Dabei geht es nicht um eine Vorwegnahme von Ergebnissen aus den Interviews, sondern um eine Skizzierung des Rahmens, in dem Seelsorge im Bereich der Neonatologie geschieht. Die Konzentration auf den Bereich der Neonatologie hat ihren Grund in den besonderen Herausforderungen, die dieser Bereich an die ethische Kompetenz des Seelsorgers stellt. Auch wenn die Neonatologie einen vergleichsweise nur kleinen Ausschnitt aus dem Spektrum medizinischer Arbeit darstellt, so verdichten sich hier im Zusammentreffen von Fragestellungen des Lebensanfangs und des Lebensendes grundlegende Fragen, die auch in anderen medizinischen Bereichen eine Rolle spielen. Zu nennen wäre insbesondere die Spannung zwischen Technik und Humanität, der Konflikt zwischen Lebenserhaltung und Leidensminderung (Senkung der Mortalität auf Kosten der Morbidität), die Schwierigkeit der Unterscheidung von Sterbenlassen und Töten, die Frage nach der ethischen Relevanz von Lebensqualität und kommunikativen Fähigkeiten. Hinzu kommen – wie bei allen medizinethischen Fragen – die Rahmenbedingungen einer postmodernen Wertepluralität, die die ethische Konsensfindung zusätzlich erschweren. Kapitel Vund VI schlagen die Brücke zur konkreten seelsorgerlichen11 Praxis. Anhand von qualitativen Interviews mit Klinikseelsorgerinnen und -seelsorgern, die über Erfahrungen im Bereich der Neonatologie verfügen, soll der seelsorgerliche Umgang mit ethischen Konfliktsituationen in diesem Bereich beleuchtet werden. Es handelt sich bei den Befragungen um flexibel gehandhabte Leitfadeninterviews, die der Eigendynamik des Gespräches Rechnung tragen und auch narrativen Elementen Raum lassen. Im Blick auf den individuellen, situativen Charakter des seelsorgerlichen Bemühens wurde bewusst der qualitative Zugang einer quantitativ-repräsentativen Umfrage vorgezogen. Sie soll darüber Aufschluss geben, welche ethischen Herausforderungen von Seelsorgerinnen und Seelsorgern wahrgenommen werden, worin sie jeweils ihren Beitrag im Umgang mit solchen Herausforderungen sehen und welche Schlussfolgerungen sich daraus für ihre eigene Sicht des Verhältnisses von Seelsorge und Ethik ergeben. Es schließt sich die Analyse und Reflexion des im zweiten Teil erhobenen empirischen Befundes an (Kap. VII). Dabei deuten sich folgende Schwerpunkte an: Zum einen ist zu untersuchen, welche Wert- und Normenkonflikte sich in 11 Da von den befragten Seelsorgerinnen und Seelsorgern ebenso wie in der zitierten Literatur sowohl der Begriff »seelsorgerlich« wie auch der Begriff »seelsorglich« gebraucht wird, werden beide Begriffe synonym verwendet. Im Titel der Arbeit wurde – auch wenn sich in der neueren Seelsorgeliteratur zunehmend der Begriff »seelsorglich« durchsetzt – die Formulierung »seelsorgerlich« beibehalten, da sich der Fokus der Studie auf das professionsspezifische Verhalten von Seelsorgepersonen richtet, Steiger, Art. Seelsorge, 8. Dagegen wird als Gegenüber zu dem Begriff »ethisch« die Formulierung »seelsorglich« bevorzugt.
Einführung in Fragestellung und Konzeption der Untersuchung
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den wahrgenommen ethischen Fragestellungen widerspiegeln. Zum andern ist zu erörtern, welche Perspektiven und spezifischen Beiträge die Seelsorge in medizinethische Entscheidungsprozesse einzubringen vermag. Wie können Eltern, Ärzte und Pflegekräfte angesichts manchmal aporetischer Situationen in ihrem Bemühen um eine verantwortliche Entscheidung unterstützt werden? Schließlich ist auch die Doppelrolle Seelsorger/Ethiker zu thematisieren. Inwiefern bedeutet diese Doppelrolle einen Rollenkonflikt, inwiefern birgt sie die Chance, eine eher vernachlässigte Dimension der Seelsorge zurückzugewinnen? In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage nach der Rolle der Seelsorge innerhalb des Systems »Klinik«: Ist die zunehmende Einbeziehung bzw. die »Einmischung« der Seelsorge in ethische Klärungsprozesse zu begrüßen und zu fördern, oder sollte sich die Seelsorge stärker konzentrieren auf ihre »Kernkompetenzen« (religiöse Sinnvermittlung, spirituelle und rituelle Begleitung)? Inwiefern verknüpft sich mit der Chance der Integration der Seelsorge in die klinische Ethikberatung die Gefahr eines Verlustes an Freiräumen und spezifischem Profil? Befürwortet man eine Präsenz der Seelsorge auf struktureller Ebene, so ist zu überlegen, wie theologische Gesichtspunkte unter den Bedingungen postmoderner Wertepluralität in den ethischen Diskurs eingebracht werden können. Abschließend versucht die Arbeit den Ertrag der Untersuchung in Form von Impulsen für die Frage nach dem Verhältnis von Seelsorge und Ethik fruchtbar zu machen: Wie lassen sich Seelsorge und Ethik voneinander abgrenzen? Wie können sich Seelsorge und Ethik trotz (oder gerade wegen) ihres unterschiedlichen Profils gegenseitig befruchten? Inwiefern bedarf Seelsorge der ethischen Kompetenz, um ihrem Auftrag gerecht zu werden? Umgekehrt: Inwiefern bedarf die ethische Reflexion der Rückkopplung an die seelsorgerliche Erfahrung (im Sinne einer »seelsorgerlichen Ethik«12), um lebensnah und praxisrelevant zu bleiben? Inwiefern wird sie gerade durch die aporetischen Erfahrungen in der seelsorgerlichen Praxis an die Grenzen ihrer Tragfähigkeit erinnert und auf das Rechtfertigungsgeschehen als Fundament christlichen Lebens und Handelns zurückgeworfen?
12 Vgl. Bayer, Der seelsorgerliche Grundzug, sowie Roth, Seelsorge als Dimension der Ethik.
II.
Der Kontext der Untersuchung
1.
»Es waren zwei Königskinder« – die Diastase von Seelsorge und Ethik
Verfolgt man die Geschichte der Beziehung zwischen Seelsorge und Ethik, so beobachtet man, dass sich die Disziplinen – vor allem im evangelischen Bereich – im 20. Jahrhundert mehr und mehr auseinanderentwickelt haben. So wird ihre Beziehung zueinander als »ein eher vernachlässigtes Thema«1 gesehen, man stellt fest, dass Ethik und Seelsorge »lange Zeit eigene Wege« gegangen sind,2 der amerikanische Religionswissenschaftler und Psychologe Don Browning spricht gar von einer »Entfremdung der Seelsorge von der Ethik«.3 Auch in neuerer Zeit finden sich selbst in den Bereichen von Bioethik und Klinikseelsorge mit ihren zahlreichen Berührungspunkten nur wenige Beispiele einer Zusammenarbeit.4 Die Gründe für diese Entwicklung sind vielschichtig: - Teilweise werden im Bereich evangelischer Theologie Vorbehalte gegen eine Vermittlung ethischer Normen in der Seelsorge mit der lutherischen Unterscheidung von Gesetz und Evangelium begründet. Hat das Evangelium bei Luther eine ethisch entlastende Funktion im Sinne der Freiheit vom Gesetz, verbunden mit »einer Entkoppelung von Moral und Heilserlangung«,5 und versteht man »die Seelsorge als eine Gestalt der Kommunikation des Evangeliums«,6 so kann der Inhalt der Seelsorge nicht in der Vermittlung ethischer
1 Fischer, Ethische Dimensionen, 207. 2 Kunz/Neugebauer, Ethische Seelsorge, 246. 3 Vgl. dazu seinen gleichnamigen Aufsatz in der Zeitschrift Concilium 18, 1982, 375 – 382 sowie das entsprechende Kapitel »The Estrangement of Care from Ethics« in seinem 1983 erschienenen und 2009 neu aufgelegten Buch »Religious Ethics and Pastoral Care« (in der Neuauflage 18 – 30). 4 Vgl. Zimmermann-Acklin, Bioethik und Spitalseelsorge, 39. 5 Leonhardt, Grundinformation Dogmatik, 426; siehe auch Leonhardt, Moralische Urteilsbildung, 182. 6 Meyer-Blanck, Theologische Implikationen, 25.
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Der Kontext der Untersuchung
Ansprüche bestehen. Vielmehr geht es im Evangelium um den Glauben, »dass Gott kein verurteilender Gesetzgeber ist, der den Menschen durch Weisungen zum Schuldigen macht«, sondern gerade »den falsch Handelnden durch Liebe aufrichtet und zurechtbringt«.7 - Darüber hinaus musste im evangelischen Bereich – vorbereitet durch das Freiheitsideal der Aufklärung (Aufklärung als »Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit«8) – die Rezeption von Schleiermachers Betonung der Mündigkeit des Christen und seiner Fähigkeit, sich selbst »aus dem göttlichen Wort berathen [zu] können«,9 fast zwangsläufig zu Vorbehalten gegenüber ethischer Beratung innerhalb der Seelsorge führen. Auch wenn Schleiermacher eine Standpunktlosigkeit des Seelsorgers als vertrauensmindernd ablehnt,10 so plädiert er dafür, im Bedarfsfall entweder den subjektiven Charakter des eigenen Ratschlags zu betonen, oder aber dem Ratsuchenden zu innerer Klarheit und eigener Entscheidung zu verhelfen.11 Insofern förderte Schleiermachers Ansatz die grundlegende Erkenntnis neuerer Seelsorgetheorie, »dass Seelsorge nicht mit dirigistischer Seelenleitung und autoritärer Beratung zu verwechseln ist«.12 Der Ablehnung jeder Form von geistlicher Bevormundung und die Sorge vor unbefugter Einmischung in die Angelegenheiten anderer entsprach in der ethischen Zielsetzung der Seelsorge spätestens seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts eine »Wende von der Fremdbestimmung zur Selbstbestimmung«,13 die mit dem herkömmlichen Verständnis von theologischer Ethik als autoritative Vermittlung von Normen kaum mehr vereinbar war. Zunehmend entwickelte sich ein Verständnis von Seelsorge, das sich nicht mehr an dem Paradigma der »Leitung unmündiger Schafe« orientierte, sondern eine »partnerschaftliche Kommunikation« anstrebte.14 - Möglicherweise trug im protestantischen Raum auch ein einseitiges Verständnis des Konzepts der »kerygmatischen Seelsorge« zu einer kritischen Distanz der Seelsorge gegenüber der Ethik bei. Sieht man mit Eduard Thurneysen15 den »alleinigen Inhalt« des seelsorgerlichen Gespräches in der 7 Meyer-Blanck, Theologische Implikationen, 24. 8 Kant, Was ist Aufklärung?, 35. Bemerkenswert ist, dass Kant in diesem Kontext auch die geistliche Unmündigkeit kritisiert: »Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich […] einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, […] brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen«, 35. 9 Schleiermacher, Die praktische Theologie, 430. 10 Schleiermacher, Die praktische Theologie, 437 f. 11 Schleiermacher, Die praktische Theologie, 452. 12 Wintzer, Seelsorge, XXV. Wintzer nimmt hier Bezug auf Otto Baumgarten. 13 Müller, Ethos, 9. 14 Stollberg, Therapeutische Seelsorge, 15 f. 15 Zusammen mit Hans Asmussen (vgl. dessen grundlegendes Werk: Die Seelsorge. Ein praktisches Handbuch über Seelsorge und Seelenführung, München 1934) zählt Thurneysen
»Es waren zwei Königskinder« – die Diastase von Seelsorge und Ethik
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»Ausrichtung der Vergebung der Sünden in Jesus Christus«,16 die nur dann ihre Wirkung entfalten kann, »wenn sie bedingungslos ausgerichtet wird« (143), so macht konsequenterweise alle Vorschaltung oder Nachschaltung des Gesetzes im Sinne der Verpflichtung zu moralischem Verhalten »das große, göttliche Von-Vornherein« der Vergebung zunichte (145). Seinen Platz hat in dieser Konzeption das Gesetz nur innerhalb der Ausrichtung der Botschaft von der Vergebung als Ruf zum Gehorsam des Glaubens, als »Beschlagnahme des Menschen« für seinen Herrn (225), als der befreiende Befehl: »Komm heraus aus deiner Sünde! Du kannst es, denn sie gilt nicht mehr über dir« (228). Auch wenn Thurneysen damit die ethische Dimension der Seelsorge gerade nicht ausgeblendet, sondern das Gebot als »Befehlsgestalt« (228) des Evangeliums verstanden hat, als ein Ernstnehmen der schöpferischen Kraft des Vergebungswortes, das den Menschen »real unter die Hand […] Gottes« stellt (230), so konnte seine strikte Abwehr eines moralisierenden Gebrauches des Gesetzes in der Seelsorge doch leicht als Befürwortung einer ethischen Abstinenz missverstanden werden.17 - Vor allem aber führte die Annäherung der Seelsorge an die Psychotherapie zu einem skeptischen Umgang mit Normen, der durch die Kritik der 68er-Bewegung an der traditionellen, vorwiegend auf christlichen Wertmaßstäben beruhenden Moral, verstärkt wurde.18 Ethische Fragestellungen wurden »nicht wirklich als ethische wahrgenommen, sondern als biografisch entstandene und entsprechend therapeutisch zu bearbeitende Konflikte«,19 sodass man geradezu von einer Eliminierung der ethischen Frage aus der Seelsorge sprechen kann.20 Zugespitzt formuliert: Schien es aus kerygmati-
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zu den Hauptvertretern der kerygmatischen oder verkündigenden Seelsorgekonzeption. Auch wenn der Begriff »kerygmatische Seelsorge« nicht von Asmussen bzw. Thurneysen selbst geprägt wurde, so spiegelt er doch das Kernanliegen ihres Seelsorgeansatzes wieder, vgl. Nauer, Seelsorgekonzepte, 22. Thurneysen, Lehre von der Seelsorge, 129. Auf diesen Titel beziehen sich auch die nachfolgenden Seitenangaben in Klammern. Dass es sich hier um ein Missverständnis handelt, zeigt die Beobachtung, dass Thurneysen in der seelsorgerlichen Praxis unter Verweis auf das gnädige Gebot Gottes (im Gegensatz zu gesetzlichem Zwang) durchaus konkret auf Fragen der Lebensführung eingehen konnte; vgl. dazu seine Ausführungen zur »Beratung in Ehefragen« in Thurneysen, Praktische Seelsorge, 9 – 88 (Auszug aus seinem Buch »Seelsorge im Vollzug«), ebenso sein brieflich-seelsorgliches Eingehen auf die Fragen von »Liebe und Ehe« in »Christ und Welt«, 104 – 111. Vgl. Kunz/Neugebauer, Ethische Seelsorge, 246. Etwas anders gestaltete sich die Entwicklung im Bereich der römisch-katholischen Kirche aufgrund ihrer starken Betonung der Moraltheologie. Doch kommt es auch hier zu Konflikten zwischen einer therapeutisch orientierten Seelsorge, die eine selbstbestimmte und eigenverantwortliche Entscheidung zu fördern und zu respektieren sucht, und der Bindung an das (oft als zu strikt und lebensfremd empfundene) kirchliche Ethos (vgl. z. B. die Diskussion um den Ausstieg aus der staatlichen Schwangerschaftskonfliktberatung). Klessmann, Seelsorge, 300. Vgl. Müller, Ethos, 4.
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Der Kontext der Untersuchung
scher Perspektive zu genügen, »wenn der Sünder erlöst war«, so reichte es aus therapeutischer Sicht, »wenn der Patient gesund war«.21 Bis heute steht die Seelsorge einem normativen Verständnis von Ethik mit Vorbehalten gegenüber. Auch wenn man bereit ist, der ethischen Dimension in der Seelsorge »einen breiteren Raum« zuzugestehen, so verbindet sich damit immer noch die latente Befürchtung, es könnten Menschen »unter Druck gesetzt oder ihnen auf moralisierende, manipulative oder bevormundende Art und Weise vorab fixierte Ethos-Pakete übergestülpt bzw. aufoktroyiert werden«.22 Zwar erwartet man von der Seelsorge angesichts einer unübersehbaren Pluralität von Lebensmöglichkeiten verstärkt Orientierungshilfe, will dabei jedoch nicht zurückfallen in das alte »Klischee von Seelsorge«, die »selbst Antworten oder Richtlinien vorgibt«,23 einmal abgesehen davon, dass gerade der Wertepluralismus moderner Gesellschaften eine Plausibilisierung ethischer Überzeugungen erschwert.24 Vor allem gilt es angesichts der Gleichsetzung von Ethik und Moral im alltäglichen Sprachgebrauch das Missverständnis zu vermeiden, als gehe es in der Seelsorge um Moral, verbinden sich doch damit Assoziationen (»Moralapostel«, »moralischer Zeigefinger« etc.), die den Eindruck erwecken, es handle sich hier »um ein Ungeheuer […], vor dem man sich in Acht nehmen muss, das es jedenfalls nicht gut mit einem meint, sondern nur darauf aus ist, einem die unbekümmerte Freude am Dasein zu rauben«.25 - Umgekehrt kam es auf Seiten der Ethik im 19. Jahrhundert im Gefolge der Aufklärung zu einer »Auswanderung der Ethik aus der Theologie«26 zugunsten einer emanzipierten humanen Ethik, die sich aus der als autonom verstandenen Vernunft speiste.27 Zwar führte dies – vor allem innerhalb der 21 Engemann, Aneignung der Freiheit, 37. Engemann beklagt in diesem Zusammenhang eine Verkümmerung der »didaktischen Dimension der Seelsorge«, die immer noch mit dem Missverständnis der Belehrung behaftet zu scheint. Dagegen differenziert er zwischen formaler Beratung im Sinne der Belehrung und effektiver Beratung im Sinne der Förderung von »Lebenskunst«, 38 f. 22 Nauer, Seelsorge, 177. 23 Klessmann, Seelsorge, 113. In diesem Zusammenhang fällt auf, dass Klessmann zwar zwei Abschnitte seines Lehrbuches der ethischen Dimension der Seelsorge widmet (§ 3.6 Die philosophisch-lehrhafte, ethische Dimension der Seelsorge und § 9 Seelsorge und Ethik), dass jedoch die ethische Kompetenz des Seelsorgers weder in der Beschreibung der professionellen Kompetenz des Seelsorgers (§ 10.2) noch in den angestrebten Aus- und Fortbildungszielen (§ 12) eine Rolle spielt. 24 Vgl. Browning, Entfremdung, 375. 25 Schockenhoff, Grundlegung der Ethik, 18 f. 26 Müller, Ethos, 3. 27 Vgl. Leonhardt, Grundinformation Dogmatik, 429, der in der neuzeitlichen Philosophie »[e]ntscheidende Schritte zu einer […] von allen religiösen Vorgaben unabhängigen (nur auf der praktischen Vernunft des Menschen basierenden) Ethik« erkennt.
Die Neubelebung der Diskussion um das Verhältnis von Seelsorge und Ethik
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dialektischen Theologie – wiederum zu der Gegenbewegung einer dezidiert theologischen Begründung christlicher Ethik. Dadurch kam es jedoch erst recht zu einer »Antithetik« von neuzeitlich-säkularer Ethik und Theologie,28 was zumindest die Kluft zwischen einer philosophisch orientierten Ethik und einer kirchlich gebundenen Seelsorge verstärkte. - Schließlich wird auch auf einen »natürlichen Konflikt zwischen Seelsorge und Ethik«29 verwiesen. Während die Seelsorge die Einmaligkeit und Unverwechselbarkeit menschlicher Individualität und Biografie im Blick habe, neige die Ethik zur Abstraktion und zur Universalisierung. Zeichne sich die Seelsorge durch Empathie und einfühlsame Nähe aus, so die Ethik eher durch rationale Argumentation und nüchterne Distanz. Gehe es in der Seelsorge vor allem um Zuspruch und Vergewisserung, so ziele die Ethik auf die Gestalt des Handelns.30 - Speziell im Blick auf das Verhältnis von Bioethik und Klinikseelsorge sieht Zimmermann-Acklin eine Ursache ihrer Distanz darin, dass Bereichsethiken wie z. B. die Bioethik ebenso wie die Klinikseelsorge angesichts zunehmender Säkularisierung und Entkirchlichung bestrebt sind, sich durch die Entwicklung eines eigenständigen Profils und institutionelle Etablierung zu behaupten.31
2.
Die Neubelebung der Diskussion um das Verhältnis von Seelsorge und Ethik
2.1
Die Konjunktur der Ethik als Kehrseite des postmodernen Wertepluralismus
Pflegte die Seelsorge – wie oben aufgezeigt – über Jahrzehnte hinweg ein eher kritisch-distanziertes Verhältnis zur Ethik, so lässt sich in neuerer Zeit eine gegenläufige Tendenz beobachten. Auslöser dafür ist in erster Linie das neu erwachte Interesse an ethischen Fragen in Gesellschaft und Kirche, das zu einer »Hochkonjunktur«32 der Ethik geführt hat, um nicht gar von einem »Ethikboom«33 zu sprechen. Eine Ursache für diese Konjunktur der Ethik ist in den 28 Rendtdorff, Ethik, Bd. I, 1980, 15 f; der Abschnitt fehlt in den neueren Auflagen von 1990 und 2011. 29 Schlaudraff, Krankenhausseelsorge und Ethik, 251. 30 Vgl. Schlaudraff, Krankenhausseelsorge und Ethik, 251. 31 Vgl. Zimmermann-Acklin, Bioethik und Spitalseelsorge, 39. 32 Lange, Ethik, 11; vgl. Quante, Allgemeine Ethik, 9: »Ethik ist gegenwärtig in aller Munde.« 33 Schneider-Harpprecht, Ethisch-moralische Kompetenz, 175. Von einem »gegenwärtige[n] Ethikboom« spricht auch Spaemann, den er freilich insofern für »verdächtig« hält, als er seiner Beobachtung nach Hand in Hand geht mit der Aufhebung moralischer Selbstver-
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Der Kontext der Untersuchung
ungeahnten wissenschaftlich-technischen Möglichkeiten zu sehen, die den Menschen vor neue ethische Herausforderungen stellen. Insofern bedeutet das wachsende Interesse an ethischer Reflexion ein »Krisenphänomen«:34 Je tief greifender sich durch Wissenschaft und Technik die Möglichkeiten der Lebensgestaltung verändern, je mehr Handlungsoptionen dem Menschen offen stehen,35 je komplexer und unübersichtlicher Entscheidungssituationen erscheinen, desto mehr wächst der Zweifel an der Tragfähigkeit traditioneller Verhaltensmuster und Handlungskriterien. Gleichzeitig sehen sich Menschen in der Postmoderne mit einer Pluralität von Wertvorstellungen und Lebensentwürfen konfrontiert, die in ihrer Unterschiedlichkeit und teilweise auch Gegensätzlichkeit geradezu den Eindruck der Beliebigkeit erwecken,36 sodass das Versprechen: »Alles ist möglich« nicht nur als Verheißung, sondern zugleich als »Fluch« und Überforderung empfunden wird.37 Das Verhältnis von Handlungswissen und Orientierungswissen gleicht somit einer Schere, die sich immer weiter öffnet, was wiederum zu einem starken Bedürfnis nach ethischer Orientierung und nach verbindlichen Maßstäben führt.38 Je größer die Freiheitsspielräume werden, desto drängender wird die Frage nach ihrer rechten Nutzung und nach ihren Grenzen.39 So werden gerade auch Seelsorgerinnen und Seelsorger aufgrund ihrer kommunikativen Kompetenz »[i]mmer häufiger […] ›um guten Rat‹ gefragt.«40 Oft stehen hinter solchen Fragen Entscheidungs-
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ständlichkeiten durch eine kritisch oder auch apologetisch motivierte Reflexion, vgl. Spaemann, Wie praktisch ist die Ethik?, 26. Körtner, Ethik im Krankenhaus, 28; vgl. Höffe, Ruf nach Ethik, 1400: »Generell wird philosophische Ethik dort aktuell, wo die überkommenen Grundsätze und Institutionen entweder ihre Geltung oder ihre Orientierungskraft verlieren. Insofern ist der Ruf nach Ethik ein Krisensymptom.« Vgl. Gross, Multioptionsgesellschaft. Ziemer, Ethische Orientierung, 388 f, stellt in diesem Zusammenhang die Frage, ob die »offenkundige Orientierungskrise«, die das postmoderne Zeitalter kennzeichnet, »durch ein Zuwenig oder nicht vielmehr ein Zuviel an angebotener Orientierung« hervorgerufen wird. Ähnlich sieht Krämer, Integrative Ethik, 94 den Einzelnen durch den Wegfall der entlastenden Funktion einer überindividuellen Gruppenmoral »unter einem wachsenden Orientierungsdefizit und Entscheidungsdruck«. Vgl. Nina Pauer, die in einem Artikel in DIE ZEIT das Lebensgefühl junger Erwachsener mit folgenden Worten beschreibt: »Was uns antreibt, ist die schizophrene Panik davor, unser Leben falsch zu leben. […] Welches ist die eine, richtige Version unserer selbst? Wir verfluchen das Schicksal dafür, dass es bei diesen Fragen keine Stütze mehr ist. In unserem Film sind wir die alleinigen Darsteller. Das Versprechen beim Dreh lautet: Alles ist möglich. Und der Fluch: Alles ist möglich«, Pauer, Wir haben keine Angst, 48. Vgl. Nauer, Seelsorge, 176; Klessmann, Seelsorge, 300. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass Spaemanns Aufsatzsammlung »[z]ur ethischen Dimension des Handelns« den Titel »Grenzen« trägt, vgl. Spaemann, Grenzen. Nauer, Seelsorge, 176. Dieses gesteigerte Orientierungsbedürfnis lässt sich nicht nur im Blick auf gesellschaftsrelevante Fragestellungen beobachten, sondern auch im Blick auf die persönliche Lebensführung: »Offenbar verstehen sich viele Vollzüge des Alltags nicht mehr
Die Neubelebung der Diskussion um das Verhältnis von Seelsorge und Ethik
27
konflikte, die nicht nach einer Therapie verlangen, sondern nach »mitdenkende[r] Solidarität«.41
2.2
Die »Reanimation« der Ethik durch die Medizin
In besonderer Weise haben sich medizinethische Fragestellungen als Schrittmacher des neu erwachten Interesses an Ethik erwiesen. Bereits 1982 stellte Stephen Toulmin nicht ohne eine gewisse Ironie fest, die Medizin habe der Ethik das Leben gerettet (»medicine has ›saved the life of ethics‹«).42 Toulmin meinte damit, dass der Realitätsbezug medizinethischer Fragestellungen die Ethik von der abstrakten Ebene metaethischer Reflexion herabgeholt habe auf den Boden der Auseinandersetzung mit konkreten und praxisnahen Konfliktfällen. So sei die ethische Diskussion aus einer primär akademischen Angelegenheit zu einem Gegenstand von öffentlichem Interesse geworden und habe an gesellschaftspolitischer Relevanz gewonnen.43 Auch wenn sich die Feststellung Toulmins auf die amerikanischen Verhältnisse bezog, so enthält sie doch eine Beobachtung, die sich ein Stück weit verallgemeinern lässt: In der Tat haben der rasante medizinische Fortschritt der letzten Jahrzehnte und die dadurch provozierten Konflikte zu einer Belebung der ethischen Diskussion geführt.44 Sie schlug sich u. a. darin nieder, dass aus der impliziten Rolle, die die Ethik im Bereich der Medizin gespielt hat, längst eine explizite Rolle geworden ist. So gehört Ethik mittlerweile zu den Pflichtfächern im Medizinstudium und in der Pflegeausbildung, an vielen Universitäten wurden Lehrstühle für das Fach Medizinethik und medizinethische Institute geschaffen, ganz zu schweigen von der wachsenden Zahl von Ethikkommissionen und -gremien, die sich mit medizinethi-
41
42 43 44
von selbst. Wir leben nicht nur in einer Risiko-, Erlebnis- und Informationsgesellschaft, sondern auch in einer Beratungsgesellschaft«, Karle, Suche nach Rat, 167. Schlaudraff, Krankenhausseelsorge und Ethik, 253. Ähnlich erinnert Engemann, Aneignung der Freiheit, 30, an die Tatsache, »dass Ungeübtheit in Fragen der Selbsterkenntnis, Ratlosigkeit angesichts widerstreitender Wünsche oder unsinnige Vorstellungen von einem erfüllten Leben keine Krankheiten sind«. Toulmin, How Medicine Saved the Life of Ethics, 750. Toulmin, How Medicine Saved the Life of Ethics, 749. Man denke an die Diskussion der Hirntodproblematik, die Stammzellendebatte, die Frage nach Verbindlichkeit und Reichweite von Patientenverfügungen, die Kontroverse um die Bewertung der Präimplantationsdiagnostik und gesetzliche Regelungen der Organspende, um nur einige Beispiele aus neuerer Zeit zu nennen. Eine geradezu spektakuläre Medienwirkung erzielten die beiden »Erlanger Babys« (1992/93 und 2009), sodass der Begriff im ersten Fall sogar in die Auswahlliste zum »Wort des Jahres« aufgenommen wurde, Frewer, Klinische Ethik, 8 f. Verstärkt wird die Aktualität medizinethischer Fragestellungen durch die Tatsache, dass es hier um Fragen geht, die prinzipiell jeden Menschen angehen, vgl. Steinkamp/Gordijn, Ethik in Klinik und Pflegeeinrichtung, 75.
28
Der Kontext der Untersuchung
schen Fragen befassen.45 Nicht zuletzt zeigt sich auch im klinischen Bereich eine »Konjunktur der Klinischen Ethik«,46 die konkrete Gestalt annimmt in der Etablierung von Ethikkomitees, Ethikkonsilen und anderen Formen ethischer Beratung an Krankenhäusern. So verfügten bereits im Jahr 2005 laut einer bundesweiten Umfrage mindestens 312 Kliniken über eine existierende oder im Aufbau befindliche Ethikberatung. Dabei reichte das Spektrum der Ethikberatung von Ethikkomitees über Ethikforen und Runden Tischen zu konsiliaren und anderen Formen der Ethikberatung.47 Weitere Recherchen ergaben für das Jahr 2011 eine systematische Berücksichtigung ethischer Fragestellungen gemäß des Kriterienkatalogs der KTQ (Kooperation für Transparenz und Qualität im Gesundheitswesen) an 542 Krankenhäusern bzw. das Leistungsangebot »Ethikberatung/Ethische Fallbesprechung« an 675 Krankenhäusern. Eine ergänzende Telefonumfrage unter den 100 größten Kliniken in Deutschland kam zu dem Ergebnis, dass in 52 Häusern eine Form von Ethikberatung existiert.48 Hinzu kommt das Angebot qualifizierender Fortbildungsprogramme und -einrichtungen.49
2.3
»Aus alt mach neu«50 – die Wiederentdeckung ethischer Dimensionen der Seelsorge
Das neu erwachte Interesse an ethischen Fragen blieb nicht ohne Auswirkung auf das Gespräch zwischen Seelsorge und Ethik. So wurden Anfang 1991 in der Zeitschrift Pastoraltheologie eine Reihe von Vorträgen zum Verhältnis von Seelsorge und Ethik abgedruckt.51 Sie entstanden im Rahmen einer interdisziplinären Projektgruppe der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie, die 45 Vgl. Simon/Neitzke, Medizinethische Aspekte, 22; Fenner, Angewandte Ethik, 53 f. 46 Bericht des Vorstands des Konvents der Krankenhausseelsorge, 1. 47 Vgl. Dörries/Hespe-Jungesblut, Implementierung, 149, Abb.1. Berücksichtigt man die Rücklaufquote von 22 % (von 2224 befragten Krankenhäusern antworteten 483), so dürfte die tatsächliche Zahl noch weit höher gelegen haben. Geschichtlich betrachtet hat die Klinische Ethikberatung ihre Wurzeln in den USA, vgl. Frewer, Klinische Ethik, 9 – 13, zur Entwicklung in Deutschland vgl. Bruns, Ethikberatung, 21 – 24. 48 Vgl. Bruns, Ethikberatung, 24 – 27. 49 Beispielhaft soll hier das von einer Arbeitsgruppe der Akademie für Ethik in der Medizin entwickelte Curriculum »Ethikberatung im Krankenhaus« erwähnt werden, das seit 2003 in Kooperation mit dem Zentrum für Gesundheitsethik in Hannover und seit 2004 unter Beteiligung weiterer Kooperationspartner (Medizinische Hochschule Hannover, Universität Erlangen) als »Qualifizierungsprogramm Hannover« angeboten wird, vgl. Dörries u. a., »Ethikberatung im Krankenhaus«, 235 – 240. 50 Vgl. den gleichnamigen Artikel von Mösli u. a., ›Aus alt mach neu‹, der sich mit der zukünftigen Zusammenarbeit von Seelsorge und Ethik im klinischen Kontext befasst. 51 Vgl. PTh 80,1991, 3 – 77.
Die Neubelebung der Diskussion um das Verhältnis von Seelsorge und Ethik
29
sich aus Vertretern der Praktischen Theologie und der Systematischen Theologie bzw. Ethik zusammensetzte.52 Ein weiterer Schritt auf dem Weg einer gegenseitigen Annäherung von Seelsorge und Ethik bildete das Symposion »Ethische Dimensionen der Seelsorge«, das im Juni 2005 in Zürich stattfand, ebenfalls mit Vertretern aus beiden Disziplinen.53 Auch in den darauf folgenden Jahren erschienen immer wieder Titel, die sich (zumindest teilweise) mit dem Verhältnis von Seelsorge und Ethik befassten.54 Eine Annäherung zeigt sich nicht zuletzt auch bei einer Durchsicht der Inhaltsverzeichnisse neuerer Lehrbücher der Seelsorge. Während man in den meisten älteren Lehrbüchern vergeblich eine Erörterung der ethischen Dimension der Seelsorge sucht, werden in der neueren Literatur immer häufiger die Vermittlung ethischer Orientierung als ein Aspekt seelsorglicher Arbeit und die Notwendigkeit ethischer Kompetenz thematisiert.55 Sicherlich hängt dies auch mit einem gewandelten Verständnis von Seelsorge und Ethik zusammen: Zum einen wird die einseitige therapeutische Prägung der Seelsorge zunehmend abgelöst durch ein multidimensionales Verständnis von Seelsorge,56 zum andern präsentiert sich gegenwärtige theologische Ethik zumindest im wissenschaftlichen Kontext nicht – wie in der Vergangenheit oft kritisiert – als Propagierung unhinterfragbarer Überzeugungen, sondern als (selbst)kritisch-methodische Reflexion der Grundlagen und Maßstäbe christlicher Lebensgestaltung.57 Hinzu kommt, dass sich die oben erwähnte Kluft zwischen Theologie und neuzeitlicher Ethik in mehrfacher Hinsicht verringert hat: - Mit dem Aufkommen der problemlösungsorientierten Bereichsethiken ergaben sich zahlreiche Berührungspunkte zwischen theologischer und philosophischer Ethik auf pragmatischer Ebene. Insbesondere findet sich im 52 Vorwort von F. Wintzer, PTh 80, 1991, 1. 53 Siehe WzM 58, 2006, 205 – 286. 54 Vgl. u. a. Charbonnier, Behandlungsentscheidungen als Kasus der Krankenhausseelsorge (2007), Körtner, Ethik im Krankenhaus, 99 – 127 (2007); Haker u. a. (Hg.), Perspektiven der Medizinethik der Klinikseelsorge (2009); Vanderhaegen, Klinische Ethik und pastorale Seelsorge (2011). 55 Vgl. Engemann (Hg.), Handbuch der Seelsorge, 308 – 322; Nauer, Seelsorge, 176 – 179.262 f; Winkler, Seelsorge, 282 – 296; Ziemer, Seelsorgelehre, 117 – 122. Ausdrücklich fordert Ziemer : »In Zukunft wird ethischen Fragestellungen in der Seelsorge breiterer Raum gewährt werden müssen«, 107. Auch M. Herbst kommt in seiner Seelsorgelehre zumindest am Rande immer wieder auf die ethisch-orientierende Dimension der Seelsorge zu sprechen, vgl. Herbst, beziehungsweise, 127.293 ff.538 – 543. 56 Vgl. Klessmann, Seelsorge, 8; siehe auch D. Nauer, die ausgehend von der Multidimensionalität des christlichen Gottes- und Menschenbildes für ein multidimensionales Verständnis der Seelsorge plädiert, Nauer, Seelsorge, bes. 101 – 104.145 – 147.224 – 227.281 – 293. Eine ähnliche Entwicklung beobachtet Fischer, Theologische Ethik, 8, im Blick auf die Entwicklung der evangelischen Ethik. 57 Vgl. Lienemann, Grundinformation Theologische Ethik, 49 f.
30
Der Kontext der Untersuchung
Bereich der medizinischen Ethik ein breiter Konsens im Blick auf methodische Schritte der Entscheidungsfindung, teilweise auch im Blick auf materiale Kriterien wie z. B. Achtung der Menschenwürde oder Respektierung von Autonomie.58 - Im Gegensatz zu rein rationalen Begründungsversuchen der Ethik wächst angesichts der Diagnostizierung einer »Wiederkehr der Religion«59 die Einsicht, dass eine Ignorierung des Einflusses religiöser und weltanschaulicher Überzeugungen auf die Handlungsorientierung »realitätsblind«60 wäre, zumal aus globaler Perspektive die strikte Trennung zwischen rationaler und religiös-weltanschaulicher Begründung ethischer Prinzipien bislang ein typisch westliches Phänomen darstellt.61 - Umgekehrt stellt die philosophische Ethik ein begriffliches und methodisches Instrumentarium zur Verfügung, das auch für eine theologische Ethik durchaus relevant ist. Insbesondere zeichnen sich innerhalb der Klinischen Ethik breite Berührungsflächen von Seelsorge und Ethik ab. Mittlerweile wird selbstverständlich davon ausgegangen, dass zum Aufgabenbereich der Klinikseelsorge auch »die Mitwirkung bei ethischen Problemstellungen« gehört.62 Nicht nur, dass Klinikseelsorger in ihren alltäglichen Kontakten mit Patienten, Angehörigen und medizinischem Personal immer wieder vor ethischen Herausforderungen stehen, auch auf struktureller Ebene werden sie zunehmend mit ethischen Fragestellungen konfrontiert. So war die Klinikseelsorge in den vergangenen Jahren proportional betrachtet relativ häufig in die Implementierung ethischer Klinikberatung involviert.63 In vielen Krankenhäusern ist die Klinikseelsorge in 58 So haben z. B. die von Beauchamp und Childress vertretenen bioethischen Prinzipien (respect for autonomy, nonmaleficence, beneficence und justice; vgl. Beauchamp/Childress, Principles of Biomedical Ethics, 99 – 287) eine breite Rezeption auch in der ethischen Fortbildung von Klinikseelsorgern gefunden. 59 Deeg/Meier, Praktische Theologie, 70 f; vgl. Zimmerling, Evangelische Spiritualität, 126 – 129. Freilich macht Deeg gegen einen vorschnellen kirchlichen »Jubel« über diese Entwicklung darauf aufmerksam, dass die Wiederkehr der Religion mit einem Verlust des kirchlichen »Deutungs- und Gestaltungsmonopol[s] in religiösen Fragen« einhergeht« (71), ebenso konstatiert Zimmerling auf Seiten der Kirche einen religiösen Monopolverlust (128). 60 Lienemann, Philosophische und theologische Ethik, 44. 61 Vgl. in diesem Zusammenhang den Hinweis bei Fischer u. a., Grundkurs Ethik, 204 – 209, auf die Abhängigkeit der Begründung moralischer Urteile oder Normen von der lebensweltlichen Bedeutung, die Menschen und Dinge für die betreffende Person haben. 62 Klessmann, Seelsorge in der Institution »Krankenhaus«, 16. Angesichts der Aufmerksamkeit, die ethische Fragestellungen im Bereich der Klinikseelsorge erfahren, stellt Roser, Ethik in der Klinikseelsorge, 82, fest: »Die Praxis hat offensichtlich längst Ethik als einen der vom Berufsfeld vorgegebenen Schwerpunkte entdeckt.« 63 Vgl. Dörries/Hespe-Jungesblut, Implementierung, 151, Tab. 2.
Die Neubelebung der Diskussion um das Verhältnis von Seelsorge und Ethik
31
ethischen Gremien vertreten, teilweise ist sie auch mit der Moderation von Fallbesprechungen betraut. Hinzu kommen die Mitwirkung an der Entwicklung hausinterner ethischer Leitlinien und die Beteiligung an der Durchführung ethischer Fortbildungsmaßnahmen. Daher werden bei der Stellenausschreibung von Krankenhauspfarrstellen mittlerweile häufig ein Interesse an ethischen Fragen bzw. Erfahrungen im ethischen Diskurs sowie die Bereitschaft zur Mitarbeit in ethischen Gremien und ethischer Fortbildung vorausgesetzt.64 Entsprechend findet sich unter den Zielen der Aus- und Fortbildung von Klinikseelsorgern auch die »Befähigung zum medizinethischen Gespräch, zur Mitarbeit in Ethikkommissionen, z. B. über Fragen des Humanum im Krankenhaus«.65
64 Vgl. Formulierungen wie z. B.: »Erfahrung und Kompetenz in der Auseinandersetzung mit ethischen Fragen ist unabdingbar« (Ausschreibung der Krankenhauspfarrstelle V, Dekanat Tübingen, Für Arbeit und Besinnung. Zeitschrift für die Evangelische Landeskirche in Württemberg, 4/2010, 40); »Mitarbeit in […] der innerbetrieblichen Fortbildung zu Themen der Medizin- und Pflegeethik« (Pfarrstelle II für Klinikseelsorge im Dekanat Wiesbaden, Amtsblatt der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, 6/2010, 237); »Mitarbeit im Ethikkomitee der Klinik« (Krankenhauspfarrstelle Stuttgart X, Karl-Olga-Krankenhaus, Für Arbeit und Besinnung, 2/2011, 50). 65 Gestrich, Aus- und Fortbildung, 331.
III.
Probleme und Tendenzen der Verhältnisbestimmung von Seelsorge und Ethik
1.
Die Verhältnisbestimmung von Seelsorge und Ethik als kategoriales Problem
Die Bestimmung des Verhältnisses von Seelsorge und Ethik sieht sich zunächst mit der Schwierigkeit konfrontiert, dass die Begriffe streng genommen verschiedene Kategorien bezeichnen. So macht Michael Roth darauf aufmerksam, »dass die häufig gebrachte Zusammenstellung von ›Seelsorge und Ethik‹ insofern missverständlich ist, als hier der Gegenstand einer Wissenschaft (Seelsorge) mit der Bezeichnung einer Wissenschaft (Ethik) in ein Verhältnis gesetzt werden soll«.1 Nimmt man es genau – so Roth – ließen sich eigentlich nur die Seelsorge und das Ethische und oder aber die Seelsorgelehre und die Ethik miteinander vergleichen.2 Dieser Einwand leuchtet ein, wird jedoch bei näherem Zusehen ein Stück weit relativiert durch die Feststellung, dass sich im alltäglichen Sprachgebrauch eine strikte Trennung zwischen Seelsorgelehre und Seelsorge bzw. entsprechend zwischen Ethik und ethischer Praxis im Sinne der Unterscheidung von Reflexionsprozess und Gegenstand der Reflexion kaum durchhalten lässt. Vielmehr sind gerade hier, wo es um praxisbezogene, handlungsorientierte Wissenschaften geht, die Grenzen oft fließend.3 Hinzu kommt, dass sowohl die seelsorgliche wie auch die ethische Praxis zwar nicht einfach mit der Anwendung von Theorie gleichgesetzt werden kann, jedoch zumindest implizit von
1 Roth, Seelsorge als Dimension der Ethik, 319, Anm. 1. 2 Roth, Seelsorge als Dimension der Ethik, 319, Anm. 1. Roser, Spiritual Care, 281, spricht daher konsequenterweise von dem »Gespräch zwischen Seelsorgetheorie und theologischer Ethik«; ähnlich spricht Körtner, Ethik im Krankenhaus, 115, präzisierend von dem »Verhältnis von Ethik und Poimenik«. 3 So weist Düwell, Angewandte oder Bereichsspezifische Ethik, 243, z. B. im Blick auf die Ethik darauf hin, dass die Ethik bereits in der Grundlagenreflexion auf Praxis abzielt, sodass die Anwendungsdimension als »Zielpunkt der ethischen Reflexion« und nicht nur als »Appendix« bzw. nachträglicher »Zusatzschritt« zu betrachten ist.
34
Probleme und Tendenzen der Verhältnisbestimmung von Seelsorge und Ethik
theoretischen Überlegungen und Weichenstellungen bestimmt wird,4 so wie umgekehrt seelsorgliche Intuition und moralische Überzeugung die Theoriebildung beeinflussen. Vor allem aber wäre eine strikte Trennung kontraproduktiv zu dem Anliegen der vorliegenden Untersuchung, die eine Verschränkung von Theorie und Praxis anstrebt. So geht es nicht nur um eine deskriptive Darstellung des Wechselspiels von seelsorglicher und ethischer Praxis, um von dort aus den enzyklopädischen Zusammenhang zweier theologischer Teildisziplinen zu beleuchten, sondern auch um die Frage, welche Bedeutung Erfahrungen und Einsichten aus der seelsorglichen Praxis für ethische Reflexionsprozesse haben, umgekehrt aber auch darum, welche Relevanz Ethik im Sinne wissenschaftlich-methodischer Reflexion für die seelsorgliche Praxis besitzt. Um auch diese Verschränkungen im Blick zu behalten, wurde in der Themenstellung die Begrifflichkeit trotz der Problematik ihrer Unschärfe beibehalten.
2.
Die Verhältnisbestimmung von Seelsorge und Ethik als methodisches Problem
2.1
Die Pluralität seelsorglicher und ethischer Konzeptionen
Ein weitaus größeres Hindernis als die begriffliche Unschärfe ist die Schwierigkeit einer inhaltlichen Definition der Begriffe Seelsorge und Ethik. Jeder Versuch einer Bestimmung des Verhältnisses von Seelsorge und Ethik sieht sich mit einer geradezu unüberschaubaren Fülle unterschiedlicher Definitionen und Ansätze konfrontiert. So beobachtete bereits Holtz im Blick auf die Seelsorge einen derart »uneinheitlich[en] oder gar verwirrend[en]« kirchlichen Sprachgebrauch, dass er darin geradezu eine Empfehlung sah, »auf das schillernde Stichwort« zu verzichten.5 Ziemer stellt lapidar fest: »›Die‹ Seelsorge gibt es nicht.«6 Ganz ähnlich bemerkt Pohl-Patalong: »Seelsorge präsentiert sich gegenwärtig in einer Pluralität von Konzeptionen und methodischen Orientierungen.«7 Nauer beschreibt in ihrer Zusammenschau »Seelsorgekonzepte im Widerstreit« nicht weniger als dreißig Seelsorgekonzepte, »wobei kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben wird!«8 Zimmerling beobachtet eine Ausdifferenzierung des Feldes der Seelsorge »bis zur Unübersichtlichkeit«.9 Versucht man die Vielfalt unterschiedlicher Ansätze auf Grundkategorien zu reduzieren, so 4 5 6 7 8 9
Vgl. Meyer-Blanck, Theologische Implikationen, 19. Holtz, Art. Seelsorge, Sp. 1640. Ziemer, Seelsorgelehre, 41. Pohl-Patalong, Art. Seelsorge, Sp. 1115. Nauer, Seelsorgekonzepte (Zitat:19). Zimmerling, Bonhoeffer, 150.
Die Verhältnisbestimmung von Seelsorge und Ethik als methodisches Problem
35
erkennt Winkler rückblickend systematisch-theologische, empirisch-pragmatische und biblizistisch-fundamentalistische Schwerpunktbildungen,10 die neuere Entwicklung vollzieht sich für ihn zwischen den Eckpunkten einer Fortführung und Weiterentwicklung der Seelsorgebewegung einerseits und Bestrebungen, die auf Restitution und Kontinuität ausgerichtet sind, andererseits.11 Nauer unterscheidet zwischen theologisch-biblischer, theologisch-psychologischer und theologisch-soziologischer Perspektivendominanz12 bzw. zwischen mystagogisch-spiritueller, pastoralpsychologisch-ethischer und diakonisch-prophetischer Dimension der Seelsorge.13 Geest differenziert zwischen diakonisch und kerygmatisch orientierten Ansätzen, ergänzt durch Ansätze, die in der Seelsorge primär einen Ausdruck christlicher Koinonia sehen.14 Für Ziemer zerfällt die Seelsorge in die Hauptströmungen einer kerygmatischen, einer beratenden und einer biblisch-therapeutischen Seelsorge (»Seelsorge als biblische Therapie«).15 Klessmann unterteilt in verkündigende, beziehungszentrierte und Spiritualität fördernde Modelle.16 Meyer-Blanck versucht wiederum das Spektrum von Seelsorgekonzeptionen unterschiedlichen dogmatischen Denkmodellen zuzuordnen (inkarnationstheologisches Modell, christologisches Modell, trinitarisches Modell),17 wobei sich sein eigener Seelsorgeansatz an der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium orientiert sowie an der Präsenz Gottes in der Person und Geschichte Jesu als – zumindest implizitem – Bezugspunkt seelsorglicher Kommunikation.18 Dementsprechend variieren die Definitionen von Seelsorge: Die Bandbreite reicht von einem Verständnis von Seelsorge als »christliche Hilfe zur Lebensgestaltung«19 bzw. »Freisetzung eines christlichen Verhaltens zur Lebensbewältigung«20 über die Beschreibung des seelsorglichen Handelns als »[g]anzheitliche Sorge um die komplexe und
10 11 12 13 14
15 16 17 18 19 20
Winkler, Seelsorge, 23 – 74. Winkler, Seelsorge, 177 f. Nauer, Seelsorgekonzepte, 5 – 10. Nauer, Seelsorge, 150 – 223. Van der Geest, Unter vier Augen, 234 f; ähnlich unterscheidet Gestrich, Aus- und Fortbildung, 335, zwischen den Leitkategorien Martyria (Seelsorge als Verkündigung bzw. geistliche Weisung), Diakonia (Seelsorge als Beratung von Mensch zu Mensch bzw. psychologische Therapie) und Koinonia (Seelsorge als offenes Gespräch innerhalb der christlichen Gemeinschaft). Vgl. Ziemer, Seelsorgelehre, 81 – 96 (Zitat: 91). Das Konzept der »Biblisch-therapeutischen Seelsorge« (BTS), wie es federführend von Michael Dietrich entwickelt wurde, wäre in diesem Fall als eine spezielle Form biblischer Therapie zu sehen, vgl. 92 f. Klessmann, Seelsorge in der Institution »Krankenhaus«, 21 f. Meyer-Blanck, Theologische Implikationen, 32 f. Meyer-Blanck, Theologische Implikationen, 23 – 31. Schneider-Harpprecht, Ethisch-moralische Kompetenz, 177. Winkler, Seelsorge, 3.
36
Probleme und Tendenzen der Verhältnisbestimmung von Seelsorge und Ethik
ambivalente Seele Mensch«21 bis hin zu der Deutung von Seelsorge als »Trostgeschehen«.22 Erschwerend kommt hinzu, dass unter dem Einfluss postmoderner Pluralität ein klar konturierter Seelsorgebegriff, wie er für die modellhaften Seelsorgekonzepte des vergangenen Jahrhunderts kennzeichnend war (kerygmatische, therapeutische, systemische Seelsorge etc.), mehr und mehr ersetzt wird durch ein multidimensionales Verständnis von Seelsorge. Das bedeutet, dass die einzelnen Konzeptionen nicht mehr miteinander konkurrieren, sondern verschiedene Aspekte des seelsorglichen Handelns beschreiben, die je nach Person und Situation zum Tragen kommen.23 Insofern tendieren neuere Definitionen von Seelsorge zu einer weit gefassten, eher phänomenologischen Beschreibung des Seelsorgegeschehens, die Raum lässt für die Setzung unterschiedlicher inhaltlicher und methodischer Schwerpunkte.24 Nicht einfacher gestaltet sich die Lage im Blick auf die Ethik. Selbstironisch bemerkt Robert Spaemann: »[D]ie Ethik gibt es gar nicht. Es gibt Ethikprofessoren.«25 Johannes Fischer stellt fest, dass sich die theologische Ethik in einer »irritierenden Vielfalt« präsentiert, sodass sich die Frage stellt, »worin eigentlich das Verbindende und Gemeinsame besteht, das theologische Ethiken zu theologischen macht«.26 Provokativ zugespitzt formuliert er speziell für den Bereich evangelischer Theologie: »Darüber, was die evangelisch-theologische Ethik ausmacht, […] gibt es unter denen, die dieses Fach vertreten, nicht nur keinen Konsens, sondern nicht einmal wirklichen Streit.«27 Ob Fischer mit der Beobachtung einer »Streitverdrossenheit« recht hat, mag dahin gestellt bleiben; dass die Auffassungen teilweise konträr sind, lässt sich unschwer belegen. Unterschiede zeigen sich bereits in der grundlegenden Frage, ob eine theologische Ethik allein aus der Offenbarung Gottes in Jesus Christus als ausschließlichem Erkenntnisgrund der Theologie abzuleiten ist, oder ob ihre materialen Inhalte auch auf dem Weg vernünftiger Reflexion erschlossen werden können, sodass die Theologie nur die Funktion der Letztbegründung hätte.28 Davon nicht zu trennen ist die kontroverse Diskussion des Verhältnisses von theologischer und 21 Nauer, Seelsorge, 224. 22 Rolf, Vom Sinn zum Trost, 182; vgl. Möller, Kirche, 15, der in dem »einzigen Trost im Leben und Sterben« (Heidelberger Katechismus Frage 1) die Quelle des seelsorglichen Wirkens der Kirche sieht. 23 Vgl. Klessmann, Seelsorge, 8. 24 Eine solche eher weit gefasste Beschreibung von Seelsorge findet sich z. B. bei Klessmann, Seelsorge, 8, wenn er Seelsorge definiert als »ein niedrigschwelliges Angebot der Kirche zur zwischenmenschlichen Begleitung, Begegnung und Lebensdeutung im Horizont des christlichen Glaubens mit dem Ziel, die Lebens- und Glaubensgewissheit von Menschen zu stärken«. 25 Spaemann, Wie praktisch ist die Ethik?, 28. 26 Fischer, Bioethik, 77. 27 Fischer, Theologische Ethik, 8. 28 Vgl. Lange, Ethik, 32 f.203 f.
Die Verhältnisbestimmung von Seelsorge und Ethik als methodisches Problem
37
philosophischer Ethik mit der zwiespältigen Gefahr einer Selbstisolierung der theologischen Ethik einerseits und des Verlustes ihres Propriums andererseits.29 Differenzen bestehen weiter im Blick auf die Frage, ob eine theologische Ethik als normative oder deskriptiv-hermeneutische Ethik begriffen wird.30 Nicht zuletzt stehen sich auch in der theologischen Ethik deduktive Ansätze, die universale Prinzipien und Normen auf den Einzelfall anzuwenden suchen (Top-downModell), und induktive Ansätze, die Handlungskriterien aus der konkreten Situation zu gewinnen suchen (Bottom-up-Modell), gegenüber, deontologische Begründungsversuche konkurrieren mit konsequentialistischen Argumentationsformen und tugendethischen Ansätzen, ergänzt durch integrative Konzeptionen, die wiederum die Einseitigkeiten solcher Modelle zu korrigieren suchen.
2.2
Die Zirkularität von Definition und Korrelation
Die Vielfalt unterschiedlicher seelsorglicher und ethischer Ansätze schlägt sich nieder in einer ebensolchen Vielfalt möglicher Bestimmungen des Verhältnisses von Seelsorge und Ethik. So wenig es die Seelsorge und die Ethik gibt, so wenig gibt es das Verhältnis von Seelsorge und Ethik. Ausschlaggebend ist vielmehr, welche Konzeption von Seelsorge mit welcher Konzeption von Ethik als Referenzpunkt in Beziehung gesetzt wird. Zwangsläufig wird eine therapeutisch orientierte Konzeption von Seelsorge, die den Gesprächspartner in seiner Entscheidungsautonomie zu fördern sucht, mit einem heteronomen Verständnis von Ethik im Sinne einer Gebotsethik kollidieren, während sie sich durchaus kompatibel zeigt mit einem prozeduralen Verständnis von Ethik im Sinne kritischer, ergebnisoffener Reflexion unterschiedlicher Handlungsoptionen. Umgekehrt harmoniert eine Gebotsethik mit einer paränetisch verstandenen Seelsorge, die biblische Prinzipien auf die Lebenssituation des Einzelnen anzuwenden sucht, während sie einer sich z. B. als antinomistisch begreifenden Poimenik31 mit deutlichen Vorbehalten begegnen wird. Dies gilt auch für das Verhältnis von Seelsorge und Medizinethik. So hält Katrin Bentele kerygmatische und nuthetisch-parakletische Seelsorgekonzeptionen aufgrund ihrer Affinität zu glaubensethischen Positionen für wenig anschlussfähig, was ihrer Meinung nach auch ein Stück weit für die individuumszentrierten und damit individualethisch ausgerichteten Modelle der therapeutischen und begleitenden Seelsorge gilt, während sie die Kompatibilität soziologisch orientierter Seel-
29 Vgl. Fischer, Theologische Ethik, 8 f. 30 Vgl. Fischer, Bioethik, 80 – 86. 31 Vgl. Stollberg, Schweigen lernen, 368.
38
Probleme und Tendenzen der Verhältnisbestimmung von Seelsorge und Ethik
sorgemodelle aufgrund ihrer sozialethischen Stoßrichtung wesentlich höher einschätzt.32 Angesichts der oben dargestellten methodischen Schwierigkeiten soll vorerst auf eine spezifische, theoretisch fundierte Definition der Begriffe Seelsorge und Ethik zugunsten einer induktiven Erschließung der Begriffe verzichtet werden. Jede vorweggenommene spezifische Definition würde aufgrund des Zusammenhangs von Definition und Korrelation dem Ergebnis der Untersuchung vorgreifen und zu einem Zirkelschluss führen. Das ändert jedoch nichts daran, dass es Seelsorge und Ethik als »Sache« gibt,33 die im klinischen Bereich in durchaus konkreter und beschreibbarer Gestalt begegnet. In diesem phänomenologischen Sinne soll Seelsorge vorläufig verstanden werden als reflektierte Begleitung von Menschen in ihrer spezifischen Lebenssituation und Wahrnehmung ihrer Interessen im Horizont des christlichen Glaubens. Ethik begegnet im klinischen Kontext vor allem als situationsbezogene Reflexion unterschiedlicher Handlungsoptionen einschließlich handlungsleitender Werte und Normen mit dem Ziel einer konkreten Handlungsempfehlung.
3.
Neuere Modelle der Verhältnisbestimmung von Seelsorge und Ethik
Wenn im weiteren Verlauf der Arbeit anhand eines exemplarischen Praxisfeldes das Verhältnis von Seelsorge und Ethik untersucht werden soll, dann vor dem »Koordinatensystem« neuerer markanter Versuche, Seelsorge und Ethik einander zuzuordnen, die nachstehend skizziert werden sollen. Berücksichtigt werden dabei Veröffentlichungen seit Erscheinen der Aufsatzreihe zum Verhältnis von Seelsorge und Ethik in der Zeitschrift »Pastoraltheologie« Jg. 80 (1991), wobei im Zuge der Interpretation des jeweiligen Ansatzes teilweise auch frühere Veröffentlichungen zur Thematik ergänzend mit herangezogen werden.
3.1
Polarität von Seelsorge und Ethik (Dietrich Stollberg)
Stollberg bestimmt das Verhältnis von Seelsorge und Ethik, indem er die beiden Größen einzeichnet in den Interpretationsrahmen der lutherisch-reformatorischen Unterscheidung von Evangelium und Gesetz, Reich Gottes und Reich der Welt, Glaube und Vernunft, Glaube und Werke, Indikativ und Imperativ, die für ihn wiederum in einem engen Bezug zu dem psychoanalytischen Spannungsfeld 32 Vgl. Bentele, Seelsorgekonzepte, 145 – 165. 33 Vgl. im Blick auf die »Sache« der Seelsorge Stollberg, Therapeutische Seelsorge, 13.
Neuere Modelle der Verhältnisbestimmung von Seelsorge und Ethik
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von Über-Ich, Es und Ich steht.34 Zentrum der evangelischen Theologie und des kirchlichen Lebens ist für Stollberg der Glaube an das, was er mit der Tradition als Rechtfertigung allein aus Gnade bezeichnet. Weil es auf diesen Glauben ankommt, hat er Priorität vor den Ordnungen, die zwar durchaus ihre Berechtigung haben, jedoch vor dem Hintergrund der Freiheit des Evangeliums »nicht länger als göttliches Gesetz, sondern als vernünftige und jederzeit veränderbare Übereinkunft zwischen Menschen« anzusehen sind.35 Insofern ist Ethik für Stollberg »eine Sache der Rationalität und nicht der Frömmigkeit«.36 Daher hält er auch eine religiöse Überhöhung von Werten im Sinne sogenannter »christlicher Werte« für irreführend, vielmehr resultieren Werte aus vernünftiger Überlegung im Gegensatz zum Gottvertrauen, das aus dem Glauben erwächst.37 Diese über verschiedene Schriften verstreuten Gedanken verdichten sich in dem 1996 erschienenen Aufsatz »Schweigen lernen. Zu Seelsorge und Ethik«. Hier versteht sich Stollberg als Vertreter einer »antinomistischen Poimenik«, die sich gegen eine »gesetzliche Seelsorge« richtet. Obwohl er nicht ausschließen will, dass die Betonung der Mündigkeit des Christen möglicherweise eine Überforderung bedeutet, zögert er trotzdem, »eine ethisch motivierte und strukturierte Seelsorge zu propagieren, die dem Menschen durch normative Außenleitung des Kollektivs, also durch kirchliche Konsensmoral, hilft«. Stattdessen rechnet er »die Ethik zur irdischen Vernunft im ›Reich zur Linken‹«, während er die Seelsorge der »himmlischen Dimension (des ›Reiches zur Rechten‹)« zuordnet.38 In der Seelsorge geht es um die Stärkung der »inneren Senkrechten«39 des Menschen (im Unterschied zu der fremden und äußeren Senkrechten christlicher Tradition) durch die existenzielle Gestaltwerdung des Glaubens, wodurch »die ›soziale Waagrechte‹ (Was sagen die anderen?)« relativiert und »ethisch (d. h. eigenverantwortlich) handhabbar« wird.40 Insofern versteht Stollberg das Christentum entgegen allen entmündigenden Tendenzen als »Religion der Freiheit und Befreiung«,41 die herausführt »aus einer normativen Überich-Re-
34 Zu Letzterem vgl. seinen Aufsatz »Tiefenpsychologie oder historisch-kritische Exegese?« In diesem Aufsatz interpretiert Stollberg die Lebenswende bei Paulus anhand tiefenpsychologischer Kategorien als Weg »von einer gesetzlichen Überich-Moral zu einer freiheitlichen Ich-Ethik«, 223, die sich im Gegensatz zu einer »Ethik zeitloser und absolutistischer Normen« als eine »Ethik der Situation« versteht, 217. 35 Stollberg, Vorbildlich und glaubwürdig?, 378. Geradezu paradigmatisch stellt Stollberg daher seiner Seelsorgelehre Röm 3,28 als Zentrum paulinischer Rechtfertigungslehre voran (Stollberg, Wahrnehmen und Annehmen, 11). 36 Stollberg, Soll man das glauben?, 98. 37 Stollberg, Soll man das glauben?, 66. 38 Stollberg, Schweigen lernen, 368. 39 Stollberg, Schweigen lernen, 368. 40 Stollberg, Schweigen lernen, 367. 41 Stollberg, Soll man das glauben?, 7.
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ligion in eine heitere Anbetungs- und Verantwortungsreligion«.42 Die Seelsorge wird sich deshalb »mit konkreten Verhaltensanweisungen […] zurückhalten«,43 stattdessen wird sie Freiheit und Eigenverantwortung fördern, wie sie aus dem Glauben erwächst. Zielt die Seelsorge auf den Glauben, die Ethik auf das Handeln, so mag man in dem von Stollberg abgewandelten Zitat von Augustin eine Zusammenfassung seines Anliegens finden: »Crede et fac quod vis.«44 Auch Ulrich Körtner weiß von einer Transzendierung des Ethischen durch die Ausrichtung der Seelsorge auf das Rechtfertigungsgeschehen und auf die eschatologische Vollendung. Nicht die Konfrontation mit ethischen Forderungen, sondern die Vermittlung der »Wirklichkeit von Rechtfertigung und Vergebung« macht den Menschen zum »moralfähigen Subjekt«, nicht eigene Leistung lässt Leben gelingen, sondern das Heil schaffende Handeln Gottes. Suggeriert Ethik das Gegenteil, nimmt die Seelsorge eine kritische Funktion gegenüber der Ethik wahr : Ihre »ureigene Aufgabe« ist es in diesem Fall, »im Sinne der reformatorischen Unterscheidungen von Gesetz und Evangelium, Person und Werk, vor Moral zu warnen«.45 Körtner geht jedoch über Stollberg hinaus, wenn er nicht nur die kritische Funktion der Seelsorge gegenüber einer moralisierenden Ethik betont, sondern auch – bei aller Problematisierung der Verbindung von Seelsorge und Ethik – in der ethischen Beratung eine legitime Dimension des seelsorgerlichen Handelns erkennt (vgl. III.3.3).46
Zu würdigen ist Stollbergs Betonung des »Sola gratia« und seine Sorge vor der Verdunklung der Freiheit des Evangeliums durch eine religiöse Überhöhung der Ordnungen, die das zwischenmenschliche Verhalten regeln. Hier versucht Stollberg, genuine Anliegen der biblisch-reformatorischen Tradition für die Seelsorge geltend zu machen. Auch würde man Stollberg missverstehen, wenn man ihm unterstellen würde, er rede einer ethischen Beliebigkeit das Wort, hält er doch eine vernünftige und ethisch verantwortliche Gestaltung des menschlichen Zusammenlebens für durchaus notwendig. Anfragen ergeben sich vor allem im Blick auf die Einseitigkeit seines Verständnisses des Gesetzes. Indem er das Gesetz mit der Normativität des Überichs mehr oder minder gleichsetzt und dadurch relativiert, gerät die Möglichkeit einer positiven Bewertung des Gesetzes im Sinne der heilvollen Ein-Weisung des Menschen in Leben förderndes Verhalten aus dem Blickfeld. Bei aller Umstrittenheit der Frage des tertius usus legis47 ist doch mit Wilfried Joest daran zu erinnern, dass Freiheit vom Gesetz 42 43 44 45 46 47
Stollberg, Soll man das glauben, 336. Stollberg, Schweigen lernen, 369. Stollberg, Vorbildlich und glaubwürdig?, 380. Körtner, Ethik im Krankenhaus, 126 f. Vgl. Körtner, Ethik im Krankenhaus, 102 – 108.119 – 127. Vgl. Härle, Ethik, 191 – 197 (bes. 195ff); Honecker, Theologische Ethik, 60 – 82 (bes. 75ff); Leonhardt, Grundinformation Dogmatik, 334 – 343 (bes. 340 f); Lienemann, Grundinformation Theologische Ethik, 194 – 204 (bes. 200); Peters, Gesetz und Evangelium, 308 – 343; Schwöbel, Art. Gesetz und Evangelium.
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auch bei Luther die konkrete Weisung im Sinne der »worthafte[n] Begegnung des Willens Gottes mit dem Menschen« nicht aufhebt. Vielmehr meint Evangelium die Befreiung vom Gesetz im Sinne der lex implenda, d. h. des Gebotes, »das dem heil-losen Menschen die Frage des Heiles zur Last legt.« Diese Begegnungsform des Gesetzes kommt am Evangelium zu einem Ende, nicht die Kundgabe des Willens Gottes, wie er im Gebot seinen inhaltlichen Ausdruck findet. Insofern bedeutet Evangelium nach Joest nicht das Aufhören der »Korrelation von Wort und Hören, Gebot und Ja des Gehorsams«, sondern »Befreiung des Gehorsams von der Angst und Last der unbewältigten Heilsfrage«.48 Dagegen deutet Stollberg – so zumindest in seinen früheren Veröffentlichungen – in einseitiger Weise den Willen Gottes nicht als Gebot, sondern als »Rechtfertigung des Faktischen«,49 zwar nicht im Sinne der Billigung, aber doch im Sinne der »Kenosis-Herrschaft« Gottes, die darin besteht, dass Gott seine Herrschaft ausübt, indem er auf alle Autoritätsansprüche verzichtet und gelten lässt, was ist, dass er regiert, indem er dem Menschen volle Freiheit lässt, anstatt Gehorsam von ihm zu fordern.50 Damit stellt sich die Frage, inwieweit der Ansatz Stollbergs nicht in der Gefahr steht, den Status quo im Sinne einer »Perpetuierung der Sünde«51 festzuschreiben und die dynamisch-transformatorische, auf heilvolle Veränderung zielende Dimension des Willens Gottes auszublenden.
3.2
Ethik als Theorie der Seelsorge (Eilert Herms)
Eilert Herms überwindet die Polarität von Seelsorge und Ethik, indem er in seinem Aufsatz »Die ethische Struktur der Seelsorge« die Ethik zum Oberbegriff der Seelsorge macht. Sein Ansatz »läuft darauf hinaus, das seelsorgerliche Handeln als einen aufgabenspezifischen Spezialfall von ethisch positiv qualifiziertem Handeln anzusehen und die Ethik selber als Theorie der Seelsorge in Anspruch zu nehmen«.52 Die Poimenik wird damit zu einem Teilgebiet der Ethik. Voraussetzung ist ein sehr weit gefasster Begriff von Ethik: In der Ethik geht es nicht nur um einen Handlungsaspekt, vielmehr bilden alle Formen menschlichen Handelns »Fälle des Ethischen« (60). Alles Handeln ist für Herms gleichbedeutend mit Entscheiden im Sinne der »Selektion eines Möglichen aus einem Inbegriff von Möglichem« (40), wodurch das Mögliche verwirklicht wird. Die Wahl einer Handlungsmöglichkeit ist dann ethisch positiv qualifiziert, wenn sie 48 49 50 51 52
Joest, Gesetz und Freiheit, 195 f. Stollberg, Festhalten und Loslassen, 134. Stollberg, Festhalten und Loslassen, 130. Rolf, Vom Sinn zum Trost, 34 Herms, Die ethische Struktur der Seelsorge, 60. Auf diesen Titel beziehen sich auch die nachfolgenden Seitenangaben in Klammern.
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sich am ethischen Urteil orientiert, das wiederum aus einer kritischen Prüfung der Verhaltensalternativen hinsichtlich ihrer Effektivität, Sittlichkeit und ihres individuellen Befriedigungswertes resultiert (vgl. 45 – 47). Von entscheidender Bedeutung für die Entwicklung ethischer Urteilsfähigkeit ist die Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung, die ihrerseits abhängt von einem günstigen Verlauf interpersonaler Kommunikationsprozesse (vgl. 50), während sich ein ungünstiger Verlauf entwicklungshemmend auswirkt (vgl. 54). In diesen kategorialen Rahmen der Ethik zeichnet Herms die Seelsorge ein. Ihre Aufgabe besteht darin, »die ethische Urteilsfähigkeit des Hilfesuchenden zu steigern« (53). Dies geschieht vor allem durch die Beseitigung von »Störungen der Selbstwahrnehmung«, die den Reifeprozess der ethischen Urteilsfähigkeit behindern (54). Dabei stellt die seelsorgerliche Interaktion selbst eine Form ethischen Handelns dar, indem sie »einerseits durch das ethische Urteil des Seelsorgers über das von ihm selbst zu wählende seelsorgerliche Verhalten gesteuert ist, und dabei zugleich andererseits eine Verbesserung der Urteilsfähigkeit des Hilfesuchenden über seine eigenen Handlungsmöglichkeiten zu bewirken sucht« (58). Eine konstruktiv-kritische Rezeption des Ansatzes von Herms findet sich bei Christoph Schneider-Harpprecht. Er sieht in dem Anliegen der Lebensgestaltung die Brücke zwischen Seelsorge und Ethik. Indem er »Seelsorge als christliche Hilfe zur Lebensgestaltung« versteht, ist für ihn der Bezug zur Ethik gegeben, denn der Begriff der Lebensgestaltung beinhaltet »die bewusste und verantwortliche Gestaltung des Handelns in Alltags- und Konfliktsituationen«. Seelsorge zielt damit nicht nur auf »bloße Situationsbewältigung«, sondern »auf das Handeln von Subjekten«.53 Schneider-Harpprecht nähert sich damit an Trutz Rendtorffs Bestimmung der Ethik als »Theorie der menschlichen Lebensführung«54 an, geht aber über Rendtorff hinaus, indem für ihn der Begriff der Lebensführung auch die Gestaltung des fragmentarischen und begrenzten Lebens mit einschließt. In diesem Zusammenhang gewinnt der Zuspruch der Rechtfertigung zentrale Bedeutung, weil er auch die Verarbeitung von biografischen Brüchen und Erfahrungen des Scheiterns ermöglicht.55 Ethische Kompetenz definiert Schneider-Harpprecht »nicht als Fähigkeit, sondern bewusst doppeldeutig als Befähigung im Sinne des empowerment, das die Verpflichtung beinhaltet, andere zu selbstständigem verantwortlichem Handeln zu befähigen«.56 An dieser Stelle rekurriert Schneider-Harpprecht auf den Ansatz von Eilert Herms, der die Seelsorge selbst als ein ethisch strukturiertes Handeln versteht, das die Förderung der ethischen Urteilsfähigkeit zum Ziel hat. Aller53 54 55 56
Schneider-Harpprecht, Ethisch-moralische Kompetenz, 178. Rendtorff, Ethik, 2011, 9. Vgl. Schneider-Harpprecht, Ethisch-moralische Kompetenz, 178. Schneider-Harpprecht, Ethisch-moralische Kompetenz, 183.
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dings sieht Schneider-Harpprecht bei Herms eine zu starke Konzentration auf die Einzelseelsorge, die »systemische Zusammenhänge und Praxissituationen gemeinschaftlicher ethischer Urteilsbildung« zu wenig wahrnimmt. Auch lasse Herms offen, ob Seelsorge lediglich Vorarbeit für die ethische Urteilsbildung leistet, indem sie Blockaden zu beseitigen sucht, »oder ob sie sich als ethische Beratung verstehen kann, in welcher der Seelsorger oder die Seelsorgerin gemeinsam mit den Betroffenen den Prozess ethischer Urteilsbildung vollzieht«.57 Eine gewisse Nähe zu der Konzeption von Herms zeigt auch der Ansatz von Klaus Winkler, wenn er von der »ethische[n] Struktur aller Seelsorge«58 spricht. Indem er Seelsorge als »Freisetzung eines christlichen Verhaltens zur Lebensbewältigung« (3) versteht, ergibt sich »eine deutliche Affinität zum möglichen und zum unmöglichen, d. h. aber praktisch auch zum ›richtigen‹ oder zum ›falschen‹ Verhalten« und damit eine enge Beziehung zur Ethik« (6). Für ihn rückt die ethische Struktur der Seelsorge dort ins Blickfeld, wo sich der Ratsuchende in einer »konflikthaften Lebenslage« befindet, in der »die einfache Orientierung an den ›üblichen‹ und ›typischen‹ Verhaltensweisen nicht mehr zur Orientierung ausreicht«. In diesem Fall ist ein »Überzeugungshandeln« gefordert, »das eine Verantwortungs- und Glaubensproblematik einschließt und damit zur Bezugnahme auf das verhaltenssteuernde Gewissen unter besonderen Umständen führt« (283). Dabei geht Winkler von einem ganzheitlichen Gewissensverständnis aus. In Anlehnung an Gerhard Ebeling will er das Gewissen nicht als »eine moralische Instanz« verstanden wissen, sondern als »basalen Beziehungsbegriff«, der den Menschen sowohl zu Gott als auch zu seiner Umwelt in Beziehung setzt (284). In der Folge grenzt sich Winkler sowohl von einem heteronomen wie auch autonomen Gewissensbegriff ab und plädiert stattdessen für eine relationale Bestimmung des Gewissens (285 – 288). Dabei gelte es zu beachten, dass in der narzisstisch geprägten modernen Gesellschaft die Struktur »erschrockenen Gewissens«, wie sie der Reformationszeit entsprach, mehr und mehr abgelöst werde durch die Struktur eines »gekränkten Gewissens«, das geprägt ist von »der Spannung zwischen einer dem Ich-Ideal entsprechenden Verhaltensweise einerseits und der alltäglichen Erfahrung des Versagens vor den eigenen Idealen« (288 – 296; Zitat: 295). Der Ansatz von Herms leuchtet insofern ein, als Seelsorge und selbstverständlich auch andere kirchliche Handlungsfelder als Handlungsfelder Bereiche bilden, in denen das Ethische im Sinne der Entscheidung zwischen unterschiedlichen Optionen konkrete Gestalt gewinnt. Zieht man freilich diese Linie weiter aus, so gibt es nicht nur eine ethisch qualifizierte Seelsorge, sondern auch 57 Schneider-Harpprecht, Ethisch-moralische Kompetenz, 181. 58 Winkler, Seelsorge, 283. Auf diesen Titel beziehen sich auch die folgenden Seitenangaben in Klammern.
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eine ethisch qualifizierte Verkündigung oder einen ethisch qualifizierten Religionsunterricht, sodass konsequenterweise die Ethik nicht nur als Theorie der Seelsorge, sondern auch als Theorie aller anderen kirchlichen Tätigkeiten angesehen werden müsste. Damit droht allerdings ein abstrakter, wenn nicht sogar »inflationärer« Begriff von Ethik (mit gleichem Recht könnte auch die Seelsorge als Oberbegriff aller anderen kirchlichen Funktionen verstanden werden), der sich nur schwer mit der profilierten Handhabung des Begriffes in der Praxis vermitteln lässt. Hinzu kommt die Gefahr, dass die Fixierung auf das Handeln, die mit dem Begriff Ethik fast zwangsläufig gegeben ist, zu einer Ausblendung der passiven Dimensionen der Seelsorge (Schweigen, Hören, Empfangen, Vertrauen, Aushalten) führt,59 selbst wenn diese Dimensionen – je nach vorausgesetztem Handlungsbegriff – ebenfalls als Handlungsformen verstanden werden können. Vor allem angesichts der Erfahrungen von Ohnmacht und Unabänderlichkeit, von (auch schuldhaftem) Versagen und gescheiterten Lebensentwürfen ergeben sich kritische Anfragen an eine ethische oder pädagogische (im Sinne der Gewissensbildung) Bestimmung der seelsorgerlichen Aufgabe. Körtner plädiert daher in Abgrenzung von Herms und Winkler für eine Differenzierung zwischen »ethische[n] Konflikte[n] und Konflikte[n] mit widerfahrendem Schicksal« und für eine Unterscheidung zwischen ethischen, religiösen und therapeutischen Dimensionen der Seelsorge.60
3.3
Ethik als Aspekt der Seelsorge (Jürgen Ziemer)
Einen anderen Akzent als Herms setzt Jürgen Ziemer in dem entsprechenden Abschnitt seiner Seelsorgelehre,61 wenn er die ethische Orientierungsarbeit als Aspekt der Seelsorge versteht. Zwar kann Ziemer in einem früheren Aufsatz in Anlehnung an Herms sagen, »dass Seelsorge im ganzen eine ›ethische Struktur‹ besitzt«, indem sie das Befreiungsgeschehen des Evangeliums (vgl. Gal 5,1) für die Wahrnehmung von Eigenverantwortung im Sinne eines »Ich-gesteuerten Ethos« (im Gegensatz zu einer »Über-Ich-gesteuerten Moralität«) fruchtbar zu machen sucht,62 er bezieht sich jedoch dabei auf die spezifisch ethische Aufgabe der Seelsorge, d. h. auf einen – wenn auch zentralen – Ausschnitt aus dem 59 Vgl. den Verweis bei Fischer, Ethische Dimensionen, 207, auf die Diskrepanz zwischen dem Menschenbild des Mainstreams neuerer Ethik (Betonung der Autonomie und Handlungsfähigkeit des Menschen) und der mit dem Begriff »Seele« assoziierten »menschlichen Passivität und Empfänglichkeit«. 60 Körtner, Ethik im Krankenhaus, 115 – 119 (Zitat: 118). 61 Ziemer, Seelsorgelehre, 117 – 122. 62 Ziemer, Ethische Orientierung, 391 – 393 (Zitate: 392.391). Zu dem Gegensatz von ÜberichMoral und Ich-gesteuertem Ethos vgl. den Ansatz Stollbergs (III.3.1).
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Spektrum seelsorgerlichen Wirkens.63 Ausgangspunkt für Ziemer ist die Feststellung der für die Postmoderne typischen Ambivalenz, dass auf der einen Seite das »Fehlen eindeutiger Handlungsmaßstäbe […] heute zu Recht von vielen als belastend erlebt« wird, dass auf der anderen Seite jedoch auch eine deutliche Skepsis gegenüber Unfehlbarkeitsansprüchen zu beobachten ist.64 Ziemer sieht den ethischen Aspekt der Seelsorge in einer »Orientierungsarbeit«, die sich zwischen den als Fehlwegen deklarierten Eckpunkten von Moralismus und Libertinismus bewegt. Eine direkte Antwort auf die Frage »Was soll ich tun?« lehnt Ziemer – zumindest als Regelfall – ab. Sie berge zum einen die Gefahr »einer gesetzlichen Seelsorge«, die beim Ratsuchenden die Entwicklung eigener Entscheidungsfähigkeit verhindere, zum andern die Gefahr einer Verabsolutierung der eigenen Normen des Seelsorgers.65 Primär besteht die Orientierungsleistung der Seelsorge in der Förderung der ethischen Urteils- und Entscheidungsfähigkeit der Ratsuchenden, die wiederum etwas zu tun hat mit »Selbstwahrnehmung und Selbstauseinandersetzung«.66 Dazu gehört auch, dass Menschen durch die befreiende Kraft des Evangeliums herausgeholt werden aus ihrer Selbstsorge: »Erst die Erfahrung, dass dieses Umsich-selbst-Sorgen nicht notwendig ist, weil für uns schon gesorgt ist (1Petr 5,7), schafft die Freiheit, die notwendig ist für das ethische Urteil wie für das ›Tun des Gerechten‹ selbst.«67 Sekundär besteht die Orientierungsarbeit im ethischen Diskurs. Diesen zweiten Schritt könnte man nach Ziemer auch »Gewissensarbeit« nennen.68 63 Diese Einschränkung wird von Doris Nauer m. E. zu wenig beachtet, wenn sie Ziemer mit Herms und Winkler in einer Linie sieht (Nauer, Seelsorgekonzepte, 251). 64 Ziemer, Seelsorgelehre, 117 f (Zitat: 117). Ziemer bezieht sich in diesem Zusammenhang auf Zygmunt Baumann, der diese Ambivalenz wie folgt beschreibt: »Unsere Zeit ist eine der tiefempfundenen moralischen Ambiguität: sie offeriert eine nie zuvor gekannte Entscheidungsfreiheit und befängt uns gleichzeitig in einem nie quälenderen Zustand der Unsicherheit. Wir sehnen uns nach Führung, der wir uns anvertrauen und auf die wir uns verlassen können, auf dass ein wenig von der lastenden Verantwortung von unseren Schultern genommen werden möchte. Aber die Autoritäten, denen wir unser Vertrauen schenken könnten, sind alle umstritten und keine scheint stark genug zu sein, uns den gewünschten Grad an Sicherheit zu geben. Am Ende trauen wir keiner mehr, zumindest nicht völlig und nicht für lange Zeit: wir sind durch und durch skeptisch hinsichtlich jeden Anspruchs auf Unfehlbarkeit«, Baumann, Postmoderne Ethik, 38. 65 Ziemer, Seelsorgelehre, 118. 66 Ziemer, Seelsorgelehre, 119. Ziemer würdigt an dieser Stelle in Anm. 23 positiv den Ansatz von Herms, der die Aufgabe der Seelsorge in der Förderung der ethischen Urteilsfähigkeit sieht, vgl. III.3.2. 67 Ziemer, Seelsorgelehre, 119. Der Ausdruck »Tun des Gerechten« bezieht sich auf Bonhoeffers »Gedanken zum Tauftag von Dietrich Wilhelm Rüdiger Bethge« vom Mai 1944, vgl. Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, 435: »[U]nser Christsein wird heute nur in zweierlei bestehen: im Beten und im Tun des Gerechten unter den Menschen.« 68 Ziemer, Seelsorgelehre, 120.
46
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Dabei versteht er das Gewissen nicht als »völlig autonome Konstante«, als »Seismograph für das allzeit Gute«, vielmehr ist die Stimme des Gewissens erkenntnisabhängig und kann (und soll) durch den Gewinn neuer Einsichten verändert werden. Im Gegensatz zu einem individualistischen Verständnis von Gewissen macht nicht die Treue zu sich selbst eine Entscheidung zum Gewissensurteil, sondern die Überzeugung, dass die getroffene Entscheidung »auch für andere gut ist«.69 Ziemer denkt hier in Anlehnung an Arthur Rich durchaus an »bestimmte Leitkriterien« wie z. B. »das ›Lebensdienliche‹ bzw. das ›Menschengerechte‹«.70 Eine gewisse Nähe zu Ziemer zeigt Michael Klessmann in seinem Lehrbuch »Seelsorge«: Er will Ethik nicht wie Herms als Oberbegriff der Seelsorge verstehen,71 stattdessen spricht er von der »philosophisch-lehrhafte[n], ethische[n] Dimension der Seelsorge« (112), die lediglich »eine Dimension neben anderen« bildet (300). Bei aller »Affinität zur ethischen Reflexion« geht die Seelsorge doch nicht in der Ethik auf (300). Von Ziemer übernimmt Klessmann den Begriff der »Orientierungsarbeit«. Ihr Ziel ist es, »die reflexive und ethische Kompetenz des Gegenübers zu stärken«, sodass er in der Lage ist, nach Abwägen unterschiedlicher Handlungsoptionen eine Entscheidung zu treffen, die er begründen und verantworten kann (113). Insofern geht es bei der Orientierungsarbeit vor allem um Willensarbeit (113 f). Es geht um die Frage, »nach welchen Maßstäben jemand leben und arbeiten will und kann« und wie persönliche Präferenzen mit der Berücksichtigung sozialer und religiöser Bezüge in Einklang zu bringen sind. Bezug nehmend auf die Freiheit des Evangeliums (Gal 5,1) sieht Klessmann damit in der Seelsorge eine »Anwältin der Autonomie des Menschen«, die ihm hilft, im Ausloten von Spielräumen und Abwägen von Handlungsoptionen »seine potientielle Freiheit auch anzueignen« (114). Unbeschadet der Transzendierung des Ethischen durch die Ausrichtung der Seelsorge auf das Rechtfertigungsgeschehen (vgl. III.3.1) kann auch Körtner von der »ethische[n] Dimension seelsorgerlichen Handelns« sprechen.72 In methodischer Hinsicht orientiert sich Körtner dabei an den Schritten ethischer Urteilsbildung, wie sie von Dietz Lange entwickelt wurde.73 Besondere Heraus69 Ziemer, Seelsorgelehre, 120 f. 70 Ziemer, Seelsorgelehre, 121, Anm. 31. 71 Klessmann, Seelsorge, 300. Auf diesen Titel beziehen sich auch die folgenden Seitenzahlen in Klammern. 72 So die Überschrift des entsprechenden Abschnitts in seinem Buch »Ethik im Krankenhaus«, 119 – 127; vgl. den Titel seines früheren Aufsatzes: U. Körtner, Seelsorge und Ethik. Zur ethischen Dimension seelsorgerlichen Handelns, in: Christoph Schneider-Harpprecht (Hg.), Zukunftsperspektiven für Seelsorge und Beratung, Neukirchen-Vluyn 2000, 87 – 104; wiederabgedruckt in: U. Körtner, Unverfügbarkeit des Lebens? Grundfragen der Bioethik und der medizinischen Ethik, Neukirchen-Vluyn 22004, 61 – 79. 73 Vgl. Lange, Ethik, 508 – 521.
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forderungen der ethischen Beratung bestehen für Körtner einerseits in der »Vermittlung zwischen allgemeinen Normen und der konkreten ethischen Entscheidung«, andererseits in der Differenzierung zwischen dem Prinzip der Nichtdirektivität und ethischer Neutralität.74 Dabei sieht Körtner die ethische Dimension der Seelsorge bestimmt durch das christliche Ethos, das – im Gegensatz zu einer prinzipienorientierten Ethik – im situativen Handeln aus Liebe seine Erfüllung findet.75 Ziemer nimmt insofern eine mittlere Position zwischen den Ansätzen von Stollberg und Herms ein, als er einerseits eine Polarisierung von Seelsorge und Ethik vermeidet, andererseits aber auch nicht die Seelsorge unter die Ethik subsumiert. Indem er die Vermittlung ethischer Orientierung als eine Dimension der Seelsorge begreift, macht er auf Schnittmengen beider Disziplinen aufmerksam, ohne die Seelsorge in der Ethik aufgehen zu lassen. Die Stärke seines Ansatzes besteht in seiner großen Praxisnähe. Mit seinem Bemühen um eine Re-Integration der ethischen Reflexion in die Seelsorge versucht er den Herausforderungen gerecht zu werden, mit denen sich die Seelsorgepraxis angesichts des gestiegenen Bedarfs an ethischer Orientierung konfrontiert sieht. Insbesondere wird im klinischen Bereich durch die Einbeziehung von Seelsorgern in die Ethikberatung die Ethik zu einem Aspekt seelsorgerlicher Praxis. Allerdings zeigen sich auch bei Ziemer Vorbehalte gegenüber einer Vermittlung ethischer Normen, die er einerseits mit der Gefahr dirigistischer Bevormundung, andererseits mit der Gefahr unreflektierter Subjektivität behaftet sieht. In der Anmahnung dieser Gefahr ist Ziemer sicherlich Recht zu geben. Zu fragen ist, ob angesichts der oben beschriebenen Ambivalenz von Handlungsfreiheiten die von Ziemer selbst angedeutete Chance des Gewinns neuer Einsichten und Perspektiven durch die Vermittlung ethischer Orientierung nicht noch stärker betont werden müsste.
3.4
Seelsorge als Strukturprinzip der Ethik (Michael Roth)
Michael Roth kehrt die vorherrschende Fragerichtung um, indem er »nicht nach der ethischen Dimension der Seelsorge, sondern umgekehrt nach der seelsorgerlichen Dimension der Ethik« fragt. Er begründet diese Vorgehensweise vor allem damit, »dass nicht nur die Einsichten der Ethik in der Seelsorgelehre Gehör finden müssen, sondern umgekehrt auch die Ethik der Einsichten der
74 Körtner, Ethik im Krankenhaus, 121 f (Zitat: 121). 75 Körtner, Ethik im Krankenhaus, 124.
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Seelsorgelehre bedürftig ist«.76 Roth geht aus von der Bestimmung des Verhältnisses von Seelsorge und Ethik, wie sie Jürgen Ziemer in seiner Seelsorgelehre entfaltet. Roth beobachtet bei Ziemer kritische Vorbehalte gegenüber der Ethik, die sich in der »Ablehnung einer Orientierung des Seelsorgegesprächs an feststehenden Normen und traditionellen Werten« bemerkbar macht. Bestätigt sieht sich Roth durch die Tatsache, dass Ziemer dem ethischen Diskurs im Gegensatz zu dem Befreiungsgeschehen des Evangeliums »eine nur sekundäre Aufgabe« (324) zuerkennt. Roth sieht darin ein Problem der »Selbstpräsentation« der Ethik: »Um es pointiert zu formulieren: Wenn in der gegenwärtigen Seelsorgelehre, die sich darum bemüht, die Seelsorge von gesetzlichen Tendenzen zu befreien und sich als ›Praxis des Evangeliums‹ zu gestalten, Schwierigkeiten mit der Integration der theologisch-ethischen Theoriebildung auftreten, dann scheint es doch um die theologische Ethik nicht allzu gut bestellt zu sein« (325).
Versteht man die Seelsorge als »Praxis des Evangeliums«, d. h. als Entfaltung der Botschaft von der Freiheit in Christus in ihrer Bedeutung für den Einzelnen in seiner jeweiligen Situation, »dann tut die Ethik gut daran, sich durch die seelsorgerliche Praxis strukturieren zu lassen« (325 f). Hier grenzt sich Roth indirekt von Herms ab, wenn er den umgekehrten Versuch einer Strukturierung der Seelsorge durch die Ethik mit der Gefahr behaftet sieht, »dass problematische Tendenzen der theologischen Ethik in die Seelsorgelehre eingetragen werden«. Roth denkt dabei an eine Untergewichtung der »Bedeutung des Vertrauens auf Gottes zuvorkommendes Handeln« sowie an die »Bedeutung des im Evangelium bekundeten Trostes für die Handlungsfähigkeit des Menschen« (326, Anm. 31). Dagegen zeichnet sich eine seelsorgerlich strukturierte Ethik durch die entlastende Einsicht aus, dass das Heil des Menschen nicht auf dem Tun des Menschen beruht, sondern auf »Gottes Handeln in dem Menschen Jesus als dem Christus« (326). Aus diesem Glauben resultiert ein Leben in der Liebe, dem wiederum eine als Verantwortungsethik konzipierte Ethik entspricht, die insofern gleichzeitig auch Züge einer Situationsethik enthält, als sie sich in erster Linie nicht an Normen und Werten orientiert, sondern an der konkreten Situation. In materialer Hinsicht entspricht dem Glauben ein Ethos, das sich durch Gelassenheit (Befreiung von Leistungsdruck), Freiheit (Eröffnung von Handlungsspielräumen) und Gegenwärtigkeit (Wahrnehmung der Gegenwart mit ihren Möglichkeiten und Chancen) auszeichnet (vgl. 329 – 331). Als »Praxis des Evangeliums« hat Seelsorge zwangsläufig einen therapeutischen Charakter. Für eine seelsorgerlich strukturierte Ethik bedeutet das, dass ihr Beitrag zu einer Seelsorgelehre 76 Roth, Seelsorge als Dimension der Ethik, 321. Auf diesen Titel beziehen sich auch die folgenden Seitenzahlen in Klammern.
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darin besteht, dass »sie die Therapie des Glaubens durch die Theorie von der Therapie des Glaubens fundiert«. Insofern kehrt Roth ein Stück weit zu dem Verständnis der Ethik als Theorie der Seelsorge zurück, freilich mit dem bedeutsamen Unterschied, dass die Ethik dazu »vorher bei der Seelsorge ›in die Lehre gehen‹« muss (333). Mit dem Plädoyer für eine seelsorgerliche Ethik greift Roth ein genuin lutherisch-reformatorisches Anliegen auf. So macht Oswald Bayer in seiner Vergegenwärtigung der Theologie Luthers darauf aufmerksam: »Luthers ethische – wie seine gesamte theologische – Bemühung geschieht […] als Seelsorge.«77 Ähnlich formuliert er in seiner Darstellung des seelsorgerlichen Grundzugs der Ethik Luthers: »In allem ist Luther Seelsorger – auch als Ethiker.«78 Seelsorgerlich ist für Bayer Luthers Ethik darin, dass sie auf Sünde und Vergebung bezogen ist und damit eine transmoralische Dimension eröffnet: »Die Erkenntnis der Sünde und die Erfahrung der Vergebung aber sprengen jede dem Menschen von Natur aus mögliche Lebensführung, also jede Moral und damit auch jedes Verständnis der Ethik als Theorie menschlicher Lebensführung.«79 Insofern besteht die seelsorgerliche Signatur der Ethik darin, dass sie – entgegen allem religiösen Leistungsdruck – von dem paulinischen Freiheitsruf herkommt: »Zur Freiheit hat uns Christus befreit. So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen!« (Gal 5,1). Dabei ist freilich zu beachten, dass das Liebesethos, das bei Luther an die Stelle der Gesetzesforderung tritt, keine Aufhebung der wegweisenden Funktion des Gesetzes beinhaltet, sondern auf seine – freilich nun geistliche – Erfüllung zielt. Hier unterscheidet Luther in seiner Auslegung des Galaterbriefes zwischen der Freiheit des Evangeliums und menschlicher Freiheit: »Libertas enim humana est, quando non mutatis hominibus leges mutantur. At christiana libertas est, quando non mutata lege mutantur homines, ut lex eadem, quae prius libero arbitrio odiosa fuit, iam diffusa per spiritum sanctum charitate in cordibus nostris iucunda fiat.« – »Das ist nämlich die menschliche Freiheit, wenn ohne Veränderung des Menschen die Gesetze geändert werden. Dagegen ist das die christliche Freiheit, wenn ohne Änderung des Gesetzes die Menschen verändert werden, damit dasselbe Gesetz, das vorher dem freien Willen verhasst war, nun durch die durch den heiligen Geist in unsere Herzen ausgegossene Gnade angenehm geworden sei.«80
Insofern wäre im Blick auf die Proklamation der Freiheit vom Gesetz zu differenzieren zwischen der Bestreitung einer soteriologischen Funktion des Ge77 Bayer, Martin Luthers Theologie, 281; ähnlich in Bayer, Nachfolge-Ethos, 145: »Seine ethische Bemühung geschieht […] als Seelsorge.« 78 Bayer, Der seelsorgerliche Grundzug, 50. 79 Bayer, Der seelsorgerliche Grundzug, 50. 80 Luther, In epistolam Pauli ad Galatas commentarius, 560, 21 – 25.
50
Probleme und Tendenzen der Verhältnisbestimmung von Seelsorge und Ethik
setzes und der Bejahung seiner – freilich nun im Rahmen des Evangeliums – orientierenden Funktion.81
3.5
Folgerungen
Der exemplarische Überblick über die oben aufgeführten Modelle der Verhältnisbestimmung von Seelsorge und Ethik hat in doppelter Hinsicht illustrativen Charakter : Zum einen unterstreicht er die These, dass die Korrelation von Seelsorge und Ethik davon abhängt, wie Seelsorge und Ethik jeweils definiert werden. Versteht man die ethische Aufgabe im Sinne des »Gesetzes« vor allem in der Bereitstellung moralischer Normen, die das menschliche Zusammenleben zu regulieren suchen, so wird eine Seelsorge, die ausgehend von der Freiheit des Evangeliums die Mündigkeit und Eigenverantwortung des Individuums betont, eine Spannung, wenn nicht sogar einen Gegensatz zwischen der Seelsorge als Anwältin der Freiheit und der Ethik als Garantin von Moralität konstatieren. Sieht man dagegen die Aufgabe der Ethik primär in der Befähigung des Ratsuchenden zu einer reflektierten, eigenständigen Entscheidung, so ergibt sich eine starke Affinität zu dem eben skizzierten Verständnis von Seelsorge bis dahin, dass der Seelsorge insgesamt eine ethische Struktur zuerkannt wird. Umgekehrt würde eine Seelsorge, die stärker die Angewiesenheit des Individuums auf ethische Orientierung durch das Gegenüber des Wortes Gottes als verbum externum sowie durch die Erfahrungen und Erkenntnisse anderer Menschen hervorhebt, eine größere Offenheit für eine Ethik zeigen, die ihre Aufgabe auch in der Begründung und Vermittlung von Werten und Normen sieht. Zum anderen verdeutlicht der Überblick, dass die Bestimmung des Verhältnisses von Seelsorge und Ethik stark von theologischen Grundentscheidungen abhängt, insbesondere von der Beantwortung der Frage nach dem Verständnis und Verhältnis von Gesetz und Evangelium. Je strikter Gesetz und Evangelium im Sinne des Gegensatzes von Normdruck und Freiheit unterschieden und je dezidierter Seelsorge als Praxis des Evangeliums verstanden wird, desto stärker ist die Tendenz entweder zu einer polarisierenden Verhältnisbestimmung von Seelsorge und Ethik oder aber zu einer Ablösung der Ethik von normativen Ansprüchen zugunsten einer evangeliumsgemäßen, »seelsorglichen« Ethik.82 81 Vgl. Härle, Ethik, 197. Härle lehnt zwar einen motivierenden dritten Gebrauch des Gesetzes als »nicht nur überflüssig, sondern geradezu gefährlich« ab, er hätte jedoch nichts einzuwenden gegen einen tertius usus legis, sofern er »lediglich die Funktion [hätte], dem Menschen, der durch das Evangelium motiviert ist, Gutes zu tun, zur Erkenntnis dessen zu verhelfen, was in seiner Situation das Gute ist«. 82 So plädiert Härle – wenn auch in anderem Zusammenhang – für eine »Leitbildethik«, die sich nicht wie Gebotsethiken an »strikten Dualen« wie erlaubt oder verboten, gut oder böse,
Neuere Modelle der Verhältnisbestimmung von Seelsorge und Ethik
51
Umgekehrt würde eine stärker dialektische Interpretation des Gesetzes als normativer Anspruch und orientierende Gabe zugleich zu einem Verständnis von Seelsorge und Ethik führen, in dem der Rückgriff auf die Orientierung stiftende Funktion des Gebotes einen legitimen Raum hat.
richtig oder falsch orientiert, sondern an der grundsätzlichen Bestimmung des Menschen zur Gottebenbildlichkeit, zum Empfang der Rechtfertigung aus dem Glauben und zu einem Leben in der Liebe. Eine solche Leitbildethik zeichnet sich im Gegensatz zu dem gebietenden Charakter einer Gebotsethik durch »einen einladenden Ton und Stil« aus, Härle, Ethik, 204 – 206 (Zitate: 206).
IV.
Konfliktfelder im Bereich der Neonatologie als exemplarischer Schnittpunkt von Seelsorge und Ethik
Bevor in der Folge untersucht werden soll, wie sich das Verhältnis von Seelsorge und Ethik in der Praxis darstellt, soll das ausgesuchte Praxisfeld mit seinen ethischen Herausforderungen beschrieben und seine Auswahl begründet werden.
1.
Definition und Abgrenzung des Begriffes »Neonatologie«
Unter Neonatologie versteht man einen Teilbereich der Pädiatrie (Kinder- und Jugendmedizin), der sich mit der Lehre vom Neugeborenen, seinen Erkrankungen, ihrer Diagnostik und Therapie befasst. Dabei wird zwischen Termingeborenen und Frühgeborenen unterschieden: Von Frühgeborenen spricht man in der Regel, wenn die Geburt nach Vollendung der 22. SSW (Schwangerschaftswoche) und vor Vollendung der 37. SSW (ausgehend vom ersten Tag der letzten Periode) erfolgt.1 Lange Zeit folgte man der von der WHO angeregten Einteilung nach Gewicht, nach der alle Neugeborenen mit einem Gewicht < 2500 g als Frühgeborene bezeichnet wurden.2 Innerhalb dieser Gruppe werden weitere Gewichtsklassen unterschieden: LBW = Low Birth Weight (< 2500 g), VLB = Very Low Birth Weight (< 1500 g) und ELBW = Extremely Low Birth Weight ( 16 Jahre) einhergeht, vgl. Nosarti u. a., Preterm Birth. 48 Leserbrief von Manfred Doerck, Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin, Dt Arztebl 105, 2008/46, A 2465; vgl. Klinkhammer, »Handvoll Mensch«, C 1586. 49 Baumann-Hölzle, Ambivalenz, 13.
Die Verdichtung ethischer Fragestellungen im Bereich der Neonatologie
63
dung in Frage kommt. Im medizinethischen und juristischen Bereich werden diesbezüglich unterschiedliche Lösungen diskutiert.50 Nach dem Grundgesetz, Art. 6, Abs. 2 sind »Pflege und Erziehung […] das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht.« Umfasst »Pflege« auch die Gesundheitsfürsorge, so ist es naheliegend, die Entscheidung über die Fortführung oder Einstellung einer lebenserhaltenden Maßnahme den Eltern als den gesetzlichen Vertretern zu überlassen (Sorgerechtsmodell).51 Für diese Lösung sprechen die »unmittelbare Betroffenheit« der Eltern aufgrund der genetischen und emotionalen Verbundenheit mit dem Kind sowie der Aspekt, dass die Eltern mit der getroffenen Entscheidung im Gegensatz zur temporären Verantwortung des Arztes eine dauerhafte Verantwortung für das weitere Leben des Kindes übernehmen.52 Gegen diese Lösung wird geltend gemacht, Eltern seien aufgrund ihrer emotionalen Befangenheit mit einer Entscheidung über Fortsetzung oder Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen in der Regel überfordert, sie würden entweder überängstlich oder zu optimistisch reagieren, oder aber sie würden in der Gefahr stehen, im Falle einer diagnostizierten bzw. prognostizierten Behinderung das Kindeswohl ihren eigenen Perfektionswünschen unterzuordnen.53 Eine Alternative wäre es – das Einverständnis des gesetzlichen Vertreters vorausgesetzt – dem behandelnden Arzt das Entscheidungsrecht zuzugestehen (Autoritätsmodell).54 Für diese Alternative spricht zum einen die fachliche Kompetenz des Arztes, zum andern, dass er aufgrund seiner Garantenpflicht ohnehin schon die rechtliche Verantwortung für Behandlungsentscheidungen trägt. Dagegen spricht der Eindruck, dass Ärzte aufgrund ihres professionsspezifischen Selbstverständnisses und aus Sorge vor haftungsrechtlichen Ansprüchen eher zu einem therapeutischen Übereifer neigen.55 Schließlich wird auch die Möglichkeit erwogen, die Entscheidungsbefugnis an ein unabhängiges ethisches Gremium zu delegieren (Delegationsmodell).56 Dieser Vorschlag stößt jedoch auf die Befürchtung, je nach Zusammensetzung 50 Einen Überblick über die unterschiedlichen Lösungsvorschläge findet sich bei Glöckner, Ärztliche Handlungen, 98 – 118; vgl. auch die Beschreibung verschiedener Entscheidungsmodelle (Autoritäts-, Richtlinien-, Delegations- und Verfahrensmodell) bei Schäfer/Groß, Ethische Fragen, 112 – 116. 51 Vgl. Glöckner, Ärztliche Handlungen, 99. 52 Vgl. Everschor, Probleme, 98 f (Zitat: 98). 53 Glöckner, Ärztliche Handlungen, 102, spricht in diesem Zusammenhang von »Reklamationsmentalität«. Zur Frage der Einbeziehung von Eltern insgesamt vgl. den Überblick bei Kind/Schätzle/Micallef, Umgang mit dem Tod, 136 f. 54 Vgl. Schäfer/Groß, Ethische Fragen, 112. 55 Die Gefahr des therapeutischen Übereifers wird verstärkt durch die ärztliche Konzentration auf medizinische Aspekte und auf das technisch Machbare, unter Umständen auch durch das Interesse an der Entwicklung neuer Behandlungsmethoden, vgl. Everschor, Probleme, 80 f. 56 Vgl. Schäfer/Groß, Ethische Fragen, 113.
64
Konfliktfelder im Bereich der Neonatologie
eines solchen Gremiums könnte die spezifische Situation von Kind, Eltern und familiärem Umfeld zu wenig berücksichtigt werden. Ähnliche Bedenken gelten im Blick auf das sogenannte Richtlinienmodell, d. h. der Orientierung an Leitlinien und Behandlungsempfehlungen. Zwar bietet dieses Modell der Vorteil einer gewissen Standardisierung der Entscheidungsfindung und einen größeren Schutz vor personabhängiger, subjektiver Beurteilung des Einzelfalls, leidet jedoch bei starrer Anwendung unter dem Nachteil mangelnder Flexibilität im Blick auf die besonderen Erfordernisse des Einzelfalls.57 Selbstverständlich gibt es neben diesen Grundpositionen zahlreiche Varianten und Kombinationen wie z. B. gemeinsame Entscheidung von Ärzten und Eltern (»shared decision making«), Teamentscheidung von Ärzten und Pflegenden,58 extern moderierte stationäre Konsile etc., sodass die oben aufgeführten Grundpositionen im seltensten Fall in reiner Form begegnen werden. Eine Kombination verschiedener Modelle stellt z. B. das »Zürcher Modell« dar, das Elemente der Teamentscheidung (Behandlungsteam als »innerer Kreis«) mit Elementen der externen Moderation (Gesprächsleiter nicht in die Behandlung des Kindes involviert) sowie der Beratung (Mitglieder einer Ethikgruppe und Fachpersonen als »äußerer Kreis«) zu kombinieren sucht.59
3.3
Die Frage nach den Entscheidungskriterien
Sollen Therapieentscheidungen im Sinne des Kindes getroffen werden, so steht man vor der schwierigen Frage, welches Handeln (das gegebenenfalls auch in einer Unterlassung bestehen kann60) das Kindeswohl (»welfare«) wahrt bzw. dem Interesse des Kindes gerecht wird (»Best-Interest Standard«).61 Anders als 57 Vgl. Schäfer/Groß, Ethische Fragen, 113. 58 Zur Diskussion des Für und Wider vgl. Everschor, Probleme, 82 – 86: Für das Teammodell spricht die Berücksichtigung der Perspektive der Pflegenden, allerdings besteht die Gefahr, dass im Falle eines Letztentscheidungsrechtes des Arztes es zu einer »Scheinberatung« kommt, oder – bei gleichwertigem Stimmrecht – aufgrund unterschiedlicher Meinungen keine Einigung erzielt werden kann. 59 Vgl. Siebenthal/Baumann-Hölzle, »Zürcher Modell«, 79 f; Schäfer/Groß, Ethische Fragen, 115. 60 Zu unterscheiden ist in diesem Fall zwischen der Einstellung einer Therapie (Withdrawing) und dem Verzicht auf Einleitung einer Therapie (Withholding). 61 Zur Terminologie vgl. Schulz-Baldes, Therapiebegrenzung, 88, Anm. 3. Zur Problematik des Begriffs vgl. die zusammenfassende Darstellung kritischer Einwände (Abhängigkeit der Auslegung des »Best-Interest Standard« vom individuellen Ermessen sowie vom zeitlichen und kulturellen Kontext) bei Dörries, Best-Interest Standard in der Pädiatrie, 122 – 124. Einen Sonderfall im Blick auf die Ermittlung des kindlichen Interesses bilden Kinder, die an Anenzephalie oder an einem irreversiblen appallischen Syndrom leiden. Hier bleibt unklar, inwieweit bei solchen Kindern die physische Voraussetzung für ein subjektiv empfundenes
Die Verdichtung ethischer Fragestellungen im Bereich der Neonatologie
65
in der Erwachsenen- und Jugendmedizin kann bei Behandlungskonflikten in der Neonatologie das mutmaßliche Interesse des Kindes nicht aufgrund biografischer Anhaltspunkte oder gar vorangegangener Willensäußerungen ermittelt werden (»substituted judgment standard«). Wenn überhaupt, so kann man nur durch Projektion der Erwachsenenperspektive auf das Kind einen mutmaßlichen Willen des Kindes zu konstruieren suchen, wobei der fiktive Charakter einer solchen Konstruktion nicht übersehen werden darf.62 In diesem Zusammenhang fällt auf, dass die neueste Fassung der Leitlinie »Frühgeborene an der Grenze der Lebensfähigkeit« (2013/2014) im Gegensatz zur vorhergehenden Fassung »Frühgeburt an der Genze der Lebensähigkeit des Kindes« (2007) auf das Kriterium des mutmaßlichen Willens verzichtet.63 Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob das Interesse des Kindes überhaupt isoliert von familiären Zusammenhängen eruiert werden kann, sofern eine Therapieentscheidung mit erheblichen Folgebelastungen durch eine Langzeit- oder Dauerbehandlung verknüpft ist.64 Allgemein geht man davon aus, dass ein künstliches Hinauszögern des Sterbevorgangs nicht im Sinne des Kindes ist. Gleiches gilt für intensivtherapeutische Maßnahmen, sofern sie für das Kind mehr Leiden als Nutzen bedeuten. Auch wird der Sinn lebenserhaltender Maßnahmen bezweifelt, wenn damit die Aussicht auf ein dauerhaftes qualvolles Leiden verbunden ist.65 Umstritten ist, inwieweit lebenserhaltende Maßnahmen indiziert sind, sofern aufgrund vorliegender Schädigungen (Anenzephalus, massive Hirnblutungen, Fehlen wesentlicher Teile des Verdauungstraktes) eine bleibende Abhängigkeit von medizinisch-technischer Unterstützung (Beatmung, künstliche Ernährung) zu erwarten ist bzw. die Erlangung von Selbstbewusstsein, kognitiven und
62
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Lebensinteresse oder Leidvermeidungsinteresse gegeben ist, vgl. Merkel, Früheuthanasie, 69 f. Vgl. die Kritik bei Merkel, Frühgeboreneneuthanasie, 321 – 327, der die Übertragung der Argumentationsfigur des »mutmaßlichen Willens« auf die Frage des Behandlungsabbruches mit Todesfolge schwergeschädigten Neugeborenen für »prinzipiell ungeeignet« hält, da sie »eine eigene Zuständigkeit des Neugeborenen für die tödliche Entscheidung« suggeriere, die in diesem Fall gar nicht gegeben ist, 327. Vgl. Frühgeburt an der Grenze der Lebensfähigkeit, 1 (Abs. 1.1): »Wenn Stellvertreter für ein Kind entscheiden, müssen sie sich am indivduellen Wohlergehen des Kindes orientieren […]. Maßstab ist, was dem Kind als dessen mutmaßlicher Wille unterstellt werden kann.« Demgegenüber heißt es in der neuen Fassung: »Während sich der Vertreter eines erwachsenen Patienten an dem erklärten oder mutmaßlichen Willen des Patienten zu orientieren hat, ist bei Eltern das von den Eltern aufgrund ihres Sorgerechts wahrgenommene Kindeswohl der Maßstab für ihre Entscheidung über die Behandlung ihres Kindes«, Frühgeborene an der Grenze, 2. Vgl. Dörries, Best-Interest Standard in der Pädiatrie, 118 f. Zur Problematik der Unschärfe von Begriffen wie »von Plagen überwuchert«, »auf Dauer mit schweren Behinderungen leben«, »schwere multiple Schäden, die lediglich Qualen verursachen«, »emotional-kognitive Fähigkeiten« siehe Everschor, Probleme, 320 – 323.325 – 332.
66
Konfliktfelder im Bereich der Neonatologie
kommunikativen Fähigkeiten nach menschlichem Ermessen ausgeschlossen sind.66 In jedem Fall werden Vitalitätszeichen und medizinische Prognosen zu Kriterien für die Indikationsstellung.67 Freilich ist damit die Schwierigkeit verbunden, dass gerade in der Neonatologie Aussagen über die Wahrscheinlichkeit von Komplikationen, über Krankheitsverläufe und Langzeitfolgen mit einem hohen Unsicherheitsfaktor behaftet sind. Somit stellt sich auch die Frage nach der Entscheidungsgewissheit.
3.4
Die Frage nach der Entscheidungsgewissheit
»Was aus einem Frühchen wird, weiß man mit einiger Sicherheit frühestens in hohem Alter kurz vor seinem Tode.« Mit diesem Zitat des berühmten Kinderarztes Arvo Ylppö, der selbst ein Frühchen war und dabei das Alter von 104 Jahren erreichte, leitet Gerhard Jorch seinen Ratgeber für Eltern von Frühgeborenen ein.68 Treffend ist damit die Aporie beschrieben, die kennzeichnend für viele Entscheidungskonflikte im Bereich der Neonatologie ist. Geht man davon aus, dass eine gute ethische Entscheidung eine gute Kenntnis der Faktenlage voraussetzt (»Good ethics starts with good facts«69), so steht man bei neonatologischen Entscheidungskonflikten oft vor dem Problem, dass es zwar eine Fülle von Fakten gibt, dass diese jedoch im Einzelfall nur sehr bedingt als Entscheidungsgrundlage herangezogen werden können. Selbst in einem der neuesten Standardwerke der Neugeborenenintensivmedizin stellen die Verfasser im Vorwort fest, »dass es […] für viele in der Neonatologie auftretenden Probleme eine gesicherte Behandlung im Sinne der evidence based medicine nicht gibt.«70 Wohl liegen Ergebnisse statistischer Untersuchungen vor, wohl gibt es Erfahrungswerte, doch niemand weiß, ob ein extrem Frühgeborenes nicht gerade zu der kleinen Prozentzahl gehört, die aller statistischen Wahrscheinlichkeit und 66 Vgl. die Darstellung der Diskussion um die Baby-Doe-Richtlinien bei Kuhse/Singer, Muss dieses Kind am Leben bleiben?, 55 – 57, ebenso die kritische Auseinandersetzung mit Kriterien wie »Kind außerstande, aus eigener Kraft zu leben«, »irreversible Bewusstlosigkeit«, »ohne höhere Gehirnfunktion« bei Everschor, Probleme, 301 – 320. 67 So werden in einem Beitrag des von Jorch/Kübler herausgegebenen Standardlehrbuches zur Neonatologie (2010) folgende Kriterien für den Verzicht auf Reanimationsmaßnahmen genannt: »Neugeborene mit zu erwartender hoher Morbidität und Mortalität, hochgradig unreife Frühgeborene < 23 SSW und/oder mit Geburtsgewicht < 400 g und Fehlbildungssyndrome, wie z. B. Anenzephalus oder eine Trisomie 13/18 sollten nicht reanimiert werden«, Avenarius, Erstversorgung, 31. 68 Jorch, Frühgeborene, 2. 69 Fost, Decisions, 2042. 70 Maier/Obladen, Neugeborenenintensivmedizin, V. Die Verfasser erläutern dieses »Dilemma« am Beispiel widersprüchlicher Empfehlungen und fehlender Daten im Blick auf die Reanimation im Kreißsaal.
Die Verdichtung ethischer Fragestellungen im Bereich der Neonatologie
67
aller ärztlichen Erfahrung zum Trotz ohne gravierende Schädigungen überleben. Schäfer und Groß machen zu Recht darauf aufmerksam: Mortalitäts- und Morbiditätsraten, Überlebenswahrscheinlichkeiten sowie die aus ihnen gezogenen Schlussfolgerungen, Empfehlungen und Leitlinien basieren immer auf Daten von Kollektiven; die konkrete Entscheidung für oder gegen lebenserhaltende Maßnahmen betrifft dagegen das individuelle Neugeborene in einer bestimmten familiären, kulturellen, sozialen und medizinischen Umgebung.71
Um es an einem konkreten Beispiel zu veranschaulichen: Wenn eine im Jahr 2006 vorgelegte Studie ergab, dass zum damaligen Zeitpunkt in SchleswigHolstein von zehn frühgeborenen Kindern mit einem Gestationsalter von 23 Wochen nur 3 Kinder überlebten,72 so sagte dies etwas aus über das Mortalitätsrisiko, doch konnte man im Einzelfall schwerlich voraussagen, ob ein Kind zu der einen oder anderen Gruppe gehören würde. Hinzu kommt, dass je nach Design und Umfeld der Untersuchung Ergebnisse erheblich voneinander abweichen können. Ein Vergleich von Mortalitätsstatistiken aus den Jahren 1990 – 2000 aus verschiedenen Ländern (Irland und Großbritannien, Schweiz, Deutschland) zeigt z. B. bei Frühgeborenen mit 23 Gestationswochen eine Streuung der Mortalitätsrate von 31 – 100 %, bei 24 Wochen liegt die Rate zwischen 21 und 82 %, bei 25 Wochen zwischen 21 und 59 %,73 eine Stellungnahme der World Association of Perinatal Medicine kommt unter Bezugnahme auf Studien in Großbritannien, in EU-Ländern und in den USA im Zeitraum von 2000 – 2008 auf ein Spektrum von 7 – 23 % bei einem Gestationsalter von 23 Wochen und von 26 – 51 % bei 24 Wochen.74 Die Schwankungen beruhen auf verschiedenen Faktoren: So werden in manchen Studien bereits im Kreißsaal verstorbene Kinder nicht berücksichtigt,75 auch spielen regionale Unterschiede in der prä- und postnatalen Versorgung bzw. im Zugang zu Vorsorgeuntersuchungen eine nicht zu unterschätzende Rolle,76 ebenso ist mit Unterschieden zwischen den Ergebnissen populationsbasierter Studien und Studien an Perinatalzentren zu rechnen.77 Follow-up-Studien, die das Langzeit-Outcome ehemaliger Frühgeborener untersuchen, sind zusätzlich mit der methodischen Schwierigkeit behaftet, dass sie zwischenzeitliche Therapiefortschritte im Bereich der Neonatologie nicht erfassen können, sodass »die Erhebung der Langzeitprognose zwangsläufig einen ›Blick in die Vergangenheit der Neona71 72 73 74 75 76 77
Schäfer/Groß, Ethische Fragen, 103. Rapp, Morbidität und Mortalität, 27. Vgl. Genzel-Boroviczény/Fries, Frühgeborene, A1962. Skupski u. a., Ethical Dimensions, 580. Vgl. Genzel-Boroviczény/Fries, Frühgeborene, A1961. Vgl. Genzel-Boroviczény/Fries, Frühgeborene, A1962 ff. Vgl. Frühgeborene an der Grenze, 4.
68
Konfliktfelder im Bereich der Neonatologie
tologie‹ darstellt«.78 Eine weitere Erschwernis in der Entscheidungsfindung stellen die geringen Fallzahlen dar, die einen Vergleich zwischen ähnlichen Fällen aufgrund ihres »anekdotenhaften«79 Charakters nur bedingt zulassen. Prinzipiell gibt es drei Möglichkeiten, mit dieser Schwierigkeit umzugehen: Die erste Strategie versucht das Risiko einer Lebensverkürzung durch vorzeitige Therapiereduktion oder -verzicht als Folge einer irrigen Prognose zu minimieren, indem sie lebenserhaltende Maßnahmen anwendet und fortführt, solange nicht ihre Aussichtslosigkeit evident ist (»Wait Until Certainty«). Eine zweite Vorgehensweise besteht darin, anhand der Ergebnisse statistischer Untersuchungen zu Überleben und Outcome von Frühgeborenen sinnvolle Behandlungsgrenzen festzulegen, um möglichst schon von vornherein die unnötige Belastung von extrem Frühgeborenen durch erfolglose Therapieversuche zu vermeiden bzw. ihnen ein qualvolles Leben zu ersparen (»Statistical Strategy«). Eine dritte Lösung kombiniert statistische Kriterien mit der Einschätzung des Arztes, um möglichst flexibel auf die individuelle Entwicklung des Kindes eingehen und auf Veränderungen angemessen reagieren zu können (»Individualized Prognostic Strategy«).80 Unschwer lässt sich erkennen, dass die erste Strategie vor allem das Anliegen der Lebenserhaltung betont, während die zweite Strategie der Vermeidung von Leiden mehr Gewicht zumisst. Dagegen versucht die dritte Strategie, beiden Anliegen gerecht zu werden. Zur Entscheidungsnot wird die Entscheidungsungewissheit, wenn ein Abwägen zwischen unterschiedlichen Handlungsoptionen aufgrund der Unsicherheit der Prognose keinen klaren Vorzug der einen Option vor der anderen erkennen lässt, oder wenn Ärzte und Pflegende »vor der Situation [stehen], dass ihr Tun so oder so mit Leiden verbunden ist«.81
78 Singer, Langzeitprognose, 51. 79 Vgl. den Ausdruck »Anekdoten-Kinder«, den ein Mediziner in einer vom Schweizer Fernsehen aufgezeichneten ethischen Fallbesprechung im Kinderspital Zürich gebrauchte; aus: Spezialsendung in SF Puls vom 18. 12. 2007, http://www.videoportal.sf.tv/video?id= 243f93c2 – 93cb-4c21-a6f7 – 58be541e6b57; letzter Zugriff: 25. 11. 2014. 80 Vgl. Glöckner, Ärztliche Handlungen, 173; ebenso Viafora u. a., Intensivmedizinische Maßnahmen, 144 – 146, die zwischen intervenistischem, statistischem und individualisiertem Ansatz unterscheiden. 81 Baumann-Hölzle, Ambivalenz, 13.
Die Konfrontation der Seelsorge mit ethischen Herausforderungen
4.
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Die Konfrontation der Seelsorge mit ethischen Herausforderungen im Bereich der Neonatologie
Durch die Präsenz der Klinikseelsorge in den neonatologischen Abteilungen von Krankenhäusern kommt es zwangsläufig zu Berührungspunkten zwischen Seelsorge und ethischen Fragestellungen der Neonatologie. Dabei begünstigt die vergleichsweise lange Verweildauer insbesondere von sehr kleinen Frühgeborenen82 den Aufbau einer Vertrauensbeziehung zu den Eltern, die wiederum Voraussetzung ist für eine Begleitung in Konfliktsituationen. Sicher unterliegt eine solche Begleitung den besonderen Bedingungen, die der Krankenhausbetrieb mit sich bringt. Vor allem auf Intensivstationen findet sich eine weitgehende Aufhebung der »Gesetze der Intimität«,83 selbstverständliche Rahmenbedingungen einer professionellen Seelsorge wie z. B. ein Raum, »in dem man in Ruhe und störungsfrei miteinander sprechen kann«84 fehlen hier fast völlig. Andererseits wird dieser Mangel ausgeglichen durch ein in der Regel unkompliziert offenes Gesprächsklima ohne förmliche Anlaufwege, immer wieder verbunden mit einer hohen Bereitschaft der Eltern, über persönliche Empfindungen im Zusammenhang mit dem Ergehen ihres Kindes zu reden. Konfessionelle und religiös-kulturelle Schranken spielen dabei eine untergeordnete Rolle, sodass die Begleitung von Eltern auf einer neonatologischen Intensivstation durchaus als Praxisfeld einer ökumenischen und interkulturellen Seelsorge gesehen werden kann. So machte ich im Rahmen meiner Hospitation auf einer neonatologischen Intensivstation die Erfahrung, dass sich aus anfänglichem »Small Talk« überraschend oft tiefer gehende Gespräche mit Personen unterschiedlichster kultureller Herkunft und religiöser Orientierung entwickelten. Das Spektrum reichte dabei von traditionell christlicher Prägung über die Beheimatung in muslimischen Glaubensvorstellungen bis hin zur Offenheit für ostasiatische Religiosität und esoterisches Gedankengut. Dadurch ergeben sich zusätzliche Herausforderungen an die Seelsorge,85 die sich zwar nicht auf 82 Bspw. lag in den Jahren 2006 und 2007 die mittlere Verweildauer von Frühgeborenen mit weniger als 1500 g Geburtsgewicht in Bayern bei 64 Tagen, vgl. die Informationen des Klinikums Dritter Orden München-Nymphenburg zum Behandlungsschwerpunkt Neonatologie, http://www.dritter-orden.de/behandlung/kinder/neonatologie/sp_01/04.html; Zugriff: 22. 03. 2012. 83 Frör, Seelsorge auf der Intensivstation, 92. 84 Klessmann, Seelsorge, 128. 85 Klessmann, Seelsorge, 19, spricht von der allgemeinen Herausforderung durch eine »hochgradig de-institutionalisiert[e]« Religiosität, sodass der Seelsorger lernen muss, »mit dem aller Orten begegnenden Synkretismus umzugehen«. Vgl. Tacke, Glaubenshilfe, 9, der die Seelsorge als einen Ort von Begegnungen ansieht, »die sich weithin außerhalb der institutionellen Kirchlichkeit vollziehen«; ähnlich Ziemer, Seelsorgelehre, 15, der in der Seelsorge »eine Brücke zur entkirchlichten Welt« sieht.
70
Konfliktfelder im Bereich der Neonatologie
das Feld der Neonatologie beschränken lassen, dort aber in exemplarischer Weise begegnen. Ethische Konflikte stellen sich dem Seelsorger in diesem Zusammenhang oft als Entscheidungsnot der Eltern dar, sei es, dass über die Durchführung einer riskanten Operation entschieden werden muss, sei es, dass angesichts schwerwiegender Komplikationen die Frage der Weiterbehandlung ansteht. Weitere Berührungspunkte mit ethischen Konflikten ergeben sich aus informellen Kontakten zu Ärzten und Pflegepersonal. Vor allem aber kommt es zur Konfrontation mit ethischen Konflikten auf formeller Ebene. Dies geschieht dort, wo Seelsorger strukturell in ethische Klärungs- und Entscheidungsprozesse eingebunden sind, sei es durch eine beratende oder moderierende Funktion bei ethischen Konsilen, sei es durch die Mitarbeit bei der Erstellung von hausinternen Empfehlungen und Leitlinien zum Umgang mit ethischen Fragestellungen im Bereich der Neonatologie. Hier besteht die Herausforderung oft darin, dass sich der Seelsorger mit bereichsspezifischen »Handlungslogiken« konfrontiert sieht.86 Schließlich gibt es neben diesen äußeren Berührungspunkten auch eine innere Affinität neonatologischer Konflikte zur Seelsorge: Sind es vor allem Grenzsituationen, die eine Offenheit für neue Erkenntnisse und Erfahrungen schaffen, so können Grenzsituationen durchaus auch zu einem fruchtbaren Ort der Seelsorge werden.87 Nun ist gerade die Neonatologie in besonderer Weise ein Bereich, der immer wieder an Grenzen führt – an die Grenze der Lebensfähigkeit, an die Grenze ärztlichen Könnens, an die Grenze psychischer Belastbarkeit, an die Grenze menschlicher Sprachfähigkeit. Indem sich Seelsorge auf diese Grenzerfahrungen einlässt, tut sie das, was ihrem inneren Wesen entspricht: Es gehört zu ihrem Wesen, dass sie Grenzgängerin ist – zwischen Transzendenz und Immanenz, zwischen religiöser und säkularer Welt, zwischen göttlicher und menschlicher Wirklichkeit, zwischen Glaube und Unglaube.88 Als Grenzgängerin vermag sie gerade an der Grenze – aller scheinbaren Ausweglosigkeit zum Trotz – neue Perspektiven und Horizonte zu eröffnen.
86 Klessmann, Seelsorge, 16. 87 Vgl. Ziemer, Seelsorge als Grenzerfahrung, 35. 88 Vgl. Ziemer, Seelsorge als Grenzerfahrung, 37 – 51, der von den Grenzen zwischen Mensch und Mensch, Glauben und Nichtglauben, Gemeinde und Welt spricht.
V.
Methodologische und methodische Vorüberlegungen zur Gestalt und Durchführung der empirischen Untersuchung
1.
Wenn Brüche zu Brücken werden1 – die Relevanz partikularer Erfahrung für die Theoriebildung
Im Blick darauf, dass sich Erfahrungen in der Seelsorge aufgrund ihres subjektiven und individuellen Charakters nur bedingt quantifizieren und generalisieren lassen, wurde für die vorliegende Untersuchung ein qualitativer Zugang gewählt, d. h., es geht um Verbalisierung und Interpretation von Erfahrungsrealität,2 im Zentrum der Untersuchung »stehen die Erlebniswelt und die subjektiven Deutungen der Befragten«.3 Erforscht werden soll, welche ethischen Herausforderungen von Seelsorgerinnen und Seelsorgern im Bereich der Neonatologie wahrgenommen werden, worin sie ihren Beitrag in der Begegnung mit diesen Herausforderungen sehen und welche Sichtweise des Verhältnisses von Seelsorge und Ethik darin zum Ausdruck kommt. Primär gilt also das Interesse der Beschreibung und dem Verstehen von subjektivem Erleben, in einem zweiten Schritt (Kap. VII) soll die Relevanz der Untersuchungsergebnisse für die Theoriebildung erörtert werden, aber auch eine Re-Lektüre der Interviews aus der Perspektive der Theorie erfolgen. Dabei bin ich mir bewusst, dass eine qualitative Befragung, wie sie im Rahmen der vorliegenden Arbeit durchgeführt wurde, lediglich eine Momentaufnahme darstellt. Begrenzt auf eine – im Vergleich zu quantitativen Studien – kleine Fallzahl und einen eng umrissenen Zeitraum vermag sie nur einen kleinen Ausschnitt von Lebenswirklichkeit zu 1 Vgl. den Titel des Buches von Giordano/Patry (Hg.), Theorie und Praxis – Brüche und Brücken. 2 Vgl. Bortz/Döring, Forschungsmethoden, 296. Angesichts der Feststellung, dass qualitative Forschungsansätze trotz anfänglicher Kritik »salonfähig« geworden sind, Mayring, Einführung, 15, bzw. als »etabliert« betrachtet werden können, Lamnek, Qualitative Sozialforschung, 26, soll hier auf eine eingehende Begründung des qualitativen Ansatzes verzichtet werden. Stattdessen sei verwiesen auf den geschichtlichen Überblick bei Mayring, Einführung, 9 – 18. 3 Schaffer, Empirische Sozialforschung, 109.
72
Methodologische und methodische Vorüberlegungen
erschließen, wenn auch in größerer Tiefe und Komplexität als eine quantitative Untersuchung. Trotz letztgenanntem Vorzug stellt sich im Fall der vorliegenden Studie die Frage, inwiefern die partikulare empirische Wahrnehmung seelsorgerlicher Praxis einen Beitrag zur Theoriebildung leisten kann. Die Frage beantwortet sich durch die Zielsetzung der vorliegenden Arbeit: Ihr Ziel ist es nicht, aus einem möglichst breiten und repräsentativen Spektrum an Datenmaterial generalisierende theoretische Schlüsse zu ziehen und neue Hypothesen zu generieren. Vielmehr verfolgt die Arbeit das Anliegen, Fragestellungen der Theorie im Licht praktischer Erfahrungen zu reflektieren und umgekehrt. Theorie und Praxis werden dabei nicht als Gegensätze gesehen, sondern als Gesprächspartner in einem konstruktiv-kritischen Dialog.4 Erfahrungen aus der Praxis werden zum Anstoß für die Überprüfung und eventuelle Modifizierung theoretischer Konzeptionen, theoretische Überlegungen regen wiederum zum Überdenken der Gestaltung von Praxis an. In diesem Sinne versteht sich die vorliegende Arbeit als Brückenschlag zwischen Theorie und Praxis. Diese Brückenfunktion schließt die Wahrnehmung von Brüchen nicht aus. Im Gegenteil, erst die Wahrnehmung von Brüchen zwischen Theorie und Praxis zwingt zur kritischen Reflexion. Zwar lässt es sich bei allem Bemühen um größtmögliche Offenheit gegenüber dem Forschungsgegenstand nicht vermeiden, dass auch eine qualitativ-empirische Untersuchung immer schon theoriegeleitet ist5 und ihre Ergebnisse von theoretischen Vorüberlegungen mitbestimmt werden. Trotzdem ist – bei entsprechender Offenheit der Wahrnehmung – davon auszugehen, dass Theorien immer wieder durch empirische Beobachtungen irritiert werden6 und es zu einer echten Begegnung von Theorie und Praxis kommt. Insofern sind es paradoxerweise gerade die Brüche, die zu Brücken werden.
4 Kalthoff, Dialektik, 10, denkt an ein »Gespräch […], in dem sich Empirien und Theorien gegenseitig informieren«. Dabei geht Kalthoff in Anlehnung an Martin Heidegger davon aus, dass »In-Formation« eine formatierende Wirkung ausübt, »die die Gegenseite nicht so belässt, wie sie ist«, 10. 5 Nach Mayring, Qualitative Inhaltsanalyse, 13 ist es sogar das Kennzeichen einer guten qualitativen Inhaltsanalyse, dass sie »theoriegeleitet vorgeht«. 6 Vgl. Wagner, Operativität und Praxis, 444 ff. Kalthoff, Dialektik, 21, spricht von dem »Irritations- und Anregungspotential« qualitativer Forschung, Neidhart, Beziehungen, 39, von den »Widersprüchen der Wirklichkeit«, die sich gegen die Integration gegen eine bestehende Theorie sperren, Heimbrock/Meyer, Staunen, 11, vom »Stolpern über […] Phänomene im Alltag«.
Erhebung der Daten
2.
Erhebung der Daten
2.1
Methode der Untersuchung
73
Das Interview7 gehört inzwischen zu den etablierten Standardmethoden qualitativ-empirischer Forschung, möglicherweise ist es sogar als »Königsweg« zu betrachten.8 Damit sind andere mögliche Zugänge zu dem Forschungsfeld wie z. B. die Methode der teilnehmenden Beobachtung nicht ausgeschlossen, im vorliegenden Fall jedoch erscheint das Interview nicht nur im Blick auf die hohe Gesprächsfähigkeit und kommunikative Kompetenz von Klinikseelsorgern als besonders angemessen, es ermöglicht auch aufgrund der Expertise der Befragten einen dichteren Datengewinn als eine beobachtende Vorgehensweise.9 Zudem wäre eine hospitierende Begleitung von Seelsorgern im Blick auf die Wahrung von Privatsphäre und die Verwertung von Daten (Schweigepflicht) nicht unproblematisch. Hinzu kommt, dass innere Reflexionsprozesse, wie sie für die Auseinandersetzung mit ethischen Fragen wesentlich sind, durch Interviews besser erfasst werden können als durch bloße Beobachtung.10 Da sich die Untersuchung als Beitrag zur Diskussion des Verhältnisses von Seelsorge und Ethik versteht und damit von einer bereits bestehenden theoretischen Fragestellung ausgeht, orientiert sie sich an der Methode des problemzentrierten Interviews.11 So versucht die Untersuchung »[v]orläufiges Formulieren des Problemfeldes« mit »Offenhalten des Vorwissens gegenüber der Empirie« zu verbinden.12 Dabei wurden die Teilelemente der Interviewmethode nicht schematisch übernommen, sondern selektiv und modifizierend den Bedürfnissen der Studie angepasst. Dazu gehören insbesondere die Verwendung eines Leitfadens einschließlich sondierender Nachfragen sowie die Raumgebung für episodische und narrative Elemente durch die Einflechtung von Erzählstimuli in das Interview. Ein anfänglich vorangestellter Kurzfragebogen zur Erhebung biografischer Daten und beruflicher Rahmenbedingungen wurde im 7 Der Begriff Interview soll hier verstanden werden als »eine verabredete Zusammenkunft, in der Regel eine direkte Interaktion zwischen zwei Personen, die sich auf der Basis vorab getroffener Vereinbarungen und damit festgelegter Rollenvorgaben als Interviewende und Befragte begegnen«, Friebertshäuser/Langer, Interviewformen, 438. Ziel einer solchen bewusst hergestellten »Gesprächssituation« ist, dass »der eine Fragen stellt, die vom anderen beantwortet werden«, Lamnek, Qualitative Sozialforschung, 301. 8 Lamnek, Qualitative Sozialforschung, 301. 9 Vgl. Bogner/Menz, Experteninterviews, 8. 10 Vgl. Lachmann, Gelebtes Ethos, 81. 11 Kennzeichnend für das problemzentrierte Interview ist, dass es von »einer vom Forscher wahrgenommenen […] Problemstellung« ausgeht, Witzel, Das problemzentrierte Interview, 230. Zu der Methode insgesamt vgl. Witzel, Das problemzentrierte Interview. 12 Witzel, Das problemzentrierte Interview, 231.
74
Methodologische und methodische Vorüberlegungen
Verlauf des Forschungsprozesses in das Interview integriert, da sich bereits im Zusammenhang mit der Erhebung persönlicher Daten thematisch relevante Informationen ergaben.13 Auf eine Gruppendiskussion als zusätzliches Teilelement wurde im Blick auf den vertraulichen Charakter seelsorgerlicher Arbeit und die Wahrung der Anonymität der am Interview Beteiligten verzichtet. Bei aller primären Orientierung an der Methode des problemzentrierten Interviews zeigt die Untersuchung auch eine gewisse Nähe zum Experteninterview. Versteht man unter Experten »Personen, die über ein spezifisches Rollenwissen verfügen, solches zugeschrieben bekommen und eine darauf basierende besondere Kompetenz für sich selbst in Anspruch nehmen«,14 so trifft diese Beschreibung durchaus auch für Klinikseelsorgerinnen und -seelsorger mit ihrer besonderen Qualifikation und ihren spezifischen Kompetenzen zu.
2.2
Der Leitfaden
Als Interviewform wurde eine teilstandardisierte bzw. semistrukturierte Form gewählt. Im Blick auf die Fokussierung der Interviews auf eine konkrete Problematik und ihre Vergleichbarkeit wurde ein Leitfaden mit Fragen erstellt.15 Er wurde vorab den Befragten zugeschickt, um sie über die Thematik des Interviews zu informieren.16 Teilweise wurde der Leitfaden von den Befragten benutzt, um sich anhand schriftlicher Notizen auf das Interview vorzubereiten (die im Interview selbst freilich nur als Erinnerungsstütze fungierten), andere antworteten eher spontan, in einem Fall wurde bereits im Vorfeld signalisiert, dass eine Vorbereitung auf das Interview aus zeitlichen Gründen nicht möglich sei, man aber gerne »einfach frei von der Leber weg«17 erzählen werde. Während des Interviews selbst wurde der Leitfaden flexibel gehandhabt. Dem Prinzip der Offenheit entsprechend wurde der Eigendynamik des Gesprächs und den Artikulationsbedürfnissen der Befragten nach Möglichkeit nachgegeben.18 Die 13 Die Sorge, dadurch könnte ein »Frage-Antwort-Schema« aufgebaut werden, vgl. Witzel, Das problemzentrierte Interview, 236, erwies sich angesichts der hohen Anteile an narrativen Passagen als unbegründet. 14 Przyborski/Wohlrab-Sahr, Qualitative Sozialforschung, 121. 15 Vgl. Kruse, Qualitative Interviewforschung, 228. 16 Ich bin mir der Risiken bewusst, die mit Vorabinformationen über das Forschungsinteresse verknüpft sind, vgl. Przyborski/Wohlrab-Sahr, Qualitative Sozialforschung, 61, halte jedoch im vorliegenden Fall dieses Risiko für vertretbar im Vergleich zu dem Vorteil des Erkenntnisgewinns durch eine reflektierte Antwort auf die gestellte Fragen, zumal auch das weitergehende Forschungsinteresse (Bestimmung des Verhältnisses von Seelsorge und Ethik) im Leitfaden verdeckt bleibt. 17 So die Mail-Antwort einer angefragten Seelsorgerin. 18 Vgl. Schaffer, Empirische Sozialforschung, 110.
Erhebung der Daten
75
einzelnen Punkte des Leitfadens wurden daher nicht unbedingt in ihrer Reihenfolge und auch nicht in gleicher Vollständigkeit »abgearbeitet«, sondern dienten mehr der Strukturierung und der Sicherstellung, dass wichtige Aspekte der Thematik nicht übersehen wurden. Punktuelle Akzentverlagerungen (z. B. vom neonatalen zum pränatalen Bereich) wurden zugelassen.19 In der Regel gelang es, durch anknüpfende Fragen oder das Ausnützen natürlicher Gesprächspausen zu bis dahin noch nicht angesprochenen Schwerpunkten überzuleiten, ohne den Gesprächsfluss unterbrechen zu müssen. Ausdrücklicher Erzählstimuli bedurfte es selten, vielmehr ergab sich immer wieder auf zwanglose Weise eine Veranschaulichung und Ergänzung der Ausführungen durch narrative Passagen. Der Leitfaden wurde nach dem ersten Interview modifiziert und ergänzt, trotzdem wurde das erste Interview aufgrund seiner inhaltlichen Ergiebigkeit bei der Auswertung berücksichtigt, zumal die im Leitfaden noch nicht berücksichtigten Aspekte im Interview teilweise trotzdem thematisiert wurden. Folgende Fragen wurden in den Leitfaden aufgenommen: 1. Mit welchen ethischen Herausforderungen und Konflikten werden Sie in Ihrer seelsorgerlichen Arbeit im Bereich der Neonatologie konfrontiert? 2. In welcher Form und in welchem Umfang sind Sie dort an Prozessen ethischer Entscheidungsfindung beteiligt? 3. a) Worin sehen Sie Ihre Kompetenz bzw. Ihren Beitrag als Seelsorgerin im Umgang mit den von Ihnen beschriebenen ethischen Herausforderungen und Konflikten? b) Welche Bedeutung hat für Sie in diesem Zusammenhang die Vermittlung ethischer Orientierung? c) Für den Fall, dass Sie ethische Orientierung zu vermitteln suchen – welche Überlegungen und Orientierungspunkte erscheinen Ihnen dabei besonders wichtig? 4. Gibt es Situationen in Ihrer Arbeit, in denen ethische und seelsorgliche Überlegungen in Spannung zueinander geraten? Wenn ja, an welche Situationen denken Sie? 5. Haben Sie den Eindruck, dass die seelsorgerliche Praxis Ihre »Ethik« beeinflusst bzw. verändert hat? Wenn ja, in welcher Weise? 6. Inwiefern wurden Sie durch Aus- und Fortbildung auf die ethischen Herausforderungen Ihrer Arbeit vorbereitet?
Frage 1 dient als Initialfrage. Da mit dem Stichwort »Konflikt« möglicherweise vorschnell typische medizinethische Dilemmata assoziiert werden, wird das in seiner Bedeutung eher vage Stichwort »Herausforderungen« vorangestellt, um »den Wahrnehmungstrichter […] so weit wie möglich offen zu halten«20 und eine Prädetermination möglichst zu vermeiden. Gleichzeitig ist die Frage so 19 Vgl. Schaffer, Empirische Sozialforschung, 133. 20 Lamnek, Qualitative Sozialforschung, 20. Tatsächlich stieg ein Seelsorger überraschenderweise nicht mit den »klassischen« Konfliktsituationen innerhalb der Neonatologie ein, sondern mit dem Problem mangelnder Aufklärung der Eltern und Instrumentalisierung seiner seelsorgerlichen Funktion als Mittel der Diagnosemitteilung. Vgl. Neitzke, Ethische Konflikte, 62.
76
Methodologische und methodische Vorüberlegungen
offen formuliert, dass sie auch einen erzählerischen Einstieg bzw. die Beschreibung persönlicher Erfahrungen ermöglicht.21 Auf die Vorschaltung einer Verständigung über den Begriff »ethisch« wurde bewusst verzichtet, vielmehr soll sich das jeweilige Verständnis von »ethisch« aus der Beantwortung der Frage erhoben werden. Die zweite Frage erkundet, inwieweit die befragten Seelsorger durch die Begleitung von Eltern, aber auch darüber hinaus durch die Teilnahme an stationären Fallbesprechungen oder ethischen Konsilen, sei es beratend oder moderierend, in Prozesse ethischer Entscheidungsfindung involviert sind. In dem darauf folgenden Fragenkomplex geht es um die Auslotung möglicher ethischer Dimensionen der Seelsorge. Dabei soll eine zu rasche Fixierung auf den Bereich der Ethik vermieden werden. Die erste Teilfrage wurde daher mit den Stichworten »Kompetenz« und »Beitrag« sehr weit formuliert. Sie gibt den Seelsorgerinnen und Seelsorgern zunächst die Gelegenheit zu artikulieren, worin sie das Proprium ihres seelsorgerlichen Umgangs mit ethischen Konfliktsituationen sehen, sei es im persönlichen Gespräch, sei es im ethischen Diskurs. Die Formulierung der zweiten Teilfrage trägt der Beobachtung Rechnung, dass ethische Fragestellungen innerhalb der Seelsorge bisher eine eher untergeordnete Rolle spielten. Die Beantwortung der Frage soll einerseits Aufschluss darüber geben, inwieweit die Konfrontation mit ethischen Herausforderungen zu einer verstärkten Sensibilität für ethische Dimensionen der Seelsorge führt, auf der anderen Seite soll durch die konditionale Einleitung (»Für den Fall, dass«) Offenheit für Vorbehalte gegenüber einer Vermittlung ethischer Inhalte im Kontext der Seelsorge signalisiert werden. In der dritten Teilfrage geht es nicht nur um materiale Gesichtspunkte, die in den ethischen Diskurs eingebracht werden. Das Stichwort »Überlegungen« lässt auch Raum für grundsätzliche fundamental- bzw. metaethische Erwägungen. Der Begriff »Orientierungspunkte« ist weit genug, dass unter ihn sowohl allgemeine ethische Kriterien wie auch konkrete Werte und Normen subsumiert werden können. Die vierte Frage thematisiert mögliche Spannungen im Verhältnis von Seelsorge und Ethik, die indirekt Aufschluss über das Verhältnis von Seelsorge und Ethik geben. Der erzählgenerierende Stimulus (»Wenn ja, an welche Situationen denken Sie?«) soll dabei eine theoretisch-abstrakte Beantwortung der Frage vermeiden, sondern die Verbindung zum Erlebnishorizont der Befragten sicherstellen. Um eine mögliche Beeinflussung ethischer Denkansätze und Einstellungen durch seelsorgerliche Erfahrungen geht es in der vorletzten Frage. Bewusst wurde hier der Begriff »Ethik« in seiner diffusen Alltagsbedeutung gebraucht (daher die Anführungszeichen). Insofern kann sich die Beantwortung der Frage 21 Vgl. Przyborski/Wohlrab-Sahr, Qualitative Sozialforschung, 127 ff.
77
Erhebung der Daten
sowohl auf ethische Überzeugungen im Sinne von Ethos bzw. Moral beziehen wie auch auf ethische Reflexionsprozesse.22 Die letzte Frage dient der Abklärung, inwieweit ein Interesse an ethischen Fragestellungen durch Ausbildung bzw. Fortbildung gefördert und verstärkt wurde.
2.3
Auswahl der Kliniken und befragten Personen
Insgesamt wurden zwölf Seelsorgerinnen und Seelsorger an neun deutschen Kliniken befragt. Die Gewinnung der Interviewpartnerinnen und -partner erfolgte auf dem Weg direkter Kontaktaufnahme.23 Bei der Auswahl wurde auf ein möglichst ausgewogenes Spektrum an Kliniken geachtet: Es reicht von Universitätskliniken über Kliniken in kommunaler Trägerschaft bis hin zur Klinik mit konfessionellem Träger. In der Regel sind es Kliniken mit größeren Perinatalzentren, die im Frühgeborenenbereich Maximalversorgung anbieten, lediglich in einem Fall ist eine nur begrenzte Versorgung gewährleistet. Diese relativ breite Streuung von Kliniktypen soll einer Fixierung auf besonders dramatische Situationen, wie sie gehäuft an Unikliniken vorkommen, vorbeugen. Dem ökumenischen Charakter der Klinikseelsorge wurde Rechnung getragen, indem evangelische und katholische Seelsorgerinnen und Seelsorger einbezogen wurden (acht Befragte sind evangelisch, vier Befragte katholisch). Abgesehen von diesen Erwägungen erfolgte die Auswahl in der Regel zufällig.24 Dadurch, dass an vielen Kliniken die Neonatologie an die Frauenklinik angegliedert ist, ergibt sich zwangsläufig ein Übergewicht an weiblichen Interviewpartnern (neun Frauen, drei Männer). Die Verteilung stellt sich wie folgt dar (B = Befragte/r ; k = katholisch; e = evangelisch; w = weiblich; m = männlich): B1 k w
B2 e m
B3 e w
B4 e w
B5 e w
B6 e m
B7 k w
B8 e w
B9 k w
B10 k w
B11 e w
B12 e w
Die Nummerierung der Interviews entspricht ihrer chronologischen Reihenfolge. B2 und B10, B5 und B6 sowie B11 und B12 arbeiten jeweils an derselben Klinik. 22 Umgekehrt ist natürlich eine Beeinflussung der seelsorglichen Praxis durch ethische Überlegungen denkbar, diese Möglichkeit wurde jedoch schon – zumindest indirekt – im Zusammenhang mit Frage 3 angesprochen. 23 Vgl. Przyborski/Wohlrab-Sahr, Qualitative Sozialforschung, 60. 24 In zwei Fällen wurde auf ausdrücklichen Vorschlag der angefragten Interviewpartner die Kollegin bzw. der Kollege mit einbezogen.
78 2.4
Methodologische und methodische Vorüberlegungen
Rahmenbedingungen der Interviews
Die Interviews fanden als persönliche Face-to-Face-Interviews statt. Die Kontaktaufnahme zu den Interviewpartnern erfolgte telefonisch oder per Mail. Dem »Postulat möglichst großer Alltagsnähe«25 wurde dadurch Rechnung getragen, dass die Interviews in der Regel in der Klinik bzw. im Klinikbereich und damit im vertrauten Arbeitsumfeld stattfanden, meistens im Büro der Befragten. Lediglich ein Interview erfolgte auf Vorschlag der befragten Person in häuslicher Umgebung. Bei den Interviews handelt es sich um Einzelinterviews, eine Ausnahme bildet das Interview mit B5 und B6, das auf ausdrückliche Bitte der Interviewten als Gruppenbefragung durchgeführt wurde.26 Die Interviews dauerten durchschnittlich 84 Minuten, das kürzeste 65 Minuten, das längste 125 Minuten. Wo es sich ergab, wurde die Möglichkeit eines Besuchs der jeweiligen neonatologischen Intensivstation wahrgenommen. In einem Fall (B11) musste das Interview unterbrochen werden, das Transkript umfasst daher zwei Teile.
2.5
Forschungsethische Überlegungen
Alle befragten Personen wurden schriftlich über Rahmen und Verwertung der Interviews informiert und unterschriftlich um ihre Einwilligung gebeten.27 Die exponierte Stellung von Klinikseelsorgerinnen und -seelsorgern sowie die besondere Sensibilität der klinikseelsorgerlichen Arbeit im Blick auf die Vertraulichkeit von Daten stellen hohe Anforderungen an den Grad der Anonymisierung der Interviews. Daher wurde auf nähere Angaben zur geografischen Streuung der ausgewählten Kliniken verzichtet. Ebenso konnten spezifische biografische Aspekte nur bedingt berücksichtigt werden, um die Anonymität der Befragten nicht zu gefährden. Fallbeispiele wurden, soweit es sich nicht interpretationsrelevante Daten handelt, verfremdet, ansonsten wurden spezifische Daten wie z. B. medizinische Befunde teilweise verallgemeinert oder umschrieben, um eine Re-Identifizierung auszuschließen. Zusätzlich wurden allen Befragten das Transkript und eine Zusammenstellung der in der Arbeit wörtlich zitierten bzw. paraphrasierten Auszüge zugeleitet mit der Bitte, sie auf ausreichende Anonymisierung hin zu überprüfen. Die Rückmeldungen gaben mir die
25 Mayring, Einführung, 23; vgl. Schaffer, Empirische Sozialforschung, 131. 26 Anlass war in diesem Fall die kollegiale Zusammenarbeit der Befragten im ethischen Konsil im Sinne einer »Arbeitsteilung« von moderierender und beratender Tätigkeit. 27 Vgl. Bundesdatenschutzgesetz § 40; Miethe, Forschungsethik, 929 f.
Aufbereitung der Daten
79
Möglichkeit, über die Wahrung der allgemeinen datenrechtlichen Standards hinaus dem individuellen Schutzbedürfnis der Befragten Rechnung zu tragen.
3.
Aufbereitung der Daten
Die Interviews wurden digital aufgezeichnet und von mir persönlich verschriftlicht. Die gewählten Transkriptionsregeln versuchen, sowohl dem Anliegen der Authentizität als auch dem der Lesbarkeit gerecht zu werden.28 Auf interlineare Schreibweise wurde aufgrund des geringen Umfangs von Überlappungen verzichtet. Dialektsprachliche Äußerungen wurden der Standardorthografie angeglichen. Dementsprechend wurde z. B. auch nicht zwischen »gucken« und »kucken« unterschieden, sondern beide sprachliche Varianten orthografisch einheitlich mit »gucken« wiedergegeben. Da die Auswertung sich in erster Linie auf sachlich-inhaltliche Aspekte konzentriert, wurden für das Erkenntnisinteresse belanglose Wiederholungen, Versprecher und eindeutige Verstöße gegen die Grammatik dem Relevanzkriterium entsprechend geglättet.29 Dagegen wurden allgemein übliche umgangssprachliche Verschleifungen und Elisionen bzw. Apokopen (z. B. »so ’ne Sache«, »sie hat’s gesehen«, er hat’s gesagt«, »ich denk«, »ich hab«) übernommen. Im Blick auf die Wiedergabe prosodischer Merkmale (Intonation, Lautstärke, Sprechgeschwindigkeit etc.), nicht-lexikalisierter Laute und nonvokaler Phänomene orientiert sich die Auflösungstiefe ebenfalls am Relevanzkriterium: Längere Pausen (ab zwei Sekunden) und signifikante Stockungen im Redefluss werden vermerkt, ebenso emotionale Äußerungen wie Lachen oder Seufzen. Parasprachliche Äußerungen wie »äh«/»ähm« wurden im Interesse der besseren Lesbarkeit getilgt, dagegen wurden Interesse bzw. Zustimmung signalisierende Äußerungen wie z. B. »mh«/ »mhm« beibehalten, ebenso werden Unterschiede in der Lautstärke sowie besonders auffällige Veränderungen in Tonhöhe und Sprechgeschwindigkeit bzw. -rhythmus oder erkennbare nonvokale Unterstreichungen (»schlägt auf den Tisch«) sowie gesprächsunterbrechende Geräusche (Telefonklingeln) dokumentiert.30 Einwürfe des Gesprächspartners, die innerhalb eines zitierten Interviewabschnitts keinen Sinn machen (z. B. Satzanfänge, die erst im folgenden Abschnitt weitergeführt werden), werden in den Zitaten ausgelassen. Bei der Verwendung von Zeichen wurde auf ikonische Evidenz geachtet. Ein Lauterwerden der Stimme innerhalb des zitierten Sinnabschnittes wird durch 28 Vgl. Deppermann, Gespräche analysieren, 46 f. 29 Vgl. Deppermann, Gespräche analysieren, 47; Przyborski/Wohlrab-Sahr, Qualitative Sozialforschung, 166, sprechen von Anpassung an das Forschungsinteresse; siehe auch Mayring, Einführung, 91. 30 Vgl. Deppermann, Gespräche analysieren, 47.
80
Methodologische und methodische Vorüberlegungen
das Zeichen »« (noch leiser). Die Rückkehr zu normaler Lautstärke ist durch die Umkehrung der entsprechenden Zeichen direkt nach dem letzten Wort der betreffenden Sequenz gekennzeichnet. Besonders betonte Wörter werden durch Kursivschrift31 hervorgehoben. Einwürfe und nichtvokale Äußerungen der Gesprächspartner erscheinen in runden Klammern ((lacht), (holt tief Luft) etc.), ebenso Charakterisierungen der Redeweise ((heiter), (zögernd), (flüsternd) etc.), das Ende wird durch einen Asterisk markiert (z. B. (empört) Ich dachte, das gibt’s doch nicht!*). Paraphrasierende Anmerkungen des Transkribenten (z. B. [Es folgen nähere Angaben zu …]), anonymisierende Eingriffe (z. B. [Name der Kollegin]) oder Auslassungen stehen in eckigen Klammern. Synchrones Sprechen wird durch geschwungene Klammern ({}) gekennzeichnet, wobei der Einwurf des Gesprächspartners in runden Klammern steht. (5 Sek.)
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