WARUM ÜBERHAUPT MORALISCH SEIN? [2. ed.] 9783406541322

„Ein Buch, das sich liest wie ein Krimi, das aber das Niveau gegenwärtiger philosophischer Moraldebatten nie unterschrei

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German Pages 242 [243] Year 2014

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WARUM ÜBERHAUPT MORALISCH SEIN? [2. ed.]
 9783406541322

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Kurt Bayertz

WARUM ÜBERHAUPT MORALISCH SEIN?

Verlag C.H.Beck CHBeck PAPERBACK

Zum Buch Dass wir moralisch sein sollen, leuchtet jedem von uns (hoffentlich) ein. Aber es dürfte manchem schwerfallen, eine Antwort auf die Frage zu geben, warum wir es sein sollen. Kurt Bayertz zeigt klar und deutlich, warum man moralisch sein soll. Ohne philosophischen Jargon und allgemeinverständlich greift er auf vielfältige Überlegungen zurück, die in der Geschichte des philosophischen Denkens entwickelt wurden, und prüft ihre Stärken und Schwächen. Schrittweise und immer wieder verdeutlicht durch Beispiele entsteht aus dem Gedankengang des Buches ein plastisches Bild der Funktion, des Sinns von Moral. Wer diesen Sinn erfasst hat, weiß auch, warum man moralisch sein soll. „Ein Buch, das sich liest wie ein Krimi, das aber das Niveau gegenwärtiger philosophischer Moraldebatten nie unterschreitet. Ein erstaunliches Buch! Dem Autor ermangelt es überdies nicht an tiefgründigem Witz, der die Lektüre erfrischend macht." Detlef Horster, Süddeutsche Zeitung

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Über den Autor Kurt Bayertz lehrt als Professor für praktische Philosophie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.

Meiner Tochter Lena gewidmet

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Inhalt VORWORT Vorwort zur zweiten Auflage

ERSTER TEIL AMORALISMUS UND MORALBEGRÜNDUNG ERSTES KAPITEL ZWEI SCHWIERIGKEITEN MIT DER MORAL

1. Müllers Problem 2. Meiers Problem 3. Sechs Arten, die W-Frage zu stellen 4. Die harmlose und die tendenziöse W-Frage 5. Der Skeptizismus und der Charme des Bösen 6. Willensschwäche und Fanatismus ZWEITES KAPITEL WAS HEISST HIER EIGENTLICH ? 7. Moral im weiteren Sinne 8. Moral im engeren Sinne 9. Die Moral der Moderne 10. Metaphysische und religiöse Entwurzelung 11. Das motivationale Defizit 12. Der Fall Gauguin DRITTES KAPITEL DAS MYSTERIUM DES

13. 14. 15. 16. 17. 18.

SOLLENS

Das Sollen und seine Spielarten Der Vorrang des moralischen Sollens Das Sollen als Problem Das Gefühl der Verpflichtung Das Sollen als Sanktion Macht die W-Frage Sinn?

ZWEITER TEIL GOTT,

DIE

WIRKLICHKEIT UND DIE ANDEREN

VIERTES KAPITEL GÖTTLICHE GEBOTE

19. 20. 21. 22.

Rückgang auf die Götter Warum göttlichen Geboten folgen? Das Euthyphron-Problem Wenn Gott tot ist...

23. 24.

Der Glaube und der Vorrang Ohne Gott kein Sollen?

FÜNFTES KAPITEL DIE WIRKLICHKEIT DER MORAL

25. 26. 27. 28. 29. 30.

Moral und Realität Vier Vorzüge des Realismus Die Moral als Teil der natürlichen Weltordnung Moral und Metaphysik Objektivität und Präskriptivität Drei Konsequenzen

SECHSTES KAPITEL DAS WOLLEN DER ANDEREN

31. 32. 33. 34. 35. 36.

Weil die anderen es wollen Minimierung anthropogener Schäden Eine Art Realismus Warum tun, was die anderen wollen? Der kleine Amoralist Ein Vergleich zweier Welten

DRITTER TEIL DAS

VERSÖHNUNGSPROGRAMM

SIEBTES KAPITEL DIE UNANGENEHMEN FOLGEN DER KLUGHEIT

37. 38. 39. 40. 41. 42.

Aus der Perspektive der ersten Person Singular Ein Vergleich mehrerer Welten Der Amoralist als Trittbrettfahrer Das Paradox der Klugheit Die Unwahrscheinlichkeit der Kooperation Der Hobbessche deus ex machina

ACHTES KAPITEL EINE MORAL FÜR EGOISTEN

43. 44. 45. 46. 47. 48.

Vom Segen der Wiederholung Ein instrumentelles Moralverständnis Egalität und Sichtbarkeit Jenseits der punktuellen Rationalität Tugend und moralische Selbstbindung Kann der Amoralist moralisch werden?

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NEUNTES KAPITEL MACHT MORAL GLÜCKLICH?

49. 50. 51. 52. 53.

Modernes und antikes Selbstinteresse Das Glücksargument und die Notwendigkeit der Tugend Das Problem der Gerechtigkeit Warum gerecht sein? Platons Lösung Die Bedeutung intrinsischer Werte

54.

Die engen Grenzen des Glücksarguments VIERTER TEIL DER MORALISCHE STANDPUNKT

ZEHNTES KAPITEL DIE IDEE EINES SANFTEN ÜBERGANGS

55. 56. 57. 58. 59. 60.

Faktische Gründe für moralisches Handeln Die Erweiterungsstrategie Eine moralische Natur des Menschen? Die Grenzen der Sympathie Selektiver Amoralismus Soziale Verhältnisse und moralischer Standpunkt

ELFTES KAPITEL OBJEKTIVE VERNUNFT UND AUTONOMIE

61. 62. 63. 64. 65. 66.

Zwei Perspektiven Von der Objektivität zur Unparteilichkeit Der Kategorische Imperativ Die Idee der Autonomie Kants Vernunft - fettgedruckt Was der Amoralist in Kauf nehmen muß

ZWÖLFTES KAPITEL DIE RATIONALITÄT DES AMORALISMUS

67. Noch einmal: Das Schadensprinzip 68. Warum unsere Argumente nicht sind 69. «Ich möchte lieber nicht» 70. Die Interessen des Amoralisten 71. Das letzte Argument 72. Eine Umkehr der Perspektive NACHWORT ANMERKUNGEN UND LITERATURHINWEISE VERZEICHNIS DER ZITIERTEN LITERATUR

NAMENREGISTER SACHREGISTER

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VORWORT

D ie Titelfrage dieses Buches ist sehr alt. Wir finden sie (der Sache, nicht der Formulierung nach) schon in den Dialogen Platons; auch danach hat sie verschiedene Theoretiker immer wieder beschäftigt. Dies kann nicht überraschen: Die Frage ist so naheliegend, daß kaum jemand von sich behaupten kann, sie sich nicht schon einmal im Stillen gestellt zu haben. Und doch ist sie meist als eine irritierende, ja provozierende Frage wahrgenommen worden. Wer sie stellte, mußte in früheren Jahrhunderten oft eher mit einer Zurechtweisung als mit einer Antwort rechnen. Ein wenig ist von diesem provozierenden Klang bis heute geblieben. Ich habe dies in den vergangenen Jahren gelegentlich bemerkt, wenn ich von Kollegen oder Freunden gefragt wurde, woran ich gerade arbeite. Wenn ich dann den Titel dieses Buches nannte, folgte nicht selten ein rasches Heben der Augenbrauen und dann - nein, keine Zurechtweisung, aber immerhin ein mehr oder weniger süffisantes Lächeln und die Bemerkung: Andere nickten bedächtig und seufzten tief: , und baten mich, ihnen die Antwort zu verraten - wenn ich denn je eine finden sollte. Nun, ich habe eine Antwort gefunden, und es gibt keinen Grund, sie geheimzuhalten. Dies wäre auch nutzlos, denn die Antwort ist genausowenig neu wie die Frage selbst. Wie sollte es auch anders sein? Es ist schwer vorstellbar, daß die Antwort auf eine solche Frage bislang verborgen geblieben wäre; oder daß es der Philosophie bedurft hätte, sie zu «entdecken». Jeder Mensch weiß, daß er moralisch sein soll; und um Klarheit darüber zu erlangen, warum er es sein soll, reicht der unverstellte common sense aus. Professioneller philosophischer Scharfsinn ist dafür nicht nötig - eher schon für die Beseitigung all der Trübungen, die diese Klarheit durch zahllose (auch philosophische) Theorien immer wieder erlitten hat. Wie überall, wo es um Fragen der Moral geht, besteht die Leistung philosophischer Reflexion auch hier nicht darin, grundsätzlich Neues zu entdecken oder zu erfinden, sondern darin, längst Bekanntes zu analysieren, in möglichst klarer Weise zu rekonstruieren und zu begründen. Wenn mir dies gelungen sein sollte, so ist dies nicht zuletzt all denen zu danken, die das hier vorliegende Buch in seiner Entstehung begleitet haben. Zunächst möchte ich die Teilnehmer meiner Vorlesungen und Seminare an der Universität Münster erwähnen, denen ich meine Überlegungen zum Thema dieses Buches mehrfach und in verschiedenen Stadien ihrer Entwicklung vorgetragen habe; insbesondere die Teilnehmer eines Hauptseminars im WS 2003/04, die eine erste Fassung dieses Buches kapitelweise gelesen und mich mit ihren Nachfragen und Einwänden zu wichtigen Präzi9

sierungen angeregt haben. Die daraus entstandene zweite Fassung ist von Susanne Boshammer (Zürich), Michael Quante (Essen), Rosemarie Rheinwald (Münster), Thomas Schmidt (Göttingen) und Marcus Willaschek (Frankfurt) ganz oder teilweise durchgearbeitet worden. Ihre kritischen Einwendungen und konstruktiven Hinweise haben mir noch einmal Gelegenheit zu wichtigen Korrekturen und Klarstellungen gegeben. Auch ihnen sei herzlich gedankt. Es versteht sich, daß alle verbliebenen Mängel dieses Buches (deren ich mir zumindest teilweise bewußt bin) allein auf mein Konto gehen. Altenberge, Ostern 2004 Kurt Bayertz

VORWORT ZUR ZWEITEN AUFLAGE Das über zehn Jahre hinweg anhaltende Interesse an diesem Buch hat eine neue Auflage erforderlich gemacht. Dafür habe ich den Text an zahlreichen Stellen überarbeitet, ohne substantielle Änderungen vorzunehmen. Völlig umgeschrieben wurde allerdings das abschließende zwölfte Kapitel; ich hoffe, daß es mir in der neuen Version besser gelungen ist, meine Intentionen zu verdeutlichen. Neu hinzugefügt wurde außerdem ein Nachwort, das einige Schlußfolgerungen andeutet, die aus den vorhergehenden Überlegungen gezogen werden können. Abermals habe ich für wertvolle Hinweise und Korrekturen zu danken, darunter vor allem Johann S. Ach, Marcel van Ackeren, Thomas Gutmann, Michael Quante und Bettina Schöne-Seifert. Zu danken habe ich außerdem Andreas Bruns für seine Hilfe bei der Erstellung des Manuskripts. Altenberge, Mai 2014 Kurt Bayertz

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ERSTER TEIL Amoralismus und Moralbegründung

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ERSTES KAPITEL ZWEI SCHWIERIGKEITEN MIT DER MORAL machte Ivich. Sie schaukelte ein bißchen auf der Bank hin und her, sie sah einfältig und pausbäckig aus. Sie sagte spitzbübisch: Jean-Paul Sartre

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ie meisten Menschen handeln in den meisten Fällen moralisch. Sie tim dies, ohne zu klagen und ohne nachzudenken, denn das Moralische versteht sich immer von selbst. So jedenfalls läßt sich der Held eines früher berühmten Romans von Friedrich Theodor Vischer" (1878: 25, 27, 39 et passim) immer wieder vernehmen. Realistischer wär e allerdings gewesen: versteht sich fast immer von selbst. Denn gelegentlich haben wir eben doch Probleme mit der Moral; sei es, daß ihre Forderungen uns selbst lästig werden; oder sei es, daß wir uns über das unmoralische Handeln anderer empören. Man muß nur eine Nachrichtensendung einschalten oder eine Zeitung aufschlagen, um nachdrücklich darüber belehrt zu werden, daß wir nicht in einer Welt leben, in der es immer moralisch zugeht. Und wenn wir es aus eigener Erfahrung nicht längst wüßten, würden uns dieselben Medien auch darüber aufklären, daß wir in einer Welt leben, in der oft keine Einigkeit darüber besteht, ob eine bestimmte Handlung(sweise) moralisch ist oder nicht. Auch wenn es richtig ist, daß immoralisches Handeln einen quantitativ nur kleinen Teil der Gesamtsumme menschlicher Handlungen umfaßt, bleibt Anlaß genug zum Nachdenken über die Moral und über die Probleme, die wir mit ihr haben. - Doch welcher Art sind diese Probleme? Aus der Fülle der verschiedenen Varianten möchte ich zwei Problem typen hervorheben; einer davon wird den Gegenstand dieses Buches bilden. Zur Illustration beginne ich mit zwei kleinen Geschichten, die helfen sollen, die Differenz zwischen beiden Problemtypen deutlich zu machen. Beide Geschichten haben ihren Ausgangspunkt in der Suche nach einem Parkplatz in einer Tiefgarage.

1. Müllers Problem Der Held unserer ersten Geschichte (nennen wir ihn Müller) ist nach einigem Stichen froh, in der hintersten Reihe des untersten Stockwerks noch einen freien Platz gefunden zu haben. Beim Aussteigen findet er eine auf dem Boden liegende Brieftasche. Ihr Inhalt besteht aus mehreren tausend Euro sowie der Visitenkarte des 13

Besitzers: Es handelt sich um einen stadtbekannten Immobilienspekulanten. Müller weiß natürlich, daß er die Brieftasche ihrem Besitzer zurückgeben sollte; dennoch zögert er. Der Grund seines Zögerns liegt darin, daß er sich seit langem für die Belange der Dritten Welt engagiert. Gegenwältig sammelt er im Rahmen eines örtlichen Solidaritätskomitees Hilfe für Afrika Geld für den Bau einer Meerwasserentsalzungsanlage in einem afrikanischen Dorf; diese Anlage würde etlichen Familien einen ausreichenden Lebensunterhalt als Bauern ermöglichen. Müller weiß nun, daß die in der Brieftasche enthaltene Summe ausreichen würde, die Anlage zu finanzieren; daß andererseits der Verlust einiger tausend Euro dem Immobilienspekulanten nicht sonderlich weh tun würde. Müller befindet sich offenbar im Zweifel darüber, was in seiner konkreten Situation das moralisch Richtige ist. Er sieht sich mit einem Zwiespalt zwischen zwei divergierenden Verpflichtungen konfrontiert. Auf der einen Seite empfindet er die Pflicht, fremdes Eigentum zurückzugeben; auf der anderen Seite aber fühlt er sich verpflichtet, den vom Hunger bedrohten Menschen in Afrika zu helfen. Allgemein formuliert, hat sein Problem folgende Struktur: (i) Es gibt einen moralischen Grund, Handlung A auszuführen; (ii) es gibt einen moralischen Grund für Handlung B; (iii) er kann aber nicht A und B gleichzeitig tun und muß sich daher über einen der beiden Gründe hinwegsetzen. Seine Frage ist: , < War um soll ich meine Steuern korrekt zahlen, wenn (fast) alle anderen schummeln und mich wegen meiner Ehrlichkeit noch auslachen?> Auch in diesen Fällen ist die Frage gut nachvollziehbar. In ihr steckt ein echtes Problem; denn es kann nicht richtig, nicht gerecht und daher auch nicht moralisch sein, daß die mit der Moral verbundenen Lasten einseitig verteilt sind; daß einige diese Lasten tr agen, während andere sich ihnen entziehen. Skeptizismus: Dieser Position begegnen wir überall dort, wo die Erkennbarkeit der Moral und die rationale Entscheidbarkeit moralischer Probleme grundsätzlich bezweifelt wird. Zu den Argumenten-, die dafür immer wieder vorgebracht werden, gehört der Hinweis auf die Vielzahl konkurrierender Versionen von Moral, die alle mit dem Anspruch auf Richtigkeit auftreten. Während wir im Hinblick auf empirische Fragen gute Aussichten haben, zumindest auf längere Sicht die Wahrheit zu ermitteln, scheint die Lage im Hinblick auf die Moral hoffnungslos zu sein. Wir verfügen hier nicht über vergleichbar erfolgreiche Verfahren zur Gewinnung objektiver moralischer Erkenntnis. Der Anspruch auf Wahrheit oder Richtigkeit ist auf dem Feld der Moral oft schwer zu untermauern. Wenn wir diesen Anspruch jedoch nicht rational durchsetzen und argumentativ bekräftigen können, wenn die Moral also eine Angelegenheit zufäl- liger Überzeugungen oder bloßer Konvention ist, dann gibt es auch keinen triftigen Grund, moralisch zu sein. Dies alles sind in der Tat

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schwierige Probleme, die einen moralischen Skeptizismus motivieren können; der (idealtypische) Skeptiker wäre durchaus bereit, moralisch zu handeln, wenn er nur wüßte, was moralisch richtig ist. In anderen Fällen sind die epistemischen Schwierigkeiten mit der Moral aber lediglich eine Attitüde oder ein Vorwand für eine amoralische Haltung. Amoralismus: Wir können uns den Amoralisten am besten als eine Person vorstellen, die konsequent ihren eigenen Interessen nachgeht und die Moral dabei als ein Hindernis wahrnimmt. Er bezweifelt nicht die Möglichkeit einer sicheren Erkenntnis des moralisch Richtigen; er weiß meist sehr gut, was das moralisch Richtige ist. Aber er bestreitet, daß es für ihn einen hinreichenden Grund gibt, sich daran zu halten. Der Fokus seiner Argumentation liegt auf dem Handeln, nicht auf dem Erkennen; im Unterschied zum Skeptiker argumentiert er nicht erkenntnistheoretisch, sondern geltungstheoretisch. - Einem eloquenten und konsequenten Vertreter dieser Position begegnen wir in Platons frühem Dialog Gorgias. Sein Name ist Kallikles und sein Argument besagt, daß die Rücksichtnahme auf die Interessen anderer Menschen keineswegs von Natur aus das Richtigere und Bessere sei; es ist lediglich das, was die Konvention von uns verlangt. Dieser Konvention liegt die Perspektive der Schwachen zugrunde, die das Handeln der Starken einengen wollen und ihnen auf diese Weise die Befriedigung ihrer Wünsche und Bedürfnisse erschweren oder gar unmöglich machen. (Gorg. 482e2-484a2) Im ersten Buch der Politeia präsentiert uns Platon in Gestalt des Thrasymachos einen weiteren Amoralisten mit ähnlichen Argumenten, die den Anstoß für die umfangreichen Überlegungen des gesamten weiteren Werkes geben. Die von dieser Position aus gestellte W-Frage kann also übersetzt werden in:

Immoralismus: Die letzte und (scheinbar) radikalste Position wird von denen vertreten, die eine grundsätzliche Sinnlosigkeit, Verkehrtheit oder Schädlichkeit der Moral behaupten. Ein solcher Immoralismus (oder Antimoralismus, oder Nihilismus) nimmt kein opportunistisches, sondern ein prinzipielles Verhältnis zur Moral ein: ein prinzipiell negatives. Während der Amoralist sich über die Forderungen der Moral hinwegsetzt, wenn und weil sie der Realisierung seiner Interessen entgegenstehen, würde ein konsequenter Immoralist auch dann moralwidrig handeln, wenn seine Interessen dadurch nicht befördert werden. Der Immoralist handelt unmoralisch um des Unmoralisch-Seins willen; und dies läßt in ihm eine starke Neigung zur Irrationalität entstehen. Ein hübsches Beispiel dafür liefert uns Dostojewski in seinem Roman Der Jüngling, wo er den Titelhelden, der an vielfältigen Problemen mit seiner (auch moralischen) Identität leidet, ausführlich zu Wort kommen und folgende Geschichte erzählen läßt: Jawohl Ein überaus kluger Mensch hat einmal unter anderem gesagt, daß nichts schwerer sei, als auf die Frage zu antworten: Sehen Sie, es gibt drei Arten Schufte in der Welt' erstens die naiven Schufte - das sind die, die überzeugt sind, daß ihre Schuftigkeit der höchste Edelmut sei; zweitens

die verschämten Schufte - das sind die, die sich der eigenen Schuftigkeit zwar schämen, dabei aber doch bei ihrer Schuftigkeit unbedingt verharren. Und schließlich einfach Schufte, sagen wir: echte Schufte oder Vollblutschufte. Erlauben Sie: ich hatte einen Schulkameraden, einen gewissen Lambert, der sagte mir mal, als er erst sechzehnjährig war, daß er, sobald er mit seiner Mündigkeit sein Erbe erhalte, als größtes Vergnügen sich die Wonne leisten werde, Hunde mit Brot und Fleisch zu füttern, wenn die Kinder der Armen Hungers sterben; und wenn sie nichts hätten, womit sie ihre Öfen heizen könnten, werde er einen ganzen Holzhof kaufen, das Holz auf freiem Felde aufstapeln und das Feld heizen, den Armen aber werde er auch nicht einen Scheit geben. Das waren seine Gefühle! Nun sagen Sie mir, bitte, was ich einem solchen echten Schuft auf die Frage, warum er denn unbedingt edel sein solle, antworten könnte? (1875: 68f) Abgesehen von seiner Lust an der Schädigung anderer hat Lambert keinen Vorteil von seinem moralwidrigen Handeln. Im Gegenteil: Es kostet ihn eine Menge Geld. Wenn man davon ausgeht, daß Menschen in der Regel nichts tun, wovon sie sich keinen Vorteil versprechen, dann kann man daher zweifeln, ob überhaupt ein reales Phänomen bezeichnet.

4. Die harmlose und die tendenziöse W-Frage Es ist leicht zu erkennen, daß wir es von der ersten bis zur sechsten Position mit einer zunehmenden Radikalisierung zu tun haben. Die von einem Kind gestellte W-Frage ist eine andere als die von einem Skeptiker gestellte W-Frage; und diese wieder um eine andere als die rhetorische und höhnische W-Frage eines Immoralisten. Wir stehen vor einem Spektrum, das von zu reicht, und zumindest im Hinblick auf die zweite Hälfte des Spektrums können wir den Widerwillen Ciceros gut verstehen. Denn offensichtlich schiebt sich hier hinter der Frage, warum man moralisch sein soll, die weitergehende Frage, ob man es sein solle, in den Vordergrund. Am Ende sind wir mit der These konfrontiert, daß man es eigentlich nicht sein solle. Ebenso leicht ist zu erkennen, daß sich mit dem Inhalt der Frage auch die Aussichten auf überzeugende Antworten verändern. Am Beginn des Spektrums sind diese Aussichten noch groß. Es dürfte vergleichsweise leicht sein, dem fragenden Kind eine Antwort zu geben, die es zufriedenstellt und zum moralischen Handeln motiviert. Die Gemeinsamkeit der drei ersten Positionen besteht in ihrer (mehr oder weniger großen) Offenheit: Ihre Vertreter sind grundsätzlich bereit, sich von Argumenten zugunsten der Moral überzeugen zu lassen. Im Alltag werden wir deshalb gern bereit sein, auf sie einzugehen; wir werden

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uns Mühe geben, sie zu überzeugen; und wir werden davon ausgehen, daß diese Mühe sich . Eine echte, eine offene Frage verdient eine sorgfältige Antwort. Der Wortlaut der W-Frage ändert sich nicht, wenn sie von einer der drei übrigen Positionen aus gestellt wird, wohl aber ihre Stoßrichtung. Sie wird jetzt mit eben der Tendenz gestellt, die sie im Munde einer naiven Person nicht hatte: mit der Tendenz zu einer negativen Antwort. Gefragt wird nicht mehr, warum man moralisch sein solle, sondern ob. Trotz dieser gemeinsamen Tendenz unterscheiden sich diese Positionen untereinander beträchtlich. Ich betrachte zunächst den Amoralismus. Auf den Skeptizismus und den Immoralismus werde ich im folgenden Abschnitt näher eingehen; beide werden uns in diesem Buch dann nicht weiter beschäftigen. - In einer ersten Charakterisierung können wir dem Amoralisten drei Eigenschaften zuschreiben: (i) Er steht außerhalb der Moral. Er denkt nicht moralisch, und er hat keine moralischen Gefühle, die ihn zu uneigennützigen Handlungen motivieren könnten; er hat kein Gewissen und nimmt nicht das ein, was in der ethischen Literatur als der moralische Standpunkt bezeichnet wird, (ii) Der Moralist steht zwar außerhalb der Moral, hat aber kein prinzipielles Verhältnis zu ihr, auch kein prinzipiell feindliches (wie der Immoralist). Daß er die Verbindlichkeit der moralischen Nonnen bestreitet, wird ihn nicht daran hindern, in Übereinstimmung mit diesen Normen zu handeln, wenn ihm dies nützt. Dasselbe gilt aber auch umgekehrt: Wenn es ihm nützlich erscheint, wird er nicht zögern, sich über alle moralischen Normen hinwegzusetzen. Mit einem Wort: Sein Verhältnis zur Moral ist opportunistisch, (iii) Dies hängt damit zusammen, daß für den Amoralisten die Realisierung der eigenen Interessen den einzigen Handlungsgrund und das einzige Handlungsmotiv darstellt. In genau diesem Sinne ist er Egoist. Sicherlich spielt die strukturelle Spannung zwischen den Forderungen der Moral und dem jeweils eigenen Interesse auch bei der harmlosen» W-Frage eine Rolle. Doch hier ist noch keine prinzipielle Entscheidung dahingehend gefallen, daß nur noch das Selbstinteresse zählen soll. Beim Amoralisten ist genau das der Fall. Das Selbstinteresse stattet ihn mit einem machtvollen Motiv aus. Nicht zufällig sind die klassischen Amoralisten der Philosophiegeschichte stets auch Verfechter eines rigorosen Egoismus gewesen. Ein solches außertheoretisches Motiv ist weder für den Skeptizismus noch für den Immoralismus erkennbar. Es ist dieses Motiv, das den Amoralisten zu einem lohnenden Gegner qualifiziert, insbesondere die Konsequenz, mit der er ihm folgt. Jeder hat schon einmal Menschen getroffen, die sich über moralische Normen hinwegsetzen, weil es ihnen irgendwie nützt. In der Regel handelt es sich dabei aber nur um die kleinen Rücksichtslosigkeiten des Alltags; nicht um Raub oder Mord. Vor allem sind sie nicht Ergebnis einer systematischen Haltung. Genau das aber wollen wir unserem Amoralisten unterstellen: Er ist ein strategischer Maximlerer seines eigenen Vorteils. Ob es Menschen dieses Schlages tatsächlich gibt, ob sie häufig sind und eine reale Gefahr darstellen,

ist für die folgenden Überlegungen nur von untergeordneter Bedeutung. Wir setzen uns mit ihm als der radikalen Verkörperung eines allgemeinen Problems auseinander: der Spannung zwischen den Forderungen der Moral und dem Selbstinteresse der Individuen. Die theoretische Herausforderung ergibt sich daraus, daß wir von einer solchen Personifikation kein freundliches Entgegenkommen zu erwarten haben. Hätten wir ihr etwas entgegenzusetzen? Könnten wir jemandem, der gänzlich außerhalb der Moral steht, gute Gründe geben, moralisch zu handeln oder zu werden? Der Amoralist soll uns als eine Art Sparringspartner dienen, an dem das ethische Denken die Reichweite seiner argumentativen Ressourcen testen kann. Es wird sich zeigen, daß wir in diesem Trainingskampf einiges über die Moral lernen können.

5. Der Skeptizismus und der Charme des Bösen Zwischen dem Amoralismus und dem Skeptizismus verläuft ebensowenig eine klare Grenze wie zwischen dem Amoralismus und dem Immoralismus. In meinem Sprachgebrauch ist der Skeptizismus eine erkenntnistheoretische Position, die bei einem echten Problem ansetzt: bei den Schwierigkeiten, die auftreten können, wenn es um die Feststellung dessen geht, was moralisch richtig und was moralisch falsch ist. Wie finden wir heraus, daß eine bestimmte Handlungsweise richtig oder falsch ist? Und wie gut, wie verläßlich sind die Argumente, mit denen wir unsere Wert- oder Unwerturteile begründen? Die Beantwortung dieser Fragen liegt außerhalb der Thematik des vorliegenden Buches. Nur so viel: Der Skeptizismus stilisiert die bei der Beantwortung solcher Fragen auftretenden Schwierigkeiten zu einer prinzipiellen Unmöglichkeit. Doch für diese Stilisierung gibt es keinen überzeugenden Grund. In der Mehrzahl aller Handlungssituationen können wir ebenso leicht wie sicher sagen, was moralisch richtig ist und was nicht. Niemand bezweifelt ernsthaft, daß man (auch im Fall der Eile) Fußgänger nicht mit dem Auto überfahren darf; oder daß Eltern die Pflicht haben, für die Ernährung ihrer Kinder zu sorgen. Skeptische Zweifel sind hier fehl am Platz; sie sind eher Ausdruck einer intellektuellen Attitüde als eines philosophischen Problems. Sofern der Skeptizismus nicht nur ein erkenntnistheoretisch bemäntelter Egoismus ist (weil die Befolgung der entsprechenden Normen lästig ist, bestreitet man ihre ), gibt es kein ernstzunehmendes außertheoretisches Motiv für diese Position. Der Skeptizismus ist im schlechten Sinne des Wortes; man trifft ihn ausschließlich in philosophischen Kontexten. Im Alltag ist niemand Skeptiker: weder im Hinblick auf die Realität der Außenwelt noch im Hinblick auf die Moral. Dies hängt damit zusammen, daß die Motivation für den skeptischen Zweifel eine rein spekulative ist. Und genau das unterscheidet den Skeptiker vom Amoralisten. Dieser hat nämlich höchst wirkliche und höchst wirksame Motive für seine Position: die Verfolgung des eigenen Wohls. Zwar sind die Chancen, auf freier Wild-

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bahn einem Amoralisten zu begegnen, ähnlich gering wie die einer Begegnung mit einem Skeptiker; die Gründe dafür sind jedoch völlig andere. Der Skeptizismus wird theoretisch verfochten, aber nicht praktisch gelebt; der Amoralismus hingegen wird praktisch gelebt, aber nur in philosophischen Diskussionen theoretisch verfochten. Wir werden später noch genauer sehen, warum dies so ist (§ 39); der Amoralist hat ein starkes Interesse daran, sich nicht zu erkennen zu geben. Vom Skeptiker unterscheidet sich der Immoralist darin, daß er solche Motive zu haben scheint. In der Literatur jedenfalls wird er gern als jemand dargestellt, der dem unwiderstehlichen Charme des Bösen folgt. So diagnostiziert Edgar Allan Poe in seiner Erzählung Der Alb der Perversheit eine in der Natur des Menschen tief verankerte Lust am Bösen um des Bösen willen. Diese Lust treibt uns zu einem Handeln, das einzig aus dem Grunde kommt, daß wir nicht so handeln sollten. Theoretisch läßt sich kaum ein weniger begründeter Grund denken; doch in Wirklichkeit gibt es keinen von größerer Stringenz. Bei gewissen Vorhaben, unter gewissen Bedingungen wirkt er schier unwiderstehlich. So gewiß ich bin, daß ich atme, so sicher weiß ich, daß gerade die feste Überzeugung eine Tat sei falsch, sei unrecht oder irrig, oftmals die eine unbesiegliche Macht ist, welche uns treibt und alleinig treibt, sie zu begehen. Und dieser überwältigende Drang das Unrechte zu tun um des Unrechten willen, läßt keinerlei Analyse, keinerlei Zerlegung in anderweitige, tiefer gelegene Elemente zu. Er ist selber ein Grund-, ein Urtrieb - ist selber elementar. (1845:474) Es macht dem Immoralisten also schlicht Freude, erfüllt ihn mit Stolz und Zufriedenheit, daß er moralwidrig handelt. Da sein Gewinn in der Bösartigkeit des Handelns selbst liegt, erscheint er als lebensfroher Berserker und verkörpert damit ein Ideal, das gerade auf bläßliche Büchermenschen (man denke an Nietzsche) einen nachhaltigen Zauber ausübt. Es ist aber leicht einzusehen, daß der von Poe beschriebene Charme des Bösen nur eine geringe Verbreitung haben kann. Aus verschiedenen Gründen stellt er eine extrem elitäre Position dar. (i) Es liegt auf der Hand, daß eine ausschließlich oder auch nur hauptsächlich aus Immoralisten bestehende Gesellschaft nicht überlebensfähig wäre; sie würde untergehen und der Immoralismus mit ihr. Sofern er überhaupt eine realistische Option ist, ist er daher eine Option nur für eine Minderheit, (ii) Hinzu kommt, daß eine immoralistische Lebensweise höchst aufwendig ist und daher finanzielle Mittel voraussetzt, die stets nur von einer Minderheit aufgebracht werden können. Nicht zufällig kündigt Dostojewskis Lambert seine Karriere als Immoralist erst für den Zeitpunkt an, zu dem er sein offenbar beträchtliches - Erbe angetreten haben wird; vorher muß er sich mit dem trivialen Dasein eines gemeinen Verbrechers begnügen. Die anspruchsvollen materiellen Voraussetzungen werden auch in den einschlägig bekannten Werken des Marquis de Sade deutlich. Das Personal und das Ambiente, die für dessen detailgenau dargestellte Verbrechen benötigt werden, sind gewaltig und konnten im 18. Jahrhundert nur vom wohlhabendsten Teil des Adels aufge-

bracht werden, (iii) Eine immoralistische Lebensweise hat körperliche, charakterliche und geistige Voraussetzungen, die nur einer Elite zur Verfügung stehen. Auch hier helfen uns die Schriften de Sades. Der Immoralismus beruht auf einer Art von umgekehrtem Utilitarismus, dessen gnadenloses Maximierungsgebot seinem Anhänger gebietet, in kürzester Zeit die größtmögliche Anzahl der schlimmstmöglichen Verbrechen auszuführen. Dies ist ein anstrengendes, entsagungsvolles Bemühen, das gewöhnliche Individuen kaum durchzuhalten vermögen. Nicht zufällig weisen die literarischen Protagonisten des Immoralismus eine bemerkenswerte Ähnlichkeit mit Mönchen, Nonnen oder Priestern auf: mit Individuen also, die sich und ihr Leben ganz der einen Sache widmen (um nicht zu sagen: opfern) und die solche Opfer nicht aus einer Laune oder bloßen Leidenschaft heraus erbringen, sondern aus prinzipiellen Gründen. Der Immoralist begnügt sich nicht damit, Unmoralisches zu tun; er tut dies vielmehr aus tiefster Überzeugung. Dies kommt in seinem starken Hang zur Theorie zum Ausdruck. Die Figuren de Sades gehen daher im Boudoir nicht nur ihren unsittlichen Aktivitäten nach, sondern philosophieren mit ebensolcher Hingabe über diese Aktivitäten und ihre Begründung. Ihre Verbrechen werden strategisch geplant und mit aufwendigen theoretischen Ausführungen gerechtfertigt. Gerade damit aber verstrickt sich der Immoralist in einen Widerspruch. Aufgrund seiner Obsession, immer das Gegenteil von dem zu tun, was die Moral fordert, ist er genauso eng an die Moral gekettet wie der moralische Rigorist. Man kann ja nur dann das Gegenteil von dem tun, was moralisch ist, wenn es eine Moral gibt Der Immoralist ist daher ein umgekehrter Moralist. Er hat ein parasitäres Verhältnis zur Moral: Er schmarotzt von genau der Moral, die er so grundsätzlich zurückweist. - Und mehr noch. Der Immoralismus vertritt eine normative Position: Er fordert von seinen Jüngern Handlungen, weil sie unmoralisch sind. Um solche Vorschriften rechtfertigen zu können, benötigt er Werte. Das heißt: Er benötigt irgendeine Form von . Daß es sich dabei nicht um die Moral handeln soll, sondern um eine oder , ist nur ein schwacher Trost; auch die sorgfältige Vermeidung dieses Begriffs hilft ihm nicht aus seiner normativen Verlegenheit. Daß eine benötigt wird, um die Moral zu bekämpfen, schimmert in den theoretischen Exkursen durch, mit denen der Marquis seine Schilderungen auflockert. Dasselbe zeigt sich auch bei Friedrich Nietzsche. Ausgehend von einer intensiven Auseinandersetzung mit der etablierten Moral seiner Zeit und ihren zahllosen Verklemmungen und Bigotterien stellt er die pfiffige Frage (1887: 250f) nach ihrem Wert: Muß nicht auch die Moral, die doch die letzte Basis aller unserer Bewertungen sein soll, ihrerseits einer Bewertung unterzogen werden? Natürlich muß sie, antwortet Nietzsche. Das Resultat ist erwartungsgemäß negativ. Die Moral, so erfahren wir, hat keinen Wert; sie hat sogar einen negativen Wert, da sie die Realisierung der höchsten Werte verhindert. Indem Nietzsche die etablierte Moral im Hinblick auf oder Werte ver-

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wirft, verwirft er nicht jegliche Moral, sondern nur eine bestimmte. Über eine der Weite kommt eben auch der kämpferischste Immoralist nicht hinaus. In diesem Sinne wird man sagen können und müssen, daß Nietzsche letzten Endes kein Immoralist, sondern ein Moralist war: Ein Prediger oder Propagandist dessen, was alle Moralisten predigen und propagieren: der Werte. Und daraus läßt sich erkennen, wie schwierig es ist, der Moral zu entkommen - der Immoralismus scheitert kläglich an diesem selbstgesetzten Ziel.

6. Willensschwäche und Fanatismus Wenn in den folgenden Kapiteln (vor allem §§ 37ff) der Amoralismus im Zentrum der Betrachtung und der Auseinandersetzung stehen wird, so darf dies nicht so verstanden werden, als ob er (oder genauer: der ihm zugrunde liegende Egoismus) die einzige Quelle unmoralischen Handelns sei. Möglicherweise ist er nicht einmal die wichtigste Quelle. Zumindest zwei weitere Ursachenkomplexe möchte ich erwähnen, da auch sie in diesem Buch keine eingehendere Beachtung finden werden. - Der erste dieser Ursachenkomplexe ist psychologischer Natur. Im Alltag gehen viele unmoralische Handlungen nicht auf eine vorsätzlich gefaßte und explizit formulierte Haltung zurück, sondern auf Gedankenlosigkeit, Unbeherrschtheit oder Willensschwäche. Obwohl vor allem die letztere durchaus ein philosophisches Problem darstellt, werde ich sie in diesem Buch unberücksichtigt lassen, da sie nicht auf einer direkten Infragestellung der Verbindlichkeit der Moral beruhen. Der Gedankenlose, der Unbeherrschte oder der Willensschwache kennt das moralisch Richtige und akzeptiert es; er ist aber aus charakterlichen oder psychologischen Ursachen außerstande, ihm in seinem Handeln zu folgen. Ein praktisch höchst bedeutendes Problem stellt der Fanatismus dar. Weit entfernt von jeglichem Skeptizismus oder Amoralismus glaubt sich die Spezies der Fanatiker. Ein Fanatiker bestreitet weder die Erkennbarkeit noch die Verbindlichkeit der Moral; auch Gedankenlosigkeit und Willensschwäche können ihm nicht vorgeworfen werden. Für ihn ist charakteristisch, daß er sich im Namen Werte und Ziele zu beliebigen Verstößen gegen die Moral berechtigt glaubt. Schon ein flüchtiger Blick in die Geschichte läßt erkennen, daß solche Werte und Ziele zur Motivationsquelle für die schlimmsten Verbrechen werden können. Sie verschaffen ihren Anhängern das Bewußtsein, zu handeln, so daß sie ihre Verbrechen mit dem besten Gewissen verüben können. Die älteste Form des Fanatismus ist religiöser Natur. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts hat der politische Fanatismus in seinen Dimensionen mit dem religiösen gleichgezogen und ihn womöglich sogar überholt. Er räumt den Forderungen der Moral eine bloß nachrangige Bedeutung gegenüber seinen weltanschaulich-politischen Zielen ein. So hat W. I. Lenin behauptet und gefordert, daß unsere

Sittlichkeit völlig den Interessen des proletarischen Klassenkampfes untergeordnet ist (1920: 539) Weniger bekannt, weniger verbreitet und in seinen Konsequenzen weniger desaströs ist der ästhetische Fanatismus, der glaubt, sich im Namen der Kunst über alles und jeden hinwegsetzen zu können, auch über die Moral. Der in der nachromantischen Periode entstandene Asthetizismus bietet dafür manches Beispiel. So konnte etwa Gottfried Benn (1930: 1676) die Moral als bloße Zivilisationsgesinnung abtun und den ästhetischen Werten unterordnen: Der Künstler, der hat kein Ethos, das ist ein Freibeuter; ein Schnorrer; ein Ästhet... alle ethischen Kategorien münden für den Dichter in die Kategorie der individuellen Vollendung. Obwohl vor allem der religiöse und der politische Fanatismus in der Realität ein weit bedrohlicherer Feind der Moral ist als der A- moralismus, wird er in diesem Buch eine eher marginale Rolle spielen. Dies liegt daran, daß er in seinem Selbstverständnis keine a- oder gar antimoralische Position vertritt; er verteidigt die wahre Moral, die einzig wahre sogar; und er ist bereit, diese einzig wahre Moral mit allen Mitteln durchzusetzen. Für den Fanatiker stellt sich die W-Frage nicht, da sie für ihn immer schon durch seine Gesinnung beantwortet ist. In seiner Selbstwahrnehmung kann niemand moralischer sein als er selbst; dies freilich nicht im Sinne der üblichen Moral, sondern der in seiner Weltanschauung enthaltenen Moral. Der Fanatiker ist ein Hypermoralist: Er ist bereit, die Moral zu opfern, um seine durchzusetzen. In der Auseinandersetzung mit dem Fanatismus geht es nicht um die W-Frage, sondern um den Inhalt der Moral. Die Auseinandersetzung mit dem Fanatismus gehört daher in den Kontext des ersten Begründungsprojekts. Gegen den Fanatismus müssen Argumente mobilisiert werden, die zeigen, daß moralische Normen (zum Beispiel: Du sollst nicht töten!) universell gültig, d.h. auch für den Fanatiker verbindlich sind.

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ZWEITES KAPITEL WAS HEISST HIER EIGENTLICH ? Unter Sitten verstehe ich hier nicht geziemendes Betragen, z.B. wie man einen anderen grüßen, in Gesellschaft den Mund wischen oder die Zähne stochern soll, oder andere Regeln der Anstandslehre, sondern diejenigen Eigenschaften der Menschheit, die ihr Zusammenleben in Frieden und Eintracht betreffen. Thomas Hobbes

E s geht in diesem Buch nicht um die Frage, welche moralischen Normen gültig sind und wie sie begründet werden können, sondern um die Frage, weshalb man ihnen (wenn sie gültig sind) folgen soll. Gleichwohl kann diese zweite, die WFrage, nur beantwortet werden, wenn hinreichend klar ist, worum es bei den moralischen Normen geht, worin ihre Funktion oder ihr Ziel besteht, und was sie inhaltlich vorschreiben. Wir brauchen daher eine genauere Bestimmung von . Diese werde ich im vorliegenden Kapitel zu geben versuchen. Die Schwierigkeit besteht dabei darin, daß das Phänomen der Moral historisch und kulturell uneinheitlich, wandelbar und oft auch umstritten ist. Eine Definition von kann daher niemals neutral sein; sie ist immer schon eine inhaltliche moralische Stellungnahme und kann als eine solche kritisiert werden. Diese Möglichkeit muß in Kauf genommen werden. Ich werde zwei wichtige Verwendungsweisen des Moralbegriffs unterscheiden, um eine von ihnen den weiteren Überlegungen dieses Buches zugrundezulegen. Es ist diejenige Bedeutung von , die für moderne Gesellschaften eine besondere Rolle spielt, und die gleichzeitig ein schwieriges Problem im Hinblick auf die W-Frage aufwirft.

7. Moral im weiteren Sinne In einer ersten Verwendungsweise bezeichnet einen Komplex von Normen, Werten oder Idealen, der jedem Individuum einen allgemeinen Leitfaden für die Gestaltung seines Lebens bereitstellt. Eine solche Moral im weiteren Sinne weist jedem Individuum einen Platz in der Welt an und sagt ihm, worauf es im Leben ankommt. Orientierungssysteme dieser Art gibt es in allen menschlichen Gesellschaften; ihre Existenz ist eine anthropologische Konstante. Je weiter wir historisch zurückgehen, desto homogener verschmelzen sie mit den jeweils geltenden mythischen oder religiösen Überzeugungen; ihre Legitimation beruht wesentlich auf Tradition. Später werden solche Systeme auch von bestimmten Individu-

en oder Gruppen bewußt entworfen und der Tradition entgegengesetzt; sie sind nun reflektierte Anleitung zum richtigen Verständnis der Welt und zur richtigen Fühlung des Lebens. Damit ist der Übergang zum philosophischen Denken vollzogen, zur Ethik als dem Bemühen um die systematische Grundlegung und Ausarbeitung eines Leitfadens der Lebensführung. In diesem Sinne hat Ludwig Wittgenstein die Ethik als die Untersuchung dessen bezeichnet, was wirklich wichtig ist. In der Ethik geht es nach Wittgenstein (1930: l0f) darum, den Sinn des Lebens zu erkunden, zu untersuchen, was das Leben lebenswert macht; oder zu erforschen, welches die rechte Art zu leben ist. Die Moral im weiteren Sinne und die Ethik unterscheiden sich demnach nicht durch ihren Inhalt und ihre Funktion; beide formulieren allgemeine und umfassende normative Orientierungen des menschlichen Handelns und Lebens. Ihre Differenz liegt lediglich darin, daß die Ethik sich nicht mit der Autorität der Tradition zufriedengibt, sondern Orientierungen auf einer theoretisch und methodisch reflektierten Ebene zu erarbeiten sucht. Eine frühe, doch bis heute fortwirkende Ausprägung dieses Programms einer philosophisch reflektierten Lebensorientierung war die antike Ethik. Ihr Ausgangspunkt war die Erfahrung, daß es für menschliche Wesen keine Garantie auf Wohlergehen gibt. Ein gutes und gelingendes Leben ist keine Selbstverständlichkeit, sondern eine eher seltene Ausnahme. In Kontrast zu dem Bild, das von schwärmerischen Humanisten und Studienräten bisweilen gezeichnet worden ist, hatten die Griechen und Römer selbst durchaus nicht den Eindruck, in einer permanenten mediterranen Idylle zu leben. Der Mensch ist nach antiker Auffassung ein schwaches und verletzliches Wesen, das dem Wirken schicksalhafter Faktoren ausgesetzt ist, die er nur in geringem Maße steuern oder beeinflussen kann. Auf sein Leben und sein Wohlergehen wirken sich diese Faktoren manchmal günstig, in der Mehrheit der Fälle aber ungünstig aus. Denn das Gute, sagt Sokrates (Rep. 379), wird bei uns Menschen weit überwogen von dem Übel. Und wenn er vor dem Hintergrund dieser bedrückenden Einsicht fragt, wie man leben soll (Gorg. 550c; Rep. 344e, 352, 618), so formuliert er damit die Schlüsselfrage der gesamten antiken Ethik: ob und wie unter solch widrigen Bedingungen die eudaimonia, d.h. ein gutes und gelingendes Leben möglich ist. Denn dies ist das summum bonum, das alle Menschen anstreben. Obwohl sich die verschiedenen Schulen der antiken Ethik in ihren Auffassungen darüber, was das gute Leben ausmacht, erheblich unterscheiden, kommen sie doch in einigen wichtigen Punkten überein. Dazu gehört vor allem, daß sie ihren Adressaten nicht so sehr Anweisungen für das Handeln in konkreten Einzelsituationen geben; sie sagen ihnen vielmehr, welche höchsten Ziele sie in ihrem Leben anstreben und zu welcher Art von Mensch sie sich machen sollen, um ein glückliches Leben führen zu können. Charakteristisch für die antike Ethik ist somit die Perspektive der ersten Person Singular?: Alle Überlegungen werden vom Standpunkt eines Individuums aus gestellt, das sich fragt, wie es sein Leben planen und gestalten soll, damit es ihm gut geht. Die von Sokrates allge-

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mein formulierte Schlüsselfrage, wie man leben soll, hat also einen essentiellen und uneliminierbaren Bezug auf das, was für den jeweils Fragenden oder Handelnden gut ist. Auch die christliche Religion stellt einen umfassenden Orientierungsrahmen für das gesamte menschliche Leben und Handeln bereit und kann daher als eine Moral im weiteren Sinne verstanden werden. In dem, was die christliche Religion inhaltlich behauptet und fordert, unterscheidet sie sich aber grundlegend von der antiken Ethik. Zwar nimmt auch sie ihren Ausgangspunkt in der Erfahrung des menschlichen Leidens und fragt von hier aus nach den Möglichkeiten seiner Überwindung. Doch während die antiken Philosophen diese Frage auf das irdische Leben bezogen haben, können wir uns nach christlicher Auffassung keine Hoffnung auf ein gutes Leben in dieser Welt machen. Der Mensch ist ein gefallenes, von der Erbsünde deformiertes Geschöpf und daher notwendigerweise ein Sünder; er lebt in einer Welt, die mit ihm und durch ihn ebenso gefallen und daher notwendigerweise von Krankheit und Tod, Krieg und Gewalt, Unglück und Not gekennzeichnet ist. Die Vorstellung, er könne in diesem Leben glücklich sein, ist daher nicht nur illusionär, sondern hoffärtig; sie läuft auf eine Leugnung der Sündhaftigkeit des Menschen und ihrer Folgen hinaus. Erst im Jenseits kann durch die Gnade Gottes die vollkommene Glückseligkeit erreicht werden. Wenn die vollkommene Glückseligkeit außerhalb des irdischen Lebens liegt, dann stellt sich natürlich um so dringlicher die Frage, wie das summum bonum allen menschlichen Strebens erreicht werden kann. Die christliche Religion entnimmt die Antwort auf diese Frage der Bibel, insbesondere dem Neuen Testament. Hier berichtet Matthäus von einem jungen Mann, der sich an Jesus mit eben dieser Frage richtete: Und siehe, einer trat zu ihm und sprach: Guter Meister, was soll ich Gutes tun, daß ich das ewige Leben möge haben? Er aber sprach zu ihm: Was heißest du mich gut? Niemand ist gut denn der einige Gott Willst du aber zum Leben eingehen, so halte die Gebote. Da sprach er zu ihm: Welche? Jesus aber sprach: und Da sprach der Jüngling zu ihm: Das habe ich alles gehalten von meiner Jugend auf; was fehlt mir noch? Jesus sprach zu ihm: Willst du vollkommen sein, so gehe hin, verkaufe, was du hast, und gib's den Annen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben; und komm und folge mir nach. (Mt 19,16-21) Wir sehen hier zimächst, daß auch die christliche Ethik von der Perspektive der ersten Person Singular ausgeht; denn der junge Mann fragt ja, was er tun soll, damit er das ewige Leben haben möge. Die Antwort weist ihn auf zwei verschiedene (vor allem: verschieden anspruchsvolle) Varianten einer christlichen Lebensführung hin. Die erste wird als eine Art Minimalbedingung für die ewige Glückseligkeit ausgewiesen; die zweite Variante wird denen empfohlen, die über diese Minimalbedingung hinausgehen und vollkommen sein wollen. Wer dies anstrebt, muß auf alle irdischen Güter verzichten und sein gan-

zes Leben Gott widmen. Später werden weitere Forderungen (Keuschheit und Gehorsam) hinzukommen und den Rahmen für das klösterliche Leben der christlichen Glaubenselite bilden. Aufgrund ihrer strikten Ausrichtung des gesamten Lebens auf ein summum bonum und aufgrund ihres kompromißlosen Strebens nach Vollkommenheit hat diese Variante christlicher Lebensführung eine bemerkensweite Verwandtschaft mit dem ebenfalls an eine Elite adressierten Programm der antiken Ethik.

8. Moral im engeren Sinne Wenden wir uns aber dem ersten Weg etwas eingehender zu. Er wird als Einhaltung der Gebote definiert, und Jesus erinnert ausdrücklich an einige dieser Gebote, die aus dem Dekalog des Alten Testaments natürlich bereits bekannt sind. Zu beachten sind hier drei Punkte: (i) Es handelt sich um Forderungen, die jeder erfüllen kann und muß; die Gebote gelten für alle, (ii) Die Gebote liefern keinen positiven Leitfaden für unser Handeln. Wir haben es nicht mit Vorschriften zu tun, die uns sagen, welche Ziele wir in unserem Handeln verfolgen, auf welches summum bonum wir unser Leben ausrichten sollen; sondern mit Vorschriften, die unserem Handeln Grenzen setzen. Diese Funktion der Handlungsbegrenzung kommt in dem negativen, d.h. verbietenden Charakter der Vorschriften zum Ausdruck: Du sollst nicht töten, nicht ehebrechen, nicht stehlen und kein falsches Zeugnis ablegen, (iii) Ihrem Inhalt nach beziehen sich diese Vorschriften auf den Schutz der Interessen derjenigen Menschen, die vom Handeln eines Individuums betroffen sind. Sie verbieten uns, anderen Menschen einen (in dem jeweiligen Verbot spezifizierten) Schaden zuzufügen. - Faßt man diese Merkmale zusammen, so charakterisieren sie einen Komplex von Handlungsvorschriften, der sich offensichtlich von einer Moral im weiteren Sinne unterscheidet; er ist weniger anspruchsvoll und weniger umfassend als sie. Es liegt daher nahe, ihn terminologisch abzugrenzen und als Moral im engeren Sinne zu bezeichnen. Eine entscheidende Differenz liegt in (iii), denn dieser Punkt bezeichnet eine Eigenschaft der Vorschriften, die sich nicht recht in den Rahmen einer Moral im weiteren Sinne einzufügen scheint. Eine solche Moral sucht ja, wie wir gesehen haben, die Frage nach den Zielen zu beantworten, die wir anstreben sollten, um ein gutes Leben zu führen; sie ist also auf das Wohlergehen des jeweils fragenden oder handelnden Subjekts orientiert. Demgegenüber zielen die Vorschriften einer Moral im engeren Sinne auf das Wohlergehen anderer Personen und liegen damit quer zu dem zentralen Bezugspunkt der Moral im weiteren Sinne. Trotz dieser Differenz bilden die beiden Moralen innerhalb der christlichen Religion eine Einheit. Dies zeigt sich auch daran, daß der Dekalog nicht zwischen den religiösen Vorschriften, die die Beziehung des Menschen zu Gott betreffen (erstes bis drittes Gebot), und den Vorschriften, die die Beziehung des Menschen zu anderen

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Menschen betreffen (viertes bis zehntes Gebot), unterscheidet. Diese inhaltliche Differenz wird im Alten Testament weder explizit benannt noch auch nur angedeutet. Dasselbe gilt für das Neue Testament; stattdessen wird die Gleichrangigkeit beider Arten von Vorschriften hervorgehoben. Als Jesus von einem Schriftgelehrten gefragt wird, welches das höchste Gebot sei, da antwortet er: Das vornehmste Gebot ist das: Das ist das vornehmste Gebot Und das andere ist ihm gleich: Es ist kein anderes Gebot größer denn diese. (Mk 12,29-31) In theologischer Perspektive mag diese Gleichsetzung und Gleichrangigkeit darin begründet liegen, daß wir es in beiden Fällen mit göttlichen Geboten zu tun haben; auch die Pflichten gegenüber unseren Mitmenschen sind demnach indirekte Pflichten gegenüber Gott. Die Differenz in Inhalt und Gegenstand der verschiedenen Normen (die einen betreffen die Relation Mensch-Gott, die anderen die Relation Mensch-Mensch) tritt damit in den Hintergrund. Die Moral im engeren Sinne bleibt damit Teil der Moral im weiteren Sinne. Ähnliches gilt auch für die antike Ethik. Zwar gab es hier keinen explizit formulierten, fest umrissenen und autoritativ verbindlichen Katalog von Vorschriften, der mit den Zehn Geboten vergleich- bar wäre. Überhaupt lag das theoretische Interesse der antiken Philosophen nicht auf solchen Handlungsbegrenzungen. Daraus darf aber nicht der Schluß gezogen werden, daß ihr Vorschriften zum Schutz der Interessen anderer vollkommen fremd gewesen wären. Die Existenz und die Gültigkeit solcher Vorschriften wurden als selbstverständlich vorausgesetzt und deshalb nicht eigens thematisiert. Dies zeigt sich an Nebenbemerkungen, wenn Aristoteles etwa im Zusammenhang mit seiner mesotes-Lehre beiläufig bemerkt, daß es eine richtige Mitte bei Ehebruch, Diebstahl oder Mord natürlich nicht geben könne: All diese und ähnliche Dinge werden ja deshalb getadelt; weil sie in sich negativ sind und nicht nur dann, wenn sie in einem übersteigerten oder unzureichenden Maße auftreten. Es ist also unmöglich, hier jemals das Richtige zu treffen: es gibt nur das Falschmachen. Und es ist auch über den sittlichen oder unsittlichen Charakter solchen Tuns kein Schwanken möglich, etwa ob es Ehebruch mit der richtigen Frau oder zur rechten Zeit oder in der richtigen Weise gebe - sondern das einfache Vollziehen irgendeiner derartigen Handlung bedeutet falsches Handeln. (NE 1107a) Wenn der antike Eudämonismus die Perspektive der ersten Person Singular einnimmt (wie soll ich handeln, damit es mir gutgeht), so darf dies nicht als ein im Sinne einer Lizenz zur rücksichtslosen Durchsetzung der jeweils eigenen Wünsche und Interessen mißdeutet werden. Die antiken Autoren konnten sich das gute Leben nur als ein Leben in Gemeinschaft vorstellen; und ein solches Leben in Gemeinschaft ist natürlich nur möglich, wenn die Individuen einander respektieren und auf die Interessen des jeweils anderen Rücksicht nehmen. Aus den für eine solche Rücksichtnahme notwendigen sozialen Tugenden er-

geben sich Verpflichtungen, die der Moral im engeren Sinne entsprechen. Dies wird vor allem an der in Platons Politeia gegebenen Definition von Gerechtigkeit deutlich. Im ersten Buch dieses Dialogs (Rep. 343c, 367c) bezeichnet der Amoralist Thrasymachos die Gerechtigkeit als den Vorteil eines anderen, um daraus den Schluß zu ziehen, daß man besser nicht gerecht sein solle. Sokrates widerspricht dieser Schlußfolgerung und bemüht sich über die folgenden neun Bücher der Politeia hinweg, sie zu widerlegen. Er akzeptiert aber die von Thrasymachos gegebene Definition; später macht sie sich auch Aristoteles (NE 1129b25ff) zu eigen. Man kann daher sagen, daß der antike Begriff der Gerechtigkeit einen Komplex von Handlungsorientierungen bezeichnet, der weitgehend dem entspricht, was in der Neuzeit unter dem Begriff firmiert.

9. Die Moral der Moderne Dieser Komplex wird in der Antike aber nicht als eigenständig angesehen. Weder die antike noch die christliche Ethik trennen die Moral im engeren Sinne des Wortes von der im weiteren Sinne des Wortes. In beiden Fällen haben wir es mit einer Moral (im weiteren Sinne) zu tun. In diese Einheit treibt die Moderne einen Keil. Was zuvor ein einheitliches System normativer Orientierungen gewesen war, differenziert sich im Verlauf der Neuzeit in zwei gesonderte Bereiche. Natürlich geschah dies weder in einem einmaligen Akt, noch haben wir es von einem bestimmten Zeitpunkt an mit zwei klar voneinander getrennten zu tun. Die Ablösung der Moral von der Moral vollzog sich in einem historischen Prozeß, der niemals geradlinig vorangeschritten und bis heute nicht an ein Ende gekommen ist. Dennoch kann festgehalten werden, daß sich die Bedeutung des Moralbegriffs im Verlauf der vergangenen Jahrhunderte mehr und mehr verengt und auf jene Regeln zugespitzt hat, die dem Schutz der Interessen anderer dienen. (Dabei sind mit diesen in erster Linie andere Menschen gemeint; ob auch Tiere als genuine Objekte moralischer Rücksichtnahme anzusehen sind, ist eine offene Frage, die hier nicht diskutiert werden kann.) Auf eine Formel verkürzt, kann man moralisches Handeln demnach als fremdnütziges Handeln bezeichnen. Wir werden noch sehen, daß diese Formel als Moraldefinition zu kurz greift; einstweilen aber soll sie ausreichen. Immerhin gibt sie uns eine aufschlußreiche funktionale und materiale Bestimmung von Moral, (i) Aus der Vogelperspektive erscheint sie als eine soziale Institution zur Minimierung anthropogener Übel; sie wirkt dem spontanen Egoismus der Individuen entgegen und kompensiert die Begrenztheit ihrer wechselseitigen Sympathie; sie schützt die Interessen der jeweils anderen. Aus diesem Grund stellt sie sich aus der Sicht eines handelnden Menschen als ein System von Regeln dar, das den Spielraum legitimen Tuns einschränkt. Daraus ergibt sich die strukturelle Spannung, in der sie zum Selbstinteresse steht, (ii)

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Aus dieser funktionalen Bestimmung lassen sich die grundlegenden Inhalte der Moral leicht erschließen. Ihre Vorschriften verbieten vor allem, andere Menschen zu verletzen oder zu töten, sie zu bestehlen oder zu betrügen; und sie gebieten, eingegangene Versprechen zu halten. Dies ist nicht viel; und daher kann man die Moral im engeren Sinne auch als eine Art von Minimalmoral verstehen: Ihre Vorschriften sollen das Minimum sichern, das gegeben sein muß, damit Menschen möglichst unbehelligt von anderen Menschen leben können. Pointiert gesagt: Während die Moral im weiteren Sinne das eigene gute Leben sichern sollte, geht es bei der Moral im engeren Sinne um das Überleben anderer. Man kann den historischen Prozeß, in dem dieser reduzierte Moralbegriff entstand, als einen Prozeß der funktionalen Differenzierung beschreiben, durch den sich eine bestimmte Art der Handlungsbewertung von anderen Alten der Bewertung ablöst und sich zu einer autonomen sozialen Institution verselbständigt. Es wird jetzt möglich, zwischen einer moralischen, einer religiösen, einer rechtlichen oder einer ästhetischen Bewertung zu unterscheiden; und es kann nun auch zu Weitungswidersprüchen kommen. Eine Handlung kann moralisch falsch, aber rechtlich erlaubt sein; sie kann den Sitten entsprechen, aber gegen die Moral verstoßen; sie kann moralisch zulässig, aber religiös verboten sein. Zwar waren Weitungswidersprüche auch vorher möglich; man konnte sie aber nicht als Konflikte zwischen dem moralisch Geforderten einerseits und außermoralischen Normen andererseits begreifen. Damit stellt sich die grundsätzliche Frage nach dem Vorrang: Wiegen moralische Pflichten im Falle eines Konflikts schwerer als rechtliche, religiöse oder ästhetische Normen? - Die Verselbständigung der Moral zu einem autonomen Bewertungssystem ist ein Produkt der frühen Neuzeit. Dies zeigt sich auch daran, daß der Begriff erst in der Neuzeit seine heutige Bedeutung annahm. Weder in der Antike noch im Mittelalter gab es einen Ausdruck, dessen Bedeutung unserem Begriff von oder äquivalent war. Dies zeigt sich in der schwankenden Terminologie, die wir in den philosophischen Texten der griechischen und lateinischen Antike finden: Wo wir den Begriff verwenden würden, finden sich hier Ausdrücke wie fromm, schön, lobenswert, ehrenhaft oder gerecht. Diese terminologische Unentschiedenheit kann als ein Indiz dafür gelten, daß es die Moral als eigenständiges, von Religion, Recht und Sitte unterschiedenes System von Normen und Werten in dieser Zeit noch nicht gab; und daß der Moralbegriff seine heutige (enge) Bedeutung erst in einem langen Differenzierungsprozeß annahm, der im 17. Jahrhundert einsetzte. Im weiteren Fortgang dieses Buches werde ich den Begriff Moral ausschließlich für die Moral im engeren Sinne verwenden (sofern nicht ausdrücklich anders angegeben). Der Grund dafür besteht zum einen darin, daß sich diese Bedeutung in der Moderne weitgehend durchgesetzt hat; zum anderen darin, daß dieser Begriff das Minimum dessen bezeichnet, was den Individuen als verpflichtend auferlegt ist. Moderne Gesellschaften lassen ihren Mitgliedern sehr

weitreichende Freiheiten hinsichtlich ihrer religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen, hinsichtlich ihrer ästhetischen Präferenzen oder hinsiehtlich ihrer sexuellen Vorlieben. Wer die Vorschriften der Sonntagsruhe oder der vorehelichen Enthaltsamkeit nicht für verbindlich hält, ist deshalb noch lange kein Amoralist. Im Hinblick auf die Moral im engeren Sinne besteht ein solcher Frei heitsspielraum nicht: Diebstahl, Betrug oder Mord sind auch in per missiven Gesellschaften moralisch unzulässig. Da dies von niemandem ernsthaft in Frage gestellt wird, liefert die enge Verwendungsweise des Moralbegriffs zugleich eine von moralischen Kontroversen weitgehend unabhängige Bestimmung von Amoralismus. Nur eine Person, die den Vorschriften der Moral im engeren Sinne ihre Geltung und Verbindlichkeit abspricht, ist ein Amoralist.

10. Metaphysische und religiöse Entwurzelung Die historischen Ursachen, die zur Herausbildung dieses engeren Moralverständnisses gefühlt, und die Gründe, die es legitimiert haben, können hier nicht detailliert dargestellt werden. Zumindest zwei zentrale Faktoren sollen aber genannt werden. Der erste liegt in der Erosion der klassischen Metaphysik und Kosmologie. Das an tike und mittelalterliche Denken war davon ausgegangen, daß die gesamte Natur ein einziger hierarchisch geordneter und sinnvoll strukturierter Zusammenhang ist, in dem jedes Ding seinen Platz und jeder Prozeß sein Ziel hat. Alles, was existiert und was geschieht, hat eine bestimmte Funktion innerhalb dieses Gesamtzusammenhanges und bezieht aus dieser Funktion seinen Sinn. Der Mensch macht keine Ausnahme von dieser Regel; auch er hat einen ihm von der Natur oder von Gott zugewiesenen Platz in der kosmischen Ordnung und ein Ziel, auf das seine Existenz ausgerichtet ist. Die klassische Idee eines für alle Individuen gleichermaßen gültigen und verbindlichen summum bonum ergibt sich zwanglos aus einem solchen Weltbild; unabhängig davon, ob man dieses summum bonum mit einer bestimmten Art des guten Lebens in dieser Welt oder mit der ewigen Glückseligkeit identifiziert. Mit dem Übergang zur Moderne büßt diese Idee einer teleologisch gerichteten und normativ relevanten Weltordnung jedoch an Glaubwürdigkeit ein und wird schrittweise durch ein Verständnis von Natur als einer zwar gesetzmäßig strukturierten, aber normativ neutralen Gesamtheit von Dingen und Prozessen ersetzt. Die Welt wird kontingent und der Mensch hat keinen festgelegten Ort und kein feststehendes Ziel mehr in ihr. Daraus ergeben sich zwei gravierende Neuerungen. Zum einen wird der Mensch zu einem Wesen, das sich seinen Platz in der Welt selbst suchen und erobern muß; er hat die Freiheit der Wahl seiner Bestimmung. Zum anderen kann er in dieser Wahl seine jeweilige individuelle Besonderheit zur Geltung bringen. Nachdem es kein für alle Menschen gleichermaßen gültiges summum bonum mehr gibt, können die Individuen ihr jeweiliges persönliches Lebensziel frei wählen. An die Stelle des einen, für al-

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le maßgeblichen summum bonum, tritt eine Vielzahl individueller summa bona. John Locke hatte keine Bedenken, das höchste Lebensziel zu einer ebenso beliebigen Geschmacksfrage zu machen, wie es das jeweilige Leibgericht schon immer war. Der Geschmack des Geistes ist wie der des Gaumens verschieden und es wäre ein ebenso vergebliches Bemühen, alle Menschen mit Reichtum oder Ruhm zu erfreuen (worin mancher sein Glück sucht), als den Hunger aller Menschen durch Käse oder Hummern stillen zu wollen; beides kann wohl für diesen und jenen eine sehr bekömmliche und schmackhafte Kost sein, andern aber kann es höchst zuwider und unzuträglich sein, so daß mancher mit gutem Grunde das Hungergefühl eines leeren Magens den genannten Gerichten vorziehen würde, die anderen als Leckerbissen gelten. Das dürfte auch der Grund sein, warum die Philosophen des Altertums vergeblich danach forschten, ob das summum bonum im Reichtum, im sinnlichen Genuß, in der Tugend oder in der Kontemplation bestehe; mit ebensolchem Recht hätte man darüber streiten können, ob Äpfel, Pflaumen oder Nüsse am besten schmeckten und sich danach in Schulen teilen können. Es ist die Idee der individuellen Freiheit, die sich hier geltend macht, und die ein für alle Menschen gleichermaßen verbindliches Lebensziel ausschließt. Und dies gilt, wie Locke kühn hinzufügt, auch im Hinblick auf die christliche Idee eines jenseitigen summum bonum. Denn auch die Vorstellung einer ewigen Glückseligkeit ist nur für denjenigen verbindlich, der sie sich zu eigen macht. Wenn jemand darum nur auf dieses Leben hofft, wenn er nur in diesem Dasein Freude haben kann, so ist es nicht befremdlich und auch nicht unvernünftig, wenn er sein Glück darin sucht, daß er alles, was ihm hier Unbehagen verursacht; vermeidet, und alles, was ihm Freude bringt, erstrebt Es ist nicht zu verwundern, wenn sich dabei Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit zeigen. Denn wenn es keine Aussicht über das Grab hinaus gibt, so ist sicherlich der Schluß richtig: