Warum Deontologen Pazifisten sein müssen: Zur Proportionalitätsbedingung der Theorie des gerechten Krieges 9783495999547, 9783495492598


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Einleitung
1. Thematische und methodische Eingrenzungen
1.1 Pazifismus
1.2 Die Theorie des gerechten Krieges
1.3 Realismus
1.4 Methodisches Vorgehen
2. Die Theorie des gerechten Krieges
2.1 Wann darf Krieg geführt werden? – Das jus ad bellum
2.2 Wie muss Krieg geführt werden? – Das jus in bello
3. Proportionalität von und im Krieg – Eine erste Annäherung
3.1 Enge Proportionalität
3.2 Weite Proportionalität
4. Das Prinzip der Doppelwirkung
4.1 Unverzichtbarkeit des Prinzips der Doppelwirkung
4.2 Zwei Probleme des Prinzips der Doppelwirkung
4.3 Die Beabsichtigt-Vorhergesehen-Unterscheidung: Begründungsstrategien
4.4 Zwei Beispiele gegen das Prinzip der Doppelwirkung
4.5 Verzichtbarkeit des Prinzips der Doppelwirkung
4.6 Schlussfolgerungen
5. Den Tod von Zivilisten riskieren
5.1 Die Anzahl der zu rettenden Menschen und die Unterscheidung zwischen Tun und Unterlassen
5.2 Maßnahmen zur Minimierung des Risikos für Zivilisten
5.3 Statistische und identifizierte Opfer
5.4 Der Zeitpunkt der Beurteilung
5.5 Das kleinere Übel: Die Zustimmung von Zivilisten
5.6 Schlussfolgerungen
6. Die Zustimmung von Zivilisten
6.1 Der Ort der Zustimmung innerhalb der Theorie des gerechten Krieges
6.2 Was ein Rekurs auf Zustimmung leisten sollte
6.3 Faktische Zustimmung
6.4 Kontrafaktische Zustimmung
6.5 Hypothetische Zustimmung
6.6 Die Zustimmung der vielen – die Ablehnung der wenigen
6.7 Schlussfolgerungen
7. Den Tod kompensieren
7.1 Intrapersonelle Aggregation und Kompensierbarkeit des Todes
7.2 Interpersonelle Aggregation und Kompensierbarkeit des Todes
7.3 Schlussfolgerungen
8. Fazit
Literaturverzeichnis
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Warum Deontologen Pazifisten sein müssen: Zur Proportionalitätsbedingung der Theorie des gerechten Krieges
 9783495999547, 9783495492598

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A

Friedenstheorien

6

Stefanie Thiele

Warum Deontologen Pazifisten sein müssen Zur Proportionalitätsbedingung der Theorie des gerechten Krieges

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495999547

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B

Stefanie Thiele Warum Deontologen Pazifisten sein müssen

ALBER FRIEDENSTHEORIEN

A

https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Verlag Karl Alber Baden-Baden Alber-Reihe Friedenstheorien Band 6

Herausgegeben von: Pascal Delhom, Alfred Hirsch, Christina Schües Wissenschaftlicher Beirat: Robert Bernasconi, Claudia von Braunmühl, Gertrud Brücher, Hauke Brunkhorst, Monique Castillo, Hajo Schmidt, Eva Senghaas, Christoph Weller

https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Stefanie Thiele

Warum Deontologen Pazifisten sein müssen Zur Proportionalitätsbedingung der Theorie des gerechten Krieges

Verlag Karl Alber Baden-Baden https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Stefanie Thiele Why Deontologists Must Be Pacifists On The Proportionality Condition Of Just War Theory Although deontologists traditionally claim a strong moral prohibition on killing, according to the Just War Theory it is permissible to wage war under certain conditions. The proportionality condition requires that the evils caused by a war and the evils prevented by it are in an appropriate proportion to one another. The aim of this dissertation is to show that a deontological interpretation of the proportionality condition goes hand in hand with the fact that Just War Theory collapses into a form of pacifism, the so-called Just War Pacifism.

The author: Stefanie Thiele studied philosophy and German literature at the Humboldt University in Berlin until 2013 and teaches there as part of the university’s teacher training.

https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Stefanie Thiele Warum Deontologen Pazifisten sein müssen Zur Proportionalitätsbedingung der Theorie des gerechten Krieges Obwohl Deontologen ein Tötungsverbot traditionell sehr stark machen, ist es nach der Theorie des gerechten Krieges unter bestimmten Bedingungen erlaubt, Krieg zu führen. Die Bedingung der Proportionalität verlangt, dass die mit einem Krieg verursachten Übel und die zugleich verhinderten Übel in einem angemessenen Verhältnis zueinander stehen. Das Anliegen dieser Dissertation ist es zu zeigen, dass eine deontologische Interpretation der Proportionalitätsbedingung damit einhergeht, dass die Theorie des gerechten Krieges mit einer Form von Pazifismus zusammenfällt, dem sogenannten Just War Pacifism.

Die Autorin: Stefanie Thiele hat bis 2013 Philosophie und Deutsche Literatur an der Humboldt-Universität zu Berlin studiert und lehrt dort im Rahmen der universitären Lehramtsausbildung.

https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2022 Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Satz: SatzWeise, Bad Wünnenberg Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printed on acid-free paper www.verlag-alber.de

ISBN: 978-3-495-49259-8 (Print) ISBN: 978-3-495-99954-7 (ePDF)

https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Für Peter.

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Vorwort und Danksagung

Die vorliegende Arbeit wurde im August 2019 an der Philosophischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin als Dissertation angenommen und am 12. Februar 2020 verteidigt. Für den Druck erscheint sie in leicht überarbeiteter Form. Mein Dank gilt zuvorderst meiner Doktormutter Prof. Dr. Kirsten Meyer, die mich auch in schwierigen Zeiten in herausragender Weise betreut hat und viel Geduld mit mir hatte. Ohne ihre kritischen und stets konstruktiven Anmerkungen in regelmäßigen Gesprächen hätte diese Arbeit nicht vollendet werden können. Mein besonderer Dank gilt dabei auch Dr. Jan Gertken und den Teilnehmer*innen des Forschungskolloquiums für Praktische Philosophie und Didaktik der Philosophie, die Teile dieser Arbeit gelesen und durch zahlreiche Anregungen in gemeinsamen Diskussionen bereichert haben. Des Weiteren danke ich meinem Zweitgutachter Prof. Dr. Gabriel Wollner für seine Expertise im Bereich der Politischen Philosophie und seine wertvollen Hinweise zu einigen Kapitelentwürfen. Ebenfalls möchte ich mich bei Prof. Dr. Gabriele Metzler, Dekanin der Philosophischen Fakultät, bedanken. Ich bedanke mich bei der Humboldt Graduate School und der Carl und Max Schneider-Stiftung zur Förderung der Philosophie für ihre finanzielle Unterstützung meines Vorhabens. Zugleich möchte ich mich bei Prof. Dr. Geert Keil bedanken, der das Vorhaben durch die Vermittlung einer Stelle im Institutssekretariat des Instituts für Philosophie währen meines Zweitstudiums finanziell absicherte. Besonders dankbar bin ich Johanna Privitera. Unsere gemeinsame tägliche Schreibzeit in der Staatsbibliothek zu Berlin und die Gespräche in den Mittagspausen waren entscheidend dafür, meine Gedanken zu sortieren, in der vorliegenden Form zu Papier zu bringen und überhaupt am Ball zu bleiben. Ich bedanke mich bei allen, die mich freundschaftlich unterstützt haben und bei denen ich immer laut denken durfte. Mein größter 9 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Vorwort und Danksagung

Dank gilt meinen Eltern Erika und Peter Thiele, deren Rückhalt und liebevolle Unterstützung sowohl diese Arbeit als auch meinen gesamten Werdegang überhaupt erst möglich gemacht haben. Ich danke ihnen insbesondere dafür, dass sie mich immer ermutigt haben, meinen Interessen ohne karrieristische Bestrebungen nachzugehen. Ich widme dieses Buch meinem Vater, der das letzte Stück dieses langen Weges nicht mehr mit mir gemeinsam gehen konnte.

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Inhaltsverzeichnis

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1.

Thematische und methodische Eingrenzungen 1.1 Pazifismus . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Die Theorie des gerechten Krieges . . 1.3 Realismus . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Methodisches Vorgehen . . . . . . .

. . . . .

28 29 33 36 39

2.

Die Theorie des gerechten Krieges . . . . . . . . . . . . 2.1 Wann darf Krieg geführt werden? – Das jus ad bellum . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Wie muss Krieg geführt werden? – Das jus in bello . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

43

3.

Proportionalität von und im Krieg – Eine erste Annäherung 3.1 Enge Proportionalität . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Weite Proportionalität . . . . . . . . . . . . . . .

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4.

Das Prinzip der Doppelwirkung . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Unverzichtbarkeit des Prinzips der Doppelwirkung . 4.2 Zwei Probleme des Prinzips der Doppelwirkung . . 4.3 Die Beabsichtigt-Vorhergesehen-Unterscheidung: Begründungsstrategien . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Zwei Beispiele gegen das Prinzip der Doppelwirkung 4.5 Verzichtbarkeit des Prinzips der Doppelwirkung . . 4.6 Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . .

111 114 118

Den Tod von Zivilisten riskieren . . . . . . . . . . . . . 5.1 Die Anzahl der zu rettenden Menschen und die Unterscheidung zwischen Tun und Unterlassen . . .

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5.

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45 67

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Inhaltsverzeichnis

5.2 Maßnahmen zur Minimierung des Risikos für Zivilisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Statistische und identifizierte Opfer . . . . . . . 5.4 Der Zeitpunkt der Beurteilung . . . . . . . . . . 5.5 Das kleinere Übel: Die Zustimmung von Zivilisten 5.6 Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . 6.

7.

Die Zustimmung von Zivilisten . . . . . . . . . . . . 6.1 Der Ort der Zustimmung innerhalb der Theorie des gerechten Krieges . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Was ein Rekurs auf Zustimmung leisten sollte . 6.3 Faktische Zustimmung . . . . . . . . . . . . . 6.4 Kontrafaktische Zustimmung . . . . . . . . . . 6.5 Hypothetische Zustimmung . . . . . . . . . . 6.6 Die Zustimmung der vielen – die Ablehnung der wenigen . . . . . . . . . . . 6.7 Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . .

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156 163 165 175 177

. . 180 . . . . .

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181 186 188 195 200

. . 211 . . 217

Den Tod kompensieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Intrapersonelle Aggregation und Kompensierbarkeit des Todes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Interpersonelle Aggregation und Kompensierbarkeit des Todes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3 Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . .

220

Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung

Die Frage, ob und unter welchen Bedingungen es gerechtfertigt ist, Krieg zu führen, wird sowohl in der philosophischen Diskussion als auch im politischen und völkerrechtlichen Diskurs häufig unter Rückgriff auf die sogenannte »Theorie des gerechten Krieges« beantwortet. Vertreterinnen der Theorie des gerechten Krieges glauben, dass bestimmte Umstände das Führen von Kriegen rechtfertigen. Während traditionell Konflikte zwischen souveränen Staaten im Fokus der Diskussion lagen, stehen in jüngerer Zeit immer häufiger Konflikte im Zentrum, die zwischen Staaten oder Staatengemeinschaften und nicht-staatlichen Gruppierungen, beispielsweise terroristischen Vereinigungen, oder zwischen der Regierung eines Staates und Teilen seiner Bevölkerung bestehen. So warf beispielsweise der seit 2011 bestehende Konflikt in Syrien international die Frage nach militärischer Unterstützung in der Region auf. 1 Die Theorie des gerechten Krieges beantwortet damit nicht mehr nur die Frage, unter welchen Umständen es einem souveränen Staat moralisch erlaubt ist, gegen einen anderen souveränen Staat Krieg zu führen. Sie wird auch dafür herangezogen, die Zulässigkeit von Kriegen zu bewerten, die der Verteidigung gegen nicht-staatliche Akteure dienen oder den Schutz von Menschen zum Ziel haben, die nicht Bürgerinnen des eigenen Staates sind. Damit beherrschen die ZulässigNeben den USA, die gegen das Assad-Regime, der Verbrechen an der eigenen Bevölkerung vorgeworfen werden, vorgehen, kämpfte Russland an der Seite der Rebellentruppen, unter denen sich auch Mitglieder des IS befinden. Angesichts der Verstrickungen des IS haben die USA die Bekämpfung dieser terroristischen Vereinigung gegenüber dem Sturz der Assad-Regierung priorisiert. Hervorzuheben ist auch die Bundestagsdebatte zu einem Militäreinsatz in Syrien vom 02. 12. 2015, in der Ursula von der Leyen klar herausstellt, dass ein Einsatz sowohl mit dem Ziel erfolgt, den IS in dem Gebiet zu bekämpfen (kurz zuvor, am 13. 11. 2015, kam es zu Terroranschlägen in Paris), als auch mit dem Ziel, Zivilisten effektiv zu schützen. Die Debatte ist online abrufbar, unter anderem unter: https://www.youtube.com/watch?v=GTHZVob6XFM

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Einleitung

keit des sogenannten »Krieges gegen den Terror« und humanitärer Interventionen den aktuellen moralphilosophischen wie auch den politischen und völkerrechtlichen Diskurs. Humanitäre Interventionen zeichnen sich dadurch aus, dass Staaten insofern ihrer »Responsibility to Protect« nachkommen, als sie militärisch gegen einen anderen Staat vorgehen, der Verbrechen an der eigenen Bevölkerung begeht. 2 Da humanitäre Interventionen mit dem Recht souveräner Staaten auf politische Selbstbestimmung konfligieren, sind sie jedoch unter Vertreterinnen der Theorie des gerechten Krieges umstritten. Humanitäre Interventionen sind aber auch unabhängig davon umstritten, dass sie die politische Souveränität von Staaten verletzen. Diejenigen, die sich skeptisch gegenüber Krieg im Allgemeinen und humanitären Interventionen im Besonderen äußern, tun dies in der Regel mit einem (wenigstens impliziten) Verweis darauf, dass Krieg ein extremes Übel ist; oder mit den Worten Michael Walzers: »War is hell« 3. Krieg ist in ganz verschiedenen Hinsichten ein extremes Übel, das nach Möglichkeit vermieden werden sollte. Krieg kostet Geld, mitunter so viel, dass er Staaten in den Ruin und seine Bevölkerung in die Armut treibt. 4 Krieg vernichtet die Lebensgrundlagen von Menschen: Nahrung, Obdach, medizinische Versorgung, Infrastruktur. Doch vor allem: Krieg fordert Menschenleben. Besonders zu beklagen ist dabei der Tod von Zivilisten. Gerade der Umstand, dass im Krieg viele Zivilisten ums Leben kommen, macht es moralisch überaus problematisch und damit nur sehr schwer zu rechtfertigen, Krieg zu führen. 5 Die »Responsibility to Protect«, auch »Schutzverantwortung« genannt, ist seit dem UN-Gipfel 2005 Teil der internationalen Politik und des Völkerrechts. Sie dient dem Schutz von Menschen vor schwersten Menschenrechtsverletzungen, beispielsweise in Form von Genoziden, und zwar sowohl präventiv als auch reaktiv, etwa mittels einer militärischen Intervention zur Beseitigung oder Unterbindung schwerer Menschenrechtsverletzungen. Die Schutzverantwortung trägt zunächst jeder Staat gegenüber der eigenen Bevölkerung. Sollte ein Staat nicht fähig oder willens sein, den Schutz seiner Bürgerinnen zu gewährleisten, ist die internationale Staatengemeinschaft aufgefordert, den Schutz sicherzustellen. Die Entscheidung, den Schutz von Menschen mittels militärischer Gewalt zu garantieren, obliegt dabei nicht einzelnen Staaten, sondern dem UN-Sicherheitsrat. 3 Walzer 1977, S. 22: »Why is it wrong to begin a war? We know the answer all too well. People get killed, and often in large numbers. War is hell.« 4 Man denke etwa an die wirtschaftliche Lage der Sowjetunion gegen Ende des Kalten Krieges. 5 Der Tod von Soldaten ist ebenfalls beklagenswert, erscheint intuitiv aber zumindest 2

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Einleitung

Die Tatsache, dass Krieg ein massives Übel ist, bringt einige Menschen dazu, ihn entschieden abzulehnen und somit die These der Theorie des gerechten Krieges zu bestreiten, Kriege seien unter bestimmten Bedingungen gerechtfertigt. Ein damit vertretener Pazifismus impliziert jedoch nicht nur, es abzulehnen, dass Leid und Zerstörung verursacht werden. Er impliziert auch, im Falle massiver Menschenrechtsverletzungen, etwa in Form eines Genozids, von einem militärischen Schutz der Betroffenen Abstand zu nehmen und damit ihr Sterben weiter zuzulassen. Wer im Gegensatz zu Pazifistinnen glaubt, dass man unter bestimmten Umständen eingreifen sollte 6, steht vor der Aufgabe, diese Umstände zu spezifizieren. Die Theorie des gerechten Krieges soll genau dies leisten. Sie liefert ein umfassendes Regelwerk für das gerechtfertigte Führen von Kriegen, indem sie zum einen Bedingungen formuliert, die erfüllt sein müssen, damit es erlaubt ist, einen Krieg zu beginnen oder sich in einen bestehenden Konflikt einzuschalten. So dürfen Kriege beispielsweise nur aus bestimmten Anlässen geführt werden. Gegeben, dass im Krieg unzählige Zivilisten zu Tode kommen und auch die sonstigen verursachten Schäden massiv sein können, formuliert sie zum anderen Bedingungen dafür, auf welche Weise ein Krieg zu führen ist. So dürfen etwa Zivilisten niemals das Ziel eines Angriffes sein, und zwar auch dann nicht, wenn eine gezielte Tötung von Zivilisten zu einem schnellen Kriegsende führen würde. Im Zentrum dieser Abhandlung steht eine bestimmte Bedingung der Theorie des gerechten Krieges. In den letzten Jahren hat die Bedingung der Proportionalität bzw. Verhältnismäßigkeit der Theorie des gerechten Krieges zunehmend philosophische Aufmerksamkeit erfahren. Diese Bedingung verlangt es, die Übel, die ein Krieg verursacht, gegen das herbeigeführte Gute bzw. verhinderte Schlechte abzuwägen und dafür Sorge zu tragen, dass sie in einem angemessenen Verhältnis zueinander stehen. Auf der Grundlage welcher Überlegungen eine solche Abwägung zu vollziehen ist, bleibt damit noch unbestimmt. Ziel dieser Arbeit ist es zu klären, was aus einer Interpretation dieser Bedingung, die ausschließlich auf typisch dann moralisch weniger problematisch, wenn es sich um vollkommen freiwillig kämpfende Soldaten handelt. 6 In diesem Sinne sagt Ursula von der Leyen im Zuge der Bundestagsdebatte zum Bundeswehreinsatz gegen den IS am 02. 12. 2015: »Wir sind an einem Punkt, wo wir uns sagen müssen, nicht nur durch Handeln kann man sich schuldig machen, sondern auch durch Nichthandeln kann man schwere Fehler begehen.«

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Einleitung

deontologische Überlegungen zurückgreift, für die Theorie des gerechten Krieges folgt. Dabei soll der Hypothese nachgegangen werden, dass die Theorie des gerechten Krieges dann letztlich mit einer Form von Pazifismus zusammenfällt. Aus einer konsequentialistischen Perspektive wird die moralische Bewertung eines Krieges ausschließlich vom aggregierten Wert seiner tatsächlichen oder erwartbaren Konsequenzen abhängig gemacht. Aggregierende Konsequentialistinnen halten das Führen eines Krieges dann für erlaubt oder sogar geboten, wenn er im Lichte der Alternativen mehr Gutes bringt bzw. mehr Schlechtes verhindert als er Schlechtes herbeiführt. Der Utilitarismus als eine häufig vertretene Form des Konsequentialismus beurteilt hierbei die Konsequenzen anhand des resultierenden positiven Nutzens (also des aggregierten Wohlergehens) oder Schadens. Ich werde in dieser Arbeit zumeist nicht weiter zwischen Konsequentialismus und Utilitarismus unterscheiden, sondern allgemein von konsequentialistischen Überlegungen sprechen, es sei denn, eine Präzisierung ist deshalb erforderlich, weil die diskutierten Überlegungen nur auf eine utilitaristische Position zutreffen. Die Theorie des gerechten Krieges ist keine konsequentialistische Lehre, sondern wird typischerweise von Deontologinnen vertreten. Der für eine konsequentialistische Theorie typischen interpersonellen Aggregation des Wertes von Konsequenzen, die unterschiedliche Personen erleiden, stehen viele Deontologinnen skeptisch gegenüber. Solche deontologischen Ansätze sind dadurch gekennzeichnet, dass sie die moralische Bewertung von Handlungen ausdrücklich nicht vom aggregierten Wert ihrer Konsequenzen abhängig machen, sondern stattdessen andere Überlegungen ins Spiel bringen. Sie geben beispielsweise zu bedenken, dass es für die moralische Bewertung einer Handlung relevant sei, ob eine Person durch die Handlung beabsichtigt oder nur vorhersehbar zu Tode kommt. Es wird sich zeigen, dass die Theorie des gerechten Krieges dann in die pazifistische These, es sei niemals erlaubt, Krieg zu führen, mündet, wenn die Bedingung der Verhältnismäßigkeit insofern strikt deontologisch interpretiert wird, als sie gänzlich auf Überlegungen verzichtet, die auf interpersoneller Aggregation beruhen. Die Theorie des gerechten Krieges fällt damit mit einer besonderen Form des Pazifismus zusammen, nämlich einem Just War Pacifism. Für die Entwicklung der Argumentation zugunsten dieser pazifistischen Position werde ich mich zunächst der Frage widmen, 16 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Einleitung

welche philosophischen Positionen hinsichtlich der moralischen Bewertungen von Krieg vertreten werden können, und anschließend insbesondere die im Zentrum der Abhandlung stehende Theorie des gerechten Kriegs in den Blick nehmen. Im Kapitel Thematische und methodische Eingrenzungen werde ich zunächst herausstellen, dass Pazifistinnen und Vertreterinnen der Theorie des gerechten Krieges unterschiedlicher Auffassung darüber sind, ob es jemals gerechtfertigt ist, Krieg zu führen. Pazifistinnen teilen mit Vertreterinnen der Theorie des gerechten Krieges die Annahme, dass Krieg ein so massives Übel darstellt, dass es vermieden werden sollte, ihn zu führen. Jedoch glauben Pazifistinnen, Kriege seien niemals gerechtfertigt. Dagegen erlaubt es die Theorie des gerechten Krieges, einen Krieg zu führen, wenngleich nur unter bestimmten, sehr restriktiven Bedingungen. Pazifistinnen begründen ihre Ablehnung gegenüber Krieg entweder konsequentialistisch oder deontologisch. Das bedeutet, sie argumentieren entweder ausschließlich über den enormen negativen Wert der Konsequenzen von Kriegen oder sie argumentieren, dass Kriege andere grundlegende moralische Prinzipien verletzen. Ich werde mich in dieser Arbeit ausgehend von der Theorie des gerechten Krieges und damit ausschließlich im Rahmen einer deontologischen Perspektive mit der Zulässigkeit von Kriegen beschäftigen. Damit bleiben zum einen typisch konsequentialistische Überlegungen und entsprechende Fundierungen des Pazifismus unberücksichtigt. Zum anderen werde ich Überlegungen, die direkt eine Form des Pazifismus begründen sollen, z. B. über ein kategorisches Tötungsverbot, außen vor lassen. Es wird im Verlauf der Arbeit zu zeigen sein, dass die Theorie des gerechten Krieges dann in einen Pazifismus mündet, wenn die Forderung nach Proportionalität bzw. Verhältnismäßigkeit deontologisch interpretiert wird. Die Position, der zufolge die Theorie des gerechten Krieges letztlich deckungsgleich mit einem (deontologischen) Pazifismus ist, hat James Sterba als »Just War Pacifism« bezeichnet. 7 Quer zum Pazifismus und zur deontologisch motivierten Theorie des gerechten Krieges steht die realistische Position. Während Vertreterinnen einer realistischen Position bestreiten, dass die Frage nach der Zulässigkeit von Krieg überhaupt auf der Grundlage moralischer Überlegungen zu entscheiden ist, gehen sowohl Pazifistinnen 7

S. Sterba 1992.

17 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Einleitung

als auch Vertreterinnen der Theorie des gerechten Krieges davon aus, dass Krieg in den Bereich der Moral fällt. Da es sich bei der vorliegenden Dissertation um eine Arbeit innerhalb der Moralphilosophie handelt und da auch der politische Diskurs durch moralische Überzeugungen gekennzeichnet ist, werde ich Argumente für oder gegen den Realismus nicht weiter berücksichtigen. Für die Frage, ob die deontologisch motivierte Theorie des gerechten Krieges in die Position des Just War Pacifism mündet, ist es zudem unerheblich, ob der Realismus plausibel ist oder nicht. Es wird sich im Verlaufe der Arbeit zeigen, dass Deontologinnen auf einen Just War Pacifism festgelegt sind. Um zu zeigen, dass deontologische Überlegungen die Einnahme einer pazifistischen Position implizieren, werde ich in dieser Arbeit methodisch wie folgt vorgehen: Ich werde vorrangig Fälle individueller Schädigung und Tötung aus dem Bereich der Alltagsmoral betrachten und die aus ihnen gezogenen Schlüsse auf Krieg übertragen. Ich werde also annehmen, dass die Prinzipien, die beispielsweise für die Zulässigkeit des Tötens in individueller Notwehr und Nothilfe gelten, auch im Handeln von Staaten im Kriegsfall Anwendung finden. Dabei werde ich nicht ausführlich zugunsten eines solchen Vorgehens argumentieren. Da diese Methode jedoch umstritten ist, 8 wird es erforderlich sein, sie zumindest zu plausibilisieren. In diesem Zusammenhang werde ich argumentieren, dass es sich lohnt zu klären, unter welchen Umständen wir es in anderen, weitaus weniger komplexen Fällen als dem Fall eines Krieges für moralisch zulässig halten, Gewalt anzuwenden. Es erscheint plausibel anzunehmen, dass diejenigen moralischen Prinzipien, die unser individuelles Handeln leiten, nicht allzu verschieden von denjenigen sind, die für das Handeln von Kollektiven und staatlichen Institutionen einschlägig sind. So formuliert auch die Theorie des gerechten Krieges Bedingungen für die Anwendung institutionalisierter Gewalt, die denen sehr ähnlich sind, unter denen es Individuen moralisch erlaubt ist, Gewalt gegen andere Personen anzuwenden. Die Theorie des gerechten Krieges hat eine lange Tradition in der Moralphilosophie und in der politischen Theorie. 9 Mit der Festsetzung der Genfer Konventionen hat Vgl. Lazar 2016. Klassische Begründer und Vertreter der Theorie des gerechten Krieges sind Cicero, Augustinus, Thomas von Aquin, Francisco de Vitoria und Hugo Grotius. Die gegenwärtige Diskussion besonders geprägt haben Michael Walzer und Jeff McMahan.

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Einleitung

sie in Teilen auch Einzug in das Völkerrecht gehalten. Sie bietet ein umfassendes Regelwerk, auf dessen Grundlage über die Zulässigkeit eines Krieges entschieden werden kann. Das Regelwerk lässt sich in zwei Bedingungskomplexe aufteilen. 10 Das jus ad bellum (Recht zum Krieg) formuliert Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit es einem Staat erlaubt ist, einen Krieg zu beginnen oder in einen bereits bestehenden Konflikt einzugreifen. Eine dieser Bedingungen lautet, ein Krieg müsse proportional bzw. verhältnismäßig sein. Das heißt, er müsse mehr Gutes leisten oder mehr Leiden und Schäden verhindern, als er allererst hervorbringt. Es wird insbesondere zu untersuchen sein, inwiefern die Forderung nach Proportionalität mit anderen, noch genauer zu bestimmenden Bedingungen des jus ad bellum zusammenhängt, etwa mit der Bedingung, Krieg dürfe nur auf der Grundlage ganz bestimmter Anlässe (just cause) geführt werden. Das jus in bello (Recht im Krieg) benennt Regeln dafür, auf welche Weise ein Krieg geführt werden soll. Das jus in bello betrifft damit nicht wie das jus ad bellum den Krieg als Ganzes, sondern individuelle Handlungen im Krieg. Auch das jus in bello beinhaltet eine Proportionalitätsbedingung: Der Schaden, den beispielsweise ein Luftangriff verursacht, müsse in einem angemessenen Verhältnis zu dem positiven Beitrag stehen, den der Angriff mit Blick auf das Ziel des Krieges leistet. Das jus in bello verlangt auch, die im Krieg angewendete Gewalt auf ein notwendiges Minimum zu beschränken und stets die Immunität von Zivilisten zu wahren. Die Bedingungen des jus in bello bedürfen ebenfalls einer genaueren Klärung, und zwar sowohl einzeln als auch mit Blick auf ihre Zusammenhänge untereinander. In dem Kapitel Die Theorie des gerechten Krieges werde ich nicht nur die zahlreichen Bedingungen für die moralische Zulässigkeit von Kriegen klären und untersuchen, wie sie innerhalb der einzelnen Bedingungskomplexe miteinander zusammenhängen. Traditionell werden das jus ad bellum und das jus in bello als logisch unabhängig betrachtet. Die These, es sei möglich, einen Krieg unGelegentlich wird der Theorie des gerechten Krieges ein dritter, weniger tradierter Bedingungskomplex hinzugefügt, der in der philosophischen Diskussion bisher noch wenig beachtet worden ist: Das jus post bellum (Recht nach dem Krieg). Es regelt, wie sich die Kriegsparteien nach dem Ende eines Krieges verhalten sollten. Da das jus post bellum (bisher) keine Forderung nach Proportionalität beinhaltet, werde ich es nicht weiter berücksichtigen.

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Einleitung

gerechtfertigt zu beginnen, diesen aber in Übereinstimmung mit den Regeln des jus in bello zu führen, ist in der neueren philosophischen Diskussion bestritten worden. 11 Inwiefern das jus ad bellum und das jus in bello als voneinander unabhängig betrachtet werden können, wird dementsprechend ebenfalls zu prüfen sein. Eine Bedingung, die das jus ad bellum und das jus in bello miteinander verbindet, ist die Proportionalitäts- bzw. Verhältnismäßigkeitsbedingung, deren Erfüllung die Theorie des gerechten Krieges sowohl ad bellum als auch in bello fordert. Daran anschließend werde ich mich der Frage widmen, welche Überlegungen zum Tragen kommen, um die Proportionalität zu bestimmen. Hierzu werde ich im Kapitel Proportionalität von und im Krieg – Eine erste Annäherung zunächst den aktuellen Stand der bisherigen Diskussion zu dieser Frage darlegen. Die Proportionalitätsbedingung verlangt, dass die Übel, die ein Krieg wie auch eine individuelle Kriegshandlung verursachen, in einem angemessenen Verhältnis zueinander stehen müssen. Es dürfen durch einen Krieg nicht mehr Übel hervorgebracht werden, als Übel verhindert werden sollen. Anhand welcher Überlegungen bestimmt werden soll, ob es sich um ein angemessenes Verhältnis zwischen verhinderten und verursachten Kriegsschäden handelt, muss genauer bestimmt werden. Zunächst einmal naheliegend ist eine konsequentialistische Interpretation dieser Forderung. Demnach gilt es in erster Linie sicherzustellen, dass nicht mehr Menschen, vor allem Zivilisten, durch einen Krieg zu Tode kommen, als sterben würden, falls ein Krieg ausbliebe. Traditionell wurde Proportionalität in dieser Weise verstanden, so auch noch von Michael Walzer, der sich in »Just and Unjust Wars« um eine tiefere Begründung der Theorie des gerechten Krieges bemüht. 12 Der Gedanke, Proportionalität nicht.konsequentialistisch zu verstehen, geht in der neueren Diskussion auf Thomas Hurka zurück. Hurka fordert, diese Bedingung sowohl im jus ad bellum als auch im jus in bello unter Rückgriff auf typisch deontologische Überlegungen zu formulieren, da sie in eine Theorie eingebettet ist, die auch ansonsten keine konsequentialistische Lehre ist. 13 Ausgehend von Hurkas Forderung ist in den letzten Jahren zunehmend versucht worden, ein deontologisches Verständnis von Proportionalität zu gewinnen. Ziel 11 12 13

Vgl. insbesondere McMahan 2009. Vgl. Walzer 1977, S. 129 f. Vgl. Hurka 2005.

20 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Einleitung

dieses Kapitels ist es, einen ersten Überblick über die noch junge Proportionalitätsdebatte zu geben und bestehende und zum Teil auch bereits etablierte Vorschläge vorzustellen. Gerade weil die Debatte noch jung ist, wurden bisher nur wenige Vorschläge intensiv diskutiert. Diejenigen Vorschläge, die typisch für deontologische Theorien sind, aber bisher noch wenig Beachtung erfahren haben, werde ich in den Folgekapiteln gesondert einer kritischen Prüfung unterziehen. Im Zuge dieser kritischen Prüfung wird ein deontologisches Verständnis von Proportionalität auch daraufhin zu untersuchen sein, inwiefern die angestellten Überlegungen noch dazu beitragen können, das Führen von Kriegen zu rechtfertigen, wenn sie ohne einen Rekurs auf eine bestimmte Überlegung auskommen wollen, die Deontologinnen oftmals ablehnen. Während es unproblematisch erscheint, das Leiden, das eine Person erfährt, damit aufzuwiegen, dass dieselbe Person durch dieses Leiden von einem anderen, größeren Leiden befreit wird, halten es Deontologinnen häufig für unzulässig, diesen Gedanken auf Vergleiche zwischen verschiedenen Personen zu übertragen. Leiden lassen sich demnach nicht über die Grenzen eines Individuums hinweg aggregieren und in einer gemeinsamen Perspektive abbilden. 14 Einer Person einen Schaden zuzufügen, könne nicht damit aufgewogen werden, dass eine andere Person vor dem gleichen Schaden bewahrt wird. So lasse sich der Tod einer Person nicht damit aufwiegen, dass mindestens eine andere Person dadurch überlebt. Deontologinnen lehnen folglich eine interpersonelle Aggregation von beispielsweise Wohlergehen ab. Eine erste innerhalb deontologischer Theorien prominente Überlegung, die anstelle typisch konsequentialistischer Überlegungen relevant sein könnte, werde ich im Kapitel Das Prinzip der Doppelwirkung diskutieren. Vertreterinnen des Prinzips der Doppelwirkung meinen, es sei verboten, schlechte Konsequenzen als Ziel oder als Mittel zu beabsichtigen; allerdings könne es erlaubt sein, schlechte Konsequenzen hervorzubringen, wenn sie lediglich als eine Nebenfolge vorhergesehen werden. Innerhalb des jus in bello spezifiziert das Prinzip der Doppelwirkung die Forderung, im Krieg die Immunität von Zivilisten zu wahren. Zivilisten genießen im Krieg keine Immunität dagegen, getötet zu werden. Sie dürfen nicht beDeontologinnen behaupten damit eine »separateness of persons«, die ein Konsequentialismus missachte.

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Einleitung

absichtigt getötet werden. Angriffe dürfen sich im Krieg nicht direkt gegen sie richten. Den Tod von Zivilisten im Zuge eines Angriffes lediglich vorherzusehen, könne dagegen erlaubt sein. Die Unterscheidung des Prinzips der Doppelwirkung zwischen beabsichtigten und nur vorhergesehenen Schäden spielt auch für die Proportionalität eine wichtige Rolle. Denn wie sehr der Tod von Zivilisten ins Gewicht fällt, hängt Jeff McMahan zufolge auch davon ab, ob er beabsichtigt oder nur vorhergesehen wird. 15 Werden Zivilisten beabsichtigt getötet, sei die Proportionalitätsforderung nur noch sehr schwer erfüllbar. Sie sei dagegen leichter zu erfüllen, wenn Zivilisten unbeabsichtigt, wenngleich vorhersehbar getötet werden. Gegeben, dass im Krieg erwartbar Zivilisten umkommen, hängt die moralische Zulässigkeit von Kriegen entscheidend von der Plausibilität der Unterscheidung zwischen dem Beabsichtigen und dem bloßen Vorhersehen ziviler Opfer ab. Deontologinnen, die das Prinzip der Doppelwirkung ablehnen und zugleich konsequentialistische Abwägungen für unzulässig halten, scheinen damit auf einen Pazifismus festgelegt zu sein, da sie das Töten von Zivilisten im Krieg in jedem Fall als moralisch höchst problematisch bewerten müssen. Daher meint Elizabeth Anscombe, ohne das Prinzip der Doppelwirkung hänge die moralische Bewertung von Krieg entweder nur noch vom Wert der Konsequenzen ab oder führe direkt zu der These, jedwedes Töten von Zivilisten sei verboten, und damit in einen Pazifismus. 16 Die Theorie des gerechten Krieges, so scheint es, steht und fällt mit dem Prinzip der Doppelwirkung. Umso erstaunlicher ist es, dass das Prinzip der Doppelwirkung innerhalb der philosophischen Diskussion der Zulässigkeit von Kriegen bisher kaum diskutiert worden ist. 17 Die philosophische Debatte um das Prinzip der Doppelwirkung hat längst gezeigt, dass eine große Schwierigkeit für Vertreterinnen des Prinzips der Doppelwirkung darin besteht, keine befriedigende Antwort auf die Frage liefern zu können, weshalb die Unterscheidung zwischen beabsichtigtem und nur vorhergesehenem Töten überhaupt moralisch relevant sein soll. Es gilt daher, die Diskussion der Zulässigkeit von Kriegen mit der Vgl. Hurka 2008, S. 140, Rodin 2011, S. 88, McMahan 2014, S. 2. Vgl. Anscombe 1961 S. 255 und S. 256. Rüdiger Bittner leitet aus seiner Zurückweisung des Prinzips der Doppelwirkung direkt einen Pazifismus ab (vgl. Bittner 2004). 17 Eine Ausnahme bildet Michael Walzers Kritik am Prinzip der Doppelwirkung (vgl. Walzer 1977, S. 153 f.). 15 16

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Einleitung

Diskussion des Prinzips der Doppelwirkung zu verbinden. Ich werde zeigen, dass es gute Gründe zu der Annahme gibt, dass die genannte Unterscheidung moralisch nicht relevant und das Prinzip der Doppelwirkung daher nicht haltbar ist. Jedoch leitet sich daraus, so werde ich weiterhin argumentieren, noch kein Pazifismus ab. Vielmehr eröffnet sich durch einen Verzicht auf das Prinzip der Doppelwirkung die Möglichkeit, dasjenige in den Blick zu nehmen, was aus moralischer Sicht eigentlich entscheidend ist: eine deontologische Antwort auf die Frage, wie wir Handlungen beurteilen sollen, die mit dem Risiko einhergehen, dass Zivilisten zu Tode kommen. Mit dieser Frage werde ich mich im Kapitel Den Tod von Zivilisten riskieren beschäftigen. Davon, wie Handlungen bewertet werden sollten, für die sich nicht mit Sicherheit sagen lässt, ob sie jemanden schädigen, die aber mit einem Schadensrisiko verbunden sind, hängt auch ab, ob ein Krieg oder eine individuelle Kriegshandlung verhältnismäßig ist. Aus der Erfahrung ist es sicher, dass im Krieg Zivilisten sterben. Es lässt sich aber in aller Regel nicht mit Sicherheit sagen, ob eine konkrete Kriegshandlung zivile Opfer fordern wird, wie viele Zivilisten dabei zu Tode kommen werden und um welche Personen es sich genau handeln wird. Wie riskante Handlungen zu bewerten sind, bleibt in der Diskussion der Theorie noch sehr unterbestimmt. 18 Eine Möglichkeit, damit umzugehen, dass sich nur Wahrscheinlichkeiten dafür angeben lassen, dass Zivilisten sterben werden, besteht darin, die Erlaubtheit einer Handlung, die mit einem Todesrisiko einhergeht, vom Erwartungsnutzen der Handlung abhängig zu machen. Der Erwartungsnutzen einer Handlung, die sowohl potentiell schädigt als auch potentiell Schaden verhindert, lässt sich bestimmen, indem die möglichen verhinderten und verursachten Schäden entsprechend ihrer jeweiligen Eintrittswahrscheinlichkeiten zusammengefasst werden. Besteht die Wahl zwischen mehreren riskanten Handlungen, ist die Handlung zu wählen, die den größten Erwartungsnutzen hat. Eine Kriegshandlung, die mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit einen wichtigen Beitrag zum Kriegsgewinn leistet, könnte demnach erlaubt sein, auch wenn einige Zivilisten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ums Leben kommen werZu nennen sind hier lediglich die Arbeiten von Jeff McMahan (2016 und 2016a) und Seth Lazar (2012), die riskante Handlungen bisher jedoch eher anhand des Erwartungsnutzens beurteilen. Einige aus deontologischer Sicht interessante Überlegungen zu Risiko finden sich bei Walzer (1977, S. 151–155).

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den, solange gilt, dass für viele andere Zivilisten das Risiko zu sterben sehr gering ist. Den moralischen Status riskanter Handlungen an ihrem Erwartungsnutzen zu bemessen, scheint aus einer deontologischen Perspektive jedoch in zweifacher Hinsicht problematisch. Zum einen wird der erwartete Gesamtnutzen unter Rückgriff auf interpersonelle Aggregation gebildet, indem die Risiken, die für die einzelnen Zivilisten bestehen, zu einer Summe zusammengezogen werden. Zum anderen bleibt unberücksichtigt, dass wir es normalerweise für unzulässig halten, eine riskante Handlung auszuführen, wenn sie eine Person einem sehr hohen Schadenrisiko aussetzt. Geht man aber von der Annahme aus, dass das Ausführen riskanter Handlungen nur dann zulässig ist, wenn sie zu keinem Zeitpunkt, zu dem die Handlung noch unterbrochen werden kann, eine bestimmte Person einem hohen Schadensrisiko aussetzt, dann sind Kriegshandlungen offenbar in aller Regel unzulässig. 19 Denn für viele Handlungen im Krieg gilt, dass sie ziemlich sicher mindestens eine Zivilistin töten werden. Es wird sich zeigen, dass eine deontologische Sicht auf riskante Handlungen die Theorie des gerechten Krieges damit stark in die Nähe einer pazifistischen Position rückt. Ein Pazifismus würde aber beispielsweise dann nicht folgen, wenn sich argumentieren ließe, dass Krieg deshalb zulässig ist, weil die potentiellen Opfer diesem zustimmen und insofern bereit sind, die entsprechenden Risiken zu tragen. Unter der Annahme, dass die Proportionalitätsbedingungen der Theorie des gerechten Krieges deontologisch zu verstehen sind, ist es naheliegend, die Erlaubtheit eines Krieges oder einer individuellen Handlung im Krieg auch von der Überlegung abhängig zu machen, die moralische Erlaubtheit einer Handlung hänge von der Zustimmung der von der Handlung betroffenen Personen ab. Die Zulässigkeit eines Krieges entscheide sich auch daran, ob die möglichen zivilen Opfer in den Krieg einwilligen. Gerade mit Blick auf humanitäre Interventionen scheint der Zustimmungsgedanke deren Zulässigkeit begründen zu können. Die Menschen, die im Zuge einer Intervention zu sterben drohen, sind die Menschen, deren Rettung die Intervention dient. Die Zivilisten stimmen einer Intervention vermeintlich

S. Frick 2015. Frick bemüht sich allerdings um eine allgemeine Theorie von Risiko, die Fälle aus der Kriegsethik nicht konkret in den Blick nimmt.

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zu, weil sie ihr Leben schützen kann. 20 Im Kapitel Die Zustimmung von Zivilisten werde ich jedoch zeigen, dass auch der Gedanke, die Zustimmung respektive die Ablehnung von Zivilisten sei ernst zu nehmen, einen Pazifismus nahelegt. Bei der fraglichen Zustimmung der Zivilisten kann es sich nämlich nicht um eine tatsächlich vorliegende Zustimmung handeln. Folglich muss auf eine nur hypothetisch bleibende Zustimmung der Zivilisten verwiesen werden. Ein Verweis auf eine Zustimmung, die nicht tatsächlich gegeben wird, sondern von der lediglich angenommen wird, dass sie gegeben werden könnte, erscheint jedoch aus zwei Gründen problematisch. Ich werde erstens diskutieren, inwiefern eine hypothetische Einwilligung in eine potentiell tödliche Handlung überhaupt die Interessen der Betroffenen angemessen berücksichtigt und insofern eine solche Handlung rechtfertigen kann. Zweitens werde ich untersuchen, wie damit umzugehen ist, dass unter Umständen nicht alle potentiellen zivilen Opfer ein Interesse an einer humanitären Intervention haben und dieser insofern nicht zustimmen können. Wird nun die Überlegung angeführt, eine Intervention sei deshalb erlaubt, weil sie mehrheitlich zustimmungsfähig ist, da sie im Interesse von mehr Zivilisten ist, als sie den Interessen von Zivilisten zuwiderläuft, wird über Personengrenzen hinweg aggregiert. Überlegungen, die auf interpersonelle Aggregation beruhen, sind jedoch von einem deontologischen Standpunkt fragwürdig. Der Umstand, dass die Mehrheit der Zivilisten einer humanitären Intervention zustimmen kann, rechtfertigt diese folglich nicht. Gegenüber denjenigen Zivilisten, die eine humanitäre Intervention ablehnen, ist es nicht zu rechtfertigen, dass sie einem Schadensrisiko ausgesetzt werden. Zivilisten gegen ihren Willen einem Schadensrisiko auszusetzen, ist unverhältnismäßig. Die Proportionalität von und im Krieg so zu formulieren, dass sie gänzlich frei von Überlegungen der Art ist, dass Krieg zur Verhinderung von wesentlich mehr Leid führt, als er hervorbringt, scheint das Proportionalitätsgebot zu einer unerfüllbaren Forderung zu machen und damit die Theorie des gerechten Krieges mit einem Pazifismus zusammenfallen zu lassen. Die moralische Zulässigkeit

So argumentiert Peter Schaber (2013) für die Zulässigkeit (sogar die Pflicht) humanitärer Interventionen. Ähnliche Überlegungen finden sich bei Jeff McMahan (2010). Eine kurze kritische Diskussion findet sich bei Allen Buchanan (2013).

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von Kriegen hängt also ganz entscheidend davon ab, ob aggregationistische Argumente aus deontologischer Sicht zulässig sind. In den bis hierhin angestellten Überlegungen wurde lediglich darauf verwiesen, dass Deontologinnen häufig Vorbehalte gegenüber interpersoneller Aggregation haben. Inwiefern diese problematisch ist, ist jedoch sehr umstritten. Eine ausführliche Diskussion interpersoneller Aggregation kann und soll in dieser Arbeit nicht erfolgen. Dennoch ist das Hauptanliegen des letzten Kapitel Den Tod kompensieren, die Vorbehalte von Deontologinnen argumentativ zu stärken. Wenn Personen zu Schaden kommen, schuldet man ihnen insbesondere dann eine Kompensation des erlittenen Schadens, wenn sie der Ausführung der Handlung nicht zugestimmt haben. David Rodin stellt heraus, dass Schäden, die prinzipiell kompensiert werden können, innerhalb der Proportionalität weniger schwer wiegen und damit leichter zu rechtfertigen sind als Schäden, die keine Kompensation erlauben. Dieser Gedanke mündet Rodin zufolge in einen Pazifismus. Denn der Tod eines Menschen ist ein Schaden, der im Gegensatz zu anderen Schäden keine intrapersonelle Kompensation ermögliche. Die Zivilistin, die im Krieg ums Leben kommt, könne für den Verlust ihres Lebens nicht kompensiert werden, da sie nicht mehr existiert und es daher keine Möglichkeit mehr für sie gibt, wieder besser gestellt zu werden. 21 Der Verweis auf den Kompensationsbegriff stärkt darüber hinaus die deontologische Kritik an interpersoneller Aggregation. 22 Der Tod der Zivilistin lässt sich nämlich auch nicht damit kompensieren, dass an ihrer Stelle andere Zivilisten nicht ums Leben kommen mussten. Deontologinnen argumentieren hierbei, dass der Schaden, den eine bestimmte Person erleidet, nicht dadurch kompensiert werden könne, dass eine andere Person vor einem Schaden bewahrt wird, weil die Person, die einen Schaden erleidet, nichts davon habe, dass andere Personen keinen Schaden erleiden. Kompensation sei aber etwas, dass einer bestimmten Person geschuldet wird. Die deontologische Ablehnung interpersoneller Aggregation impliziert demnach, dass die Abwägung zwischen verhinderten und zugefügten Schäden, die in der Proportionalität vorgenommen wird, nicht darin Vgl. Rodin 2011, S. 106–109. Diese Kritik findet sich in dieser und ähnlicher Form prominent bei Thomas Nagel (1970), John Rawls (1971) und Robert Nozick (1974) sowie in der neueren Debatte bei Larry S. Temkin (2012).

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Einleitung

bestehen kann, die Anzahl der geretteten gegen die Anzahl der getöteten Zivilisten aufzurechnen. Für Deontologinnen, die die Theorie des gerechten Krieges vertreten, ergibt sich daher, dass sie dann, wenn sie aggregationistische Überlegungen ablehnen, aufgrund der Unerfüllbarkeit der Proportionalitätsforderung auf einen Just War Pacifism festgelegt sind. Damit zeigt sich, dass die These, mithilfe der Theorie des gerechten Krieges ließen sich Kriege als moralisch gerechtfertigt erweisen, falsch ist. Stattdessen läuft eine konsistente deontologische Theorie des gerechten Krieges auf die These hinaus, dass es niemals gerechtfertigt ist, Krieg zu führen. Dies gilt zumindest dann, wenn wir davon ausgehen, dass im Krieg stets Zivilisten sterben. Im Schlussteil werde ich ausloten, welche – untypischen – Arten von Kriegen aus deontologischer Sicht moralisch erlaubt sein könnten. Darüber hinaus werde ich ausblickartig Überlegungen dazu anstellen, welche Möglichkeiten Deontologinnen haben, damit umzugehen, dass eine Ablehnung interpersoneller Aggregation einen Pazifismus impliziert. Zum einen gibt das Ergebnis der Arbeit Anlass zu der Frage, ob sich innerhalb einer deontologischen Position plausibel machen lassen könnte, dass es Fälle gibt, in denen interpersonelle Aggregation zulässig ist. Zum anderen stehen Pazifistinnen vor dem Problem, dass sie der starken Forderung, Menschen zu schützen, nicht nachkommen, wenn sie etwa im Falle eines Völkermordes nicht militärisch intervenieren. Damit ist ein wichtiger Einwand gegen den Pazifismus benannt, dem im Rahmen dieser Abhandlung nicht ausführlich begegnet werden kann. Dennoch sollen mögliche argumentative Ressourcen von Pazifistinnen kurz skizziert werden, wie auch ohne eine Intervention der moralisch geforderte Schutz von Menschen gewährleisten werden könnte.

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1. Thematische und methodische Eingrenzungen

Ist es moralisch erlaubt, Kriege zu führen? Auf diese Frage gibt es grundsätzlich zwei Antworten: (1) Nein, das Führen von Kriegen ist stets moralisch verboten. (2) Ja, unter bestimmten Umständen ist es erlaubt, Kriege zu führen. Beide Antworten können sowohl vor dem Hintergrund eines konsequentialistischen als auch vor dem Hintergrund eines deontologischen Ansatzes gegeben werden. Konsequentialisten in der Ethik glauben, die moralische Bewertung von Handlungen hänge ausschließlich vom Wert ihrer Konsequenzen ab. Eine Deontologin dagegen bestreitet diese Behauptung und vertritt die Position, es hänge (auch) von anderen Faktoren ab, ob eine Handlung moralisch geboten, erlaubt oder verboten ist. Konsequentialisten begründen ihre Antwort, es sei stets moralisch verboten, Krieg zu führen, beispielsweise damit, dass das Führen von Kriegen immer schlechtere Konsequenzen habe als alle Alternativen zu einem Krieg. Deontologinnen dagegen verweisen häufig darauf, dass im Krieg immer auch unschuldige Menschen getötet werden, es aber verboten sei, Unschuldige zu töten. Im Rahmen einer konsequentialistischen wie auch einer deontologischen Moraltheorie lässt sich aber auch argumentieren, dass es unter bestimmten Umständen erlaubt sei, Krieg zu führen. Aus konsequentialistischer Sicht wäre ein Krieg dann erlaubt, wenn das Führen eines Krieges bessere oder zumindest nicht schlechtere Konsequenzen hätte als alle Alternativen zu einem Krieg. Deontologinnen, die das Führen von Kriegen unter bestimmten Umständen als gerechtfertigt ansehen, vertreten typischerweise die sogenannte Theorie des gerechten Krieges. Vertreterinnen der Theorie des gerechten Krieges machen die Zulässigkeit eines Krieges zum Beispiel davon abhängig, ob das Ziel, das mit einem Krieg verfolgt wird, moralisch gut ist oder ob der Tod unschuldiger Menschen ein beabsichtigtes Mittel oder nur eine vorhergesehene Nebenfolge ist.

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Pazifismus

Ich werde mich in dieser Arbeit in erster Linie aus einer deontologischen Perspektive mit der Frage nach der moralischen Zulässigkeit von Kriegen beschäftigen. Im ersten Abschnitt dieses Kapitels (1.1) werde ich mich der pazifistischen Position widmen, der zufolge es niemals gerechtfertigt ist, Krieg zu führen, und dabei über die Unterscheidung zwischen konsequentialistischen und deontologischen Ansätzen hinaus verschiedene Arten des Pazifismus diskutieren. Im zweiten Abschnitt (1.2) werde ich kurz die Kerngedanken der deontologischen Theorie des gerechten Krieges darstellen, die in dieser Arbeit daraufhin untersucht werden soll, inwiefern sie dann in einen Pazifismus mündet, wenn sie auf eine bestimmte, noch zu explizierende Weise verstanden wird. Da die Theorie des gerechten Krieges im Fokus der Arbeit steht, werde ich sie später noch einmal ausführlich in einem gesonderten Kapitel thematisieren (vgl. Kapitel 2: Die Theorie des gerechten Krieges). Zwar wird die Theorie des gerechten Krieges typischerweise von Deontologinnen vertreten. Jedoch kann sie auch von Proponenten vertreten werden, die bestreiten, dass moralische Überlegungen – deontologische wie konsequentialistische – eine Rolle dafür spielen, ob es sich rechtfertigen lässt, Kriege zu führen. Der sogenannte Realismus steht daher quer zu deontologischen (und konsequentialistischen) Fundierungen des Pazifismus und zu einer deontologisch begründeten Theorie des gerechten Krieges. Da der Realismus außerhalb des thematischen Rahmens dieser Arbeit liegt, werde ich ihn im dritten Abschnitt dieses Kapitels nur kurz skizzieren (1.3). Im letzten Abschnitt werde ich darlegen, wie ich methodisch dabei vorgehen werde, die Theorie des gerechten Krieges daraufhin zu untersuchen, inwiefern sie eine pazifistische Position impliziert (1.4).

1.1 Pazifismus Bei der Position, der zufolge es niemals moralisch zulässig sei einen Krieg zu führen, handelt es sich um einen Pazifismus. Die Betonung liegt auf einen Pazifismus, denn den Pazifismus gibt es nicht. Vielmehr gibt es verschiedene Versionen der pazifistischen Position, die wiederum unterschiedlich begründet sein können. 1 Mit dem Begriff Es gibt keine einheitliche Unterscheidung verschiedener Formen von Pazifismus. Die Unterschiede in den Klassifizierungen sind jedoch keine in der Sache, sondern in

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Thematische und methodische Eingrenzungen

»Pazifismus« assoziieren wir zunächst etwas, das ich hier »absoluten« oder »kategorischen Pazifismus« nennen möchte. Absolute Pazifistinnen sind der Ansicht, Krieg sei niemals, d. h. unter keinen Umständen moralisch zu rechtfertigen. Das Verbot, Krieg zu führen, kennt keine Ausnahme. Die These des kategorischen Pazifismus lässt sich auch in der Rede von möglichen Welten ausdrücken: Krieg ist in allen möglichen Welten verboten. Ein kategorisches Kriegsverbot findet sich in der heutigen philosophischen Diskussion, die nicht mehr theologisch motiviert ist, nur noch selten. 2 Entsprechend gibt es auch nicht-kategorische Versionen einer pazifistischen Position. Grundsätzlich behaupten nicht-kategorische Pazifistinnen, Krieg sei gerade nicht unter allen nur möglichen Umständen falsch, sondern nur unter bestimmten. Dabei bleibt erst einmal offen, was »bestimmte Umstände« sind. Eine Pazifistin könnte meinen, ein ganz bestimmter, aktuell zur Diskussion stehender Krieg sei verboten, würde das Kriegsverbot aber nicht auch auf andere Kriege ausdehnen. Andrew Fiala bezeichnet diese Position noch als eine pazifistische, genauer als »kontingenten Pazifismus«. 3 Fiala versteht unter »Pazifismus« nur eine Ablehnung von Krieg, wobei dabei noch offen ist, ob Krieg stets abgelehnt wird oder nur in ganz bestimmten Fällen. Ich denke, unser alltäglicher Gebrauch des Begriffs »Pazifismus« meint jedoch die Position, es sei niemals gerechtfertigt, Krieg zu führen. Wenn wir von »Pazifistinnen« sprechen, sprechen wir von Menschen, die sich immer gegen Krieg aussprechen, nicht nur manchmal. Insbesondere dann, wenn unter Pazifismus eine Gegenposition zur Theorie des gerechten Krieges verstanden wird, kann ein Pazifismus nicht nur in der Ablehnung bestimmter Kriege bestehen. Denn bestimmte Kriege würde auch eine Vertreterin der Theorie des gerechder Benennung der Positionen, wobei anzumerken ist, dass die vielen verschiedenen Positionen auch nur schwer scharf voneinander abzugrenzen sind. 2 Rüdiger Bittner ist ein heutiger Vertreter eines absoluten Pazifismus. In seinem Artikel »Ist Notwehr erlaubt« (2006) geht er von der Annahme aus, Krieg sei manchmal kollektive Notwehr und deshalb manchmal moralisch erlaubt, weil das Töten in individueller Notwehr moralisch erlaubt sei. Er argumentiert jedoch für die These, dass es niemals erlaubt sei, einen Menschen in individueller Notwehr zu töten, und damit auch niemals erlaubt, Krieg zu führen. 3 Andrew Fiala unterscheidet meines Erachtens sehr unübersichtlich und mir wenig verständlich zwischen verschiedenen Spielarten nicht-absoluter Versionen eines Pazifismus. Zum Nachlesen: Fiala 2010. Um die Begrifflichkeiten übersichtlich zu halten, unterscheide ich lediglich zwischen absolutem und nicht-absolutem bzw. konditionalem Pazifismus.

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Pazifismus

ten Krieges ablehnen. Ich möchte daher im Folgenden die pazifistische Position als eine verstehen, die darin besteht, Krieg immer abzulehnen. Auch die Position, Krieg sei immer falsch, lässt sich nichtkategorisch formulieren. Eine Pazifistin würde dann behaupten, es gebe durchaus Ausnahmen vom Kriegsverbot, aber wir hätten es niemals mit einer solchen Ausnahme zu tun. Krieg ist demnach also nicht in allen möglichen Welten verboten, wohl aber in der aktualen Welt und in denjenigen möglichen Welten, die der aktualen Welt heute oder in Zukunft erwartungsgemäß ähnlich sind. Ich werde diese Position im Folgenden als »konditionalen Pazifismus« bezeichnen. 4 Ob ein Pazifismus ein kategorischer oder ein konditionaler ist, hängt zum Teil auch damit zusammen, welche ethische Theorie ihm zugrunde liegt. Ein absoluter Pazifismus wird in aller Regel deontologisch begründet sein. Deontologinnen gehen dabei häufig von einem kategorischen Tötungsverbot (unschuldiger Menschen) aus. Und gegeben, dass im Krieg immer (unschuldige) Menschen getötet werden, ist es demnach immer verboten, Krieg zu führen, und zwar unabhängig davon, wie gut oder schlecht die Konsequenzen eines Krieges wären. Dagegen kann innerhalb einer konsequentialistischen Theorie nur ein konditionaler Pazifismus vertreten werden. Eine pazifistische Konsequentialistin würde einen Krieg für zulässig halten, wenn er zu besseren (oder weniger schlechten) Konsequenzen als jede Alternative führt, aber zugleich behaupten, dies sei nie der Fall. 5 Zu einer konditionalen Version eines Pazifismus, der deontologisch begründet ist, gelangt man unter der Annahme, dass Prinzipien, wie etwa das Tötungsverbot, keinen kategorischen Charakter haben. Deontologinnen würden diese Prinzipien dennoch für eigenständig wichtig halten und entsprechend nicht nur den Wert der Konsequenzen berücksichtigen. Ein deontologischer Pazifismus in konBleisch / Strub 2006 unterscheiden auf ähnliche Weise zwischen verschiedenen Formen von Pazifismus, indem sie einen kategorischen von einem konditionalen Pazifismus trennen, um bei den Begründungen für beide das Tableau weiter aufzufächern. Von einer weiteren Ausdifferenzierung sehe ich an dieser Stelle ab. Vgl. S. 15–27. Lazar (2016) nennt das, was ich »konditionalen Pazifismus« nenne, »contingent pacifism« und bezeichnet damit die hier genannte Position, Krieg könne in der Theorie zulässig sein, in der aktualen Praxis jedoch niemals, und unterscheidet sie vom »outright pacifism« (vgl. S. 2). 5 Robert Holmes ist ein typischer Vertreter eines konsequentialistisch begründeten Pazifismus. Auch Olaf Müller lässt sich diese Position zuschreiben. 4

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Thematische und methodische Eingrenzungen

ditionaler Form kann beispielsweise auf der Annahme beruhen, dass immer etwas sehr Gewichtiges dagegen spreche, unschuldige Menschen zu töten, aber zugleich mit der Behauptung einhergehen, das Töten Unschuldiger könne unter bestimmten Umständen gerechtfertigt sein. Zu einem Pazifismus führt dieser Gedanke, wenn darüber hinaus die These plausibel gemacht werden kann, dass es zwar grundsätzlich möglich sei, das Töten eines unschuldigen Menschen zu rechtfertigen (zum Beispiel durch dessen Zustimmung), aber dass dies in der aktualen Welt mit Blick auf Krieg niemals der Fall sei. Konsequentialistische Begründungen der pazifistischen Position werden im weiteren Verlauf keine Rolle spielen. Stattdessen werde ich in dieser Arbeit untersuchen, inwiefern Überlegungen, die typischerweise innerhalb deontologischer Ansätze angeführt werden, einen Pazifismus stützen. Eine Möglichkeit, einen konditionalen Pazifismus deontologisch zu fundieren, besteht darin, die Theorie des gerechten Krieges und entsprechend die These zu vertreten, das Führen von Kriegen sei genau dann erlaubt, wenn die in der Theorie formulierten Bedingungen erfüllt seien – aber zu bestreiten, dass sie jemals erfüllt seien. Diese Position wird auch als »Just War Pacifism« bezeichnet und prominent von James Sterba vertreten. 6 Die Position besteht letztlich in der Behauptung, die Theorie des gerechten Krieges kollabiere in einen Pazifismus, weil ihre Bedingungen, wenn sie richtig verstanden werden, so restriktiv sind, dass Krieg immer verboten sein wird. Die Position eines »Just War Pacifism« ist dafür kritisiert worden, dass es sich streng genommen nicht mehr um eine pazifistische Position handle. So wenden Bleisch und Strub ein, ein Pazifismus impliziere notwendig die grundsätzliche Ablehnung der gesamten Institution Krieg, nicht nur die Ablehnung des Führens bestimmter Kriege. Während der Pazifismus bei der moralischen Bewertung eines bestimmten, zur Debatte stehenden Kriegs nicht Halt macht und sich als ›anti-warism‹ auch gegen die ›Institution Krieg‹ als solche richtet, ist ein solcher Fokus zumindest der traditionellen Theorie des gerechten Krieges fremd. Der Pazifismus geht hinsichtlich dieses Punktes weiter und nimmt auch die institutionellen Fragen der Kriegs- und Waffenindustrie in den Blick. 7

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S. Sterba 1992. Bleisch / Strub 2006. S. 30.

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Die Theorie des gerechten Krieges

Bleisch und Strub zufolge sei es einer pazifistischen Position inhärent, nicht nur Aussagen über das Führen bestimmter Kriege zu treffen, sondern auch alle diejenigen Aktivitäten abzulehnen, die mit Krieg in Verbindung stehen. So würden sich Pazifisten immer auch gegen militärische Forschungen, Waffenhandel, Wehrpflicht u. Ä. aussprechen. Da Vertreterinnen der Theorie des gerechten Krieges typischerweise ausschließlich das Führen bestimmter Kriege diskutieren, könne die Theorie des gerechten Krieges, so Bleisch und Strub, auch dann nicht mit einem Pazifismus zusammenfallen, wenn sie sich gegen jeden einzelnen zur Debatte stehenden Krieg ausspricht. Ein »Just War Pacifism« sei folglich kein Pazifismus, da er den Blick lediglich auf das Führen bestimmter Kriege richte. Diese Kritik wird im Schlussteil noch einmal aufzugreifen sein. Denn das Ziel dieser Arbeit besteht gerade in der Verteidigung eines »Just War Pacifism«. Die Theorie des gerechten Krieges soll daraufhin untersucht werden, ob sich mit ihr tatsächlich Krieg rechtfertigen lässt oder ob sie mit einem Pazifismus zusammenfällt. Dabei wird der Fokus auf einer bestimmten Bedingung innerhalb der Theorie des gerechten Krieges liegen, die stets zu erfüllen ist, von der aber unklar ist, wie genau sie zu verstehen ist. Die Theorie des gerechten Krieges enthält neben zahlreichen anderen Bedingungen die, dass ein Krieg nur dann moralisch gerechtfertigt sei, wenn er proportional, d. h. verhältnismäßig ist. Proportional sei ein Krieg dann, wenn dessen gute Folgen die schlechten auf- oder überwiegen. Um die Proportionalitätsbedingung im Kontext der Theorie des gerechten Krieges besser einzuordnen, werde ich im nächsten Abschnitt die Theorie des gerechten Krieges zunächst kurz umreißen.

1.2 Die Theorie des gerechten Krieges Die These, es sei unter bestimmten Umständen moralisch erlaubt, Krieg zu führen, lässt sich konsequentialistisch, aber auch deontologisch begründen. Eine Konsequentialistin hält das Führen eines Krieges typischerweise genau dann für zulässig oder gar geboten, wenn ein Krieg zu besseren (oder weniger schlechten) Konsequenzen führt als alle verfügbaren Alternativen. Deontologinnen machen die Frage nach der Zulässigkeit eines Krieges nicht (ausschließlich) vom Wert der tatsächlichen oder erwartbaren Konsequenzen abhängig, sondern bringen stattdessen Überlegungen ins Spiel, die auch unabhängig von 33 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Thematische und methodische Eingrenzungen

den Konsequenzen wichtig sind. Die prominente und tradierte Theorie des gerechten Krieges liefert eine solche deontologische Rechtfertigung für Krieg. Viele der Forderungen der Theorie des gerechten Krieges, die bis heute in ihr Bestand haben, liegen philosophiegeschichtlich weit zurück. So stellt bereits Cicero heraus, ein Krieg könne nur dann gerechtfertigt sein, wenn er insofern der letzte Ausweg ist, als eine diplomatische Lösung des Konflikts gescheitert oder nicht möglich ist, und dass Krieg nur geführt werden dürfe, wenn Aggression den Frieden bedrohe. Ebenso hält er fest, dass ein Krieg dem Gegner stets offiziell erklärt werden. 8 Augustinus präzisiert, die Autorität, einen Krieg zu erklären, liege einzig bei Gott oder Personen, die sein Gesetz vertreten, und stellt heraus, ein gerechter Krieg diene der Verteidigung gegen Aggression. 9 Und Thomas von Aquin fügt unter der Annahme, Kriege seien als Fälle kollektiver Notwehr gerechtfertigt, das sogenannte Prinzip der Doppelwirkung hinzu, welches es erlaubt, Menschen in Notwehr zu töten, wenn die primäre Absicht nicht darin bestehe, den Tod herbeizuführen, sondern den eigenen Schutz zu wahren. Dabei macht er auch erstmals darauf aufmerksam, das Töten in Notwehr und im Krieg müsse proportional, d. h. verhältnismäßig sein. Proportional sei das Anwenden von Gewalt nach Thomas dann, wenn nicht mehr Gewalt angewendet werde, als zum Schutz des eigenen Lebens notwendig sei, und wenn durch die Gewalt ein höheres Gut erreicht werde. 10 In einer Theorie zusammen- und weiter ausgeführt werden die Überlegungen insbesondere durch Francisco de Vitoria und Hugo Grotius, die die bis dahin sehr kirchlichen Lehren säkularisieren und den Weg der Theorie des gerechten Krieges in das Völkerrecht vorbereiten. Die moderne Diskussion der Theorie des gerechten Krieges und deren Wiederentdeckung besonders geprägt hat Michael Walzers »Just and Unjust Wars« (1977). In jüngster Zeit ist vor allem Jeff McMahan zu nennen, der versucht, die innerhalb der Theorie des gerechten Krieges formulierten Bedingungen moraltheoretisch zu begründen. 11

Vgl. Cicero: De Officiis, Buch I, Paragraf XI-XII. Vgl. Augustinus: De Civitate Dei, 1, 22, 21 und 19, 7. 10 Vgl. Thomas von Aquin: Summa Theologica 2–2, q. 6 a.1, q. 64 a.6, a.7. 11 Hier ist insbesondere McMahans 2009 erschienenes Buch »Killing in War« zu nennen. McMahan hat zudem seit 2009 zahlreiche an sein Buch anschließende Aufsätze veröffentlicht. 8 9

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Die Theorie des gerechten Krieges

Die kurze ideengeschichtliche Genese der Theorie des gerechten Krieges macht deutlich, dass es innerhalb der Theorie nicht nur um den Wert der Konsequenzen geht, die ein Krieg hat, sondern beispielsweise auch darum, mit welcher Absicht ein Krieg geführt wird, ob die Menschen, die sterben, Zivilisten sind, oder auch, ob es überhaupt einen rechtfertigenden Kriegsgrund gibt, wie etwa die eigene Verteidigung gegen Aggression. Im Rahmen der Theorie des gerechten Krieges spielt es keine Rolle, wie gut die Konsequenzen eines Krieges wären, wenn er beispielsweise mit reinen Expansionsabsichten geführt würde. Die Theorie des gerechten Krieges besteht, wie bereits erkennbar wird, aus einem umfangreichen Regelkatalog, der für den Kriegsfall einzuhalten ist. Sie unterscheidet dabei zwischen den Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit überhaupt ein Krieg begonnen werden darf (das sogenannte jus ad bellum), und denen, die es im Krieg zu erfüllen gilt, also die spezifizieren, auf welche Weise ein Krieg geführt werden müsse (das sogenannte jus in bello). Das jus ad bellum fordert, ein Krieg müsse aus einem gerechten Grund und mit einer guten Absicht geführt werden, von einer legitimen Autorität öffentlich erklärt werden, der letzte Ausweg aus einem Konflikt sein und mit einer begründeten Hoffnung auf Erfolg einhergehen. Das jus in bello hält fest, dass Zivilisten immun gegen gezielte Angriffe auf sie seien und im Krieg minimal gewaltvoll vorgegangen werden müsse. Eine Bedingung, die innerhalb der Theorie des gerechten Krieges sowohl im jus ad bellum als auch im jus in bello formuliert wird, ist die Proportionalitätsbedingung. Sie fordert, ein Krieg insgesamt, aber auch jede einzelne Handlung innerhalb eines Krieges, müsse insofern verhältnismäßig sein, als die zu erwartenden positiven Folgen die erwartbaren schlechten Folgen auf- oder überwiegen müssen. Es erscheint zunächst naheliegend, die gegebene Formulierung konsequentialistisch zu interpretieren: Proportionalitätsüberlegungen bestünden dann darin, die positiven und negativen Folgen jeweils zusammenzuziehen und dann gegeneinander aufzurechnen. Können etwa mit einem Krieg mehr Menschen vor dem ansonsten sicheren Tod im Rahmen eines Völkermordes gerettet werden, als Menschen durch einen Krieg zu Tode kommen, so ist der Krieg verhältnismäßig. (Ob er erlaubt ist, hängt davon ab, ob auch die übrigen Bedingungen der Theorie des gerechten Krieges erfüllt sind.) Die Theorie des gerechten Krieges wird in aller Regel von Deontologinnen vertreten. 35 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Thematische und methodische Eingrenzungen

Deontologinnen haben jedoch mitunter große Vorbehalte gegen das skizzierte Zusammenziehen und miteinander Verrechnen von guten und schlechten Folgen, die verschiedene Personen erleiden. Im Zentrum dieser Arbeit steht die Frage, inwiefern deontologische Ansätze Ressourcen haben, die Proportionalitätsbedingung so zu verstehen, dass sie zum einen keine konsequentialistische Überlegung abbildet und zum anderen nicht so restriktiv ist, dass sie unerfüllbar ist und damit die Theorie des gerechten Krieges in einen Just War Pacifism mündet. Ich werde auf die zahlreichen Bedingungen der Theorie des gerechten Kriegs im nächsten Kapitel ausführlich eingehen. Im dritten Kapitel werde ich die deontologischen Vorbehalte gegen typisch konsequentialistische Überlegungen im Zusammenhang mit der Proportionalitätsbedingung genauer ausführen und sie im siebten Kapitel plausibilisieren. Auch wenn die Theorie des gerechten Krieges in der Regel von Deontologinnen vertreten wird, die sich mit dieser Theorie möglicherweise auf einen Pazifismus festlegen, kann sie jedoch auch von Vertreterinnen einer realistischen Position adaptiert werden. Realistinnen weisen die eingangs gestellte Frage nach der moralischen Zulässigkeit von Krieg damit zurück, dass moralische Überlegungen bei der Rechtfertigung von Krieg nicht relevant seien. Ich werde diese Position im nächsten Abschnitt etwas genauer darstellen.

1.3 Realismus Sowohl Pazifistinnen als auch deontologische Vertreterinnen der Theorie des gerechten Krieges gehen davon aus, dass unsere Handlungen an moralischen Prinzipien ausgerichtet werden sollten und es für deren moralische Bewertung nicht (oder wenigstens nicht nur) relevant ist, inwiefern Handlungen unsere eigenen Interessen befördern. Dies gelte sowohl für das Handeln von Individuen als Privatpersonen als auch für das Handeln von staatlichen Akteuren und von Kollektiven wie Staaten. Ob ein Staat einen Krieg führen darf, hänge daher nicht (nur) davon ab, ob der Krieg im nationalen Eigeninteresse des Staates und seiner Bürger ist, sondern von zahlreichen moralischen Überlegungen, wie sie etwa innerhalb der Theorie des gerechten Krieges angestellt werden. Realisten dagegen glauben, ausschließlich die eigenen nationalen Interessen, nicht moralische Prin-

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Realismus

zipien und beispielsweise Gerechtigkeitsideale 12 spielten für die Zulässigkeit des Kriegführens eine Rolle. 13 Die realistische These lässt sich dabei auf zwei Weisen interpretieren. Einer ersten Lesart nach handelt es sich um eine rein deskriptive Behauptung: Staaten und staatliche Akteure verfolgen de facto nur ihre eigenen Interessen. 14 Wenn Staaten über Krieg nachdenken, dann stellen sie de facto keine moralischen Überlegungen an. Staaten sind mit Blick auf Krieg de facto nicht moralisch motiviert, sondern es geht um Macht, Sicherheit, Selbsterhalt und internationalen Einfluss, also um pures Eigeninteresse. 15 Einer zweiten Lesart nach haben wir es mit einer normativen Behauptung zu tun: Staaten sollten nur ihre nationalen Eigeninteressen verfolgen. Sie sollten sich nicht darum bemühen, beispielsweise global für mehr Gleichheit oder Gerechtigkeit zu sorgen, sondern sich ausschließlich um die Interessen ihrer eigenen Bürger kümmern. 16 Wenn Staaten über Krieg nachdenken, sollten sie keine moralischen Überlegungen in dem Sinne ins Spiel bringen, dass die Interessen aller betroffenen Menschen berücksichtigt und geschützt werden. Staaten sollten in der Frage nach Krieg nicht in diesem Sinne moralisch motiviert sein. Die deskriptive These unterstützt die normative These. Denn ein Staat, der sich international moralisch verhält, könnte von anderen Staaten, die insofern weniger moralisch agieren, als sie nur ihre eigenen Interessen verfolgen, ausgebeutet werden. Zudem könnte ein Staat, der eine uneigennützige Politik verfolgt, schließlich weder für sich selbst noch international irgendetwas erreichen, weil die meisten übrigen Staaten nicht ebenfalls eine solche Politik verfolgen. Es ist also unklug, wenn nicht sogar moralisch fragwürdig, sich moralisch im Sinne von uneigennützig zu verhalten. 17 Inwiefern die deskriptive realistische These überzeugen kann, ist eine empirische Frage. Michael Walzer etwa bestreitet, dass Staaten nur ihre eigenen Interessen verfolgen. Er argumentiert, Staaten Vgl. Caney 2005, S. 7. Klassische Vertreter des Realismus sind Niccolò Machiavelli, Thomas Hobbes und Carl von Clausewitz. In neuerer Zeit sind beispielsweise Hans Morgenthau, George Kennan und Kenneth Waltz zu nennen. 14 Vgl. Caney 2005, S. 7. Caney nennt diese deskriptive These einen »empirical and explanatory claim«. 15 Vgl. Orend 2005, S. 14. 16 Vgl. Caney 2005, S. 7. 17 Vgl. Orend 2005, S. 14, und Caney 2005, S. 7. 12 13

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Thematische und methodische Eingrenzungen

könnten gar nicht anders, als sich (auch) moralisch zu verhalten und die Interessen anderer in den Blick zu nehmen, da sie von Individuen geschaffen und gegründet werden, die sich nun einmal moralisch verhalten und auch moralisch verhalten wollen. 18 Auch die Behauptung, an moralischen Idealen orientierte Staaten liefen Gefahr, ausgenutzt zu werden und nicht länger bestehen zu können, erscheint fragwürdig. Die normative realistische These stellt eine größere Herausforderung dar, da sie meiner Grundannahme, Krieg sei ein Unterfangen, in dem moralische Überlegungen eine zentrale Rolle spielen, entgegensteht. Inwiefern eine realistische Position hinsichtlich ihrer normativen Aussagen überzeugen kann, ist umstritten. 19 Dies hat auch damit zu tun, dass es viele verschiedene Versionen des Realismus gibt. Ich werde jedoch auf eine Diskussion des Realismus im Rahmen dieser Arbeit vollständig verzichten, da jegliche Überlegungen gegen oder auch zugunsten des Realismus unerheblich für das Ziel der Arbeit sind. Die Frage, der ich nachgehen werde, ist die, ob Deontologinnen auf eine pazifistische Position festgelegt sind, wenn sie zwar die Theorie des gerechten Krieges vertreten, diese aber frei von typisch konsequentialistischen Überlegungen halten. Die Antwort auf diese Frage hängt nicht von der Plausibilität des Realismus ab. Denn ob ein deontologischer Zugang zu Krieg in einen Pazifismus mündet, ist unabhängig davon, ob dieser Zugang – oder überhaupt ein moralischer – angemessen ist. Realisten können zugeben, dass Deontologinnen möglicherweise einen Pazifismus vertreten müssen, aber bestreiten, dass ein solcher Pazifismus adäquat begründet ist. Bevor ich mit der Beantwortung der Frage, ob sich aus einer deontologischen Theorie des gerechten Krieges ein Pazifismus ableitet, beginnen kann, indem ich in einem ersten Schritt die Theorie des gerechten Krieges ausführlicher darstelle, werde ich noch in kurzer Form darlegen, wie ich bei der Untersuchung der Theorie des gerechten Krieges hinsichtlich ihrer pazifistischen Implikationen methodisch vorgehen werde.

Vgl. Walzer 1977, S. 20. Robert Holmes (1989) und Simon Caney (2005) diskutieren den normativen (auch: politischen) Realismus ausführlich und weisen ihn zurück.

18 19

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Methodisches Vorgehen

1.4 Methodisches Vorgehen Krieg ist eine hochkomplexe Angelegenheit. Ein Krieg besteht aus vielen zwischen verschiedenen Akteuren koordinierten und oft gleichzeitig verlaufenden Einzelhandlungen. Krieg hat immer eine Vorgeschichte, er wird von Kollektiven geführt und ist international geregelt. Einer Antwort auf die Frage, wie Krieg moralisch zu beurteilen ist, lässt sich angesichts dieser Komplexität methodisch grundsätzlich auf zwei Weisen nähern. 20 Zum einen lässt sich so vorgehen, dass nicht die Praxis des Kriegführens selbst den Ausgangspunkt bildet, sondern andere Überlegungen Denn Kriege sind so komplex, so unübersichtlich und es geschehen zu viele verschiedene Dinge gleichzeitig, die moralisch relevant sein könnten, dass unsere Intuitionen mit Blick auf Krieg oft unsicher sind. Stattdessen bilden daher alltägliche Fälle außerhalb der Kriegspraxis den Ausgangspunkt der Überlegungen. Dabei geht es um Fälle, die uns intuitiv näher und die übersichtlicher strukturiert sind. Typischerweise werden hierzu Fälle von individueller Notwehr und Nothilfe herangezogen und es wird angenommen, dass sie Fällen von Defensivkriegen und humanitären Interventionen hinreichend ähnlich sind. Aus diesen individuellen Fällen werden dann Prinzipien abgeleitet, die sowohl für Fälle außerhalb von Krieg als auch für den Kriegsfall gelten müssen. Dieses Vorgehen lässt sich auch als »reduktiv« bezeichnen, weil der Kriegsfall auf einen Nicht-Kriegsfall reduziert wird. Dabei können nun entweder die zu analysierenden Fällen so beschrieben werden, dass ausschließlich Individuen involviert sind 21, oder so, dass es sich um Gruppen handelt, die koordiniert agieren. Entweder werden dann Fälle von Notwehr zwischen zwei Einzelpersonen beschrieben und daraufhin untersucht, unter welchen Umständen, auf welche Weise und aus welchem Grund sich eine Person gegen eine andere Person gewaltsam verteidigen darf. Oder es wird untersucht, wie sich zwei kleinere Gruppen von PerDie Ausführungen folgen Seth Lazars Artikel im Oxford Handbook of Ethics of War (2016), das einen sehr guten und ausführlichen Überblick über verschiedene methodische Zugangsweisen zur Moral des Krieges inklusive einer kritischen Diskussion der Ansätze bietet. 21 Reduktiv und dabei individualistisch geht, besonders einflussreich, Jeff McMahan in seiner Kritik an Michael Walzer vor, aber auch andere Philosophinnen und Philosophen arbeiten ausgehend von individuellen Gewaltfällen, z. B. Helen Frowe, Cecil Fabre, Robert Holmes, Richard Norman, David Rodin und Richard Arneson. 20

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sonen, die jeweils ein gemeinsames Ziel haben und zusammenarbeiten, im Konfliktfall zueinander verhalten dürfen. 22 Unabhängig davon, ob diese Perspektive eine individualistische oder eine kollektivistische ist – die Annahme hinter einem reduktiven Vorgehen ist, dass die moralischen Regeln, die außerhalb von Krieg gelten, auch für den Kriegsfall gelten müssen. Auch wenn es Unterschiede zwischen Krieg und (individueller) Notwehr gibt, so seien diese Unterschiede doch nicht so bedeutsam, dass die Moral des Krieges deutlich verschieden von der außerhalb des Krieges sein könne. Zum anderen lässt sich aber auch so vorgehen, dass genau mit dem begonnen wird, was letztlich untersucht werden soll, nämlich mit der Praxis des Kriegführens. Den Startpunkt bildet dann alles das, was typisch und auch besonders für Krieg ist. Zu berücksichtigen sind dabei auch tradierte Konventionen des Kriegführens und bestehendes Völkerrecht. Es wird also genau das in den Blick genommen, was Krieg von dem, was wir sonst moralisch bewerten, unterscheidet: dass Krieg zwischen Staaten stattfindet, nicht zwischen Individuen, dass es um politische Interessen geht, nicht um persönliche, dass es sich um einen Konflikt handelt, an dem sehr viele Menschen beteiligt und von dem sehr viele Menschen betroffen sind, dass er institutionalisiert ist, usw. Dahinter steht die Annahme, dass diese Unterschiede sehr relevant dafür sind, wie Krieg moralisch zu beurteilen ist. 23 Diese beiden methodischen Herangehensweisen beim Nachdenken über die Moral des Krieges führen nicht zwangsläufig zu unterschiedlichen Ergebnissen. Ein Pazifismus beispielsweise lässt sich sowohl reduktivistisch als auch nicht-reduktivistisch begründen Eine reduktivistisch vorgehende Pazifistin könnte beispielsweise argumentieren, das Töten eines Angreifers in individueller Notwehr sei moralisch nicht zu rechtfertigen, und daraus schließen, das Führen von Defensivkriegen als eine Form kollektiver Notwehr sei ebenfalls moralisch verboten. 24 Eine nicht-reduktivistisch argumentierende Pazifistin kann versuchen, die These plausibel zu machen, dass Kriege Der kollektivistische Ansatz ist bisher kaum vertreten worden, zu nennen scheint hier lediglich Lazar selbst als der Verfasser des Artikels zur Methode, über die Moral des Krieges nachzudenken. 23 Klassisch findet sich dieses Vorgehen bei Michael Walzer (1977), der genau dafür von Jeff McMahan (2009) kritisiert wird. Jüngere Vertreter sind beispielsweise Henry Shue (2012), Jeremy Waldron (2010) und Yitzhak Benbaji (2011). 24 So argumentiert beispielsweise Rüdiger Bittner (2006). 22

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Methodisches Vorgehen

aufgrund ihrer besonderen Eigenschaft, unübersichtlich und nicht kalkulierbar zu sein, ständig zu eskalieren drohen und damit mehr zivile Opfer fordern, als sich rechtfertigen ließe. Es stellt sich aber die Frage, ob eine der Methoden besser bzw. geeigneter ist, wenn es um die moralische Bewertung von Krieg geht. Ich werde in dieser Arbeit vor allem reduktivistisch argumentieren und dabei zumeist Fälle zwischen Individuen, nicht Kollektiven, diskutieren. Der Grund für ein reduktivistisches Vorgehen ist zum einen, dass ich die These für zweifelhaft halte, die Besonderheiten des Krieges seien von so großer moralischer Relevanz, dass sie nicht von anderen Situationen auf Krieg übertragen werden können. So erscheint es mir beispielsweise sehr begründungsbedürftig, weshalb die besonderen Eigenschaften von Kriegen, dass sie institutionalisiert sind, in sie typischerweise Staaten involviert sind, mit ihnen (auch) politische Interessen verfolgt werden oder dass sie die Interessen sehr vieler Menschen schützen oder bedrohen, es eher erlauben könnten, unbeteiligte oder unschuldige Menschen zu töten, als dies in Fällen individueller Notwehr zulässig wäre. Zum anderen wird die Bedingung der Theorie des gerechten Krieges, der ich mich in dieser Arbeit vorrangig widme – die Proportionalitätsbedingung –, in der Literatur vornehmlich vor dem Hintergrund einer reduktivistischen Methode diskutiert. Dieses Vorgehen in der Literatur erscheint aber auch insofern plausibel, als es vor dem Hintergrund von konsequentialistischen oder deontologischen Moraltheorien erfolgt, die grundsätzlich davon ausgehen, dass diejenigen Merkmale, die eine Handlung in einem individuellen Kontext moralisch erlaubt, geboten oder verboten machen, auch die moralische Bewertung von Handlungen in einem kollektiven Kontext festlegen. Für eine Konsequentialistin etwa, die glaubt, es solle diejenige Handlung ausgeführt werden, die im Lichte der Alternativen zu den besten Konsequenzen führt, spielt es keine Rolle, ob die Handlung eine zwischen Individuen oder zwischen kollektiven staatlichen Akteuren ist, die politische Interessen verfolgen, solange diese Unterschiede keinen Einfluss auf die Konsequenzen der Handlung haben. Eine konsistente Moraltheorie wird mit dem Ziel verbunden sein, das Handeln von Institutionen nicht grundlegend anders zu beurteilen als das Handeln zwischen Einzelpersonen. Um zu ermitteln, welche Überlegungen für die moralische Bewertung von Kriegen eine Rolle spielen, lohnt es sich daher, Klarheit darüber zu gewinnen, unter welchen Umständen wir es in anderen, 41 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Thematische und methodische Eingrenzungen

weit weniger komplexen Situationen für moralisch zulässig halten, Gewalt anzuwenden. Und da Moraltheorien in erster Linie Auskunft darüber geben, welche Prinzipien individuelles Handeln leiten, ist es hilfreich, insbesondere individuelle Kontexte zum Ausgangspunkt der Überlegung zu machen. Ich werde daher in dieser Arbeit erstens reduktivistisch und zweitens vornehmlich individualistisch argumentieren. Dort, wo die Besonderheit, dass Krieg ein kollektives Unterfangen ist, relevant erscheint, werde ich darauf eingehen, indem ich auch Fälle diskutiere, in denen mehrere Personen gemeinsam eine koordinierte Handlung ausführen.

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2. Die Theorie des gerechten Krieges

Vertreterinnen der Theorie des gerechten Krieges teilen mit Pazifistinnen die Ansicht, dass Kriege ein großes Übel sind, das im Idealfall niemals stattfindet. Im Gegensatz zu Pazifistinnen meinen Vertreterinnen der Theorie des gerechten Krieges jedoch, dass es manchmal moralisch zulässig ist, Krieg zu führen. Die Theorie des gerechten Krieges ist dabei keine konsequentialistische oder utilitaristische Lehre. Ein Krieg ist also nicht bereits dann moralisch erlaubt, wenn es bessere Folgen hätte, ihn zu führen, als ihn nicht zu führen. Stattdessen benennt die Theorie des gerechten Krieges zahlreiche Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit ein Krieg ein gerechter bzw. ein gerechtfertigter ist. Grundsätzlich lassen sich diese Bedingungen in zwei Bedingungskomplexe aufteilen: (1) Das jus ad bellum benennt Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit ein Krieg begonnen werden darf, und (2) das jus in bello regelt die Art und Weise, in der ein Krieg zu führen ist. 1 Ein gerechter Krieg ist einer, der die Bedingungen beider Komplexe erfüllt. Die zahlreichen Bedingungen der Theorie des gerechten Krieges sind nicht nur Teil der Moralphilosophie, sondern sind auch im internationalen Völkerrecht verankert. So ist beispielsweise in der Charta

Gelegentlich wird das jus post bellum als ein dritter Bedingungskomplex angeführt. Das jus post bellum gibt an, wie sich die Kriegsparteien, vor allem der Kriegssieger, nach Beenden des Krieges zu verhalten haben. Beispielsweise muss der Kriegssieger Schäden, die er verursacht hat und für die er moralisch verantwortlich ist, möglicherweise kompensieren. Obwohl das jus post bellum keine Diskussion erfahren soll, ist anzumerken, dass die hier angestellten Überlegungen dennoch insofern relevant für die Erfüllbarkeit des jus post bellum sein können, als eventuelle Verpflichtungen zu Kompensationsleistungen nicht erst die moralische Bewertung des Nachkriegszustandes beeinflussen, sondern unter Umständen auch schon für das jus ad bellum und das jus in bello relevant sind. Der Erfüllung kompensatorischer Pflichten widme ich mich ausführlicher in Kapitel 7.

1

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Die Theorie des gerechten Krieges

der Vereinten Nationen von 1945 2 das Führen von Angriffskriegen verboten. Staaten sind danach nur berechtigt, zu ihrer eigenen Verteidigung einen Krieg zu führen. Die Entscheidung, einen Krieg zu führen, der nicht unmittelbar der eigenen Verteidigung dient, sondern dem Schutz anderer Staaten oder dem Schutz von Menschen vor massiven Menschenrechtsverletzungen, liegt dagegen nicht bei einzelnen Staaten, sondern muss durch den in einem solchen Fall zuständigen UN-Sicherheitsrat autorisiert werden. In der Charta der Vereinten Nationen festgeschrieben ist auch, dass ein Krieg nur dann legitim ist, wenn er den letzten Ausweg aus einer Konfliktsituation darstellt, und wenn er international öffentlich erklärt und begründet wird. Die Genfer Konventionen ergänzen seit 1949 diese Bestimmungen durch Regelungen, wie im Krieg die Menschenrechte von Menschen geschützt werden können, die nicht an Kampfeshandlungen teilnehmen. 3 So dürfen beispielsweise Zivilisten und Mitarbeiterinnen humanitärer Einrichtungen wie dem Deutschen Roten Kreuz nicht direkt angegriffen werden und es ist Sorge dafür zu tragen, dass sie nur insoweit zu Schaden kommen, als es im Lichte strategischer Überlegungen unvermeidlich ist. Im Völkerrecht finden sich also Bestimmungen dazu, wann ein Krieg begonnen werden darf, als auch dazu, wie ein Krieg geführt werden muss. Aus moralphilosophischer Sicht bringen die meisten der Bedingungen des jus ad bellum und des jus in bello Überlegungen zum Ausdruck, die insofern typisch deontologisch sind, als sie auf Dinge verweisen, die jenseits der Konsequenzen eines Krieges für dessen moralische Bewertung wichtig sind. So verweisen Deontologinnen beispielsweise darauf, dass es einen moralisch relevanten Unterschied dazwischen gibt, ob eine Schädigung beabsichtigt oder nur vorhergesehen ist oder ob sie das Ergebnis eines Tuns oder eines Unterlassens ist. Im Fokus dieser Abhandlung liegt eine bestimmte Bedingung der Theorie des gerechten Krieges, die sich sowohl im jus ad bellum als auch im jus in bello findet: die Forderung nach Proportionalität oder Verhältnismäßigkeit. Eine Diskussion der Frage, wie Proportionalität zu bestimmen ist und ob eine deontologische Interpretation von ProCharta der Vereinten Nationen, insbesondere Kapitel V-VIII. Abrufbar unter: https://www.unric.org/html/german/pdf/charta.pdf. 3 Genfer Konventionen, insbesondere das vierte Abkommen über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten sowie die Zusatzprotokolle I und II. Abrufbar unter: https://www.humanrights.ch/de/internationale-menschenrechte/humanitaeresvoelkerrecht/genfer-abkommen/. 2

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Wann darf Krieg geführt werden? – Das jus ad bellum

portionalität die Theorie des gerechten Krieges mit einem Pazifismus zusammenfallen lässt, kann nicht völlig losgelöst von den übrigen Bedingungen der Theorie des gerechten Krieges erfolgen. Ich werde daher in den folgenden zwei Abschnitten die Bedingungen des jus ad bellum und des jus in bello vorstellen und ihre moralische Geltung plausibel machen. Dabei werde ich eine genaue Interpretation der Proportionalitätsbedingung, sowohl im jus ad bellum als auch im jus in bello, noch offenlassen. Der Frage, was genau mit »Proportionalität« gemeint ist, widme ich mich dann ausführlich ab Kapitel 3.

2.1 Wann darf Krieg geführt werden? – Das jus ad bellum In der aktuellen philosophischen Literatur wird das jus ad bellum weitestgehend einheitlich dargestellt. Es umfasst hernach die folgenden sechs Bedingungen 4, die in den nächsten Abschnitten genauer erläutert werden: (1) Gerechter Grund (just cause): einen Krieg zu führen, kann nur dann moralisch gerechtfertigt sein, wenn es einen moralisch guten Grund bzw. einen entsprechenden Anlass für den Krieg gibt; (2) Moralisch gute Absicht (right intention): der fragliche Krieg muss mit einer moralisch guten Absicht – mit einem moralisch guten Ziel – geführt werden; (3) Zuständige Autorität und öffentliche Erklärung (proper authority and public declaration): die Entscheidung, einen Krieg zu führen, kann nur von denjenigen Personen oder Institutionen gefällt werden, die dazu autorisiert sind, und die Entscheidung muss der Bevölkerung, dem Kriegsgegner und u. U. anderen Staaten öffentlich mitgeteilt werden; (4) Letzter Ausweg (last resort) oder Notwenigkeit (necessity): der Krieg muss das letzte verfügbare Mittel sein, das eine Lösung des bestehenden Konflikts noch erwarten lässt;

S. z. B. Fiala 2004, S. 80, Orend 2005, S. 4 ff., Hurka 2007, S. 199 und 2008, S. 127. Diese Bedingungen finden sich bereits bei Cicero (last resort, public declaration), Augustinus (just cause, legitimate authority) und Thomas von Aquin (proportionality, necessity).

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Die Theorie des gerechten Krieges

(5) Begründete Hoffnung auf Erfolg (reasonable hope of success) oder Erfolgswahrscheinlichkeit (probability of success): es muss eine reale Chance darauf bestehen, den Krieg gewinnen bzw. den Konflikt durch einen Krieg lösen zu können; (6) Proportionalität (ad bellum-proportionality): die zu erwartenden guten Folgen des Krieges müssen seine zu erwartenden schlechten Folgen überwiegen. Im nächsten Abschnitt werde ich genauer erläutern, was es inhaltlich mit diesen sechs Bedingungen auf sich hat und inwiefern sie voneinander abhängen. Dabei werde ich auch einige begriffliche Präzisierungen vornehmen. Die sechs Bedingungen des jus ad bellum können als einzeln notwendig und gemeinsam hinreichend verstanden werden. So schreibt auch Brian Orend: Just war theory insists all six criteria must each be fulfilled for a particular declaration of war to be justified: it’s all or no justification, so to speak. 5

Es gilt demnach, dass ein Krieg moralisch falsch ist, wenn mindestens eine der sechs Bedingungen verletzt ist. Moralisch gerechtfertigt ist er nur, wenn alle sechs erfüllt sind. Jede der sechs Bedingungen ist also einzeln notwendig dafür, dass es erlaubt ist, einen Krieg zu führen. Die Bedingungen können darüber hinaus auch als gemeinsam hinreichend dafür verstanden werden, dass ein Krieg moralisch gerechtfertigt ist. Nach diesem Verständnis liegt eine Rechtfertigung für einen Krieg vor, wenn alle sechs Bedingungen erfüllt sind; ein Krieg könnte dann nicht nur gerechtfertigt sein, sondern ist es auch tatsächlich. Gerade in der jüngeren, von Jeff McMahan angestoßenen Diskussion der Theorie des gerechten Krieges werden die Bedingungen nicht mehr als notwendig (und womöglich auch nicht als hinreichend) für die Zulässigkeit des Kriegführens verstanden. Stattdessen wird ein Verständnis zugrunde gelegt, welchem zufolge ein Krieg, der mindestens eine der sechs Bedingungen verletzt, überaus schwer zu rechtfertigen ist. Erfüllt ein Krieg eine der Bedingungen nicht, so ist er demnach nicht unmittelbar verboten, sondern die Tatsache, dass er eine Bedingung nicht erfüllt, spricht sehr stark gegen ihn. Das Führen eines Krieges kann damit erlaubt sein, sofern sich argumentieren 5

Orend 2005, S. 8.

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lässt, dass etwas noch Gewichtigeres für ihn spricht, als aufgrund des Verletzens einer der Bedingungen gegen ihn spricht. Damit gilt, dass jede der sechs Bedingungen für sich genommen sehr wichtig ist, ohne dabei notwendig zu sein. Ich werde im Folgenden jedoch nicht unterscheiden, ob ein Krieg dann, wenn er eine der Bedingungen der Theorie des gerechten Krieges verletzt, unmittelbar falsch oder nur äußerst schwer zu rechtfertigen ist. Die stärkere These, ein sei Krieg verboten, wenn er eine der Bedingungen nicht erfüllt, impliziert die schwächere These, ein solcher Krieg sei nur sehr schwer zu rechtfertigen. Weiterhin werde ich davon ausgehen, dass das Verletzen einer Bedingung nicht dadurch gerechtfertigt werden kann, dass andere Bedingungen erfüllt werden. Werden beispielsweise kaum oder keine Versuche unternommen, einen Konflikt mittels Diplomatie zu lösen, so lässt sich ein Krieg auch nicht mit Verweis darauf rechtfertigen, dass es einen gerechten Kriegsgrund gibt oder dass der Krieg mit einer moralisch guten Absicht geführt wird. Eine der Bedingungen des jus ad bellum zu verletzen, bedeutet demnach in aller Regel nicht nur, einen Krieg nur sehr schwer rechtfertigen zu können. Es bedeutet vielmehr, ihn überhaupt nicht rechtfertigen zu können. Die Frage, ob die Bedingungen tatsächlich gemeinsam hinreichend für die moralische Zulässigkeit eines Krieges sind oder ob noch weitere Überlegungen hinzutreten können, ist für diese Arbeit nicht relevant. Ich widme mich hier vor allem der Proportionalitätsbedingung, von der es zu prüfen gilt, ob sie überhaupt jemals erfüllt ist. Es wird sich dabei herausstellen, dass sie, wenn sie auf eine noch zu erarbeitende Weise verstanden wird, nicht erfüllt werden kann. Damit ist es für diese Arbeit nicht von Bedeutung, ob ein Krieg immer erlaubt ist, wenn er alle Bedingungen des jus ad bellum erfüllt. Da die Proportionalitätsbedingung in eine umfassendere Theorie eingebettet ist aufgrund dessen, dass sie mit anderen Bedingungen innerhalb der Theorie des gerechten Krieges zusammenhängt, nicht vollkommen losgelöst von diesen diskutiert werden kann, werde ich im Folgenden zunächst die sechs Bedingungen des jus ad bellum einzeln erläutern und diskutieren.

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Gerechter Grund – Ein Krieg rechtfertigender Anlass Die Bedingung, es müsse immer einen gerechten Grund geben, Krieg zu führen, ist das Herzstück des jus ad bellum. Je nachdem, ob der Staat, der einen Krieg erwägt, diese Bedingung erfüllt oder nicht, färbt dies auch auf die Erfüllbarkeit der übrigen Bedingungen ab. Hinter dieser Bedingung steht die Idee, ein Staat dürfe nicht aus irgendwelchen Gründen Krieg führen, sondern nur aus bestimmten – guten bzw. gerechten – Gründen. Die Rede vom »gerechten Grund« als Übersetzung für das englische »just cause« ist in der deutschsprachigen Literatur zur Theorie des gerechten Krieges üblich. 6 Die Bedingung des gerechten Grundes meint dabei nicht, dass Staaten nur in dem Sinne aus einem bestimmten Grund einen Krieg beginnen dürfen, als sie nur bestimmte Motive haben dürfen. Dieses Verständnis wird eher durch die Bedingung der guten Absicht abgedeckt (mehr dazu im nächsten Abschnitt). Gemeint ist vielmehr, dass es einen Grund im Sinne eines Anlasses geben muss, der Staaten wiederum Gründe dafür liefert, einen Krieg zu führen. Ich werde daher im Folgenden nicht von gerechten Gründen sprechen, sondern von Anlässen. Außerdem werde ich nicht weiter von »gerechten« Anlässen sprechen, sondern stattdessen von »rechtfertigenden« Anlässen für einen Krieg. Mir scheint nämlich, es geht der Theorie des gerechten Krieges weniger darum, Gerechtigkeitskriterien zu formulieren, sondern mehr darum darzulegen, wann ein Krieg moralisch gerechtfertigt, zulässig oder erlaubt ist. Zudem erscheint mir, dass beispielsweise der Umstand, dass ein Völkermord geschieht, einen Anlass für einen Krieg darstellen könnte. Aber gerecht wäre dieser Anlass nicht. Er wäre rechtfertigend für einen Krieg. Die Theorie des gerechten (gerechtfertigten) Krieges fordert also, Krieg nur zu führen, wenn es einen Anlass gibt, der eine Rechtfertigung für einen Krieg darstellen kann. Doch welche Anlässe sind es, die es Staaten erlauben, einen Krieg zu führen? Unumstritten als einen Krieg rechtfertigende Anlässe gelten die Verteidigung eines Staates gegen einen Angriff auf dessen Territorium oder auf die Bevölkerung des Staates sowie die Verteidigung oder Unterstützung eines anderen Staates gegen einen Angriff. 7 6 7

S. z. B. Schaber 2013, Hinsch 2017. Orend 2005, S. 5., Hurka 2005, S. 35., Norman 1995, S. 119 f.

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Wann darf Krieg geführt werden? – Das jus ad bellum

Rechtfertigende Anlässe für einen Krieg liegen also bei Defensivkriegen vor. Richard Norman meint in diesem Zusammenhang, Verteidigung sei der einzig mögliche rechtfertigende Anlass: »[…] the only justification for going to war is therefore as defence against aggression.« 8 Da fraglich ist, inwiefern der Schutz von Menschen gegen Menschenrechtsverletzungen als eine Form der Verteidigung im strengen Sinne aufgefasst werden kann, sind humanitäre Kriege sowohl moralisch und politisch als auch völkerrechtlich strittig. 9 Über die dargestellten rechtfertigenden Kriegsanlässe hinaus wird manchmal ein weiterer genannt: Strafe für ein bisher unkorrigiert gebliebenes gravierendes Unrecht. So fasst etwa Brian Orend die rechtfertigenden Anlässe für einen Krieg folgendermaßen zusammen: The just causes most frequently mentioned include: self-defence from external attack; the defence of others from such; the protection of innocents from brutal, aggressive regimes; and punishment for a grievous wrongdoing which remains uncorrected. 10

Ob Strafe für ein begangenes Unrecht einen rechtfertigenden Kriegsanlass darstellen kann, ist alles andere als klar. Denn zum einen stellt sich die Frage, ob der Begriff der Strafe hier auch außerhalb eines juridischen Kontextes Verwendung finden sollte. Dass Gerichte bzw. Jeff McMahan und Thoams Hurka, ebenso Frances Kamm unterscheiden dabei noch differenzierter zwischen verschiedenen Arten rechtfertigender Kriegsanlässe. So unterscheidet etwa McMahan zwischen »sufficient just causes« und »contributing just causes«, wobei gilt, dass erstere für sich genommen bereits so gewichtig sind, dass sie einen Kriegsanlass darstellen. Sie entsprechen den vier hie genannten Anlässen. Zweitere dagegen können für sich genommen noch keinen rechtfertigenden Kriegsanlass liefern, können aber zu den »sufficient just causes« hinzutreten. Dass beispielsweise Mädchen in einem diktatorischen Regime nicht die Schule besuchen dürfen, gibt keinen Anlass für etwas so Schreckliches wie einen Krieg gegen das Regime. Wenn aber darüber hinaus auch eine ethnische Gruppierung systematisch verfolgt und ermordet wird, stellt dies eine »sufficient just cause« für einen Krieg dar. Der Umstand, dass Mädchen unterdrückt werden, kann dann eine noch umfangreichere Rechtfertigung für einen Krieg liefern. Vgl. hierzu McMahan 2014a, Hurka 2005 und 2008 sowie Kamm 2011. 8 Norman 1995, S. 119 f. 9 Völkerrechtlich umstritten ist also, ob auch massive Menschenrechtsverletzungen, die eine Regierung innerhalb der eigenen Bevölkerung begeht, einen rechtfertigen Anlass für einen militärischen Schutz der Bevölkerung durch Dritte darstellen. S. hierzu z. B. Schaber 2013, Philips / Cady 1996, Walzer 2004 und 1977, McMahan 2010, Buchanan 2013, Sutor 2013. 10 Orend 2005, S. 5 (Hervorhebung S. T.).

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Die Theorie des gerechten Krieges

entsprechend bevollmächtigte Personen autorisiert sind, Strafen zu verhängen, ist unstrittig. Inwiefern aber auch Privatpersonen, andere Institutionen oder gar Staaten dazu ermächtigt sind, ist weniger klar. Zwar sprechen wir davon, dass beispielsweise Eltern ihre Kinder bestrafen. Jedoch ist die Beziehung von Eltern zu ihren Kindern eine andere als die von Staaten zueinander. Es bliebe daher zu klären, inwiefern Staaten die Autorität besitzen, andere Staaten für ihr Handeln zu bestrafen, indem sie sowohl ein Strafmaß ermitteln als auch die Strafe vollziehen. Darüber hinaus ist die Überlegung, ein Krieg könne eine Strafe darstellen, auch deshalb diskutabel, weil gerechtfertigte Kriege immer auch im gerechtfertigten Töten von Menschen bestehen. Inwiefern der Tod aber eine zulässige Strafe für ein gravierendes Unrecht sein kann, ist ebenfalls umstritten. Man bedenke, dass etwa die Todesstrafe in individuellen Fällen aus moralphilosophischer Sicht häufig abgelehnt wird. 11 Hinzu kommt, dass im Krieg absehbar Menschen sterben, die kein Unrecht begangen haben und daher keine Strafe verdient haben. Angesichts dieser Schwierigkeiten werde ich den Gedanken, ein Krieg könne eine gerechtfertigte Strafe für ein begangenes Unrecht, etwa massive Menschenrechtsverletzungen, darstellen, beiseite lassen und bei den bisher genannten und weniger kontroversen rechtfertigenden Kriegsanlässen – Selbstverteidigung eines Staates, Verteidigung eines anderen Staates – und dem kontroversen Schutz Unschuldiger vor der eigenen Regierung bleiben. 12 Diese Anlässe haben einen gemeinsamen Nenner, nämlich den gerechtfertigten militärischen Widerstand gegen 13 oder einen Schutz vor ungerechtfertigter Aggression.

Für eine Diskussion der Analogie zur Todesstrafe s. Norman 1995, S. 182 ff. Ebenfalls kontrovers sind Präventivkriege. Es ist nämlich umstritten, ob es jemals gerechtfertigt sein kann, jemanden anzugreifen, von dem man zu wissen meint, dass er einen selbst angreifen wird, ohne dass dieser Angriff bereits stattgefunden hat. Einerseits ist es auch in Fällen individueller Notwehr sehr problematisch und in aller Regel verboten, einen Angreifer zu töten, bevor dieser einen Angriffsversuch unternommen hat. Andererseits ist es als die oberste Pflicht eines Staates anzusehen, seine Bürgerinnen und Bürger zu schützen. Wenn stichhaltige Beweise dafür vorliegen, dass in Kürze ein massiver Angriff erfolgen wird, der sich nicht anders als mit einem Krieg abwenden lässt, könnte es möglicherweise doch gerechtfertigt sein, präventiv gegen einen Staat vorzugehen, um die Bevölkerung vor großem Schaden zu bewahren. Vgl. hierzu auch Orend 2005, S. 7. 13 Vgl. Orend 2005, S. 5. 11 12

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Wann darf Krieg geführt werden? – Das jus ad bellum

Dass ein Krieg gerechtfertigt sein kann, wenn er einen Widerstand gegen Aggression darstellt, ließe sich damit begründen, dass eine solche Rechtfertigung auch in Fällen individueller Notwehr und Nothilfe vorliegt. 14 Die Begründungsstrategie für Krieg ist dabei diese: Weil es in individuellen Fällen erlaubt ist, einen lebensbedrohlichen Angriff auf sich selbst damit abzuwenden, dass man den Angreifer tötet, gelte analog zu individuellen Notwehrfällen, dass auch Verteidigungskriege erlaubt seien. Ebenso seien humanitäre Interventionen gerechtfertigt, weil es in individuellen Fällen einer dritten Person erlaubt ist, jemanden zu töten, der ansonsten eine andere schutzlose Person ungerechtfertigt töten würde. Humanitäre Interventionen sind demnach eine Form von Nothilfe. 15 Eine Rechtfertigung für einen Krieg aus einer Rechtfertigung für das Töten in individuellen Fällen außerhalb des Krieges zu gewinnen, erscheint als eine aussichtsreiche Strategie, wenn man von der Annahme ausgeht, dass sich die Moral des Krieges nicht grundlegend von der Moral außerhalb des Krieges unterscheidet. Doch Defensivkriege und humanitäre Kriege lassen sich nur dann durch einen Verweis auf individuelle Notwehr und Nothilfe rechtfertigen, wenn nicht nur der methodische Zugang des Reduzierens von Krieg auf individuelle Fälle legitim ist, sondern wenn auch die behauptete Analogie trägt. Das Analogie-Argument setzt bereits eine reduktive Methode voraus. Jedoch könnte ein reduktiver Zugang auch aufzeigen, dass Krieg gerade deshalb nicht gerechtfertigt ist, weil er nicht diejenigen Bedingungen erfüllt, unter denen es gerechtfertigt wäre, einen Menschen in individueller Notwehr oder Nothilfe zu töten. Dass Krieg und individuelle Notwehr und Nothilfe tatsächlich analog und damit gleichermaßen gerechtfertigt sind, muss folglich hinreichend plausibel gemacht werden. Dass die besagte Analogie trägt, lässt sich jedoch bestreiten. Denn es gibt einen wichtigen Unterschied zwischen dem, was in Fällen individueller Notwehr und Nothilfe problematisch und daher rechtfertigungsbefürftig ist, und dem, was einen Krieg schwer zu rechtfertigen macht. In individuellen Fällen wird kontrovers disSo schreibt auch Norman (1995, S. 119): »The core idea, then, is that war can be justified in self-defence.« Norman geht dabei von der Annahme aus, Krieg sei dann gerechtfertigt, wenn es sich um einen Fall kollektiver Notwehr in Analogie zu individueller Notwehr handelt und bestreitet dabei, dass Krieg die Bedingungen erfüllt, unter denen es in individuellen Fällen erlaubt wäre, jemanden in Notwehr zu töten. 15 S. hierzu Meggle 2004. 14

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Die Theorie des gerechten Krieges

kutiert, ob der Angreifer getötet werden darf, also derjenige, der droht, Menschen zu töten. In analoger Weise müsste es sich in der Diskussion der Zulässigkeit von Kriegen um die Frage drehen, ob Soldaten, Diktatoren u. Ä. getötet werden dürfen, also diejenigen Personen, die Menschenleben bedrohen. Zwar spielt diese Frage in der Kriegsethik durchaus eine Rolle. Jedoch scheint das, was Krieg so schwer zu rechtfertigen macht, weniger der Umstand zu sein, dass Soldaten, die nicht zum Kämpfen gezwungen werden, oder Regierungsmitglieder ums Leben kommen, sondern der Umstand, dass Zivilisten sterben. Doch Zivilisten kommen in individuellen Fällen in analoger Weise für gewöhnlich gar nicht vor. Es müsste hierbei um Fälle gehen, in denen nicht nur der Angreifer getötet wird. Es müsste auch unbeteiligte Dritte geben, die im Zuge der Verteidigungshandlung sterben. Individuelle Szenarien, in denen auch Unbeteiligte sterben, erscheinen aber deutlich problematischer als Szenarien ohne Unbeteiligte. Angenommen, jemand bedroht auf einem S-Bahn-Gleis meine vier Freunde und mich mit einer Waffe. Weiterhin sei angenommen, ich wäre in der Lage, den Angreifer mit einer eigenen Waffe unschädlich zu machen und so mich und meine Freunde zu beschützen. Jedoch steht direkt neben dem Angreifer eine weitere Person, die unbeteiligt ist. Es ist zu befürchten, dass ich nicht in der Lage bin, ihre Unversehrtheit zu gewährleisten, sollte ich auf den Angreifer schießen. Darf ich den Angreifer erschießen, um mich und meine Freunde zu schützen, wenn ich zugleich eine unbeteiligte Person dem ernsthaften Risiko aussetze, ebenfalls zu sterben? Meine eigenen Intuitionen in diesem Beispiel sind viel weniger klar, als sie es in einem Beispiel ohne Unbeteiligte sind. Ein bloßer Verweis darauf, dass es in individueller Notwehr oder Nothilfe erlaubt ist, einen Angreifer zu töten, liefert in jedem Fall noch keine vollständige Begründung dafür, dass Defensivkriege oder humanitäre Interventionen erlaubt sind, da die Fälle aufgrund der Rolle, die Unbeteiligte spielen, nicht analog sind. Davon unberührt bleibt die Behauptung, Widerstand gegen ungerechtfertigte Aggression stelle einen Anlass dar, der einen Krieg rechtfertigen kann. Der Umstand, dass ein Aggressor einen Staat oder die eigene Bevölkerung massiv bedroht, ist eine Voraussetzung dafür, dass es erlaubt sein kann, einen Krieg gegen ihn zu führen. Ob ein Krieg alles in allem erlaubt ist, hängt der Theorie des gerechten Krieges zufolge von weiteren Faktoren ab. 52 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Wann darf Krieg geführt werden? – Das jus ad bellum

Gute Absicht – Die Absicht, Krieg aus dem gegebenen Kriegsanlass zu führen Damit das Führen eines Krieges moralisch erlaubt sein kann, ist es nicht nur wichtig, dass ein Anlass vorliegt, der eine Rechtfertigung für eine gewaltsame Problemlösung liefert, sondern auch, den Krieg mit einer moralisch guten Absicht zu führen. Es ist wichtig, sich den Unterschied zwischen dem rechtfertigenden Anlass und der guten Absicht klar zu machen. Ein Anlass liegt vor oder nicht vor. Dass es einen Anlass für einen Krieg gibt, liefert Gründe dafür, einen Krieg zu führen. Dass beispielsweise ein Völkermord begangen wird, liefert Staaten einen Grund, dem Morden mittels eines Krieges ein Ende zu setzen. Das jus ad bellum fordert nun nicht nur, dass es einen solchen Anlass geben muss, der Staaten Gründe für einen Krieg liefert. Darüber hinaus fordert es, hinter dem Krieg müsse auch eine moralisch gute Absicht stehen. Gemeint ist damit, dass ein Staat sich das zum Ziel seines Krieges machen muss, was ihm erst einen Grund für diesen gibt. 16 Es reicht also nicht, dass ein Völkermord begangen wird. Ein intervenierender Staat muss die Intervention darüber hinaus mit der Absicht ausführen, den Völkermord zu beenden. Dass ein Krieg mit einer guten Absicht geführt werden müsse, bedeutet also nicht, dass ein Staat irgendeine Absicht hat, die wir als »gut« bezeichnen würden, etwa die Absicht, durch das Erschließen feindlicher Ressourcen den Wohlstand der eigenen Bevölkerung zu mehren. Es ist durchaus eine gute Absicht, das Wohlergehen der Bevölkerung zu steigern. Aber diese Absicht rechtfertigt keinen Krieg. Damit bleibt offen, ob diese Absicht hinzutreten darf, gegeben es gibt einen rechtfertigenden Anlass für einen Krieg und gegeben, die Absicht zielt (auch) auf das, was einen Kriegsanlass liefert. Es bleibt also offen, ob ein Staat beispielsweise ausschließlich mit der Absicht intervenieren darf, einen Völkermord zu beenden, oder ob er mit der Intervention auch weitere Ziele verfolgen darf. Ich werde diese Frage Vgl. auch Orend 2005, S. 8: »A state must intend to fight the war only for the sake of its just cause. Having the right reason for launching a war is not enough: the actual motivation behind the resort to war must also be morally appropriate. Ulterior motives, such as power or land grab, or irrational motives, such as revenge or ethnic hatred, are ruled out. The only right intention allowed is to see the just cause for resorting to war secured and consolidated. If another intention crowds in, moral corruption sets in.«

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offenlassen und in den diskutierten Fällen immer davon ausgehen, dass ein Krieg ausschließlich mit der Absicht geführt, ein Übel zu verhindern oder zu beenden, das so gravierend ist, dass es einen Kriegsanlass darstellt. Nach dem hier plausibilisierten Verständnis der Bedingung des jus ad bellum, Krieg müsse mit einer guten Absicht geführt werden, besteht ein Zusammenhang zwischen der Erfüllung dieser Bedingung und der Bedingung, Krieg benötige immer einen rechtfertigenden Anlass. Zwar ist es möglich, einen rechtfertigenden Anlass für einen Krieg vorzufinden, den Krieg aber nicht mit der richtigen Absicht zu führen, sondern mit irgendeiner anderen. Dagegen wird in der Regel gelten: Wenn es keinen Krieg rechtfertigenden Anlass gibt, dann wird ein dennoch geführter Krieg nicht mit einer guten Absicht geführt werden. Angenommen, ein diktatorisches Regime missachte die Rechte von Frauen im eigenen Land. Mädchen dürfen nicht zur Schule gehen und Frauen dürfen nicht wählen. Das Handeln des Regimes ist moralisch problematisch, und wir haben deshalb einen Grund, etwas gegen die Unterdrückung der Frauen zu unternehmen. Aber auch dieser Grund rechtfertigt noch keinen Krieg gegen das Regime. Ein Krieg scheint ein zu drastisches Mittel zu sein. Ein Krieg gegen das Regime wäre damit moralisch falsch. Daraus, dass die Bedingung des gerechtfertigten Anlasses nicht erfüllt ist, muss sich aber zugleich ergeben, dass auch die Bedingung der moralisch guten Absicht nicht erfüllt sein kann. Denn wenn die Bedingung der guten Absicht eine Absicht fordert, die sich auf den rechtfertigenden Kriegsanlass gibt, dann kann es keine in diesem Sinne gute Absicht geben, wenn es den Anlass nicht gibt. Wenn wir annehmen, dass das Leben der Frauen und Mädchen in dem Regime nicht akut bedroht ist (wenngleich die Güte ihres Lebens verbesserungsbedürftig ist), also keine Menschenleben auf dem Spiel stehen, dann ist es nicht plausibel anzunehmen, dass zur Befreiung der Frauen ein Krieg geführt werden darf. Immerhin sterben im Krieg viele Menschen, gerade Zivilisten. Die Unterdrückung von Frauen rechtfertigt nicht, viele Menschenleben durch einen Krieg zu riskieren. Wenn aber der Anlass fehlt, der einen Krieg rechtfertigen kann, kann es auch nicht die geforderte Absicht geben, einen Krieg aus dem Grund zu führen, den der Anlass liefert. Hierbei ist es bei genauerer Betrachtung allerdings wichtig, zwischen dem Vorliegen eines rechtfertigenden Anlasses im Sinne eines objektiv gegebenen Sachverhalts und der subjektiv gerechtfertigten 54 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Wann darf Krieg geführt werden? – Das jus ad bellum

Annahme eines solchen Sachverhalts zu unterscheiden. Es kann Fälle geben, in denen objektiv kein Krieg rechtfertigender Anlass vorliegt, Personen aber gute Gründe haben, vom Vorliegen eines rechtfertigenden Anlasses auszugehen, und auf dieser Grundlage eine gute Absicht ausbilden. So können beispielsweise Truppenbewegungen an Staatsgrenzen unter bestimmten Umständen als sichere Anzeichen eines Angriffs missverstanden werden. In solchen Fällen würde eine Verteidigung durchaus mit einer guten Absicht einhergehen, nämlich mit der, ein vermeintliches Übel zu beseitigen. Die These, ein Krieg könne nicht mit einer guten Absicht geführt werden, wenn kein Krieg rechtfertigender Anlass vorliegt, muss folglich abgeschwächt werden: Ein Krieg kann nicht mit einer guten Absicht geführt werden, wenn kein guter Grund zu der Annahme eines rechtfertigenden Anlasses vorliegt. Personen scheinen, wenn sie wie im Falle der missverstandenen Truppenbewegungen lediglich einen Krieg rechtfertigenden Anlasses annehmen, dazu verpflichtet, im Rahmen ihrer zeitlichen Möglichkeiten Objektivierungsmaßnahmen zu ergreifen, indem sie weitere Informationen einholen und prüfen, ob tatsächlich ein Krieg rechtfertigender Anlass gegeben ist.

Zuständige Autorität und öffentliche Erklärung Gemäß der dritten Bedingung des jus ad bellum der Theorie des gerechten Krieges muss ein Krieg, damit er moralisch erlaubt sein kann, von der dafür zuständigen Autorität (eines Staates) beschlossen werden und der Entschluss muss gegenüber der eigenen Bevölkerung, dem feindlichen Staat und anderen Staaten auch öffentlich gemacht werden. Wer in einem Staat die zuständige Autorität ist, wird in der Regel innerhalb der Verfassung des Staates festgelegt. 17 Privatpersonen sind nicht berechtigt, einen Krieg zu erklären, ebenso auch keine beliebigen öffentlichen Personen oder Vertreter der Regierung. Die Autorität, über das Führen eines Krieges zu entscheiden, besitzt nur der, dem diese Aufgabe im Staat zugeteilt worden ist. Weshalb ist es überhaupt wichtig, dass die Kriegsentscheidung öffentlich erklärt wird? Zum einen wird dadurch dem feindlichen Staat deutlich zu verstehen gegeben, dass militärische Maßnahmen 17

Vgl. Orend 2005, S. 8.

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Die Theorie des gerechten Krieges

gegen ihn ergriffen werden. Dies gibt ihm die letzte Möglichkeit, seine Aggression zu beenden. In ähnlicher Weise gehen auch Polizisten vor. Sofern es möglich ist, sind sie dazu angehalten, einen Kriminellen darauf hinzuweisen, dass sie auf ihn schießen werden, sollte er ihrer Forderung, die Waffe fallen zu lassen, nicht augenblicklich nachkommen. Zum anderen dient die öffentliche Erklärung dem warnenden Schutz der eigenen oder der gegnerischen Bevölkerung. Eine der wichtigsten Aufgaben eines Staates ist es, die eigene Bevölkerung zu schützen. Eine öffentliche Kriegserklärung macht es Zivilisten möglich, angesichts des Wissens über das Einsetzen kriegerischer Maßnahmen selbst Schutz zu suchen. Darüber hinaus wird auch dem gegnerischen Staat die Chance gegeben, seiner Aufgabe nachzukommen, die eigenen Bürger zu schützen und in Sicherheit zu bringen. Außerdem ist die Entscheidung, einen Krieg zu führen, immer die Entscheidung, etwas zu tun, das viele Menschen das Leben kosten wird und auch darüber hinaus Schäden verursacht. Die negativen Auswirkungen eines Krieges spüren in den meisten Fällen nicht nur die Konfliktparteien selbst, sondern auch andere Staaten. Alle – die betroffenen Zivilisten, die am Konflikt beteiligten Staaten wie auch der Rest der Weltgemeinschaft – haben ein Recht darauf, über eine Entscheidung, die alle betrifft, informiert zu werden, um dann irgendwie damit umgehen zu können.

Letzter Ausweg und Notwendigkeit Gemäß der Theorie des gerechten Krieges kann ein Krieg nur dann moralisch gerechtfertigt sein, wenn es notwendig ist, ihn zu führen, bzw. wenn er der letzte Ausweg aus einer Konfliktsituation ist. Notwendig bzw. der letzte Ausweg ist ein Krieg, wenn alle plausiblen friedlichen Mittel der Konfliktlösung versagt haben. Es gilt, sich im Falle eines zu lösenden Konfliktes zu fragen, welche verschiedenen Mittel diesen Konflikt lösen könnten. Unter den in Frage kommenden Mitteln sind immer zuerst die vergleichsweise mildesten zu wählen, also die Mittel, die den geringsten Schaden verursachen. Da Krieg dasjenige Mittel ist, bei dem aktiv Tod und Zerstörung über Menschen gebracht werden, kann Krieg nur in Frage kommen, wenn alle sinnvollen Alternativen zu ihm ausgeschöpft worden sind.

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A state may resort to war only if it has exhausted all plausible, peaceful alternatives to resolving the conflict in question, in particular diplomatic negotiation. One wants to make sure something as momentous and serious as war is declared only when it seems the last practical and reasonable shot at effectively resisting aggression. 18

Der rechtfertigende Anlass spielt auch hier eine wichtige Rolle. Angenommen, es liegt ein solcher Anlass vor, weil ein diktatorisches Regime massive Menschenrechtsverletzungen innerhalb des eigenen Landes begeht. Nur aus dem Grund, dass ein rechtfertigender Anlass für einen Krieg vorliegt, darf ein Staat einen humanitären Krieg gegen das Regime als ein Mittel in Betracht ziehen. Zu diesem Mittel darf ein Staat aber nur dann greifen, wenn die Menschenrechtsverletzungen nicht auf nichtkriegerische Weise gestoppt werden können. [W]ar must be a last resort; if the just causes can be achieved by less violent means such as diplomacy, fighting is wrong. 19

Der erste Schritt zur Konfliktlösung sollte, zwischen Individuen wie auch zwischen Staaten, immer Diplomatie sein, also schlichtende Gespräche führen und verhandeln sowie möglicherweise Sanktionen. Nur wenn diese Alternativen zu einem Krieg scheitern, etwa weil ein Regime nicht zu Gesprächen bereit ist oder keine Einigung ausgehandelt werden kann, während weiter Menschen sterben, und wenn auch die übrigens Bedingungen der Theorie des gerechten Krieges erfüllt sind, darf Krieg geführt werden. Insbesondere aus pazifistischer Sicht erscheint die Forderung, Krieg dürfe nur dann geführt werden, wenn er der letzte Ausweg ist, dafür zu sprechen, dass es niemals gerechtfertigt ist, Krieg zu führen. Denn wir können niemals wissen, ob ein Weiterführen von Gesprächen nicht doch noch zum Erfolg führen wird. Man bedenke jedoch, dass etwa im Falle eines Genozids mit jedem Tag, an dem verhandelt wird, weiter Menschen sterben. Und darum, dass dieses Sterben ein Ende hat, geht es gerade. Es scheint nicht verlangt zu sein, immer und immer weiter zu verhandeln und dabei den Tod von immer mehr Menschen in Kauf zu nehmen. Auch im Falle individueller Nothilfe ist es nicht gefordert, mit einem Geiselnehmer, der nach und nach seine Geiseln tötet, allzu lange zu verhandeln. Und

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Ebd., S. 8. Hurka 2005, S. 35.

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zwar auch dann nicht, wenn es möglich wäre, dass die Verhandlungen irgendwann dazu führen könnten, dass er die noch verbliebenen Geiseln frei lässt. Das Suchen nach einer diplomatischen Lösung ist zwar gefordert. Jedoch sollten die Kosten einer nichtkriegerischen Lösung die Kosten eines Krieges nicht übersteigen. Damit ist bereits die Proportionalitätsbedingung der Theorie des gerechten Krieges angesprochen, die es in dieser Arbeit genauer zu verstehen gilt. Zunächst soll jedoch noch eine weitere Bedingung des jus ad bellum erläutert werden.

Begründete Hoffnung auf Erfolg und Erfolgswahrscheinlichkeit Gemäß dem jus ad bellum kann das Führen eines Krieges nur dann moralisch gerechtfertigt sein, wenn eine begründete Hoffnung darauf besteht, den Krieg zu gewinnen, bzw. wenn die Wahrscheinlichkeit eines Sieges hoch genug ist. Wenn ein Staat, der einen Krieg in Erwägung zieht, glaubt, der Krieg könne einen Konflikt vermutlich nicht lösen, so darf er den Krieg nicht führen. A state may not resort to war if it can foresee that doing so will have no measurable impact on the situation. The aim here is to block mass violence which is going to be futile. 20

Die Begründung dieser Bedingung des jus ad bellum klingt im zweiten Teil des Zitats bereits an. Krieg führen bedeutet, sich des Mittels massiver militärischer Gewalt zu bedienen, und das wiederum bedeutet unweigerlich, Zivilisten in Lebensgefahr zu bringen. Wir haben gesehen, dass das Führen eines Krieges nur dann in Frage kommen kann, wenn ein den Krieg rechtfertigender Anlass vorliegt, um dessen Willen der Krieg geführt wird. Wenn wir etwa glauben, die massiven Menschenrechtsverletzungen, die ein diktatorisches Regime an der eigenen Bevölkerung begeht, nicht mit kriegerischen Mitteln stoppen zu können, so dürfen wir auch nicht zu kriegerischen Mitteln greifen. Wir dürfen Zivilisten nicht in (zusätzliche) Lebensgefahr bringen, wenn dies absehbar nicht dazu führen wird, die Konfliktlage zum Positiven zu verändern. Wir dürfen Menschen nicht sinn- und zwecklos dem Risiko zu sterben aussetzen.

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Orend 2005, S. 8.

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Ich werde im restlichen Verlauf der Arbeit jedoch nicht mehr davon sprechen, dass ein Staat den Sieg oder den Erfolg für wahrscheinlich halten muss, sondern immer nur davon, dass er begründet auf einen Sieg oder auf Erfolg hoffen kann. Wer das Eintreten eines Ereignisses für (sehr) wahrscheinlich hält, wird dafür entsprechende Gründe angeben können. Wer das Führen eines Krieges in Erwägung zieht, wird sich fragen müssen, ob der Krieg gewonnen werden kann. Dabei sollte er die Gründe, die jeweils dafür und dagegensprechen, einer kritischen Prüfung unterziehen, um zu einem Urteil darüber zu kommen, wie schwer die Gründe für oder wider einen Sieg jeweils wiegen. Hierbei gilt es, leichtfertigen Optimismus und Einseitigkeit zu vermeiden sowie irrationale Gründe, die bloß auf Gefühlen der Angst, Wut oder Rache beruhen, nicht zu berücksichtigen. Überwiegen die Gründe, die dafürsprechen, erfolgreich sein zu können, die Gründe, die dagegensprechen, so kann von einer begründeten Hoffnung auf einen Sieg die Rede sein. Welche Überlegungen könnten beispielsweise im Zusammenhang mit einer zur Debatte stehenden humanitären Intervention einschlägig sein? Eine wichtige Überlegung besteht darin zu überprüfen, inwiefern die fragliche humanitäre Intervention überhaupt ein effektives, d. h. geeignetes Mittel darstellt, den massiven Menschenrechtsverletzungen Einhalt zu gebieten, die ein diktatorisches Regime an der eigenen Bevölkerung begeht. Besteht Grund zu der Annahme, ein Krieg könne den Menschen gar nicht helfen, weil er den Ursprung der Menschenrechtsverletzungen nicht beseitigen kann, so kann nicht begründet darauf gehofft werden, mit einem Krieg den gewünschten Erfolg zu erzielen. Um zu der Annahme zu gelangen, ein Krieg könne tatsächlich das gewünschte Ziel erreichen, gilt es auch, Überlegungen darüber anzustellen, inwiefern die eigenen Streitkräfte denen des Gegners zahlenmäßig überlegen sind, ob sie hinreichend ausgebildet sind oder ob die für einen Sieg notwendige Waffentechnik zur Verfügung steht. Nur wenn nach eingehender Prüfung und sorgsamer Gewichtung aller Überlegungen der Schluss gerechtfertigt ist, dass begründet darauf gehofft werden kann, das Ziel, das mit einem Krieg verfolgt wird, auch tatsächlich zu erreichen, ist es erlaubt, diesen Krieg zu führen (gegeben, dass auch die übrigen Bedingungen des jus ad bellum erfüllt sind). Die Bedingung der begründeten Hoffnung auf Erfolg ist im Gegensatz zu den übrigen Bedingungen nicht im Völkerrecht verankert. Diese Bedingung ist nämlich insofern problematisch, als sie kleine 59 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

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und militärisch schwache Staaten benachteiligt: »International law does not include this requirement, as it is seen as biased against small, weaker states.« 21 Wäre es verboten, einen Krieg zu führen, wenn kaum Hoffnung besteht, die moralisch guten Ziele zu erreichen, die mit ihm erreicht werden sollen, so müssten einige Defensivkriege verboten sein. Kleine Staaten oder Staaten, die militärisch im Vergleich zu ihren ungerechtfertigten Angreifern um einiges schlechter aufgestellt sind, dürften sich nicht gewaltsam gegen einen Angriff zur Wehr setzen. Eine Verankerung der Bedingung des Bestehens begründeter Hoffnung auf Erfolg im Völkerrecht wäre damit insofern problematisch, als kleine oder schwache Staaten benachteiligt würden, spräche man ihnen von vornherein ein Kriegsrecht ab. An einem Verteidigungsfall, der nichts mit der komplexen Herausforderung Krieg zu tun hat, lässt sich jedoch sehen, weshalb es auch moralisch sehr problematisch wäre, Defensivhandlungen zu verbieten, wenn kaum oder keine Hoffnung besteht, eine bestehende Gefahr abzuwenden. Eine Analogie ist der Fall einer Vergewaltigung. 22 Angenommen, das Opfer weiß, dass es seinem Vergewaltiger in ihrer Körperkraft vollkommen unterlegen ist. Auch gibt es keine Mittel, die das Opfer zur Verteidigung einsetzen könnte. Und niemand ist in der Nähe, der ihm noch helfen könnte. Das Opfer hat also keinen Grund, darauf zu hoffen, sich aus seiner Notlage befreien und seinen Vergewaltiger stoppen zu können. Dennoch setzt es sich auch körperlich zur Wehr. Obwohl das Opfer keine Chance hat, die Vergewaltigung von sich abzuwenden, ist es intuitiv gerechtfertigt, dass es sich mit Gewalt wehrt. Mit Blick auf Defensivkriege lässt sich ähnlich argumentieren. Hierzu ein historisches Beispiel: die Verteidigung Polens gegen Nazi-Deutschland. Polen musste annehmen, dass es den deutschen Streitkräften zahlenmäßig wie auch in der militärischen Ausrüstung unterlegen war. Trotzdem verteidigte Polen sich zu Recht. Daniel Statman diskutiert ein weiteres Beispiel, nämlich den Aufstand im Warschauer Ghetto gegen die Juden-Deportation 1943, der blutig niedergeschlagen wurde. Die Juden wussten Statman zufolge genau, Ebd., S. 8. Der Fall findet sich auch bei Rodin 2011, S. 93. Zuvor wird er auch schon bei Statman (2008, S. 664) als potentielles Beispiel gegen die Relevanz der »success condition« diskutiert.

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dass ein Aufstand ihre Deportation nicht abwenden kann. Dennoch war der Aufstand berechtigt. Die Bedingung der begründeten Hoffnung ist also offenbar zu restriktiv. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie gänzlich aufgegeben werden muss oder dass es für die moralische Rechtfertigung von Krieg unerheblich ist, wie hoch die Aussicht auf Erfolg ist. Daniel Statman argumentiert, in Fällen, in denen es kaum möglich erscheint, einen ungerechtfertigten Angriff erfolgreich abzuwenden, sei das Ziel, auf dessen Erreichen begründete Hoffnung besteht, nicht, Aggression abzuwenden. Stattdessen gehe es um andere Werte, deren Schutz und Verteidigung so wichtig sei, dass um ihretwillen Gewalt eingesetzt werden dürfe. Entscheidend sei dann entsprechend nicht, ob begründet auf ein Abwehren von Aggression gehofft werden kann, sondern ob jene anderen Werte erfolgreich verteidigt werden können. Statman benennt als den Wert, der im Falle des Aufstandes der Juden in Warschau gegen ihre Deportation trotz einer Niederlage erfolgreich verteidigt werden konnte, den Wert der Ehre: It was not their lives the rebels were fighting for but their honor. They knew that they were almost 100 percent doomed. They wanted to die with a gun in their hands rather than in Treblinka or another death camp. 23

Die Juden konnten mit einem Aufstand nicht ihr Leben retten, aber sie konnten ihre Ehre verteidigen, und die Verteidigung der eigenen Ehre sei geeignet, den Aufstand und damit die Gewalt gegenüber den Nazis zu rechtfertigen. Ähnlich lässt sich mit Blick auf die Verteidigung eines Vergewaltigungsopfers gegen seinen Angreifer argumentieren: Das Opfer ist auch dann darin gerechtfertigt, sich körperlich gegen seinen Angreifer zur Wehr zu setzen, wenn es absehen kann, dass es die Vergewaltigung nicht abwenden können wird. Was das Opfer aber womöglich erfolgreich von sich abwenden kann, ist eine Verletzung seiner Ehre, indem es demonstriert, dass es die Vergewaltigung nicht bereit ist hinzunehmen. Statmans Argumentation über den Begriff der Ehre soll zeigen, dass auch in solchen Fällen das Anwenden von Gewalt gerechtfertigt ist, weil begründete Hoffnung auf Erfolg besteht. 24 Statman 2008, S. 665. Ähnlich argumentiert Jeff McMahan (2008, S. 17) mit Blick auf Staaten, die ihren Angreifern klar unterlegen sind: »Suppose you’re a tiny little country, and you’re being attacked by a superpower. You have absolutely no chance of defending your

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Die Theorie des gerechten Krieges

Ausgerechnet auf den Begriff »Ehre« zu verweisen, erscheint mir nicht unproblematisch. Immerhin werden mit Verweis auf angebliche Ehrverletzungen auch Handlungen gerechtfertigt, die eindeutig moralisch falsch sind (Stichwort »Ehrenmord«). Weder ist hier klar, was genau unter dem Begriff »Ehre« zu verstehen ist, noch, wie bestimmt werden kann, unter welchen Umständen eine Verletzung des Werts der Ehre vorliegt. Statman scheint unter dem Begriff »Ehre« einen Wert zu verstehen, der Menschen als Personen objektiv zukommt, der also nicht nur ein subjektives Gefühl ausdrückt, und dessen Verteidigung ähnlich wichtig ist wie die eines Lebens oder der körperlichen und seelischen Unversehrtheit. Mögliche Alternativen zu dem Begriff der Ehre, die weniger fragwürdig klingen, könnten die der Würde oder der Autonomie darstellen. Eine Vergewaltigung beispielsweise bedroht die Autonomie des Opfers, indem ein Vergewaltiger sich anmaßt, darüber entscheiden zu können, was mit einer Person geschehen könne und welchen Zweck sie zu erfüllen habe. Mit einer Verteidigung stellt das Opfer unter Beweis, dass ebendies nicht der Fall ist, sondern es selbst bestimmen darf, was zu tun es bereit ist. Ich denke, die Intuition, dass hier ein wichtiger Wert verteidigt wird, der ein anderer als der des Lebens oder der Unversehrtheit ist, lässt sich auch mit einem anderen und weniger kontroversen Wert als dem der Ehre erklären. Unabhängig von der fragwürdigen Begriffswahl erscheinen Statmans Überlegungen mit Blick auf die diskutierten Beispiele plausibel. Sie lassen sich jedoch nicht auf Fälle übertragen, in denen Dritte im Zuge einer Verteidigung zu Schaden kommen. Wenn Ben kaum Chancen hat, sein Leben gegen Anna zu verteidigen, ist es dennoch gerechtfertigt, Gewalt gegen Anna anzuwenden, da er damit, dass er sich zur Wehr setzt, zumindest seine Ehre (oder seine Autonomie) verteidigen kann. Bens Verteidigung erscheint aber dann nicht mehr gerechtfertigt, wenn die unbeteiligte Clara ebenfalls einen schweren Schaden durch seine Verteidigungshandlung erleidet oder sogar zu Tode kommt. Dass Clara zu Schaden kommt, kann Ben nicht damit rechtfertigen, dass er seine Ehre gegen Anna verteidigen kann. Der Grund, weshalb Bens Verteidigung seiner Ehre nicht gerechtfertigt ist, wenn die unbeteiligte Clara dabei geschädigt wird, sovereignty or whatever but still can be justified in fighting for a variety of reasons. You can make the outcome less bad by fighting. You can vindicate your dignity and honor, and so forth […].«

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ist, dass Bens Verteidigung nicht verhältnismäßig ist. Der schwere Schaden, den Clara erleidet, wird nicht dadurch aufgewogen, dass Bens Ehre gewahrt wird. Würde Clara nur leichte Verletzungen davontragen, ließe sich Bens Verteidigung möglicherweise noch als verhältnismäßig ausweisen, da das Wahren der eigenen Ehre die leichte Schädigung einer anderen Person aufwiegt. Diese Überlegung legt nahe, dass die Bedingung der begründeten Hoffnung auf Erfolg keine eigenständige Bedingung innerhalb des jus ad bellum ist, sondern mit der Forderung nach Proportionalität zusammenhängt, der zufolge das mit einer Handlung erreichte Gute das zugleich verursachte Schlechte auf- oder überwiegen müsse. So schlägt auch Jeff McMahan vor, die begründete Hoffnung auf Erfolg als ein wichtiges Kriterium innerhalb der Proportionalitätsforderung zu verstehen. Einen Krieg zu führen, obwohl abzusehen ist, dass er nicht zu gewinnen ist, kann erlaubt sein, wenn mit einem Krieg andere Werte erfolgreich verteidigt werden können, deren Verteidigung so gewichtig ist, dass die zugleich verursachten Schäden aufgewogen werden können. These [goods or values] can count in a proportionality calculation. So a war that doesn’t have any reasonable hope of success with respect to the main goal – maybe national self-defense or something like that – can still be a permissible war even though it doesn’t satisfy the traditional reasonable hope of success condition. 25

Den Vorschlag, das Erfülltsein der Proportionalitätsbedingung auch davon abhängig zu machen, inwiefern begründete Hoffnung darauf besteht, gewichtige Werte verteidigen zu können, werde ich im dritten Kapitel noch einmal aufnehmen. Im nächsten Abschnitt werde ich die Proportionalitätsbedingung des jus ad bellum erläutern.

Proportionalität ad bellum Die letzte Bedingung des jus ad bellum ist die Proportionalitäts- oder Verhältnismäßigkeitsbedingung. Sie verlangt, dass das Gute eines Krieges dessen Übel überwiegen müsse. Da es sich bei gerechten Kriegen in aller Regel nur um Verteidigungskriege oder humanitäre Interventionen handelt, also um einen militärischen Widerstand 25

McMahan 2008, S. 17.

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Die Theorie des gerechten Krieges

gegen ungerechtfertigte Aggression, geht es weniger darum, dass ein Krieg mehr Gutes als Schlechtes hervorbringen muss. Vielmehr muss ein Krieg mehr Schlechtes verhindern als verursachen bzw. ein größeres Übel abwenden als selbst hervorbringen. 26 Doch was genau heißt es, dass das, was ein Krieg verhindern oder aufhalten soll, gewichtiger sein muss, als das, was er anrichtet? Wann genau ist ein Krieg proportional bzw. verhältnismäßig? Grundsätzlich geht es in der Proportionalitätsbedingung darum, die erwartbaren Konsequenzen zueinander ins Verhältnis zu setzen: die schlechten Konsequenzen, zu denen ein Krieg führt – insbesondere der Tod von Zivilisten – gegen die schlechten Konsequenzen, deren Eintreten er verhindert – ebenfalls insbesondere den Tod von Zivilisten. Die Frage ist also, was genau es heißt, diese Konsequenzen zueinander ins Verhältnis zu setzen. Die naheliegendste Antwort auf diese Frage besteht in einer typisch konsequentialistischen Folgenbewertung. 27 Ein Krieg wäre demnach dann proportional, wenn der Wert der insgesamt verhinderten negativen Folgen den Wert der insgesamt hervorgebrachten negativen Folgen überwiegt. Sprich: Er wäre proportional, wenn er mehr Menschen das Leben rettet, als er Menschen das Leben kostet. The simplest view of proportionality is a quasi-consequentialist one that counts all the goods and evils that result from a war […] and weighs them equally, so a choice is disproportionate if the total evil it causes is greater than its total good. 28

Die Proportionalitätsbedingung hat in den letzten zehn Jahren in der philosophischen Diskussion zunehmend Aufmerksamkeit erfahren. Gemessen am aktuellen Stand der Debatte ist das beschriebene klassisch konsequentialistische Proportionalitätsverständnis überholt. Die Proportionalitätsbedingung sei vielmehr deontologisch zu verstehen. 29 Eine deontologisch interpretierte Proportionalitätsbedingung S. McMahan 2010, S. 64, 2014a, S. 434, für diese Rede statt der vom »Guten«. S. Orend 2005, S. 9. Orend versteht die Proportionalitätsbedingung klassisch konsequentialistisch. S. auch Walzer 1977, S. 129 und S. 153. Walzer verweist auf Sidgwicks Proportionalitätsverständnis, das ein klassisch utilitaristisches ist. 28 Hurka 2005, S. 39. 29 Vgl. Hurka 2008, S. 143 f., McMahan 2014, S. 29. In der Literatur wird, wie die Äußerungen Hurkas deutlich machen, sowohl von »non-consequentialist« als auch von »deontological« gesprochen und die Ausdrücke scheinen mir dabei synonym gebraucht zu werden. Streng genommen handelt es sich beispielsweise auch bei tugendethischen Ansätzen um nicht-konsequentialistische 26 27

64 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Wann darf Krieg geführt werden? – Das jus ad bellum

trägt dem Umstand Rechnung, dass die Konsequenzen eines Krieges von großer Bedeutung sind, jedoch ohne die Konsequenzen auf die Weise zu beurteilen, in der es innerhalb eines Konsequentialismus geschieht. Innerhalb einer deontologischen Interpretation der Proportionalitätsbedingung ist die obige konsequentialistische Überlegung nur eine von vielen möglichen Überlegungen. Anders gewendet: Konsequenzen werden bewertet, aber auf deontologische Weise, sprich nicht auf rein konsequentialistische Weise. So stellt auch Thomas Hurka klar: Just war theory could interpret [this] condition […] in a consequentialist way, so that […] a war is proportionate if the total of all its benefits, of whatever type and however caused, is even slightly greater than its total harms […]. And indeed some of the theory’s proponents have interpreted it this way. Then the theory, while not as a whole consequentialist, because it contains […] non-consequentialist conditions, mimics consequentialism in how it assesses a war’s results. 30 As it must to be credible, just war theory evaluates wars and acts in war partly in light of their consequences. It does not do so, however, in a consequentialist fashion. […] [I]t takes a distinctively deontological approach to assessing the consequences of war, as befits its overall character as a version of deontology. 31

Die Proportionalitätsbedingung kann Hurka zufolge deshalb nicht konsequentialistisch verstanden werden, weil sie drei typischerweise nicht-konsequentialische Merkmale aufweist. Erstens werden nicht die verhinderten und verursachten negativen Folgen jeder Art gezählt. Einige Folgen werden nicht berücksichtigt, weil sie von der »falschen« Art sind. Manche Folgen sind für die Proportionalitätsüberlegung irrelevant. So scheint es für die Frage, ob ein Krieg verhältnismäßig ist, nicht relevant zu sein, ob er dazu beiträgt, dass neue Ergebnisse in der Militärwissenschaft erzielt werden. Zweitens werden einige Folgen nicht gezählt, wenn sie auf die »falsche« Weise kausal zustande kommen. So meint Thomas Hurka, der Umstand, dass ein Krieg ein Wirtschaftswachstum zur Folge habe, könne nur dann relevant sein, wenn es eine direkte Folge des Kriegsgewinns ist Theorien, die jedoch nicht als »deontologisch« zu bezeichnen sind. Ich werde in dieser Arbeit nicht zwischen deontologischen und nicht-konsequentialistischen Ansätzen unterscheiden. 30 Hurka 2008, S. 128. 31 Ebd., S. 143 f.

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Die Theorie des gerechten Krieges

(etwa weil ein Monopol auf bestimmte Ressourcen aufgelöst wird). Ein Wirtschaftswachstum könne dagegen nicht relevant sein, wenn es das Ergebnis bestimmter Investitionen während des Krieges in die Waffenproduktion oder das Ergebnis von Waffenexporten in Krisenregionen ist. 32 Auf welche Weise die Konsequenzen kausal zustande kommen, ist also wichtig innerhalb der Proportionalitätsbedingung. Und drittens werden die Folgen nicht unbedingt mit gleichem Gewicht bemessen und abgewogen. In manchen Fällen wiegt eine Folge mehr als eine andere, obwohl sie von der gleichen Art ist. So würden beispielsweise durch ein aktives Tun (unbeabsichtigt) hervorgebrachte zivile Opfer mehr wiegen als nur durch ein Unterlassen zugelassene Opfer. 33 Ebenso kann eine Folge schwerer wiegen als eine andere, wenn sie von der gleichen Art und kausal auf die gleiche Weise entstanden sind. 34 Zum Beispiel scheint der im Zuge einer Bombardierung verursachte Tod einer (freiwillig kämpfenden) Soldatin zwar gewichtig zu sein, aber dennoch weniger gewichtig als der Tod einer Zivilistin. Ob ein Krieg proportional ist, hängt entscheidend davon ab, wie wir »Proportionalität« verstehen. Hurkas Klarstellung, es könne hier nicht ein konsequentialistisches Verständnis gemeint sein, sondern die Proportionalitätsbedingung sei deontologisch zu verstehen, beantwortet noch nicht die Frage, ob es proportionale Kriege gibt. Diese Frage bildet den Kern dieser Arbeit. Ich werde hierzu im in den folgenden Kapiteln einige eher nicht-konsequentialistische Überlegungen, die sich in der noch jungen Proportionalitäts-Debatte finden, vorstellen und davon wiederum einige, die mir besonders interessant erscheinen, genauer daraufhin untersuchen, inwiefern sie die Erfüllbarkeit der Proportionalitätsbedingung beeinflussen. Dabei werde ich auch Zusammenhänge zwischen der Proportionalität und anderen Bedingungen der Theorie des gerechten Krieges aufzeigen. Zuvor seien aber noch die Bedingungen kurz vorgestellt, die das jus in bello der Theorie des gerechten Krieges umfasst. Auch hier wird uns die Proportionalitätsbedingung begegnen.

32 33 34

Vgl. ebd., S. 133. Vgl. ebd., S. 144. Vgl. ebd., S. 128. und S. 143 f.

66 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Wie muss Krieg geführt werden? – Das jus in bello

2.2 Wie muss Krieg geführt werden? – Das jus in bello Das jus in bello umfasst drei Bedingungen: 35 (1) Immunität von Nichtkombattanten: Im Krieg muss zwischen verschiedenen Personengruppen unterschieden werden, nämlich zwischen denen, die an Kampfeshandlungen beteiligt sind, und denen, die es nicht sind. Die Menschen, die nicht im Krieg kämpfen – das sind vor allem Zivilisten – sind immun gegen Angriffe. Sie dürfen nicht das Ziel kriegerischer Handlungen sein. (2) Notwendigkeit oder minimale Gewalt: Die im Krieg angewendete Gewalt darf nicht exzessiv sein. Es darf nur so viel Gewalt angewendet werden, wie notwendig dafür ist, strategisch wichtige Ziele zu erreichen, bzw. das Ausmaß an Gewalt muss so gering wie möglich sein. (3) Proportionalität in bello: Die zu erwartenden guten Folgen einer individuellen Kriegshandlung müssen ihre zu erwartenden schlechten Folgen überwiegen. Im nächsten Abschnitt werde ich, wie bereits bei den Bedingungen des jus ad bellum, genauer erläutern, wie die Bedingungen des jus in bello zu verstehen sind. Zuvor sei auch hier noch einmal bemerkt, dass die Bedingungen des jus in bello häufig als einzeln notwendig und gemeinsam hinreichend dafür verstanden werden, dass eine Handlung im Krieg, z. B. das Bombardement einer Munitionsfabrik, moralisch erlaubt ist. Sie werden also in der Regel so verstanden, dass eine Kriegshandlung direkt moralisch falsch ist, wenn sie beispielsweise damit einhergeht, dass Bomben mit einer großen Detonationskraft zum Einsatz kommen, obwohl es die Möglichkeit gibt, auf weniger destruktive Weise zu bombardieren. Ich möchte auch hier die Bedingungen nicht als einzeln notwendig verstehen, sondern eine schwächere Lesart zugrunde legen: Wird eine der drei Bedingungen verletzt, ist eine individuelle Kriegshandlung überaus problematisch und insofern nur äußerst schwer zu rechtfertigen. Ob sie tatsächlich moralisch verboten ist, bleibt damit noch offen und ist im Einzelfall Vgl. Fiala 2004, S. 80, Lazar 2016a, S. 16–24. Bereits Thomas von Aquin stellt heraus, ein Defensivkrieg müsse in Analogie zum Töten in individueller Notwehr minimal gewaltvoll und angemessen (proportional) sein. Das für das Gebot der Immunität von Nichtkombattanten zentrale Prinzip der Doppelwirkung geht ebenfalls auf Thomas zurück. Allerdings bezieht Thomas das Prinzip der Doppelwirkung nicht auf Nichtkombattanten, sondern in Analogie zum Töten des Angreifers in individueller Notwehr auf Kombattanten.

35

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Die Theorie des gerechten Krieges

zu prüfen. Auch für das jus in bello gilt jedoch, dass es starke Gründe dafür gibt, sie sehr strikt zu fassen, wenn man eine völkerrechtliche Regelung festsetzen will, um einen Missbrauch in der Praxis zu verhindern.

Immunität von Nichtkombattanten – Immunität von Zivilisten Das jus in bello der Theorie des gerechten Krieges fordert, im Krieg stets klar zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten zu unterscheiden. 36 Kombattanten sind die Menschen, die einen Krieg tatsächlich führen, d. h. die Menschen, die Kampfeshandlungen ausführen. Kombattanten sind folglich in erster Linie Soldaten. Die Immunitätsbedingung besagt demnach, dass im Krieg zwischen Soldaten und allen anderen Personen unterschieden werden muss. Soldaten seien legitime Angriffsziele im Krieg. Alle anderen Personen seien es nicht. Für die Immunitätsbedingung die Unterscheidung zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten zugrunde zu legen, ist jedoch nicht unproblematisch. Denn auch Menschen, die keine Kampfeshandlungen ausführen, können als legitime Angriffsziele im Krieg betrachtet werden. Die Mitglieder einer Regierung, die beispielsweise einen Völkermord autorisiert haben, kämpfen in aller Regel nicht im Krieg, sind aber mindestens genauso legitime Angriffsziele im Krieg wie ihre Soldaten. Eine alternative Unterscheidung ist die zwischen den Personen, die moralisch verantwortlich dafür sind, dass ein Krieg geführt wird, und denen, die dieser Verantwortlichkeit entbehren. Diejenigen, denen wir eine moralische Verantwortung dafür zuschreiben können, dass beispielsweise ein Völkermord begangen wird, sind demnach legitime Angriffsziele im Krieg. Mitglieder der Regierung sind dann mindestens genauso legitime Angriffsziele wie Soldaten, aber möglicherweise auch Militärwissenschaftlerinnen in entsprechenden Einrichtungen. Personen, denen wir keine solche moralische Verantwortlichkeit zuschreiben können, sind dagegen immun gegen Angriffe. Es handelt sich hierbei in erster Linie um Zivilisten, aber möglicherweise auch um zwangsrekrutierte Soldaten. Für die Unterscheidung zwischen Personen, denen moralische Verantwortung für moralisches Unrecht zukommt, und denen, die 36

Vgl. z. B. Hurka 2005, S. 36.

68 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Wie muss Krieg geführt werden? – Das jus in bello

einer solchen Verantwortung entbehren, hat sich in jüngerer Zeit vor allem Jeff McMahan stark gemacht. McMahan hat den Versuch unternommen, diese Unterscheidung zum einen moralisch zu begründen und sie zum anderen auf konkrete Beispielfälle anzuwenden. In Kapitel 3 werde ich noch etwas genauer auf McMahans Überlegungen eingehen. Ich werde im Folgenden, an McMahan angelehnt, nicht zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten unterscheiden, sondern zwischen denen, die eine moralische Verantwortung für einen ungerechten Krieg tragen, die so groß ist, dass sie legitime Angriffsziele darstellen können, und denen, die diese Verantwortung nicht tragen. Dabei werde ich mich in der Gruppe der Personen, die einer moralischen Verantwortlichkeit entbehren, die Angriffe auf sie rechtfertigen könnte, in erster Linie auf Zivilisten konzentrieren, da diese typischerweise zu genau dieser Personengruppe gehören. Die Immunitätsforderung umfasst damit bis hierhin die folgende Überlegung: Es muss im Krieg zwischen Zivilisten und anderen Personen unterschieden werden, weil es einen moralisch relevanten Unterschied zwischen ihnen gibt. Zivilisten genießen aufgrund ihres besonderen moralischen Status Immunität, die es im Krieg stets zu wahren gilt. Was es heißt, die Immunität von Zivilisten zu wahren, ist damit allerdings noch nicht gesagt, denn es muss noch eine Überlegung hinzutreten, die Auskunft darüber gibt, welche Handlungen die Immunität von Zivilisten verletzen und welche nicht. Eine erste Möglichkeit des Verständnisses von Immunität wäre diese: Eine Kriegshandlung verletzt dann die Immunität von Zivilisten, wenn sie damit einhergeht, dass Zivilisten sterben oder dem Risiko zu sterben ausgesetzt werden. Zivilisten sind also immun dagegen, im Zuge eines Angriffs getötet zu werden. Eine so verstandene Immunitätsforderung lässt die Theorie des gerechten Krieges jedoch unweigerlich in einen Pazifismus münden. Denn dass im Zuge vieler Kriegshandlungen Zivilisten ums Leben kommen, ist erfahrungsgemäß sicher. Um der Möglichkeit Raum zu lassen, dass Krieg manchmal moralisch gerechtfertigt ist, muss die Immunitätsforderung weniger restriktiv verstanden werden. Hier kommt eine moralische Überlegung ins Spiel, die das Kernstück der Theorie des gerechten Krieges darstellt: das Prinzip der Doppelwirkung (PDW). Gemäß dem PDW gibt es einen moralisch gewichtigen Unterschied dazwischen, ob etwas Schlechtes, etwa der Tod eines Menschen, beabsichtigt oder ob es nur vorhergesehen wird. Die Immunitätsforderung des jus in bello verbietet es unter Rekurs 69 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Die Theorie des gerechten Krieges

auf das PDW dann nicht grundsätzlich, Zivilisten zu töten. Sie verbietet es, Zivilisten beabsichtigt zu töten. Zivilisten sind also immun gegen direkte Angriffe auf sie selbst, beispielsweise in Form eines Bombardements von Wohngebieten. Sie sind nicht immun dagegen, dass sie unbeabsichtigt, wohl aber (sicher) absehbar zu Tode kommen. Den Tod von Zivilisten nur vorherzusehen, kann moralisch erlaubt sein, ihn zu beabsichtigen, ist dagegen in aller Regel verboten 37, da es die Immunitätsbedingung verletzt. Nach der obigen Charakterisierung unterscheidet das PDW nicht zwischen Zivilisten und Soldaten. Innerhalb der Theorie des gerechten Krieges findet das PDW jedoch ausschließlich auf Zivilisten Anwendung. Der Tod von Soldaten wird typischerweise nicht nur vorhergesehen, sondern insofern beabsichtigt, als sie eine Gefahr darstellen, die aufzuhalten oder zu eliminieren ist. Für Zivilisten dagegen gilt in der Regel, dass sie lediglich absehbar zu Tode kommen. Wendeten wir das PDW nicht nur auf Zivilisten, sondern auch auf Soldaten an, hätte dies zur Folge, dass es schwerer zu rechtfertigen wäre, Soldaten zu töten, als Zivilisten zu töten. Denn der Tod von Soldaten wird im Krieg oftmals nicht nur vorhergesehen, sondern als Mittel beabsichtigt, und müsste damit moralisch problematischer sein als das unbeabsichtigte Töten von Zivilisten. Das aber ist intuitiv nicht plausibel. Es scheint zulässig, Soldaten (auch) beabsichtigt zu töten, und zwar aus dem Grund, dass sie es sind, von denen eine Gefahr für andere Menschen ausgeht. Das Verbot, Menschen beabsichtigt zu töten, bzw. die Forderung, die Immunität von Menschen gegen beabsichtigte Schädigungen zu wahren, gilt daher nicht mit Bezug auf Soldaten, sondern nur für Zivilisten. Das PDW besagt dabei allerdings nicht, dass es erlaubt ist, Zivilisten im Krieg zu töten, solange sichergestellt ist, dass sie nicht beabsichtigt getötet werden. Damit es gerechtfertigt sein kann, den Tod von Zivilisten in Kauf zu nehmen, muss das Verursachen ziviler Schäden auch proportional, d. h. verhältnismäßig sein. Das PDW bringt also bereits eine Proportionalitätsforderung mit sich. Ich hatte eingangs dargestellt, dass das jus in bello drei Bedingungen umfasst, darunter die, eine Kriegshandlung müsse proportional sein. Nun scheint die Immunitätsbedingung genau dies aber bereits zu fordern, indem sie auf das PDW Bezug nimmt, das eine Proportionalitätsbedingung beinhaltet. 37

Vgl. ebd.

70 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Wie muss Krieg geführt werden? – Das jus in bello

Nach meinem Verständnis unterscheidet sich die Proportionalitätsbedingung des PDW dadurch von den allgemeinen Proportionalitätsbedingungen des jus ad bellum und des jus in bello, dass sie nur für Zivilisten gilt, deren Schädigung verhältnismäßig sein müsse. Die Proportionalitäten ad bellum und in bello umfassen dagegen zusätzlich alle weiteren Schäden, die ein Krieg verursacht. Da ich mich in der vorliegenden Arbeit vorrangig mit der Frage beschäftige, inwiefern die Schäden, die Zivilisten im Krieg erleiden, verhältnismäßig sein können, werde ich im weiteren Verlauf nicht zwischen ad bellum- und in bello-Proportionalität und der Proportionalitätsforderung des PDW unterscheiden. Zur in bello-Proportionalitätsbedingung werde ich im übernächsten Abschnitt nur einige sehr allgemein bleibende erklärende Anmerkungen machen, da sowohl die ad bellum- als auch die in bello-Proportionalität den Schwerpunkt in den noch folgenden Kapiteln der Arbeit bilden.

Notwendigkeit / minimale Gewalt im Krieg Das Gebot minimaler Gewalt bzw. der Notwendigkeit besteht darin, im Handeln nicht mehr Gewalt anzuwenden, als im Vergleich zu alternativen Handlungsmöglichkeiten unbedingt nötig dafür ist, das Handlungsziel zu erreichen. The necessity condition […] says that killing soldiers and especially civilians is forbidden if it serves no military purpose; unnecessary force is wrong. 38

Bei dem Gebot minimaler Gewalt bzw. dem der Notwendigkeit im Krieg ist also erstens zu fragen, ob eine Handlung im Krieg insofern zielführend ist, als sie einen wichtigen Beitrag zum Erreichen des Kriegsziels leistet. Wenn nicht zu erwarten ist, dass das Bombardieren einer Rüstungsfabrik die Kampfeskraft des Gegners schwächt, etwa weil er Verbündete hat, die ihn weiterhin mit Waffen beliefern werden, dann ist das Bombardieren der Rüstungsfabrik nicht zu rechtfertigen, weil das Verursachen zahlreicher Schäden, auch ziviler, keinem Zweck dient. Doch selbst dann, wenn das Bombardieren zielführend ist, stellt sich zweitens die Frage, ob der zu erreichende Beitrag zum Erreichen 38

Ebd., S. 36.

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Die Theorie des gerechten Krieges

des Kriegsziels auch mit einer anderen Handlung erreicht werden könnte, die weniger gewaltvoll ist. Wenn es beispielsweise möglich ist, eine Rüstungsfabrik mit einem Bombentyp zu zerstören, der weniger destruktiv ist und insofern möglicherweise mit weniger zivilen wie nicht-zivilen Opfern einhergeht, dann ist es nur schwer zu rechtfertigen, die Fabrik mit einer destruktiveren Bombe zu zerstören. Ebenso ist es nicht zu rechtfertigen, mehrere Bomben abzuwerfen, wenn zu erwarten ist, dass das zielgenaue Abwerfen genau einer Bombe dafür ausreicht, die Fabrik zu zerstören. Es ist verboten, weitere Bomben über der Fabrik abzuwerfen, weil sie Schäden verursachen, die nicht notwendig dafür sind, das strategische Ziel, die Fabrik zu zerstören, zu erreichen. […] a necessity condition forbids acts that cause unnecessary harm, because the same benefits could have been achieved by less harmful means. 39 [The requirement of minimal force] is standardly interpreted to prohibit acts of war when their good effects could be equally well achieved by alternative means that would cause less harm. […] So, for example, if two possible means of achieving the same end would be equally effective, but one would kill more innocent civilians as a side effect, and all other things are equal, the option that would kill more civilians is clearly ruled out by the requirement of minimal force. 40

Michael Walzer hat darauf hingewiesen, dass damit noch nicht genug gefordert ist. Bis hierhin verlangt die Bedingung, Kriegshandlungen müssten notwendig oder minimal gewaltvoll sein, lediglich, über einer Rüstungsfabrik einen ganz bestimmten, nicht allzu destruktiven Bombentyp abzuwerfen, und das auch nur dann, wenn das Bombardement das Kriegsziel befördert. In den meisten Fällen ist zu erwarten, dass bei Angriffen auf strategische Ziele wie Rüstungsfabriken auch Zivilisten ums Leben kommen. Die Immunitätsbedingung verlangt, dass der Tod der Zivilisten dabei nicht beabsichtigt werden dürfe. Doch selbst wenn das der Fall ist und das Zerstören der Fabrik beabsichtigt, der Tod der Zivilisten jedoch nur vorhergesehen wird, sorgt sich Walzer angesichts dieser Argumentation darum, dass es gerechtfertigt sein könnte, viele Zivilisten unbeabsichtigt zu töten, obwohl es die Möglichkeit gibt, ihr Todesrisiko stärker zu minimieren. 41 39 40 41

Hurka 2008, S. 128. McMahan 2010, S. 64. Vgl. Walzer 1977, S. 153–154. Walzer kritisiert hier genau genommen das Prinzip

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Wie muss Krieg geführt werden? – Das jus in bello

Das Gebot der Notwendigkeit bzw. der minimalen Gewalt sollte daher durch eine dritte wichtige Überlegung angereichert werden: Soldaten haben in einem gewissen Umfang die Pflicht, Handlungen so auszuführen, dass sie zwar mit einem für sie selbst höheren Schadensrisiko einhergehen, sie jedoch den zu erwartenden zivilen Schaden minimieren. Wenn es beispielsweise möglich ist, vor einem Bombenabwurf ein warnendes Signal für Zivilisten ertönen zu lassen, dann ist es verboten, die Bombe ohne ein solches Signal abzuwerfen, und zwar auch dann, wenn sich die Soldaten dadurch selbst einem höheren Schadensrisiko aussetzen, weil sie gegnerische Soldaten warnen. For we draw a circle of rights around civilians, and soldiers are supposed to accept (some) risks in order to save civilian lives. […] They are the ones who endanger civilian lives in the first place, and even if they do this in the course of legitimate military operations, they must still make some positive effort to restrict the range of the damage they do.42

Walzer stellt weiterhin heraus, dass es im Kriegsfall nicht nur gefordert ist, Zivilisten nicht beabsichtigt zu töten. Die Pflichten gegenüber Zivilisten sind umfangreicher. Zu ihnen gehört auch die Pflicht, dafür Sorge zu tragen, dass sie so wenig Schaden wie möglich erleiden. Simply not to intend the death of civilians is too easy; most often, under battle conditions, the intentions of soldiers are focused narrowly on the enemy. What we look for in such cases is some sign of a positive commitment to save civilian lives. […]. And if saving civilian lives means risking soldier’s lives, the risk must be accepted. But there is a limit to the risks that we require. These are, after all, unintended deaths and legitimate military operations, and the absolute rule against attacking civilians does not apply. War necessarily places civilians in danger; that is another aspect of its hellishness. We can only ask soldiers to minimize the dangers they impose. 43

der Doppelwirkung, weil er glaubt, dass dessen Proportionalitätsforderung klassisch utilitaristisch zu verstehen ist. Walzer sieht die Gefahr, dass es gerechtfertigt sein könnte, viele Zivilisten zu töten, solange ihr Tod unbeabsichtigt ist (Immunitätsbedingung), die Kriegshandlungen einen Beitrag zum Sieg leisten (Notwendigkeitsgebot) und wenn die Handlungen letztlich dazu führen, mehr Menschenleben zu schützen, als sie zum Tod von Zivilisten führen (Proportionalität). 42 Ebd., S. 151. 43 Ebd., S. 155 f.

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Es ist also im Krieg von Soldaten auch gefordert, wann immer möglich, Maßnahmen zu ergreifen, die das Schadensrisiko für Zivilisten minimieren. 44 Dazu gehören, wie bereits erwähnt, Signale vor Bombenabwürfen, Patrouillen, die ermitteln, wo genau sich wie viele Zivilisten aufhalten, der Einsatz von Bodentruppen statt Angriffen aus der Luft, tiefes Fliegen bei Luftangriffen, die Evakuierung von Zivilisten vor Angriffen etc. Walzer hält aber auch fest, dass diese Zivilisten schützende Maßnahmen nur in einem bestimmten Umfang ergriffen werden müssen. Denn je mehr Rücksicht auf Zivilisten genommen wird, desto größer ist das Risiko für Soldaten, zu Tode zu kommen, und desto mehr steigt aber auch das Risiko, das Kriegsziel nicht erreichen zu können. Hier stehen drei in moralischer Hinsicht wichtige Überlegungen quer zueinander: Das Risiko für Zivilisten soll gering sein, das Risiko für Soldaten soll ebenfalls gering sein und die Erfolgsaussichten sollen hoch sein. An die Überlegungen Walzers anschließend (wenngleich der Anschluss nicht explizit gemacht wird) fassen Seth Lazar und Jeff McMahan das Gebot der minimalen Gewalt bzw. der Notwendigkeit im jus in bello, aber auch im jus ad bellum, folgendermaßen: Eine Kriegshandlung (ad bellum ein gesamter Krieg) ist dann notwendig bzw. minimal gewaltvoll, wenn sie die beste abgewogene Risikobilanz im Vergleich zu den verfügbaren Handlungsalternativen aufweist. 45 Die Risikobilanz ergibt sich aus den bereits erwähnten Risikoüberlegungen: einerseits besteht ein Schadensrisiko für Zivilisten, andererseits ein Risiko, dass eine Kriegshandlung, etwa weil sie mit einem hohen Risiko für Soldaten einhergeht, nicht den gewünschten strategischen Vorteil bringt. Es könnte erlaubt sein, Zivilisten einem gewissen Todesrisiko auszusetzen, wenn es nicht möglich ist, einen wichti-

Walzer, der diese Überlegung als Kritik am Prinzip der Doppelwirkung versteht, kommt nicht zu dem Ergebnis, das Gebot der Notwendigkeit müsse umfangreicher interpretiert werden. Stattdessen modifiziert er das Prinzip der Doppelwirkung zum Prinzip der doppelten Intention (vgl. S. 155): Soldaten müssen im Krieg erstens die Absicht haben, etwas Gutes zu erreichen, also einen wichtigen Beitrag zur Zielerreichung zu leisten. Zweitens müssen sie die Absicht haben, Zivilisten so gut wie möglich zu schonen. 45 Eine ausführlichere, wenngleich immer noch sehr schematisch bleibende Darstellung dessen, wie in der Bedingung der minimalen Gewalt oder Notwendigkeit Risiken gegeneinander abgewogen werden, findet sich bei Lazar 2012 und McMahan 2016 und 2016a. 44

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gen Beitrag zum Kriegsgewinn zu leisten, ohne Zivilisten in Gefahr zu bringen. Es wird aber zugleich gefordert sein, dabei Maßnahmen zu ergreifen, die das Risiko für Zivilisten verringern. An dieser Stelle kann man sich fragen, wie hoch das Risiko sein dürfe, das Zivilisten gerechtfertigt zugemutet wird. Ich werde auf diese Frage noch ausführlich in Kapitel 5 zurückkommen. An dieser Stelle sei erst einmal nur festgehalten, dass das jus in bello der Theorie des gerechten Krieges fordert, Kriegshandlungen nur auszuführen, wenn sie erstens zum Erreichen des Kriegsziels beitragen, wenn es zweitens keine alternativen Handlungen gibt, die ebenso gut zum Erreichen des Kriegsziels beitragen, dabei aber weniger Schaden verursachen, und wenn sie drittens auf eine Weise ausgeführt werden oder mit zusätzlichen Maßnahmen einhergehen, die Zivilisten einem möglichst geringen Risiko aussetzen.

Proportionalität in bello Wie bereits das jus ad bellum beinhaltet auch das jus in bello der Theorie des gerechten Krieges eine Proportionalitäts- bzw. Verhältnismäßigkeitsbedingung. Ad bellum verlangt die Bedingung, der Krieg insgesamt müsse verhältnismäßig insofern sein, als das Gute, das er hervorbringt, bzw. das Schlechte, das er verhindert, mehr wiegen müsse als das Schlechte, das er verursacht. Beim jus in bello steht nun nicht ein Krieg in seiner Gesamtheit im Fokus, sondern die individuelle Kriegshandlung, also wie er konkret geführt wird. In bello verlangt die Proportionalitätsbedingung entsprechend von einer einzelnen Handlung im Krieg, dass sie verhältnismäßig sein müsse. Gefordert ist erneut, dass das hervorgebrachte Gute das zugleich hervorgebrachte Schlechte überwiegen müsse. Da in der Regel einzelne Handlungen im Krieg nicht direkt zum Ende eines Krieges und zum Erreichen des Kriegsziels führen, sondern nur einen Beitrag dazu leisten, das Ziel zu erreichen, ist die in bello-Proportionalitätsbedingung wie folgt zu verstehen: Eine einzelne Handlung im Krieg ist proportional, wenn der positive Beitrag, den sie zum Erreichen des Kriegsziels leistet, von größerem Gewicht ist als der Schaden, der durch die Handlung verursacht wird. Wird beispielsweise im Krieg eine Rüstungsfabrik zerstört, deren Produktion der Gegner aber durch andere Fabriken oder durch Verbündete kompensieren kann, so ist der positive Beitrag gering, 75 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Die Theorie des gerechten Krieges

den die Zerstörung der Fabrik für den Kriegsgewinn leistet (z. B. den Völkermord zu beenden). Kommen während der Zerstörung der Fabrik einige Zivilisten zu Tode, entsteht ein Schaden, der durch den geringen positiven Beitrag der Handlung nicht überwogen werden kann. Die Zerstörung der Rüstungsfabrik wäre nicht proportional und insofern moralisch überaus problematisch. Ebenfalls nicht proportional wäre es, mit der Zerstörung einer Rüstungsfabrik zwar die Kampfeskraft des Gegners deutlich zu schwächen und damit dem Kriegsziel näher zu kommen, dabei jedoch sehr, sehr viele Zivilisten zu töten, da sich die Fabrik in der Nähe eines dicht bevölkerten Wohngebiets befindet. Für die ad bellum-Proportionalität hatte ich bereits hervorgehoben, dass in der Diskussion darüber, was unter »Proportionalität« zu verstehen ist, herausgestellt wurde, dass hier weniger eine klassisch konsequentialistische oder utilitaristische Interpretation angezeigt ist. Stattdessen müssten bei der Bestimmung dessen, was es heißt, dass ein Krieg verhältnismäßig ist, genuin deontologische Überlegungen eine zentrale Rolle spielen. Mit Blick auf einen gesamten Krieg gehe es also nicht (nur) darum zu fordern, dass weniger Menschen durch ihn sterben als durch ihn gerettet werden. Gleiches gilt für die in bello-Proportionalität. Sie meint nicht (nur), dass eine Kriegshandlung einen wichtigen Beitrag dazu leisten müsse, dass deutlich 46 mehr Menschen gerettet als getötet werden, sondern sie verweist (auch) auf Überlegungen, die unabhängig von den Konsequenzen einer Handlung wichtig sind. Welche typisch deontologischen Überlegungen für die Proportionalität ad bellum und in bello eine Rolle spielen können und welchen Einfluss sie auf die Erfüllbarkeit der Proportionalitätsbedingungen haben, werde ich nun im nächsten Kapitel diskutieren. Ein In einem klassischen Konsequentialismus müsste eine einzelne Handlung nicht einmal darin bestehen, dass deutlich mehr Menschenleben gerettet als Menschenleben genommen werden. Im Falle eines Krieges scheint es jedoch in einem klassischen Konsequentialismus wichtig, dass es deutlich mehr Menschen sind, die gerettet werden. Denn wenn wir annehmen, dass ein Krieg aus vielen Einzelhandlungen besteht, können wir davon ausgehen, dass bei fast jeder Kriegshandlung Menschen, insbesondere Zivilisten, sterben werden. Damit ein Krieg insgesamt proportional sein kann, muss dann aber gelten, dass bei jeder Einzelhandlung deutlich weniger Menschen sterben, als die Handlung einen Beitrag dazu leistet, dass Menschen gerettet werden. Denn würden bei jeder Einzelhandlung viele Menschen sterben, so stürben insgesamt sehr wahrscheinlich so viele Menschen, dass aus klassisch konsequentialistischer Sicht der Krieg ad bellum nicht proportional wäre.

46

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Wie muss Krieg geführt werden? – Das jus in bello

genauerer Blick auf Proportionalität wird dabei auch zeigen, inwiefern das jus ad bellum und das jus in bello voneinander abhängig sind.

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3. Proportionalität von und im Krieg – Eine erste Annäherung

Wir haben gesehen, dass die Bedingung der Proportionalität oder Verhältnismäßigkeit zweimal in der Theorie des gerechten Krieges erhoben wird. Im jus ad bellum fordert sie, ein Krieg müsse insgesamt betrachtet verhältnismäßig sein. Das bedeutete, das Gute, das er hervorbringt, bzw. das Schlechte, das er verhindert, müsse gewichtiger sein als das Schlechte, das er mit sich bringt. Im jus in bello fordert sie etwas Ähnliches für jede einzelne Handlung im Krieg. Eine Kriegshandlung müsse einen Beitrag dafür leisten, ein moralisch gutes Kriegsziel zu erreichen, der gewichtiger ist als das Schlechte, das die Handlung zugleich hervorbringen wird. Doch unter welchen Umständen genau sind nun ein Krieg oder eine Kriegshandlung proportional? Um diese Frage beantworten zu können, muss erst einmal geklärt werden, sowohl welches Gute bzw. verhinderte Schlechte als auch welches hervorgebrachte Schlechte gemeint ist, und auch, wie die Gewichte, die hier zueinander ins Verhältnis gesetzt werden sollen, bestimmt werden können. What are the relevant goods that count in favor of a war’s or act’s proportionality? (2) What are the relevant evils that count against it? (3) How do these goods and evils weigh against each other? 1

Ich hatte bereits ausgeführt, dass die drei im Zitat von Thomas Hurka gestellten Fragen nicht klassisch konsequentialistisch oder utilitaristisch zu beantworten sind. Denn gegeben, dass die Theorie des gerechten Krieges eine nicht-konsequentialistische Lehre ist und viele ihrer Bedingungen typisch nicht-konsequentialistische Überlegungen widerspiegeln (z. B. der rechtfertigende Anlass oder die gute Absicht), sollte, so Hurka, auch die Proportionalität auf nicht-konsequentialistische Weise verstanden werden. Hinge die Proportionalität von und im Krieg allein von der Bewertung der Konsequenzen 1

Hurka 2005, S. 38.

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Proportionalität von und im Krieg – Eine erste Annäherung

eines Krieges ab, ließe sich zudem fragen, weshalb konsequentialistische Überlegungen nur innerhalb dieser Bedingung eine Rolle spielen sollten. Diese Frage lässt sich zu der zuspitzen, weshalb mit Blick auf die Zulässigkeit des Kriegführens nicht insgesamt eine konsequentialistische Position bezogen werden sollte. Da Deontologinnen aber typischerweise skeptisch gegenüber konsequentialistischen Überlegungen sind, erscheint es außerdem konsistent, auch bei der Ausformulierung des Proportionalitätsgebots deontologische Überlegungen anzuführen. Es geht folglich in der Proportionalitätsüberlegung nicht (allein) darum abzuschätzen, wie viele Menschen durch einen Krieg oder eine einzelne Kriegshandlung sterben werden und wie viele Menschen gerettet werden können oder zur Rettung wie vieler Menschen eine Kriegshandlung beiträgt. Die Proportionalitätsbedingung ist also nicht bereits dann erfüllt, wenn absehbar mehr Menschen gerettet werden, als Menschen zu Tode kommen. Doch wie, wenn nicht auf diese Weise, können die ad bellumund die in bello-Proportionalität verstanden werden? Welche Überlegungen, die nicht nur auf den Wert der Konsequenzen oder auf den Nutzen verweisen, können relevant dafür sein, ob ein Krieg oder eine individuelle Handlung im Krieg verhältnismäßig ist? Das Ziel der verbleibenden Kapitel ist es, verschiedene Möglichkeiten auszuleuchten, den Proportionalitätsbedingungen eine Interpretation zu geben, die typisch deontologische Überlegungen zum Ausdruck bringt, und dabei zu prüfen, inwiefern diese Überlegungen die Erfüllbarkeit der Proportionalitätsbedingungen beeinflussen. Ich werde in diesem Kapitel zunächst eine enge und eine weite Lesart der Proportionalitätsforderungen aufzeigen, die Jeff McMahan unterscheidet und die sich als sehr hilfreich herausstellen werden. Die erste der beiden Lesarten verweist nicht auf den Wert der Konsequenzen eines Krieges oder einer Kriegshandlung. Innerhalb dieser Lesart von Proportionalität spielen Überlegungen, die aus deontologischer Sicht problematisch sind, weil sie auf interpersoneller Aggregation beruhen, keine Rolle. Für die zweite Lesart von Proportionalität ist weniger klar, dass sie nicht (auch) auf den Wert der Konsequenzen verweist, der über Personengrenzen hinweg aggregiert wird. Es wird im Verlauf dieser Arbeit zu untersuchen sein, welche deontologischen Überlegungen hier eine Rolle spielen können und wie restriktiv sie die Proportionalitätsbedingungen werden lassen. In dem vorangegangenen Kapitel hatte sich bereits angedeutet, dass die Proportionalitätsbedingungen möglicherweise mit anderen Bedingungen der 79 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Proportionalität von und im Krieg – Eine erste Annäherung

Theorie des gerechten Krieges zusammenhängen. Einige dieser Zusammenhänge werde ich im Verlaufe des Kapitels noch näher aufzeigen. Was es bedeuten könnte, insbesondere das weite Verständnis von Proportionalität deontologisch zu verstehen, werde ich im letzten Teil des Kapitels beleuchten. In der noch jungen Diskussion der Proportionalitätsbedingungen finden sich inzwischen einige Vorschläge für möglicherweise relevante deontologische Überlegungen, die ich überblicksartig darstellen werde. In den verbleibenden Kapiteln werde ich einige dieser Überlegungen ausführlich besprechen. Es wird sich im Verlaufe dieser Abhandlung zeigen, dass ein deontologisches Verständnis der Proportionalitätsbedingungen dazu führt, dass sie nur äußerst schwer zu erfüllen sind. Es wird sich also zeigen, dass die Theorie des gerechten Krieges praktisch in einen Pazifismus mündet.

3.1 Enge Proportionalität Jeff McMahan unterscheidet sowohl mit Blick auf die ad bellum- als auch die in bello-Proportionalität ein enges (»narrow proportionality«) und ein weites (»wide proportionality«) Verständnis. Er definiert den engen Proportionalitätsbegriff folgendermaßen: »[N]arrow proportionality is a constraint on liability-based justifications for harming […].« 2 Mit der Forderung, ein Krieg oder eine individuelle Kriegshandlung müssten proportional im engen Sinne sein, ist also gemeint, dass der Schaden eines Krieges oder einer Kriegshandlung nicht über die »liability« der Geschädigten hinausgehen dürfe. Der Begriff »liability«, der dem der »innocence« entgegensteht, ist zentral in McMahans Arbeiten zur Ethik des Krieges. Gleichzeitig scheint der Begriff keine Entsprechung im Deutschen zu haben. 3 Eine Person ist, McMahan zufolge, »liable to defensive harm«, wenn (i) gilt, dass von der Person eine moralisch nicht gerechtfertigte Bedrohung ausgeht, und wenn (ii) gilt, dass die Person eben dafür auch moralisch verantwortlich ist. McMahan 2011, S. 146. Der Ausdruck »liable for something« lässt sich am ehesten mit »haftbar für etwas« übersetzen, also mit einem Begriff, der aus dem juridischen Recht stammt. Gemeint ist hier jedoch »liable to something«. Dem entspricht meines Erachtens kein Ausdruck des Deutschen. Ich werde deshalb die recht hölzerne Umschreibung »geeignete Adressatin von etwas sein« verwenden.

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Enge Proportionalität

Bedingung (i) schließt aus, dass jemand sich gegen eine für sie bestehende Bedrohung verteidigt. Wenn Ben von Anna angegriffen wird, macht sich Ben nicht »liable to defensive harm«, indem er sich mit Gewalt gegen Anna verteidigt. Denn Ben stellt keine ungerechtfertigte Gefahr für Anna dar. 4 Wohl aber erfüllt Anna Bedingung (i). Bedingung (ii) schließt beispielsweise aus, dass sich gewaltsam gegen eine Person verteidigt werden darf, die beispielsweise ein Kind oder dement ist, die unter Androhung von Gewalt zu ihrem Handeln gezwungen wurde oder der ohne ihr Einverständnis Drogen verabreicht worden sind. 5 Das bedeutet jedoch nicht, dass es in jedem Fall verboten ist, beispielsweise eine demente Person in Notwehr zu töten, wenn diese das eigene Leben bedroht und es keine andere Möglichkeit gibt, das eigene Leben zu schützen. Es lässt sich jedoch nicht mit einem Verweis auf die liability der Person rechtfertigen, sie zu töten. Ihr Tod wäre nicht verhältnismäßig im engen Sinne von Proportionalität. Die Rechtfertigung kann nur darüber erfolgen, dass ihr Tod im Vergleich zum eigenen Tod das kleinere Übel und damit in einem anderen Sinne verhältnismäßig ist. So ließe sich beispielsweise argumentieren, es sei grundsätzlich erlaubt, dem eigenen Leben Vorrang vor dem Leben eines anderen Menschen zu geben. Ich werde darauf, Proportionalität so zu verstehen, dass es sich bei einem Schaden um das kleinere Übel handelt, im nächsten Abschnitt im Zusammenhang mit einem weiten Proportionalitätsverständnis genauer eingehen. Sowohl für (i) als auch für (ii) gilt, dass sie in Graden auftreten können. Die Bedrohung, die jemand darstellt, kann trivial oder massiv sein. Die moralische Verantwortung, die jemand dafür trägt, dass von ihm eine Bedrohung ausgeht, kann ebenfalls minimal oder sehr hoch sein. Die »liability« der Personen tritt dann ebenso in Graden auf: sie kann ein sehr niedriges, aber auch ein sehr hohes Maß aufweisen. Personen, die keine ernst zu nehmende Gefahr darstellen und deren Grad an moralischer Verantwortlichkeit sehr gering ist, nennt McMahan »innocent«. Unschuldig in diesem Sinne sind typischerDiese Überlegung McMahans hat direkt zur Folge, dass Soldaten, die auf der ungerechten Seite kämpfen, berechtigt getötet werden dürfen, da sie (i) erfüllen (und wahrscheinlich auch (ii). Soldaten aber, die insofern auf der gerechten Seite kämpfen, als sie einen rechtfertigenden Kriegsanlass haben, entbehren (i). Feindliche Soldaten sind nicht darin gerechtfertigt, ihnen Schaden zuzufügen. Sie sind im relevanten Sinne unschuldig. Und Unschuldige sind immun gegen Angriffe. 5 McMahan (2009) diskutiert mögliche Grenzfälle, etwa Kindersoldaten oder zwangsrekrutierte Soldaten. 4

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Proportionalität von und im Krieg – Eine erste Annäherung

weise Zivilisten. Ich werde im Folgenden von »geeigneten Adressaten für Schädigungen« sprechen, wenn ich die Personen meine, die nach McMahan »liable to defensive harm« sind. Die eng verstandene Proportionalitätsbedingung fordert nun, bei der Verteidigung gegen eine geeignete Adressatin für eine Schädigung keinen Schaden zu verursachen, der im Lichte der Bedrohung und der moralischen Verantwortlichkeit unverhältnismäßig wäre. 6 Wenn beispielsweise Anna versucht, Ben das Portemonnaie zu stehlen, dann ist Anna eine geeignete Adressatin für eine Schädigung. Denn von Anna geht eine Bedrohung für Ben bzw. für sein Eigentum aus und Anna ist moralisch voll verantwortlich für diese Bedrohung (Anna wird nicht gezwungen o. ä.). Ben darf sich gegen Anna verteidigen, um sie daran zu hindern, ihm das Portemonnaie zu stehlen. Aber die Bedrohung, die hier von Anna ausgeht, ist gering. Ben darf Anna dementsprechend nicht töten, um sein Portemonnaie zu behalten. Täte er es, wäre seine Verteidigungshandlung disproportional im engen Sinne. Den Arm verdrehen darf Ben ihr aber womöglich. Ich werde im Folgenden davon ausgehen, dass Regierungsmitglieder und Soldaten, die in einem ungerechten Krieg kämpfen, der beispielsweise deshalb ungerecht ist, weil es sich um einen Angriffskrieg handelt, stets geeignete Adressaten für Schädigungen und Tötungen sind. Diese Annahme ist streng genommen problematisch. Denn ob beispielsweise alle Soldaten ein hinreichend hohes Maß an moralischer Verantwortlichkeit dafür aufweisen, ist durchaus bezweifelbar. Kindersoldaten oder zwangsrekrutierte Soldaten etwa sind möglicherweise nur vermindert moralisch verantwortlich für ihr Handlungen und sind deshalb keine geeigneten Adressaten für Tötungshandlungen, sondern nur für deutlich weniger gravierende Schädigungen. 7 Der Umstand, dass es Soldaten gibt, die keine geeigneten Adressaten für Tötungshandlungen sind, kann sogar in eine pazifistische Haltung münden. Eine Pazifistin könnte entweder behaupten, dass die meisten, wenn nicht alle, Soldaten nur einen Grad an moralischer Verantwortlichkeit aufweisen würden, der es verbietet, sie zu töten. Sie könnte aber auch behaupten, dass es ausreiche,

Vgl. McMahan 2014, S. 7. Jeff McMahan (2009) diskutiert sehr ausführlich diese Fälle und versucht auch, die Frage zu beantworten, wie mit solchen Soldaten umzugehen ist, insbesondere dann, wenn man nur weiß, dass einige Soldaten im relevanten Sinne unschuldig sind, aber nicht weiß, welche Soldaten es sind.

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Enge Proportionalität

dass es stets einige Soldaten gibt, die zu töten nicht gerechtfertigt wäre. Denn da es im Krieg praktisch kaum möglich ist, die Soldaten, die zu töten erlaubt ist, von denen zu unterscheiden, die zu töten verboten ist, dürfen überhaupt keine Soldaten getötet werden. 8 Ich werde im Folgenden immer von Fällen ausgehen, in denen Soldaten nicht gezwungen wurden, ihnen oder ihren Angehörigen bei Verweigerung keine gravierenden Repressalien drohen, sie nicht indoktriniert wurden und sie keine Kinder sind. Es wird sich nämlich zeigen, dass die pazifistische Konklusion auch dann folgt, wenn wir annehmen, dass es viele Menschen gibt, die zu töten im Krieg prinzipiell gerechtfertigt wäre. Soldaten und viele Regierungsmitglieder sind also aufgrund der Tatsache, dass sie eine nicht gerechtfertigte Gefahr für das Leben anderer Menschen darstellen und dafür auch in hohem Maße moralisch verantwortlich sind, nicht immun gegen gezielte Angriffe auf sie. Die Immunitätsbedingung des jus in bello, die durch das Prinzip der Doppelwirkung spezifiziert wird, gilt für sie nicht, sondern ausschließlich für Unschuldige, d. h. vor allem für Zivilisten. Ungerechtfertigt Krieg führende Soldaten und Regierungsmitglieder dürfen demnach beabsichtigt getötet werden. 9 Sie dürfen allerdings nur in dem Maße einen Schaden erleiden, wie er im engen Sinne in einem angemessenen Verhältnis zu dem Grad ihrer moralischen Verantwortlichkeit und zu der Bedrohung, die von ihnen ausgeht, steht. The narrow condition governs what you are doing intentionally to the targets of your attack. These are the people you are attacking intentionally, because you believe that they are liable to be attacked. 10

McMahan (2009) weist diese Überlegung zurück und vertritt die These, bei epistemischen Schwierigkeiten dürften Soldaten immer davon ausgehen, dass die Soldaten, die sie töten, tatsächlich geeignete Adressaten für Tötungshandlungen sind. 9 Das Prinzip der Doppelwirkung findet sich erstmals bei Thomas von Aquin in der Diskussion des Tötens einer Angreiferin in individueller Notwehr. Thomas stellt dabei heraus, die Angreiferin zu töten sei erlaubt, wenn der Tod nicht beabsichtigt wird. Es ist umstritten, ob das Prinzip der Doppelwirkung nicht gerade gegen das Töten in individueller Notwehr spricht, weil der Tod der Angreiferin nicht nur vorhergesehen wird, sondern eben beabsichtigt. Die angestellten Überlegungen können diesen Disput jedoch umgehen. Hiernach wäre es unerheblich, ob die Angreiferin beabsichtigt oder nur absehbar zu Tode kommt, da sie eine geeignete Adressatin einer gewaltsamen Verteidigungshandlung ist. Das Prinzip der Doppelwirkung wäre hier also gar nicht einschlägig. 10 McMahan 2008, S. 11 f. 8

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Menschen, die im relevanten Sinne unschuldig sind, insbesondere Zivilisten, sind jedoch immun dagegen, beabsichtigt getötet zu werden. Soldaten und Regierungsmitglieder zu schädigen ist also proportional im engen Sinne, wenn das Ausmaß der gegen sie gerichteten Gewalt nicht das Ausmaß der von ihnen ausgehenden Bedrohung und das Ausmaß ihrer Verantwortlichkeit für diese Bedrohung übersteigt. Mithilfe dieser Überlegungen lässt sich nun auch das Problem lösen, das sich im jus ad bellum mit der Bedingung stellte, ein Krieg dürfe nur dann geführt werden, wenn begründete Hoffnung auf Erfolg besteht. Die Juden im Warschauer Ghetto hatten keinerlei Siegeschancen, und waren sich dessen auch bewusst. Ebenso ist sich das Opfer einer Vergewaltigung unter Umständen vollkommen im Klaren darüber, durch seine Verteidigungshandlungen die Vergewaltigung nicht von sich abwenden zu können. Das Konzept der engen Proportionalität kann begründen, weshalb nichts gegen diese Verteidigungshandlungen spricht. Ob diese Handlungen erfolgreich sein werden oder nicht, spielt nämlich keine Rolle dafür, ob sie gerechtfertigt sind. Die Nazis stellten für die Juden eine moralisch nicht gerechtfertigte massive Bedrohung dar und sie waren für diese moralisch in hohem Maße verantwortlich. Sie waren deshalb geeignete Adressaten defensiver Handlungen. Von einem Vergewaltiger geht ebenfalls eine enorme Bedrohung für sein Opfer aus und er ist für diese moralisch verantwortlich. Er ist deshalb ein geeigneter Adressat für eine Schädigung durch das Opfer (oder auch durch eine dritte Person). Die Erfolgsbedingung des jus ad bellum scheint also nur dann relevant zu werden, wenn es sich bei den zu Tode kommenden Personen um Menschen handelt, die keine geeigneten Adressaten für Schädigungen sind. Inwiefern es überzeugend ist, sehr viele Personen, die grundsätzlich geeignete Adressaten für schädigende Handlungen sind, auch dann zu töten, wenn eine Verteidigung absehbar nicht erfolgreich sein wird, werde ich gegen Ende dieses Kapitels noch einmal besprechen. Das Konzept der engen Proportionalität löst somit einen Teil des Problems, das sich angesichts der Erfolgsbedingung des jus ad bellum zeigte. Zudem weist es auch auf den Zusammenhang zwischen der Erfüllbarkeit der Proportionalitätsbedingungen und der Forderung, ein Krieg brauche einen rechtfertigenden Anlass, hin. Von denen, die einen Krieg führen, geht immer eine akute Bedrohung für das Leben anderer Menschen aus. Wird ein Krieg aber geführt, ohne 84 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Enge Proportionalität

dass es einen Anlass gibt, der ihn rechtfertigen könnte, dann werden Menschen ungerechtfertigt einer Gefahr ausgesetzt. Wenn wir zudem annehmen, dass diejenigen, von denen diese ungerechtfertigte Bedrohung ausgeht, dafür auch moralisch in hohem Maße verantwortlich sind, dann folgt, dass sie geeignete Adressaten für gravierende Schädigungen sind. Gleichzeitig gilt aber für diejenigen, die sich gegen eine ungerechtfertigte Bedrohung verteidigen, dass sie selbst wiederum eine Bedrohung darstellen. Das ist ihnen jedoch nicht moralisch vorzuwerfen, denn sie stellen eine gerechtfertigte Bedrohung dar. Sie sind daher im relevanten Sinne unschuldig und genießen im Krieg Immunität dagegen, beabsichtigt getötet zu werden. Damit sind die Handlungen von Soldaten unterschiedlich zu bewerten. Die Soldaten, die in einem ungerechten Krieg kämpfen, töten ausschließlich Menschen, die zu töten sie nicht gerechtfertigt sind. Denn sowohl die Soldaten als auch die Zivilisten, die sie töten, sind unschuldig. Dagegen ist es den Soldaten, die sich gerechtfertigt verteidigen, erlaubt, feindliche Soldaten zu töten (über Zivilisten kann an dieser Stelle noch nichts gesagt werden). Das bedeutet auch: Wer einen ungerechten Krieg führt, weil es keinen Kriegsanlass gibt, der führt unweigerlich einen im engen Sinne unverhältnismäßigen Krieg, weil ausschließlich Menschen getötet werden, die unschuldig sind. Wer mit einem rechtfertigenden Anlass Krieg führt, erfüllt dagegen das Gebot der Proportionalität im engen Sinne mit Blick auf feindliche Soldaten. Mit dem Konzept der engen Proportionalität lassen sich nur Aussagen darüber treffen, wie groß der Schaden sein darf, der Menschen zugefügt wird, die grundsätzlich geeignete Adressaten für Schädigungen sind. Im Krieg sterben aber viele Menschen, die zu schädigen auf diese Weise noch nicht gerechtfertigt werden kann. Immer wenn Zivilisten zu Tode kommen, ist dies im engen Sinne unverhältnismäßig, da sie einen Schaden erleiden, obwohl sie erstens keine Bedrohung darstellen und sie zweitens wenig bis gar nicht moralisch verantwortlich dafür sind, dass überhaupt ein Krieg geführt wird. 11 Sollte es jemals gerechtfertigt sein, Zivilisten (unbeabsichtigt)

Der Umstand, dass eine Zivilistin ein diktatorisches Regime gewählt hat oder es gutheißt, macht sie moralisch verantwortlich für eine Bedrohung, die von dem Regime für andere Menschen ausgeht. Jedoch stellt zum einen die Zivilistin selbst keine Gefahr dar. Zum anderen scheint ihre moralische Verantwortlichkeit zu gering, um deshalb eine geeignete Adressatin für eine gravierende Schädigung zu sein. Mög-

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Proportionalität von und im Krieg – Eine erste Annäherung

zu töten, dann muss die Rechtfertigung eine andere sein als die dafür, Soldaten zu töten. McMahan führt hierzu ein zweites Verständnis von Proportionalität ein, mit dem genau die Personen abgedeckt werden sollen, die keine geeigneten Adressaten für Schädigungen sind.

3.2 Weite Proportionalität Proportionalität im weiten Sinne hat nicht mit dem Schaden derer zu tun, die eine ungerechtfertigte Bedrohung für andere Menschen darstellen und zugleich für diese Bedrohung moralisch verantwortlich sind. Sie hat es also nicht mit dem Schaden zu tun, den Personen im Krieg erleiden, die geeignete Adressaten für Schädigungen sind. Weite Proportionalität konzentriert sich stattdessen auf den Schaden, der denjenigen zugefügt wird, die unschuldig sind. Es geht also in erster Linie um die Verhältnismäßigkeit von Schäden, die Zivilisten erleiden. In die weite Proportionalität fließen auch Sachschäden mit ein – zerstörte Infrastrukturen und Gebäude, ausgefallene Ernten, ein Zusammenbruch der medizinischen Versorgung etc. Die Schäden, die Zivilisten im Krieg erleiden, können vielfältig sein: leichte oder schwere körperliche Verletzung, psychische Leiden und der Tod als wohl gravierendster Schaden. Zivilisten im Krieg zu schädigen, ist stets unproportional im engen Sinne. Aber es ist proportional im weiten Sinne, wenn ihr Schaden das kleinere Übel ist im Vergleich zu den Alternativen zu einem Krieg (wide ad bellum proportionality) oder zu einer konkreten Kriegshandlung (wide in bello proportionality): »Wide proportionality […] governs harms to which the victims are not liable. It is a constraint on a lesser-evil justification for the infliction of harm.« 12 Da der Umstand, dass im Krieg Zivilisten zu Tode kommen, das Führen von Kriegen so besonders problematisch erscheinen lässt, liegt der Fokus dieser Arbeit auf diesem weiten Verständnis von Proportionalität. Denn wenn man wissen möchte, ob es angesichts dessen, dass im Krieg viele Zivilisten sterben, jemals verhältnismäßig sein kann, Krieg zu führen, dann ist das weite Proportionalitätsverständnis dasjenige, das zur Diskussion steht. licherweise rechtfertigt der Grad ihrer Verantwortlichkeit, dass sie irgendwelche Schäden erleidet, aber sicherlich nicht, dass sie stirbt. Hierzu auch McMahan 2009. 12 McMahan 2016a, S. 3.

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Weite Proportionalität

Was es bedeutet, dass ein Krieg oder eine einzelne Handlung im Krieg im engen Sinne proportional ist, haben wir bereits gesehen. Der enge Proportionalitätsbegriff ist insofern nicht klassisch konsequentialistisch, als die Antwort auf die Frage, ob eine Soldatin oder eine Zivilistin geschädigt oder getötet werden darf, keinen Verweis auf die Konsequenzen erfordert. Für das weite Proportionalitätsverständnis ist dies bisher noch nicht so klar. Auch hier gilt es, Proportionalität deontologisch zu interpretieren. Dass es gerechtfertigt ist, Zivilisten zu töten, wenn dies das kleinere Übel darstellt, bedeutet also nicht, dass sie dann getötet werden dürfen, wenn die Alternative darin bestünde, dass mehr Menschen sterben. Grundsätzlich geht es bei der Proportionalität darum, ein Übel – beispielsweise den Tod von Zivilisten – gegen etwas anderes abzuwägen. Hurka formuliert die Proportionalitätsbedingung als eine, in der die Güter eines Krieges bzw. dessen Gutes gegen dessen Übel abgewogen werden müssen. Gefordert ist dabei, dass die Güter die Übel überwiegen müssen. Bevor festgestellt werden kann, ob ein Krieg oder eine einzelne Kriegshandlung proportional ist, muss jedoch geklärt werden, erstens um welche Güter es geht, zweitens um welche Übel und drittens wie sie gegeneinander abzuwägen sind.

Relevante Güter Nicht alles Gute, das ein Krieg oder eine einzelne Kriegshandlung mit sich bringt, scheint relevant für Proportionalität. So stellt McMahan fest, dass nicht das »Gute« relevant sein kann, das mit einem ungerechten Krieg realisiert werden soll, der deshalb ungerecht ist, weil er im Verfolgen moralisch schlechter Ziele, etwa einer ethnischen Säuberung, besteht: »[T]he achievement of an unjust aggressor’s wrongful ends may be good for the aggressor but clearly cannot weigh against or offset the harms inflicted on the victims of the aggression.« 13 Das Erreichen der moralisch nicht zu rechtfertigenden Ziele eines ungerechten Krieges ist gut für den Aggressor, aber es handelt sich hierbei nicht um moralische Güter, sondern um Übel. Da es also keine Güter sind, können sie auch nicht die zahlreichen Übel des

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McMahan 2014a, S. 428.

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Proportionalität von und im Krieg – Eine erste Annäherung

Krieges oder der individuellen kriegerischen Akte aufwiegen. 14 Dieser Krieg muss als Ganzer immer unproportional sein. Aber auch die einzelnen Kriegsakte können nicht proportional sein, weil die militärischen Vorteile, die vor allem gegen zivile Schäden abgewogen werden müssen, Vorteile mit Blick auf die Realisierung der moralisch falschen Ziele sind. Und diese Vorteile können nicht zu den moralischen Gütern gezählt werden, weil bereits die Ziele des Krieges nicht auf die Seite der Güter gehören. Das hat schließlich zur Folge, dass solche ungerechten Kriege nicht nur das jus ad bellum verletzen, sondern immer auch das jus in bello. (Das gilt übrigens auch dann, wenn die Ziele des ungerechten Krieges zwar moralisch gut sind, aber eben nicht gut genug, um die Bedingung der just cause des jus ad bellum zu erfüllen. Die moralisch nicht ausreichend gewichtigen Güter, die erreicht werden sollen, können niemals die Übel des Krieges insgesamt wie auch die Übel individueller militärischer Handlungen aufwiegen.) Aber auch nicht alles, was wir tatsächlich als »Güter« bezeichnen würden, ist für Proportionalität relevant. Killing cannot be justified by merely economic goods, and the same is true of many other goods. A war may boost scientific research and thereby speed the development of technologies such as nuclear power; it may also satisfy the desires of soldiers tired of training and eager for real combat. Neither of these goods seems relevant to proportionality or able to justify killing; an otherwise disproportionate war cannot become permissible because it has these effects. 15

Dass aufgrund eines Krieges wissenschaftliche Forschungen Fortschritte machen oder dass der Krieg die Wirtschaft ankurbelt und den Wohlstand einer Gesellschaft steigert, ist zwar etwas Gutes. Aber es kann nicht zu einer Rechtfertigung dafür beitragen, dass Zivilisten sterben. Es gibt in der Literatur eine inzwischen recht umfangreiche Diskussion darüber, anhand welcher Kriterien sich bestimmen lässt, welche Güter relevant sind und daher in die Proportionalitätsüberlegungen eingehen sollen und welche nicht. 16 Es herrscht Konsens Vgl. McMahan 2008, S. 12 und S. 13. Hurka 2005, S. 40. 16 Für eine Diskussion von just cause goods und non just cause goods, sufficient und independent sowie contributing und conditional just cause goods siehe insbesondere Hurka 2005 und 2008, Kamm 2011 und McMahan 2014a. 14 15

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Weite Proportionalität

darüber, dass etwas Gutes nur dann relevant sein kann, wenn es in der richtigen Beziehung zu dem steht, was einen Kriegsanlass lieferte. Dass beispielsweise ein Völkermord beendet werden kann, ist etwas Gutes, das klarerweise zählt. Dass dabei zugleich etwa die Rechte von bisher unterdrückten Frauen gestärkt werden können, zählt möglicherweise auch, weil es in der richtigen Beziehung zum Beenden des Völkermordes steht. Aber dass ein Krieg militärische Forschungen antreibt, steht in der falschen Beziehung zum Beenden des Völkermordes und ist daher nicht relevant. Wann genau diese Beziehung die richtige oder die falsche ist, wird kontrovers diskutiert. Ich schlage jedoch vor, auf die Rede von »Gütern« gänzlich zu verzichten und damit diese Kontroverse weitestgehend zu vermeiden. Denn die Rede davon, dass ein Krieg irgendetwas Gutes mit sich bringt, erscheint mir von vornherein verfehlt. Wir haben gesehen, dass es sich bei gerechtfertigten Kriegen in aller Regel nur um Verteidigungskriege oder um humanitäre Interventionen handeln kann. In diesen Kriegen geht es gar nicht darum, irgendetwas Gutes hervorzubringen, das all das Schlechte dieser Kriege aufwiegen kann. Gerade aus einer deontologischen Perspektive scheint es vielmehr darum zu gehen, etwas Schlechtes zu verhindern oder zu beenden, ohne dass damit etwas noch Schlechteres einhergeht – und dass es Menschen gibt, die einen Anspruch darauf haben, dass etwas Schlechtes verhindert oder beendet wird. Wenn wir statt von dem Guten, das bewirkt wird, von dem Schlechten, das aufgehalten wird, sprechen, und dabei auch nur das berücksichtigen, worauf Menschen einen Anspruch haben, wird recht schnell klar, was für Proportionalität relevant sein kann und was nicht. Ein Völkermord ist etwas Schlechtes, das bereits besteht und das mit einem Krieg beendet werden kann, und auf dessen Beendigung die vom Tod bedrohten Menschen auch einen Anspruch haben könnten. Dass in einem diktatorischen Regime Frauen unterdrückt werden, ist schlecht, und Frauen haben einen Anspruch darauf, nicht unterdrückt zu werden. Wenn ein Krieg zur Stärkung von Frauen führen kann, dann ist das entsprechend relevant für die Proportionalität des Krieges, aber auch für die einzelnen Handlungen im Krieg. Dass dagegen Wissenschaftler wenig Mittel haben, an der Entwicklung neuer Waffen zu arbeiten, ist für sie etwas Schlechtes. Wissenschaftler haben aber keinen Anspruch auf die Beseitigung dieses für sie schlechten Umstandes. Deshalb ist es für Proportionalität auch

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Proportionalität von und im Krieg – Eine erste Annäherung

nicht relevant, wenn sie aufgrund eines Krieges wissenschaftliche Forschungen betreiben können. Der Bereich dessen, was all die Übel, die mit einem Krieg überhaupt erst verursacht werden, aufwiegen könnte, ist damit durchaus begrenzt. Auf der »positiven« Seite der Proportionalität geht entsprechend Vieles nicht ein.

Relevante Übel Während auf der Seite der Güter bzw. der verhinderten Übel, die ein Krieg oder eine individuelle Kriegshandlung mit sich bringen, vieles nicht in die Proportionalitätsüberlegung eingeht, gilt dies nicht für die Seite der Übel, die verursacht werden. Hier scheint es keine oder zumindest kaum Restriktionen zu geben. Dieser Auffassung ist auch Hurka: When we turn to the evils relevant to proportionality, we seem to find no restriction on their content parallel to the one on relevant goods. That a war will boost the world’s economy does not count in its favor, but that it will harm the economy surely counts against it. Whereas economic benefits are not relevant goods for proportionality, economic harms are relevant evils. It is also relevant that a war will hamper scientific research or cause pain to the soldiers who fight; these effects too can make a war disproportionate. In assessing a war for proportionality, it seems we count evils of all the kinds it will cause, with no limits on their content. 17

Auf der positiven Seite der Proportionalität spielt es keine Rolle, ob ein Krieg beispielsweise die Wirtschaft ankurbelt. Hingegen ist es auf der negativen Seite durchaus relevant, wenn ein Krieg wirtschaftliche Einbußen zur Folge hat. Die zahlreichen Übel eines Krieges gehen also vollständig in die Proportionalität ein: Schäden an Gebäuden, der Infrastruktur, der Wirtschaft, an Personen usw. Eine Möglichkeit, diese Asymmetrie zwischen verhinderten und verursachten Schäden zu erklären, besteht darin, auf die Unterscheidung zwischen Tun und Unterlassen und der mit dieser zusammenhängenden Unterscheidung zwischen positiven und negativen Pflichten zu verweisen. 18 Danach sei die negative Pflicht, keinen Schaden zu verursachen, strikter 17 18

Hurka 2005, S. 45. Vgl. Foot 1978, S. 150 f.

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Weite Proportionalität

als die positive Pflicht, Schaden abzuwenden, zu helfen oder Gutes zu tun. Schäden zu verursachen verletzt eine strikte negative Pflicht. Das bedeutet jedoch nicht, dass die im Krieg verursachten Schäden alle gleichermaßen gewichtig sind. Dass Menschen zu Schaden kommen, ist gewichtiger, als dass ein Supermarkt zerstört wird. Grundsätzlich lässt sich sagen, dass Schäden an Dingen mit einem geringeren Gewicht eingehen als Schäden an Personen bzw. dass Schäden an Dingen leichter zu rechtfertigen sind als Schäden an Personen. Der gewichtigste Schaden, der überhaupt verursacht werden kann, ist dabei der Tod von Menschen. Bei dem Gewicht, mit dem der Tod von Menschen auf der negativen Seite der Proportionalität eingeht, muss jedoch zwischen den Menschen unterschieden werden, die geeignete Adressaten für Schädigungen sind, und denen, die unschuldig sind. Der Tod eines Soldaten wiegt hier deutlich weniger als der Tod von Zivilisten. Nach meiner Darstellung der engen Proportionalität könnte man meinen, der Tod geeigneter Adressaten von Schädigungen habe gar kein Gewicht, sei also für die weite Proportionalität überhaupt nicht mehr relevant. Denn geeignete Adressaten von Schädigungen im Krieg zu töten, ist bereits im engen Sinne proportional. Weshalb sollte es im weiten Sinne unter Umständen unverhältnismäßig sein, sie zu töten? Angenommen, wir haben es mit einem Fall individueller Notwehr zu tun. Ben wird von einer großen Gruppe von Personen ungerechtfertigt angegriffen. Nehmen wir an, für jedes Mitglied der Gruppe gilt (nicht erst für die Gruppe insgesamt), dass es eine Bedrohung für Bens Leben darstellt und dass jedes Mitglied moralisch voll verantwortlich ist. Dann ist es proportional im engen Sinne, wenn Ben jedes Mitglied der Gruppe tötet (unter der Annahme, dass jedes Mitglied die Bedrohung für Ben aufrechterhält). Es wäre also gerechtfertigt, wenn Ben, um sich selbst zu schützen, viele Angreifer tötet. Würde der Tod der einzelnen Angreifer nämlich mit irgendeinem Gewicht in die weite Proportionalität der Verteidigungshandlung eingehen, müsste es ab einer bestimmten Anzahl getöteter Angreifer nicht mehr zulässig sein, dass Ben sie tötet, da der gemeinsame Schaden, den sie erleiden, den Schaden überwiegt, den Ben von sich abzuwenden versucht. Dann aber dürfte Ben streng genommen keinen seiner Angreifer töten, wenn er weiß, dass er sein Leben nur schützen kann, indem er sie alle tötet, aber sie alle zu töten, unverhältnismäßig wäre. Denn würde Ben nur so viele Angreifer töten, wie verhältnismäßig wäre, könnte er sein Leben nicht retten, und die be91 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Proportionalität von und im Krieg – Eine erste Annäherung

reits getöteten Angreifer wären umsonst gestorben. McMahan bewertet diesen Fall so, dass es Ben erlaubt ist, alle Angreifer zu töten, egal wie viele es sind. If there were – that is, if killing a person who is liable to be killed had to count as a bad effect in assessing proportionality—there would be a limit to the number of evil aggressors it would be permissible to kill to prevent oneself from being killed by them. If, for example, there were enough evil murderers, each of whom would kill me unless I killed him, I would be obliged, on this view, to allow the first one to kill me. For it would, by hypothesis, be disproportionate for me to kill all of them and therefore pointless (because it would only be postponing the inevitable) to kill even one. But most of us believe that if each potential murderer is liable to be killed, it would be permissible, and therefore proportionate, to kill them all, no matter how many of them there were. 19

David Rodin meint dem gegenüber, dass Ben an irgendeinem Punkt zu viele tötet. 20 Bens komplexe Verteidigungshandlung sei also an irgendeinem Punkt nicht mehr zulässig. Dass Ben zur Rettung seines eigenen Lebens nur x Angreifer töten darf, aber nicht x + 1 Angreifer, deckt sich nicht mit meinen Intuitionen. Mir scheint, wir können von Ben nicht verlangen, dass er sein eigenes Leben an irgendeinem Punkt zugunsten der Leben der Personen opfert, die ihn ungerechtfertigt in Lebensgefahr bringen. Wenn wir das Beispiel so umwandeln, dass es sich um einen Fall von individueller Nothilfe handelt, sind meine eigenen Intuitionen jedoch nicht mehr so klar. Angenommen, Ben wird ungerechtfertigt von mehreren Personen angegriffen, kann sich aber selbst nicht verteidigen. Wenn Anna jeden einzelnen Angreifer tötet, um Ben zu schützen, wäre dies proportional im engen Sinne. Aber wenn Anna sehr viele Angreifer töten muss, um Ben zu retten, könnte der Punkt erreicht werden, an dem sie zu viele tötet. Ich denke also, diese Fälle sind intuitiv nicht klar zu beurteilen. Aber sie geben einen Hinweis darauf, dass es im Krieg nicht irrelevant ist, wie viele feindliche Soldaten getötet werden. Ein Krieg oder eine einzelne Kriegshandlung könnte unverhältnismäßig sein, wenn sehr viele Soldaten sterben. Wir dürfen nicht vergessen, dass sie, auch wenn sie geeignete Adressaten für schwere Schädigungen sind, Men19 20

McMahan 2011, S. 144 f. Vgl. Rodin 2011, S. 99 f.

92 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Weite Proportionalität

schen sind, deren Leben einen Wert hat. Es ist nicht nur etwas Schlechtes, wenn Zivilisten sterben. Es ist auch schlecht, wenn Soldaten sterben. Denn es ist schlecht, wenn Menschen sterben. Der Tod einer Zivilistin mag beklagenswerter sein als der Tod eines Soldaten, der sich an einem Angriffskrieg beteiligt. Aber den Tod von Soldaten in der weiten Proportionalität nicht vollkommen unberücksichtigt zu lassen, bringt zumindest zum Ausdruck, dass ihr Tod nicht bedeutungslos ist. Wenn wir davon ausgehen, dass der Tod geeigneter Adressaten für Schädigungen – Soldaten, Regierungsmitglieder –, mit geringem Gewicht auf der Seite der im Krieg herbeigeführten Übel zählt, der Tod von Zivilisten jedoch mit enormem Gewicht, dann lässt sich bereits ahnen, dass das Gebot der weiten Proportionalität sehr restriktiv sein muss. Es sieht so aus, als sei es kaum möglich, dass die wenigen relevanten Übel, die mit einem Krieg verhindert werden sollen, die zahlreichen Übel, die verursacht werden, überwiegen. Ob sie es jemals können, hängt jedoch entscheidend ab, wie die eine Seite gegen die andere Seite abzuwägen ist.

Abwägungskriterien Bisher wurde herausgestellt, dass ein Krieg verschiedene Übel verhindern oder aufhalten kann, auf deren Verhinderung Menschen prima facie einen Anspruch haben. Diese Übel sind auf der positiven Seite der Proportionalität relevant. Auf der negativen Seite liegen alle Übel, die durch einen Krieg erst hervorgebracht werden. Auf der einen Seite könnten durch einen gerechtfertigten Krieg viele Menschenleben geschützt werden. Auf der anderen Seite kostet er aber auch viele Menschen das Leben. Um sagen zu können, ein Krieg oder eine Kriegshandlung sei proportional, müssen diese beiden Seiten zueinander ins Verhältnis gesetzt werden. Sie müssen gegeneinander abgewogen werden. Doch wie ist die Abwägung zu verstehen? Eine klassisch konsequentialistische oder utilitaristische Abwägung würde hier darauf hinauslaufen, Menschenleben zu zählen. Wenn der Krieg mehr Menschen rettet, als er Menschen tötet, ist er verhältnismäßig unter der Annahme, dass das Leben eines Menschen den gleichen Wert hat wie das Leben eines anderen Menschen.

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Proportionalität von und im Krieg – Eine erste Annäherung

Ich hatte bereits darauf hingewiesen, dass die Theorie des gerechten Krieges eine deontologische Lehre ist. Wenn wir Proportionalität deontologisch interpretieren wollen, dann kann die Abwägung nicht auf die eben skizzierte Weise geschehen. Stattdessen müssen typisch deontologische Überlegungen zum Tragen kommen, die dabei helfen, genauer zu bestimmen, wie schwer ein verhindertes oder verursachtes Übel (typischerweise der Tod von Zivilisten) unter welchen Bedingungen wiegt. Doch welche Überlegungen könnten das sein? In der noch sehr jungen Diskussion der Proportionalität von Krieg und im Krieg gibt es inzwischen zahlreiche Vorschläge, die ich im Folgenden kurz ausführen werde. Das Prinzip der Doppelwirkung Das jus in bello fordert, im Krieg zu beachten, dass Zivilisten immun gegen Angriffe sind. Das Prinzip der Doppelwirkung spezifiziert, wogegen genau Zivilisten immun sind. Sie sind immun dagegen, dass sie bei einem Angriff beabsichtigt sterben. Sie sind also immun gegen gezielte Angriffe auf sie. Sie sind nicht immun dagegen, überhaupt getötet zu werden. Dagegen, dass sie absehbar bei einem Angriff auf militärische Ziele ums Leben kommen, sind sie nicht immun. Die Unterscheidung des Prinzips der Doppelwirkung zwischen dem, was Akteure beabsichtigen und dem, was sie nur vorhersehen, ist auch für die Proportionalitätsbedingungen ad bellum und in bello relevant. Werden Zivilisten beabsichtigt getötet, verletzt dies nicht nur die Immunitätsbedingung des jus in bello. Sondern da der Tod von Zivilisten, wenn er beabsichtigt herbeigeführt wird, ein schwerwiegenderes Übel ist, als er es wäre, würde er nur vorhergesehen, ist es auch unverhältnismäßig, Zivilisten beabsichtigt zu töten. Der Tod von Zivilisten wiegt auf der negativen Seite der Proportionalität also dann besonders schwer, wenn er beabsichtigt wird. Er wiegt so schwer, dass er nicht aufzuwiegen ist. Wird der Tod von Zivilisten dagegen nur vorhergesehen, wiegt er weniger schwer und es erscheint zumindest prinzipiell möglich, dass er aufgewogen werden kann. 21 Mithilfe des Prinzips der Doppelwirkung lässt sich erklären, warum im Krieg Angriffe auf Wohngebiete intuitiv nur äußerst schwer zu rechtfertigen sind, Angriffe auf militärische Einrichtungen dagegen leichter, obwohl in beiden Fällen Zivilisten sterben. Angriffe 21

Vgl. Hurka 2008, S. 140, Rodin 2011, S. 88, McMahan 2014, S. 2.

94 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

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auf Wohngebiete verletzen nicht nur die Immunität von Zivilisten. Sie sind darüber hinaus unverhältnismäßig. Das Prinzip der Doppelwirkung ist hinsichtlich seiner Überzeugungskraft vor allem außerhalb der Debatte um die Ethik des Krieges viel diskutiert und dabei stark kritisiert worden. Mit Blick auf Krieg erfährt das Prinzip der Doppelwirkung vordergründig von Pazifistinnen, also von typischen Gegnerinnen der Theorie des gerechten Krieges, Kritik. Gerade aus pazifistischer Sicht erscheint es erklärungsbedürftig, weshalb der Tod eines Menschen weniger problematisch und damit leichter zu rechtfertigen sein sollte, wenn er nur vorhergesehen wird, als er es wäre, würde er beabsichtigt werden. Sollte sich das Prinzip der Doppelwirkung bei näherer Betrachtung nicht aufrechterhalten lassen, müssten wir offenbar folgern, dass es moralisch gesehen keinen Unterschied macht, ob der Tod von Zivilisten beabsichtigt oder nur vorhergesehen wird. Das eine wäre dann so problematisch wie das andere. Eine militärische Einrichtung zu attackieren und dabei auch den Tod von Zivilisten in Kauf zu nehmen, wäre genauso unverhältnismäßig wie das gezielte Töten von Zivilisten. Das Prinzip der Doppelwirkung wäre also für die Proportionalität nicht relevant, weil es schlicht nicht überzeugen kann. Da das Prinzip der Doppelwirkung neben der Forderung nach einem gerechtfertigten Kriegsanlass ein besonders wichtiger Bestandteil der Theorie des gerechten Krieges ist, der den Umgang mit Zivilisten im Krieg regelt, werde ich mich mit ihm im nächsten Kapitel ausführlich beschäftigen. Es überrascht, dass das Prinzip der Doppelwirkung in den philosophischen Überlegungen zu ethischen Fragen des Krieges bisher von Vertreterinnen der Theorie des gerechten Krieges, die sich als diese stets auf das Prinzip der Doppelwirkung berufen, keinerlei kritische Diskussion erfahren hat. Die Diskussionen des Prinzips der Doppelwirkung und die der moralischen Rechtfertigbarkeit von Krieg stehen relativ unverbunden nebeneinander. Doch der skizzierte pazifistische Einwand zeigt, dass die Theorie des gerechten Krieges mit dem Prinzip der Doppelwirkung möglicherweise insofern steht und fällt, als eine Zurückweisung des Prinzips der Doppelwirkung diese in einen Pazifismus münden lässt, weil nicht mehr begründet werden kann, weshalb es im Krieg jemals zulässig ist, Zivilisten zu töten. Auch die Erfüllbarkeit der Proportionalitätsüberlegungen stehen und fallen eventuell mit dem Prinzip der Doppelwirkung, wenn sie deontologisch interpretiert werden. Es ist daher lohnenswert, sich mit der Frage, ob das Prinzip der Doppelwir95 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Proportionalität von und im Krieg – Eine erste Annäherung

kung überhaupt plausibel ist, näher zu befassen. Sollte es nicht plausibel sein, wäre zu überlegen, was dies für die Erfüllbarkeit der Proportionalitätsüberlegungen und für die Rechtfertigbarkeit von Krieg allgemein bedeuten könnte. Die Nähe der Beziehung Thomas Hurka schlägt vor, in der Bedingung der Proportionalität zu berücksichtigen, wer es ist, der im Krieg einen Schaden erleidet. Es macht nicht nur einen Unterschied, ob Soldaten oder Zivilisten sterben, der sich darin ausdrückt, dass der Tod von Zivilisten die Proportionalität schwerer erfüllbar macht als der Tod von Soldaten. Es kommt Hurka zufolge auch darauf an, wessen Soldaten und wessen Zivilisten es sind, die sterben. Ein Staat dürfe dem Leben der eigenen Soldaten mehr Gewicht geben als dem der feindlichen, gerade weil es die eigenen Soldaten sind. 22 Gleichzeitig aber wiege das Leben der eigenen Soldaten weniger als das der Zivilisten auf der feindlichen Seite, weil der Tod von Soldaten grundsätzlich zu dem gehöre, was bei einem Krieg zu erwarten ist, da sie legitime Angriffsziele im Krieg seien. Der Tod von Zivilisten dagegen sei nicht zu erwarten, da sie anzugreifen nicht zulässig ist. […] they are also soldiers, which means they are legitimate targets of military force and their deaths are an expected consequence of war as civilians’ deaths are not. 23

Außerdem dürfe das Leben der eigenen Zivilisten stärker gewichtet werden als das der Zivilisten des Feindes, wiederum weil es die eigenen Zivilisten sind, für die ein Staat in größerem Maße verantwortlich ist als für Zivilisten anderer Staaten. Das bedeutete aber keineswegs, dass mehr Zivilisten des Feindes unbeabsichtigt oder sogar unbeabsichtigt getötet werden dürfen, falls es dafür, die eigenen Zivilisten vor einem Schaden zu bewahren, unvermeidbar sein sollte. Für das moralische Gewicht eines hinzugefügten Schadens spiele es keine Vgl. Hurka 2005, S. 63. Hurka 2005, S. 63. – Wie gesehen, bestreitet Jeff McMahan bereits, dass Soldaten, die in einem gerechten Krieg agieren, »liable« sind und insofern legitimerweise angegriffen und getötet werden dürfen. Der Tod dieser Soldaten zählt demnach zu den Übeln in der weiten Proportionalitätskalkulation und macht einen ohnehin ungerechten Krieg mit Sicherheit unproportional. Trotzdem gilt auch bei McMahan, dass der Tod dieser Soldaten stets weniger wiegt als der von Zivilisten.

22 23

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Rolle, welchem Staat eine Zivilistin angehört. Unterschiede zwischen Zivilisten dürfen nur gemacht werden, wenn Vorteile verteilt werden, nicht wenn Schäden verursacht werden. Common sense permits us to prefer those closer to us when we are giving benefits, but not when the issue is causing harm. On the contrary, it gives everyone equal rights against such harm and requires those rights to be equally respected. A father may and even should prefer saving his daughter’s life to saving five strangers, but he may not kill those strangers in order to save his daughter. The same goes for governments. They may prefer their citizens’ interests when giving benefits like those of poverty relief or trade policy, but not when killing. 24

Hurkas Vorschlag, das moralische Gewicht eines Schadens, den ein Mensch im Krieg erleidet, davon abhängig zu machen, in welcher Beziehung ein Staat zu diesem Menschen steht, kann allerdings kaum überzeugen. Es ist plausibel anzunehmen, dass der Tod eines Soldaten, der einen insofern gerechten Krieg führt, als es einen rechtfertigenden Kriegsanlass gibt, ein schwerwiegenderes Übel ist als der Tod eines Soldaten, der in einem ungerechten Krieg kämpft. Doch die Begründung dafür hat, wie wir bereits bei der engen Proportionalität gesehen haben, nichts damit zu tun, dass Staaten gegenüber ihren eigenen Bürgern parteiisch sein dürfen. Der Grund ist vielmehr, dass ungerechtfertigt kämpfende Soldaten geeignete Adressaten für Schädigungen sind, deren Tod deshalb weniger Gewicht zukommt als dem Tod gerecht kämpfender Soldaten, die nach McMahan unschuldig sind. Ein Staat, der einen moralisch nicht zu rechtfertigenden Krieg führt, etwa einen Expansionskrieg, kann, wie sich gezeigt hat, ohnehin keinen verhältnismäßigen Krieg führen, weil seine Soldaten ausHurka 2005, S. 60. Hurkas Formulierung, der Vater dürfe die Fremden nicht töten, um seine Tochter zu retten, deutet das Instrumentalisierungsverbot des Prinzips der Doppelwirkung an. Gleichzeitig schreibt er, parteiisch dürfe man nur beim Verteilen von Vorteilen, aber nicht beim Verteilen von Nachteilen, also beim Töten, sein, qualifiziert dies aber nicht mit einem beabsichtigten Töten. Ich gehe davon aus, dass es Hurka hier nicht so sehr auf die Unterscheidung zwischen beabsichtigtem und nur vorhergesehenem Töten ankommt, sondern auf die zwischen Helfen und Töten. Das Beispiel ließe sich dann auch so konstruieren, dass es dem Vater moralisch verboten wäre, seine Tochter auf eine Weise zu retten, die verursacht, dass fünf Menschen vorhersehbar zu Tode kommen.

24

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schließlich unschuldige Menschen töten. Dass dieser Staat in einer besonderen Beziehung zu seinen eigenen Bürgern steht, macht den Tod seiner eigenen Bürger nicht weniger gravierend als den Tod der Bürger des Staates, der sich verteidigt. Hurkas These, das Leben der Bürger eines Staates A wiege in der Proportionalitätsüberlegung mehr als das Leben der Bürger eines Staates B, trifft also nur zu, wenn A ausgehend von einem rechtfertigenden Anlass einen Krieg gegen B führt. Aber Hurkas Begründung für diese These ist nicht plausibel. Was ist von Hurkas Begründung für die These zu halten, der Tod von Soldaten wiege weniger schwer als der Tod von Zivilisten? Die These scheint überzeugend. Hurkas Begründung lautete: Soldaten sind im Gegensatz zu Zivilisten legitime Angriffsziele im Krieg und ihr Tod ist deshalb erwartbar. Nach meiner Darstellung sind jedoch nur diejenigen Soldaten legitime Angriffsziele im Krieg, die einen Krieg führen, für den es keinen rechtfertigenden Anlass gibt und denen wir eine hohe moralische Verantwortlichkeit für ihr Handeln zuschreiben können. Alle Soldaten, die beispielsweise einen Verteidigungskrieg kämpfen, sind, ebenso wie alle Zivilisten im Krieg, keine legitimen Angriffsziele. In diesem Fall sind sowohl die Soldaten als auch die Zivilisten unschuldig. Dennoch macht es intuitiv einen Unterschied, ob ein unschuldiger Soldat oder eine Zivilistin stirbt. Dass der Tod von Soldaten eher erwartbar sei als der von Zivilisten, kann dies nicht begründen. Denn aus der Erfahrung wissen wir, dass viele Zivilisten im Krieg sterben. Ihr Tod ist ebenso zu erwarten. Die Begründung scheint mir diese zu sein: Gesetzt, dass die Soldaten freiwillig kämpfen, sind sie damit einverstanden, einem Todesrisiko ausgesetzt zu werden. Es handelt sich hier sozusagen um ein von den Soldaten akzeptiertes Berufsrisiko. Zivilisten dagegen haben nie zugestimmt, ein Todesrisiko zu tragen. Der Zustimmungsgedanke ist es, der erklärt, weshalb es leichter zu rechtfertigen ist, unschuldige Soldaten zu töten als Zivilisten. Inwiefern es zutrifft, dass wir tatsächlich niemals von einer Zustimmung von Zivilisten zu für sie riskanten Handlungen ausgehen können, werde ich im Folgenden noch genauer diskutieren. Schließlich behauptet Hurka, ein Staat dürfe dem Leben der eigenen Zivilisten nur dann mehr Gewicht geben als dem Leben fremder Zivilisten, wenn ein Staat entweder den eigenen oder den fremden Zivilisten Vorteile zugutekommen lassen kann. In der Frage, ob der Tod der eigenen oder der fremden Zivilisten verursacht wird, 98 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

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dürfe ein Staat dagegen nicht parteiisch sein. Hurkas Begründung bleibt etwas unklar. Die Idee scheint mir zu sein, dass zum einen unsere Pflicht, Menschen nicht zu schädigen, strikter ist als unsere Pflicht, Menschen Gutes zu tun. Zum anderen dürfen Staaten dabei, Gutes zu tun, parteiisch sein, weil sie zu ihren Bürgern im gleichen Verhältnis stehen wie Eltern zu ihren Kindern. Beispielsweise ist es gerechtfertigt, dass Eltern nur ihren eigenen Kindern ein Eis kaufen, auch wenn es viele andere Kinder gibt, die ebenfalls gerne ein Eis hätten. Das Eisbeispiel zeigt bereits, dass mit Hurkas Überlegung etwas nicht stimmt. Es geht im Krieg typischerweise nicht um die Frage, welchen Zivilisten ein Staat Vorteile zukommen lassen kann. Es geht eher darum, welchen er Nachteile erspart. Hurkas Unterscheidung zwischen ›einen Schaden verursachen‹ oder ›töten‹ und ›jemandem einen Vorteil zukommen lassen‹ ist verfehlt. Stattdessen geht es darum, entweder einen Schaden zu verursachen oder einen Schaden (nicht) zu verhindern. Wenn ein Staat entscheiden muss, ob er entweder den Tod eigener oder den Tod fremder Zivilisten verursacht, dürfe er Hurka zufolge nicht parteiisch sein. Wenn ein Staat jedoch entscheiden muss, ob er entweder einen feindlichen Angriff auf eigene oder auf fremde Zivilisten verhindert, dürfe er parteiisch sein. Angenommen, zwei Staaten A und B werden von Staat C angegriffen, und angenommen, A ist selbst nicht in der Lage, seine eigene Bevölkerung zu schützen und B kann angesichts seiner strategischen Mittel nicht sich selbst und A verteidigen. Dann erscheint es zulässig, dass B dem Schutz der eigenen Bevölkerung Vorrang vor dem Schutz der Bevölkerung des Staates A gibt. Ebenso dürfe ein Vater es auch vorziehen, seine eigene Tochter anstelle ihm fremder Menschen zu retten. Nun scheint mir die Beziehung, in der Eltern zu ihren Kindern stehen, nicht die gleiche wie die zwischen Staaten und ihren Bürgern zu sein. Vielleicht ist die Beziehung eine ähnliche, aber sie ist sicherlich schwächer. Zwar scheint es also zulässig, dass Staaten dem Leben ihrer eigenen Zivilisten manchmal mehr Gewicht geben als dem Leben fremder Zivilisten. Jedoch bleibt offen, wie viel mehr Gewicht sie ihnen geben dürfen. Ich werde Hurkas Vorschlag, die Nähe oder Ferne der Beziehung, in der ein Staat zu den Menschen steht, die im Krieg sterben, nicht weiterverfolgen. Die einzelnen Thesen Hurkas dazu, wie schwer der Tod welcher Menschen in der Proportionalität wiegt, sind zwar weitestgehend plausibel. Jedoch scheint die Beziehung zwischen 99 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

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Staaten und ihren Bürgern diese Thesen nicht adäquat zu begründen, weil fraglich bleibt, inwiefern sie geeignet ist zu rechtfertigen, dass ein Staat den eigenen Bürgern einen deutlichen Vorrang vor den Bürgern anderer Staaten gibt. Gleichzeitig lässt sich mit einem Verweis darauf, ob es sich um geeignete Adressaten für schädigende Handlungen oder um im relevanten Sinne unschuldige Menschen handelt besser erklären, weshalb der Tod von Soldaten mitunter unterschiedlich bewertet wird und weshalb dem Leben von Zivilisten in der Regel mehr Gewicht zukommt als dem von Soldaten. McMahans Konzept der engen Proportionalität liefert hier also eine überzeugendere Begründung. 25 Tun und Unterlassen In der Diskussion der Überlegungen Hurkas klang bereits die prominente deontologische Unterscheidung zwischen Tun und Unterlassen an 26, die für Proportionalität relevant sein könnte, wenn diese deontologisch interpretiert wird. Deontologinnen glauben häufig, die moralische Bewertung einer schädigenden Handlung hänge davon ab, ob ein Schaden das Ergebnis eines aktiven Tuns oder das Ergebnis eines passiven Unterlassens ist. Den Tod eines Menschen aktiv herbeizuführen, also ihn zu töten, sei deutlich schwerer zu rechtfertigen, als den Tod eines Menschen nur zuzulassen oder seinen Tod nicht zu verhindern. Auf den ersten Blick rückt die Theorie des gerechten Krieges deutlich in die Nähe eines Pazifismus, wenn wir die Unterscheidung zwischen Tun und Unterlassen für einschlägig halten. Denn Krieg zu führen geht unweigerlich damit einher, Zivilisten zu töten. Einen Krieg nicht zu führen, geht in aller Regel auch damit einher, dass Fairerweise muss Hurka (2005) zugestanden werden, dass er seine Überlegungen formuliert hat, bevor McMahan (2009) über »liability« geschrieben hat. Hurka ist also nicht vorzuwerfen, er habe die plausiblere Erklärung McMahans nicht berücksichtigt. Mit Rekurs auf McMahan lassen sich nun aber Hurkas intuitiv richtig erscheinende Thesen begründen, ohne eine fragwürdig bleibende enge Beziehung zwischen Staaten und ihren Bürgern anzunehmen. 26 Die Unterscheidung zwischen Tun und Unterlassen ähnelt den Unterscheidungen zwischen Töten und Sterbenlassen (killing and letting die), Schaden verursachen und Schaden nicht verhindern (causing harm and failing to prevent harm) sowie Schaden und Profitieren (harming and benefitting). Trotz der Ähnlichkeit sind diese Unterscheidungen nicht bedeutungsäquivalent. Ich werde sie dennoch synonym verwenden. Für eine interessante Diskussion der Bedeutungsunterschiede s. Bennett 1981. 25

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Zivilisten sterben. Aber sie sterben nicht durch denjenigen, der sich nun eben nicht verteidigt oder der keine humanitäre Intervention durchführt, sondern durch einen anderen. Dass sie sterben, wird also nur zugelassen oder nicht verhindert. Wenn die Unterscheidung zwischen Tun und Unterlassen eine wichtige Überlegung für die Proportionalität wäre, dann wäre die Forderung nach Proportionalität offenbar nur äußerst schwer erfüllbar. Denn der Tod von Zivilisten wäre dann ein sehr gewichtiges Übel, wenn er das Ergebnis eines Tuns ist. Dagegen wäre er ein weniger gewichtigeres und damit leichter zu rechtfertigendes Übel, würde er nur zugelassen. 27 In der Diskussion der Proportionalitätsbedingungen wird nicht bestritten, dass eine deontologische Interpretation dieser Bedingungen der Unterscheidung zwischen Tun und Unterlassen Rechnung tragen muss. Jedoch herrscht keine Einigkeit darüber, wie relevant die Unterscheidung ist. Thomas Hurka räumt ihr zwar eine gewisse Relevanz ein, hält sie aber für weniger wichtig als die für die Theorie des gerechten Krieges zentralere Unterscheidung zwischen beabsichtigtem und nur vorhergesehenem Schädigen. 28 Aber er hält trotzdem fest, dass es innerhalb der Theorie des gerechten Krieges zwar grundsätzlich zulässig ist, aktiv zu schädigen, dass aber zugleich die Schäden, die aus einem Tun hervorgehen, etwas gewichtiger seien als die Schäden, die durch ein Unterlassen des Krieges entstünden: The theory gives rather less weight to the other distinction, between doing and allowing, since it often allows active doings that cause significant harm to civilians. But it still seems to make some use of this distinction, and to count the harms a doing causes somewhat more than its benefits. This is, however, not always easy to see. 29 But then the doing/allowing distinction is doing some work, making harms that result from a doing count more against its benefits than they would if the harms were merely allowed. 30

Von der Relevanz der Unterscheidung zwischen Tun und Unterlassen scheint abzuhängen, wie nahe die Theorie des gerechten Krieges an einen Pazifismus rückt. Je wichtiger sie ist, desto schwerer lässt sich Krieg rechtfertigen. Ich werde in dieser Arbeit keine ausführliche Diskussion der Unterscheidung zwischen Tun und Unterlassen vor27 28 29 30

Ähnlich argumentieren Meyer 2011, S. 25 f., und Rodin 2011, S. 78 f. Vgl. Hurka 2005, S. 60 und S. 61 f. Hurka 2008, S. 140. Hurka 2008, S. 141.

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nehmen. Ich werde jedoch in Kapitel 5 kurz erläutern, weshalb ich glaube, dass diese Unterscheidung ausgesprochen relevant ist, aber sie dennoch nicht in einen Pazifismus führt. Vorangegangene Interaktionen Jeff McMahan weist darauf hin, dass es für die Erfüllbarkeit der Proportionalitätsbedingungen ad bellum und in bello auch wichtig ist, inwiefern dem Handeln des Gegners Handlungen vorausgegangen sind, die dieses provoziert haben. Wenn beispielsweise anzunehmen ist, dass sich Staat A zum Abschuss von Raketen, die dann viele Zivilisten töten werden, provoziert sieht, wenn Staat B, der sich gerechtfertigt gegen A verteidigt, an As Grenze Raketen testet, dann trägt B eine moralische Mitschuld am Tod der Zivilisten, sollte A die Raketen tatsächlich einsetzen. Auch wenn B die Zivilisten nicht selbst tötet, ist es nicht so, dass ihr Tod nur nicht verhindert wurde. Jemanden dazu zu provozieren, Zivilisten zu töten, scheint daher schwerer zu rechtfertigen, als ein Töten lediglich zuzulassen. Gleichzeitig muss dem Umstand, dass man es nicht selbst ist, der die Zivilisten tötet, Rechnung getragen werden. Ihren Tod zu provozieren ist entsprechend leichter zu rechtfertigen bzw. wiegt weniger schwer in der Proportionalität, als sie selbst zu töten. It is therefore possible that harms that our action provokes our adversaries to cause have less weight in assessments of wide proportionality than equivalent harms that we ourselves inflict on innocent people. 31

Dahinter scheint die Überlegung zu stehen, dass wir in der Regel für Übel, die bereits unterwegs sind und deren Eintreten wir nicht verhindern, weniger verantwortlich sind als für Übel, die aufgrund unserer eigenen Handlungen erst drohen und die wir dann nicht verhindern. Für letztere wiederum sind wir weniger verantwortlich als für Übel, die wir selbst durch unser Handeln verursachen. Ich werde mich mit diesen Überlegungen im weiteren Verlauf nicht näher beschäftigen, da ich mich in meiner Diskussion auf Fälle konzentrieren möchte, die nicht die Komplikation aufweisen, dass Staaten einander im Krieg unter Umständen zu bestimmten Handlungen provozieren. Es scheint aber zu stimmen, dass es nur äußerst schwer zu rechtfertigen sein kann, dass Zivilisten sterben, wenn ihr 31

McMahan 2011, S. 149.

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Tod insofern vermeidbar wäre, als er das Ergebnis provozierender Handlungsweisen ist, die ausbleiben könnten und auch sollten, wenn absehbar ist, dass sie provozieren. Begründete Hoffnung auf Erfolg Die ad bellum-Forderung, Krieg dürfe nur geführt werden, wenn eine begründete Hoffnung auf einen Sieg besteht, ist uns bereits zweimal begegnet. Wir haben gesehen, dass diese Bedingung problematisch ist. Denn auch in Fällen von individueller Notwehr scheint nicht zu gelten, dass ein Opfer sich nur dann gegen eine Angreiferin verteidigen darf, wenn es begründet davon ausgehen kann, erfolgreich darin zu sein, sein Leben zu schützen. Im Zuge meiner Darstellung des engen Proportionalitätsbegriffs haben wir gesehen, dass die Erfolgsbedingung irrelevant für eine gerechtfertigte Verteidigung ist, wenn die Person, deren Tod gerechtfertigt werden soll, ein geeigneter Adressat für eine Schädigung ist. Ich hatte die Frage unbeantwortet gelassen, ob die Erfolgsbedingung auch dann irrelevant ist, wenn auch Menschen zu Tode kommen, die keine geeigneten Adressaten für Schädigungen sind. Thomas Hurka schlägt vor, die Erfolgsbedingung als einen Teil der Proportionalität zu verstehen, nicht als eigenständige Bedingung des jus ad bellum. The hope-of-success condition, though often presented as a separate condition in the jus ad bellum, can actually be subsumed under the proportionality condition. If a war has little or no chance of achieving relevant goods, then its destructiveness is out of proportion to its expected benefits and the war is wrong. 32

Wir haben gesehen, dass Statman und McMahan dafür argumentieren, in Fällen, in denen kaum Hoffnung auf Erfolg darauf besteht, beispielsweise einen Angriff abzuwenden, der relevante Erfolg in etwas anderem bestehen kann, nämlich darin, zumindest Widerstand zu leisten oder die Ehre zu schützen. Ein Vergewaltigungsopfer darf sich auch dann gegen ihren Vergewaltiger zur Wehr setzen und diesem einen körperlichen Schaden zufügen, wenn klar ist, dass sie dadurch die Vergewaltigung nicht verhindern kann. Der Vergewaltiger

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Hurka 2008, S. 128 f.

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ist ein geeigneter Adressat gewaltsamer Handlungen und die Erfolgsbedingung ist in diesem Fall nicht einschlägig. Die Sache sieht jedoch anders aus, wenn unbeteiligte Personen drohen, zu Schaden zu kommen. Nehmen wir an, Anna greift Ben an und Ben ist Anna so sehr unterlegen, dass er keine Hoffnung hat, sich gegen Anna schützen zu können. Ben ist dennoch gerechtfertigt, sich gegen Anna zu verteidigen, weil sie ihn ungerechtfertigt angreift und dafür auch moralisch voll verantwortlich ist. Stellen wir uns nun vor, es gibt eine dritte Person. Clara steht neben Anna. Clara hat mit Annas Handeln nichts zu tun, kann aber auch nicht eingreifen. Und nehmen wir an, Bens Verteidigung gegen Anna droht, auch Clara zu Schaden kommen zu lassen. Ein Verweis darauf, dass Ben, wenn schon nicht sein Leben, doch zumindest seine Ehre verteidigen kann, erlaubt es ihm, Anna zu schädigen. Aber dass Ben seine Ehre schützen oder demonstrieren kann, dass er so etwas nicht mit sich machen lässt, kann nicht rechtfertigen, dass die unbeteiligte Clara einen Schaden erleidet. Die erfolgreiche Verteidigung der Ehre Bens wiegt den Schaden Annas auf. Aber sie wiegt nicht den Schaden auf, den Clara erleidet. Mit Hurka können wir sagen, dass die Erfolgsaussichten in der weiten Proportionalität relevant sind, also dann, wenn Personen zu Schaden kommen, die keine geeigneten Adressaten für Schädigungen sind. Bens Verteidigung ist im engen Sinne gegenüber Anna verhältnismäßig, obwohl keine Hoffnung auf Erfolg besteht. Aber der Umstand, dass keine Hoffnung auf Erfolg besteht, macht seine Verteidigung möglicherweise im weiten Sinne gegenüber Clara unverhältnismäßig. Übertragen auf Krieg bedeutet dies, dass die Proportionalitätsbedingungen umso schwerer zu erfüllen sind, je geringer die Hoffnung auf einen Sieg ist, wenn im Krieg Zivilisten zu Schaden kommen. Ein Verteidigungskrieg ist dann besonders schwer zu rechtfertigen, wenn kaum Hoffnung darauf besteht, erfolgreich in der Verteidigung zu sein und wenn bei der Verteidigung Zivilisten zu Schaden kommen, die nicht auch zu Schaden kämen, wenn die Verteidigung ausbliebe. Dafür, ob es verhältnismäßig sein kann, Zivilisten zu schädigen, scheint dabei auch relevant, ob sie einem Krieg zustimmen. Wenn im skizzierten Notwehrfall Clara zustimmt, einen Schaden zu erleiden oder ein Schadensrisiko zu tragen, scheint es intuitiv erlaubt, dass Ben sich gegen Anna verteidigt, auch wenn er keine Hoffnung auf Erfolg hat. Sehen wir uns den Zustimmungsgedanken etwas genauer an. 104 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

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Zustimmung Dass Zivilisten im Krieg zu Schaden kommen, könnte dann leichter zu rechtfertigen, also eher verhältnismäßig sein, wenn sie einer Schädigung oder zumindest einem Schadensrisiko zustimmen. Es ließe sich argumentieren, dass die Zivilisten eines Staates, der sich gegen einen Aggressor verteidigt, einem Defensivkrieg zustimmen, insbesondere dann, wenn sie im Falle eines Ausbleibens der Verteidigung ebenfalls zu Schaden kommen werden. Ebenso stimmen die zivilen Opfer einer humanitären Intervention dieser Intervention zu, auch wenn sie dabei zu sterben drohen. Denn bleibt die Intervention aus, sterben sie ebenfalls durch das Handeln ihres Regimes. Fehlt die Zustimmung der Zivilisten dagegen, ist es deutlich schwerer zu rechtfertigen, dass sie einen Schaden erleiden. Wenn beispielsweise die potentiellen Opfer eines Völkermordes keine Hilfe eines Dritten wollen, weil sie sich selbst verteidigen wollen, oder weil sie der intervenierenden Nation nicht vertrauen und deshalb ausgerechnet ihre Hilfe nicht annehmen würden, dann könnte eine Intervention unverhältnismäßig und deshalb ungerechtfertigt sein. 33 Ich werde mich in Kapitel 6 ausführlich mit der Frage beschäftigen, ob und unter welchen Umständen welche Zivilisten einem Krieg zustimmen. Dabei wird sich zeigen, dass die Proportionalitätsbedingungen dann, wenn wir den Zustimmungsgedanken ernst nehmen, nur äußerst schwer zu erfüllen sind. Die These, für die Verhältnismäßigkeit von Kriegen sei die Zustimmung der potentiellen zivilen Opfer wichtig, lässt die Theorie des gerechten Krieges nahe an einen Pazifismus rücken. Risiko Ich habe im vorherigen Abschnitt bereits davon gesprochen, dass Zivilisten bereit sind, Schadensrisiken zu tragen. Krieg geht damit einher, dass Zivilisten einem mehr oder weniger hohen Risiko ausgesetzt werden zu sterben. In der philosophischen Literatur zu Risiko ist umstritten, wie riskante Handlungen moralisch zu beurteilen sind. Wenn Überlegungen zur Bewertung von Risiko für Proportionalität wichtig sind, und wenn Proportionalität deontologisch verstanden Vgl. McMahan 2008, S. 18 und S. 22. Der Zustimmungsgedanke ist auch bei Schaber (2013) sehr wichtig. Ich werde insbesondere Schaber eingehend diskutieren.

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werden soll, dann sollten auch bei der Bewertung riskanter Handlungen deontologische Überlegungen wichtig sein. Kirsten Meyer schlägt beispielsweise aus einer deontologischen Position heraus vor, der Gewissheit des Eintretens eines Schadens an Zivilisten Beachtung zu schenken. 34 Wir halten riskante Handlungen oftmals für moralisch verboten, wenn sicher ist, dass eine Person sterben wird. Zivilisten zu töten wäre also dann besonders problematisch, wenn es sicher ist, dass Zivilisten zu Tode kommen werden. Dass Zivilisten im Krieg sterben werden, ist aber sicher – das zeigt die Erfahrung. Meyer führen diese Überlegungen in die Nähe des Pazifismus. Ich werde in Kapitel 5 genauer untersuchen, wie aus einer deontologischen Position heraus riskante Handlungen bewertet werden können und wie sich deontologische Überlegungen zu Risiko auf die Erfüllbarkeit der Proportionalitätsbedingungen auswirken. Kompensierbarkeit In dem Fallbeispiel, in dem Anna ungerechtfertigt Ben angreift und Clara als unbeteiligte Person Teil des Szenarios ist, die nicht zustimmt, ein Schadensrisiko zu tragen, hängt die Erlaubtheit einer Verteidigung Bens gegen Anna möglicherweise auch davon ob, ob der Schaden, den Clara durch Ben erleidet, einer ist, der prinzipiell kompensierbar oder nicht-kompensierbar ist. Wenn Clara beispielsweise stürzt und sich den Fuß verstaucht, scheint es möglicherweise rechtfertigbar zu sein, Anna diesen Schaden zuzumuten, nicht jedoch dann, wenn Clara zu Tode kommt. David Rodin hält fest, es sei für die Frage nach der Proportionalität eines Krieges oder individueller Kriegsakte wichtig, ob die verursachten Schäden kompensierbar sind. Rodin geht von der Annahme aus, dass Personen einen Anspruch darauf haben, nicht geschädigt zu werden (Rodin spricht sogar stärker von einem Recht). Wird eine Person ohne ihre Zustimmung geschädigt, so wird dieser Anspruch verletzt. Die Person habe, so Rodin, daraufhin einen Anspruch auf Kompensation der erlittenen Schädigung. When a right is justifiably infringed as a lesser evil, it grounds a claim for compensation or redress. Infringing a right, even with the intention of fully compensating the right-bearer, still requires significant

34

Vgl. Meyer 2011, S. 26–29.

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justification, because it imposes significant costs and risks on the right-holder—costs and risks he has a right not to bear. 35

Die Frage ist nun, ob der Tod ein Schaden ist, der kompensiert werden kann. Rodin glaubt, der Tod sei nicht kompensierbar. Denn die Person, die den Schaden erlitten hat und einen Anspruch auf Kompensation hat, ist im Falle des Todes nicht mehr da. Es ist also nicht möglich, sie zu kompensieren. But in the case of noncompensable harms—grievous bodily injury, torture, rape, and, paradigmatically, death—this accommodation is not possible. Here the harm inflicted departs the system of rights altogether. The right has not simply been infringed to resurface as a ground for claims to restore the status quo ante; from the rightholder’s perspective, the right (or a significant part of it) has disappeared. 36

Schäden zu verursachen, die nicht kompensierbar sind, sei nur äußerst schwer zu rechtfertigen. Daraus folgt, dass es nur äußerst schwer zu rechtfertigen ist, Zivilisten im Krieg zu töten. Persons whose rights are infringed are owed compensation; if compensation is not possible, this provides compelling additional reasons against transgressing the right. 37

Wenn wir diese Überlegung für Proportionalität für relevant halten, ergibt sich, dass die Proportionalitätsbedingungen ad bellum und in bello dann nur sehr schwer erfüllbar sind, wenn Schäden verursacht werden, die nicht kompensierbar sind, da nicht-kompensierbare Übel besonders schwer wiegen. Wenn nun der Tod ein nicht-kompensierbares Übel ist, dann sind die Proportionalitätsbedingungen nur sehr schwer zu erfüllen, wenn Menschen sterben. Rodin gelangt mit der These, der Tod sei ein nicht-kompensierbares Übel, zu einer Position, die einem Pazifismus nahekommt. Jeff McMahan vertritt dagegen die These, der Tod sei durchaus ein grundsätzlich kompensierbares Übel. 38 Ob die Theorie des gerechten Krieges in einen Pazifismus mündet, hängt offenbar entscheidend davon Rodin 2011, S. 107 f. Ebd., S. 108. 37 Ebd., S. 109. 38 Vgl. McMahan 2011a, S. 160: »I think, for example, that death is in principle compensable […]. But spatial limits prevent me from taking up Rodin’s forceful challenges on [this point].« 35 36

107 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Proportionalität von und im Krieg – Eine erste Annäherung

ab, ob wir den Tod für ein kompensierbares Übel halten. Ich werde der Überlegung, Kompensation spiele für Proportionalität eine Rolle, in Kapitel 7 nachgehen. Es wird sich hierbei zeigen, dass Überlegungen dazu, inwiefern die Opfer einer Schädigung für das Erleiden eines Schadens kompensiert werden können, dabei helfen können zu begründen, weshalb Deontologinnen Überlegungen ablehnen, die auf interpersoneller Aggregation beruhen. Die Anzahl der Menschen Wenn wir eine deontologische Position erst einmal als eine verstehen, der zufolge die moralische Bewertung von Handlungen nicht ausschließlich vom Wert ihrer Konsequenzen oder von ihrem Nutzen abhängt, so ist damit nicht ausgeschlossen, dass der Wert der Konsequenzen oder der Nutzen auch berücksichtigt wird. Wenn wir über Proportionalität nachdenken, dürfe es folglich nicht nur darum gehen zu schauen, wie viele Menschen sterben und wie viele gerettet werden. Aber die Anzahl der Menschen sei nicht vollkommen irrelevant. Eine deontologische Position so zu verstehen, kann am Ende damit einhergehen, einen Krieg oder eine Kriegshandlung auch dann noch für verhältnismäßig zu halten, wenn Zivilisten beabsichtigt getötet werden oder wenn sie dem Krieg nicht zustimmen, vorausgesetzt im Falle eines Ausbleibens eines Krieges würden sehr viel mehr Zivilisten sterben als im Krieg zu Tode kommen. Deontologinnen haben jedoch auch ihre Bedenken geäußert, die Anzahl der Personen für moralisch relevant zu halten. Sie haben auf unterschiedliche Weisen eingewendet, eine Handlung, bei der Menschen zu Schaden kommen, könne nicht damit gerechtfertigt werden, dass viele andere Menschen von ihr profitieren. Zivilisten im Krieg zu töten könne entsprechend auch nicht damit gerechtfertigt werden, dass eine größere Anzahl anderer Zivilisten mit einem Krieg geschützt wird. Eine Weise, diesem Einwand Ausdruck zu verleihen, besteht in dem Vorwurf, dass konsequentialistische oder utilitaristische Überlegungen die Separateness of Persons missachten. Eine Möglichkeit, diesen Gedanken zu fassen, ist diese: [S]uppose that I have a toothache of intensity x: and suppose that you, who are seated beside me, also begin to have a toothache of intensity x. You may, if you choose, say that the total amount of pain in the room is now 2X. But you must remember that no one is suffering 2X: search all time and space and you will not find that composite pain in any-

108 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Weite Proportionalität

one’s consciousness. There is no such thing as a sum of suffering, for no one suffers it. 39

Aus dem Zitat geht hervor, dass es problematisch ist, die Leiden von Personen, aber auch Gutes, das ihnen widerfährt, über Personengrenzen hinweg aufzusummieren, weil es niemanden gibt, der das Aggregat der verschiedenen Leiden erfährt. Eine Rechtfertigung von Krieg, die auf die Anzahl der Personen, die zu Schaden kommen oder geschützt werden, rekurriert, besteht aber gerade darin zu summieren. Selbst wenn auch noch viele andere Überlegungen eine Rolle spielen, geht es dann auch darum, jeweils die im Krieg verursachten und durch Krieg verhinderten Tode zu summieren und gegeneinander aufzurechnen. Aber es gibt niemanden, der viele Tode im Krieg erfährt. Es gibt niemanden, dem vielfach das Leben gerettet wird. Und es gibt auch niemanden, dessen Leben um ein Vielfaches mehr gerettet wird, als es ihm genommen wird. Klassisch konsequentialistische Überlegungen, so lässt sich auch sagen, bringen uns dazu, Handlungen aus einer Perspektive heraus zu beurteilen, die nicht die Perspektive eines von der Handlung betroffenen Individuums ist, sondern eine übergeordnete. In diesem Sinne hat auch John Taurek argumentiert, etwas könne immer nur für jemanden gut oder schlecht sein. Für jede einzelne Person sei es schlecht, einen Schaden zu erleiden. Und für jede einzelne Person sei es gut, vor einem Schaden bewahrt zu werden. Aber eine Person, für die es gut ist, dass viele Menschen vor einem Schaden bewahrt werden und nur wenige einen Schaden erleiden, gibt es nicht. 40 Der Gedanke, Krieg unter Rekurs auf die Anzahl der positiv oder negativ betroffenen Menschen zu rechtfertigen, läuft aber gerade darauf hinaus, eine solche Perspektive einzunehmen, die keiner Person mehr zuzuordnen ist. Es ist umstritten, wie genau der Einwand, ein aggregierender Konsequentialismus berücksichtige die Separateness of Persons nicht, genau zu verstehen ist. Auch ist umstritten, ob es innerhalb deontologischer Theorien stets unzulässig ist, auf Überlegungen zu Lewis 1957, S. 103–104. Der Einwand findet sich in verwandter Form auch bei Nagel 1970, S. 136–142, Rawls 1971, S. 19–24, sowie Nozick 1974, S. 32–33. 40 Vgl. Taurek 1977, S. 299 f. Taurek spricht hier auch davon, dass etwas nur besser und schlechter für Personen sein könne. Für jede einzelne Person sei es besser zu überleben als zu sterben. Aber es gibt keine Person, für die es besser sei, wenn wenige Menschen sterben und viele überleben. 39

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Proportionalität von und im Krieg – Eine erste Annäherung

verweisen, die auf interpersoneller Aggregation beruhen. Festzuhalten ist jedoch, dass der Einwand ein Problem zum Ausdruck bringt, dass Deontologinnen manchmal in einem Rekurs auf typisch konsequentialistische Überlegungen sehen. Wenn wir diese deontologische Sorge ernst nehmen wollen, sollten wir zumindest vorsichtig damit sein, die deontologisch zu interpretierenden Proportionalitätsbedingungen der Theorie des gerechten Krieges um Überlegungen anzureichern, die letztlich gerade darin bestehen, Leiden über Personengrenzen hinweg zu summieren. In den folgenden Kapiteln werde ich einige der hier kurz besprochenen deontologischen Überlegungen ausführlicher dahingehend diskutieren, wie sie sich auf die Erfüllbarkeit der Proportionalitätsbedingungen auswirken. Immer dann, wenn konsequentialistische, genauer aggregierende, Überlegungen zum Tragen kommen, werde ich darauf besonders hinweisen. Es wird nämlich im Verlaufe der Arbeit, insbesondere in Kapitel 7, auch zu prüfen sein, welchen Stellenwert solche Überlegungen dafür haben, dass ein Krieg oder eine einzelne Kriegshandlung verhältnismäßig sein kann. Sollten aggregierende Überlegungen den Ausschlag für die moralische Zulässigkeit von Krieg geben, so stellte sich die Frage nach der Relevanz solcher Überlegungen aus deontologischer Sicht umso dringlicher.

110 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

4. Das Prinzip der Doppelwirkung

Das Ziel dieser Abhandlung ist es zu untersuchen, inwiefern ein deontologisches Verständnis von Proportionalität zu dem Ergebnis führt, dass es Kriege gibt, die verhältnismäßig und – gegeben, auch die übrigen Bedingungen der Theorie des gerechten Krieges sind erfüllt – moralisch gerechtfertigt sind. Eine innerhalb deontologischer Theorien prominente Überlegung, die hier zum Tragen kommen kann, findet im Prinzip der Doppelwirkung Ausdruck. Das Prinzip der Doppelwirkung (PDW) hat eine lange Tradition in der Theorie des gerechten Krieges und ist einer ihrer zentralen Bestandteile. 1 Es spezifiziert zum einen, unter welchen Umständen es prinzipiell gerechtfertigt sein kann, Zivilisten zu töten. Zum anderen ist es relevant dafür zu bestimmen, ob es verhältnismäßig sein kann, im Krieg den Tod von Zivilisten zu verursachen. Grob gesprochen besagt das PDW im Kern, dass eine schädigende Handlung, die moralisch verboten ist, wenn der Schaden beabsichtigt wird, erlaubt sein kann, wenn der Schaden lediglich vorhergesehen wird. Das klassische Vorkommen des PDW ist in der Immunitätsbedingung des jus in bello, das eine gerechte Kriegsführung bestimmt. Die Immunitätsbedingung besagt zweierlei. Erstens verweist sie auf einen moralisch relevanten Unterschied zwischen zwei Gruppen von Menschen. Einerseits gibt es Menschen, die einen Beitrag zur Kriegsführung leisten, für den ihnen so viel moralische Verantwortung zugeschrieben werden kann, dass sie insofern geeignete Adressaten für Schädigungen sind, als sich schädigende Handlungen gegen sie richten dürfen. Zu dieser Gruppe gehören beispielsweise einige Das Prinzip der Doppelwirkung geht bereits auf Thomas von Aquin zurück, der es im Zusammenhang mit dem Töten in individueller Notwehr diskutiert und von einer Analogie zwischen Notwehr und Defensivkriegen ausgeht. Thomas diskutiert dabei, unter welchen Bedingungen es erlaubt ist, einen Angreifer zu töten, also jemanden, der ein geeigneter Adressat für Schädigungen ist. Er bezieht das Prinzip der Doppelwirkung nicht auf Zivilisten oder – im Falle individueller Notwehr – auf Unbeteiligte.

1

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Das Prinzip der Doppelwirkung

Regierungsmitglieder und natürlich Soldaten. Andererseits gibt es Menschen, die unschuldig sind, weil sie jeder Verantwortlichkeit entbehren oder deren Verantwortlichkeit als so gering betrachtet werden muss, dass sie keine geeigneten Adressaten für Schädigungen sind. Hierzu zählen in erster Linie Zivilisten. Ich werde im Folgenden stets von Zivilisten anstatt von Unschuldigen sprechen, weil sie typischerweise die größte Personengruppe innerhalb der Gruppe der Unschuldigen darstellen. Zweitens muss dieser moralisch relevante Unterschied zwischen den beiden Gruppen im Krieg berücksichtigt werden, und zwar auf folgende Weise: Diejenigen, die geeignete Adressaten schädigender Handlungen sind, dürfen Ziele militärischer Angriffe sein. Dies gilt dagegen nicht für Zivilisten – ihnen einen Schaden zuzufügen oder sie zu töten, darf dem PDW zufolge nur als eine eintretende Nebenfolge vorhergesehen, nicht aber beabsichtigt werden. Gleichzeitig ist das PDW auch für die Frage nach der Proportionalität eines Krieges (ad bellum-Proportionalität) und einer individuellen Kriegshandlung (in bello-Proportionalität) relevant. Jeff McMahan verortet das PDW in der weiten Proportionalität, der zufolge ein Schaden, der Unschuldigen – typischerweise Zivilisten – zugefügt wird, verhältnismäßig sein müsse. Zwar verbiete, so McMahan, bereits die Immunitätsbedingung das beabsichtigte Töten von Zivilisten. Jedoch gilt zugleich für die Proportionalität, dass ein beabsichtigtes Töten von Zivilisten deutlich schwerer wiegt als ein nur vorhergesehenes. Werden also Zivilisten beabsichtigt getötet, wird nicht nur die Immunitätsbedingung des jus in bello verletzt. Es wird auch gegen das Gebot der Proportionalität verstoßen. The harms that are most commonly recognized as relevant to wide proportionality are those inflicted as a side effect of military action on civilians who are not liable to any harm at all. Although harms inflicted intentionally on such civilians are ruled out by the requirement of discrimination, when they nevertheless occur they count in the assessment of wide proportionality, where they have even greater weight than equivalent harms inflicted unintentionally, as a side effect only. 2

Das PDW lässt sich sowohl mit einer absoluten als auch mit einer nicht-absoluten Lesart interpretieren. Ein absolutes Verständnis des PDW impliziert, dass das Verbot, Zivilisten beabsichtigt zu schädigen, 2

McMahan 2015, S. 3.

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Das Prinzip der Doppelwirkung

keine Ausnahme erlaubt. Danach wäre eine Kriegshandlung, bei der Zivilisten beabsichtigt zu Schaden kommen, strikt verboten. Wird das PDW nicht absolut verstanden, besagt es lediglich, dass es nur äußerst schwer zu rechtfertigen ist, Zivilisten beabsichtigt zu schädigen. Zivilisten beabsichtigt einen Schaden zuzufügen, kann folglich erlaubt sein, wenn die Gründe, die für die schädigende Handlung sprechen, gewichtiger sind, als die Gründe, die gegen das Ausführen der Handlung sprechen. Wenn das PDW einen Teil der Proportionalitätsüberlegung bildet, hängt von einem absoluten oder nicht-absoluten Verständnis des PDW ab, wie restriktiv die Proportionalitätsforderung ist. Wird das PDW absolut verstanden, führt ein Verstoß gegen das PDW dazu, dass Proportionalität direkt nicht mehr gegeben sein kann. Wird es dagegen nicht absolut interpretiert, macht eine Verletzung des PDW die Proportionalitätsbedingung nur sehr schwer erfüllbar. 3 In diesem Kapitel werde ich diskutieren, ob das PDW überhaupt eine plausible Rechtfertigung dafür liefern kann, dass es einen Unterschied macht, ob wir jemanden beabsichtigt töten oder seinen Tod lediglich vorhersehen. Falls nein, spielt das PDW sowohl in der Immunitätsbedingung als auch für Proportionalität keine überzeugende Rolle. In Abschnitt 5.2 werde ich das PDW formulieren, ein Beispielpaar vorstellen, auf das es typischerweise angewendet wird und das PDW intuitiv stützt, sowie kurz darlegen, weshalb man meinen könnte, das PDW sei innerhalb der Theorie des gerechten Krieges unverzichtbar. Nach einer kurzen Vorstellung zweier großer Probleme des PDW (5.3) werde ich vier Vorschläge diskutieren und zurückweisen, die zeigen sollen, weshalb es einen moralisch relevanten Unterschied zwischen dem gibt, was ein Akteur beabsichtigt, und dem, was er lediglich vorhersieht (5.4). In Abschnitt 5.5 werde ich daraufhin Beispiele anführen, die zeigen sollen, dass die Beabsichtigt-Vorhergesehen-Unterscheidung des PDW irrelevant dafür ist, McMahan bemerkt auch, das beabsichtigte Töten von Zivilisten könne erlaubt sein, wenn es das kleinere Übel im Vergleich zu den verhinderten Schäden sei: »The intentional infliction of harm on people who are not liable to be suffer it may sometimes have a lesser-evil justification, though only if the harm is proportionate in the wide sense in relation to the importance of preventing the greater evil. In such cases, the requirement of discrimination is overridden.« (McMahan 2015, S. 3) Das Zitat macht erstens klar, dass McMahan das PDW nicht absolut versteht. Zweitens zeigt es meines Erachtens auch, dass McMahans Verständnis von weiter Proportionalität nicht ganz frei von konsequentialistischen Abwägungen ist.

3

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Das Prinzip der Doppelwirkung

ob Kriegshandlungen erlaubt oder verboten sind. Ausgehend davon, dass sich daraus ergibt, das PDW sei nicht zu halten und müsse entsprechend verworfen werden, werde ich in Abschnitt 5.6 zum einen einige Überlegungen dazu anstellen, ob sich die Intuitionen, die das PDW stützen sollten, auch auf andere Weise erklären lassen. Zum anderen werde ich darauf aufbauend grob ausloten, ob es innerhalb der Theorie des gerechten Krieges genug Ressourcen gibt, die durch einen Verzicht auf das PDW entstehende Lücke zu füllen. Das Ergebnis dieses Kapitels wird sein, dass erstens auf das PDW verzichtet werden sollte, weil es sowohl nicht plausibel begründet werden kann als auch intuitiv nicht hinreichend gestützt wird. Zweitens ist ein Verzicht auf das PDW unproblematisch, weil das, was das PDW in der Theorie des gerechten Krieges leisten soll, auch ohne das PDW geleistet werden kann.

4.1 Unverzichtbarkeit des Prinzips der Doppelwirkung In seiner klassischen Formulierung besagt das PDW, dass es für den moralischen Status einer Handlung, die absehbar eine gute und zugleich eine schlechte Konsequenz mit sich bringt, einen Unterschied macht, ob die schlechte Konsequenz von der Handelnden beabsichtigt oder ob sie lediglich vorhergesehen wird. 4 Gemäß dem PDW ist es verboten, schwere Schädigungen oder den Tod von Personen beabsichtigt hervorzubringen, dagegen ist es unter Umständen erlaubt, das Eintreten solcher Konsequenzen lediglich vorherzusehen. Das PDW lässt sich so formulieren, dass es drei Bedingungen 5 umfasst, die eine Handlung mit doppelter, also guter und zugleich schlechter, Wirkung erfüllen muss, damit sie moralisch erlaubt ist: Thomas von Aquin unterscheidet zwischen dem, was eine Handelnde beabsichtigt, und dem, das außerhalb ihrer Absicht liegt oder zufällig ist (Vgl. Summa theologica 2–2, q. 64 a.7). Die heute eher übliche Unterscheidung zwischen Beabsichtigen und Vorhersehen findet sich z. B. bei Boyle 1980, Anscombe 1982 und Bennett 1995. Warren Quinn verteidigt eine nicht-klassische Version des PDW, die nicht auf der Unterscheidung zwischen beabsichtigten und nur vorhergesehenen Wirkungen beruht, sondern auf der zwischen beabsichtigten und nur vorhergesehenen Involvierungen, die eine Schädigung bewirken (Quinn 1989). 5 Es ist zu bemerken, dass es in der Debatte um das PDW in etwa so viele Ausformulierungen des PDW gibt, wie es Autor*innen gibt, die über das PDW geschrieben haben. Ich habe hier versucht, das PDW so neutral zu fassen, dass meine Version mit den meisten Formulierungen vereinbar ist, die sich in der Debatte finden. 4

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Unverzichtbarkeit des Prinzips der Doppelwirkung

(1) Das Ziel, das die Handelnde verfolgt, muss moralisch akzeptabel sein, (2) der aus der Handlung resultierende Schaden darf nicht als Ziel oder Mittel beabsichtigt werden, sondern muss eine Konsequenz sein, deren Hervorbringen die Handelnde lediglich vorhersieht, (3) und der resultierende Schaden muss proportional zu der resultierenden guten Konsequenz sein. Ich werde im Folgenden die Diskussion des PDW auf dessen Kernbedingung (2) beschränken. Ich habe das PDW hier in seiner absoluten Lesart präsentiert. Sobald eine der drei Bedingungen verletzt ist, ist die fragliche Handlung moralisch verboten (und sobald sie alle erfüllt sind, ist sie erlaubt). Es gibt in der PDW-Debatte auch nicht-absolute Lesarten des PDW, besonders prominent bei Warren S. Quinn. 6 Diesen Lesarten zufolge ist eine Handlung, die eine der Bedingungen, insbesondere die Kernbedingung (2) verletzt, nur sehr schwer zu rechtfertigen. Den Tod eines Menschen zu beabsichtigen, ist also schwer zu rechtfertigen. Den Tod eines Menschen dagegen nur vorherzusehen, ist vergleichsweise leichter zu rechtfertigen. Die in diesem Kapitel angestellten Überlegungen lassen sich sowohl auf ein absolut als auch auf ein nicht absolut verstandenes PDW anwenden. Auf die nicht-absolute Version des PDW von Quinn werde ich an späterer Stelle noch genauer zurückkommen (vgl. 5.4). Zur intuitiven Stützung des PDW werden in der Debatte Fälle herangezogen, die sich strukturell ähnlich sind, die wir aber moralisch unterschiedlich bewerten. Das PDW mit seiner Unterscheidung zwischen beabsichtigten und lediglich vorhergesehenen Konsequenzen kann diese Intuitionen erklären. Ein in der Literatur vieldiskutiertes Beispiel sind die folgenden Bombardierungsfälle: 7

S. Quinn 1989. Quinns nicht-absolutes Verständnis des PDW ist in der Diskussion sowohl des PDW als auch der Theorie des gerechten Krieges inzwischen sehr weit verbreitet. Boyle kritisiert Quinns nicht-absolute Version des PDW, vgl. Boyle 1991, S. 480–486. 7 Prominent diskutiert und vielfach variiert wird das Beispielpaar von Jonathan Bennett (1981 und 1985). Ebenfalls diskutiert werden die Fälle beispielsweise bei Quinn 1989 und Scanlon 2008. 6

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Das Prinzip der Doppelwirkung

Strategisches Bombardieren: Ein Bombenflieger hat das Ziel, den Gegner, der einen ungerechten Krieg führt, militärisch zu schwächen. Um dieses Ziel zu erreichen, bombardiert er eine wichtige Munitionsfabrik des Gegners, wissend, dass dabei 20 Zivilisten aus dem benachbarten Wohngebiet sicher sterben werden.

Terroristisches Bombardieren: Ein Bombenflieger hat das Ziel, die Kampfesmoral des Gegners, der einen ungerechten Krieg führt, zu schwächen. Um dieses Ziel zu erreichen, bombardiert er ein Wohngebiet, wissend, dass dabei 20 Zivilisten sicher sterben werden. Intuitiv ist terroristisches Bombardieren verboten, dagegen strategisches Bombardieren erlaubt oder zumindest weniger problematisch als terroristisches Bombardieren. Der Begriff »terroristisch« meint hier, dass zur Erreichung der eigenen (politischen) Ziele gezielt Mittel eingesetzt werden, die sich gegen die Zivilbevölkerung richten und die unter Zivilisten Angst und Schrecken verbreiten sollen. Nicht nur bestimmte politische Vereinigungen, sondern auch Staaten können sich des Terrorismus schuldig machen. Das Handeln eines Staates im Krieg ist dann terroristisch, wenn es sich um einen direkt Angriff auf Zivilisten handelt. Dabei kann eine einzelne Kriegshandlung terroristisch sein, ohne dass die gesamte, aus vielen Einzelhandlungen bestehende Kriegsführung eines Staates als terroristisch bezeichnet werden muss. 8 Mit dem PDW lässt sich nun erklären, weshalb terroristisches Bombardieren verwerflicher ist als strategisches. Beim terroristischen Bombardieren ist der Tod der Zivilisten in dem Wohngebiet ein beabsichtigtes Mittel dafür, den Gegner in seiner Kampfesmoral zu schwächen. Beim strategischen Bombardieren dagegen ist der Tod der Zivilisten nicht beabsichtigt. Der strategische Bombenpilot beabsichtigt das Zerstören der Munitionsfabrik. Den Tod der

In diesem Sinne können die Bombenabwürfe der USA über Hiroshima und Nagasaki oder die Bombardierungen deutscher Städte durch die Alliierten im Zweiten Weltkrieg als terroristisch bezeichnet werden, ohne die Kriege dieser Staaten insgesamt als terroristische Kriege zu bezeichnen, da sich die ausgeführten Kriegshandlungen in aller Regel nicht direkt gegen Zivilisten richteten.

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Unverzichtbarkeit des Prinzips der Doppelwirkung

Zivilisten sieht er dagegen lediglich als eine Nebenfolge des Bombardements der Munitionsfabrik vorher. Wie bereits in der Einleitung erläutert, spielt das PDW eine wichtige Rolle bei der moralischen Rechtfertigung von Kriegshandlungen und damit auch in der Theorie des gerechten Krieges. Es macht einen moralisch relevanten Unterschied, ob es sich bei den potentiellen Opfern eines Krieges um Zivilisten handelt oder etwa um militärisches Personal oder Regierungsmitglieder. Diesem Unterschied muss innerhalb eines Krieges auf irgendeine Weise Rechnung getragen werden. Das PDW bestimmt, wie ihm Rechnung getragen wird: Zivilisten dürfen im Gegensatz zu geeigneten Adressaten militärischer Gewalt nicht beabsichtigt zu Schaden kommen. Elisabeth Anscombe, die sich zur Moral des Krieges äußert, ohne sich auf die zahlreiche Bedingungen umfassende Theorie des gerechten Krieges zu beziehen, meint, ohne das PDW hänge eine Antwort auf die Frage, auf welche Weise ein Krieg zu führen ist, nur noch vom Wert der Konsequenzen ab. Without understanding of this principle, anything can be – and is wont to be – justified, and the Christian teaching that in no circumstances may one commit murder […] goes by the board. These absolute prohibitions of Christianity by no means exhaust its ethic; there is a large area where what is just is determined partly by a prudent weighing up of consequences. But the prohibitions are bedrock, and without them the Christian ethic goes to pieces. Hence the necessity of the notion of double effect. 9

Anscombe verortet das PDW ausdrücklich innerhalb einer christlichen Ethik und gibt ihm dort die Lesart eines absoluten, d. h. ausnahmslos gültigen Prinzips. Anscombes Punkt ist in jedem Fall: Terroristisches Bombardieren wäre ohne das PDW leicht zu rechtfertigen, wenn strategisches Bombardieren beispielsweise mehr Menschenleben fordert, weniger schnell zu einem Kriegsende führt oder mit größeren Risiken für eigene Soldaten verbunden ist. Daran anschließend äußert auch Jeff McMahan – ein ausdrücklicher Vertreter der Theorie des gerechten Krieges – Bedenken daran, die Theorie des gerechten Krieges nicht um das PDW anzureichern.

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Anscombe 1961, S. 256.

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Das Prinzip der Doppelwirkung

Given the conditions of modern warfare, it is virtually impossible to fight a war without harming innocent civilians. Thus, to avoid pacifism, one must concede the permissibility of harming or killing innocent civilians in war. But terrorism, which virtually everyone condemns, is distinguished by the fact that it harms or kills innocent civilians. Must we choose between embracing pacifism and condoning terrorism? Common sense morality avoids this dilemma by insisting that the harming or killing of innocents counts as terrorism only if it is intended. Acts of war that have the harming of the innocent as a foreseen but unintended effect are not terroristic and indeed may be permissible […]. 10

Wenn wir davon ausgehen, dass im Krieg immer Zivilisten zu Schaden oder zu Tode kommen, führe ein kategorisches Schädigungsverbot dieser unweigerlich zur Einnahme einer pazifistischen Position. Das Töten von Zivilisten zu erlauben, könne jedoch, wie wir bei Anscombe gesehen haben, dazu führen, terroristische Akte zu erlauben, die sich ja gerade dadurch auszeichnen, dass sie im beabsichtigten Schädigen und Töten von Zivilsten bestehen. Das PDW biete eine Möglichkeit, ein Schädigungs- und Tötungsverbot so zu qualifizieren, dass wir weder Pazifistinnen sein noch Terrorismus für zulässig halten müssen: Zivilisten zu töten, kann erlaubt sein, wenn es nicht beabsichtigt, sondern lediglich vorhergesehen ist. Mit Hilfe des PDW ließen sich also beide Extreme, Pazifismus und Terrorismus, vermeiden.

4.2 Zwei Probleme des Prinzips der Doppelwirkung Obwohl das PDW eine so wichtige Rolle für die Rechtfertigbarkeit von Kriegen und innerhalb der zahlreichen Bedingungen umfassenden Theorie des gerechten Krieges spielt und die Überzeugungskraft dieser Theorie entscheidend davon abhängt, ob das PDW plausibel ist, wird das PDW innerhalb der Diskussion der Theorie des gerechten Krieges nicht kritisch beleuchtet. In der für sich weitestgehend eigenständigen Debatte um das PDW, die keinerlei Bezug auf andere Bestandteile der Theorie des gerechten Krieges, beispielsweise den rechtfertigen Kriegsanlass, nimmt, ist jedoch längst klar geworden, McMahan 1994, S. 201–202. Die Rede von Pazifismus und Terrorismus als zwei Extreme findet sich in McMahan 2009a, S. 360–361.

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Zwei Probleme des Prinzips der Doppelwirkung

dass das PDW vor allem mit Blick auf dessen zentrale Unterscheidung zwischen beabsichtigten und lediglich vorhergesehenen Konsequenzen des Handelns problematisch ist. Vertreterinnen des PDW stehen vor zwei Problemen: (1) Es ist unklar, wie sich scharf zwischen den Konsequenzen trennen lässt, die eine Handelnde als Mittel beabsichtigt, und denen, die sie als eintretende Nebenfolgen lediglich vorhersieht. (2) Es ist unklar, ob und weshalb die Unterscheidung zwischen beabsichtigten und lediglich vorhergesehenen Konsequenzen moralisch relevant ist. Problem (i) wird in der Debatte um das PDW als das ›Problem der Nähe‹ (problem of closeness) verhandelt. Das Problem ergibt sich daraus, dass es der Handelnden möglich ist, einen Zustand zu beabsichtigen, welcher der eigentlichen schlechten Konsequenz unmittelbar vorgeordnet ist, und die schlechte Konsequenz nur als Folge dieses Zustandes vorherzusehen. 11 Der terroristische Bombenpilot könnte behaupten, den Tod der Zivilisten nicht beabsichtigt, sondern nur vorhergesehen zu haben. Er habe lediglich beabsichtigt, die Bombe zu zünden, über die kausalen Folgen der Zündung der Bombe war er sich zwar völlig im Klaren, doch diese lagen außerhalb dessen, was er beabsichtigt hat. 12 Die Formulierung »unmittelbar vorgeordnet« ist hier bewusst vage gehalten, weil es mehrere Möglichkeiten des Verständnisses gibt. Das genannte Problem könnte genauer formuliert darin bestehen, dass zwei distinkte Ereignisse zeitlich so nah beieinander liegen, dass sich nicht behaupten lässt, man beabsichtige nur eines der beiden. Es könnte aber auch darin bestehen, dass es sich um einziges Ereignis handelt, das zwar zeitlich ausgedehnt ist, von dem sich aber nicht behaupten lässt, man beabsichtige nur einen Teil dieses Ereignisses. In gleicher Weise lässt sich das Problem auch aufziehen, wenn wir nicht von Ereignissen sprechen, sondern von Handlungen. Dann besteht das Problem entweder darin, dass zwei distinkte Handlungen zeitlich zu nah beieinander liegen, oder darin, dass es sich um eine einzige Handlung handelt. Eine ausführlichere Diskussion zu den Fragen nach »event identity« und »act identity« findet sich bei Bennett 1995, S. 96–99. 12 In der PDW-Diskussion bekannt ist das reichlich artifizielle Beispiel des »Sophisticated Terror Bomber« (vgl. Bennett 1995, S. 101–102): Ein raffinierter terroristischer Bombenpilot verfolgt das Ziel, die Kampfesmoral des Feindes zu schwächen, der einen ungerechten Krieg führt. Um dieses Ziel zu erreichen, wirft er eine Bombe über einem Wohngebiet ab, wissend, dass 100 Zivilisten durch sie ums Leben kommen werden. Die Zivilisten werden jedoch nicht unmittelbar durch die Bombe sterben, sondern erst einmal lediglich für eine gewisse Zeit in einen sehr tiefen Schlaf versetzt. Der Feind aber wird denken, sie seien tatsächlich ums Leben gekommen, und er wird deshalb kapitulieren. Der raffinierte terroristische Bombenpilot weiß aber auch, dass die Zivi11

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Das Prinzip der Doppelwirkung

Intuitiv macht es für unsere moralische Bewertung des Handelns des terroristischen Bombenpiloten keinen Unterschied, ob er nur das Zünden der Bombe beabsichtigt hat oder auch den Tod der Zivilisten. Es ist nun jedoch nicht mehr unmittelbar zu sehen, wie sich mithilfe des PDW zeigen lassen sollte, dass terroristisches Bombardieren von strategischem unterschieden werden kann. 13 Zwar handelt ein Großteil der Debatte um das PDW von dem Problem der Nähe und damit von Problem (i). Jedoch werde ich mich in diesem Kapitel vor allem Problem (ii) widmen, also dem Problem der moralischen (Ir-)Relevanz der Beabsichtigt-VorhergesehenUnterscheidung des PDW. Zu bemerken ist, dass die beiden Probleme miteinander zusammenhängen. Wenn sich zeigen ließe, dass kein Unterschied zwischen beabsichtigten und lediglich vorhergesehenen Konsequenzen besteht, gäbe es auch nichts, was hier moralisch relevant sein könnte. Gleichwohl sind nicht alle benennbaren Unterschiede moralisch relevant. Das heißt, selbst wenn es einen Unterschied zwischen Beabsichtigen und Vorhersehen gibt, würde daraus noch nicht folgen, dass er auch moralisch relevant ist. Ich will im Folgenden das Problem der Nähe undiskutiert lassen und zugestehen, dass der Unterschied, den das PDW macht, tatsächlich besteht und er auch handlungstheoretisch gut begründet werden kann, und nur der Frage nachgehen, ob dieser Unterschied tatsächlich moralisch relevant ist.

listen aus diesem Schlaf nicht mehr erwachen, sondern sterben werden. Das Problem ist nun, dass sich nicht sagen lässt, er beabsichtige den Tod der Zivilisten, den Feind zur Kapitulation zu zwingen. Was er strenggenommen beabsichtigt, ist, dass sie schlafen und somit nur tot erscheinen. Dass sie tatsächlich auch sterben werden, sieht er lediglich sicher vorher. 13 Eine aussichtsreiche Möglichkeit, das Problem der Nähe zu lösen, bietet eine modifizierte Version des PDW, wie sie Warren Quinn (1989) vorgeschlagen hat. Quinns Version des PDW ist nicht über die Beabsichtigt-Vorhergesehen-Unterscheidung ausformuliert und insofern nicht unmittelbar von dem Problem betroffen, nicht zwischen dem unterscheiden zu können, was ein Akteur als Konsequenz seines Handelns beabsichtigt, und dem, was er lediglich vorhersieht. Ich werde auf Quinns PDW noch näher eingehen, es jedoch nicht weiter im Zusammenhang mit dem Problem der Nähe diskutieren.

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Die Beabsichtigt-Vorhergesehen-Unterscheidung: Begründungsstrategien

4.3 Die Beabsichtigt-Vorhergesehen-Unterscheidung: Begründungsstrategien In der Debatte um das PDW lassen sich verschiedene Vorschläge dazu finden, weshalb die Unterscheidung innerhalb des PDW zwischen beabsichtigten und lediglich vorhergesehenen schlechten Konsequenzen moralisch relevant ist. Ich werde in den folgenden Abschnitten die vier am häufigsten angeführten Vorschläge diskutieren – und schließlich zurückweisen: Joseph Boyles Idee, die moralische Relevanz der Beabsichtigt-Vorhergesehen-Unterscheidung ergebe sich daraus, dass wir uns in Situationen wiederfinden können, in denen es ohne das PDW unmöglich wäre, etwas zu tun, das moralisch erlaubt ist; Thomas Nagels Gedanken, dass jemand, der eine schlechte Konsequenz beabsichtigt, im Handeln vom Schlechten geleitet sei; die eher tugendethisch motivierte These, im Beabsichtigen einer schlechten Konsequenz zeige sich ein fragwürdiger moralischer Charakter; sowie den Gedanken Quinns, hinter den Beabsichtigt-Vorhergesehen-Unterscheidung verberge sich ein kantisches Instrumentalisierungsverbot.

Die Möglichkeit moralischer Unmöglichkeit Joseph Boyle argumentiert zugunsten der moralischen Relevanz der Beabsichtigt-Vorhergesehen-Unterscheidung des PDW, indem er herausstellt, dass diese Unterscheidung unverzichtbar innerhalb einer Theorie ist, die den Anspruch hat, stets handlungsleitend zu sein. Die Relevanz der Beabsichtigt-Vorhergesehen-Unterscheidung ergebe sich dabei aus der Möglichkeit, dass Personen sich in Situationen einer »moral impossibility« wiederfinden können, in Situationen, »in which, whatever one chooses to do, one will inflict […] harm on someone.« 14 An Boyle anschließend charakterisiert Adam Bailey Situationen moralischer Unmöglichkeit, die er »Escape« nennt, noch genauer. 15 Personen können sich ohne eigenen Fehler in Situationen befinden, in denen jede verfügbare Option – die Option, nichts zu tun, eingeschlossen – vorhersehbar schlechte Konsequenzen mit sich bringt. Es könne also möglich sein, dass Personen nicht anders kön14 15

Boyle 1991, S. 486. Vgl. Bailey 2011, S. 153.

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nen, als eine Option wählen, die vorhergesehen schlechte Konsequenzen mit sich bringt. Moral könne nicht von uns verlangen zu tun, was unmöglich ist, nämlich in solchen Situationen eine Option zu wählen, die nicht vorhergesehen schlechte Konsequenzen mit sich bringt. Ein zu allgemein formuliertes absolutes Schädigungsverbot könne Boyle zufolge nicht plausiblerweise angenommen werden, weil es in solchen Situationen nicht dabei helfen könne zu bestimmen, was wir tun sollen. »For a moral norm which literally cannot be followed cannot perform its function of guiding choice.« 16 Es müsse folglich Personen in solchen Situationen erlaubt sein, eine Option zu wählen, die vorhergesehen schlechte Konsequenzen mit sich bringt. Das folgende Beispiel illustriert eine Situation moralischer Unmöglichkeit bzw. Escape: Stellen wir uns vor, ein Zug rast auf fünf Menschen zu. Die Bremsen versagen, die Zugführerin kann den Zug nicht stoppen. Sie hat jedoch zwei Möglichkeiten, den ansonsten sicher eintretenden Tod der fünf Menschen zu verhindern. Sie kann entweder auf ein Gleis zu ihrer Linken umschwenken – auf diesem Gleis befinden sich jedoch zwei Personen, die sicher sterben würden. Oder sie lenkt auf ein Gleis zu ihrer Rechten um – dort befindet sich eine schwerbepackte Person, die eine Kollision mit dem Zug ebenfalls nicht überleben würde. Das Gleis zu ihrer Rechten führt hinter der schwerbepackten Person wieder zurück auf das ursprüngliche Gleis mit den fünf Menschen. Die eine Person ist aber so schwer bepackt, dass sie den Zug mit ihrem Gewicht bremsen würde. Stünde dort eine Person ohne schweres Gepäck, würde nicht nur sie sterben, sondern der Zug würde anschließend auch die fünf Menschen erfassen. Schwenkt die Zugführerin nach rechts, sterben zwei Menschen anstatt der fünf Personen. Schwenkt sie nach rechts, stirbt die eine schwer bepackte Person. Bleibt sie auf dem ursprünglichen Gleis, sterben fünf Personen. Jede Option der Zugführerin besteht also darin, dass sie mindestens einen Menschen tötet. Die Möglichkeit des Eintretens von Situationen moralischer Unmöglichkeit bzw. von Situationen der Art Escape zeige, dass ein absolutes Verbot, vorhergesehen Schaden zu bewirken, zu weit gefasst sei und das Verbot daher limitiert werden müsse. 17 Im beschriebenen Beispiel wäre es der Zugführerin sonst nämlich unmöglich, 16 17

Boyle 1991, S. 486. Vgl. ebd., S. 486.

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etwas zu tun, das nicht unter allen Umständen moralisch verboten ist. Boyle, wie auch Bailey, schließen daraus, dass es plausibel sei anzunehmen, die Beabsichtigt-Vorhergesehen-Unterscheidung sei moralisch relevant: The distinction between actions in which one intentionally harms someone and those in which someone is harmed as a side effect provides the needed limit on the extension of norms absolutely prohibiting inflicting certain kinds of harms. 18 The basic idea here is that while it is never morally permissible to intend to give rise to bad effects […], it is sometimes morally permissible to do that which one foresees will give rise to bad effects […], and the reason for this is the possibility of situations of moral impossibility. On the assumption that there are moral absolutes, Escape can thus be seen as providing a plausible ground for why they apply with respect to intended effects, but not with respect to unintended but foreseeable side effects, and thus can be used to ground the moral significance of the intend/foresee distinction. 19

Während ein generelles Schädigungsverbot in Situationen moralischer Unmöglichkeit bzw. der Art Escape nicht dabei helfen kann zu bestimmen, welche Option(en) wir wählen dürfen und welche zu wählen verboten ist, kann das PDW mit seiner Beabsichtigt-Vorhergesehen-Unterscheidung ebendiese Hilfe leisten. Optionen, die von der Art sind, dass ein Schaden beabsichtigt bewirkt wird, stehen einer Handelnden moralisch gesehen nicht offen. Boyles und Baileys Argumentation für die moralische Relevanz der Beabsichtigt-Vorhergesehen-Unterscheidung und damit der Plausibilisierung des PDW kann jedoch in ihrer bisherigen Rekonstruktion nicht überzeugen, weil die Konklusion nicht folgt. Schauen wir uns das Argument noch einmal genauer an, um das Problem zu sehen: A1: Es gibt Situationen, in denen wir nicht anders können, als schlechte Konsequenzen hervorzubringen. A2: Es ist nie erlaubt, schlechte Konsequenzen hervorzubringen. K1: Es gibt Situationen, in denen wir nicht anders können, als etwas moralisch nicht Erlaubtes tun, sprich: es gibt tragische Dilemmata.

18 19

Ebd., S. 487. Bailey 2011, S. 153–154.

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A3: Nicht-K1: Moral hat eine handlungsleitende Funktion, es gibt keine tragischen Dilemmata. K2: Nicht-A2: es ist manchmal erlaubt, schlechte Konsequenzen hervorzubringen. K3: Die Unterscheidung zwischen beabsichtigten und nur vorhergesehenen schlechten Konsequenzen ist moralisch relevant. Die Konklusion K3 folgt ganz offensichtlich nicht. Nehmen wir an, dass uns die Moral Prinzipien an die Hand geben sollte, die unser Entscheiden leiten können. Daraus, dass eine Handelnde sich in einer Situation wiederfinden kann, in der es ihr nicht möglich ist, eine Option zu wählen, die nicht vorhergesehen zu einem Schaden führt, folgt dann, dass die Handelnde eine Option wählen dürfen muss, die vorhergesehen Schaden mit sich bringen wird. Es folgt, dass es mindestens eine Option gibt, die ihr aus moralischer Sicht offensteht. Welche Optionen dies sind, muss erst noch genauer bestimmt werden. Die Handelnde muss Unterschiede zwischen den Optionen finden – und hier kommen durchaus mehrere in Frage. So könnten zwischen einigen Optionen moralisch möglicherweise relevante Unterschiede bestehen: manche Optionen bringen schlechtere Konsequenzen mit sich als andere, oder bei einigen Optionen geht ein Schaden aus einem Tun statt aus einem Unterlassen hervor, oder bei einer Option handelt es sich um das Brechen eines Versprechens, etc. Ob der Unterschied zwischen dem Beabsichtigen und dem bloßen Vorhersehen eines Schadens ein moralisch relevanter Unterschied ist, steht hier gerade zur Diskussion. Aber auch moralisch eher nicht relevante Unterschiede könnten hier entscheidend sein: ein Münzwurf hat eine der Optionen ausgegeben, oder die Handelnde hat eine persönliche Präferenz für eine der Optionen. Das Problem bei der Argumentation Boyles und Baileys ist also, dass die Möglichkeit von Situationen moralischer Unmöglichkeit oder Escape nur zeigt, dass es noch etwas geben muss, das einen (moralisch relevanten) Unterschied markiert, aber dass hier ausgerechnet die Beabsichtigt-Vorhergesehen-Unterscheidung relevant ist, ist damit noch nicht gezeigt, sondern wird in K3 lediglich behauptet. Im genannten Beispiel sollte sich die Zugführerin für das linke Gleis entscheiden, da der Tod der zwei Personen auf diesem Gleis unbeabsichtigt, wenngleich sicher vorhergesehen wären. Die Wahl des rechten Gleises wäre moralisch verboten, da der Tod der schwerbepackten Person ein beabsichtigtes Mittel zur Rettung der fünf Menschen wäre. Anstelle der Beabsichtigt-Vorhergesehen-Unter124 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

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scheidung könnte die Zugführerin ihre Entscheidung aber auch auf der Grundlage einer konsequentialistischen Überlegung treffen: beim Umschwenken auf das rechte Gleis sterben die wenigsten Menschen, also sollte die Zugführerin auf die schwerbepackte Person umlenken. Boyle und Bailey zeigen in ihrer Argumentation nicht, weshalb die Beabsichtigt-Vorhergesehen-Unterscheidung und nicht eine rein konsequentialistische Überlegungen relevant ist. Das Argument Boyles und Baileys kann, denke ich, jedoch so verbessert werden, dass die gewünschte Konklusion K3 tatsächlich folgt. Hierzu können wir dem Argument zwei weitere Prämissen – A4 und A5 – hinzufügen. Das Argument sähe dann wie folgt aus: A1: Es gibt Situationen, in denen wir nicht anders können, als schlechte Konsequenzen hervorzubringen. A2: Es ist nie erlaubt, schlechte Konsequenzen hervorzubringen. K1: Es gibt Situationen, in denen wir nicht anders können, als etwas moralisch nicht Erlaubtes tun, sprich: es gibt tragische Dilemmata. A3: Nicht-K1: Moral hat eine handlungsleitende Funktion, es gibt keine tragischen Dilemmata. K2: Nicht-A2: es ist manchmal erlaubt, schlechte Konsequenzen hervorzubringen. A4: Wenn etwas tragische Dilemmata vermeidet, dann ist es moralisch relevant. A5: Die Unterscheidung zwischen beabsichtigten und nur vorhergesehenen schlechten Konsequenzen vermeidet tragische Dilemmata. K3: Die Unterscheidung zwischen beabsichtigten und nur vorhergesehenen schlechten Konsequenzen ist moralisch relevant. Das Hinzufügen der Prämissen bewirkt, dass K3 folgt. Aber auch das verbesserte Argument vermag nicht zu überzeugen. Denn die hinzugefügte Prämisse A4 ist falsch. Nicht alles, was tragische Dilemmata vermeidet, ist moralisch relevant. Denn tragische Dilemmata lassen sich anhand von Überlegungen vermeiden, die sicherlich nicht moralisch relevant sind. Wer etwa in einem anderen Trolley Case 20 Die Trolley Cases sind verschiedene Gedankenexperimente, die gemeinsam haben, dass fünf Menschen drohen, von einem herannahenden Zug getötet zu werden, und die gerettet werden können, sofern eine Entscheidung getroffen wird, die zur Folge hat, dass eine andere Person stirbt. Der erste Trolley Case findet sich bei Foot (1978). In diesem Fall kann der Fahrer des Zuges, dessen Bremsen versagen, das Unglück für die fünf Menschen nur dadurch abwenden, dass er den Zug auf ein benachbartes Gleis

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vor der Wahl steht, einen Zug auf fünf Männer oder auf eine Frau zu lenken, der kann das tragische Dilemma, dass mindestens ein Mensch sterben muss, dadurch vermeiden, dass er einen Unterschied zwischen dem Wert eines männlichen und eines weiblichen Lebens ausmacht und deshalb den Zug auf die Frau lenkt. Ob jemand eine Frau oder ein Mann ist, ist jedoch klarerweise nicht moralisch relevant, auch wenn anhand dieser Unterscheidung tragische Dilemmata vermieden werden können. In gleicher Weise liefert A4, dass etwa Unterschiede in den Hautfarben oder den Farben der von den potentiellen Opfern getragenen Pullover moralisch relevant sein müssen, wenn sie zur Vermeidung tragischer Dilemmata beitragen. Das aber ist nicht plausibel, und A4 muss zurückgewiesen werden. Boyles und Baileys Argumentation für die moralische Relevanz der Beabsichtigt-Vorhergesehen-Unterscheidung scheitert damit. Dass das PDW nützlich ist, um tragische Dilemmata zu vermeiden, mag sein. Aber andere Überlegungen bringen diesbezüglich möglicherweise den gleichen oder gar einen höheren Nutzen. Und einige Überlegungen können ebenso nützlich wie das PDW sein, sollten aber in der Deliberation dennoch keine Rolle spielen.

Das Anstreben eines Übels Ein anderer Versuch, die moralische Relevanz der Beabsichtigt-Vorhergesehen-Unterscheidung zu begründen, geht auf Thomas Nagel zurück. Nagel zufolge sei es deshalb so schlimm, Personen einen beabsichtigten Schaden zuzufügen, weil es falsch sei, ein Übel anzustreben (»aiming at evil«). Wer einen Schaden vorhersieht, bringe zwar auch etwas Schlechtes hervor, allerdings ohne es anzustreben, also ohne auf dessen Verwirklichung zu zielen. Wer ein Ziel beabsichtigt, werde in seinem Handeln von diesem Ziel gelenkt. Dieses Ziel kann sowohl Selbstzweck als auch nur ein gewähltes Mittel sein, denn wer das Ziel will, muss auch das Mittel wollen. Ein Übel anzustreben oder umlenkt, auf dem sich eine andere Person befindet und die sicher sterben wird. Modifikationen dieses Falls, der auch Trolley Driver genannt wird, finden sich unter anderem und besonders prominent bei Thomson (1985). Thomson diskutiert unter anderem den Fall Bystander at the Switch: Eine Person steht an der Weiche und kann den auf fünf Menschen zusteuernden führerlosen Zug auf ein anderes Gleis umlenken und so die fünf Menschen retten. Auf dem anderen Gleis befindet ebenfalls eine Person, deren Tod verursacht werden würde.

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darauf abzuzielen, ist nun nach Nagel nichts anderes, als im Handeln von einem Übel gelenkt zu werden. »[…] to aim at evil, even as a means, is to have one’s action guided by evil.« 21 Von einem Ziel geleitet zu sein, bedeutet nun, ihm im Handeln zu folgen und ein Handeln nach der Verfolgung dieses Ziels auszurichten und gegebenenfalls anzupassen. Wird eine schlechte Folge lediglich vorhergesehen, wird der Akteur nicht vom Eintreten dieser Folge gelenkt und verfolgt sie auch nicht. The difference is that action intentionally aimed at a goal is guided by that goal. Whether the goal is an end in itself or only a means, action aimed at it must follow it and be prepared to adjust its pursuit if deflected by altered circumstances – whereas an act that merely produces an effect does not follow it, is not guided by it, even if the effect is foreseen. 22

Wenn also jemand eine schlechte Folge als Ziel oder Mittel beabsichtigt, wird er für die Realisierung dieser schlechten Folge sorgen. Besteht die Gefahr, dass die schlechte Folge nicht eintritt, wird der Akteur sein Handeln entsprechend anpassen, um sie doch noch zu realisieren. One must be prepared to adjust [one’s action] to ensure the production of evil: a falling-off in the level of the desired evil becomes a reason for altering what one does so that the evil is restored and maintained. 23

Für den terroristischen Bombenpiloten bedeutet dies, dass er eine zweite Bombe abwirft, falls die Zivilisten die Detonation der ersten unbeschadet überstanden haben. Für den strategischen Bombenpiloten gilt dies dagegen nicht. Zerstört die Bombe die Munitionsfabrik und die Zivilisten überleben, gibt es für ihn keinen Anlass, noch eine zweite Bombe abzuwerfen (es sei denn, die Munitionsfabrik ist nicht zerstört worden). Etwas Schlechtes zu beabsichtigen, ist nach Nagel deshalb moralisch so problematisch, weil Übel einen negativen Wert haben und wir insofern auch eine negative Einstellung zu ihnen haben sollten. Ein Übel zu beabsichtigen, bedeutet nichts anderes, als etwas hervorbringen zu wollen, dessen Realisierung nach Möglichkeit zu verhindern ist. 21 22 23

Nagel 1986, S. 181. Ebd. Ebd., S. 181–182.

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But the essence of evil is that it should repel us. If something is evil, our actions should be guided, if they are guided by it at all, toward its elimination rather than toward its maintenance. That is what evil means. So when we aim at it we are swimming head-on against the normative current. Our action is guided by the goal at every point in the direction diametrically opposite to that in which the value of that goal points. […] and from the view of the agent, this produces an acute sense of moral dislocation. 24

Nagels auf den ersten Blick attraktive Position birgt jedoch ein Problem. Zwar beantwortet Nagel die Frage, weshalb manche Handlungen problematischer sind als andere – wegen der schlechten Absichten, die sie leiten. Die Handlung ›Jemandes Tod beabsichtigen und herbeiführen‹ ist problematischer als die Handlung ›Tod vorhersehen und herbeiführen‹, weil die erste Handlung mit der Absicht einhergeht, jemandes Tod herbeizuführen, die zweite Handlung eine solche Absicht dagegen vermissen lässt. Die naheliegende Anschlussfrage lautet nun: Warum ist es problematischer, etwas Schlechtes, z. B. jemandes Tod zu beabsichtigen, als etwas Schlechtes nur vorherzusehen? Diese Frage beantwortet Nagel nicht mehr. Doch da diese Frage der Ausgangsfrage sehr ähnlich ist, lässt sich sagen, dass Nagel das Problem, das es zu lösen gilt, lediglich verlagert. Ähnlich argumentieren Dana Nelkin und Samuel Rickless. Sie diagnostizieren bei Nagel einen Zirkel: Etwas Schlechtes zu beabsichtigen sei falsch, weil es falsch ist, die Absicht zu haben, etwas Schlechtes zu verwirklichen. Damit setze Nagel, so Nelkin und Rickless, voraus, was es erst zu zeigen gilt, sprich er beantworte die Frage nicht. 25 Ich habe dagegen argumentiert, dass es sich nicht um einen Zirkel in diesem Sinne handelt: Zwar beantwortet Nagel die Frage, warum manche Handlungen problematischer sind als andere, jedoch stellt sich im Anschluss an seine Antwort eine Frage, die der ursprünglichen sehr ähnlich ist.

24 25

Ebd., S. 182. Vgl. Nelkin / Rickless 2015, S. 402–403.

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Moralischer Charakter Nagel attestiert dem terroristischen Bombenpiloten einen »acute sense of moral dislocation« 26, der sich in der Absicht ausdrücke, Unschuldige zu töten. Diese Absicht zeige, dass mit dem Bombenpiloten selbst moralisch etwas nicht stimme. Wer eine schlechte Absicht habe, nehme eine problematische Haltung gegenüber etwas Schlechtem ein. Und eine problematische Haltung einzunehmen, zeuge von einem Defizit im moralischen Charakter des terroristischen Bombenpiloten. So schreibt auch Alison Hills im Anschluss an Nagel: »Having appropriate attitudes towards good and evil is a sign of good character […].« 27 Ein weiterer Versuch, die moralische Relevanz der BeabsichtigtVorhergesehen-Unterscheidung des PDW zu begründen, liegt also darin, sie auf den unterschiedlichen moralischen Charakter der Handelnden zurückzuführen. Doch ich denke, auch diese Argumentationslinie bleibt erfolglos. Stellen wir uns folgende Version des strategischen und des terroristischen Piloten vor: Beide Piloten stehen vor der Wahl, entweder eine Munitionsfabrik zu bombardieren oder ein Wohngebiet. Wird die Munitionsfabrik bombardiert, wird der Feind militärisch so geschwächt sein, dass er kapitulieren muss. Wird das Wohngebiet bombardiert, wird der Feind jeglichen Rückhalt aus der Bevölkerung verlieren und deshalb kapitulieren müssen. Nehmen wir an, es ist den beiden Piloten im Grunde völlig gleich, worüber sie ihre Bombe abwerfen. Sie werfen deshalb zur Entscheidungsfindung eine Münze. 28 Die Entscheidung, eine Münze zu werfen, zeugt von Gleichgültigkeit. Beide Bombenpiloten gehen mit dem Münzwurf das Risiko ein, zu terroristischen Bombenpiloten zu werden und beabsichtigt den Tod Unschuldiger herbeizuführen, und das ist bereits moralisch fragwürdig. Das heißt, beide haben im Grunde die gleiche schlechte EinNagel 1986, S. 182. Hills 2003, S. 138. 28 Statt der Münze können wir auch die Vorgesetzten der Bombenpiloten einsetzen. Dann machen sie die Entscheidung, ob sie das Wohngebiet oder die Munitionsfabrik bombardieren, nicht vom Ergebnis des Münzwurfs abhängig, sondern von den Befehlen ihrer Vorgesetzten. Für das Argument erscheint mir der Münzwurf-Fall insofern klarer, als er im Gegensatz zu einem Verweis auf Vorgesetzte nicht mit der Komplikation einhergeht, dass bestimmte hierarchische Strukturen möglicherweise Verantwortungszuschreibungen beeinflussen. 26 27

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stellung gegenüber ihren potentiellen Opfern, also beide einen gleichermaßen schlechten moralischen Charakter. Dennoch können aus zwei gleichermaßen schlechten Charakterzügen unterschiedliche Absichten hervorgehen. Beide Bombenpiloten haben in einem ersten Schritt die Absicht, eine Münze zu werden. Beide haben daraufhin auch die Absicht, die Handlung auszuführen, die der Münzwurf empfiehlt. Im letzten Schritt unterscheiden sie sich jedoch voneinander: Um tun zu können, was der Münzwurf empfiehlt, formt ein Bombenpilot die (instrumentelle) Absicht, das Wohngebiet zu zerstören, der andere die Absicht, die Munitionsfabrik anzugreifen. Der eine ist ein terroristischer Münzwurf-Bombenpilot, denn er beabsichtigt den Tod von Zivilisten, der andere ist ein strategischer Münzwurf-Bombenpilot, der ihren Tod lediglich vorhersieht. Es gibt hier also letztlich einen Unterschied in dem, was die beiden beabsichtigen. Doch in ihrem moralischen Charakter unterscheiden sie sich nicht voneinander. Der Vorschlag, die moralische Relevanz der Beabsichtigt-Vorhergesehen-Unterscheidung ließe sich auf Unterschiede im moralischen Charakter oder in den Einstellungen von Akteuren zurückführen, muss damit zurückgewiesen werden. Unterschiedliche Absichten verweisen nicht unbedingt auf Unterschiede im Charakter. Wir würden wohl sagen, dass im beschriebenen Beispiel beide Bombenpiloten aufgrund ihrer Gleichgültigkeit Defizite in ihrem moralischen Charakter haben. Doch aus einem gleichermaßen schlechten Charakter müssen nicht gleichermaßen schlechte Absichten resultieren. Die Absicht des strategischen Bombenpiloten, die Munitionsfabrik zu zerstören, ist weniger schlecht als die Absicht des terroristischen Bombenpiloten, das Wohngebiet zu zerstören. Vertreterinnen des PDW, so scheint es, müssen aufgrund der feinen Unterschiede in den Absichten der Handelnden trotz gleichen Charakters noch feine Unterschiede im Wert der ausgeführten Handlungen sehen – das aber ist kontraintuitiv. Bevor ich auch diesen dritten Vorschlag zur Begründung der moralischen Relevanz der Beabsichtigt-Vorhergesehen-Unterscheidung zurückweise, möchte ich noch den, so scheint mir, naheliegenden Einwand diskutieren, den eine Vertreterin des PDW vortragen könnte: Die relevante Absicht im Münzwurf-Fall ist nicht diejenige am Ende der Deliberation der beiden Piloten. In dieser unterscheiden sie sich zwar, aber sie teilen eine Absicht, die entscheidend ist. Mir scheinen zwei Lesarten dieses Einwands möglich zu sein. Nach der 130 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

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ersten Lesart ist die relevante Absicht die, in der beschriebenen Situation eine Münze zu werfen. Da beide Piloten diese Absicht haben, haben sie erstens einen gleich schlechten moralischen Charakter und zweitens sind ihre Handlungen gleichermaßen verboten. Nun lässt sich darüber streiten, ob es für eine Vertreterin des PDW zulässig ist, das PDW auf einmal so zu interpretieren, dass es nicht mehr (nur) verbietet, den Tod von Menschen zu beabsichtigen, sondern auch, keine anderen möglicherweise problematischen Absichten zu haben. Auch unabhängig davon überzeugt die Verlagerung der relevanten Absicht hin zu der, eine Münze zu werfen, aber nicht. Denn das Werfen einer Münze zwischen zwei Optionen, die Menschenleben fordern werden, ist nicht per se problematisch. Problematisch wird der Münzwurf nur, wenn bereits geklärt ist, dass die Optionen moralisch unterschiedlich zu bewerten sind – genau das steht hier aber zur Debatte. Nach der zweiten Lesart ist die relevante Absicht die Konjunktion davon, eine Münze zu werfen und dem Ergebnis des Münzwurfs ohne weitere Deliberation blind zu folgen. Das trifft auf beide Piloten zu, und deshalb sind ihre Handlungen gleichermaßen schlimm. Doch welchen Grund sollten die beiden Bombenpiloten haben, dem Ergebnis des Münzwurfs nicht zu folgen, wenn die Münze auf »Wohngebiet bombardieren« fällt? Die Antwort scheint zu sein, dass der, der das Wohngebiet bombardiert, noch einmal hätte nachdenken sollen, weil es eben schlimmer ist, Wohngebiete zu bombardieren als Munitionsfabriken. Und das scheint wiederum zu gelten, weil es eben schlimmer ist, Zivilisten beabsichtigt zu töten, als ihren Tod nur vorherzusehen. Aber dass dies der Fall ist, sollte erst gezeigt werden. Die zweite Lesart des Einwandes führt also zu einem Zirkel. Zwar überzeugt eine Begründung der Kernunterscheidung des PDW über den moralischen Charakter nicht. Jedoch ist nicht von der Hand zu weisen, dass es einen Zusammenhang zwischen bestimmten Charakterzügen und den Absichten von Personen gibt. Schlechte Charakterzüge und schlechte Absichten fallen oft zusammen – allerdings nur kontingenterweise. Charakterlich schlechte oder »defizitäre« Menschen neigen eher zur Formung schlechter Absichten als charakterlich gute oder bessere Menschen. Doch dieser Zusammenhang ist zu schwach, als dass er das PDW begründen könnte. Letztlich sind gute oder schlechte Absichten eben nicht mehr als mehr oder weniger sichere Zeichen eines so oder anders gearteten Charakters.

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Instrumentalisierungsverbot Eine vierte Möglichkeit zu begründen, weshalb es einen moralisch relevanten Unterschied macht, ob Menschen beabsichtigt getötet werden oder ihr Tod nur vorhergesehen wird, besteht in einem Verweis auf ein Instrumentalisierungsverbot. Beim terroristischen Bombardieren werden Zivilisten instrumentalisiert. Sie werden, mit Kant gesprochen, als bloßes Mittel zum Zweck gebraucht. Sie werden wie Sachen, wie Gegenstände, als Werkzeuge eingesetzt für die eigenen Ziele. Sie werden schlicht ausgenutzt, ihre Anwesenheit und ihr Tod sind eine günstige Gelegenheit für den Piloten, sein Ziel zu erreichen, einen Krieg zu beenden. Dies gilt nicht für das strategische Bombardieren. Die Zivilisten werden nicht als bloßes Mittel zum Zweck gebraucht, sie werden nicht ausgenutzt. Instrumentalisierungen scheinen auf eine besondere Weise problematisch, weil sie einen großen Mangel an Respekt oder Achtung vor anderen Menschen zum Ausdruck bringen. Ein prominenter Vertreter einer kantischen Begründung des PDW über das Instrumentalisierungsverbot ist Warren Quinn. Quinn vertritt eine eigene Version des PDW, die von meiner ursprünglichen Formulierung abweicht. Er unterscheidet nicht zwischen dem Beabsichtigen und dem Vorhersehen einer schlechten Folge, wie es klassisch für das PDW ist. Stattdessen unterscheidet er zwischen direkt und indirekt schädigenden Handlungsweisen (direct und indirect harmful agency). Quinn fokussiert dabei nicht mehr auf die Ergebnisse von Handlungen, also auf eintretende Schäden. Das bedeutet, dass Quinn nicht fragt, ob der Tod eines Menschen beabsichtigt oder nur vorhergesehen wird. Denn hier läuft das PDW in das sogenannte Problem der Nähe, das Quinn zu umgehen versucht. Er fragt stattdessen, ob die Involvierung des Opfers, die dann zu einer Schädigung führt, beabsichtigt wird, sodass es für Quinn keine Rolle mehr spielt, ob der eigentlich resultierende Schaden beabsichtigt wird. Um eine direkt schädigende Handlungsweise handelt es sich Quinn zufolge dann, wenn ein Akteur jemanden auf eine Weise involviert, die ihn im Ergebnis schädigt, und wenn diese Involvierung insofern beabsichtigt ist, als sie Teil des Plans des Akteurs ist bzw. ihm dabei hilft, sein Ziel zu erreichen. [Direct harmful agency is an] agency in which harm comes to some victims, at least in part, from the agent’s deliberately involving them

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in something in order to further his purpose precisely by the way of their being so involved. 29

Bei einer indirekt schädigenden Handlungsweise werden die Opfer zwar ebenfalls auf eine Weise involviert, die sie letztlich schädigt. Jedoch beabsichtigt der Akteur diese schädigende Involvierung nicht. Die Involvierung der Opfer trägt nicht zur Erreichung der Ziele bei. Gleichwohl sieht der Akteur sie womöglich (sicher) vorher. [Indirect harmful agency is an] agency in which either nothing in that way is intended for the victims or what is so intended does not contribute to their harm. 30

Beim terroristischen Bombardieren werden die Zivilisten vom Piloten in eine Bombenexplosion involviert. Seine Handlung hat eine Wirkung auf die Zivilisten, und er will eine Wirkung auf sie erzielen, da sie seinem Ziel dient. […] the bomber undeniably intends in the strictest sense that the civilians be involved in a certain explosion, precisely because their involvement in it serves his goal. He may not […] intend their deaths. But his purpose requires at least this – that they be violently impacted by the explosion of his bombs. That this undeniably intended effect can be specified in a way that does not strictly entail their deaths is, on the view I am proposing, beside the point. What matters is that the effect serves the agent’s end precisely because it is an effect on civilians. 31

Beim strategischen Bombardieren werden die Zivilisten ebenfalls in eine Explosion involviert, die zu ihrem Tod führt. Das Abwerfen der Bombe über der Munitionsfabrik hat den gleichen Effekt auf die Zivilisten wie beim terroristischen Bombardieren. Aber was dem Piloten nützt, ist nicht, dass er irgendetwas bei den Zivilisten bewirkt, sondern bei der Munitionsfabrik. Er beabsichtigt daher die schädigende Involvierung der Zivilisten nicht. Soweit die Rekonstruktion des Grundgedanken Quinns. Aber weshalb sollten direkt schädigende Handlungsweisen problematischer sein als indirekt schädigende Handlungsweisen? Quinn begründet diesen Unterschied mit einem Verweis auf ein kantisch begründetes Instrumentalisierungsverbot. Bei direkt schädigenden 29 30 31

Quinn 1989, S. 343. Ebd. Ebd., S. 342.

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Handlungsweisen spielen die Opfer eine wichtige Rolle im strategischen Denken eines Akteurs: The agent of direct harm […] has something in mind for his victims – he proposes to involve them in some circumstance that will be useful to him precisely because it involves them. He sees them as material to be strategically shaped or framed by his agency. 32

Der Bombenpilot behandle die Opfer so, als seien sie Dinge, die für ihn da sind und die er für seine Zwecke benutzen kann. Doch Menschen nach den eigenen Zielen zu formen, ohne dass sie diese Ziele teilen, sei höchst verwerflich. 33 Bei indirekt schädigenden Handlungen hingegen spielen die Opfer keine solche strategische Rolle. Sie zu schädigen, nütze dem Akteur nichts und sei insofern nicht Teil seines Plans. Dieser Unterschied in der Einstellung der Akteure gegenüber den Opfern ihrer Taten bringe einen unterschiedlichen Mangel an Respekt oder an Achtung ihnen gegenüber zum Ausdruck. 34 Während beim strategischen Bombardieren die Opfer und ihre Ziele möglicherweise keine oder nur sehr geringe Beachtung erfahren – und das sei bereits schlimm –, werden die Opfer terroristischen Bombardierens darüber hinaus auch noch für die eigenen Zwecke eingesetzt. 35 Die Strategie, die Kernunterscheidung des PDW mit einem Verweis auf ein Instrumentalisierungsverbot zu begründen, das darin besteht, bestimmte Einstellungen gegenüber Personen nicht haben zu dürfen, ähnelt dem Versuch, das PDW über einen unterschiedlichen moralischen Charakter der Handelnden zu begründen. Insofern scheinen auch Vertreterinnen der Quinn-Version des PDW nicht mit dem dargestellten Münzwurf-Fall umgehen zu können. Fällt die Münze auf das Wohngebiet, involviert der Bombenpilot die Zivilisten, gerade weil die Involvierung ihm dabei hilft, sein Ziel zu erEbd., S. 348. Vgl. ebd., S. 349. 34 Vgl. ebd., S. 350. 35 Vgl. ebd., S. 348–349. Fisher, Ravizza und Copp (1993) wenden gegen Quinn ein, der kantische Verweis auf einen Mangel an Respekt (bzw. Achtung) helfe nicht dabei, terroristisches Bombardieren von strategischem zu unterscheiden. Denn beide Handlungsweisen seien insofern respektlos, als sie den Zielen der Opfer zuwiderlaufen und den Opfern zu wenig Beachtung schenken. Dieser Einwand erscheint mir verfehlt, da Quinn betont, auch strategisches Bombardieren sei problematisch, weil dem Akteur die Zivilisten wenig bis nichts bedeuten. Gleichwohl behandle er sie – immerhin – nicht auch noch als bloße Mittel zum Zweck, also wie beliebig zu seinen Zwecken einsetzbare Werkzeuge. 32 33

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Die Beabsichtigt-Vorhergesehen-Unterscheidung: Begründungsstrategien

reichen, nämlich zu tun, was die Münze sagt. Er beabsichtigt also die schädigende Involvierung der Zivilisten, und das ist ein Fall von nur schwer zu rechtfertigender direkt schädigender Handlungsweise. Für den, dessen Münze auf die Munitionsfabrik fällt, gilt dies so nicht. Dass er die Zivilisten auf schädigende Weise involviert, nützt dem Piloten nicht für die Erreichung seines Ziels, dem Ergebnis des Münzwurfs zu folgen, nämlich die Munitionsfabrik zu zerstören. Das strategische Bombardieren ist hier ein Fall von indirekt schädigender Handlungsweise und müsste daher weniger problematisch sein – ist es intuitiv aber nicht. Zwar ist es möglich, dass hier sowohl das terroristische als auch das strategische Bombardieren all things considered moralisch verboten ist. Jedoch sind, so Quinn, direkt schädigende Handlungsweisen prima facie problematischer sind als indirekt schädigende Handlungsweisen. 36 Wenn zwei Handlungen in allen Hinsichten gleich sind, gilt, dass mehr gegen diejenige Handlung spricht, bei der deren Opfer beabsichtigt in eine sie schädigende Handlung involviert werden, als gegen die Handlung, die in einer unbeabsichtigten schädigenden Involvierung der Opfer besteht. Der Umstand, dass einer der Piloten Zivilisten beabsichtigt in eine Handlung involviert, die sie schädigt, spricht im Münzwurf-Beispiel gegen das terroristische Bombardieren, nicht aber gegen das strategische Bombardieren. Das strategische Bombardieren ist somit weniger problematisch als das terroristische. So wenig Quinns Unterscheidung zwischen direkt und indirekt schädigender Handlungsweise mit Blick auf den Münzwurf-Fall überzeugen kann, so deutlicher scheint mir dagegen ein Rekurs auf Instrumentalisierungen plausibel. Am Ende instrumentalisiert nur einer der Piloten tatsächlich die Zivilisten. Doch beide sind bereit, sie zu instrumentalisieren, sollte es die Münze »befehlen«. Wenn hinter einer Instrumentalisierung ein äußerster Mangel an Achtung vor den Zielen anderer Menschen steckt, ist leicht zu sehen, weshalb terroristisches und strategisches Bombardieren im Münzwurf-Fall gleichermaßen verwerflich sind. Genau dies stellte sich auch in meiner Diskussion des moralischen Charakters heraus. Aber wenn es zutrifft, dass Quinns PDW die Fälle unterschiedlich klassifiziert – einmal als direkt, einmal als indirekt schädigende Handlungsweise, obwohl in den Fällen der gleiche Mangel an Achtung oder Respekt zum Ausdruck kommt, dann zeigt dies nur ein weiteres Mal, dass das PDW 36

Vgl. Quinn 1989, S. 344.

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Das Prinzip der Doppelwirkung

nicht (nur) in einem Instrumentalisierungsverbot gründen kann. Aus einem Instrumentalisierungsverbot im beschriebenen Sinne leitet sich nicht die Kernunterscheidung des PDW ab. Auch diese vierte Strategie ist daher zurückzuweisen.

4.4 Zwei Beispiele gegen das Prinzip der Doppelwirkung Das Scheitern der besprochenen Versuche, die moralische Relevanz der Beabsichtigt-Vorhergesehen-Unterscheidung zu zeigen, gibt Anlass zu dem Schluss, die vom PDW angenommene Unterscheidung sei schlicht moralisch irrelevant und das PDW deshalb als unplausibel zurückzuweisen. Doch dieser Schluss ist noch zu schnell gezogen. Vertreterinnen des PDW könnten folgendermaßen argumentieren: Es mag sein, dass eine überzeugende Begründung der moralischen Relevanz der Beabsichtigt-Vorhergesehen-Unterscheidung aussteht. Es mag sogar sein, dass es eine solche Begründung gar nicht geben kann. Aber was für das PDW spricht, ist, dass es sich intuitiv stützen lässt durch eine ganze Reihe von Fallpaaren, die sich mit dem PDW am besten erklären lassen. Unter diesen Fallpaaren befindet sich auch das des strategischen und des terroristischen Bombardierens. 37 Ich werde in diesem Abschnitt zeigen, dass das PDW nicht nur, wie bereits gesehen, ungenügend theoretisch fundiert ist, sondern darüber hinaus nicht durch die Fälle des terroristischen und des strategischen Bombardierens gestützt wird, weil es die Intuitionen, die wir in diesen Fällen haben, nicht erklären kann. Nach der bisherigen, der Darstellung in der Literatur folgenden Beschreibung der Bombardierungsfälle unterscheiden sie sich in einer wichtigen Hinsicht. Der strategische Bombenpilot findet eine Situation vor, in der es sowohl eine Munitionsfabrik als auch ein WohnDagegen argumentiert Rüdiger Bittner (2004) – meines Erachtens zu Unrecht –, die Kernunterscheidung des PDW finde gerade keine Stütze in unserem moralischen Bewusstsein (vgl. S. 100) und es handle sich hier um eine bloße Spitzfindigkeit (vgl. ebd.). Bittner verwirft daraufhin das PDW. Dies (und andere Überlegungen) führen Bittner direkt zu einer pazifistischen Position. Dagegen ist zweierlei einzuwenden: Erstens zeigen viele Fallpaare sehr wohl die intuitive Erklärungskraft des PDW (zumindest auf den ersten Blick). Zweitens folgt daraus, dass das PDW nicht plausibel ist, noch kein Pazifismus, sondern lediglich, dass strategisches und terroristisches Bombardieren möglicherweise gleich zu bewerten sind oder dass der intuitiv sehr wohl gegebene Unterschied zwischen den beiden zumindest nicht mit dem PDW begründet werden kann.

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136 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Zwei Beispiele gegen das Prinzip der Doppelwirkung

gebiet mit Zivilisten gibt. Der terroristische Bombenpilot findet keine Munitionsfabrik vor. Sie bringen deshalb unterschiedliche Konsequenzen hervor. Der eine zerstört eine Munitionsfabrik und tötet Zivilisten. Der andere tötet ausschließlich Zivilisten. Dass es in der Situationsbeschreibung Unterschiede zwischen den zwei Bombardierungsfällen gibt, könnte eine Erklärung dafür sein, weshalb wir die Fälle intuitiv unterschiedlich bewerten. Es könnte also sein, dass der Unterschied in unseren Intuitionen nicht von den unterschiedlichen Absichten der Handelnden herrührt, sondern schlicht von der Unterschiedlichkeit der Szenarien. Um zu testen, ob tatsächlich die Beabsichtigt-Vorhergesehen-Unterscheidung des PDW einen intuitiven Unterschied ausmacht, müssen die zwei Bombardierungsfälle in ihren Beschreibungen einander angeglichen werden. Werden die Fälle einander so weit angeglichen, dass der einzige Unterschied zwischen ihnen tatsächlich nur darin besteht, dass der eine ausschließlich mit der Absicht bombardiert, die Munitionsfabrik zu zerstören, der andere mit der Absicht, die Zivilisten zu töten, so könnten sie etwa so aussehen: In der Nähe eines Wohngebietes befindet sich eine Munitionsfabrik. Beide Bombenpiloten haben das Ziel, den Feind zur Kapitulation zu zwingen. Sie wissen, dass sie dieses Ziel auf zwei Weisen erreichen können, nämlich indem sie ihn militärisch schwächen oder indem sie seine Moral schwächen. Das Zerstören der Munitionsfabrik wird ihn strategisch schwächen, das Töten der Zivilisten in dem Wohngebiet moralisch. Stellen wir uns den Fall so vor, dass den Bombenpiloten nur eine Bombe von großer Detonationskraft zur Verfügung steht. Wird die Munitionsfabrik bombardiert, wird sie sicher zerstört und es werden 100 Zivilisten sicher durch herumfliegende Teile der Munitionsfabrik sterben – und das weiß der Bombenpilot auch. Wird das Wohngebiet bombardiert, werden 100 Zivilisten sicher sterben und die Munitionsfabrik wird aufgrund der Detonationskraft ebenfalls sicher zerstört. Der terroristische Bombenpilot, der die Bombe über dem Wohngebiet abwirft, beabsichtigt den Tod der Zivilisten und sieht die Zerstörung der Munitionsfabrik vorher, der strategische Bombenpilot dagegen beabsichtigt die Zerstörung der Munitionsfabrik und sieht den Tod der Zivilisten lediglich vorher. Angesichts vollkommen gleicher Konsequenzen, gleicher Eintrittswahrscheinlichkeiten der Konsequenzen und dem Wissen der Handelnden darüber habe ich nicht mehr die Intuition, in diesem Fall sei 137 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Das Prinzip der Doppelwirkung

strategisches Bombardieren weniger problematisch als terroristisches Bombardieren. In Bedrängnis muss eine Vertreterin des PDW also dann geraten, wenn sich Fälle finden lassen, in denen der Unterschied zwischen dem Beabsichtigen und dem reinen Vorhersehen schlechter Konsequenzen zwar ausgemacht werden kann, er aber für die moralische Bewertung unerheblich ist. Hier sind zwei weitere mehr oder weniger realistische Fälle, für die genau dies gelten könnte: Munitionslager unter der Schule: Unter einer Schule befindet sich ein strategisch wichtiges Munitionslager des Gegners. Wird eine Bombe über dem Gelände abgeworfen, so werden sicher sowohl die Schule als auch das Munitionslager zerstört werden. Das bedeutet: Das Munitionslager kann nicht zerstört werden, ohne die Schule darüber zu zerstören und damit Kinder und Lehrpersonal zu töten. Umgekehrt erlaubt es die Detonationskraft der Bombe nicht, ausschließlich die Schule zu zerstören. Dennoch gilt: Der strategische Bombenpilot beabsichtigt das Zerstören des Munitionslagers und sieht den Tod der Kinder und Lehrkräfte lediglich vorher. Der terroristische Pilot beabsichtigt den Tod der Kinder und der Lehrkräfte und sieht das Zerstören des Munitionslagers lediglich vorher. Terroristen im Wohnhaus: In einem mehrstöckigen Wohnhaus haben sich 20 Terroristen 38 in den Wohnungen von 100 Zivilisten verschanzt. Der strategische Bombenpilot bombardiert das Wohnhaus mit der Absicht, die 20 Terroristen zu töten, und sieht vorher, dass auch die 100 Zivilisten sterben werden. Der terroristische Bombenpilot bombardiert das Wohnhaus mit der Absicht, die 100 Zivilisten zu töten, und sieht vorher, dass auch die 20 Terroristen ums Leben kommen werden. In den ursprünglichen Versionen des strategischen und terroristischen Bombardierens, in denen die Konsequenzen unterschiedliche waren, teile ich die Intuition, dass strategisches Bombardieren leichter zu rechtfertigen ist als terroristisches Bombardieren. In den zuMit dem Begriff »Terroristen« sind hier Personen gemeint, deren Handlungsweise nicht nur vereinzelt, sondern grundsätzlich als terroristisch bezeichnen kann, also Personen, deren Handeln sind in aller Regel direkt gegen Zivilisten richtet.

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Zwei Beispiele gegen das Prinzip der Doppelwirkung

letzt beschriebenen Versionen der Bombardierungsfälle kann ich intuitiv nur noch schwerlich einen Unterschied in der moralischen Bewertung ausmachen. Für mich macht es keinen Unterschied mehr, ob die Bombenpiloten den Tod Unschuldiger beabsichtigen oder lediglich vorhersehen, wenn die Konsequenzen, die Eintrittswahrscheinlichkeiten und das Wissen der Bombenpiloten um die Konsequenzen und deren Eintrittswahrscheinlichkeiten vollkommen gleich sind. Vertreterinnen des PDW sind aber auf die Behauptung festgelegt, das Handeln des terroristischen Bombenpiloten sei auch in diesen Fällen moralisch problematischer als das des strategischen Bombenpiloten, wenngleich es sein könnte, dass beide unter Berücksichtigung aller relevanten Überlegungen moralisch falsch handeln. Das aber scheint mir nicht zu stimmen. Sie handeln nicht nur beide falsch, ihr Handeln ist auch gleichermaßen problematisch. Eine Vertreterin des PDW könnte zu ihrer Verteidigung entgegnen, dass in Munitionslager unter der Schule und Terroristen im Wohnhaus zwar beide Handelnde unterm Strich etwas moralisch Falsches tun. Jedoch seien ihre Handlungen aus unterschiedlichen Gründen falsch. Der terroristische Bombenpilot verletze die Kernbedingung des PDW, indem er Unschuldige beabsichtigt tötet. Der strategische Bombenpilot hingegen verletze nicht die Kernbedingung des PDW, da er den Tod der Zivilisten nur vorhersieht, aber er verletze die außerdem zu erfüllende Proportionalitätsbedingung des PDW und handle deshalb moralisch falsch. Nach dieser Argumentation sind beide Handlungen falsch und auch gleichermaßen schlecht, aber aus unterschiedlichen Gründen, weil unterschiedliche Bedingungen des PDW betroffen sind. Diese Argumentation kann jedoch nicht überzeugen. Es ist nicht zu sehen, weshalb angesichts völlig gleicher Konsequenzen nur der strategische Bombenpilot die Proportionalitätsbedingung verletzen sollte. Vielmehr müssen wir annehmen, dass dies auch für den terroristischen Bombenpiloten gelten muss. Das bedeutet, dass der strategische Bombenpilot lediglich eine Bedingung des PDW verletzt, der terroristische Bombenpilot dagegen zwei Bedingungen. Gegen das Handeln des terroristischen Bombenpiloten spricht mehr als gegen das des strategischen Bombenpiloten. Dann aber sind ihre Handlungen gerade nicht gleichermaßen schlecht, sondern die des terroristischen Bombenpiloten ist problematischer. Doch das ist und bleibt kontraintuitiv. Ob der Tod von Zivilisten beabsichtigt oder nur vorhergesehen wird, erscheint in den skizzierten Fällen vollkommen irrelevant. Da139 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Das Prinzip der Doppelwirkung

raus folgt zwar nicht, dass die Beabsichtigt-Vorhergesehen-Unterscheidung auch in den ursprünglichen Versionen der Bombardierungsfälle irrelevant ist. Vertreterinnen des PDW behaupten aber, diese Unterscheidung sei immer relevant, und diese These ist angesichts der Fälle Munitionslager unter der Schule und Terroristen im Wohnhaus zurückzuweisen. Das PDW vermag in diesen Fällen unsere Intuitionen nicht zu erklären. Unsere Intuitionen lassen sich jedoch möglicherweise anders erklären.

4.5 Verzichtbarkeit des Prinzips der Doppelwirkung Es hat sich erstens gezeigt, dass es (bisher) keine tiefere Begründung dafür gibt, warum die zentrale Unterscheidung des PDW zwischen den Konsequenzen, die eine Handelnde beabsichtigt, und denen, die sie lediglich vorhersieht, moralisch relevant ist. Es hat sich zweitens auch gezeigt, dass die Fälle des strategischen und des terroristischen Bombardierens jene Unterscheidung nur dann intuitiv stützen, wenn sich die Fälle nicht nur darin unterscheiden, ob eine Handelnde eine Konsequenz beabsichtigt oder lediglich vorhersieht. Unterscheiden sich die Fälle jedoch auch noch in anderen Hinsichten – den tatsächlichen Konsequenzen und Eintrittswahrscheinlichkeiten –, so ist nicht klar, ob tatsächlich die Beabsichtigt-Vorhergesehen-Unterscheidung des PDW die moralische Arbeit leistet und unsere Intuitionen begründet. Wenn beispielsweise beim Bombardieren eines Wohngebiets mehr Zivilisten zu Tode kommen als bei der Zerstörung einer Munitionsfabrik, scheint bereits der Umstand, dass durch terroristisches Bombardieren mehr Menschen sterben als durch strategisches, zu erklären, weshalb terroristisches Bombardieren verwerflicher ist als ein Angriff eine Munitionsfabrik. Es hat sich sogar gezeigt, dass die Intuition, terroristisches Bombardieren sei problematischer als strategisches, schwindet oder gänzlich ausbleibt, wenn die Fälle in nichts außer in den unterschiedlichen Absichten der Bombenpiloten variieren. Ich denke, zusammengenommen geben uns diese Ergebnisse starke Gründe, die Beabsichtigt-Vorhergesehen-Unterscheidung für moralisch nicht relevant zu halten. Wir haben damit starke Gründe, das PDW aufzugeben. Für einen Verzicht auf das PDW innerhalb der Theorie des gerechten Krieges zu plädieren, führt jedoch zurück zu der Behauptung Anscombes und McMahans, das PDW sei unverzichtbar. Zur Erinne140 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Verzichtbarkeit des Prinzips der Doppelwirkung

rung: Daran, wie groß der Beitrag ist, den jemand für die Entstehung, Unterstützung und (Fort-)Führung eines ungerechten Krieges leistet, bemisst sich der Grad seiner moralischen Verantwortlichkeit für einen ungerechten Krieg. Je mehr Verantwortlichkeit jemand trägt, desto eher ist er ein geeigneter Adressat potentiell schädigender Handlungen. Für Zivilisten gilt in aller Regel, dass der Grad ihrer Verantwortlichkeit so gering ist, dass sie als unschuldig gelten müssen und insofern keine geeigneten Adressaten schädigender Handlungen sind. Daraus ergibt sich, dass ein Krieg auf eine Weise geführt werden muss, die dem Umstand Rechnung trägt, dass einige Menschen unschuldig sind und deshalb einer besonderen Rücksichtnahme bedürfen. Die Frage ist dann, wie diesem Umstand Rechnung getragen werden kann. Anscombe und McMahan eint die Sorge, ohne das PDW könne es eine reine Sache der zu erwartenden Konsequenzen sein, ob Zivilisten im Krieg getötet werden dürfen oder nicht. Wenn zu erwarten ist, dass ein ungerechter Krieg dann schneller zu einem Ende kommt, wenn Zivilisten sterben, als dann, wenn Soldaten getötet, militärische Einrichtungen oder Produktionsstätten zerstört werden, so könnte es manchmal erlaubt (oder gar geboten) sein, Zivilisten zu töten. Damit werde aber, so McMahan, terroristischen Handlungen Tor und Tür geöffnet. McMahan geht noch weiter: Die Alternative könnte sein, das Töten von Zivilisten kategorisch zu verbieten. Gegeben, dass im Krieg erfahrungsgemäß immer Zivilisten sterben, lege uns ein solches Verbot jedoch auf einen Pazifismus fest. Wenn man weder Pazifistin sein noch terroristische Akte erlauben will, scheint das PDW damit unverzichtbar. Das PDW ermöglicht die moderate Position, dass es manchmal erlaubt sein könne, Zivilisten zu töten – nämlich dann, wenn ihr Tod nicht beabsichtigt, sondern lediglich vorhergesehen wird. Doch ist das so wenig plausible PDW tatsächlich unverzichtbar? Haben wir ohne das PDW nur noch die Wahl zwischen Pazifismus und der grundsätzlichen moralischen Erlaubnis terroristischen Handelns ausgehend von Staaten unter bestimmten Umständen? Ich werde im Folgenden argumentieren, dass diese Sorge erstens bereits aus einer utilitaristischen Perspektive, die auf den Erwartungsnutzen fokussiert, unberechtigt ist und sie zweitens ebenfalls unberechtigt ist, wenn wir uns die Bestimmungen der Theorie des gerechten Krieges vor Augen führen, die auch unabhängig vom PDW Geltung beanspruchen. Ich werde im Folgenden eine nicht zwangsläufig er141 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Das Prinzip der Doppelwirkung

schöpfende Reihe von Überlegungen anstellen, die dafürsprechen, terroristisches Bombardieren für wesentlich problematischer zu halten als strategisches Bombardieren. Die folgenden Überlegungen können Antworten auf zwei Fragen liefern, die streng genommen auf unterschiedlichen theoretischen Ebenen liegen: (1) Lassen sich unsere Intuitionen in den Bombardierungsfällen (oder auch in anderen für das PDW typische Fälle) ohne Rekurs auf das PDW erklären? (2) Lässt sich ohne einen Rekurs auf das PDW noch terroristisches Bombardieren im Krieg verbieten, aber strategisches manchmal erlauben?

Erwartungsnutzen Die Behauptung, der Unterschied zwischen beabsichtigten und lediglich vorhergesehenen Konsequenzen sei insofern moralisch nicht relevant, als er nicht auf direktem Wege bestimmt, ob eine Handlung erlaubt oder verboten ist, impliziert nicht die Behauptung, die Absichten von Akteuren hätten keinerlei Bedeutung für die moralische Zulässigkeit von Handlungen. Im jus in bello spielen Absichten traditionell in Anbindung an das PDW eine Rolle. Die Relevanz von Absichten in dieser Form ist fraglich. Doch auch im jus ad bellum, das regelt, wann es überhaupt gerechtfertigt sein kann, einen Krieg zu führen, begegnen uns Absichten – nämlich in der Bedingung, ein Krieg müsse mit einer guten Absicht (right intention) geführt werden. Weshalb sollte es für die Frage danach, ob es einem Staat erlaubt ist, einen Krieg zu führen, wichtig sein, ob er diesen Krieg mit einer guten Absicht führt? Warum sollte es wichtig sein, ob er wirklich das Ziel verfolgt, etwa einen Völkermord zu beenden und vielen Menschen das Leben zu retten, und nicht bloß das Ziel, sich an fremden Ressourcen zu bereichern und seinen eigenen Wohlstand zu mehren, wobei die Beendigung des Völkermords dazu nur ein Mittel ist? Die Frage lässt sich am besten beantworten, wenn wir Absichten als Handlungsdispositionen verstehen. Von jemandem, der die Absicht hat, etwas Bestimmtes zu erreichen, erwarten wir, dass er bereit ist, Mittel zu ergreifen, von denen er glaubt, dass sie ihm dabei helfen werden, das Gewünschte zu erreichen. Wir erwarten, dass er bereit ist, Dinge zu tun, die sein Ziel bestmöglich befördern, und wenig geneigt ist, Dinge zu tun, die 142 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Verzichtbarkeit des Prinzips der Doppelwirkung

dem Erreichen seines Ziels abträglich sein könnten. Für die ad bellum-Proportionalität bedeutet dies konkret: Wenn ein Staat einen Krieg nicht mit der Absicht führt, Menschen zu schützen, sondern mit der, seinen wirtschaftlichen oder politischen Einfluss in der Welt zu stärken, so ist zu befürchten, dass er im Krieg nicht genug Rücksicht auf Zivilisten nehmen wird. Es ist zu befürchten, dass er eher bereit ist, Zivilisten einem höheren Schadensrisiko auszusetzen, als jemand, der den Krieg mit der Absicht führt, ihnen zu helfen. Es ist zu befürchten, dass er während des Krieges zu wenig dafür tut, Zivilisten zu schonen, und letztlich Zivilisten beabsichtigt tötet oder mehr Zivilisten tötet, als er töten würde, handelte er mit einer besseren Absicht. Und deshalb erlauben wir ihm ad bellum lieber gar nicht erst, überhaupt einen Krieg zu führen. Ähnliche Überlegungen lassen sich auch mit Blick auf die in bello-Proportionalität anstellen. Ein Bombenpilot, der die Absicht hat, Zivilisten zu töten, handelt absehbar moralisch überaus problematisch, weil er auf eine bestimmte Weise im Handeln disponiert ist. Wir würden erwarten, dass jemand, der einmal beabsichtigt Zivilisten tötet, grundsätzlich bereit ist, dies wieder zu tun. Er nimmt grundsätzlich zu wenig Rücksicht auf Zivilisten. Er sucht grundsätzlich zu wenig nach Alternativen, die Zivilisten schonen könnten. Wenn wir bedenken, dass wir es im Krieg – anders als in den genannten artifiziellen Gedankenexperimenten – nicht mit einmal stattfindenden Einzelhandlungen zu tun haben, sondern mit festgelegten Strategien, so wird dies klarer. Wer der Strategie folgt, ein Wohngebiet statt einer Munitionsfabrik zu bombardieren, der wird dies voraussichtlich mehr als einmal tun. Für ein einzelnes Bombardement könnte zwar gelten, dass das Zerstören einer Munitionsfabrik für Zivilisten ebenso riskant wäre und ebenso viele unschuldige Leben kostet. Bei Wiederholung solcher Bombardements ist dies jedoch ausgesprochen unwahrscheinlich. Daraus ergibt sich, dass die Absichten von Handelnden dafür relevant sind, ob ihr Handeln moralisch falsch ist, weil schlechte Absichten (zumindest auf lange Sicht) schlechte Konsequenzen haben. Relevant ist hier aber nicht, ob sie eine schlechte Konsequenz beabsichtigen oder lediglich vorhersehen. Der Unterschied zwischen dem terroristischen Bombenpiloten und dem strategischen erklärt sich nicht damit, dass der erste den Tod von Zivilisten beabsichtigt und der zweite ihn bei gleichen Konsequenzen nur vorhersieht. Der moralische Unterschied erklärt sich damit, dass ein terroristischer 143 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Das Prinzip der Doppelwirkung

Bombenpilot, gerade weil er die fragliche Absicht hat, zu einer Handlungsweise disponiert ist, die längerfristig wahrscheinlich nicht zu den gleichen Konsequenzen führen wird wie strategisches Bombardieren. 39 Der terroristische Bombenpilot ist in einem höheren Maße bereit, Zivilisten einem Schadensrisiko auszusetzen, als der strategische Bombenpilot, und wählt entsprechend risikoreiche Handlungen. Diese Überlegungen entsprechen einer utilitaristischen Perspektive auf sich prinzipiell wiederholende riskante Handlungen der gleichen Art: Ob terroristisches Bombardieren als Strategie schlechter ist als strategisches hängt vom Erwartungsnutzen dieser beiden Handlungsweisen ab. Terroristisches Bombardieren weist absehbar einen schlechteren Erwartungsnutzen auf, weil es spätestens bei einer Wiederholung mehr zivile Opfer fordert als strategisches Bombardieren. Außerdem können wir annehmen, dass nicht nur die Zahl der zivilen Opfer bei wiederholtem terroristischen Bombardieren höher sein wird als beim wiederholten strategischen Bombardieren. Neben den Unterschieden in den eintretenden Folgen ist auch zu vermuten, dass die Eintrittswahrscheinlichkeiten für die Folgen unterschiedlich sein werden. Ein terroristischer Bombenpilot wirft eine Bombe gerade deswegen über einem Wohngebiet ab, weil das Risiko, Zivilisten in Mitleidenschaft zu ziehen, dabei besonders hoch ist. Sich für die Kriegsstrategie terroristischen Bombardierens zu entscheiden, geht damit einher, Zivilisten einem möglichst hohen Todesrisiko auszusetzen. In den meisten Fällen wird das strategische Bombardieren von Munitionsfabriken mit weniger Risiko für Zivilisten einhergehen. Selbst wenn im Beispiel vom terroristischen und strategischen Bombenpiloten gleich viele Zivilisten tatsächlich zu Tode gekommen sind, so ist anzunehmen, dass das Risiko, dass sie sterben, beim terroristischen Bombardement größer war als beim strategischen. Wenn hingegen nicht nur die tatsächlichen Konsequenzen, sondern auch die Eintrittswahrscheinlichkeiten dieser Konsequenzen absolut gleich sind (auch wenn die grundsätzliche Bereitschaft, Zivilisten in Lebensgefahr zu bringen möglicherweise verschieden ist), führt das dazu, dass unsere Intuitionen schwinden, terroristisches Bombardieren sei problematischer als strategisches. Unsere Intuitionen, so scheint mir, erklären sich damit, dass wir bei der Bewertung der Handlungen der Akteure weniger von punktuellen und nicht wiederholbaren EinzelÄhnliche Überlegungen zur Rolle von Absichten für die moralische Bewertung von Handlungen als geboten, erlaubt oder verboten finden sich bei Scanlon 2008.

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144 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Verzichtbarkeit des Prinzips der Doppelwirkung

handlungen ausgehen, sondern vielmehr von einer Praxis der Kriegsführung. Für die Praxis der Kriegsführung gilt nämlich in aller Regel, dass terroristisches Bombardieren allein deshalb problematischer ist als strategisches, weil es einen schlechteren Erwartungsnutzen aufweist. Anscombes und McMahans Befürchtung, ohne das PDW könnten terroristischen Kriegshandlungen Tor und Tür geöffnet werden, weil es nur noch um die Bewertung der Kriegsfolgen gehe, erscheint unbegründet. Selbst Utilitaristinnen können unter Rekurs auf den Erwartungsnutzen den intuitiven Unterschied zwischen terroristischem und strategischem Bombardieren erklären. Zwar ergibt sich aus einer utilitaristischen Perspektive kein kategorisches Verbot terroristischen Bombardierens. Jedoch gehen auch viele Deontologen, insbesondere McMahan selbst, nur davon aus, dass terroristisches Bombardieren wesentlich schwerer zu rechtfertigen ist als strategisches Bombardieren, nicht davon, dass terroristisches Bombardieren unter allen Umständen verboten ist. Zusätzlich zum erwartbar unterschiedlichen Erwartungsnutzen von terroristischem und strategischem Bombardieren unterscheiden sich solche Kriegshandlungen womöglich auch darin, inwiefern sie minimal gewaltvoll oder notwendig sind.

Minimale Gewalt oder Notwendigkeit Innerhalb der Theorie des gerechten Krieges ist es für die Erlaubtheit eines Krieges oder einer individuellen Kriegshandlung auch entscheidend, dass ein Krieg oder eine Kriegshandlung notwendig oder minimal gewaltvoll sind. Erfüllen terroristische Bombardements diese Bestimmung? Grob gesprochen sind ein Krieg oder eine individuelle Kriegshandlung dann minimal gewaltvoll oder notwendig, wenn sie gemessen an ihren Alternativen mit dem geringsten erwartbaren Ausmaß an zivilen Schäden einhergehen und dennoch hinreichend großen Erfolg versprechen. Hier gilt es, Risiken sorgfältig abzuwägen. Gefordert ist einerseits, die Risiken, denen Zivilisten ausgesetzt sind, so niedrig wie möglich zu halten. Andererseits darf kein zu hohes Risiko eingegangen werden, das gerechte Kriegsziel zu verfehlen oder mit einer Kriegshandlung keinen wichtigen Beitrag zur Erreichung dieses Ziels zu leisten. Diese beiden Überlegungen stehen oft quer zueinander. In dem Maße, in dem das Risiko für Zivilisten minimiert wird, 145 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Das Prinzip der Doppelwirkung

steigt dann das Risiko, das Ziel zu verfehlen. Die Bedingungen minimaler Gewalt und Notwendigkeit verlangen, einen Krieg nur zu führen und eine bestimmte Kriegshandlung nur zu wählen, wenn sie die beste abgewogene Risikobilanz im Vergleich zu den Alternativen aufweisen. 40 Eine minimal gewaltvolle Kriegsführung im skizzierten Sinne scheint mit terroristischen Akten wie dem Bombardieren von Wohngebieten, Krankenhäusern oder Schulen nur schwerlich vereinbar zu sein. Terroristische Akte zeichnen sich gerade dadurch aus, mit einem besonders hohen Risiko für Zivilisten einherzugehen. Die Bedingungen minimaler Gewalt und Notwendigkeit erlauben ein solches Vorgehen nur dann, wenn für jede Alternative gilt, dass die Überlebenschancen der Zivilisten in einem geringeren Maße steigen, als die Chancen auf Erfolg des Krieges oder der Kriegshandlung sinken. Wenn für alle Alternativen gilt, dass eine kleine Verringerung des Risikos, dass Zivilisten sterben, mit einer deutlicheren Verringerung der Erfolgswahrscheinlichkeit einhergeht, dann wäre etwa das Bombardieren eines Wohngebiets erlaubt. Ich denke, in vielen Fällen wird es möglich sein, Kriegsziele zu erreichen oder einen positiven Beitrag zum Erreichen des Kriegsziels zu leisten, ohne Zivilisten einem sehr hohen Schadensrisiko auszusetzen. Unter der empirischen Annahme, dass rein strategische Kriegsmanöver oftmals eine bessere abgewogene Risikobilanz aufweisen werden als terroristische, sind strategische Kriegsführungen terroristischen klar vorzuziehen. Dass terroristische Akte die Bedingungen minimaler Gewalt und Notwendigkeit nur schwerlich erfüllen können, lässt sich erneut klarer sehen, wenn wir nicht nur punktuelle Einzelhandlungen und deren Konsequenzen betrachten, sondern sie als eine autorisierte Praxis der Kriegsführung verstehen, deren Einzelhandlungen auf Wiederholung angelegt sind. Für eine punktuelle terroristische Einzelhandlung könnte zwar gelten, dass alle verfügbaren Alternativen weniger effektiv wären und dabei kein wesentlich geringeres Risiko für Zivilisten darstellen. Für eine terroristische Praxis wird dies jedoch nur selten gelten, weil anzunehmen ist, dass es oft genug weniger destruktive, aber dennoch ähnlich effektive Alternativen geben wird. Eine ausführlichere, wenngleich noch sehr schematisch bleibende Darstellung dessen, wie in der Bedingung der minimalen Gewalt oder Notwendigkeit Risiken gegeneinander abgewogen werden, findet sich bei Lazar 2012 und McMahan 2016 und 2016a.

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Verzichtbarkeit des Prinzips der Doppelwirkung

Minimale Gewalt und Notwendigkeit schließen terroristische Kriegshandlungen damit aber nicht ganz grundsätzlich aus. Gerade für asymmetrische Konflikte gilt in aller Regel, dass alle Alternativen, die eine militärisch deutlich schwächere Partei zu terroristischem Handeln hat, wenig bis keine Aussicht auf Erfolg versprechen. Zum Beispiel könnte es im Fall von Revolutionen möglicherweise erlaubt sein, terroristisch zu agieren und Zivilisten massiv zu gefährden. Ebenso ist es möglicherweise erlaubt, die unschuldige Familie eines Diktators zu ermorden, wenn alle Alternativen so gut wie keine Aussicht auf Erfolg darauf haben, dessen Treiben zu stoppen. Wichtig ist aber zu betonen, dass solche terroristischen Akte nur dann nicht gegen die Forderung minimaler Gewalt verstoßen, wenn kein oder nur ein geringes Risiko besteht, dass einem terroristischen Akt nicht mit entsprechender Gegengewalt begegnet wird. Sprich: sie können gemäß dieser Bedingung der Theorie des gerechten Krieges nur dann erlaubt sein, wenn sie Aussicht auf Erfolg haben. Wir müssen hier also annehmen, dass etwa die Ermordung der Familie eines Diktators nicht dazu führt, dass er noch massiver als bisher gegen Teile seiner eigenen Bevölkerung vorgehen wird. Ein solcher Fall ist sicherlich vorstellbar, aber er wird auch nur selten, wenn überhaupt jemals, vorkommen.

Realistische Folgen statt artifizieller Gedankenexperimente Mit dem Verweis auf das PDW wollen Vertreter der Theorie des gerechten Kriegs, so beispielsweise McMahan, auch begründen, weshalb Kriegshandlungen wie das strategische Bombardieren eher geeignet sind, verhältnismäßig zu sein, als terroristische Handlungen. Werden Zivilisten, so die Überlegung, beabsichtigt getötet, handelt es sich um ein besonders schwerwiegendes Übel, das im Gegensatz zu dem nur vorhergesehenen Tod von Zivilisten nicht mehr aufgewogen kann. Eine Zurückweisung des PDW hat nicht zwangsläufig zur Folge, terroristisches und strategisches Bombardieren hinsichtlich ihrer Proportionalität nicht mehr unterscheiden zu können. Im letzten Abschnitt klang bereits an, dass terroristische Akte nur dann moralisch zulässig sein können, wenn sie keine weiteren negativen Konsequenzen haben, deren Berücksichtigung dazu führen würde, strategische Kriegsakte terroristischen vorzuziehen. Für eine terroristische Einzelhandlung könnte zwar gelten, dass sie mehr 147 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Das Prinzip der Doppelwirkung

Gutes bewirkt bzw. Schlechtes verhindert, als sie mit dem Töten von Zivilisten hervorbringt. Das erscheint aber nur plausibel, wenn wir annehmen, dass die terroristische Handlung neben dem Tod der Zivilisten keine weiteren negativen Konsequenzen hat, und wenn wir annehmen, dass die negativen Konsequenzen einer Niederlage im Krieg die negativen Konsequenzen terroristischen Handelns überwiegen. Realistisch betrachtet muss ein Staat, der im Krieg Wohngebiete bombardieren lässt, befürchten, den Kriegsgegner zu entsprechenden Gegenschlägen zu provozieren, statt ihn wegen plötzlich gänzlich fehlenden Rückhalts aus der Bevölkerung direkt zur Kapitulation zu bewegen. Zudem wäre zu fragen, weshalb die Bevölkerung, wenn sie bombardiert wird, ausgerechnet ihrer Regierung die Unterstützung entziehen sollte. Es erscheint naheliegender, dass sie sich gegen jene auflehnen würde, die sie angreifen. Wenn abzusehen ist, dass die Antwort des Kriegsgegners sein könnte, ebenfalls gegnerische Wohngebiete zu bombardieren, so muss dies in der Proportionalitätsüberlegung berücksichtigt werden. Aus einer nicht rein utilitaristischen Perspektive scheinen wir dann für das moralisch falsche Handeln anderer und die schlechten Konsequenzen, die sie hervorbringen, mit verantwortlich zu sein, wenn unser Handeln das ihre erst provoziert hat. Wenn daraus, dass ein Staat fremde Zivilisten töten, erwartbar folgt, dass eigene Zivilisten im Gegenzug getötet werden, dann können die schlechten Konsequenzen für die eigenen Zivilisten nicht ausschließlich dem Gegner zugeschrieben werden. 41 Ist also zu erwarten, dass eine terroristische Handlung provozierend oder gar eskalierend wirkt, ist die Proportionalitätsbedingung nur äußerst schwer zu erfüllen. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass terroristische Akte massive negative Auswirkungen auf das Ansehen eines Staates innerhalb einer Staatengemeinschaft und auf das gegenseitige Vertrauen haben können. Wenn abzusehen ist, dass bestimmte Handlungen innerhalb eines Krieges die Beziehungen zu anderen Staaten negativ beeinflussen, so ist dies eine schlechte Konsequenz, die in die Proportionalitätsabwägung mit eingeht. Gerade terroristische Akte haben hier einen ausgesprochen negativen Effekt, und Staaten haben dementsprechend einen starken Grund, diesen Effekt zu vermeiden.

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Für etwas ausführlichere Überlegungen hierzu s. Hurka 2005, S. 49 f.

148 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Schlussfolgerungen

4.6 Schlussfolgerungen Handlungsweisen wie die des terroristischen Bombenpiloten verletzen nicht nur die Grundbedingung des PDW, schlechte Konsequenzen nicht zu beabsichtigen. Sie verletzen außerdem die Forderungen der Theorie des gerechten Krieges nach minimaler Gewalt oder Notwendigkeit. Diese Bedingungen werden, so scheint mir, in der realen Praxis, d. h. außerhalb der Welt reichlich artifizieller Gedankenexperimente, bereits ausreichen, um terroristische Kriegshandlungen als moralisch verboten ausweisen zu können. So kann bereits ein Verweis auf den unterschiedlichen Erwartungsnutzen terroristischer und strategischer Kriegsweisen erklären, weshalb terroristische Bombardements moralisch noch fragwürdiger sind als strategische. Ein Verzicht auf das PDW innerhalb der Theorie des gerechten Krieges hat – entgegen Anscombe und McMahan – keineswegs zur Folge, Pazifistin sein oder Terrorismus im Krieg gutheißen zu müssen. Ich habe also in diesem Kapitel zu zeigen versucht, dass zum einen das PDW unplausibel ist, es aber zum anderen verzichtbar dafür ist zu erklären, weshalb terroristische Kriegshandlungen die etwa in dem Bombardieren von Wohngebieten bestehen, moralisch noch fragwürdiger sind als strategische Kriegshandlungen. Damit ist jedoch nicht gesagt, dass strategische Kriegshandlungen jemals erlaubt sind. Es könnte sein, dass sie zwar prinzipiell leichter zu rechtfertigen sind als terroristische, jedoch immer noch so schwer, dass sie praktisch immer verboten sein werden. In den folgenden Kapiteln werde ich mich nicht mehr mit terroristischen Kriegshandlungen beschäftigen, sondern nur noch mit der Frage, ob eine Kriegshandlung oder ein Krieg insgesamt gerechtfertigt sein können, wenn wir annehmen, dass sie nicht terroristischer Art sind. In diesem Kapitel hatte ich bereits herausgestellt, dass terroristisches Bombardieren deshalb so problematisch ist, weil es zu riskant für Zivilisten ist. Doch es könnte sein, dass strategische Bombardements zwar weniger riskant sind, aber immer noch zu riskant. Im nächsten Kapitel werde ich daher einige weitere Überlegungen zur moralischen Bewertung riskanter Handlungen anstellen, die sich nicht nur auf eine utilitaristische Ermittlung des Erwartungsnutzens dieser Handlungen oder Praxen beschränken.

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5. Den Tod von Zivilisten riskieren

Ein Ergebnis des vorangegangenen Kapitels zum Prinzip der Doppelwirkung war, dass die Unterscheidung zwischen beabsichtigtem und lediglich vorhergesehenem Töten nicht geeignet ist zu erklären, weshalb das terroristische Bombardieren von zivilen Gebieten so schwer zu rechtfertigen und in aller Regel verboten, dagegen das strategische Bombardieren feindlicher Stellungen vergleichsweise weniger problematisch ist, obwohl auch hierbei Zivilisten zu Tode kommen. Es hat sich stattdessen gezeigt, dass ein wichtiger Unterschied zwischen terroristischem und strategischem Bombardieren darin besteht, dass beides in der Regel nicht gleichermaßen riskant für Zivilisten ist. Die Wahrscheinlichkeit, dass Zivilisten sterben, ist beim terroristischen Bombardieren für gewöhnlich höher. Die bisherigen Überlegungen zeigten zwar, weshalb terroristisches Bombardieren schlimmer ist als strategisches. Damit ist jedoch noch nicht gesagt, dass strategisches Bombardieren erlaubt ist. Dieses Kapitel, und auch die nächsten, gehen der Frage nach, ob sich Kriege, auch wenn sie nicht terroristisch geführt werden, rechtfertigen lassen. Im Zentrum dieses Kapitels steht die Frage, unter welchen Umständen es erlaubt ist, das Leben von Personen zu riskieren. Denn daraus, dass terroristisches Bombardieren wesentlich problematischer ist als strategisches Bombardieren bzw. dass terroristisches Bombardieren in aller Regel unverhältnismäßig ist, weil es (ex ante) zu riskant für Zivilisten ist, folgt noch nicht, dass strategisches Bombardieren jemals erlaubt bzw. verhältnismäßig ist. Möglicherweise ist auch das Risiko, das mit einem strategischen Bombardieren für Zivilisten einhergeht, unverhältnismäßig und damit nicht zu rechtfertigen. Ich werde in diesem Kapitel mehrere Überlegungen diskutieren, die für die Erlaubtheit riskanter Handlungen relevant sein könnten. Einige dieser Überlegungen sind nicht spezifisch für Handlungen, die mit einem Schadensrisiko verbunden sind, sondern treffen ebenso auf

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Den Tod von Zivilisten riskieren

Handlungen mit sicherem Schaden zu. Andere Überlegungen sind jedoch spezifisch für Handlungen unter Risiko. Die Frage, welche Rolle Risiken innerhalb der Theorie des gerechten Krieges spielen, ist bisher kaum beleuchtet worden. Lediglich im Zusammenhang mit der Forderung nach Notwendigkeit im jus ad bellum und der analogen Forderung nach minimaler Gewalt im jus in bello lassen sich einige wenige Beiträge finden, auf die ich auch bereits verwiesen habe. 1 Die philosophische Diskussion der Zulässigkeit riskanter Handlungen ist noch sehr jung, und es ist umstritten, wie riskante Handlungen, insbesondere aus einer deontologischen Perspektive, zu beurteilen sind. 2 Außerdem befasst sich die Diskussion bisher kaum mit Krieg als einen konkreten Anwendungsfall. 3 Risiken spielen jedoch eine wichtige Rolle im Krieg. Die Verhältnismäßigkeit eines Krieges wie auch einer einzelnen Kriegshandlung hängt auch davon ab, wie wir deren Zulässigkeit bewerten, wenn wir davon ausgehen, dass sie mit dem Risiko verbunden sind, dass Zivilisten sterben. Ich werde versuchen, einige Überlegungen ins Spiel zu bringen, die für die moralische Bewertung riskanter Handlungen relevant sein könnten, ohne damit den Anspruch zu erheben, eine allgemeine Theorie zum Umgang mit Risiko in der Ethik zu formulieren. Die hier angestellten Überlegungen sollen sowohl für einen Krieg als Ganzes gelten (ad bellum) als auch für individuelle Handlungen innerhalb des Krieges (in bello). Ich werde daher zumeist nicht zwischen der Analyse eines gesamten Krieges und der einer einzelnen Handlung innerhalb eines Krieges unterscheiden. Dort, wo der Unterschied relevant erscheint, werde ich ihn jedoch thematisieren.

Zu nennen sind Lazar 2012, McMahan 2016 und 2016a. Ein früher deontologischer Vorschlag findet sich bei Sven Ove Hansson (2003). Johan Frick (2015) vertritt eine kontraktualistische ex ante-Position, die Gegenposition vertreten Marc Fleurbaey und Alex Voorhoeve (2013). Sergio Tenenbaum (2017) argumentiert zugunsten einer kantisch inspirierten Position. 3 Seth Lazar widmet sich seit Kurzem mit der Frage, wie riskante Handlungen insbesondere im Kontext des Führens von Kriegen aus deontologischer Sicht zu bewerten sind. 1 2

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Den Tod von Zivilisten riskieren

5.1 Die Anzahl der zu rettenden Menschen und die Unterscheidung zwischen Tun und Unterlassen Eine zentrale Bedingung dafür, mit einer Handlung das Risiko eingehen zu dürfen, dass unbeteiligte Personen schwer zu Schaden kommen oder sterben, scheint zu sein, dass wesentlich mehr Menschen mit einer Handlung vor dem Tod bewahrt werden können, als durch sie ums Leben kommen. Es ist zu bemerken, dass diese Überlegung nicht spezifisch für Handlungen ist, die lediglich mit einem Schadensrisiko einhergehen. Sie wird vorrangig an Beispielen diskutiert, in denen eine Handlung mit einer sicheren Schädigung einhergeht. Ich werde im nächsten Absatz ein Beispiel diskutieren, bei dem eine Person einen sicheren Schaden erleidet und gleichzeitig deutlich mehr andere Personen gerettet werden. Diese Überlegungen lassen sich jedoch meines Erachtens von Fällen sicheren Schädigens auf Fälle übertragen, bei denen lediglich das Risiko eines Schadens besteht. Wenden wir die Überlegung beispielsweise auf humanitäre Interventionen an, die immer damit einhergehen, Zivilisten einem Sterbensrisiko auszusetzen, ergibt sich, dass eine Intervention nur dann erlaubt sein kann, wenn durch die Intervention wesentlich mehr Zivilisten gerettet als im Zuge der Intervention getötet werden. In den meisten Fällen außerhalb des Kriegskontextes, in denen wir es für moralisch erlaubt halten, Unbeteiligte einem Schadensrisiko auszusetzen, ist diese Bedingung erfüllt. So etwa werden durch die für Fußgänger und Autofahrer gefährlichen Fahrten von Krankenwagen deutlich mehr Menschen gerettet, als durch sie infolge eines Unfalls zu Schaden kommen. In den bekannten Gedankenexperimenten der Trolley Cases gilt in gleicher Weise, dass die Handlung, die zu einer Schädigung führt (wobei hier die Schädigung sicher ist), nur erlaubt ist, wenn mit der Handlung mehr Menschen vor dem sicheren Tode bewahrt als sterben werden. Ein typischer Trolley Case ist der Bystander at the Switch: 4 Ein führerloser Zug rast ungebremst auf fünf Menschen zu, die sicher sterben werden, sollte der Zug mit ihnen zusammenstoßen. Es gibt ein benachbartes Gleis, auf das der Zug umgelenkt werden könnte, um die Katastrophe zu verhindern. Auf diesem Gleis befindet sich allerdings auch eine Person, die im Falle des Umlegens der Weiche sicher sterben wird.

4

Vgl. Thomson 1985, S. 1397.

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Die Anzahl der zu rettenden Menschen

Intuitiv ist es erlaubt, die Weiche umzulegen. Ein Grund dafür ist, dass das Umlegen der Weiche deutlich mehr Menschen das Leben rettet, als es Menschen das Leben kostet. Es ist zu bemerken, dass die Intuition, das Umlegen der Weiche sei erlaubt, schwindet, je mehr die Anzahl der zu rettenden Menschen sinkt oder je mehr die Anzahl der auf dem Nebengleis stehenden Menschen steigt. Gleichzeitig wird die Intuition stärker, je mehr Menschenleben gerettet werden können. Auf den ersten Blick könnte man meinen, es ginge hier lediglich um die Anzahl der Menschen, die getötet und die geschützt werden, wobei die Anzahl der getöteten Menschen geringer sein muss als die Anzahl der geretteten Menschen. Sprich, man könnte meinen, es handle sich um eine rein konsequentialistische oder utilitaristische Überlegung. Dass dem nicht so ist, zeigt sich aber an der Forderung, es müssten wesentlich mehr Menschen gerettet als getötet werden, damit eine Schädigung moralisch erlaubt sein kann. Es reicht nicht, dass es nur wenige Menschen mehr sind, die vor dem Tode bewahrt werden. Die Intuition, dass Schädigungen nur erlaubt sind, wenn wesentlich mehr Menschen vor Schädigungen bewahrt werden, als Menschen Schädigungen erleiden, weist auf die moralische Relevanz der Unterscheidung zwischen Tun und Unterlassen hin, die eine prominente Rolle innerhalb deontologischer Theorien spielt. Gemäß dieser Unterscheidung ist ein Schaden, der aus einem aktiven Handeln hervorgeht, schwerer zu rechtfertigen als ein Schaden, der infolge des Unterlassens einer Handlung eintritt und damit passiv zugelassen oder nicht verhindert wird. Jemanden zu töten, ist danach schwerer zu rechtfertigen, als jemanden nicht zu retten. Gleichzeitig spricht aber etwas dafür, eine Person in Not zu retten. Wenn erst einmal ein stärkerer Grund gegen ein Töten als gegen ein Sterbenlassen bzw. für eine Rettung spricht, so lässt sich der starke Grund gegen das Töten nur dadurch aufwiegen, dass deutlich mehr Menschen gerettet werden können, als getötet würden. Je mehr Menschenleben bedroht sind, desto stärker ist der Grund, sie zu retten, und wenn genug Menschenleben bedroht sind, kann dieser Grund den starken Grund gegen das Töten von Menschen überwiegen. Ich stelle die Relevanz der Unterscheidung zwischen Tun und Unterlassen hier vor allem deshalb heraus, weil beispielsweise Jeff McMahan in der Diskussion um die Theorie des gerechten Krieges die These vertritt, diese Unterscheidung spiele eine untergeordnete Rolle (im Gegensatz zu der zwischen Beabsichtigen und Vorher153 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Den Tod von Zivilisten riskieren

sehen). 5 Mir scheint, McMahan will der Unterscheidung zwischen Tun und Unterlassen deshalb nicht so viel Gewicht beimessen, weil er glaubt, sie könne uns schnell auf eine pazifistische Position festlegen: Angenommen, es sei erstens, unabhängig von der Anzahl der Personen, immer schlimmer, Menschen zu töten, als Menschen nicht zu schützen. Angenommen, es werden zweitens Menschen getötet, sobald Krieg geführt wird, und angenommen, es werde drittens der Tod von Menschen lediglich zugelassen, sollte ein Krieg ausbleiben. Dann, so scheint es, dürfte niemals Krieg geführt werden. 6 Doch ich habe gerade versucht zu argumentieren, dass der Schluss auf einen Pazifismus voreilig ist. Zu diesem Schluss kann man unter der Annahme kommen, es sei kategorisch verboten, jemanden zu töten – und nicht nur sehr schwer zu rechtfertigen, sobald die Alternative ein Sterbenlassen ist. Ich denke, das glauben die meisten von uns nicht (sonst hielten wir das Umlegen der Weiche im Trolley Case für verboten). Damit ein Krieg erlaubt ist, muss gemäß der Unterscheidung zwischen Tun und Unterlassen lediglich gelten, dass er zur Bewahrung von deutlich mehr Menschenleben führt, als er Menschenleben kostet. Und das wiederum glaubt auch McMahan: Die Konsequenzen hinsichtlich des Verlustes von Menschenleben im Falle des Ausbleibens eines Krieges müssen deutlich schlechter sein, als es die Konsequenzen eines Krieges wären, damit ein Krieg erlaubt ist. 7 Wer glaubt, Krieg könne nur erlaubt sein, wenn er mit Blick auf die Anzahl der Menschen, die mit dem Tod bedroht sind, das deutlich kleinere Übel ist, hält meines Erachtens bereits die Unterscheidung zwischen Tun und Unterlassen für sehr wichtig. Und dass Krieg nur unter dieser Bedingung erlaubt ist, glauben die allermeisten. Es stellt sich nun die Frage, ob es Kriege gibt, für die gilt, dass durch sie mehr Menschen geschützt als getötet werden. Wir können annehmen, dass es solche Kriege gab. (Ganz sicher hat der Eintritt der Alliierten in den Zweiten Weltkrieg das Leben sehr viel mehr Menschen geschützt, als er Menschenleben gekostet hat. Mir scheint, auch eine Intervention in Ruanda hätte diese Bedingung erfüllt.) Es spricht grundsätzlich nichts dagegen anzunehmen, dass es auch heute

Vgl. Hurka 2008, S. 140, McMahan 2016a, S. 14 und 18 f. Kirsten Meyer (2011) und David Rodin (2011) scheinen so zu argumentieren, wenn sie davon, die Unterscheidung zwischen Tun und Unterlassen für relevant zu halten, schnell zur Verteidigung einer pazifistischen Position gelangen. 7 Vgl. McMahan 2016a, S. 18 f. 5 6

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Die Anzahl der zu rettenden Menschen

möglich ist, Kriege zu führen, die zum Schutz von mehr Menschenleben beitragen, als ihnen Menschen zum Opfer fallen werden. Ob ein bestimmter Krieg ein solcher ist, muss jedoch im Einzelfall geprüft werden. Humanitäre Interventionen, die mit dem Ziel geführt werden, eine kleine Gruppe von Personen zu schützen, laufen Gefahr, die Bedingung nicht zu erfüllen. Ebenso könnte die Verteidigung eines sehr bevölkerungsarmen Staates damit verbunden sein, dass mehr Zivilisten getötet als geschützt werden, sollte die Verteidigung (auch) auf dem Territorium eines bevölkerungsreichen Aggressorstaates geführt werden. Da diese Überlegung jedoch nicht die Einzige ist, die relevant dafür ist, ob Zivilisten im Krieg getötet werden dürfen, könnten die fragliche Intervention und der skizzierte Defensivkrieg dennoch gerechtfertigt sein. Bevor ich einige darüberhinausgehende Überlegungen anführe, ist aber mit Blick auf die Überlegung, es müssten deutlich mehr Menschen gerettet als getötet werden, noch eine weitere Schwierigkeit anzumerken. Zwar ist die Überlegung geeignet, unsere Intuitionen im Trolley Case und auch hinsichtlich Kriegs zu erklären. Jedoch kommt sie so, wie ich sie präsentiert habe, nicht ohne einen Verweis auf die Anzahl der voraussichtlich geretteten und getöteten Personen aus. Ich hatte in Kapitel 3 darauf hingewiesen, dass einige Deontologinnen der Ansicht sind, die Anzahl der Betroffenen sei für die Bewertung von Handlungen nicht relevant, weil es kein Individuum gebe, das der Summe der Betroffenen, die von einer Handlung profitieren oder durch sie zu Schaden kommen, entspricht. Es gibt Versuche, unsere Intuition, die Größe der einen oder anderen Gruppe sei von Bedeutung, zu erklären, ohne auf die Anzahl der Betroffenen zu verweisen bzw. ohne über Personengrenzen hinweg zu aggregieren. 8 Die Überzeugungskraft dieser Versuche ist umstritten. An dieser Stelle kann aber festgehalten werden, ist, dass die hier vorgestellte Überlegung zwar eine ist, die impliziert, dass Schädigungen erlaubt sind. Jedoch scheint sie aus deontologischer Sicht problematisch zu sein. Ohne den Verweis auf die Anzahl der Personen bliebe es hier aber bei der Relevanz der Unterscheidung zwischen Tun und Unterlassen, die in einen Pazifismus führen würde. Denn dem starken Grund, einen Menschen zu töten, stünde dann kein stärkerer Grund mehr entgegen, der deshalb stärker ist, weil viele Menschen gerettet werden. McMahans Zu nennen sind hier beispielsweise die Arbeiten von Thomas Scanlon (1998), Jens Timmermann (2004) und Michael Otsuka (2006).

8

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Den Tod von Zivilisten riskieren

Sorge, die Unterscheidung zwischen Tun und Unterlassen lasse die Theorie des gerechten Krieges in einen Pazifismus münden, ist offenbar dann begründet, wenn die große Anzahl der zu geretteten Menschen die kleine Anzahl der getöteten nicht aufwiegen kann. Gleichwohl stützen Beispiele wie der Trolley Case die These, Töten sei deutlich schwerer zu rechtfertigen als Sterbenlassen. Es müsste erklärt werden, weshalb die Unterscheidung zwischen Tun und Unterlassen zwar im Trolley Case sehr wichtig ist, aber weniger wichtig mit Blick auf Krieg. Die Unterscheidung zwischen Tun und Unterlassen liefert uns damit nicht nur eine weitere Erklärung für die moralische Unzulässigkeit terroristischer Kriegshandlungen. Sie liefert uns auch eine Erklärung dafür, weshalb Angriffe auf strategische Stellungen wie Rüstungsfabriken nur sehr schwer zu rechtfertigen sind.

5.2 Maßnahmen zur Minimierung des Risikos für Zivilisten Es gibt zahlreiche Kontexte aus unserem Alltag, in denen wir Handlungen, die mit einem Schadensrisiko für Unbeteiligte einhergehen, nur dann für erlaubt halten, wenn Maßnahmen ergriffen werden, die das Risiko, dass Unbeteiligte zu Schaden kommen, verringern, auch wenn nicht zu vermeiden ist, dass ein Restrisiko bestehen bleibt. So gehen beispielsweise Krankenwagenfahrten mit dem Risiko einher, dass Fußgänger oder andere Autofahrer zu Schaden kommen, weil sie in einen Unfall mit dem Krankenwagen verwickelt werden, wenn dieser sehr schnell fährt und bei Rot eine Kreuzung passiert. Auch gehen Bombenentschärfungen mit dem Risiko einher, dass Anwohner zu Schaden kommen, sollte die Bombe doch detonieren. Gleiches gilt für kontrollierte Sprengungen von Gebäuden. Ebenso sind Dachdeckerarbeiten mit dem Risiko verbunden, dass Passanten von einem herunterfallenden Dachziegel getroffen werden. In diesen Beispielen werden üblicherweise Vorsichtsmaßnahmen ergriffen. Krankenwagen fahren mit Blaulicht und Martinshorn, sie verlangsamen die Fahrt im Kreuzungsbereich, und sie unterbrechen ihre lebensrettende Fahrt, wenn sich eine Fußgängerin direkt vor ihnen befindet. Ein Krankenwagenfahrer würde den Tod des Patienten in seinem Wagen in Kauf nehmen, sogar den Tod mehrerer Patienten, wenn andernfalls eine Fußgängerin sterben könnte (hier scheint erneut die Unterscheidung zwischen Tun und Unterlassen 156 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Maßnahmen zur Minimierung des Risikos für Zivilisten

einschlägig zu sein). Vor der Entschärfung einer Bombe werden Anwohner evakuiert und Straßen werden abgesperrt. Und Fußwege werden ebenfalls in dem Bereich abgesperrt, in den Dachziegel fallen könnten. Wir würden die Handlungen in diesen und ähnlichen Beispielen für moralisch sehr problematisch halten, würden solche Vorsichtsmaßnahmen nicht ergriffen. Die Handlungen bleiben trotz dieser Maßnahmen riskant für unbeteiligte Personen, aber sie sind deutlich weniger riskant. Blieben die Maßnahmen aus, wären sie zu riskant und deshalb nicht zulässig. Die Beispiele legen nahe, dass beim Ausführen von Handlungen, die mit dem Risiko verbunden sind, dass Unbeteiligte schwere Schäden erleiden, Vorsicht geboten ist. Aber wie viel Vorsicht ist geboten? Wir verlangen nicht, dass Krankenwagen so langsam fahren, dass die Chancen, die Menschen zu retten, die dringend medizinische Hilfe benötigen, zu stark absinken. Drohte von Krankenwagenfahrten niemand und kaum noch jemand zu profitieren, wären sie moralisch etwa so zu bewerten wie Autofahrten, die niemandem einen Vorteil verschaffen (etwa den, schnell zum Bahnhof zu gelangen). Denn auch mit einer Krankenwagenfahrt, die so langsam ausgeführt wird, dass sie die Geschwindigkeitsbegrenzung unterschreitet, geht ein Risiko für andere Menschen einher, wenn auch nur noch ein sehr geringes. Eine riskante Handlung auszuführen, ist aber schwer zu rechtfertigen, wenn ein potentieller Schaden durch nichts Positives mehr aufgewogen wird. Vorsichtsmaßnahmen scheinen nur in dem Umfang gefordert zu sein, wie sie nicht das moralisch gute Ziel einer Handlung so gut wie unerreichbar machen. Am Beispiel der Krankenwagenfahrten sieht man jedoch, dass es Raum für sehr umfangreiche Vorsichtsmaßen gibt. Es wird viel dafür getan, das Restrisiko für Fußgänger oder andere Autofahrer zu minimieren. Übertragen wir diese Überlegung zur Zulässigkeit von Krankenwagenfahrten auf Krieg, so sehen wir, dass sie in der Theorie des gerechten Krieges bereits angelegt ist. Im jus ad bellum verlangt sie, Krieg müsse notwendig oder der letzte Ausweg sein. Im jus in bello fordert sie, im Krieg minimal gewaltvoll vorzugehen. Typischerweise werden diese beiden Bedingungen der Theorie des gerechten Krieges so verstanden, dass sie ein und dieselbe Überlegung enthalten, die einmal auf einen Krieg insgesamt, einmal auf einzelne Kriegshandlungen angewendet wird: 9 Krieg dürfe nur geführt werden, wenn es 9

Vgl. McMahan 2016 und 2016a, Lazar 2012, Hurka 2008.

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Den Tod von Zivilisten riskieren

keine Alternativen zu ihm gibt, die einen Konflikt ebenfalls lösen könnten, und wenn es moralisch kaum vertretbar scheint, einen Konflikt nicht zu lösen; eine bestimmte Kriegshandlung dürfe nur ausgeführt werden, wenn es keine Alternativen zu ihr gibt, die etwa gleichermaßen effektiv im Hinblick auf Erreichen der Kriegsziele, dabei aber weniger gefährlich für Zivilisten sind. Es geht sowohl bei der ad bellum-Forderung nach Notwendigkeit als auch bei der in bello-Forderung nach minimaler Gewalt darum, Alternativen in den Blick zu nehmen und einen Krieg oder eine Kriegshandlung mit diesen zu vergleichen. Da es aber in dieser Arbeit vorwiegend um ein Verständnis der Proportionalitätsbedingungen der Theorie des gerechten Krieges gehen soll, liegt der Einwand nahe, das Gebot, Vorsicht walten zu lassen, spiele keine Rolle innerhalb der Proportionalität, sondern in den beiden Notwendigkeitsforderungen der Theorie des gerechten Krieges. Und diese Bedingungen sind von denen nach Proportionalität zu trennen. Thomas Hurka und Jeff McMahan argumentieren, mögliche Alternativen zu einem Krieg seien ausschließlich für dessen Notwendigkeit relevant, nicht jedoch für dessen Proportionalität. But in each branch of the theory the proportionality and necessity conditions […] are independent. A war can be proportionate, because the destruction it will cause is tolerable compared to its benefits, but not a last resort, because the same benefits could be achieved by less destructive means. Or it can be a last resort, because it is the only way of achieving certain goods, but disproportionate, because it will cause excessive harm compared to those goods. 10 Whenever an instance of defensive action (which we may take to include both wars and acts of war) is proportionate is a matter of the relation between the bad effects it causes and those it prevents. The assessment of proportionality thus requires a comparison between the bad effects (mainly harms to individuals) that that [sic!] the act will cause to occur with those that the act will prevent from being caused by others. If the bad effects the act will cause are not excessive in relation to those it will prevent, the act is proportionate. Comparisons with other means of defense or with acts with other aims are irrelevant to proportionality. […] It is the necessity constraint that requires comparisons between an act of defense and alternative means of achieving the same defensive aim. 11 10 11

Hurka 2008, S. 129. McMahan 2016a, S. 2.

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Maßnahmen zur Minimierung des Risikos für Zivilisten

Ob ein Krieg verhältnismäßig ist, hänge nicht davon ob, welche Alternativen es zu ihm gibt. Es sei möglich, dass ein Krieg verhältnismäßig, aber nicht notwendig ist. Da Notwendigkeit und Proportionalität nicht nur für einen gesamten Krieg, sondern auch für die individuellen Handlungen im Krieg gefordert werden, gelte ebenso, dass eine Kriegshandlung unnötig sein könne, ohne unverhältnismäßig zu sein. Zu der These, das Vorsichtsgebot betreffe nicht die Proportionalität eines Krieges oder einer Kriegshandlung, sondern deren Notwendigkeit, sind jedoch zwei Dinge anzumerken. Erstens zieht der Gedanke, bei riskanten Handlungen sei es geboten, Vorsichtsmaßnahmen zu treffen, die These in Zweifel, die Notwendigkeitsforderungen ad bellum und in bello seien parallel. Denn wenn wir den Vorsichtsgedanken auf das Notwendigkeitsgebot ad bellum versuchen anzuwenden, ergibt sich die Schwierigkeit, dass die genannten Alltagsbeispiele nicht darauf übertragen werden können. Bei der ad bellum-Notwendigkeit gilt es zu fragen, ob Alternativen zu einem Krieg weniger destruktiv sind, aber gleichwohl noch zum Ziel führen. Es gilt beispielsweise zu fragen, ob eine diplomatische Lösung erzielt werden kann. Diplomatie ist aber eine echte Alternative zu Krieg in dem Sinne, dass eine diplomatische Verhandlung eine Handlung von einem anderen Typ ist als die komplexe Handlung, Krieg zu führen. Das gilt nicht für Krankenwagenfahrten. Das Gebot der Vorsicht meint hier weniger, Alternativen zum Fahren von Krankenwagen in den Blick zu nehmen und diese daraufhin zu prüfen, ob sie weniger riskant sind, aber etwa ebenso geeignet, Menschenleben zu retten. Manchmal werden Helikopter statt Rettungswagen eingesetzt. Jedoch fällt die Wahl in der Regel nicht deshalb auf einen Helikopter, weil ein Helikopterflug weniger riskant für Unbeteiligte ist, sondern weil der Einsatz eines Krankenwagens etwa in den Bergen nicht möglich ist. Helikoptereinsätze werden nicht mit einem Verweis auf ein Vorsichtsgebot begründet, wie ich es bis jetzt besprochen habe. Wenn wir das Vorsichtsgebot als eine Forderung nach Vorsichtsmaßnahmen verstehen, verlangt es nicht, nach gänzlich anderen Handlungsmöglichkeiten zu suchen, sondern eher, einen bestimmten Handlungstyp vorsichtig auszuführen. Es verlangt beispielsweise, auf eine bestimmte Weise Krankenwagen zu fahren. Dass das Fahren von Krankenwagen insofern notwendig ist, als es keine aussichtsreiche Alternative zur Rettung einer notleidenden Person gibt, wird bereits vorausgesetzt. Wir haben auch gesehen, dass eine Krankenwagen159 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Den Tod von Zivilisten riskieren

fahrt ohne Vorsichtsmaßnahmen riskanter ist als eine mit Vorsichtsmaßnahmen. Für einen Krieg gilt dies nicht. Krieg zu führen, ist nicht riskanter für Zivilisten, wenn keine diplomatische Lösung versucht worden ist. Wenn wir über ein Vorsichtsgebot sprechen, das für Kriege gilt, scheint etwas anderes gemeint zu sein. Es scheint gemeint zu sein, Vorsicht darin walten zu lassen, überhaupt einen riskanten Handlungstyp (z. B. Krieg führen oder Krankenwagen schnell fahren lassen) auszuführen und mahnt dazu zu prüfen, ob es andere Handlungstypen gibt, die weniger riskant sind (z. B. Diplomatie oder Helikopterflüge). Vorsichtsmaßnahmen in dem Sinne, einen Handlungstyp, z. B. Krankenwagenfahren, vorsichtig auszuführen, spielen jedoch eine wichtige Rolle in der in bello-Notwendigkeit bzw. in der Forderung nach minimaler Gewalt im Krieg. Im Krieg stellt sich nicht nur die Frage, ob eine Rüstungsfabrik zerstört oder etwas völlig anderes getan werden sollte. Es stellt sich auch die Frage, wie genau die Zerstörung der Rüstungsfabrik erfolgen soll. Hier greift das Gebot, Vorsichtsmaßnahmen zu treffen. Michael Walzer kritisiert, es reiche nicht, im Krieg darauf zu achten, dass Zivilisten nicht beabsichtigt sterben. Es müsse auch durch entsprechende Maßnahmen wie Warnsignale, Evakuierungen und Aufklärung vor einer Bombardierung dafür gesorgt werden, dass Zivilisten, so weit möglich, gar nicht zu Schaden kommen können. 12 Walzer zielt damit gerade auf das Vorsichtsgebot, das auch für Krankenwagenfahrten gilt, wenn sie strengen Regeln unterworfen werden. Das Gebot der Vorsicht betrifft also stärker die in bello- als die ad bellum-Notwendigkeit. Dadurch wird deutlich, dass die Notwendigkeitsbedingungen nicht so parallel zu verstehen sind, wie McMahan behauptet. Ein Vorsichtsgebot ad bellum verlangt etwas anderes als das Vorsichtsgebot, das für die besprochenen Alltagsbeispiele gilt. Es verlangt, vorsichtig damit zu sein, überhaupt einen Krieg zu führen, also einen bestimmten Handlungstyp zu wählen. In bello verlangt es aber nicht nur, vorsichtig damit zu sein, überhaupt eine Rüstungsfabrik zu attackieren, sondern auch vorsichtig bei der Ausgestaltung einer Attacke auf eine Rüstungsfabrik zu sein. Für das jus ad bellum ist die Frage nach der Ausgestaltung eines Krieges nicht relevant. Das ist gerade die Frage des jus in bello. 13 12 13

Vgl. Walzer 1977, S. 151–155. Es ließe sich bestreiten, dass verfügbare Alternativen nur für Notwendigkeit, nicht

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Maßnahmen zur Minimierung des Risikos für Zivilisten

Mit Blick auf Krankenwagenfahrten hat sich gezeigt, dass die Maßnahmen, die zur Risikominimierung ergriffen werden, sehr umfangreich sind. Wenn wir bedenken, wie gefährlich es für Fußgänger und andere Autofahrer ist, wenn jemand mit stark überhöhter Geschwindigkeit an Kreuzungen über rote Ampeln fährt, erscheinen diese Maßnahmen auch angebracht. Krieg zu führen, ist aber ebenfalls sehr gefährlich für Zivilisten, wahrscheinlich sogar weit gefährlicher. Wenn die riskante Handlung des Krankenwagenfahrens nur unter Ergreifen zahlreicher Maßnahmen erlaubt ist, dann scheint auch für Krieg zu gelten, dass zahlreiche Maßnahmen ergriffen werden müssen, um das Risiko für Zivilisten zu verringern. Doch davon, dass umfangreiche Maßnahmen ergriffen werden, um Zivilisten zu schützen, kann leider zu oft keine Rede sein (die Angriffe auf Aleppo sind ein erschreckendes Beispiel aus jüngster Zeit). Kriege werden zunehmend in Städten geführt. Evakuierungen finden unzureichend statt (in Aleppo erst sehr spät Ende des Jahres 2016 und auch unvollständig), strategische Manöver finden auch dann statt, wenn sich Zivilisten klar erkennbar in der Schusslinie befinden, und deutlich hörbare Warnsignale, aufgrund derer Zivilisten versuchen könnten, sich in Sicherheit zu bringen, bleiben zu oft aus. Natürlich gilt, dass solche Maßnahmen erstens Zeit kosten, die der Gegner nutzen kann, und zweitens mit dem Risiko einhergehen, dass eine militärische Operation nicht erfolgreich durchgeführt werden kann. Warnhinweise vor Bombenabwürfen beispielsweise warnen schließlich nicht nur Zivilisten. Die Warnhinweise bergen auch das Risiko, vom Gegner entdeckt zu werden und deshalb das Ziel der

aber auch für Proportionalität relevant sind. Hinter der Behauptung, die Proportionalität eines Krieges oder einer Kriegshandlung hänge nicht davon ab, welche Alternativen es gibt, scheint mir nicht mehr als eine begriffliche Setzung zu stehen. Es spricht nichts dagegen, die Begriffe »Notwendigkeit« und »Proportionalität« so zu definieren. Aber ich kann nicht sehen, was dagegenspräche, »Proportionalität« so zu definieren, dass gilt, dass eine Handlung unverhältnismäßig ist, wenn es eine Alternative gibt, die weniger destruktiv, aber gleichermaßen effektiv ist. Aber ich schlage vor, diesen Streit, insbesondere dann, wenn es ein rein terminologischer sein sollte, beiseite zu lassen und stattdessen zuzugestehen, dass Alternativen nicht in die Proportionalitätsüberlegungen eingehen. Ob die Forderung, potentiell schädigende Handlungen so auszuführen, dass das Risiko einer Schädigung möglichst gering ist, eine ist, die für Notwendigkeit, für Proportionalität oder für beide relevant ist, ist am Ende gar nicht so interessant. Interessanter ist, wie sie sich auf die Rechtfertigbarkeit von Krieg auswirkt.

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Den Tod von Zivilisten riskieren

Kriegshandlung nicht zu erreichen. Für Krankenwagenfahrten gilt dies vielleicht nicht in gleicher Weise. Das Martinshorn hilft, andere Menschen zu schützen, gefährdet aber nicht das Ziel, die transportierte Patientin zu retten. Allerdings gilt auch, dass ein langsameres Fahren im Kreuzungsbereich hilft, Unbeteiligte zu schützen, und dabei das Risiko erhöht, dass der Patient stirbt. Aber angenommen, es stimmte, dass nur wenige der Vorsichtsmaßnahmen bei Krankenwagenfahrten das Ziel, einen Patienten zu retten, nicht gefährden, jedoch weit mehr Vorsichtsmaßnahmen im Krieg dessen Zielerreichung bedrohen. Dann träfe es möglicherweise zu, dass der Umfang der zu ergreifenden Maßnahmen im Krieg kleiner ist als in Alltagssituationen wie dem Krankenwagenfahren. Es bliebe dennoch zu bezweifeln, dass in vielen Fällen tatsächlich nur so wenig zum Schutz von Zivilisten getan werden kann, wie es oftmals der Fall ist. Es muss stärker und ehrlicher ausgelotet werden, wie viel Vorsicht möglich ist, ohne den Erfolg so sehr zu gefährden, dass Menschen sterben, ohne dass Ziele erreicht werden. Dass gerade bei terroristischen Angriffen auf Wohngebiete keine Vorsichtsmaßnahmen ergriffen werden, macht terroristische Akte extrem verwerflich. Aber wenn auch bei strategischen Vorgehensweisen nicht hinreichend Vorsichtsmaßnahmen ergriffen werden, obwohl sie möglich wären, sind diese ebenfalls nicht zu rechtfertigen. Es könnte eingewendet werden, dass der Umfang der Maßnahmen, die im Krieg ergriffen werden müssen, um die Risiken für Zivilisten zu minimieren, auch deshalb kleiner sei als in den beschriebenen eher alltäglichen Kontexten, weil im Krieg viel mehr auf dem Spiel stehe bzw. weil es um viel mehr Menschenleben gehe, die es zu schützen gilt (und womöglich auch noch um andere Dinge wie den Wert von Freiheit). Das stimmt zwar, rechtfertigt aber meines Erachtens weiterhin nicht einen wesentlich geringeren Umfang an Vorsichtsmaßnahmen. Ein Krankenwagenfahrer unterbricht auch dann noch einer Fußgängerin zuliebe seine Fahrt und riskiert das Leben des Patienten, wenn hinter ihm noch zehn weitere Krankenwagen fahren, die ebenfalls eine schwer verletzte Person transportieren. Ein Einkaufszentrum wird vor einer Bombenentschärfung auch dann noch evakuiert, wenn sich nur wenige Personen darin befinden. Ich denke daher, der Einwand, es müsse hier mit zweierlei Maß gemessen werden, ist nicht geeignet zu zeigen, dass die Forderung nach Vorsicht im Krieg deutlich weniger restriktiv ist als in anderen Kontexten. Damit bleibt es aber sehr fraglich, ob strategische Kriegshandlungen 162 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Statistische und identifizierte Opfer

hinreichend oft gerechtfertigt sein könnten, sodass ein Krieg insgesamt noch als gerechtfertigt betrachtet werden kann.

5.3 Statistische und identifizierte Opfer Es gibt einen Unterschied zwischen dem von mir diskutierten Beispiel einer riskanten Krankenwagenfahrt und einer riskanten Kriegshandlung. Eine Fußgängerin, die sich auf der Straße direkt vor einem Krankenwagen befindet und zu sterben droht, ist eine ganz bestimmte Person, von der der Krankenwagenfahrer weiß, dass er sie einem Risiko aussetzt. Die Krankenwagenfahrt geht hier nicht nur mit dem Risiko einher, dass irgendjemand zu Schaden kommt, sondern damit, dass genau diese Fußgängerin einen Schaden erleidet. Für Kriegshandlungen gilt dies oftmals nicht. Bei fast jeder Kriegshandlung ist damit zu rechnen, dass jemand zu Schaden kommen wird. Denn es ist aus der Erfahrung bekannt, dass dies der Fall sein wird. Aber es ist in der Regel nicht bekannt, welche Zivilisten es sein werden, die zu Schaden kommen könnten. Dieser Unterschied könnte relevant sein. Er könnte erklären, weshalb es überaus problematisch wäre, würde der Krankenwagen in Anwesenheit dieser Fußgängerin nicht stoppen, aber weniger problematisch, im Krieg irgendjemanden einem Schadensrisiko auszusetzen. Mark Sheehan macht den Vorschlag, die moralische Bewertung riskanter Handlungen hänge möglicherweise davon ab, ob es sich bei den potentiellen Opfern einer riskanten Handlung um statistische oder um identifizierte Opfer handelt. 14 Es erscheint problematischer, eine bestimmte Person einem Schadensrisiko auszusetzen, als das Risiko einzugehen, dass eine Person einen Schaden erleidet, von der wir nur aufgrund statistischer Überlegungen wissen, dass es sie gibt. Wir wissen, dass bei wiederholten Krankenwagenfahrten irgendwann irgendeine Fußgängerin sterben wird. Solange gilt, dass ein Schadensrisiko nicht für eine bestimmte Person besteht, ist es erlaubt, Krankenwagen zu fahren. Sobald jedoch eine bestimmte Fußgängerin zu Schaden zu kommen droht, ist die Krankenwagenfahrt nicht mehr gerechtfertigt. Sie muss unterbrochen werden, und zwar auch dann, wenn dies damit einhergeht, dass ein Patient stirbt. Übertragen wir diese Überlegungen auf Krieg, ergibt sich, dass es erlaubt sein könnte, 14

Vgl. Sheehan 2007.

163 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Den Tod von Zivilisten riskieren

Zivilisten einem Schadensrisiko auszusetzen, solange dieses Risiko nicht für einzelne identifizierte Zivilisten individuell zu hoch ist. Es bleibt jedoch fraglich, ob die Unterscheidung zwischen statistischen und identifizierten Opfern eine überzeugende Erklärung der Intuition liefern kann, Krankenwagenfahrten seien erlaubt, solange irgendjemand zu sterben droht, aber verboten, wenn ein zu hohes Schadensrisiko für eine bestimmte Person besteht. Es ist nicht zu sehen, weshalb es moralisch relevant sein sollte, ob ein Opfer ein statistisches oder ein identifiziertes ist. Wenn wir davon ausgehen, dass Personen einen Anspruch darauf haben, nicht geschädigt zu werden und es ihnen entsprechend geschuldet wird, ihnen keinen Schaden zuzumuten, dann erscheint Sheehans Unterscheidung irrelevant. Eine bestimmte Fußgängerin, die sich direkt vor einem fahrenden Krankenwagen befindet, scheint den gleichen Anspruch darauf zu haben, nicht vom Krankenwagen überfahren zu werden, wie jede andere Fußgängerin. Trotzdem halten wir Krankenwagenfahrten im Allgemeinen für erlaubt und nur in bestimmten Fällen für verboten. Für die Erklärung der Intuition, dass identifizierte Personen Vorrang vor statistischen Personen haben, ist möglicherweise weniger relevant, ob eine Person identifiziert ist, sondern spielen eher das individuelle Wohlergehen von Personen und der Zeitpunkt der riskanten Handlung eine Rolle. Ich werde darauf im nächsten Abschnitt noch einmal zurückkommen. Aber selbst wenn wir annehmen, dass es aus moralischer Sicht relevant ist, ob es sich bei einer zu Schaden kommenden Person um eine bestimmte handelt oder um eine, von der wir nur aufgrund statistischer Überlegungen wissen, dass es sie gibt, folgt daraus nicht, dass es gerechtfertigt ist, Zivilisten im Krieg einem Todesrisiko auszusetzen. Im Krieg können Maßnahmen ergriffen werden, die den Handelnden vor einem Angriff bekannt werden lassen, wer genau zu Schaden zu kommen droht. Wir haben im vorherigen Abschnitt gesehen, dass es in einem gewissen Umfang sogar gefordert ist, solche Maßnahmen zu ergreifen, etwa das Auskundschaften des Gebietes durch eine Patrouille. Eine sorgfältige Aufklärung vor einer Kriegshandlung kann dazu führen, dass sich sehr genau sagen lässt, welche Zivilisten sich beispielsweise im Detonationsbereich einer Bombe befinden. Aber sobald bekannt ist, wer zu Schaden kommen droht, müsste der Bombenangriff nur noch sehr schwer zu rechtfertigen sein, ebenso wie es nur sehr schwer zu rechtfertigen wäre, würde der Krankenwagen vor der Fußgängerin nicht anhalten. Dass im Krieg 164 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Der Zeitpunkt der Beurteilung

nur gesagt werden kann, dass irgendwelche Zivilisten sterben werden, nicht aber, welche es sein werden, scheint in vielen Fällen nur ein epistemisches Problem zu sein, das sich möglicherweise lösen ließe. Ob ein Opfer ein statistisches oder ein identifiziertes ist, hängt im Krieg, aber auch bei Krankenwagenfahrten, vom Zeitpunkt ab. Bevor ein Krankenwagen seine Fahrt aufnimmt, lässt sich nur sagen, dass jemand in einen Unfall mit ihm verwickelt werden könnte. Für jede Person auf der Fahrstrecke gilt, dass sie geschädigt werden könnte. Sobald sich aber eine dieser Personen vor dem fahrenden Krankenwagen befindet, ist diese bisher statistische Person zu einer identifizierten geworden. Für Krieg gilt ebenfalls, dass wenige Augenblicke vor einem Bombenabwurf über einer Rüstungsfabrik nicht mehr gilt, dass irgendjemand sterben könnte, sondern dass jemand Bestimmtes sterben könnte. Wenn es nur schwer zu rechtfertigen ist, eine identifizierte Person einem Schadensrisiko auszusetzen, dürfte das Abwerfen einer Bombe ab dem Moment, in dem klar ist, für wen ein Risiko besteht, nicht mehr gerechtfertigt sein. Ob eine riskante Handlung erlaubt ist, oder auch, ob ein Opfer ein statistisches oder ein identifiziertes ist, hängt also offenbar eng mit dem Zeitpunkt zusammen, zu dem man die Handlung beurteilt. Es kann sein, dass eine Handlung zu einem frühen Zeitpunkt eine bestimmte Person nur einem sehr geringen Schadensrisiko aussetzt. Doch die gleiche Handlung kann zu einem späteren Zeitpunkt mit einem sehr hohen Schadensrisiko für die gleiche Person einhergehen.

5.4 Der Zeitpunkt der Beurteilung Eine viel diskutierte Möglichkeit, riskante Handlungen zu bewerten, besteht darin, ihren aggregierten Erwartungsnutzen zu bestimmen, indem die Summe aus den Produkten der möglichen Vorteile (z. B. eine Kriegsoperation ist erfolgreich) oder Nachteile (z. B. eine Person stirbt) und ihren jeweiligen Eintrittswahrscheinlichkeiten gebildet wird. Besteht die Wahl zwischen mehreren (riskanten) Handlungen, ist die Handlung zu wählen, die den größten Erwartungsnutzen hat. Anders gewendet: Eine riskante Handlung, etwa eine Krankenwagenfahrt, ist erlaubt, wenn ein Ausbleiben der Krankenwagenfahrt einen geringeren Erwartungsnutzen aufweist als ein Ausführen der Fahrt. Typischerweise ist genau dies der Fall. Bleibt die Krankenwagenfahrt aus, stirbt eine Person mit einer hohen Wahrscheinlichkeit, ohne dass 165 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Den Tod von Zivilisten riskieren

gleichzeitig andere Menschen Vorteile erlangen. Findet die Fahrt dagegen statt, setzt sie viele Personen einem sehr geringen Risiko zu sterben aus, aber generiert mit hoher Wahrscheinlichkeit einen großen Vorteil für die Person, die sich in Not befindet. Die Krankenwagenfahrt zu unternehmen, weist in der Regel einen höheren Erwartungsnutzen auf, als die Krankenwagenfahrt zu unterlassen. Ein Verweis auf den Erwartungsnutzen klingt erst einmal insofern vielversprechend, als damit erklärt werden kann, weshalb es erlaubt ist, Krankenwagen zu fahren, obwohl dies riskant ist. Jedoch gehen mit dieser Begründung für die Zulässigkeit oder Unzulässigkeit riskanter Handlungen zwei Probleme einher. Das erste Problem ist eines, das sich dann stellt, wenn man glaubt, dass interpersonelle Aggregation unzulässig ist. Denn der Gesamtnutzen, der sich aus den individuellen Vor- und Nachteilen der betroffenen Individuen ergibt, ist nicht der Nutzen irgendeiner Person, die diesen erfährt. 15 Das zweite Problem besteht darin, dass ein Rekurs auf den bloßen Erwartungsnutzen mitunter nicht geeignet ist, unsere Intuitionen zu erklären. Es kann Fälle geben, in denen zwei Handlungen den gleichen Erwartungsnutzen haben, wir diese aber dennoch intuitiv moralisch verschieden bewerten. Werden riskante Handlungen ausschließlich anhand des Erwartungsnutzens beurteilt, können diese Intuitionen nicht erklärt werden, da unberücksichtigt bleibt, wie die Schadensrisiken auf die potentiellen Opfer der Handlung verteilt sind. Stellen wir uns hierzu zwei Handlungen H1 und H2 vor, die mit jeweils gleicher Wahrscheinlichkeit das gleiche positive Ergebnis nach sich ziehen. Für ihre moralische Bewertung ist dann nur noch entManche Deontologinnen halten es zwar für unzulässig, den individuellen Nutzen einer Handlung über Personengrenzen hinweg zu aggregieren, jedoch stehen sie der Aggregation von Gründen weniger skeptisch gegenüber. Nehmen wir an, fünf Dosen eines lebensrettenden Medikamentes können entweder fünf Personen oder nur einer (besonders stark erkrankten) Person verabreicht werden. Jede der sechs Personen hat einen Anspruch darauf, gerettet zu werden, und dieser Anspruch wiederum generiert einen Grund, jeder einzelnen Person das Medikament zu geben. Nun ließe sich argumentieren, dass die Gründe, die aus den Ansprüchen der fünf Menschen resultieren, zu einem besonders starken Grund zusammengezogen werden können, sodass der Grund, die fünf Menschen zu retten, fünfmal so stark ist wie der Grund, die einzelne Person zu retten. Es gibt jedoch keine Person, die einen fünffachen Anspruch auf Rettung hat. Eine interpersonelle Aggregation von Gründen erscheint damit aus deontologischer Perspektive ebenso fragwürdig wie eine interpersonelle Aggregation individueller Vor- und Nachteile.

15

166 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Der Zeitpunkt der Beurteilung

scheidend, ob sie sich im Hinblick auf ihre erwartbaren negativen Folgen, beispielsweise den Tod eines Menschen, unterscheiden. H1 Person

Eintrittswahrscheinlichkeit des Ereignisses (Tod)

Wert des Ereignisses (Tod)

Eintrittswahrscheinlichkeit x Wert des Ereignisses

1

1,0

–100

–100

2

0,1

–100

–10 Summe: –110

H2 Person

Eintrittswahrscheinlichkeit des Ereignisses (Tod)

Wert des Ereignisses (Tod)

Eintrittswahrscheinlichkeit x Wert des Ereignisses

1

0,2

–100

–20

2

0,2

–100

–20

3

0,2

–100

–20

4

0,2

–100

–20

5

0,1

–100

–10

6

0,1

–100

–10

7

0,1

–100

–10 Summe: -110

Würde die Zulässigkeit riskanter Handlungen ausschließlich an ihrem Erwartungsnutzen gemessen, wären H1 und H2 gleich zu beurteilen, da sie den gleichen Erwartungsnutzen haben. Dass H1 jedoch viel problematischer als H2 ist, wird erkennbar, wenn wir H1 und H2 als zwei Beschreibungen einer Krankenwagenfahrt zu verschiedenen Zeitpunkten verstehen. H2 beschreibt die Risiken der Krankenwagenfahrt zu dem Zeitpunkt, an dem der Krankenwagen losfährt: Es gibt viele verschiedene Personen, die sich gerade auf der Straße oder auf den Gehwegen auf der Strecke des Krankenwagens aufhalten könnten und die zu diesem Zeitpunkt alle einem jeweils sehr geringen Schadensrisiko ausgesetzt werden. H1 dagegen beschreibt die gleiche Fahrt zu dem Zeitpunkt, an dem eine Fußgängerin direkt vor dem Krankenwagen auftaucht. Nun gibt es fast keine Per167 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Den Tod von Zivilisten riskieren

sonen mehr, die einem Risiko ausgesetzt sind, aber es gibt eine Person, die sicher oder nahezu sicher einen schweren Schaden erleidet. Wir haben die Intuition, dass es erlaubt ist, mit dem Krankenwagen loszufahren, aber verboten, die Fahrt nicht zu unterbrechen, wenn der Fußgängerin so ein schwerer Schaden erspart bleibe. Ein Verweis auf den Erwartungsnutzen kann diese Intuition jedoch nicht erklären. Dass wir H1 für verboten halten, lässt sich vielleicht am ehesten damit erklären, dass es hier eine Person gibt, die einem Risiko ausgesetzt wird, das zu hoch ist. In Fällen von H1 stirbt eine bestimmte Person sicher oder mit hoher Wahrscheinlichkeit. In H2 dagegen gibt es keine Person, die sich einem hohen Risiko, einen schweren Schaden zu erleiden, ausgesetzt sieht, auch wenn sicher ist, dass in Fällen von H2 irgendwann jemand sterben wird, sollte die Handlung oft genug wiederholt werden. Eine These, die vorsichtig aus dem Gesagten abgeleitet werden kann, ist diese: Das Ausführen einer riskanten Handlung ist erlaubt, wenn sie zu keinem Zeitpunkt damit einhergeht, dass es irgendeine Person gibt, die einem hohen Schadensrisiko ausgesetzt wird. Entsprechend ist sie verboten, wenn es einen Zeitpunkt gibt, zu dem ein hohes Schadensrisiko für jemanden besteht. Streng genommen gibt es immer einen Zeitpunkt, zu dem feststeht, dass jemand ziemlich sicher geschädigt wird. Zehntelsekunden vor einem Unfall mit einer Fußgängerin steht fest, dass sie zu Schaden kommen wird. Wenige Sekunden vor der Kollision gibt es aber zumeist auch nichts mehr, was ein Krankenwagenfahrer noch tun könnte, um die Schädigung zu verhindern. Es erscheint wenig plausibel anzunehmen, dass dafür, dass eine riskante Handlung verboten ist, ein Zeitpunkt der Handlungsausführung ausschlaggebend ist, zu dem jemand keine Kontrolle mehr über den Ausgang der Handlung hat. Tatsächlich würden wir aber auch nicht sagen, dass die Unzulässigkeit der Krankenwagenfahrt erst wenige Augenblicke vor dem Unfall mit der Fußgängerin feststeht. Die Krankenwagenfahrt scheint bereits dann verboten zu sein, wenn der Krankenwagenfahrer die Fußgängerin sieht und noch die Möglichkeit hat, zu bremsen und ihr damit den Schaden zu ersparen. Die These muss daher genau genommen lauten: Das Ausführen einer riskanten Handlung ist erlaubt, wenn sie zu keinem Zeitpunkt, zu dem die Handelnde die Handlung abbrechen kann, damit einhergeht, dass es irgendeine Person gibt, die einem hohen Schadensrisiko ausgesetzt wird. Entsprechend ist sie verboten, wenn

168 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Der Zeitpunkt der Beurteilung

es einen Zeitpunkt gibt, zu dem ein hohes Schadensrisiko für jemanden besteht und zu dem die Handlung abgebrochen werden kann. Johann Frick stellt sehr ähnliche Überlegungen zur moralischen Bewertung riskanter Handlungen an. Frick diskutiert dabei die folgenden Fälle medizinischer Behandlungen, für die gilt, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt alle potentiell Betroffenen von einer Handlung profitieren können, die zu einem späteren Zeitpunkt einigen Betroffenen einen großen Nachteil aufbürdet: 16 Risky Treatment: 100 Kinder drohen an einer Krankheit zu sterben. Ein Arzt kann zum Zeitpunkt T1 die Kinder mit einem Medikament behandeln, das jedoch statistisch zum Zeitpunkt T2 bei 15 von 100 Kindern zum Tode führen wird. 17 Human Experiment: Ein Arzt führt zum Zeitpunkt T1 unter 100 todkranken Kindern eine Lotterie durch, die zufällig 10 Kinder auswählt, an denen zum Zeitpunkt T2 Versuche unternommen werden, an denen die 10 Kinder sicher sterben, deren Ergebnisse aber die Rettung der übrigen 90 Kinder ermöglichen. 18 Intuitiv erscheint das Handeln des Arztes in Risky Treatment erlaubt, wenn es keine alternative Behandlung gibt, das Handeln des Arztes in Human Experiment erscheint dagegen verboten, obwohl im ersten Fall sicher ist, dass 15 Kinder sterben werden, und im zweiten Fall sicher ist, dass lediglich 10 Kinder zu Tode kommen werden. Frick erklärt die unterschiedlichen intuitiven Urteile damit, dass eine riskante Handlung nur dann erlaubt sei, wenn zu jedem Zeitpunkt der Handlung, zu dem eine Handelnde (oder eine entsprechende Maschine) ihren Verlauf willentlich ausführen und kontrollieren kann, gilt, dass die Handlung jeder betroffenen Person gegenüber rechtfertigbar ist. Frick spricht dabei nicht von einer einzelnen Handlung, sondern von einer Prozedur, also einer komplexen Handlung, die in verschiedene, zu bestimmten Zeitpunkten ausgeführte einzelne Handlungen zerlegt werden kann. 16 17 18

Vgl. Frick 2015, S. 202. Vgl. ebd., S. 204. Vgl. ebd.

169 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Den Tod von Zivilisten riskieren

If a rule or procedure can be decomposed into a sequence of distinct causal stages, each of which involves the voluntary action of some agent (or of a surrogate for human agency, such as a programmed machine), then it is permissible to adopt and act on this rule or procedure only if the actions it requires at every stage are justifiable to each person at that time. 19

Zum Zeitpunkt T1 besteht sowohl in Risky Treatment als auch in Human Experiment für alle 100 Kinder ein relativ geringes Risiko zu sterben. Zum Zeitpunkt T1 sind beide Handlungen erlaubt, weil sie gegenüber jedem der Kinder, die andernfalls sicher sterben werden, rechtfertigbar sind. Entscheidend ist, so Frick, der Zeitpunkt T2. In Risky Treatment ist es zwar der Fall, dass 15 Kinder sicher sterben werden. Dennoch ist die Handlung weiterhin gerechtfertigt, da der Arzt die Behandlung im beschriebenen Fall nicht mehr abbrechen kann. 20 Hätte der Arzt die Möglichkeit zu intervenieren, sobald er merkt, dass einige Kinder allergische Reaktionen zeigen, wäre es den betroffenen Kindern gegenüber nicht mehr zu rechtfertigen, die Behandlung ohne Intervention fortzusetzen. Im Fall Human Experiment hat der Arzt dagegen zum Zeitpunkt T2, zu dem gilt, dass 10 Kinder sicher sterben werden, die Kontrolle über den weiteren Handlungsverlauf. Der Arzt hat damit die Pflicht, die Behandlung abzubrechen bzw. das tödliche Experiment nicht durchzuführen. 21 Aus Fricks Überlegungen leitet sich mit Blick auf Krankenwagenfahrten das bisherige Ergebnis ab: Eine Krankenwagenfahrt, bei der abzusehen ist, dass eine konkrete unbeteiligte Person stirbt, obwohl dies noch verhindert werden könnte, ist moralisch verboten. Genau genommen gilt, dass es zwar erlaubt ist, die Fahrt anzutreten, aber dass es an einem bestimmten Punkt verboten ist, sie weiter fortzusetzen. Es wäre nur dann erlaubt, eine bestimmte Person einem hohen oder sicheren Schadensrisiko auszusetzen, wenn ein solch hohes Risiko erst zu einem Zeitpunkt besteht, zu dem die Fahrt nicht mehr abgebrochen werden kann und die Person nicht mehr vor einem Schaden bewahrt werden kann. Dies wäre beispielsweise dann der Fall, wenn ein Krankenwagenfahrer eine Fußgängerin wegen parkender Autos nicht rechtzeitig sehen kann. Ebd., S. 205. Frick führt hiermit einen Test ein, den eine (komplexe) riskante Handlung bestehen muss. Er nennt diesen Test »Decomposition Test«. 20 Vgl. ebd., S. 206. 21 Vgl. ebd. 19

170 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Der Zeitpunkt der Beurteilung

Unter der Annahme, dass die hier noch sehr grob gebliebenen Überlegungen plausibel sind, und wir sie auf Kriegshandlungen übertragen, werden wir stark in Richtung Pazifismus gezogen. Angenommen, im Krieg soll eine Brücke durch eine Bombardierung zerstört werden, über die der Gegner Waffenlieferungen transportiert. Es ist zu erwarten, dass sich einige Zivilisten in der Nähe oder unter der Brücke aufhalten. Aus den angestellten Überlegungen ergibt sich, dass die Erlaubtheit der Bombardierung der Brücke davon abhängt, ob zu irgendeinem Zeitpunkt, an dem die Bombardierung noch abgebrochen werden könnte, feststeht, dass es eine Person gibt, die einem hohen Schadensrisiko ausgesetzt wird. Hier scheint analog zur Krankenwagenfahrt das Losfliegen des Piloten mit der Bombe noch rechtfertigbar zu sein. Die Brücke befindet sich in der Nähe einer Siedlung, in der zahlreiche Zivilisten leben. Jede Zivilistin könnte sich dann, wenn der Pilot die Brücke erreicht hat, unter der Brücke befinden, aber die Wahrscheinlichkeit, dass sich eine Zivilistin ausgerechnet dort befinden wird, ist für jede Zivilistin gering. Für jede Zivilistin gilt also, dass das Risiko, dass sie stirbt, sehr gering ist. Je näher aber der Pilot der Brücke kommt, desto mehr steigt das Risiko für einige Zivilisten, nämlich für die, die sich näher an der Brücke befinden als andere Zivilisten, deren geringeres Schadensrisiko aufgrund ihrer räumlichen Entfernung weiter sinkt. Der Pilot ist der Brücke irgendwann so nahe, dass feststeht, dass die Zivilisten, die sich jetzt dort befinden, nicht mehr rechtzeitig würden fliehen oder Schutz suchen können. Jetzt gibt es mindestens eine Person, für die das Risiko, dass sie stirbt, sehr hoch ist. Der Zeitpunkt, zu dem dies gilt, ist nicht der, wenn die Bombe bereits abgeworfen wurde, aber noch nicht aufgeschlagen ist. Zu diesem Zeitpunkt könnte der Pilot die Handlung auch nicht mehr abbrechen. Dass jemand einem hohen Schadensrisiko ausgesetzt wird, steht bereits fest, wenn (oder noch bevor) der Bombenabwurf initiiert wird, indem ein Abwurfmechanismus ausgelöst wird. Der Pilot, so scheint es, darf die Bombe nicht abwerfen, ebenso wie der Krankenwagenfahrer angesichts einer Fußgängerin vor ihm nicht weiterfahren darf, sobald er eine Zivilistin bzw. eine Fußgängerin sieht. Der Verweis darauf, dass es wichtig ist, ob eine riskante Handlung zu einem späteren Zeitpunkt noch abgebrochen werden kann, bringt eine Schwierigkeit mit sich. Es scheint nämlich zu folgen, dass eine riskante Handlung erlaubt ist, die zu Handlungsbeginn mit einem sehr geringen Risiko für alle potentiellen Opfer einhergeht, 171 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Den Tod von Zivilisten riskieren

deren Risiko für einige Betroffene aber kurze Zeit später stark ansteigt, wenn die Handlung derart ist, dass sie direkt nach ihrem Beginn nicht mehr abgebrochen werden kann. Es wäre offenbar erlaubt, eine vollständig automatisierte Krankenwagenfahrt ohne Unterbrechung zu vollziehen, in die niemand mehr steuernd eingreifen kann, auch wenn zu irgendeinem Zeitpunkt eine Fußgängerin den Weg des Krankenwagens kreuzt. Ebenso wäre es scheinbar erlaubt, aus der Ferne einen Knopf zu drücken, der eine mit einer Bombe ausgestattete Drohne losschickt, deren Flug und Bombenabwurf nicht mehr unterbrochen werden kann. Dass es keine Person gibt, die in das Agieren einer Maschine mehr eingreifen kann, scheint aber intuitiv keinen Unterschied zu machen. Es erscheint nicht problematischer, eine Handlung, die eine Handelnde kontrollieren kann, nicht abzubrechen, als eine Handlung zu initiieren, die nicht abgebrochen werden kann, von der eine Handelnde aber absieht, dass sie zu irgendeinem Zeitpunkt mindestens eine Person einem hohen Schadensrisiko aussetzt. Diese Schwierigkeit erkennend, diskutiert Frick eine Abwandlung von Human Experiment, nämlich Automatic Experiment. Automatic Experiment: Der Arzt hat eine Maschine programmiert, die automatisch und für den Arzt nach dem Start unaufhaltsam zum Zeitpunkt T1 10 Kinder zufällig auswählt, an denen sie zum Zeitpunkt T2 die tödlichen Versuche durchführt. 22 Wenn für die moralische Bewertung riskanter Handlungen nur diejenigen Zeitpunkte relevant sind, zu denen ein Akteur den Verlauf kontrollieren kann, hat es den Anschein, als sei Automatic Experiment nicht von Risky Treatment zu unterscheiden. Frick argumentiert zur Lösung dieses Problems, es sei unzulässig, einen automatischen Mechanismus auszulösen, von dem ein Akteur weiß, dass er damit einhergeht, dass Personen zum Zeitpunkt T2 einem Risiko ausgesetzt werden, das ihnen gegenüber nicht zu rechtfertigen ist. 23 Eine Handlung, deren Ausführung einem Akteur selbst verboten ist, wird also nicht dadurch erlaubt, dass sie an eine Maschine abgegeben wird, in deren Prozedur nicht eingegriffen werden kann. Frick bewertet 22 23

Vgl. ebd., S. 210. Vgl. ebd., S. 211.

172 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Der Zeitpunkt der Beurteilung

damit das Handeln des Arztes in Automatic Experiment als ebenso problematisch wie in Human Experiment. 24 Entsprechend sind vollständig automatisierte Krankenwagenfahrten und der Einsatz automatisierter bewaffneter Drohnen verboten, weil sie absehbar Personen zu irgendeinem Zeitpunkt einem hohen Schadensrisiko aussetzen, zu dem eine Handelnde die Pflicht hätte, die Handlungen abzubrechen. Maschinen einzusetzen, die potentiell Menschen schädigen und in deren Agieren nicht eingegriffen werden kann, ist damit verboten, auch wenn sie zu Beginn ihres Einsatzes für niemanden mit einem hohen Schadensrisiko verbunden sind. Mit Blick auf von Handelnden kontrollierte Krankenwagenfahrten, bei denen Fußgänger zu Tode kommen, hatte ich festgestellt, dass es trotzdem immer erlaubt erscheint, dass die Fahrt angetreten wird. Dass im Verlaufe einer Krankenwagenfahrt eine Fußgängerin stirbt, macht nicht das Losfahren des Krankenwagens überaus problematisch, sondern nur seine Weiterfahrt ab dem Zeitpunkt des Auftauchens der Fußgängerin. Für Krieg könnte dies bedeuten, dass es manchmal zu rechtfertigen ist, eine Kriegshandlung zu beginnen, dass diese aber abgebrochen werden muss, sobald für eine Zivilistin ein hohes Todesrisiko besteht, da sie dann nicht mehr zu rechtfertigen ist. Gehen wir außerdem davon aus, dass die moralische Bewertung riskanter Handlungen für deren Verhältnismäßigkeit relevant ist, dann ergibt sich daraus, dass es noch leicht zu rechtfertigen ist, eine Kriegshandlung einzuleiten, aber nicht zu rechtfertigen, diese vollständig auszuführen. Dass im Krieg entsprechende Handlungen wenigstens begonnen werden dürfen, folgt jedoch deshalb nicht, weil es einen wichtigen Unterschied zwischen Krankenwagenfahrten und Kriegshandlungen gibt. Nur bei sehr wenigen Krankenwagenfahrten verunglückt eine Fußgängerin mit einem Krankenwagen. Ein Krankenwagenfahrer Intuitiv erscheint mir das Handeln in Automatic Experiment sogar noch problematischer als in Risky Treatment. Eine mögliche Erklärung dafür könnte sein, dass es moralisch unterschiedlich zu bewerten ist, ob jemand eine Handlung einleitet, die nicht mehr abgebrochen werden kann, sollten sich die Umstände ändern, oder ob jemand eine Handlung einleitet, die gegebenenfalls abgebrochen werden kann. Es könnte problematischer sein, willentlich und wissentlich eine Situation zu schaffen, in der man der Pflicht, eine Handlung abzubrechen, nicht mehr nachkommen kann, als dieser Pflicht nicht nachzukommen, obwohl es möglich wäre. Es spräche dann mehr dagegen, im Krieg Drohnen einzusetzen, deren Angriffe sich später noch abbrechen lassen, als gegen einen Drohnenangriff, der prinzipiell abgebrochen werden kann, aber nicht abgebrochen wird.

24

173 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Den Tod von Zivilisten riskieren

hat zu Beginn seiner Fahrt keinen Grund davon auszugehen, dass ausgerechnet seine Fahrt eine sein wird, bei der eine Fußgängerin stirbt. Anders ausgedrückt: Statistisch muss sehr oft Krankenwagen gefahren werden, ehe es zu einem schweren Unfall mit Unbeteiligten kommt. Ein Krankenwagenfahrer kann davon ausgehen, dass bei seiner Fahrt, wie auch bei seinen letzten Fahrten, nichts passieren wird. Im Krieg gilt jedoch, dass bei vielen Kriegshandlungen Zivilisten sterben, und zwar auch dann, wenn keine einzige Kriegshandlung in einem Angriff ziviler Stellungen besteht. Würde bei deutlich mehr Krankenwagenfahrten eine Fußgängerin zu Schaden kommen, stellten wir sicher auch die Zulässigkeit des bloßen Losfahrens von Krankenwagen infrage. Die bisherige Überlegung, eine riskante Handlung sei verboten, wenn es einen Zeitpunkt gibt, zu dem das Schadensrisiko für eine Person hoch ist und zu dem die Handlung noch abgebrochen werden kann, hat möglicherweise eine kontraintuitive Implikation. Im bereits angeführten Trolley Case steht zu jedem Zeitpunkt fest, dass das Umlegen der Weiche von dem Gleis, auf dem sich fünf Menschen befinden, auf das Gleis, auf dem eine Person steht, die eine Person sicher töten wird. Es müsste daher verboten sein, die Weiche umzulegen. Doch das Umlegen der Weiche ist intuitiv erlaubt. Dem Einwand könnte damit begegnet werden, dass nicht nur sicher ist, dass die eine Person sterben wird. Das macht die Handlung zu einer, die nur schwer zu rechtfertigen ist. Es ist auch sicher, dass die fünf Menschen gerettet werden. Im Vergleich dazu ist es bei Krankenwagenfahrten meist nicht sicher, dass der transportierte Patient tatsächlich gerettet werden kann, zumal die Krankenwagenfahrt alleine noch kein Leben rettet. Die Rettung des Patienten wäre häufig auch dann unsicher, wenn der Krankenwagen nicht für eine Fußgängerin stoppt. Der Gedanke, die Sicherheit des Erreichens des eigentlichen Ziels einer Handlung, könne relevant für deren Erlaubtheit sein, führt uns zurück zu der Bedingung, ein Krieg, aber offenbar auch jede einzelne Kriegshandlung, müsse erwartbar zum Ziel führen. Es ist einem Krankenwagenfahrer möglicherweise auch deshalb verboten, eine Fußgängerin zu überfahren, weil unsicher ist, dass der Patient, den er transportiert, überleben wird. 25 Im Trolley Case sind die episteEine andere bereits herausgestellte Überlegung, weshalb der Tod einer Fußgängerin nicht mit dem Überleben eines Patienten gerechtfertigt werden kann, besteht in der Unterscheidung zwischen Tun und Unterlassen: eine Person zu töten, ist schwerer

25

174 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Das kleinere Übel: Die Zustimmung von Zivilisten

mischen Bedingungen anders: Es ist sicher, dass bei Umlegen der Weiche eine Person sterben wird und fünf gerettet werden – und die Handelnde an der Weiche weiß dies auch. Mit Blick auf Krieg bliebe im Einzelfall zu fragen, ob die Erfolgsaussichten wesentlich höher sind als bei kritischen Rettungseinsätzen. Das ist eine schwierige Frage. Festgehalten werden kann an dieser Stelle nur, dass eine Übertragung unserer moralischen Bewertung von Krankenwagenfahrten auf Krieg erst einmal stark in Richtung Pazifismus weist.

5.5 Das kleinere Übel: Die Zustimmung von Zivilisten Deontologinnen halten oftmals die Zustimmung der Personen, die durch eine Handlung einen sicheren Schaden erleiden werden, für ein wichtiges Kriterium für die Erlaubtheit dieser Handlung. Das Zustimmungs-Kriterium ist nicht spezifisch für riskante Handlungen, lässt sich aber auch auf Handlungen übertragen, die nur mit dem Risiko einer Schädigung einhergehen. Grob skizziert ist der Gedanke dann folgender: Eine riskante Handlung – etwa das Durchführen einer medizinischen Operation oder das zu schnelle Fahren von Krankenwagen – ist erlaubt, weil diejenigen, für die mit der Handlung das Risiko einer Schädigung einhergeht, in die Handlung einwilligen. Wir willigen beispielsweise dann in eine Handlung ein (oder von unserer Einwilligung lässt sich zumindest ausgehen), wenn die riskante Handlung angesichts der Alternativen das kleinere Übel für uns selbst ist. Dies gilt im Falle riskanter medizinischer Operationen. Das Risiko, dass ein Schaden entsteht, wenn die Operation nicht durchgeführt wird, ist größer als das Risiko, dass ein Schaden entsteht, sollte die Operation durchgeführt werden. Wir willigen in eine Operation ein, weil die mit ihr verbundenen Risiken und Schäden das kleinere Übel sind im Vergleich zum Ausbleiben der Operation. Wir willigen aber auch dann in eine riskante Handlung ein, wenn wir von der Wiederholung dieser Handlung langfristig profitieren können, weil sie insgesamt dazu führt, dass das Risiko, dass wir einen Schaden erleiden, minimiert wird. Das gilt beispielsweise für Krankenwagenfahrten. Zwar geht jede einzelne Krankenwagenfahrt mit dem geringen Risiko einher, dass wir im Zuge eines Zusammenzu rechtfertigen, als eine andere Person sterben zu lassen, und zwar auch dann, wenn sicher wäre, dass die andere Person überlebt.

175 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Den Tod von Zivilisten riskieren

stoßes mit einem Krankenwagen einen schweren Schaden erleiden. Jedoch wird möglicherweise jedem Menschen eine Krankenwagenfahrt das Leben retten können, falls er einmal schnelle medizinische Hilfe benötigen sollte. Sowohl eine riskante Einzelhandlung als auch eine riskante Praxis kann zustimmungsfähig und damit erlaubt sein, wenn sie das kleinere Übel für die Betroffenen darstellt. 26 Die Frage, ob Krieg ebenfalls erlaubt sein kann, weil er für die Zivilisten, die er das Leben zu kosten droht, das kleinere Übel darstellt und insofern ihre Zustimmung erfährt, könnte dann positiv zu beantworten sein, wenn das Nicht-Führen eines Krieges den Tod Unschuldiger wahrscheinlicher macht als das Führen eines Krieges. Für die Proportionalitätsbedingungen der Theorie des gerechten Krieges könnte dies bedeuten: Ein Krieg oder eine einzelne Kriegshandlung ist dann verhältnismäßig, wenn die potentiellen Opfer ihre faktische oder hypothetische Zustimmung geben. Ein Krieg oder einer Kriegshandlung ist jedoch unverhältnismäßig und entsprechend verboten, wenn keine Zustimmung der potentiellen Opfer vorliegt. Auf den ersten Blick sieht es so aus, als erfüllten humanitäre Interventionen insgesamt und konkrete strategische Bombardierungsmanöver innerhalb einer Intervention die Bedingung der Zustimmungsfähigkeit. Bleibt eine humanitäre Intervention aus, ist es nahezu sicher, dass Zivilisten in Folge eines Völkermordes sterben werden. Zwar setzt auch eine Intervention Zivilisten dem Risiko aus zu sterben. Jedoch kann das Risiko, bei einer Intervention zu sterben, geringer sein als das Risiko, dass sie ohne eine Intervention zu Tode kommen. Die Intervention stellt dann das kleinere Übel für die Betroffenen dar und könnte aus diesem Grund erlaubt sein. Eben dies ist die Auffassung von Peter Schaber, der meint, humanitäre Interventionen seien gerechtfertigt, wenn die Zivilisten der Intervention zuFrick (S. 206) verweist in seinen Ausführungen nicht auf die Zustimmung der Betroffenen, sondern darauf, dass die diskutierten Behandlungen ex ante im Interesse jeder betroffenen Person ist, weil sie deren Wohlergehen steigern können. Jedoch erwähnt Frick, dass auch in Human Experiment das Handeln des Arztes gerechtfertigt sein kann, wenn die Betroffenen den möglicherweise an ihnen vollzogenen Versuchen zustimmen. »This conclusion might be undermined if the patients had alienated their right to life through some ex ante agreement or waived it through contemporaneous consent.« Das Zustimmungsargument hält Frick jedoch in den besprochenen Fällen aus dem Grund nicht für einschlägig, dass es sich um Kinder handelt, sodass ihre Zustimmung nicht zuverlässig ist.

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176 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Schlussfolgerungen

stimmen würden, weil die Intervention ihre ex ante-Überlebenschancen steigert. Ich werde den erst einmal vielversprechend anmutenden Gedanken, Kriege ließen sich aufgrund der Zustimmung der möglicherweise zu Schaden kommenden Zivilisten rechtfertigen, im nächsten Kapitel eingehend diskutieren. Hierzu wird es zum einen wichtig sein, zwischen einer tatsächlich erfolgenden und einer nur angenommenen Zustimmung zu unterscheiden. Zum anderen wird zu ermitteln sein, ob alle zivilen Betroffenen einem Krieg oder einer Kriegshandlung zustimmen, und falls nicht, wie mit dem Veto einiger Betroffener umzugehen ist. Wir haben bereits gesehen, dass die Bewertung riskanter Handlung davon abhängig ist, welchen Zeitpunkt wir für die Ermittlung der individuell bestehenden Risiken ansetzen. Die Entscheidung, welcher Zeitpunkt der relevante ist, wird auch dafür wichtig sein, ob die Zustimmung der Betroffenen ihre potentielle Schädigung rechtfertigen kann.

5.6 Schlussfolgerungen Das letzte Kapitel zum Prinzip der Doppelwirkung hat gezeigt, dass terroristische Handlungen im Krieg, wie das Bombardieren von Wohngebieten, ausgesprochen schwer zu rechtfertigen sind und daher in aller Regel verboten sein werden. Terroristische Kriegshandlungen sind in den allermeisten Fällen unverhältnismäßig, und Kriege, die (auch) aus solchen Handlungen bestehen, sind es ebenfalls. Strategische Manöver, die beispielsweise auf das Zerstören von Rüstungsfabriken abzielen, könnten eher als verhältnismäßig betrachtet werden. Es stellte sich daraufhin aber die Frage, ob nicht auch strategische Manöver immer noch unverhältnismäßig und damit verboten sind. Die in diesem Kapitel angestellten Überlegungen dazu, unter welchen Umständen es erlaubt ist, riskante Handlungen auszuführen, haben ergeben, dass auch strategische Bombardierungen nur überaus schwer zu rechtfertigen sind, weil sie zu riskant sind. Sie sind zu riskant, wenn gilt, dass sie nicht mit umfangreichen Maßnahmen zum Schutz von Zivilisten einhergehen, und sie sind zu riskant, wenn es einen Zeitpunkt gibt, zu dem konkrete Zivilisten einem sehr hohen Todesrisiko ausgesetzt werden und zu dem noch in den Verlauf der Bombardierung eingegriffen werden kann. Es hat sich gezeigt, dass wir in Kontexten außerhalb des Krieges riskante Hand177 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Den Tod von Zivilisten riskieren

lungen nur unter ganz bestimmten Bedingungen für erlaubt halten. Kriege erfüllen diese Bedingungen aber in der Regel nicht. Mit Blick auf andere Fälle haben wir erstens gesehen, dass es nur sehr schwer zu rechtfertigen ist, jemanden dem Risiko auszusetzen, getötet zu werden, wenn die Alternative darin besteht, anderen Menschen keine Hilfe zukommen zu lassen. Dies gilt auch, wenn es sich nicht um ein beabsichtigtes Töten handelt. Die Alternative dazu, Zivilisten im Krieg unbeabsichtigt zu töten, besteht gerade darin, die gleichen oder auch andere Zivilisten nicht davor zu schützen, von jemand anderem getötet zu werden. Zweitens haben wir gesehen, dass die Erlaubtheit einer potentiellen Schädigung davon abhängt, ob Maßnahmen ergriffen werden, die das Schadensrisiko minimieren. Es ist fraglich geblieben, inwieweit auch im Zuge strategischer Angriffe genügend dafür getan wird, das Todesrisiko für Zivilisten möglichst gering zu halten. Zwar gibt es eine Grenze, in welchem Umfang Vorsichtsmaßnahmen getroffen werden müssen. Dennoch spricht einiges dafür, dass auch im Kriegsfall Vorsichtsmaßnahmen in einem Umfang getroffen werden müssten, der tatsächlich nicht erreicht wird. Drittens habe ich diskutiert, ob eine riskante Handlung möglicherweise dann schwerer zu rechtfertigen ist, wenn das Opfer einer riskanten Handlung bekannt ist, und leichter zu rechtfertigen, wenn aufgrund der Erfahrung nur bekannt ist, dass es ein Opfer gibt, ohne dass aber klar ist, um wen es sich handelt. Die Unterscheidung zwischen statistischen und identifizierten Personen blieb jedoch sehr fraglich. Identifizierte Opfer scheinen keinen Vorrang vor statistischen Opfern zu haben. Viertens habe ich herausgestellt, dass wir in anderen Kontexten riskante Handlungen nicht für zulässig halten, wenn das Risiko, zu Schaden zu kommen, für irgendein Opfer sehr hoch ist. Sie schienen nur dann erlaubt, wenn sie zu jedem Zeitpunkt, an dem eine Handelnde den Verlauf der Handlung beeinflussen kann, mit einem für jedes potentielle Opfer geringen Schadensrisiko einhergeht. Fast jede Handlung im Krieg geht aber mit einem sehr hohen Schadensrisiko für bestimmte Personen einher. Dies gilt typischerweise kurz bevor beispielsweise eine Bombe abgeworfen wird. Strategische Kriegshandlungen scheinen dann aber nur äußerst schwer zu rechtfertigen zu sein. Und fünftens schien die Erlaubtheit einer riskanten Handlung entscheidend davon abzuhängen, ob die Personen, die Gefahr laufen, 178 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Schlussfolgerungen

geschädigt zu werden, der Handlung zustimmen, etwa weil die Handlung im Vergleich zu den Alternativen das kleinere Übel darstellt. Während die ersten vier Überlegungen gegen Krieg und gegen strategische Kriegshandlungen sprachen, könnte die letzte Überlegung sie dennoch rechtfertigen. Die These, für manche Kriege gelte, dass sie verhältnismäßig und insgesamt zulässig sind, weil die betroffenen Zivilisten ihnen zustimmen, wird im nächsten Kapitel zu prüfen sein.

179 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

6. Die Zustimmung von Zivilisten

Unter der Annahme, dass die Proportionalitätsbedingungen der Theorie des gerechten Krieges deontologisch zu verstehen sind, ist es naheliegend, die Erlaubtheit eines Krieges oder einer individuellen Handlung in einem Krieg auch von einer Überlegung abhängig zu machen, die typisch für deontologische Positionen ist, nämlich von der Überlegung, die moralische Erlaubtheit einer Handlung hänge von der Zustimmung der von der Handlung betroffenen Personen ab. Eine humanitäre Intervention beispielsweise wäre dann erlaubt, wenn die möglichen Opfer der Intervention – gemeint sind damit vor allem Zivilisten – in die Intervention einwilligen (und wenn die sonstigen Bedingungen der Theorie des gerechten Krieges erfüllt sind). Und sie wäre verboten, wenn die Zivilisten, die zu Tode zu kommen drohen, sie ablehnen. Es erscheint aussichtreich, insbesondere die Zulässigkeit humanitärer Interventionen unter Rekurs auf Zustimmung zu begründen. Die Menschen, die im Zuge einer Intervention zu sterben drohen, sind die Menschen, die Schutz benötigen. Die Intervention findet um ihretwillen statt, sie dient ihrer Rettung. Die Zivilisten stimmen einer Intervention zu, weil sie ihr Leben retten kann. Auf den ersten Blick erscheint der Zustimmungsgedanke gerade bei humanitären Interventionen sehr überzeugend. Doch bei genauerer Betrachtung stellen sich zwei wichtige Fragen: (1) Was heißt es, dass Zivilisten zustimmen? – Willigen sie ausdrücklich in einen Krieg ein, würden sie einwilligen, wenn sie gefragt würden, oder kann ihre Zustimmung angenommen werden, weil sie gute Gründe hätten einzuwilligen (auch wenn sie es vielleicht niemals tatsächlich täten)? (2) Ist es notwendig, dass alle Zivilisten einem Krieg zustimmen oder reicht die, vielleicht sogar nur mehrheitliche Zustimmung, derjenigen Zivilisten, zu deren Schutz ein Krieg dient? Ich werde in diesem Kapitel diesen beiden Fragen nachgehen. Es wird sich zeigen, dass nur eine tatsächlich erfolgende bzw. faktische Zustimmung oder eine kontrafaktische Zustimmung, die erfolgen 180 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Der Ort der Zustimmung innerhalb der Theorie des gerechten Krieges

würde, wenn man fragte, eine ist, die eine potentiell schädigende Handlung erlaubt machen kann. Diese Arten von Zustimmung werfen jedoch große Probleme hinsichtlich der Rechtfertigbarkeit von Kriegen auf. Da in aller Regel gilt, dass nicht alle Zivilisten einem Krieg faktisch oder kontrafaktisch zustimmen, ist es auch in aller Regel verboten, Krieg zu führen. Denn das Ausführen schädigender Handlungen ist nicht zu rechtfertigen, wenn nicht alle potentiellen Opfer in die Handlung einwilligen (es sei denn, die Opfer werden für das Erleiden eines Schadens kompensiert, dazu aber mehr in Kapitel 7). Der für deontologische Theorien typische Zustimmungsgedanke stützt damit eine pazifistische Position. Bevor ich ausführlich die beiden genannten Fragen diskutieren werde, ist jedoch noch zu klären, wo innerhalb der Theorie des gerechten Krieges die Zustimmungsüberlegung eine Rolle spielt. Denn dass Zustimmung ausgerechnet in der Proportionalitätsüberlegung ihren Platz hat, lässt sich bestreiten.

6.1 Der Ort der Zustimmung innerhalb der Theorie des gerechten Krieges Ich diskutiere in dieser Arbeit Vorschläge, den Proportionalitätsbedingungen der Theorie des gerechten Krieges ein deontologisches Verständnis zu geben. Die Zustimmung Betroffener ist etwas, das aus einer deontologischen Perspektive relevant dafür sein könnte, ob Schädigungen erlaubt sein können. Wenn wir davon ausgehen, dass der richtige Standpunkt der Moral keine übergeordnete Perspektive ist, sondern stets die des betroffenen Individuums, das Ansprüche hat und dem wir etwas schulden, dann leuchtet ein, dass die betroffenen Individuen es sind, die darüber entscheiden dürfen, ob eine sie schädigende Handlung ausgeführt werden darf. Die Erfüllbarkeit der Proportionalitätsbedingungen der Theorie des gerechten Krieges von der Zustimmung der betroffenen Zivilisten abhängig zu machen, bedeutet dann: Ein Krieg oder eine einzelne Handlung innerhalb des Krieges ist unverhältnismäßig und entsprechend nicht zu rechtfertigen, wenn die Zivilisten, die zu Tode zu kommen drohen, dem Krieg oder der Kriegshandlung nicht zustimmen. Stimmen sie jedoch zu, sind ein Krieg oder eine Kriegshandlung verhältnismäßig und damit rechtfertigbar.

181 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Die Zustimmung von Zivilisten

Wenn wir von Zivilisten sprechen, deren Tod nicht unverhältnismäßig sein dürfe, dann sprechen wir über Proportionalität im weiten Sinne. Dass ein Krieg oder eine Kriegshandlung im weiten Sinne proportional ist, bedeutet, dass der Krieg oder die Handlung das kleinere Übel im Vergleich zur Unterlassung des Krieges oder der Handlung ist. Anders gewendet: Zivilisten zu töten, ist nur dann verhältnismäßig, wenn ihr Tod das kleinere Übel darstellt. Gegeben, dass der Tod einer Zivilistin stets ein Übel ist, bleibt also die Frage, ob es verhältnismäßig sein kann, dieses Übel hervorzubringen. Zustimmung für die Verhältnismäßigkeit dieses Übels für wichtig zu halten, bedeutet dann: Der Tod einer Zivilistin ist ein besonders gravierendes Übel, wenn die Zivilistin in die sie möglicherweise tötende Handlung nicht einwilligt. Ein so gravierendes Übel ist dann aber nur äußerst schwer aufzuwiegen, d. h. es wird nur schwerlich möglich sein, dass dieses gravierende Übel das kleinere Übel ist. Der Tod einer Zivilistin ist dagegen ein weniger gravierendes Übel, wenn sie in die Handlung einwilligt. Hier besteht wenigstens die Möglichkeit, dass das Übel ihres Todes noch aufgewogen wird. Es würde dann aufgewogen, wenn eine Unterlassung der Handlung ein größeres Übel mit sich brächte. Kurz gesagt: Wie viel der Tod einer Zivilistin in der Proportionalität wiegt und wie schwer oder leicht er entsprechend aufgewogen werden kann, hängt davon ab, ob die Zivilistin dem Krieg oder der Kriegshandlung zustimmt. Wenn sie zustimmt, sind ein Krieg oder eine Kriegshandlung verhältnismäßig, da sie das kleinere Übel darstellen. Der folgende Einwand liegt nahe: Der Tod von Menschen ist nicht das kleinere Übel, weil sie einer potentiellen Schädigung zustimmen. Es gilt umgekehrt: Menschen stimmen einer potentiellen Schädigung zu, weil sie das kleinere Übel ist. Der Einwand impliziert, dass die Antwort auf die Frage, ob ein Krieg oder eine Kriegshandlung verhältnismäßig sind, nicht von der Zustimmung der betroffenen Zivilisten abhängt. Zustimmung nicht relevant für Proportionalität zu halten, bedeutet nicht, sie gar nicht für relevant zu halten. Es gibt mehrere Möglichkeiten, das Verhältnis zwischen ziviler Zustimmung und gerechtfertigten Kriegen oder Kriegshandlungen zu bestimmen, die nicht darin bestehen, in der Zustimmung einen Aspekt innerhalb der Proportionalität zu sehen. Der Einwand legt die These nahe, Verhältnismäßigkeit sei eine Voraussetzung für Zustimmung: Menschen stimmen einer potentiellen Schädigung zu, weil das Schadensrisiko,

182 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Der Ort der Zustimmung innerhalb der Theorie des gerechten Krieges

das mit der Handlung einhergeht, geringer ist als das Schadensrisiko, das für sie bestünde, würde die Handlung ausbleiben. Eine andere Möglichkeit, den Ort der Zustimmung zu bestimmen, besteht darin, sie zu einer Bedingung für das Vorliegen eines rechtfertigenden Kriegsanlasses zu machen. Peter Schaber scheint diese These zu vertreten, indem er im Zuge der Frage »Wann ist der Grund gerecht?« 1 die Zustimmung von Zivilisten diskutiert. Das Vorliegen eines gerechten Grundes bzw. rechtfertigenden Kriegsanlasses von der Zustimmung der Zivilisten abhängig zu machen, würde bedeuten, dass es nur dann einen Kriegsanlass gibt, wenn erstens massive Gewalt gegen die Bevölkerung eines Staates droht oder bereits angewendet wird und wenn zweitens die Bevölkerung eine Verteidigung mittels eines Krieges wünscht. Um einen rechtfertigenden Anlass für eine humanitäre Intervention würde es sich dann handeln, wenn erstens massive Menschenrechtsverletzungen einer Bevölkerungsgruppe begangen werden und wenn zweitens die Bevölkerung die Intervention eines anderen Staates wünscht. Wünscht die Bevölkerung die Intervention nicht, liegt entsprechend kein rechtfertigender Kriegsanlass vor. In den dargestellten Möglichkeiten wird davon ausgegangen, dass die Frage nach der Zustimmung von Zivilisten eine relevante Überlegung innerhalb der Theorie des gerechten Krieges darstellt. Jedoch wird bestritten, dass sie relevant für die Proportionalität von Kriegen ist. Die Zustimmung wird in anderen Bedingungen verortet. Quer dazu stehend spricht Jeff McMahan im Zuge einer Diskussion der Zulässigkeit humanitärer Interventionen der Zustimmung einen Ort innerhalb der Theorie des gerechten Krieges gänzlich ab. McMahan zufolge haben Zivilisten unter Umständen falsche Überzeugungen beispielsweise hinsichtlich der verwerflichen Taten eines Tatsächlich ist nicht ganz klar, wo innerhalb der Theorie des gerechten Krieges Schaber die Zustimmung respektive Ablehnung von Zivilisten verortet. Zwar legt der Aufsatztitel nahe, dass er meint, das Vorliegen eines gerechten Grundes bzw. rechtfertigenden Kriegsanlasses hänge davon ab, ob die betroffenen Zivilisten einer humanitären Intervention zustimmen. Jedoch stellt sich Schaber, indem er auf die Zustimmung der Zivilisten verweist, gegen Kirsten Meyers (2011) These, die Angemessenheit bzw. Proportionalität hänge davon ab, ob Zivilisten getötet werden oder ob ihr Tod lediglich zugelassen wird. Meyer zufolge sei eine humanitäre Intervention verboten, da sie deshalb nicht angemessen sei, weil sie darin bestehe, Zivilisten zu töten. Schaber wendet ein, die Unterscheidung zwischen Tun und Unterlassen sei nicht einschlägig, wenn Zivilisten zustimmen. Dies lässt vermuten, dass er humanitäre Interventionen dann für angemessen hält, wenn Zivilisten in diese einwilligen.

1

183 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Die Zustimmung von Zivilisten

Regimes, dem Nutzen einer Intervention für sie oder der Interessen des intervenierenden Staates. 2 Diese Überzeugungen können Zivilisten dazu bringen, einen Krieg abzulehnen, dem sie zustimmen würden, hätten sie wahre Überzeugungen. Die Zustimmung oder Ablehnung der Zivilisten, so McMahan, entscheide daher nicht über die Zulässigkeit von Kriegen: »I concede, therefore, that the consent of the beneficiaries is not a condition of permissible intervention that is imposed by a requirement to respect their collective self-determination.« 3 McMahan klärt nicht, über welche Art von Zustimmung respektive Ablehnung er spricht. Er wendet ein, dass Zivilisten ihre Zustimmung unter Umständen von falschen Überzeugungen abhängig machen. Es liegt nahe, dass McMahan von einer tatsächlich mitgeteilten Zustimmung oder von einer mitunter uninformierten kontrafaktischen Zustimmung spricht, die Zivilisten mitteilen würden, wenn sie sich Gehör verschaffen könnten. McMahan scheint hier nicht von einer hinreichend informierten kontrafaktischen Zustimmung oder von einer unter rein hypothetischen Bedingungen auszugehen. Zwar fehlen Zivilisten unter hypothetischen Bedingungen ebenfalls Informationen. Jedoch handelt es sich dabei üblicherweise nicht um Informationen darüber, welche Verbrechen ein Regime begeht oder inwiefern eine Intervention das Ziel erreichen kann, die Verletzung von Menschenrechten zu stoppen. Stattdessen werden den Zivilisten beispielsweise Informationen darüber entzogen, ob sie zu den Menschen gehören, deren Leben in einem Regime bedroht ist, oder zu denen, die erst im Zuge einer Intervention zu sterben drohen. Ich werde daher annehmen, dass McMahan sich gegen die Behauptung wendet, die faktische (oder uninformierte kontrafaktische) Zustimmung von Zivilisten sei relevant für die moralische Zulässigkeit eines Krieges. McMahan räumt ein, dass erfolgende oder ausbleibende (faktische) Zustimmung zwar nicht über die Zulässigkeit eines Krieges entscheide, sie aber dennoch Berücksichtigung finden müsse, wenn etwa über die Durchführung einer humanitären Intervention entschieden werde. In der Praxis entscheiden Staaten über Krieg unter Bedingungen der Unsicherheit: Sie kennen das fremde Territorium nicht hinreichend gut, sie wissen nicht, wo sich Soldaten und Zivilis2 3

Vgl. McMahan 2010, S. 52. Ebd., S. 53.

184 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Der Ort der Zustimmung innerhalb der Theorie des gerechten Krieges

ten in welcher konkreten Zahl aufhalten, sie wissen nicht, wie riskant ihre Handlungen für Zivilisten sind und wie sicher es ist, einen Krieg zu gewinnen, und sie sind unter Umständen ungerechtfertigt optimistisch. Gegeben aber, dass ein intervenierender Staat Zivilisten möglicherweise einem gravierenden Todesrisiko aussetze, ohne sich eines Erfolgs sicher zu sein, sei es, so McMahan, an den Zivilisten, darüber zu entscheiden, ob sie bereit sind, die Risiken zu tragen. Das bedeutet also, dass die Antwort auf die Frage, ob ein Krieg tatsächlich moralisch gerechtfertigt ist, nicht von der Zustimmung der Zivilisten abhängt. Aber gegeben, dass Staaten aufgrund epistemischer Probleme selten in der Lage sind zu erkennen, ob ein Krieg tatsächlich gerechtfertigt ist, sollte das Führen eines Krieges von der Zustimmung der Zivilisten abhängig gemacht werden, die selbst darüber entscheiden sollten, ob sie bereit sind, die für sie mit einer Intervention verbundenen Risiken zu tragen. […] consent has a second-order role in the justification of humanitarian intervention. It has no role among the conditions of objective justification in ideal theory, but in practice, decisions about intervention are ultimately made by those with the power to intervene, and there must be principles that govern their action in conditions of uncertainty. 4

Die Frage, ob die Zustimmung von Zivilisten innerhalb der Bedingungen der Theorie des gerechten Krieges selbst oder, wie McMahan meint, nur bei Entscheidungen unter Unsicherheit (und jede Kriegsentscheidung ist eine unter Unsicherheit) eine Rolle spielt, ist für die Überlegungen, die ich im Folgenden anstellen werde, am Ende nicht relevant. Es wird sich nämlich zeigen, dass die Berücksichtigung von Zustimmung respektive Ablehnung in jedem Fall eine pazifistische Position stärkt. Ich werde von der Annahme ausgehen, dass Zustimmung innerhalb der Theorie des gerechten Krieges, die typischerweise deontologische Überlegungen widerspiegelt, eine Rolle spielen kann. Innerhalb welcher Bedingung Zustimmungsüberlegungen Eingang finden, bliebe zu klären. Da sich kein grundsätzlicher Einwand dagegen finden lässt, die Zustimmung innerhalb der Proportionalität zu verorten, werde ich sie innerhalb dieser Bedingung der Theorie des gerechten Krieges diskutieren. Wie sich vorliegende oder fehlende Zustimmung auf die Erfüllbarkeit der Proportionalität auswirkt, 4

Ebd.

185 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Die Zustimmung von Zivilisten

hängt, so wird sich zeigen, entscheidend davon ab, welche Art von Zustimmung – faktische, kontrafaktische oder hypothetische – gemeint ist und inwiefern es gefordert ist, dass alle Zivilisten einem Krieg zustimmen. Das Führen von Kriegen mit einem Hinweis auf die Zustimmung der betroffenen Zivilisten zu rechtfertigen, ist mit verschiedenen Schwierigkeiten verbunden, von denen die drei genannten Arten der Zustimmung unterschiedlich betroffen sind. Ich werde im nächsten Abschnitt zunächst diese Schwierigkeiten benennen, ehe ich daran anschließend die drei Arten der Zustimmung ausführlicher diskutieren werde.

6.2 Was ein Rekurs auf Zustimmung leisten sollte Deontologinnen gehen häufig davon aus, dass Personen einen Anspruch darauf haben, nicht geschädigt zu werden. Handlungen, die Personen (potentiell) schädigen, sind problematisch, weil sie diese Ansprüche von Personen verletzen. Schädigende Handlungen werden jedoch dann unproblematisch oder zumindest weniger problematisch, wenn die zu Schaden kommenden Personen auf ihren Anspruch, keinen Schaden zu erleiden, verzichten. Die Zustimmung der von einer Handlung negativ betroffenen Personen scheint genau dies zu leisten, indem sie Handlungen, die ohne die Zustimmung der Betroffenen moralisch verboten wären, dann zu erlaubten Handlungen macht, wenn die Betroffenen ihnen zustimmen. Die Rechtfertigung eines Krieges, beispielsweise einer humanitären Intervention, überzeugend mit der Zustimmung der Zivilisten zu begründen, ist jedoch mit verschiedenen Schwierigkeiten verbunden, die ich in diesem Abschnitt kurt darlegen werde. Anschließend werde ich drei Arten von Zustimmung daraufhin untersuchen, inwiefern sie mit diesen Schwierigkeiten einhergehen. Erstens lässt sich eine humanitäre Intervention nur dann damit rechtfertigen, dass die Zivilisten, die im Zuge der Intervention zu sterben drohen, der Intervention zustimmen, wenn ihre Zustimmung impliziert, dass sie ihre Ansprüche darauf, nicht geschädigt zu werden, abtreten. Typischerweise gilt, dass eine Person, die dem Ausführen einer sie möglicherweise schädigenden Handlung zustimmt, ihren Anspruch darauf abtritt, dass die Handlung nicht ausgeführt wird. Sie verzichtet damit darauf, ihren Anspruch auf Nichtschädigung weiterhin geltend zu machen. Sollte sie durch die Handlung 186 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Was ein Rekurs auf Zustimmung leisten sollte

tatsächlich zu Schaden kommen, hat sie aufgrund ihrer vormaligen Zustimmung keinen Anspruch auf Kompensation des erlittenen Schadens. Diese Überlegungen treffen zumindest dann zu, wenn wir es mit einer faktischen Zustimmung der Person zu tun haben, also mit einer ausdrücklich abgegebenen Einwilligung in die Handlung. Es wird zu prüfen sein, ob alle Arten von Zustimmung implizieren, dass Personen ihre Ansprüche abtreten und daraus folgend im Falle einer Schädigung keinen Anspruch auf Kompensation geltend machen können. Zweitens spielt es für die Rechtfertigbarkeit einer humanitären Intervention nicht nur eine wichtige Rolle, ob die durch eine Intervention zu sterben drohenden Zivilisten der Intervention zustimmen, sondern auch, ob es Zivilisten gibt, die eine Intervention ablehnen. Die Zustimmung einer Person zur Ausführung einer Handlung, die ihr einen Schaden zufügen kann, macht die Handlung moralisch erlaubt, weil die Person mit ihrer Zustimmung davon zurücktritt, ihren Anspruch auf Nichtschädigung geltend zu machen. Lehnt eine Person die fragliche Handlung dagegen ab, bleibt ihr Anspruch darauf, keinen Schaden zu erleiden, erhalten. Das Ausführen der Handlung wäre ihr gegenüber nicht zu rechtfertigen und damit moralisch verboten. Die in diesem Kapitel diskutierten Arten von Zustimmung werden auch daraufhin zu untersuchen sein, ob sie nahelegen, dass es Zivilisten gibt, die eine humanitäre Intervention ablehnen und denen gegenüber es sich somit nicht rechtfertigen lässt, sie im Zuge der Intervention einem Schadensrisiko auszusetzen. Damit einhergehend wird drittens darauf zu achten sein, inwiefern Unbeteiligte in eine humanitäre Intervention einwilligen. Es ist nämlich das eine, plausibel zu machen, dass diejenigen Zivilisten, deren Leben durch ein Regime gefährdet ist und die mit einer Intervention vor dem Tode bewahrt werden können, einer Intervention zustimmen. Es ist das andere zu zeigen, dass auch Zivilisten zustimmen, die insofern unbeteiligt sind, als ihr Leben nicht bereits auf dem Spiel steht, sondern erst durch eine Intervention bedroht ist. Sollte von einer Art von Zustimmung die Rede sein, die nahelegt, dass Unbeteiligte sie nicht geben werden, dann ist die fragliche humanitäre Intervention diesen Menschen gegenüber nicht zu rechtfertigen. Die verschiedenen Arten von Zustimmung werden viertens entsprechend auch daraufhin zu untersuchen sein, inwiefern sie einhellig gegeben werden. Eine humanitäre Intervention, der nicht alle betroffenen Zivilisten zustimmen, wäre verboten, weil es Zivilisten 187 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Die Zustimmung von Zivilisten

gäbe, deren Ansprüche nicht berücksichtigt würden, wenn man die Intervention durchführte und diese Zivilisten zu Schaden kämen. Eine Möglichkeit, damit umzugehen, dass nicht alle Zivilisten der Intervention zustimmen, besteht darin, lediglich eine mehrheitliche Zustimmung zu fordern. Ich werde die drei zu diskutierenden Arten von Zustimmung dahingehend prüfen, inwiefern sie geeignet sind zu zeigen, dass alle Zivilisten, oder wenigstens die Mehrheit, einer Intervention zustimmen. Im letzten Abschnitt werde ich zudem diskutieren, ob ein Verweis auf den Willen der Mehrheit der Zivilisten Überlegungen impliziert, die auf interpersoneller Aggregation beruhen und damit aus deontologischer Sicht problematisch sind. Ich werde im Folgenden drei verschiedene Arten von Zustimmung darstellen – faktische, kontrafaktische und hypothetische Zustimmung. Es wird sich zeigen, dass jede Art der Zustimmung mit mindestens einer der dargestellten vier Schwierigkeiten konfrontiert ist und daher nicht geeignet ist zu begründen, dass Kriege wie humanitäre Interventionen moralisch gerechtfertigt sind. Die Überlegung, die Proportionalität von und im Krieg von der Zustimmung von Zivilisten abhängig zu machen, legt damit eine pazifistische Position nahe.

6.3 Faktische Zustimmung Von einer faktischen Zustimmung ist recht klar zu sehen, dass sie es leistet, Handlungen, die auszuführen ohne die Zustimmung der Betroffenen verboten wären, erlaubt zu machen, weil die Betroffenen durch ihre Zustimmung davon zurücktreten, ihren Anspruch auf Nichtschädigung geltend zu machen. So ist es zwar verboten, eine Person einer medizinischen Operation zu unterziehen, wenn diese die Operation ausdrücklich ablehnt und wenn hinreichend sicher ist, dass sie die Operation nicht aus Gründen mangelnder Zurechnungsfähigkeit ablehnt (was beispielsweise bei Kindern der Fall wäre). Stimmt eine Person jedoch einer Operation zu und unterzeichnet die entsprechende Einwilligungserklärung, in der sie über mögliche Risiken der Operation aufgeklärt wird, ist die Operation inklusive der mit ihr verbundenen Risiken erlaubt. Die Person kann sich aufgrund ihrer faktischen Einwilligung in die Operation nach der Operation nicht beschweren, wenn eine Komplikation eingetreten ist, über die sie aufgeklärt wurde, oder wenn sie Schmerzen hat. 188 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Faktische Zustimmung

Aus dem Operationsbeispiel lässt sich ableiten, dass es erlaubt ist, Personen einen Schaden zuzufügen, wenn sie dem Ausführen der sie schädigenden Handlung faktisch zustimmen. Die Zustimmung Betroffener scheint eine notwendige Bedingung für die Erlaubtheit einer schädigenden Handlung zu sein – zumindest dann, wenn die betroffenen Personen in der Lage sind, ihre Zustimmung zu geben. 5 Denn es ist klarerweise verboten, eine Person einer Operation zu unterziehen, wenn es unterlassen wurde, die Zustimmung der Person einzuholen, sofern diese in der Lage war, ihre Zustimmung oder Ablehnung zu äußern. Wenn es möglich ist, die Einwilligung einer Patientin einzuholen, dann muss dies auch erfolgen. Andernfalls darf sie nicht operiert werden. Für viele medizinische Eingriffe gilt, dass es Ärzten nicht nur erlaubt ist, sie bei vorliegender Zustimmung der Patienten vorzunehmen. Medizinische Eingriffe sind häufig sogar geboten. Es erscheint nicht nur zulässig, eine Krebspatientin einer Operation zu unterziehen, wenn die Patientin ohne die Operation sicher sterben würde, wenn es keine erfolgversprechende Alternative zu der Operation gibt und wenn die Patientin die Operation wünscht. Vielmehr sind Ärzte verpflichtet, unter diesen Umständen die Operation vorzunehmen. Wenn die faktische Zustimmung von Patienten riskante Operationen erlaubt und unter Umständen sogar geboten macht, dann, so ließe sich argumentieren, kann aus einer faktischen Zustimmung der Zivilisten – so sie denn erfolgt – auch abgeleitet werden, dass Kriege wie humanitäre Intervention, die Zivilisten einem Todesrisiko aussetzen, erlaubt oder sogar geboten sind. Das Gebot, lebensbedrohlich erkrankte Menschen zu operieren, besteht jedoch beispielsweise dann nicht, wenn eine Ärztin sich damit, dass sie jemanden operiert, selbst einem vergleichbaren Schadensrisiko aussetzt. Typischerweise sind Operationen nur für Patienten riskant, nicht auch für Ärzte. Wenn man jemandem in Not helfen kann, der Hilfe wünscht und sie dringend benötigt, ohne sich selbst zu gefährden, so ist man verpflichtet zu helfen. Für Krieg gilt aber gerade, dass sich Soldaten, die Zivilisten schützen wollen, damit oftmals in Lebensgefahr bringen. Es scheint daher nicht der Fall zu sein, dass Kriege wie humanitäre Interventionen nicht nur erlaubt, sondern sogar geboten sind. Ich Die Frage, ob eine faktische Zustimmung zu einer potentiell schädigenden Handlung auch hinreichend dafür ist, dass die Handlung moralisch erlaubt, lasse ich an dieser Stelle offen.

5

189 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Die Zustimmung von Zivilisten

werde im Folgenden den Gedanken, Staaten seien unter Umständen sogar verpflichtet, Krieg zu führen, wenn Zivilisten einen Krieg ausdrücklich wünschen, nicht weiter nachgehen, sondern stattdessen bei der schwächeren These bleiben, es sei ihnen erlaubt, Krieg zu führen, wenn Zivilisten einem Krieg faktisch zustimmen. Die Überlegung, das gerechtfertigte Führen eines Krieges erfordere die faktische Zustimmung der Zivilisten, die zu sterben drohen, führt jedoch möglicherweise gerade zu dem Schluss, dass ein Krieg nicht zu rechtfertigen ist. Zwar werde ich im Folgenden meine Überlegungen in erster Linie am Beispiel einer humanitären Intervention entwickeln. Jedoch lassen sich diese Überlegungen auch auf Defensivkriege übertragen. Wenn wir annehmen, dass die Verhältnismäßigkeit einer humanitären Intervention von der faktischen Zustimmung der zu Schaden kommen drohenden Zivilisten abhängt, so ergibt sich jedoch aus mindestens drei Gründen, dass humanitäre Interventionen in aller Regel unverhältnismäßig und damit verboten sind.

Die faktische Zustimmung der Zivilisten ist nicht einholbar Es ist es in aller Regel nicht möglich, die Zustimmung der von einem Krieg betroffenen Zivilisten einzuholen. Man kann etwa vor einer humanitären Intervention keine Wahl darüber abhalten, ob alle Zivilisten, die im Zuge der Intervention sterben könnten, mit einer Intervention einverstanden sind. Dies ist zum einen deshalb nicht möglich, weil es nicht legitim ist, wenn ein Staat in einem anderen souveränen Staat wählen lässt. Es müsste der Staat, gegen den interveniert werden soll, die Wahl veranlassen. Doch das wird er selbstverständlich nicht tun, da er kein Interesse daran haben kann, seine Bevölkerung darüber abstimmen zu lassen, ob gegen ihn Krieg geführt werden dürfe. Zum anderen könnte auch dann, wenn es legitim wäre, eine geheime Wahl in einem anderen Staat durchzuführen, die Wahl nicht so durchgeführt werden, dass alle Zivilisten, die abstimmen wollen, auch abstimmen können. Ausgerechnet diejenigen Menschen, die in einem Regime verfolgt werden und denen mit einer Intervention geholfen werden soll, würden sich wahrscheinlich nicht zu einer Wahlurne begeben können, ohne ihr Leben zu riskieren. Es ließe sich einwenden, dass diese Schwierigkeit dann nicht bestünde, wenn die Abfrage der Zustimmung der Zivilisten beispielsweise im Rahmen einer Online-Befragung erfolgen würde. Dabei ist jedoch zu 190 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Faktische Zustimmung

bedenken, dass Zivilisten, die verfolgt werden oder in einer Bürgerkriegs-Region leben, mitunter nicht die Möglichkeit haben, im Befragungszeitraum das Internet zu nutzen und so an der Befragung teilzunehmen. Wenn eine humanitäre Intervention nur erlaubt ist, wenn faktische Zustimmung zu ihr vorliegt, diese aber zugleich praktisch nicht einholbar ist, dann ist eine humanitäre Intervention nicht erlaubt.

Faktische Zustimmung (und Ablehnung) ist nicht immer verlässlich Darüber hinaus lässt sich nicht mit Gewissheit entscheiden, ob eine geäußerte Ablehnung (angenommen, eine Umfrage wäre doch möglich gewesen) ernst zu nehmen und entsprechend zu berücksichtigen ist. Wir wissen nicht, ob eine Person eine Intervention ablehnt, weil sie die Intervention tatsächlich nicht will, oder ob sie die Intervention ablehnt, weil sie Angst vor Sanktionen seitens des Regimes hat, die im Falle einer Zustimmung drohen. Außerdem ist nicht in jedem Fall auszuschließen, dass eine Person eine Intervention ablehnt, weil sie irrational ist, oder dass sie eine Intervention aufgrund falscher Informationen ablehnt. Gerade in einem diktatorischen Regime können wir davon ausgehen, dass die Regierung ihrer Bevölkerung nicht den wahren Grund für eine humanitäre Intervention gegen das Regime mitteilen wird, sondern die Intervention als einen Krieg ausgeben wird, der beispielsweise nur dem Zweck dient, sich bestimmter Ressourcen zu bemächtigen. Der Bevölkerung eines diktatorischen Regimes stehen oftmals bestimmte Informationen gar nicht zur Verfügung und sie werden mit Informationen versorgt, die sie unter Umständen gerade dazu bringen, eine Intervention ausdrücklich abzulehnen. Die faktische Ablehnung einer humanitären Intervention scheint also nicht in jedem Fall verlässlich zu sein. Dass sich einige Zivilisten gegen eine Intervention aussprechen, muss, so ließe sich argumentieren, also nicht bedeuten, dass die Intervention nur schwer zu rechtfertigen ist, zumindest dann nicht, wenn es gute Gründe gibt, die Ablehnung der Zivilisten für unzuverlässig zu halten. Es ist jedoch so, dass mit Blick auf medizinische Behandlungen nicht gilt, dass die Ablehnung einer Behandlung nicht berücksichtigt werden muss, wenn die Genese der Ablehnung fragwürdig ist. Eine Patientin, die aufgrund ihrer religiösen Überzeugungen eine Bluttransfusion ablehnt, mag mancher als irrational bezeichnen. Dennoch 191 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Die Zustimmung von Zivilisten

wird ihre Ablehnung respektiert. Eine Patientin, die eher sterben als eine große Operationsnarbe davontragen will, ist offenbar irrational in ihrer Entscheidung. Aber sollte sie trotz gründlicher Aufklärung bei dieser Entscheidung bleiben, wird sie nicht operiert werden. Wir gestehen es Menschen normalerweise zu, Entscheidungen trotz mangelnder Informationen oder mangelnder Rationalität selbst treffen zu können und respektieren diese Entscheidungen, selbst wenn diese Entscheidungen sie das Leben kosten können. Wir respektieren diese Entscheidungen zumindest dann, wenn die Zurechnungsfähigkeit der Personen nicht grundsätzlich infrage gestellt werden kann, wie etwa bei Demenzkranken, Kindern oder Menschen mit schweren psychischen Leiden. Wenn jedoch in diesen Fällen gilt, dass normalerweise die faktische Ablehnung von Personen ernst zu nehmen ist, obwohl eine Handlung in ihrem Interesse wäre, dann erscheint es begründungsbedürftig, weshalb eine humanitäre Intervention auch dann noch erlaubt sein sollte, wenn es Zivilisten gibt, die diese falsch ablehnen. Typischerweise hängt allerdings von einer medizinischen Behandlung nur das eigene Leben ab, nicht auch noch das Leben anderer Menschen. Im Falle einer humanitären Intervention hängt von der Entscheidung einer Zivilistin jedoch nicht nur ihr eigenes Leben ab. Dieser Unterschied könnte erklären, weshalb in medizinischen Fällen die Ablehnung einer Patientin eine dennoch erfolgende Behandlung moralisch falsch macht, die Ablehnung einer humanitären Intervention durch eine Zivilistin die Intervention dagegen nicht unbedingt falsch macht. Dass eine faktische Ablehnung manchmal unzuverlässig ist, weil sie auf falschen Überzeugungen basiert oder irrational ist, führt in der Regel nicht dazu, dass die Ablehnung nicht respektiert werden muss. Auch eine faktische Zustimmung kann darüber hinaus unzuverlässig sein. Die faktische Zustimmung von Zivilisten zu einer humanitären Intervention kann fragwürdig sein, wenn sie beispielsweise dadurch erzwungen wird, dass ihnen Befürworter einer Intervention mit Sanktionen drohen oder auf andere Weise unzulässig auf die Entscheidenden einwirken. Die Zustimmung drückt dann nicht den echten Willen der Personen aus. 6 Die Forderung, eine faktische Zustimmung müsse daraufhin abgesichert werden, dass sie freiwillig abgegeben wird, kennen wir auch aus anderen Kontexten. So ist es 6

Vgl. ebd.

192 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Faktische Zustimmung

beispielsweise in Deutschland nicht erlaubt, einem Menschen aktive Sterbehilfe in Form einer Giftspritze zukommen zu lassen. Eine mögliche Begründung für das Verbot aktiver Sterbehilfe ist die, dass nicht in jedem Fall ausgeschlossen werden kann, dass jemand der Gabe der Spritze nur deshalb zustimmt, weil seine Angehörigen ihn unter Druck setzen. Mit Blick auf medizinische Beispiele fällt jedoch auf, dass es wichtiger erscheint, eine tatsächlich gegebene Zustimmung daraufhin zu überprüfen, ob sie selbstbestimmt erfolgt, als eine faktische Ablehnung auf eine fragwürdige Genese zu überprüfen. Es scheint, als sei der Anspruch einer Person darauf, dass ihr ausdrückliches Veto zu einer Handlung berücksichtigt wird, stärker als der Anspruch einer Person darauf, ihre Zustimmung zu beachten. Dass es Zivilisten gibt, die eine humanitäre Intervention ablehnen, auch wenn sie ihnen dienlich ist, stützt daher die These, humanitäre Interventionen seien äußerst schwer zu rechtfertigen. Dies wäre zumindest dann der Fall, wenn die Erlaubtheit einer humanitären Intervention davon abhängt, ob die von ihr betroffenen Zivilisten dieser faktisch zustimmen. Die Zulässigkeit humanitärer Interventionen auch von der faktischen Zustimmung der möglichen Opfer einer Intervention abhängig zu machen, scheint nur dann nicht in ein Verbot humanitärer Interventionen zu münden, wenn entweder eine einhellige Zustimmung vorliegt oder wenn plausibel gemacht werden kann, dass es nicht notwendig ist, dass alle Betroffenen der Intervention zustimmen. Der Frage, inwiefern es nötig ist, dass alle Zivilisten einer Intervention zustimmen, werde ich mich in Abschnitt 6.6 widmen.

Nicht alle Betroffenen stimmen einer Intervention faktisch zu Eine schädigende Handlung auszuführen, ist in der Regel moralisch verboten, wenn die Person, die zu Schaden zu kommen droht, das Ausführen der Handlung ausdrücklich ablehnt. 7 Wenn es also eine Zivilistin gibt, die eine humanitäre Intervention ablehnt, so müsste Ausgenommen sind hierbei Personen, die geeignete Adressaten für Schädigungen sind. Ob eine Angreiferin einer gewaltsamen Verteidigung gegen sie zustimmt, ist nicht relevant dafür zu bestimmen, ob die Verteidigung und damit die Schädigung der Angreiferin moralisch erlaubt ist.

7

193 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Die Zustimmung von Zivilisten

es ebenso verboten sein, diese Zivilistin im Krieg dem Risiko zu sterben auszusetzen. Gegenüber dieser Zivilistin ist eine Intervention nicht zu rechtfertigen. Die humanitäre Intervention gegen den ausdrücklichen Willen dieser Zivilistin durchzuführen, scheint nicht damit vereinbar, den Willen von Person angemessen zu respektieren. Der Umstand, dass andere Zivilisten einer Intervention ausdrücklich zustimmen, würde die Intervention und damit das Übergehen des Willens dieser einen Zivilistin gegenüber dieser Zivilistin nicht leichter zu rechtfertigen machen. Es scheint, als erfordere die moralische Zulässigkeit einer humanitären Intervention die Zustimmung aller Betroffenen. The most obvious difficulty with the Consent Principle is that if one takes its underlying rationale seriously, it is hard to see how intervention could be justified without unanimous consent. How could the fact that others consent make the intervention any less disrespectful toward those who do not consent? Unanimous consent, of course, is a requirement that will virtually never be satisfied, in which case the Consent Principle would never allow intervention. 8

Sollte gelten, dass eine humanitäre Intervention verboten wäre, wenn nicht alle Zivilisten der Intervention ausdrücklich zustimmen, dann ergäbe sich daraus, dass humanitäre Interventionen verboten wären, sobald es Zivilisten gibt, die sich gegen eine Intervention aussprechen und deren Ablehnung im Handeln berücksichtigt werden muss. Und es ist fraglich, ob der Wille von Personen hinreichend berücksichtigt wird, wenn die Intervention mit einem Verweis darauf durchgeführt wird, dass andere Personen die Intervention ausdrücklich wünschen. Eine humanitäre Intervention könnte jedoch dann erlaubt sein, wenn die Zivilisten, die im Zuge einer Wahl oder Online-Umfrage gegen die Intervention gestimmt haben, identifizierbar wären und wenn sichergestellt werden könnte, dass diese Zivilisten nicht dem Risiko ausgesetzt werden, im Krieg zu Schaden zu kommen. Es dürfte sich also nicht um eine geheime Wahl oder eine anonyme Umfrage handeln. Bei einer geheimen Wahl oder anonymen Umfrage wäre nämlich nur bekannt, dass jemand die Intervention ablehnt, aber nicht, wer sie ablehnt. Es wäre also nicht bekannt, wer dem Risiko einer Schädigung ausgesetzt werden dürfte bzw. gegenüber wem eine Schädigung gerechtfertigt wäre. Doch selbst im Falle einer offenen Wahl oder nicht-anonymisierten Umfrage bliebe eine humanitäre Inter8

Buchanan 2013, S. 317.

194 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Kontrafaktische Zustimmung

vention problematisch. Denn es kann im Krieg praktisch nicht sichergestellt werden, dass die Zivilisten, von denen bekannt ist, dass sie sich gegen eine Intervention ausgesprochen haben, nicht dem Risiko ausgesetzt werden, im Krieg zu Schaden zu kommen.

6.4 Kontrafaktische Zustimmung Eine Alternative dazu, nur eine faktische Zustimmung als moralisch bindend anzusehen, besteht darin, von einer kontrafaktischen Zustimmung auszugehen. Gemeint ist damit eine Zustimmung, die nicht tatsächlich vorliegt, von der jedoch angenommen wird, dass sie erfolgen würde, wenn die betreffende Person unter den gegebenen Umständen in der Lage wäre, ihre Zustimmung zu geben, d. h. wenn sie zum Entscheidungszeitpunkt anwesend oder erreichbar und insoweit ansprechbar sind, dass sie die ihre Interessen vertreten können. Medizinische Behandlungen lassen sich beispielsweise dann mit einem Verweis auf die kontrafaktische Zustimmung der Patienten rechtfertigen, wenn sie zum Zeitpunkt der Entscheidung nicht ansprechbar sind. Wenn jemand bewusstlos in ein Krankenhaus eingeliefert wird, warten Ärzte nicht mit einer überlebensnotwendigen Operation, bis die faktische Zustimmung in die Operation eingeholt werden kann, sondern gehen davon aus, dass die Person der Operation zustimmen würde, wenn sie bei Bewusstsein wäre, weil die Ärzte davon ausgehen, dass die Person wollen würde, dass man ihr hilft. Von der kontrafaktischen Zustimmung der Person kann zumindest dann ausgegangen werden, wenn keine Informationen vorliegen, die darauf hindeuten, dass sie die Operation nicht wollen würde (beispielsweise in Form einer Patientenverfügung). Der Verweis auf eine kontrafaktische statt auf eine faktische Zustimmung von Personen hat den Vorteil, dass so auch Handlungen gerechtfertigt werden können, wenn es nicht möglich ist, die ausdrückliche Zustimmung der betroffenen Personen einzuholen. Wir haben gesehen, dass Kriege wie humanitäre Interventionen wohl nicht zu rechtfertigen sind, wenn ihre Zulässigkeit davon abhängt, ob Zivilisten ihr faktisch zustimmen. Denn es ist praktisch nur schwerlich möglich, ihre faktische Zustimmung in Form einer Wahl oder einer Online-Befragung einzuholen. Ein Rekurs auf eine kontrafaktische Zustimmung ist nicht mit diesem Problem konfrontiert. Dass es nicht möglich ist, jede einzelne Zivilistin zu fragen, ob sie eine 195 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Die Zustimmung von Zivilisten

humanitäre Intervention wünscht, stellt deshalb keine Schwierigkeit dar, weil es ausreicht, wenn man davon ausgehen kann, dass sich alle Zivilisten unter den aktuell gegebenen Umständen für eine Intervention aussprechen würden, wenn sie die Möglichkeit hätten, ihre Zustimmung zu geben. Es ist wichtig hervorzuheben, dass es sich bei einer kontrafaktischen Zustimmung nicht um eine Zustimmung und stark idealisierten Bedingungen handelt, also nicht um eine Zustimmung, die Personen beispielsweise dann abgeben würden, wenn sie perfekt rational wären oder wenn die ihnen Informationen fehlten, die ihnen unter den gegebenen Umständen tatsächlich zur Verfügung stehen. Das Konzept der kontrafaktischen Zustimmung setzt erst einmal bei den Interessen, Wünschen und Überzeugungen an, die Personen tatsächlich haben und welche die Grundlage für ihre Zustimmung oder Ablehnung bilden würden. Die Anforderungen an eine moralisch zu berücksichtigende kontrafaktische Zustimmung lassen sich jedoch auch leicht idealisieren. Personen sind mitunter nicht oder falsch informiert. Sie haben manchmal aufgrund man Manipulation falsche Überzeugungen darüber, was der Fall ist, oder darüber, was der Beförderung ihrer Wünsche und Interessen dienlich oder abkömmlich ist. Mit Blick auf die moralische Zulässigkeit einer potentiell schädigenden Handlung lautet die zu stellende Frage dann nicht, ob die Personen, die einen Schaden erleiden könnten, ausgehend von den Wünschen, Interessen und Überzeugungen, die sie de facto haben, der Handlung zustimmen würden. Die Frage lautet stattdessen, ob sie zustimmen würden, wenn sie bestimmte Wünsche und Interessen sowie wahre Überzeugungen darüber haben würden, wie die Umstände sind und welche Auswirkungen die Handlung auf sie haben würde. Sowohl eine anforderungslose als auch eine etwas anforderungsreichere Formulierung des Konzepts der kontrafaktischen Zustimmung setzt bei den bekannten Wünschen, Interessen und Überzeugungen von Personen an. Zwar besteht ein Vorteil, mittels kontrafaktischer anstelle faktischer Zustimmung zu argumentieren, darin, die Schwierigkeit zu umgehen, dass die Zustimmung praktisch nicht einholbar ist. Es ist im Falle kontrafaktischer Zustimmung gerade nicht nötig, die Zustimmung einzuholen. Jedoch lässt sich die moralische Zulässigkeit humanitärer Interventionen auch nicht mit einem Verweis auf die kontrafaktische Zustimmung der Zivilisten erweisen. Erstens ist auch eine kontrafaktische Zustimmung Betroffener nicht immer ver196 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Kontrafaktische Zustimmung

lässlich. Zweitens gibt es Menschen, die eine humanitäre Intervention kontrafaktisch ablehnen. Hinzu kommt die Schwierigkeit, dass unklar ist, ob kontrafaktische Zustimmung impliziert, dass Zivilisten durch ihre Zustimmung von ihren Ansprüchen auf Nichtschädigung zurücktreten.

Kontrafaktische Zustimmung (und Ablehnung) ist nicht immer verlässlich Wird das Konzept der kontrafaktischen Zustimmung so verstanden, dass es bei den tatsächlichen Wünschen, Interessen und Überzeugungen ansetzt, so wenig informiert sie auch sein mögen, besteht auch hier die Schwierigkeit, dass sowohl eine kontrafaktische Zustimmung als auch eine kontrafaktische Ablehnung der Zivilisten mitunter nicht verlässlich sind, sodass fraglich bleibt, ob sie berücksichtigt werden müssen. Manchen Zivilisten würden eine Intervention möglicherweise auf der Grundlage von Überzeugungen ablehnen, die das Ergebnis gezielter Manipulation oder Desinformation hinsichtlich der Absichten der Interventionsmacht sind. Geht man von der Annahme aus, dass der Wille von Personen auch dann zu respektieren ist, wenn dessen Genese fragwürdig ist, dann scheint es jedoch, dass nicht nur eine faktische Ablehnung aus falschen Gründen Berücksichtigung finden muss, sondern auch eine kontrafaktische Ablehnung aus falschen Gründen. Im vorherigen Abschnitt hat sich gezeigt, dass eine nicht verlässliche Ablehnung in der Regel ernst zu nehmen ist, sofern sich nicht grundsätzlich bezweifeln lässt, dass die betreffenden Personen nicht dazu in der Lage sind, selbstbestimmt zu entscheiden. Für eine nicht verlässliche Zustimmung gilt dies dagegen nicht in gleicher Weise. Es scheint problematischer, jemanden einem Schadensrisiko auszusetzen, dem er auf der Grundlage falscher Überzeugungen zustimmt, als jemanden nicht einem Schadensrisiko auszusetzen, der dieses aufgrund falscher Überzeugungen ablehnt. Wenn es also Zivilisten gibt, die aufgrund falscher Überzeugungen eine Intervention ablehnen würden, muss ihre Ablehnung dennoch berücksichtigt werden – und das spräche gegen eine Intervention. Wenn es aber Zivilisten gibt, die einer Intervention zustimmen würden, weil sie mit beispielsweise die falsche Hoffnung haben, eine Intervention brächte ihnen großen Wohlstand, dann scheint es, als zähle die Zustimmung dieser Zivilis197 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Die Zustimmung von Zivilisten

ten nicht. Sie kann also nicht dazu dienen, eine humanitäre Intervention zu rechtfertigen. Das Problem, dass sowohl eine kontrafaktische Zustimmung als auch eine kontrafaktische Ablehnung unzuverlässig sein kann, besteht weniger, wenn die Anforderungen, unter denen Zivilisten ihre kontrafaktische Zustimmung erteilen, entsprechend meiner vorherigen Darstellung so angehoben werden, dass es um eine Zustimmung, die Zivilisten ausdrücken würden, wenn sie bestimmte Wünsche und Interessen sowie ausschließlich wahre Überzeugungen bezüglich der Umstände und der Auswirkungen einer humanitären Intervention hätten. Eine vorliegende Manipulation der Zivilisten durch ein Regime würde dann keine Schwierigkeit mehr darstellen. Die kontrafaktische Zustimmung oder Ablehnung würde dann unter der Voraussetzung erfolgen, dass Zivilisten um die tatsächlichen Verbrechen ihres Regimes wissen. Damit wäre das Problem ausgeräumt, dass Zivilisten aufgrund mangelnder Informiertheit eine humanitäre Intervention ablehnen würden und diese Ablehnung dennoch berücksichtigt werden müsste und damit gegen eine Intervention spräche. Was jedoch bleibt, ist die Ablehnung oder Zustimmung aufgrund irrationaler Wünsche oder Einstellungen, die im Rahmen des Konzepts der kontrafaktischen Zustimmung nicht durch weitere Idealisierungen eine Korrektur erfahren. So könnten beispielsweise einige Zivilisten ungerechtfertigte Vorurteile gegenüber der Interventionsmacht haben oder grundsätzlich übermäßig misstrauisch gegenüber Fremden sein und auf dieser Grundlage eine humanitäre Intervention ablehnen. Eine unzuverlässige kontrafaktische Ablehnung müsste dennoch berücksichtigt werden.

Nicht alle Betroffenen stimmen einer Intervention kontrafaktisch zu Es gibt in aller Regel Zivilisten, die einer Intervention nicht zustimmen würden, wenn sie die Möglichkeit hätten, ihre Zustimmung oder Ablehnung kundzutun. Dafür, dass einige Zivilisten eine humanitäre Intervention kontrafaktisch ablehnen, kann es verschiedene Gründe geben. Eine humanitäre Intervention ablehnen würden diejenigen Zivilisten, die erst durch eine Intervention in Lebensgefahr geraten, weil sie nicht zu der bedrohten Personengruppe gehören, auf deren Schutz die Intervention zielt. Ihnen gegenüber wäre die Intervention 198 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Kontrafaktische Zustimmung

dann nicht zu rechtfertigen. Auch lehnen mitunter einige der Zivilisten eine Intervention kontrafaktisch ab, die zu der Bevölkerungsgruppe gehören, deren Leben geschützt werden soll, weil sie die das sie bedrohende Regime selbst stürzen wollen oder weil sie zwar die Hilfe eines anderen Staates wünschen, jedoch nicht von dem Staat, der intervenieren will. 9 Wie bereits bei der faktischen Zustimmung kommt auch bei der kontrafaktischen Zustimmung hinzu, dass eine Interventionsmacht nur wüsste, dass es Zivilisten gibt, die eine humanitäre Intervention ablehnen, diese Zivilisten aber nicht identifizierbar sind. Es wäre also nicht bekannt, welche Zivilisten einem Risiko ausgesetzt werden dürfen bzw. gegenüber welchen Zivilisten eine Schädigung gerechtfertigt wäre. Und selbst wenn dies bekannt wäre, könnte nicht sichergestellt werden, dass das Leben der Zivilisten, die eine humanitäre Intervention ablehnen würden, nicht gefährdet wird. Wieder stellt sich die Frage, inwiefern ein Verweis darauf, dass viele andere Zivilisten eine Intervention begrüßen würden, es rechtfertigen kann, dem kontrafaktischen Willen weniger Zivilisten zuwider zu handeln und sie dem Risiko auszusetzen, im Zuge der Intervention zu sterben. Ich werde diese Frage in Abschnitt 6.6 so beantworten, dass eine humanitäre Intervention nur dann moralisch erlaubt sein kann, wenn alle betroffenen Zivilisten dieser zustimmen. Dass die kontrafaktische Zustimmung von Zivilisten überhaupt die Möglichkeit eröffnet, eine humanitäre Intervention zu rechtfertigen, setzt allerdings voraus, dass die Zivilisten mit ihrer Zustimmung ihre andernfalls zu berücksichtigenden Ansprüche auf Nichtschädigung nicht mehr geltend machen können. Willigen Personen tatsächlich in eine die schädigende Handlung ein, treten sie ihren Anspruch darauf, nicht geschädigt zu werden, ab und können sich im Falle einer Schädigung entsprechend nicht berechtigt beschweren und eine Wiedergutmachung einfordern. Es bleibt zu klären, ob eine Person, die lediglich zustimmen würde, auch ihren Anspruch auf Nichtschädigung abtritt.

Vgl. McMahan 2010, S. 50. McMahan diskutiert hier, ob die irakische Bevölkerung, sofern sie überhaupt befreit werden wollte statt sich selbst zu befreien, ausgerechnet von den USA befreit werden wollte. Vgl. auch Buchanan 2013, S. 318. Buchanan stellt heraus, dass eine faktische Ablehnung der Taten eines Regimes nicht mit der Zustimmung zu einer Intervention von außen gleichzusetzen ist.

9

199 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Die Zustimmung von Zivilisten

Hebt kontrafaktische Zustimmung die Ansprüche von Personen auf? Personen haben einen Anspruch darauf, nicht geschädigt werden. Indem sie in eine Handlung, die sie potentiell schädigt, einwilligen, treten sie diesen Anspruch ab. Sie können ihn im Falle des Eintretens eines Schadens entsprechend nicht mehr gelten machen. Das bedeutet, dass sie keinen moralischen Anspruch auf Beschwerde und Wiedergutmachung des Schadens haben. Dies gilt zumindest dann, wenn Personen faktisch zustimmen, also tatsächlich einen Anspruch abtreten. Im Falle einer kontrafaktisch bleibenden Zustimmung geben Personen die Ansprüche, die sie haben, jedoch nicht tatsächlich auf. Sie würden sie aufgeben, wenn man sie danach fragte. Es bleibt fraglich, ob daraus, dass jemand kontrafaktisch in einer Handlung einwilligt, folgt, dass er sich nicht berechtigterweise beschweren kann, sollte er einen Schaden erleiden. Es bleibt also fraglich, ob Ansprüche, von denen jemand lediglich zurücktreten würde, nicht berücksichtigt werden müssen. Sogar dann, wenn wir annehmen, dass eine kontrafaktische Zustimmung von Personen impliziert, dass diese von ihren Ansprüchen darauf, nicht geschädigt zu werden, zurücktreten, scheint ein Verweis auf die kontrafaktische Zustimmung wenig geeignet sein zu begründen, dass das Führen humanitärer Kriege erlaubt ist. Denn es bleibt die Schwierigkeit, dass begründet werden muss, weshalb eine humanitäre Intervention auch dann gerechtfertigt ist, wenn nicht alle ihre kontrafaktische Einwilligung geben.

6.5 Hypothetische Zustimmung Eine dritte Möglichkeit, die für die Zulässigkeit einer schädigenden Handlung relevante Art der Zustimmung zu verstehen, bildet eine Zustimmung, die unter den gegebenen Umständen weder tatsächlich erfolgt noch erfolgen würde. Stattdessen handelt es sich um eine Zustimmung, die Personen geben würden, wenn sie rational wären oder wenn sie unter epistemischen Bedingungen entscheiden würden, die nicht den tatsächlichen entsprechen. Während sowohl faktische als auch kontrafaktische Zustimmung von den Interessen, (wahren) Überzeugungen und Informationen ausgehen, die Personen tatsächlich haben, wird mit einer hypothetischen Zustimmung eine Ideali200 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Hypothetische Zustimmung

sierung der Bedingungen, unter denen die Zustimmung erfolgt, vorgenommen. Das Konzept der hypothetischen Zustimmung kann dabei unterschiedlich modelliert werden. Zum einen kann es sich bei einer hypothetischen Zustimmung um eine Zustimmung unter hohen Rationalitätsstandards handeln. Hierbei würde man von der Annahme ausgehen, dass Personen mit Blick auf die Situation sehr gut informiert sind (also z. B. keine falschen Überzeugungen über die Machenschaften eines Regimes haben), dass sie Gründe erkennen und in ihrer Deliberation vollständig berücksichtigen und dass sie ihr Wohlergehen und die Mittel, die diesem dienlich oder abträglich sind, gut im Blick und keine irrationalen Wünsche oder Interessen haben. Zum anderen kann es sich bei einer hypothetischen Zustimmung um eine Zustimmung handeln, die Personen geben würden, wenn ihre epistemische Lage derart ist, dass sie nicht über bestimmte Informationen verfügen, die sie normalerweise haben oder haben könnten. So könnte beispielsweise angenommen werden, dass sie nicht wissen, ob sie zu der Gruppe von Personen gehören, deren Schutz eine humanitäre Intervention dient, oder ob Kämpfe in ihrer Nähe stattfinden werden Das bereits mehrfach vorgebrachte Beispiel einer Operation lässt sich so beschreiben, dass die Person, die eine Operation benötigt, ihr dann zustimmen würde, wenn sie rational wäre. Eine Person, die aufgrund schlechter Erfahrungen sehr wenig Vertrauen zu Ärzten hat, willigt möglicherweise nicht tatsächlich in eine Operation ein. Sie würde auch nicht in eine Operation einwilligen, wenn man ihre Zustimmung erfragte. Aber sie könnte in eine Operation einwilligen, wenn sie weniger misstrauisch wäre. Denn die Patientin hat einen guten Grund, der Operation zuzustimmen, da sie von der Operation profitiert. Der Umstand, dass sie diesen Grund wenig oder gar nicht in ihrer Deliberation berücksichtigt, weil sie irrational ist, spricht nicht gegen die Operation. Eine Handlung mit einem Verweis auf eine hypothetische Zustimmung der Betroffenen zu rechtfertigen, scheint aber überhaupt nur dann zulässig, wenn es keine Möglichkeit gibt, den tatsächlichen Willen einer Person zu ermitteln. Dass eine Operation vernünftigerweise zustimmungsfähig ist, weil sie jemandes Leben rettet, rechtfertigt die Operation dann nicht, wenn eine Patientin die Operation ausdrücklich ablehnt (und möglicherweise auch, wenn Informationen vorliegen, die begründet annehmen lassen, dass sie die Operation ablehnen würde). Eine faktische Ablehnung trumpft eine hypothetische Zustimmung. Ob Personen einer 201 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Die Zustimmung von Zivilisten

Handlung, die sie schädigen könnte, zustimmen würden, wenn sie vernünftig wären, ist also nur dann für die Frage nach der Zulässigkeit der Handlung relevant, wenn es nicht möglich, ihre faktische Zustimmung einzuholen. Wir haben gesehen, dass es im Falle einer humanitären Intervention in aller Regel praktisch nicht möglich ist, die betroffenen Zivilisten daraufhin zu befragen, ob sie eine Intervention befürworten. Gegeben auch, dass nur wenig Informationen darüber zur Verfügung stehen, welche Interessen, Überzeugungen und Informationen sie haben und wie sie entsprechend abstimmen würden, scheint es naheliegend, eine Interventionsentscheidung danach auszurichten, ob eine Intervention hypothetisch zustimmungsfähig ist. Eine humanitäre Intervention wäre danach dann erlaubt, wenn Zivilisten der Intervention zustimmen würden, wenn sie rational wären oder wenn sie nur über ganz bestimmte Informationen über die Situation verfügen bzw. wenn sie einen hinreichenden Grund haben, der Intervention zuzustimmen. Peter Schaber glaubt, unter Rekurs auf hypothetische Zustimmung ließen sich humanitäre Interventionen rechtfertigen. Die Menschen, deren Leben in Gefahr ist und die es mit einer Intervention zu schützen gilt, hätten nämlich insofern ein vernünftiges Interesse an einer Intervention, als sie ihrem Schutz dient. Zumindest ein Teil der Menschen, die durch eine Humanitäre Intervention in Mitleidenschaft gezogen werden, sind zugleich mögliche Opfer der Rechtsverletzungen, um deren Verhinderung es einer Humanitären Intervention geht. Das ist meiner Ansicht deshalb moralisch von Belang, weil diese Menschen ein Interesse daran haben, dass interveniert wird. Wenn man interveniert, um sie vor Verletzungen ihrer Grundrechte zu schützen, tut man etwas, was in ihrem Sinne ist. Sie werden entsprechend rationalerweise in eine Intervention einwilligen, und dies auch dann, wenn dies für sie mit dem Risiko verbunden ist, schwer geschädigt oder getötet zu werden. 10

Ein vernünftiges Interesse an der Intervention haben die Menschen Schaber zufolge dann, wenn das Risiko, im Zuge der Intervention zu sterben, für sie gering ist. 11 Doch wann wäre das Risiko für sie, durch die Intervention zu sterben, gering genug ist, um in Kauf genommen werden zu dürfen? 10 11

Schaber 2013, S. 135 f. Vgl. ebd., S. 136.

202 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Hypothetische Zustimmung

Unklar bleibt, wie hoch die Wahrscheinlichkeit zu sterben sein darf, um als ein Risiko bezeichnet werden zu können, dem Personen gerechtfertigterweise ausgesetzt werden dürfen. Schaber nimmt offenbar an, das Risiko, bei einer Intervention zu sterben, sei deutlich geringer als das Risiko, im Falle eines Nichtintervenierens zu sterben. Dies ließe sich als ungerechtfertigt optimistisch kritisieren. 12 Aber wenn wir zugunsten Schabers annehmen, es sei zutreffend, dass das Sterbensrisiko durch eine Intervention deutlich sinkt, dann würde gelten: Wenn mit einer humanitären Intervention ein Völkermord beendet oder verhindert werden kann, dann steigert die Intervention die ex ante Überlebenswahrscheinlichkeit derjenigen, die ziemlich sicher ermordet werden, wenn nicht interveniert wird. Daran, eine möglichst hohe Überlebenswahrscheinlichkeit zu haben, haben Personen ein vernünftiges Interesse. Und Personen können einer Handlung, die in ihrem vernünftigen Interesse ist, zustimmen. Die hypothetische Zustimmung, auf die sich Schaber hier bezieht, ist eine Zustimmung unter Bedingungen perfekter Rationalität: Die Betroffenen werden als Personen vorgestellt, die vollkommen vernünftig sind und entsprechend vernünftige Interessen haben. Es ist vernünftig, nicht sterben zu wollen, und es ist vernünftig, große Überlebenschancen haben zu wollen. Eine Person, die diese Interessen hat und auch ansonsten keine irrationalen Interessen hat, würde einer humanitären Intervention zustimmen. Ob die Zivilisten tatsächlich vernünftig sind in ihren Entscheidungen, spielt hier keine Rolle. 13 Vgl. Müller 2004. Müller warnt hier mit Blick auf den Kosovo-Krieg aus einer konsequentialistischen Perspektive davor, die eigenen technisch-militärischen Möglichkeiten nicht dahingehend zu überschätzen, wie effektiv sie sind und wie riskant sie für Unschuldige sind. Er warnt auch davor, einen Krieg zu führen, ohne über hinreichend gute Informationen zu verfügen. Müller weist auch darauf hin, dass das Risiko, dass ein Krieg zu einer Eskalation führt, in der Regel unterschätzt wird. Müller würde sicherlich gegen Schaber einwenden, dass ganz und gar nicht klar ist, dass eine humanitäre Intervention die Überlebenschancen Betroffener deutlich steigert oder dass das Todesrisiko im Falle einer Intervention deutlich geringer ist als im Falle einer NichtIntervention. 13 Der Gedanke, dass eine (potentiell) schädigende Handlung moralisch erlaubt ist, wenn die betroffenen Personen der Ausführung der Handlung vernünftigerweise zustimmen können, lässt sich in Anlehnung an Scanlon (1998) auch wie folgt wenden: Eine schädigende Handlung ist dann erlaubt, wenn es keine betroffene Person gibt, die einen vernünftigen Grund hat, die Handlung oder ein ihr zugrundeliegendes Prinzip abzulehnen. Ich werde diesen Vorschlag im Folgenden nicht gesondert betrachten. Die vorgetragenen Probleme, die mit einem Rekurs auf eine vernünftige Zustimmung 12

203 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Die Zustimmung von Zivilisten

Angenommen, wir schließen uns Schabers Diagnose an, dass eine Intervention im vernünftigen Interesse derjenigen ist, deren Leben und Grundrechte unabhängig vom Intervenierenden bereits bedroht sind, weil sie ein vernünftiges Interesse daran haben, dass ihre Überlebenschancen möglichst hoch sind und weil sie wissen, dass eine Intervention diese Chancen ex ante steigert. Dann scheitert die Rechtfertigung einer humanitären Intervention nicht daran, dass die zur Rechtfertigung notwendige Zustimmung nicht eingeholt werden kann. Jedoch bringt Schabers Position, oder allgemeiner ein Rekurs auf eine hypothetische Zustimmung von Zivilisten, immer noch mindestens zwei Probleme mit sich, die es fraglich machen, ob eine humanitäre Intervention zulässig ist.

Stimmen alle Betroffenen einer Intervention hypothetisch zu? Wie bereits bei der faktischen Zustimmung gesehen, kann auch für eine hypothetische Zustimmung gelten, dass möglicherweise nicht alle Personen, die bei einer Intervention zu sterben drohen, der Intervention zustimmen. Ob alle potentiell Betroffenen einer Intervention zustimmen können, hängt entscheidend davon ab, auf Grundlage welcher Informationen sie für sich eine Entscheidung treffen. Peter Schaber zufolge können Zivilisten einer Intervention zustimmen, wenn für sie gilt, dass die Intervention ihre Überlebenschancen steigert. Eine Intervention ist im Sinne derer, die von einer Regierung systematisch verfolgt und ermordet werden. Diese Menschen werden nicht erst durch die Intervention bedroht. Sie sind bereits bedroht. Eine humanitäre Intervention steigert aber nicht die Überlebenschancen aller Zivilisten, die zu sterben drohen. Denn für einige Zivilisten wird gelten, dass sie erst durch eine Intervention in Lebensgefahr geraten, da sie nicht zu der von einem Regime bedrohten Gruppe gehören. Diese Zivilisten können einer Intervention nicht zustimmen, wenn wir annehmen, dass jede Zivilistin ein Interesse daran hat, nicht zu sterben. Schaber scheint dieses Problem durchaus zu sehen, wenn er schreibt: Zumindest ein Teil der Menschen, die durch eine Humanitäre Intervention in Mitleidenschaft gezogen werden, sind zugleich mögbestehen, sind meines Erachtens ebenfalls bei dem Konzept vernünftiger Ablehnung einschlägig.

204 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Hypothetische Zustimmung

liche Opfer der Rechtsverletzungen, um deren Verhinderung es einer Humanitären Intervention geht. 14 Doch was ist mit den Menschen, deren Leben eine humanitäre Intervention überhaupt erst bedroht? Lässt sich sagen, dass eine Intervention auch in ihrem vernünftigen Interesse ist und dass sie daher einer Intervention zustimmen können? Schaber selbst sagt dies nicht. Er folgert daraus, dass sie einer Intervention nicht zustimmen können, aber nicht, dass eine Intervention verboten sei. Stattdessen glaubt er, eine Intervention sei trotzdem zulässig, zumindest dann, wenn sie angemessen, d. h. verhältnismäßig ist. 15 Diese Behauptung Schabers irritiert jedoch. Ich hatte eingangs das Verhältnis zwischen Zustimmung und Proportionalität so expliziert, dass die Erfüllung der Proportionalitätsbedingung der Theorie des gerechten Krieges davon abhängt, ob betroffene Zivilisten einem Krieg zustimmen oder ihn ablehnen. Demnach gibt der Umstand, dass unbeteiligte Dritte nicht einwilligen können, gerade Grund zu der Annahme, dass ein Krieg, bei dem diese Unbeteiligten in Gefahr geraten, nicht verhältnismäßig und damit verboten ist. Ich hatte aber auch erwähnt, dass Schaber nicht zu glauben scheint, die Verhältnismäßigkeit einer humanitären Intervention hänge von der Zustimmung der Zivilisten ab. Vielmehr ist es der rechtfertigende Anlass, der nicht vorliegt, wenn es an Zustimmung mangelt. Damit die Intervention insgesamt gerechtfertigt ist, reicht es nicht, dass sie Zustimmung erfährt und damit auch die Bedingung des rechtfertigenden Anlasses erfüllt ist, sondern sie muss darüber hinaus verhältnismäßig sein. Wie Schaber die Proportionalität einer humanitären Intervention versteht, bleibt damit unbeantwortet – möglicherweise rein konsequentialistisch im Sinne einer interpersonellen Aggregation des Wertes von Menschenleben. Diese Vermutung liegt deshalb nahe, weil Schaber meint, der Tod unbeteiligter Dritte, die nicht von einer Intervention profitieren würden und ihr daher zustimmen könnten, sei dann angemessen, wenn die Intervention das Leben vieler Menschen schützt und nur wenige unbeteiligte Dritte das Leben kostet. Ob eine Humanitäre Intervention zulässig ist, hängt […] davon ab, ob sie im Sinne derer ist, die von ihr auch negativ betroffen werden können. Das kann in unterschiedlichem Maße der Fall sein, je nachdem wie groß die Zahl der Menschen ist, die Opfer von Grundrechtsverlet14 15

Schaber 2013, S. 135 (Hervorhebung S. T.). Vgl. ebd., S. 136.

205 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Die Zustimmung von Zivilisten

zungen werden können. In Ruanda 1994 z. B. wären nur sehr wenige Opfer der Kategorie der völlig unbeteiligten Dritten zu zählen gewesen. Deshalb wäre eine Intervention hier angemessen gewesen. 16

Schabers Verständnis der Proportionalitätsbedingung beruht offenbar auf einer interpersonellen Aggregation dessen, wie viele Menschen gerettet und wie viele Menschen getötet werden. Das scheint jedoch aus einer deontologischen Perspektive kein plausibles Verständnis von Verhältnismäßigkeit zu sein. Legen wir einmal die Schwierigkeiten einer Schaber-Interpretation beiseite und treten einen Schritt zurück. Die Frage, ob Zivilisten, darunter auch Unbeteiligte, die sich nicht bereits vor einer humanitären Intervention in Lebensgefahr befinden, einer Intervention hypothetisch zustimmen, hängt davon ab, wie genau die Bedingungen expliziert werden, unter denen die Zivilisten entscheiden. Ob Zivilisten einer humanitären Intervention zustimmen können, entscheidet sich maßgeblich daran, über welche Informationen sie im Entscheidungsszenario verfügen und zu welchem Zeitpunkt sie ihre Entscheidung treffen. Stellen wir uns das Entscheidungsszenario zunächst unter realistischen Bedingungen vor: 17 Alle Zivilisten eines Staates sollen wenige Tage vor einer humanitären Intervention gegen ihr Regime entscheiden, ob sie die zur Debatte stehende Intervention unterstützen oder ablehnen. Angenommen, es sei deutlich wahrscheinlicher, dass die Kämpfe im Zuge der Intervention in der Stadt als auf dem Land geführt werden. Eine Zivilistin, die auf dem Land lebt und weiß, dass sie nicht zu den Personen gehört, deren Leben innerhalb des Regimes bedroht ist, würde der Intervention zustimmen. Denn die Intervention verringert ihre eigenen Überlebenschancen nicht. Eine Zivilistin, Ebd. Wir könnten den Schleier des Nicht-Wissens auch so gestalten, dass wir es mit einem »natural veil of ignorance«, wie Johann Frick (2015, S. 190) diesen nennt, zu tun haben. Natürlich ist er insofern, als den Entscheidenden Informationen, die ihnen normalerweise zur Verfügung stehen, nicht in Form eines Gedankenexperimentes künstlich vorenthalten werden, sondern ihnen fehlen Informationen, die sie auch dann nicht hätten, wenn sie genau wissen, wer sie sind. Sie können auch ohne ein Gedankenexperiment nicht wissen, ob sie durch eine Handlung tatsächlich zu Schaden kommen und in welchem Ausmaß sie einen Schaden erleiden werden. Sie wissen lediglich, dass ein Schadensrisiko besteht und dass irgendwelche Personen einen Schaden erleiden werden. Frick 2015, S. 190. Es ist fraglich, ob es sich hier noch um einen echten Schleier des Nicht-Wissens handelt, wenn die Betroffenen doch über alle Informationen verfügen, über die sie nur verfügen können.

16 17

206 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Hypothetische Zustimmung

die auf dem Land lebt und weiß, dass sie zur Gruppe der Menschen gehört, die vom Regime verfolgt werden, würde der Intervention ebenfalls zustimmen. Ihre Überlebenschancen steigen mit der Intervention. Anders sieht es für die Zivilisten in der Stadt aus. Diejenigen, deren Leben erst durch eine humanitäre Intervention gefährdet wird, würden der Intervention nicht zustimmen, da sie ihre Überlebenschancen verringert. Zivilisten dagegen, die in der Stadt leben und zur bedrohten Gruppe gehören, würden wenige Tage vor der humanitären Intervention dieser zustimmen, sofern das Risiko, im Zuge der Intervention zu sterben, nicht größer ist als das Risiko, durch das Regime getötet zu werden. Ob sich insgesamt eine mehrheitliche Zustimmung zur Intervention ergibt, hängt davon ab, wie viele Menschen auf dem Land und in der Stadt leben und wie viele, insbesondere in der Stadt, zur Gruppe der Zivilisten gehören, deren Leben ein Regime bedroht. Je nach Verteilung der Personen auf die genannten Gruppen stimmt die Mehrheit der Zivilisten der Intervention zu oder lehnt sie ab. In jedem Fall aber gibt es Zivilisten, die eine Intervention ablehnen würden, weil sie ihre Überlebenschancen verringert. Es bliebe zu klären, auf der Grundlage welcher Überlegungen es sich rechtfertigen lässt, die humanitäre Intervention in Anbetracht dessen durchzuführen, dass es Menschen gibt, die diese gerechtfertigt ablehnen. Dieses Szenario kann nun so abgewandelt werden, dass den Zivilisten einige der Informationen, die ihnen im ursprünglichen Fall zur Verfügung stehen, fehlen, indem der Zeitpunkt der Entscheidung vorverlagert wird. Angenommen, einige Wochen vor einer humanitären Intervention sei noch vollkommen unklar, ob die Kämpfe eher in der Stadt oder eher auf dem Land stattfinden werden. Die Zivilisten, die auf dem Land leben und von sich wissen, dass sie von ihrem Regime nichts zu befürchten haben, würden der Intervention nun nicht mehr zustimmen, da die Intervention ihre Überlebenschancen verringert. Wenn die Gruppe der Menschen, die erst durch eine Intervention in Lebensgefahr geraten, größer ist als die Gruppe der Menschen, deren ex ante-Überlebenschancen mithilfe einer Intervention steigen, so wird die Mehrheit der Zivilisten die Intervention ablehnen. Entscheidet sich die Zulässigkeit humanitärer Interventionen am hypothetischen Willen der Mehrheit der betroffenen Zivilisten, so wäre die humanitäre Intervention in diesem Fall Schaber zufolge moralisch verboten. Mehrheitlich zustimmungsfähig wäre sie nur dann, wenn 207 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Die Zustimmung von Zivilisten

die Gruppe der vom Regime bedrohten Zivilisten größer ist als die Gruppe der bisher nicht bedrohten Zivilisten. Gegeben, dass es oftmals Minderheiten sind, die sich einer Verfolgung ausgesetzt sehen, führt dies dazu, dass eine Intervention in den meisten Fällen verboten wäre. Der Rekurs auf eine hypothetische Zustimmung der Zivilisten kann sogar zu dem Ergebnis führen, dass alle Zivilisten eine humanitäre Intervention ablehnen würden. Angenommen, die Kämpfe werden sowohl auf dem Land als auch in der Stadt stattfinden und die Zivilisten auf dem Land und in der Stadt wissen nicht, zu welcher Personengruppe sie gehören, weil der Entscheidungszeitpunkt noch vor dem Zeitpunkt liegt, zu dem das Regime begonnen hat, das Leben bestimmter Bevölkerungsgruppen zu bedrohen. Die Zivilisten wissen dann, dass Menschen in einem systematisch verfolgt und ermordet werden, aber sie wissen nicht, ob sie selbst es sind, die verfolgt werden. Wenn man annimmt, dass es wahrscheinlicher ist, jemand zu sein, dem keine Verfolgung durch ein Regime droht, würden alle Zivilisten eine humanitäre Intervention ablehnen. Denn für jede Zivilistin würde gelten, dass ihre ex ante-Überlebenschancen durch eine Intervention wahrscheinlich sinken. Eine humanitäre Intervention, die für niemanden zustimmungsfähig ist, wäre nach Schaber verboten. 18 Eine einhellige hypothetische Zustimmung ließe sich erreichen, wenn man von der Annahme ausgeht, dass im zuletzt beschriebenen Szenario die Wahrscheinlichkeit, Teil der bedrohten Personengruppe zu sein, größer ist als die Wahrscheinlichkeit, zur nicht vom Regime bedrohten Gruppe zu gehören. Unter diesen Bedingungen würden alle Zivilisten auf dem Land und in der Stadt einer humanitären Intervention zustimmen, da für alle wenige Tage vor der Intervention gilt, dass es weniger wahrscheinlich ist, durch die Intervention als durch das Regime zu sterben. Die humanitäre Intervention wäre Hinter einem Rawls’schen Schleier des Nichtwissens würde mit Blick auf die Zulässigkeit humanitärer Interventionen nichts folgen. Hinter einem solchen Schleier des Nichtwissens würden die Zivilisten nicht wissen, wo sie leben, zu welcher Gruppe sie gehören, könnten keinerlei Wahrscheinlichkeiten angeben und wären zudem risikoavers. Sie wüssten also nur, dass das Risiko besteht, dass sie durch das Regime oder durch die Intervention sterben, und wären bestrebt, das Risiko eines für sie großen Übels zu vermeiden. Da das zu vermeidende Übel aber in jedem Fall der Tod ist, hätten sie gleichermaßen Grund, der Intervention zuzustimmen, wie sie Grund hätten, die Intervention abzulehnen.

18

208 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Hypothetische Zustimmung

daher moralisch erlaubt – vorausgesetzt, es kann plausibel gemacht werden, dass Personen, die nur in einem hypothetischen Szenario ihre Zustimmung geben würden, ihre Ansprüche darauf nicht mehr geltend machen können, nicht geschädigt zu werden.

Hypothetische Zustimmung hebt die Ansprüche von Personen nicht auf Das gewichtigste Problem, das ein Rekurs auf eine hypothetische Zustimmung von Personen mit sich bringt, ist, dass eine hypothetische Zustimmung schlicht keine Zustimmung ist. Wer einer potentiell schädigenden Handlung zustimmt, so die Annahme, tritt einen Anspruch auf Nichtschädigung ab und kann sich entsprechend nicht berechtigt beschweren, und eine Wiedergutmachung einfordern, wenn eine Schädigung eintritt. Dass jemand einer Handlung unter hypothetischen Bedingungen zustimmen würde, bedeutet dann aber lediglich, dass er unter hypothetischen Bedingungen auf seinen Anspruch verzichten würde. Eine hypothetische Zustimmung ist eine Zustimmung, die jemand gibt, wenn er bestimmte Informationen nicht hat, die aber gerade wichtig dafür sein könnten, ob er zustimmt oder ablehnt. Solange eine Zivilistin beispielsweise nicht weiß, ob sie von einer Intervention profitieren wird oder nicht, ist eine Intervention zustimmungsfähig, sofern die Wahrscheinlichkeit, dass sie von der Intervention profitieren wird, größer ist, als die Wahrscheinlichkeit, nicht von ihr zu profitieren. Unter realen Bedingungen weiß die Zivilistin jedoch, zu welcher Personengruppe sie gehört. Gehört sie zu den Zivilisten, deren Leben nicht bereits in Gefahr ist, hat sie keinen (eigeninteressierten) Grund mehr, der Intervention zuzustimmen. Warum sollte ihre nun erfolgende Ablehnung der Intervention nicht zählen? In anderen Situationen sind wir berechtigt, unsere Meinungen zu ändern, wenn wir neue Informationen erhalten, und sind nicht an Entscheidungen gebunden, die wir unter schlechten epistemischen Bedingungen getroffen haben. Angenommen, eine Person weiß nicht, ob sie einmal eine Zahnkrone oder eine Spenderniere brauchen wird, aber weiß, dass die Wahrscheinlichkeit, einmal eine Zahnkrone zu brauchen, viel höher ist als die Wahrscheinlichkeit, einmal eine Niere zu benötigen. Eine Politik, die vorsieht, die Kosten für das Einsetzen von Zahnkronen zu erstatten, nicht aber die für das Transplan209 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Die Zustimmung von Zivilisten

tieren von Nieren, ist für die Person zustimmungsfähig zu einem Zeitpunkt, zu dem sie noch keine Spenderniere benötigt. Wenn sich jedoch zu einem späteren Zeitpunkt herausstellt, dass die betreffende Person eine Niere benötigt, scheint es, als habe sie einen Anspruch auf ein Erstatten der Kosten für die Nierentransplantation, auch wenn sie zu einem Zeitpunkt lange vor einer Erkrankung zugestimmt hat, dass die Transplantationskosten nicht erstattet werden. Ihre einstige rein hypothetische Zustimmung ist nicht relevant. Ebenso könnte eine Person Nierenspenden ablehnen, wenn sie nicht weiß, ob sie zu den Menschen gehören wird, die eine Niere brauchen, oder zu denen, die eine Niere spenden könnten, aber weiß, dass Nierenspenden für Spenderinnen sehr gefährlich sind (tatsächlich ist das nicht der Fall). Wenn sich aber herausstellt, dass sie eine Niere braucht, wird sie sich für Nierenspenden aussprechen (die selbstverständlich freiwillig bleiben). Damit, dass sie sich einmal gegen Nierenspenden ausgesprochen hat, lässt sich nicht rechtfertigen, nun keine Niere bekommen zu können. Wenn es in diesem Beispiel zweifelhaft ist, dass eine hypothetische Zustimmung oder Ablehnung, die erfolgt, wenn Personen bestimmte Informationen nicht haben, die sie normalerweise hätten, bindend ist und dazu führt, dass die Betroffenen ihre Ansprüche verlieren, so sollte dies auch mit Blick auf humanitäre Interventionen zweifelhaft sein. Hinter einem dichten Schleier des Nicht-Wissens können alle Zivilisten einer humanitären Intervention zustimmen. Eine Zivilistin, von der sich herausstellt, dass sie nicht zur bedrohten Gruppe gehört, könnte eine Intervention ablehnen, sobald sie diese Information hat. Ihr gegenüber ließe sich die Intervention nun nicht damit rechtfertigen, dass sie ihr einst zugestimmt hat oder ihr hätte zustimmen können. Ihre hypothetisch gebliebene Zustimmung rechtfertigt es nicht, sie dem Risiko zu sterben auszusetzen. Sogar eine Zivilistin, deren Leben mit einer Intervention geschützt werden soll, ist nicht auf ihre hypothetische Zustimmung festgelegt. Im Zusammenhang mit der moralischen Bewertung riskanter Handlungen habe ich im vorherigen Kapitel argumentiert, dass eine potentiell schädigende Handlung nur dann moralisch erlaubt ist, wenn es zu keinem Zeitpunkt, zu dem es möglich ist, den Handlungsverlauf zu unterbrechen, eine Person gibt, die einem hohen Schadensrisiko ausgesetzt wird. Für viele Kriegshandlungen gilt jedoch, dass es einen Zeitpunkt gibt, zu dem das Risiko, dem eine einzelne Person ausgesetzt wird, sehr hoch ist und zu dem die Handlung noch 210 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Die Zustimmung der vielen – die Ablehnung der wenigen

unterbrochen werden kann. Diese Überlegungen scheinen zu implizieren, dass eine humanitäre Intervention abgebrochen werden muss, wenn es eine Zivilistin gibt, die der Intervention zu Kriegsbeginn hypothetisch zustimmen würde, aber die Intervention nach Kriegsbeginn ablehnen würde, weil ihr individuelles Schadensrisiko zu diesem späteren Zeitpunkt deutlich höher ist. Doch es ist nicht plausibel anzunehmen, eine humanitäre Intervention, in deren Verlauf bereits Zivilisten ums Leben gekommen sind, müsse abgebrochen werden, wenn die Intervention plötzlich für einige Zivilisten nicht mehr zustimmungsfähig ist. Ein Abbruch der Interventionen würde schließlich bedeuten, dass die Zivilisten, die bis dahin umgekommen sind, insofern sinnlos gestorben sind, als die Intervention keinem moralisch guten Ziel mehr dient. Ihr Tod wäre dann moralisch nicht zu rechtfertigen. Die Theorie des gerechten Krieges verlangt entsprechend auch, einen Krieg nicht zu führen, wenn zu befürchten ist, dass er ausschließlich Übel hervorbringt, aber keine Übel verhindert. Für viele der einzelnen Handlungen im Krieg mag daher gelten, dass sie abgebrochen werden müssen, sobald es Zivilisten gibt, die der Handlung nicht mehr zustimmen würden, weil sie sehr wahrscheinlich umkommen werden. Für einen Krieg insgesamt kann dies dagegen so nicht gelten. Ein Krieg dürfte gar nicht erst begonnen werden, wenn davon ausgegangen werden kann, dass er zu irgendeinem Zeitpunkt für einige Zivilisten nicht mehr zustimmungsfähig ist. Die hypothetische Zustimmung von Zivilisten zu einer humanitären Intervention zu einem Zeitpunkt (lange) vor der Intervention kann folglich keine Begründung für deren Zulässigkeit sein, und zwar auch dann nicht, wenn alle Zivilisten hypothetisch zustimmen. Es bleiben eine faktische und möglicherweise eine kontrafaktische Zustimmung von Zivilisten, die humanitäre Interventionen rechtfertigen können. Es hat sich jedoch gezeigt, dass nicht alle Zivilisten faktisch oder kontrafaktisch einer Intervention zustimmen. Es bleibt daher das Problem, dass geklärt werden muss, ob es überhaupt notwendig ist, dass alle Zivilisten einer Intervention zustimmen.

6.6 Die Zustimmung der vielen – die Ablehnung der wenigen Dass nicht alle Zivilisten einer humanitären Intervention faktisch oder kontrafaktisch zustimmen, muss nicht bedeuten, dass sie verboten ist. Es ließe sich argumentieren, eine Intervention sei dann ge211 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Die Zustimmung von Zivilisten

rechtfertigt, wenn sie eine mehrheitliche Zustimmung erfährt (und wenn auch die übrigen Bedingungen der Theorie des gerechten Krieges erfüllt sind). So verweist Peter Schaber, allerdings von einer hypothetischen Zustimmung sprechend, darauf, dass es ausreiche, wenn die Intervention im vernünftigen Interesse der Mehrheit der Betroffenen ist, also wenn die Mehrheit der Betroffenen einer Intervention zustimmen würde. 19 Und Schaber betont, dass es sich dabei ausdrücklich nicht um eine konsequentialistische Überlegung handle: Wichtig ist, dass eine solche Einschätzung nicht auf einer konsequentialistischen Abwägung des Wertes der guten und schlechten Folgen beruht, sondern vielmehr darauf, dass man im Sinne der überwiegenden Mehrheit der von der Intervention betroffenen Menschen handelt. […] Man muss […] jeweils fragen, was im Sinne der potentiellen Opfer ist. Die Antwort wird wohl in nicht wenigen Fällen zugunsten einer Intervention ausfallen, und zwar immer dann, wenn die Intervention mehrheitlich im Sinne auch der möglichen Opfer ist. 20

Aus der Forderung, eine humanitäre Intervention müsse mehrheitlich zugestimmt werden, folgt jedoch nur dann, dass sie zulässig ist, wenn sich die Mehrheit für eine Intervention ausspricht oder aussprechen würde. Ich werde in diesem Abschnitt zeigen, dass dies häuDie Überlegung, die Legitimität einer humanitären Intervention hänge entscheidend von der Zustimmung der Opfer ab, diskutiert auch Jonathan Parry (2017), der dabei insbesondere das Mehrheitsprinzip kritisch untersucht. Allerdings fragt Parry ausschließlich nach der Zustimmung (ob faktisch oder hypothetisch bleibt ungeklärt) der Menschen, deren Leben eine Intervention schützen soll, nicht nach der Zustimmung unbeteiligter Dritter. Parry berücksichtigt dabei auch nicht die mögliche Komplikation, dass die Menschen, die mit einer Intervention gerettet werden können, Gefahr laufen, durch die Intervention selbst zu sterben. Außerdem versteht Parry die Zustimmung der Opfer, so scheint mir, als Teil des gerechten Grundes für einen Krieg, nicht als Teil der Proportionalität, die er gesondert diskutiert und dabei eher utilitaristisch formuliert. Eine humanitäre Intervention ist nach Parry nicht proportional, wenn mehr Menschen sterben, die einer Intervention nicht zustimmen, als Menschen gerettet werden, die einer Intervention zustimmen. Ein Beispiel mit einer unbeteiligten Person findet sich auf S. 385: Ein Aggressor bedroht das Leben von fünf Personen. Eine außenstehende Person kann den Aggressor töten und die fünf Menschen retten, tötet dabei aber eine unbeteiligte Person. Vier der fünf potentiellen Opfer des Aggressors lehnen die Hilfe der Unbeteiligten ab, ein Opfer stimmt zu. Personen zu retten, die Hilfe anlehnen, zählt Parry zufolge nicht zu den guten Folgen, die gegen die schlechte Folge, dass eine unbeteiligte Person stirbt, sondern als gute Folge zählt nur die Rettung einer zustimmenden Person. Dann aber wäre eine Hilfe nicht proportional, weil die gute Folge nur darin besteht, einen (zustimmenden) Menschen zu retten, auf der anderen Seite aber eine unbeteiligte Person zu Tode kommt. 20 Schaber 2013, S. 136. 19

212 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Die Zustimmung der vielen – die Ablehnung der wenigen

fig nicht der Fall ist. Darüber hinaus ist zu prüfen, ob eine Schädigung deshalb gerechtfertigt sein könne, weil die schädigende Handlung den Interessen von mehr Menschen entspricht, als sie den Interessen anderer Menschen zuwiderläuft. Ob sich die Mehrheit der Zivilisten, die im Zuge einer humanitären Intervention zu sterben drohen, für eine Intervention ausspricht, hängt auch davon ab, die Zustimmung welcher Zivilisten relevant ist. Peter Schaber hat offenbar alle Zivilisten im Blick – die Zivilisten, um deren Schutz es einer Intervention geht, und die Zivilisten, die erst durch die Intervention zu sterben drohen. Eine mehrheitliche Zustimmung wird sich aber nur dann erreichen lassen, wenn die Gruppe der in einem Regime bedrohten Zivilisten (deutlich) größer ist als die Gruppe der Zivilisten, deren Leben nicht schon auf dem Spiel steht. Dass dies so ist, ist nicht selbstverständlich. Eine Alternative dazu, alle betroffenen Zivilisten zu berücksichtigen, besteht darin, ausschließlich die Zustimmung derjenigen Zivilisten für relevant zu halten, deren Leben es zu schützen gilt. 21 Er scheint damit von der Annahme auszugehen, dass es nicht relevant ist, ob die Zivilisten, deren Leben in einem Regime nicht bedroht sind, einer Intervention zustimmen. Doch diese Annahme ist nicht plausibel. Personen, von denen keine Gewalt ausgeht und die keine oder kaum Verantwortlichkeit dafür tragen, dass andere Personen Menschenleben bedrohen, sind unschuldig. Sie haben einen Anspruch darauf, nicht getötet zu werden oder einem ernsthaften Todesrisiko ausgesetzt zu werden. Dann aber haben alle Zivilisten einen solchen Anspruch, der Berücksichtigung finden muss, wenn sie von diesem Anspruch nicht durch eine (faktische) Zustimmung zurücktreten. Dass das Schädigen von Personen, deren Leben nicht bedroht sind, moralisch überaus problematisch ist, wenn diese der schädigenden Handlung nicht zustimmen, lässt sich an einem Fall von individueller Nothilfe mit einer zusätzlichen unbeteiligten Person erkennen. Gewalt zum Schutze anderer Menschen ist nicht zu rechtfertigen, wenn dabei neben der Person, vor der jemand geschützt werden soll, auch noch eine unbeteiligte Person zu Schaden kommt, von der bekannt ist, dass sie sich in der Nähe befindet. Die gewaltSo spricht beispielsweise Jeff McMahan nur von den »beneficiaries«, wenn er diskutiert, inwiefern deren (mehrheitliche) Zustimmung oder Ablehnung einer humanitären Intervention dafür sorgt, dass die Intervention erlaubt oder verboten ist. Vgl. McMahan 2010, S. 48–55.

21

213 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Die Zustimmung von Zivilisten

same Verteidigung anderer Menschen ist dagegen leichter zu rechtfertigen, wenn ausschließlich Personen einen Schaden erleiden, die entweder verantwortlich dafür sind, dass jemand geschützt werden muss, oder deren Schutz die Verteidigung dienen soll. Wenn alle Zivilisten, die bei einer humanitären Intervention zu sterben drohen, einen Anspruch haben, nicht getötet zu werden, erscheint eine Intervention auch dann noch verboten, wenn die einfache Mehrheit eine Intervention wünscht. Die Zivilisten, die einer Intervention zustimmen, verzichten mit ihrer (faktischen) Zustimmung darauf, ihre Ansprüche, nicht geschädigt zu werden, geltend zu machen. Die Ansprüche müssen entsprechend nicht berücksichtigt werden. Gleichzeitig haben einige Zivilisten einen Anspruch darauf, gerettet zu werden, und machen diesen Anspruch auch geltend. Die Ansprüche auf Nichtschädigung derjenigen Zivilisten, die eine Intervention ablehnen und, müssen ebenfalls berücksichtigt werden. Damit gibt es Zivilisten, deren zu berücksichtigende Ansprüche auf Nichtschädigung den zu berücksichtigen Ansprüchen auf Rettung anderer Zivilisten entgegenstehen. Die Unterscheidung zwischen Tun und Unterlassen spielt typischerweise eine wichtige Rolle innerhalb deontologischer Ansätze. Aus der Relevanz dieser Unterscheidung folgt, dass der Anspruch, nicht geschädigt zu werden, stärker ist, als der Anspruch, gerettet zu werden. Es reicht danach nicht, dass eine einfache Mehrheit die Intervention befürwortet. Es müsste eine deutliche Mehrheit sein, wenn die starken Ansprüche darauf, nicht geschädigt zu werden, von den schwächeren Ansprüchen darauf, gerettet zu werden, überwogen werden sollen. Unter den Zivilisten, die eine Intervention wünschen, müssten dementsprechend viele Zivilisten sein, die einen Anspruch auf Rettung geltend machen können. Darüber hinaus wäre zu begründen, weshalb es plausibel ist anzunehmen, dass die Ansprüche einer deutlichen Mehrheit die Ansprüche einer Minderheit auf- oder überwiegen können. Bevor ich diese Annahme diskutiere, sei noch darauf hingewiesen, dass die These, alle potentiellen Opfer eines Krieges hätten einen zu berücksichtigenden Anspruch auf Nichtschädigung, nicht nur die Rechtfertigung humanitärer Interventionen erschwert. Auch Defensivkriege, die nicht ausschließlich auf eigenem Territorium geführt werden, wären nur selten moralisch gerechtfertigt. Denn für solche Defensivkriege gilt, dass die Zivilisten des gegnerischen Staates nicht bedroht wären, wenn keine Verteidigung stattfinden würde. Ihre Überlebenschancen würden durch eine Verteidigung enorm sinken. Es ist daher 214 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Die Zustimmung der vielen – die Ablehnung der wenigen

anzunehmen, dass sie einer Verteidigung nicht zustimmen würden. Das bedeutet aber auch, dass Defensivkriege, deren moralische Zulässigkeit im Allgemeinen weniger umstritten ist als die Zulässigkeit humanitärer Kriege, mitunter problematischer sein könnten als humanitäre Kriege. Sie wären dann problematischer, wenn der Staat, gegen den eine Verteidigung stattfinden soll und dessen Zivilisten zu sterben drohen, eine größere Bevölkerung aufweist als der sich verteidigende Staat. Die Überlegung, dass ein Krieg gerechtfertigt sein könnte, wenn deutlich mehr Zivilisten diesem zustimmen, weil er sie schützen kann, als Menschen ihn ablehnen, weil er ihr Leben allererst in Gefahr bringt, scheint jedoch auf interpersoneller Aggregation zu beruhen. Deontologinnen sind mitunter skeptisch gegenüber der These, die aus einer Handlung für verschiedene Personen resultierenden Vor- und Nachteile ließen sich über Personengrenzen hinweg aggregieren. Diese Skepsis gegenüber interpersoneller Aggregation, werde ich im nächsten Kapitel näher begründen. An dieser Stelle ist aber bereits festzuhalten, dass ein Verweis auf eine rechtfertigende deutliche Mehrheit vor dem Hintergrund einer Ablehnung interpersoneller Aggregation problematisch erscheint. Es ist nicht zu sehen, wie die individuellen Ansprüche vieler Menschen die individuellen Ansprüche weniger Menschen überwiegen können, ohne dass die Ansprüche der einen und der anderen Gruppe zusammengefasst und in ihren Gesamtstärken verglichen werden. Denn es gibt keine Person, die einen Anspruch hat, der in seiner Stärke den zusammengefassten Ansprüchen der Individuen entspricht. Aus einer deontologischen Perspektive sollte der Verweis auf eine zustimmende Mehrheit also sehr problematisch erscheinen. Wenn es Deontologinnen wichtig ist, die erfolgende Zustimmung und Ablehnung von Individuen zu berücksichtigen, scheint die Ablehnung einer humanitären Intervention diese als moralisch verboten zu erweisen. Das Veto von Personen ernst zu nehmen und zu berücksichtigen, kann nicht bedeuten, es mit allen anderen individuellen Abstimmungsentscheidungen zu verrechnen. Wenn man es jedem einzelnen Menschen schuldet, ihn schädigende Handlungen zu unterlassen, sofern er sie ablehnt, lassen sich diese Handlungen nicht dadurch rechtfertigen, dass hinreichend viele andere Menschen ihnen zustimmen. Es könnte der Einwand erhoben werden, ein Verweis auf eine zustimmende Mehrheit sei keineswegs aggregationistisch, sondern 215 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Die Zustimmung von Zivilisten

vielmehr demokratisch. Das Mehrheitsprinzip gebe jedem Individuum die größtmögliche Chance, dass eine Handlung ausgeführt wird, die ihren Interessen entspricht, gegeben, dass es nicht möglich ist, eine Handlung auszuführen, die im Interesse jedes Individuums ist. Demokratische Entscheidungen erhöhen also für jedes Individuum die Chance, dass die eigenen Interessen befriedigt werden. Dieses Argument kann jedoch aus zwei Gründen nicht überzeugen. Erstens bestehen demokratische Entscheidungen darin, dass Bürgerinnen wählen. Eine demokratische Wahl ist aber eine faktische Wahl. Eine kontrafaktische oder gar eine hypothetische Wahl ist nicht demokratisch. Doch wir haben gesehen, dass die faktische Zustimmung oder Ablehnung der Zivilisten zu einer humanitären Intervention praktisch in der Regel nicht einholbar ist. Und selbst wenn es möglich wäre, sie einzuholen, so wäre es Staaten nicht gestattet, in anderen Staaten wählen zu lassen, es sei denn, es handelt sich um eigene Staatbürgerinnen. Zweitens gilt für Mehrheitsbeschlüsse, dass sie auch deshalb rechtfertigbar sind, weil sie langfristig dazu führen können, dass die Interessen jedes Individuums irgendwann mindestens einmal berücksichtigt werden. Bürgerinnen eines Staates haben bei jeder Wahl wieder die Chance, dass es ihre Interessen sind, die denen der Mehrheit entsprechen und nach denen gehandelt wird. Im Fall von Krieg gilt dies nicht, wenn Zivilisten sterben. Die Zivilisten, deren Interessen nicht entsprochen werden kann, haben dann gerade nicht die Chance, dass ihre Interessen beim nächsten Mal mehrheitlich vertreten werden. Wenn eine humanitäre Intervention nicht damit gerechtfertigt werden kann, dass sie mehrheitlich befürwortet wird, weil ein Verweis auf die Mehrheit entweder aggregationistisch ist oder auf einem meines Erachtens in diesem Kontext nicht überzeugenden Demokratieargument beruht, stellt sich die Frage, ob hieraus notwendig folgt, dass humanitäre Interventionen verboten sind, wenn es Zivilisten gibt, die eine Intervention ablehnen. Es würde beispielsweise dann nicht folgen, wenn es zwar nicht möglich wäre, die faktische Zustimmung der Zivilisten einzuholen, aber es keinerlei Hinweise darauf gibt, dass es Zivilisten gibt, die eine Intervention ablehnen und entsprechend nicht kontrafaktisch zustimmen. Wenn ein intervenierender Staat keinen Grund zur Annahme hat, dass es Zivilisten gibt, die keine Intervention wünschen, darf er möglicherweise intervenieren. Ähnlich gilt auch in medizinischen Kontexten gilt, dass es besser ist, eine bewusstlose Patientin zu retten, die nicht gerettet wer216 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Schlussfolgerungen

den will, als eine Patientin sterben zu lassen, die nicht sterben will. Für Ärzte ergibt sich daraus sogar eine Pflicht zur Rettung. Es wäre analog entsprechend besser, eine Intervention durchzuführen, die einige Zivilisten möglicherweise nicht wollen, als eine Intervention zu unterlassen, der alle Zivilisten zustimmen würden. Eine Pflicht zur Intervention ergibt sich jedoch, wie bereits erwähnt, nicht, weil Ärzte im Gegensatz zu Soldaten nicht ihr eigenes Leben riskieren müssen, um Menschenleben zu retten. Unter Bedingungen von Unsicherheit gilt aber nur dann, dass eine Intervention erlaubt sein könnte, wenn alle Zivilisten zu sterben drohen, sollte nicht interveniert werden. Aber auch wenn nicht alle Zivilisten ohne eine Intervention zu sterben drohen, könnte es erlaubt sein zu intervenieren, obwohl nicht alle Zivilisten einer Intervention zustimmen. Eine Möglichkeit, mit der Ablehnung von Zivilisten und ihren damit verbleibenden Ansprüchen auf Nichtschädigung zu verfahren, könnte darin bestehen, ihnen Kompensationsleistungen zukommen zu lassen, sollte die Intervention dennoch stattfinden. Inwiefern die Aussicht auf Kompensation eine humanitäre Intervention rechtfertigen könnte, ist Gegenstand des nächsten Kapitels.

6.7 Schlussfolgerungen Aus dem vorherigen Kapitel zur Frage, wie riskante Handlungen aus deontologischer Sicht moralisch zu bewerten sind, hat sich ergeben, dass das Führen von Kriegen, etwa in Form humanitärer Interventionen, moralisch verboten ist. Ein Krieg geht nämlich stets damit einher, dass die Zivilisten einem Risiko ausgesetzt werden, das ihnen gegenüber nicht zu rechtfertigen ist. Es hat sich dabei aber auch gezeigt, dass das Ausführen von Handlungen, die zu einem Zeitpunkt, an dem die Handlung noch unterbrochen werden kann, eine bestimmte Person einem hohen Schadensrisiko aussetzt, möglicherweise dann verhältnismäßig und damit gerechtfertigt sein kann, wenn die betroffene Person dem Ausführen der Handlung zustimmt. In diesem Kapitel bin ich deshalb der Frage nachgegangen, ob sich mit einem Verweis auf die Zustimmung von Zivilisten zu einem Krieg, beispielsweise zu einer humanitären Intervention, deren Proportionalität begründen lässt. Die Antwort auf diese Frage ist negativ ausgefallen: Die Überlegung, die Proportionalität von und im Krieg hänge davon ab, ob die im Zuge eines Krieges zu sterben drohenden 217 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Die Zustimmung von Zivilisten

Zivilisten dem Krieg zustimmen, stärkt die Position, das Führen von Kriegen sei moralisch verboten. Geht man hierbei von einer faktischen Zustimmung aus, könnte ein Krieg verhältnismäßig sein, wenn die Zivilisten, deren Leben ein Krieg potentiell fordert, dem Krieg ausdrücklich zustimmen. Eine faktische Zustimmung der Zivilisten liegt jedoch nicht vor und ist praktisch auch nur schwer einholbar. Selbst wenn die Zivilisten ihren tatsächlichen Willen bezüglich eines Krieges mitteilen könnten, bliebe die Frage, wie damit umzugehen wäre, falls nicht alle Zivilisten einem Krieg zustimmen. Gegenüber den Zivilisten, die einen Krieg faktisch ablehnen, wäre ein Krieg nicht zu rechtfertigen. Die Schwierigkeit, die Zustimmung der Zivilisten nicht einholen zu können, lässt sich umgehen, indem die moralische Zulässigkeit eines Krieges von der kontrafaktischen Zustimmung der Zivilisten abhängig gemacht wird. Doch auch hier stellt sich das Problem, dass es Zivilisten gibt, die einem Krieg nicht zustimmen würden, wenn sie die Möglichkeit hätten, ihre Zustimmung respektive Ablehnung mitzuteilen. Es bleiben also abermals Zivilisten, die einen Krieg ablehnen, sodass die Frage aufkommt, ob ein Krieg auch dann gerechtfertigt sein könne, wenn nicht alle Zivilisten zustimmen. Mithilfe des Konzepts der hypothetischen Zustimmung lässt sich argumentieren, dass alle Zivilisten einem Krieg zustimmen – zumindest dann, wenn sie zu einem Zeitpunkt über das Führen eines Krieges entscheiden müssen, zu dem ein Krieg die ex ante-Überlebenschancen aller Zivilisten steigert oder zumindest nicht verringert. Dies wäre dann der Fall, wenn die Zivilisten zum Zeitpunkt ihrer Entscheidung erstens nicht wüssten, ob sie zu denjenigen Zivilisten gehören, deren Leben ein Krieg schützen kann, oder zu denen, deren Leben ein Krieg überhaupt erst aufs Spiel setzen würde. Zudem müssten sie zweitens davon ausgehen können, dass es wahrscheinlicher ist, dass ihnen einen Krieg hilft, als dass er ihnen allererst schadet. Der Rekurs auf eine rein hypothetische Zustimmung vermag es jedoch nicht zu leisten, normalerweise verbotene Handlungen erlaubt werden zu lassen. Denn eine hypothetisch bleibende Zustimmung geht nicht damit einher, dass Personen aufgrund ihrer Zustimmung davon zurücktreten, ihre Ansprüche auf Nichtschädigung gegen das Ausführen der Handlung geltend zu machen. Daraus, dass jemand einen Anspruch unter bestimmten, nur hypothetischen Bedingungen abtritt, leitet sich nicht ab, dass der Anspruch unter tatsächlichen Bedingungen abgetreten wird. Eine hypothetische Zustimmung ist 218 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Schlussfolgerungen

schlicht keine echte Zustimmung. Die Zulässigkeit, Zivilisten im Zuge eines Krieges zu schädigen, lässt sich daher nicht damit begründen, dass die Zivilisten hypothetisch zustimmen – und zwar auch dann nicht, wenn alle Zivilisten in dieser Weise zustimmen. Ich habe folglich die These vertreten, dass Handlungen, die ohne die Zustimmung der möglichen Opfer der Handlung verboten wären, nur dadurch zu erlaubten Handlungen werden können, dass die Opfer faktisch zustimmen. Dabei habe ich auch argumentiert, dass es nicht ausreicht, wenn die Mehrheit der Zivilisten einem Krieg zustimmt. Der Anspruch einer Zivilistin, die einen Krieg ablehnt, darauf, nicht geschädigt zu werden, kann nicht dadurch aufgewogen werden, dass viele andere Zivilisten durch ihre Zustimmung von diesem Anspruch zurücktreten und einen Anspruch darauf geltend machen, geschützt zu werden. Diese Abwägung ist zumindest dann unzulässig, wenn man von der Annahme ausgeht, dass Überlegungen, die auf interpersoneller Aggregation beruhen, unzulässig sind, da die Ansprüche verschiedener Personen nicht gegeneinander aufgerechnet werden können. Wird ein Krieg, dem nicht alle Zivilisten zustimmen, dennoch geführt, so werden also die Ansprüche der Zivilisten verletzt, die sich gegen einen Krieg aussprechen. Diese Zivilisten haben daraufhin einen Anspruch auf Kompensation, sollten sie zu Schaden kommen. Es könnte verhältnismäßig und – gegeben, auch die übrigen Bedingungen der Theorie des gerechten Krieges sind erfüllt – gerechtfertigt sein, diese Zivilisten zu schädigen, falls der Schaden, den sie erleiden, im Anschluss kompensiert wird. Der Frage, inwiefern es möglich ist, die Schäden, die Zivilisten gegen ihren Willen im Krieg erleiden, zu kompensieren, werde ich mich im nächsten und letzten Kapitel der Arbeit widmen. In diesem Zusammenhang wird auch deutlich werden, weshalb innerhalb deontologischer Ansätze Überlegungen, die auf interpersoneller Aggregation beruhen, problematisch erscheinen.

219 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

7. Den Tod kompensieren

Einer Person einen Schaden zuzufügen und sie dadurch schlechter zu stellen, ist dann erlaubt, wenn die Person in die Handlung, die sie schädigt oder sie dem Risiko einer Schädigung aussetzt, einwilligt. Wird eine Person dagegen ohne eine entsprechende Zustimmung ihrerseits geschädigt, wird ihr Anspruch auf das Unterlassen schädigender Handlungen nicht angemessen berücksichtigt, und die Handlung ist entsprechend ihr gegenüber anscheinend nicht zu rechtfertigen. Die Person hat dann, wenn die Handlung ausgeführt wird und sie zu Schaden kommt, plausiblerweise einen Anspruch auf eine Kompensation oder Wiedergutmachung des erlittenen Schadens, also darauf, wieder bessergestellt zu werden. 1 Ob die Schädigung einer Person, die der entsprechenden Handlung nicht zustimmt, rechtfertigbar ist, hängt danach auch davon ab, ob eine Kompensation des Schadens, den die Person erleidet, möglich ist und ob sie erfolgt. Ein Schaden, der nicht kompensiert wird, wiegt schwerer als ein kompensierter Schaden. Für die Erfüllbarkeit der Proportionalitätsbedingungen lässt sich damit sagen, dass sie nur nicht erfüllt werden kann, wenn im Krieg Schäden verursacht werden, die nicht kompensiert werden. In diesem Kapitel werde ich der Frage nachgehen, inwiefern es überhaupt möglich ist, den größtmöglichen Schaden zu kompensieren, den eine Person erleiden kann, nämlich den Tod. Ich werde zwei Argumente dafür präsentieren, dass es sich bei dem Tod einer Person um einen nicht kompensierbaren Schaden handelt und dass es sich daher bei der Forderung nach Proportionalität um eine nicht erfüllbare Bedingung handelt. Erstens handelt es sich bei dem Tod einer Person um einen Schaden, der keine intrapersonelle Kompensation erlaubt. Denn im Falle In diesem Sinne bemerkt auch David Rodin (2011, S. 107): »When a right is […] infringed […], it grounds a claim for compensation or redress.«

1

220 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Intrapersonelle Aggregation und Kompensierbarkeit des Todes

des Todes kann eine Person, die zu einem bestimmten Zeitpunkt in ihrem Leben einen Schaden erleidet, nicht dadurch für diesen Schaden kompensiert werden, dass ihr zu einem späteren Zeitpunkt Gutes getan wird, da sie zu einem späteren Zeitpunkt nicht mehr am Leben ist. Der Tod von Zivilisten, die nicht in einen Krieg einwilligen, wiegt damit besonders schwer innerhalb der Proportionalitätsüberlegung. Zweitens werde ich zeigen, weshalb die schweren Schäden, die Zivilisten im Krieg erleiden, auch nicht dadurch aufgewogen werden können, dass im Gegenzug andere Zivilisten vor dem gleichen Schaden bewahrt werden. Denn eine Person kann nicht dadurch für ihren Tod kompensiert werden, dass andere Personen nicht zu Tode kommen. Der Tod erlaubt somit auch keine interpersonelle Kompensation. Damit kann das Überleben vieler Zivilisten nicht den Tod weniger anderer Zivilisten aufwiegen. Ein Verweis darauf, dass geschädigte Personen einen Anspruch auf eine ihnen zukommende Kompensation haben, wird schließlich auch eine Begründung dafür liefern können, weshalb Deontologinnen gegen Überlegungen, die auf interpersoneller Aggregation beruhen, den Einwand geltend machen, diese missachten die sogenannte »Separateness of Persons«.

7.1 Intrapersonelle Aggregation und Kompensierbarkeit des Todes Wenn Personen einer Handlung, die sie potentiell schädigt, nicht zustimmen, wird ihnen Kompensation geschuldet, sofern die Handlung dennoch ausgeführt wird und die Personen zu Schaden kommen. Der Anspruch von Personen, nicht geschädigt zu werden, wird in diesem Fall zu einem Einspruch auf Kompensation oder Wiedergutmachung. 2 David Rodin geht von der Annahme aus, dass es auch von der prinzipiellen Möglichkeit des Kompensierens eines Schadens anhänge, wie schwer es zu rechtfertigen ist, den Anspruch einer Person, nicht geschädigt zu werden, zu übergehen. Rodin drückt diese Überlegung in der stärkeren Rede von Rechten folgendermaßen aus: »Persons whose rights are infringed are owed compensation; if compensaRodin (2011, S. 108) drückt dies in der Rede von Rechten statt von Ansprüchen folgendermaßen aus: »[…] the infringed right does not simply disappear: it is transmuted into a right to compensation.«

2

221 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Den Tod kompensieren

tion is not possible, this provides compelling additional reasons against transgressing the right.« 3 Unter der Annahme, dass die Stärke von Ansprüchen auf das Nichterleiden von Schäden entscheidend dafür ist, wie groß das moralische Gewicht dieser Schäden ist, ergibt sich für die Forderung nach Proportionalität von und im Krieg: Schäden, die prinzipiell nicht kompensiert werden können, wiegen schwerer als Schäden, für die geschädigte Personen prinzipiell eine Kompensation erfahren können. Viele der Schäden, die im Verlaufe eines Krieges verursacht werden, lassen sich prinzipiell kompensieren. Zerstörte Gebäude, eine Infrastruktur oder eine geschwächte Wirtschaft lassen sich grundsätzlich wiederherstellen. Auch viele der Schäden, die Menschen direkt erleiden, können kompensiert werden. Leichte und mittelschwere körperliche und seelische Verletzungen sind heilbar. Oftmals kann es gelingen, die Menschen, die durch einen Krieg schlechter gestellt werden, mithilfe kompensatorischer Leistungen wieder besser zu stellen. Doch es gibt Schäden, die so gravierend sind, dass es unmöglich ist, sie zu kompensieren. Zu diesen Schäden zählt Rodin schwere körperliche Verletzungen, Folter, Vergewaltigung und in besonderer Weise den Tod. 4 Der Tod sei, so Rodin, deshalb ein paradigmatischer Fall für einen prinzipiell nicht kompensierbaren Schaden, weil die Person, die diesen Schaden erleidet, nicht länger existiert: »Death is the paradigm of a noncompensable harm because the wronged party no longer exists. 5« Eine Person, die nicht mehr existiert, kann nicht mehr bessergestellt werden. Was auch immer nach dem Tod der Person geschieht, wird den Verlust ihres Lebens nicht mehr ausgleichen können, weil sie von nichts mehr profitieren kann. 6 Folglich ist eine intrapersonelle Kompensation des Todes nicht möglich. Denn der fragliche Schaden, den eine Person zu einem bestimmten Zeitpunkt in ihrem Leben erleidet, kann nicht mit etwas Ebd., S. 109. Vgl. ebd., S. 108 5 Ebd., S. 107. 6 Es ist umstritten, inwiefern es doch möglich ist, einer Person nach ihrem Tod noch etwas Gutes zu tun oder ihr nach ihrem Tod zu schaden. Diese Diskussion kann im Rahmen dieser Arbeit nicht geführt werden. Ich werde von der erst einmal naheliegend erscheinenden Annahme ausgehen, dass eine Person durch Ereignisse nach ihrem Tod weder besser noch schlechter gestellt werden kann, weil sie nichts mehr erfahren oder empfinden kann. 3 4

222 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Intrapersonelle Aggregation und Kompensierbarkeit des Todes

Gutem, das sie zu einem späteren Zeitpunkt in ihrem Leben erfährt, verrechnet und ausgeglichen werden, weil die Person zu dem späteren Zeitpunkt nicht mehr am Leben ist. 7 So schreibt auch Robert Nozick: »He does not get some overbalancing good from his sacrifice.« 8 Zwar wendet sich Nozick in diesem Zitat eigentlich gegen die Zulässigkeit interpersoneller Aggregation und damit gegen die Möglichkeit einer interpersonellen Kompensation (dazu mehr im nächsten Abschnitt). Jedoch ist Nozicks Überlegung dann im Falle intrapersoneller Aggregation und Kompensation einschlägig, wenn der zu kompensierende Schaden der Tod ist. Wie sich die Möglichkeit oder Unmöglichkeit, einen Schaden zu kompensieren, auf das moralische Gewicht eines Schadens auswirkt, expliziert Larry Temkin, indem er eine mögliche Lesart Nozicks vorschlägt, wie folgt: »[…] any outcome where one person bears uncompensated burdens is, ipso facto, worse than any outcome where she does not.« 9 Ein Schaden, für den eine ihn erleidende Person keine Kompensation erfährt, wiegt also schwerer als ein Schaden, für dessen Erleiden eine Person kompensiert wird. Bei dem Tod handelt es sich nun aber gerade um einen Schaden, der intrapersonell nicht kompensiert wird. Den Tod zu verursachen, ist damit moralisch deutlich problematischer als das Hervorbringen von beispielsweise leichten Verletzungen, sofern diese kompensiert werden. Für die Proportionalität von und im Krieg bedeutet dies, dass sie offenbar nicht erfüllbar ist, da der Tod von Zivilisten intrapersonell nicht kompensierbar ist und deshalb nicht aufgewogen werden kann. Die Proportionalitätsbedingung verlangt, dass die moralisch gewichtigen Schäden, die im Krieg verursacht werden, durch diejenigen Schäden aufgewogen werden, die mit einem Krieg verhindert werden sollen. Ich werde im nächsten Abschnitt die Frage diskutieren, inwiefern der intrapersonell nicht kompensierbare Tod von Zivilisten daIn bestimmten Fällen scheint eine intrapersonelle Kompensation des Todes einer Person nicht ausgeschlossen, nämlich dann, wenn sich bestimmte Wünsche der Person nach ihrem Tod erfüllen. Hierbei kann es sich beispielsweise um den Wunsch nach etwas handeln, für das eine Person zu sterben bereit gewesen wäre, etwa das Überleben, die Freiheit und die Sicherheit von Familienmitgliedern. Ich ist jedoch fraglich, ob alle Zivilisten im Krieg einen solchen Wunsch nach einem Eintreten eines bestimmten Zustandes oder Ereignisses, für das sie ihr Leben zu geben bereit wären, haben. 8 Nozick 1974, S. 33. 9 Temkin 2012, S. 104. 7

223 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Den Tod kompensieren

durch aufgewogen werden könnte, dass andere Zivilisten vor dem Tod bewahrt werden. Es wird sich zeigen, dass der Tod einer Zivilistin nicht damit kompensiert werden kann, dass das Leben einer anderen Zivilistin geschützt wird. Eine Kompensation ist im Falle des Todes folglich weder intra- noch interpersonell möglich. Durch den Verweis auf Kompensation wird auch deutlich werden, weshalb Deontologinnen generell Überlegungen ablehnen, die auf interpersoneller Aggregation beruhen.

7.2 Interpersonelle Aggregation und Kompensierbarkeit des Todes Deontologinnen halten Überlegungen, die auf intrapersoneller Aggregation beruhen, für unproblematisch. Sie haben keine Vorbehalte dagegen, die Vor- und Nachteile, die eine einzelne Person zu verschiedenen Zeitpunkten ihres Lebens erfährt, zusammenzunehmen. Es ist also nichts gegen die Überlegung einzuwenden, das Leiden einer Person zu einem bestimmten Zeitpunkt könne damit aufgewogen werden, dass ihr zu einem späteren Zeitpunkt etwas Gutes zukommt und sie insofern für ihr Leiden kompensiert wird. Es hat sich im vorherigen Abschnitt jedoch gezeigt, dass der Verlust, den eine Person erleidet, dann nicht intrapersonell kompensiert werden kann, wenn es sich bei dem Verlust um den Verlust ihres Lebens handelt. Wenn man von der Annahme ausgeht, dass Personen einen Anspruch auf Kompensation des erlittenen Schadens haben und dass unkompensiert bleibende Schäden nicht zu rechtfertigen sind, sind im Falle des Todes Überlegungen zu intrapersoneller Aggregation nicht geeignet zu begründen, weshalb eine solche Schädigung gerechtfertigt ist. Eine naheliegende Möglichkeit der Rechtfertigung besteht darin, aggregierende Überlegungen nicht nur auf die Vor- und Nachteile, die eine einzelne Person zu verschiedenen Zeitpunkten erfährt, zu beschränken, sondern auch auf Vor- und Nachteile zu erweitern, die jeweils verschiedene Personen erfahren. Zwar kann einer Person, die zu Tode kommt, nichts Gutes mehr widerfahren, das ihren Tod nachträglich aufwiegen könnte. Jedoch werde ihr Tod dadurch überwogen, dass andere Personen den gleichen Verlust nicht erleiden, den sie aber erlittenen hätten, wäre die eine Person nicht umgekommen. Innerhalb des Lebens der einen Person lässt sich der Verlust ihres Lebens nicht aufwiegen. Doch das Überleben anderer Personen rechtfertige 224 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Interpersonelle Aggregation und Kompensierbarkeit des Todes

den Tod einer Person, da die abgewendeten Verluste zusammengenommen den Verlust nur eines Lebens überwiegen. Das bedeutet also: Dass wenige Zivilisten im Krieg zu Tode kommen, könne dadurch aufgewogen werden, dass viele andere Zivilisten gerettet werden. Ein Krieg sei demzufolge dann verhältnismäßig, wenn durch ihn das Leben von mehr Zivilisten geschützt wird, als er andere Zivilisten allererst das Leben kostet. Während Deontologinnen Überlegungen, die von intrapersoneller Aggregation Gebrauch machen, für zulässig halten, lehnen sie typischerweise Überlegungen ab, die auf interpersoneller Aggregation beruhen, obwohl es sich hierbei um sehr ähnliche Überlegungen handelt. Deontologinnen werfen aggregierenden Theorien wie typischen Formen des Konsequentialismus vor, die Grenzen zwischen verschiedenen Individuen zu missachten, indem sie die Verluste und Vorteile (oder auch Gründe, Ansprüche oder Rechte) verschiedener Individuen zu einem Gesamtwert zusammenziehen. Der Einwand, interpersonelle Aggregation berücksichtige die »Separateness of Persons« nicht, ist umstritten. Erstens gibt es unter Deontologinnen keine einheitliche Lesart dieses Einwandes. Zweitens bleibt unklar, weshalb es unzulässig ist, über Personengrenzen hinweg zu aggregieren. Nach einer Lesart des Separateness-Einwandes, die sich unter anderem bei John Rawls und Robert Nozick findet, machen aggregierende Theorien den Fehler, eine Entität vorauszusetzen, welche die Gesamtheit der Verluste und Vorteile verschiedener Individuen vereint. So schreibt Rawls: »[…] it is by this construction that many persons are fused into one« 10. Das Problem dabei bestehe Nozick zufolge darin, dass keine Entität existiert, welche die Verluste und Vorteile verschiedener Individuen erfährt, sondern nur Vorteile und Verluste im Leben dieser verschiedenen Individuen: »But there is no social entity with a good that undergoes some sacrifice for its own good. There are only individual people, different individual people, with their own individual lives.« 11 In ähnlicher Weise habe auch ich bisher die Vorbehalte von Deontologinnen gegenüber interpersoneller Aggregation formuliert. So habe ich mich etwa im Zusammenhang mit riskanten Handlungen dagegen ausgesprochen, deren Zulässigkeit am Erwartungsnutzen 10 11

Rawls 1999, S. 24. Nozick 1974, S. 32–33.

225 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Den Tod kompensieren

der Handlungen zu bemessen. Denn der Gesamtnutzen, der aus den individuellen Vor- und Nachteilen der betroffenen Personen gebildet wird, entspricht nicht dem Nutzen einer bestimmten Person, die diesen erfährt. Ebenso habe ich die Überlegung zurückgewiesen, eine humanitäre Intervention sei insofern gerechtfertigt, als sie im Interesse der Mehrheit der Zivilisten und insofern zustimmungsfähig sei. Es gibt keine Person, welche die Interessen aller betroffenen Zivilisten in sich vereint und sie so intrapersonell vergleichen und gegeneinander abwägen kann. Damit ist jedoch noch nicht begründet, weshalb es unzulässig ist, aus den Vor- und Nachteilen verschiedener Personen ein Aggregat zu bilden. Bisher handelt es sich nur um eine genauere Beschreibung dessen, worin aggregierende Überlegungen bestehen. Offen bleibt die Frage, was ein Aggregieren über Personengrenzen hinweg problematisch macht. Ein Verständnis dessen, was es bedeutet, jemanden für einen erlittenen Schaden zu kompensieren, kann dabei helfen, ebendiese Frage zu beantworten. Wenn aus einer Handlung für eine Person ein Schaden resultiert, den zu tragen sie nicht bereit ist, hat sie einen Anspruch auf Kompensation des erlittenen Schadens. Sie hat einen Anspruch darauf, wieder besser gestellt zu werden, indem ihr etwas Gutes zukommt. Kommt ihr nachträglich etwas Gutes zu, kann dieses ihr Leiden kompensieren. Es handelt sich hierbei um intrapersonelle Kompensation. Eine interpersonelle Kompensation eines Schadens, den eine Person erleidet, ist dagegen nicht möglich. Eine Person kann nicht damit für einen erlittenen Schaden kompensiert werden, dass jemand anderes an ihrer Stelle etwas Gutes zukommt oder jemand anderes der gleiche Schaden erspart bleibt. Kompensation kann nicht über Personengrenzen hinweg geleistet werden. Diese Überlegung gegen die Zulässigkeit interpersoneller Aggregation findet sich prominent bei John Rawls. Er schreibt über aggregierende Theorien: »There is no reason in principle, why the […] gains of some should not compensate for the […] losses of others.« 12 Ähnlich kritisiert Thomas Nagel aggregierende Theorien, indem er mithilfe eines Verweises auf Kompensation den Unterschied zwischen intra- und interpersoneller Aggregation herausstellt:

12

Rawls 1999, S. 23.

226 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Interpersonelle Aggregation und Kompensierbarkeit des Todes

To sacrifice one individual life for another, or one individual’s happiness for another’s is very different from sacrificing one gratification for another within a single life. […] there can be no interpersonal compensation for sacrifice. 13

Während sich also Verluste innerhalb einer einzelnen Person kompensieren lassen, sei dies nicht über Personengrenzen hinweg möglich. Die Person, die einen Verlust oder Schaden erleidet, profitiere nämlich nicht davon, dass jemand anderes einen Vorteil erhält oder einen Schaden nicht erleidet. Es gibt folglich keine interpersonelle Kompensation. Es ist wichtig zu bemerken, dass der Grund, weshalb der Tod intrapersonell nicht kompensiert werden kann, ein anderer ist als der Grund, weshalb der Tod keine interpersonelle Kompensation erlaubt. Intrapersonelle Aggregation ist aus deontologischer Sicht unproblematisch, weil für die meisten Arten von Schäden gilt, dass die Person, die sie erleidet, durch entsprechende Leistungen eine Wiedergutmachung erfährt. Der Schaden, leichte Verletzungen wie Knochenbrüche zu erleiden, ist kompensierbar, da solche Verletzungen geheilt werden können. Ist der fragliche Schaden jedoch der Tod, so ist eine intrapersonelle Kompensation nicht mehr möglich. Interpersonelle Kompensation dagegen ist auch bei weniger gravierenden Schäden nicht möglich. Es gilt nicht nur, dass der Tod eines Menschen nicht dadurch kompensiert werden kann, dass jemand anderes gerettet wird. Es gilt auch, dass der Knochenbruch eines Menschen unkompensiert bleibt, wenn lediglich jemand anderes davor bewahrt wird, einen Knochenbruch oder irgendeinen anderen leichten oder schweren Schaden davonzutragen. Die Person, die geschädigt wird, hat nichts davon, dass jemand anderes an ihrer Stelle keinen Schaden erleidet. Wird sie selbst für das Leid, das sie erfährt, nicht kompensiert, ist es nicht zu rechtfertigen, ihr dieses Leid zuzumuten. Die Ablehnung interpersoneller Aggregation unter Rekurs auf Überlegungen zu Kompensation zu motivieren, überzeugt zugegebenermaßen nur diejenigen, die die Annahme teilen, die moralische Bewertung von Handlungen müsse stets vom Standpunkt eines Individuums erfolgen. Innerhalb konsequentialistischer Theorien wird diese Annahme typischerweise bestritten. Der Kompensationsbegriff hat seinen Platz typischerweise nur in einer Theorie, die voraussetzt, dass es einen moralischen Unterschied macht, wer zu Schaden kommt 13

Nagel 1970, S. 138, 142.

227 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Den Tod kompensieren

oder Hilfe erfährt. 14 Deontologinnen setzen ebendies in der Regel voraus. Für sie gilt daher, dass sie gegenüber Überlegungen, die auf interpersoneller Aggregation beruhen, äußerst skeptisch sein müssen. Sie können den Tod eines Menschen nicht mit dem Verweis auf solche Überlegungen rechtfertigen

7.3 Schlussfolgerungen Mit Blick auf die Proportionalität von Kriegen haben die Unmöglichkeit einer intrapersonellen Kompensation des Todes und die gleichzeitige Ablehnung interpersoneller Aggregation weitreichende Implikationen. Personen haben insbesondere dann einen Anspruch auf Kompensation eines erlittenen Schadens, wenn sie dem Ausführen der sie schädigenden Handlung nicht zustimmen. Wenn man annimmt, dass eine Schädigung, die unkompensiert bleibt, deutlich schwerer zu rechtfertigen ist, als eine Schädigung, die kompensiert wird, weil unkompensierte Schäden ein größeres moralisches Gewicht aufweisen als kompensierte Schäden, ist die Forderung nach Proportionalität nicht erfüllbar. Es gibt Schäden, die unkompensiert bleiben müssen, weil es nicht möglich ist, sie zu kompensieren. Der Tod ist solch ein Schaden. Dem Anspruch einer Zivilistin, für den Verlust ihres Lebens kompensiert zu werden, kann nicht dadurch Rechnung getragen werden, dass ihr nach Erleiden dieses Verlustes eine Leistung zukommt, die diesen Verlust ausgleicht. Der Grund dafür ist schlicht, dass sie nicht länger existiert und daher nichts mehr getan werden kann, wovon sie noch profitieren könnte. Eine intrapersonelle Kompensation des Todes der Zivilistin ist somit nicht möglich. Damit liegt immer, wenn eine Zivilistin im Krieg getötet wird, ein Schaden vor, den zu verursachen nur dann gerechtfertigt ist, wenn er auf- oder überwogen wird. Innerhalb des Lebens der Zivilistin kann dieser Schaden aber nicht mehr aufgewogen werden. Er ist deshalb moralisch besonders gewichtig.

Damit setzen deontologische Theorien etwas voraus, das konsequentialistische Theorien üblicherweise bestreiten. So hält Alastair Norcross fest, Deontologinnen kritisieren aggregierende Positionen unter Rekurs auf Kompensation mithilfe eines Konzepts, das aus konsequentialistischer Sicht irrelevant sei (vgl. Norcross 2008, S. 76).

14

228 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Schlussfolgerungen

Aus einer deontologischen Ablehnung interpersoneller Aggregation scheint zu folgen, dass der intrapersonell nicht kompensierbare Tod einer Zivilistin durch nichts mehr aufgewogen werden kann. Der Umstand, dass viele andere Zivilisten geschützt werden können, wiegt den Tod einer Zivilistin nicht auf. Ihrem Anspruch darauf, dass sie für ihren Verlust kompensiert wird, wird nicht damit Rechnung getragen, dass andere Zivilisten vor dem gleichen Verlust bewahrt werden. Sie hat nichts davon, dass andere nicht sterben. Die Proportionalitätsbedingungen der Theorie des gerechten Krieges deontologisch zu interpretieren, sollte bedeuten, Überlegungen außen vor zu lassen, die auf interpersonelle Aggregation rekurrieren. Es ist dann aber nicht zu sehen, wie die Schäden, die mit einem Krieg verursacht werden, noch durch die Schäden aufgewogen werden können, deren Verhindern ein Krieg zum Ziel hat. Dass Zivilisten getötet werden, lässt sich nicht damit aufwiegen, dass das Überleben anderer Zivilisten gesichert wird. Damit wird die Forderung Proportionalität zu einer für Deontologinnen praktisch unerfüllbaren Bedingung und die Theorie des gerechten Krieges fällt mit einer bestimmten Form des Pazifismus zusammen, nämlich einem Just War Pacifism. Vertreterinnen eines solchen Pazifismus meinen, dass es unter bestimmten Bedingungen durchaus moralisch erlaubt ist, Krieg zu führen – unter den Bedingungen, die innerhalb der Theorie des gerechten Krieges benannt werden. Jedoch weisen sie darauf hin, dass für jeden Krieg gilt, dass mindestens eine dieser Bedingungen nicht erfüllt und somit das Führen von Kriegen immer verboten ist. Die Proportionalität von und im Krieg ist eine solche Bedingung, wenn sie streng deontologisch, d. h. gänzlich frei von (interpersonell) aggregierenden Überlegungen verstanden wird.

229 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

8. Fazit

Es hat sich in dieser Abhandlung gezeigt, dass die Theorie des gerechten Krieges in eine bestimmte Form des Pazifismus kollabiert, wenn die in der Theorie des gerechten Krieges enthaltene Forderung nach Proportionalität bzw. Verhältnismäßigkeit strikt deontologisch interpretiert wird. Diese Forderung deontologisch zu interpretieren, ist deshalb verständlich, weil es sich bei der Theorie des gerechten Krieges nicht um eine konsequentialistische Lehre handelt. Für die moralische Bewertung von Kriegen ist weniger relevant, welche guten und schlechten Konsequenzen ein Krieg insgesamt erwarten lässt. Vielmehr spielen andere Überlegungen eine wichtige Rolle, beispielsweise die, dass es einen guten Grund dafür geben muss, einen Krieg zu führen, und dass Staaten verpflichtet sind, aus ebendiesem Grund einen Krieg zu führen, anstatt bloß eigennützige Ziele zu verfolgen. Die Theorie des gerechten Krieges verlangt dabei auch, sowohl ein Krieg insgesamt als auch eine einzelne Handlung im Krieg müsse proportional bzw. verhältnismäßig sein. Das bedeutet für einen Krieg, dass die Übel, die er hervorbringt, nicht gewichtiger sein dürfen, als die Übel, die er verhindern soll. Und eine einzelne Handlung im Krieg müsse einen Beitrag zum Kriegsgewinn leisten, der den Schaden, den die Handlung verursacht, auf- oder überwiegen kann. Ich habe mich mit der Frage beschäftigt, anhand welcher Kriterien sich bestimmen lassen könnte, ob ein Krieg oder eine Kriegshandlung in diesem Sinne verhältnismäßig ist. Gegeben, dass die Theorie des gerechten Krieges von Deontologinnen vertreten wird, scheidet eine klassisch konsequentialistische Interpretation von Proportionalität aus. Die Proportionalitätsbedingung meint entsprechend nicht, dass es beispielsweise dann erlaubt ist, Krieg zu führen, wenn ein Krieg das Überleben von mehr Menschen sichert, als er Menschen das Leben kostet. Die Proportionalitätsbedingung sollte, wie auch die übrigen Bedingungen der Theorie des gerechten Krieges, deontologisch interpretiert werden. Dies kann bedeuten, dass die Pro230 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Fazit

portionalität nicht ausschließlich vom aggregierten Gesamtwert der Konsequenzen, sondern auch von anderen Überlegungen abhängt, die typischerweise innerhalb deontologischer Ansätze angestellt werden. Einige Deontologinnen meinen jedoch, dass Überlegungen, die auf interpersoneller Aggregation beruhen, grundsätzlich unzulässig seien. Der Umstand, dass ein Krieg mehr Menschenleben schützt, als er Menschenleben fordert, liefere keine Rechtfertigung dafür, den Tod von Menschen zu verursachen. Ich habe argumentiert, dass Deontologinnen dann, wenn sie Proportionalität anhand genuin deontologischer Überlegungen bestimmen und dabei interpersonelle Aggregation ablehnen, einen Just War Pacifism vertreten müssen. Denn die Überlegungen, die Deontologinnen typischerweise ins Feld führen, sind nicht geeignet zu begründen, dass im Falle von Krieg der Tod von Menschen – insbesondere von Zivilisten – jemals aufgewogen und damit verhältnismäßig sein kann. Das Führen von Kriegen ist folglich immer verboten, weil Kriege niemals verhältnismäßig sind. Ich habe in den Kapiteln dieser Arbeit mehrere Überlegungen, die typisch innerhalb deontologischer Ansätze sind, daraufhin diskutiert, inwiefern sie dazu beitragen können, Kriege und einzelne Kriegshandlungen als verhältnismäßig und damit moralisch erlaubt zu erweisen. Vertreterinnen der Theorie des gerechten Krieges verwiesen traditionell auf das Prinzip der Doppelwirkung und dessen Unterscheidung zwischen beabsichtigten und nur vorhergesehenen schlechten Konsequenzen. Das Prinzip der Doppelwirkung ist zentral im jus in bello der Theorie des gerechten Krieges. Dort spezifiziert es die Forderung, die Immunität von Zivilisten während eines Krieges zu beachten. Dass Zivilisten im Krieg Immunität genießen, bedeute dabei nicht, dass es kategorisch verboten ist, sie zu töten. Vielmehr sei es verboten, sie beabsichtigt zu töten. Dagegen könne es erlaubt sein, den Tod von Zivilisten als eine unbeabsichtigte, aber vorhergesehene Nebenfolge hervorzubringen. Das Prinzip der Doppelwirkung spielt auch innerhalb der Proportionalität eine wichtige Rolle. Denn wie schwer der Tod von Zivilisten wiegt und ob er entsprechend gerechtfertigt werden kann, hängt auch davon ab, ob er beabsichtigt oder nur vorhergesehen wird. Kriege, in denen Zivilisten beabsichtigt getötet werden, sind nicht verhältnismäßig. Hingegen können Kriege, in denen der Tod von Zivilisten nur vorhergesehen wird, verhältnismäßig sein. Damit hängt die Erfüllbarkeit der Proportionalitätsbedingung entscheidend davon ab, ob die im Prinzip der Doppelwirkung getrof231 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Fazit

fene Unterscheidung aus moralischer Sicht relevant ist. Es hat sich jedoch gezeigt, dass dies nicht der Fall ist. Es ist (bisher) nicht gelungen, die moralische Relevanz der Unterscheidung zwischen dem Beabsichtigen und dem bloßen Vorhersehen schlechter Konsequenzen überzeugend zu stützen. Zudem lassen sich Fälle konstruieren, die eine Vertreterin des Prinzips der Doppelwirkung moralisch unterschiedlich bewertet, obwohl sie intuitiv gleich zu bewerten sind. Eine Zurückweisung des Prinzips der Doppelwirkung scheint Deontologinnen damit zu einem kategorischen Tötungsverbot von Zivilisten zu führen und deshalb einen Pazifismus zu implizieren – es sei denn, es lassen sich andere Überlegungen zugunsten der These anführen, dass es unter bestimmten Umständen erlaubt ist, Zivilisten zu töten. In diesem Zusammenhang habe ich insbesondere herausgestellt, dass sich die moralische Erlaubtheit von Handlungen, die zum Tod von Menschen führen, auch daran bemisst, wie diese Handlungen vor dem Hintergrund beurteilt werden, dass sie mit dem Risiko einer Schädigung verbunden sind. Es hat sich daraufhin die Frage gestellt, wie riskante Handlungen aus deontologischer Sicht zu bewerten sind. Ich habe argumentiert, dass Deontologinnen den moralischen Status einer riskanten Handlung dann nicht am Erwartungsnutzen der Handlung bemessen sollten, wenn sie skeptisch gegenüber Überlegungen sind, die auf interpersoneller Aggregation beruhen. Deontologinnen gehen häufig von der Annahme aus, dass der Standpunkt der Moral stets der eines Individuums sein müsse, das Ansprüche hat, die berücksichtigt werden müssen, und gegenüber dem eine Handlung gerechtfertigt werden müsse. Diese Annahme führt dazu, riskante Handlungen im Fall von Krieg als moralisch verboten zu beurteilen. Denn es ist einer Person gegenüber nur sehr schwer zu rechtfertigen, sie dem Risiko einer Schädigung auszusetzen, wenn die Wahrscheinlichkeit, dass sie zu Schaden kommt, sehr hoch ist. Das Ausführen riskanter Handlungen ist dann unverhältnismäßig, wenn sie mit einem hohen Schadensrisiko einhergehen. Allerdings können sie verhältnismäßig sein, wenn sie nur mit einem geringen Schadensrisiko einhergehen. Für viele Handlungen im Krieg gilt jedoch, dass sie zu irgendeinem Zeitpunkt, zu dem es noch möglich ist, die Handlungen abzubrechen, eine bestimmte Zivilistin sehr wahrscheinlich schwer schädigen oder töten. Damit gilt für viele Handlungen innerhalb eines Krieges, dass sie mit einem Risiko einhergehen, das aus deontologischer Sicht den betroffenen Zivilisten gegenüber moralisch nicht vertretbar ist. Da viele der Handlungen im Krieg 232 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Fazit

moralisch verboten sind, weil sie zu riskant sind, gilt auch für einen Krieg insgesamt, dass es verboten ist, ihn zu führen. Zivilisten im Krieg dem hohen Risiko auszusetzen, getötet zu werden, könnte allerdings dann gerechtfertigt sein, wenn die Zivilisten einem Krieg und den mit ihm verbundenen Risiken zustimmen. Die Forderung nach Verhältnismäßig könnte aufgrund der Zustimmung der Zivilisten zum Krieg erfüllt sein, Denn zivile Schäden sind dann moralisch weniger gewichtig und können entsprechend aufgewogen werden, wenn eine Zustimmung der Zivilisten vorliegt. Meine Diskussion dieser Überlegung hat jedoch ergeben, dass ein Rekurs auf Zustimmung nicht geeignet ist, das Führen von Kriegen zu rechtfertigen. Geht man bei der Zustimmung nämlich von einer faktischen Zustimmung der Zivilisten aus, so ist einzuwenden, dass diese üblicherweise nicht vorliegt und auch nicht eingeholt werden kann. Hinzu kommt die Schwierigkeit, dass auch dann, wenn einige Zivilisten einem Krieg ausdrücklich zustimmen, die Frage offenbleibt, wie damit umzugehen ist, wenn es Zivilisten gibt, die einen Krieg faktisch ablehnen. Diesen Zivilisten gegenüber wäre es nicht gerechtfertigt, sie dem Risiko auszusetzen, dass sie zu Tode kommen. Anstelle einer faktischen Zustimmung auf eine kontrafaktische Zustimmung der Zivilisten zu verweisen, würde zwar das Problem lösen, dass die Zustimmung nicht tatsächlich abgegeben wird. Jedoch bleibt das Problem, dass nicht alle Zivilisten einem Krieg zustimmen würden, wenn sie die Gelegenheit hätten, ihre Zustimmung ausdrücken. Denn es gibt beispielsweise im Falle humanitärer Interventionen Zivilisten, die einer Intervention etwa deshalb nicht zustimmen würden, weil sie nicht von einer Intervention profitieren, sondern erst durch eine Intervention Gefahr laufen zu sterben. Eine humanitäre Intervention ließe sich dann auch nicht damit rechtfertigen, dass mehr Zivilisten der Intervention zustimmen als diese ablehnen würden. Der Schaden, den eine Zivilistin, die eine humanitäre Intervention ablehnen würde, erleidet, kann nämlich nicht dadurch aufgewogen werden, dass viele andere der Intervention zustimmen würden. Ein Rekurs auf den kontrafaktischen Willen der Mehrheit beruht auf interpersoneller Aggregation – diese aber erscheint aus deontologischer Sicht problematisch. Eine dritte Möglichkeit, das Führen von Kriegen mit der Zustimmung der potentiellen zivilen Opfer zu rechtfertigen, besteht darin, auf die rein hypothetische Zustimmung der Zivilisten zu verweisen. Es ließe sich möglicherweise eine einhellige Zustimmung erreichen, 233 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Fazit

wenn es plausibel wäre anzunehmen, dass alle Zivilisten einer Intervention deshalb zustimmen könnten, weil sie alle einen guten Grund haben, in die Intervention einzuwilligen. Einen guten Grund hätten sie zumindest dann alle, wenn sie ihre Zustimmung in einem hypothetischen Szenario bzw. zu einem Zeitpunkt geben, zu dem ihnen bestimmte Informationen fehlen, die ihnen normalerweise zur Verfügung stehen. Ich habe zum einen argumentiert, dass der Verweis auf die hypothetische Zustimmung der Zivilisten aber auch begründen kann, weshalb eine humanitäre Intervention gerade nicht gerechtfertigt ist. Angenommen, die Zivilisten wüssten beispielsweise nicht, ob sie zu der von einem Regime bedrohten Gruppe gehören oder zu der Gruppe, deren Leben erst durch eine Intervention in Gefahr gerät, und angenommen, die Wahrscheinlichkeit, zur ersten Gruppe zu gehören, wäre kleiner als die Wahrscheinlichkeit, der zweiten Gruppe anzugehören. Dann hätten alle Zivilisten einen Grund, die Intervention abzulehnen, und die humanitäre Intervention wäre daher moralisch verboten. Zum anderen habe ich die These vertreten, dass Handlungen, die ohne die Zustimmung der möglichen Opfer der Handlung verboten wären, nicht dadurch erlaubt werden, dass die Opfer der Handlung zustimmen können, sondern nur dadurch, dass sie tatsächlich zustimmen. Personen haben einen Anspruch darauf, nicht geschädigt zu werden. Während Personen durch eine faktische Zustimmung darauf verzichten, diese Ansprüche weiterhin zu erheben, gilt dies nicht für eine bloß hypothetische Zustimmung. Hypothetische Zustimmung geht nicht damit einher, dass Personen ihre Ansprüche auf Nichtschädigung abtreten. Werden Zivilisten im Krieg getötet, werden ihre angesichts einer bloß hypothetischen Zustimmung weiterhin zu berücksichtigen Ansprüche darauf verletzt, keinen Schaden zu erleiden. Und wenn Menschen geschädigt werden, die dem Ausführen potentiell schädigender Handlungen nicht in einer Weise zustimmen, die zur Folge hat, dass ihre Ansprüche nicht mehr berücksichtigt werden müssen, dann haben diese Menschen einen Anspruch auf eine Kompensation des erlittenen Schadens. Die Überlegung, dass Zivilisten, die im Krieg zu Schaden kommen und die einen Krieg entweder faktisch ablehnen oder ihm nur hypothetisch zustimmen, einen Anspruch auf Kompensation haben, hat schließlich gezeigt, dass Vertreterinnen der Theorie des gerechten Krieges eine pazifistische Position vertreten müssen. Inwiefern Schäden kompensiert werden oder unkompensiert bleiben, ist wichtig für 234 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Fazit

die Frage nach der Verhältnismäßigkeit von Kriegen. Schäden, die nicht kompensiert werden, wiegen deutlich schwerer als Schäden, deren Kompensation erfolgt. Der Schaden, den Zivilisten im Krieg erleiden, ist der Tod, und dieser Schaden ist prinzipiell nicht kompensierbar. Denn erstens erlaubt der Tod keine intrapersonelle Kompensation, also eine, die zu einem späteren Zeitpunkt innerhalb des Lebens einer Person erfolgt. Personen, die gestorben sind, können nach ihrem Tod nicht mehr davon profitieren, dass ihnen Leistungen zukommen, die ihr Leid wiedergutmachen sollen. Zweitens kann der Tod eines Menschen – wie auch jeder andere Schaden – nicht interpersonell kompensiert werden. Der Schaden, den eine Person erleidet, kann nicht dadurch kompensiert werden, dass eine andere Person von einer Schädigung verschont bleibt. Denn die Person, die zu Schaden kommt, hat nichts davon, dass jemand anderes nicht geschädigt wird. Kompensation kann nicht über Personengrenzen hinweg geleistet werden. Die Überlegung, dass Kompensation denjenigen Personen zukommen müsse, die geschädigt werden, hat einerseits gezeigt, weshalb Deontologinnen Überlegungen, die auf interpersoneller Aggregation beruhen, für unzulässig halten. Sie hat andererseits gezeigt, weshalb eine strikt deontologische Interpretation von Proportionalität diese Forderung unerfüllbar macht und damit die Theorie des gerechten Krieges mit einer pazifistischen Position zusammenfallen lässt. Die Übel, die ein Krieg verursacht, können nicht durch die Übel aufgewogen werden, die ein Krieg verhindert. Das Übel, dass Zivilisten zu Tode kommen, lässt sich nicht damit aufwiegen, dass andere Zivilisten davor bewahrt werden zu sterben. Die Forderung nach Proportionalität von und im Krieg ist somit nie erfüllt. Mithilfe der Theorie des gerechten Krieges lässt es sich folglich niemals rechtfertigen, einen Krieg zu führen und im Krieg Zivilisten zu töten. Vertreterinnen der Theorie des gerechten Krieges behaupten, es sei unter bestimmten Bedingungen erlaubt, einen Krieg zu führen. Es hat sich aber gezeigt, dass eine dieser Bedingungen niemals erfüllt ist. Damit fällt die genannte Behauptung mit der einer Pazifistin zusammen, dass es niemals erlaubt ist, einen Krieg zu führen. Bei der Theorie des gerechten Krieges handelt es also um eine bestimmte Form des Pazifismus, nämlich einen Just War Pacifism. Gegen einen Just War Pacifism ist jedoch eingewendet worden, dass es sich bei dieser Position streng genommen nicht um einen Pazifismus handle. So argumentieren Barbara Bleisch und Jean-Daniel Strub, ein Pazifismus im235 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Fazit

pliziere die Ablehnung aller mit Krieg verbundenen Institutionen und Aktivitäten, nicht nur die These, niemals Krieg führen zu dürfen. 1 Ich denke, es ist unerheblich, ob wir es hier mit einem Pazifismus zu tun haben, der durch die Theorie des gerechten Krieges motiviert ist, oder mit der Theorie des gerechten Krieges, die sehr in die Nähe eines Pazifismus rückt. Meines Erachtens handelt es sich hierbei um einen rein terminologischen Streit darüber, was die notwendigen begrifflichen Bestandteile einer pazifistischen Position sind. Ich halte die Frage, ob es zutrifft, dass angesichts meiner Überlegungen alle Deontologinnen per definitionem als Pazifistinnen bezeichnet werden sollten, für wenig interessant. Mein argumentatives Ziel bestand darin zu zeigen, dass sich mithilfe der Theorie des gerechten Krieges niemals Krieg rechtfertigen lässt. Damit teilen Vertreterinnen der Theorie des gerechten Krieges letztlich mit Pazifistinnen die Überzeugung, dass für jeden einzelnen Krieg gilt, dass es moralisch falsch ist, ihn zu führen. Die Rede davon, dass jeder einzelne Krieg moralisch falsch ist, bedarf hierbei einer Präzisierung. Vertreterinnen eines kategorischen Pazifismus behaupten, Krieg sei in allen möglichen Welten moralisch verboten. Es gebe also keine Umstände, unter denen es gerechtfertigt sein könnte, einen Krieg zu führen. Konditionale Pazifistinnen hingegen sind der Meinung, Krieg sei zwar nicht allen möglichen Welten verboten, wohl aber in der aktualen Welt sowie in allen möglichen Welten, die der aktualen Welt beispielsweise mit Blick auf erwartbare zukünftige Entwicklungen hinreichend ähnlich sind. Es gebe folglich Umstände, unter denen es erlaubt sein könnte, einen Krieg zu führen – jedoch sind diese Umstände tatsächlich niemals gegeben. Ich habe den Just War Pacifism als eine Form des konditionalen Pazifismus eingeführt. Vertreterinnen dieser Position halten das Führen eines Krieges unter bestimmten Umständen für moralisch gerechtfertigt, nämlich unter den Umständen, die innerhalb der Theorie des gerechten Krieges in Form der Bedingungen des jus ad bellum und des jus in bello formuliert werden. Sie behaupten aber zugleich, dass (mindestens) eine dieser Bedingungen stets verletzt werde, sodass es niemals erlaubt sei, Krieg zu führen. Ich habe die These verteidigt, dass die Proportionalitätsbedingung solch eine unerfüllbare Bedingung ist, wenn diese streng deontologisch ohne Rekurs auf interpersonelle Aggregation verstanden wird. Zumindest ist sie dann nicht 1

Vgl. Bleisch / Strub 2006, S. 27–30.

236 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Fazit

erfüllbar, wenn im Krieg Zivilisten zu Tode kommen, da ihr Tod nicht aufgewogen werden kann. Grundsätzlich scheinen mir damit zwei Formen von Krieg übrig zu bleiben, die zu führen moralisch erlaubt sein könnte. Zum einen könnte ein Krieg, z. B. eine humanitäre Intervention, dann verhältnismäßig (und auch gerechtfertigt, wenn die übrigen Bedingungen der Theorie des gerechten Krieges ebenfalls erfüllt sind) sein, wenn alle Zivilisten, die im Zuge der Intervention zu sterben drohen, dieser faktisch zustimmen. Denn die faktische Zustimmung der Zivilisten würde verhindern, dass sie nach Eintreten einer Schädigung einen Anspruch auf Kompensation haben, die im Falle des Todes weder intra- noch interpersonell möglich ist. Gleichsam wäre eine humanitäre Intervention möglicherweise auch dann erlaubt, wenn nicht alle Zivilisten faktisch zustimmen, aber diejenigen, die eine Intervention ablehnen, identifizierbar sind und wenn sichergestellt werden kann, dass diese Zivilisten keinen Schaden oder ausschließlich Schäden erleiden werden, die Zivilisten nicht dem Risiko zu sterben aussetzen. Hierbei könnte es sich um Kriege handeln, in denen beispielsweise durch umfangreiche Evakuierungsmaßnahmen vor Kriegsbeginn sichergestellt wird, dass sich keine Zivilisten an den Orten befinden, an denen ein Krieg geführt wird. Es könnte sich aber auch um Kriege handeln, die dort geführt werden, wo sich grundsätzlich keine Zivilisten aufhalten. Ein reiner Seekrieg, in denen keine Zivilisten involviert sind, könnte beispielsweise moralisch erlaubt sein. Die grob skizzierten Arten moralisch zulässiger Kriege sind jedoch nur unter der Bedingung erlaubt, dass die zu sterben drohenden Soldaten freiwillig kämpfen. Soldaten, die zum Kriegsdienst gezwungen werden, sind nicht oder nur vermindert moralisch verantwortlich dafür, dass sie eine Gefahr für das Leben anderer Menschen darstellen. Sie sind nach Jeff McMahans Terminologie im relevanten Sinne unschuldig und haben entsprechend ebenso wie Zivilisten einen Anspruch darauf, nicht geschädigt zu werden. Sowohl Kriege, denen (fast) alle Zivilisten faktisch zustimmen als auch Kriege, die keine Zivilisten gefährden, sind nicht die Kriege, mit denen wir es gegenwärtig und voraussichtlich auch in naher Zukunft zu tun haben. Theoretisch ist es damit in wenigen Fällen zulässig, Krieg zu führen. Praktisch aber ist Krieg aus deontologischer Perspektive niemals gerechtfertigt. Deontologinnen sind auf eine pazifistische Position festgelegt, wenn sie Überlegungen ablehnen, die auf interpersoneller Aggregation beruhen. Deontologinnen haben 237 https://doi.org/10.5771/9783495999547 .

Fazit

verschiedene Möglichkeiten, diese pazifistische Konklusion zu vermeiden. Erstens könnten Deontologinnen versuchen, plausibel zu machen, dass es auch ohne einen Verweis auf interpersonelle Aggregation möglich ist, den Tod von Zivilisten aufzuwiegen. Hierzu könnten sie zeigen, dass es erlaubt ist, Handlungen auszuführen, die vielen Menschen helfen, aber gleichzeitig wenigen anderen Menschen schaden, ohne in der Begründung dieses moralischen Urteils auf aggregationistische Überlegungen zurückzugreifen. Innerhalb der Diskussion über die Zulässigkeit interpersoneller Aggregation gibt es Vorschläge, wie sich ohne Aggregation zeigen lassen könnte, dass es moralisch richtig ist, eine größere statt einer kleineren Gruppe von Menschen zu retten, wenn es nicht möglich ist, allen Betroffenen zu helfen. 2 Es ist jedoch zu bemerken, dass es sich hierbei um Fälle handelt, in denen die typisch deontologische Unterscheidung zwischen Tun und Unterlassen nicht greift. Es handelt sich nämlich nicht um Fälle, in denen entweder Menschen ein Schaden zugefügt wird oder andere Menschen vor einem Schaden bewahrt werden, sondern um Fälle, in denen entweder viele Menschen vor einem Schaden bewahrt werden oder wenige. Eine deontologische Begründung dafür, dass es gerechtfertigt ist, viele statt wenige Menschen zu schützen, wäre also daraufhin zu prüfen, inwiefern sie auch dann einschlägig ist, wenn wir vor der Wahl stehen, viele Menschen zu schützen oder wenige zu töten. Zweitens können Deontologinnen versuchen zu argumentieren, dass Überlegungen, die auf interpersoneller Aggregation beruhen, in bestimmten Fällen zulässig sind. Sie müssten dann aber auch zeigen, dass die Fälle, mit denen wir es im Hinblick auf Krieg zu tun haben, solche Fälle sind. Solange Deontologinnen nicht plausibel machen können, dass sich entweder auch ohne interpersonelle Aggregation begründen lässt, weshalb es verhältnismäßig sein kann, im Krieg das Leben von Zivilisten aufs Spiel zu setzen, oder dass es unproblematisch ist, den Tod einiger Zivilisten durch das Überleben anderer Zivilisten aufzuwiegen, sind Deontologinnen auf einen Pazifismus festgelegt. Damit sind sie einem Einwand ausgesetzt, der gegen jede pazifistische Position geltend gemacht werden kann. Pazifistinnen behaupten, es sei falsch, einem Übel wie dem drohenden Tod unschuldiger Menschen, damit zu begegnen, selbst Übel hervorzubringen, indem der Zu nennen sind hier beispielsweise die Arbeiten von Thomas Scanlon (1998), Jens Timmermann (2004) und Michael Otsuka (2006).

2

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Fazit

Tod Unschuldiger durch das eigene Handeln hervorgebracht wird. Damit jedoch lassen Pazifistinnen tatenlos zu, dass unschuldige Menschen getötet werden. Es erscheint aber moralisch nicht vertretbar, nichts dagegen zu unternehmen, dass Menschen getötet werden. So wendet auch Elizabeth Anscombe gegen den Pazifismus ein: »[S]eeing no way of avoiding ›wickedness,‹ [pacifists] set no limits to it.« 3 Dieser Einwand lässt sich auch so formulieren: Pazifistinnen meinen, ihren moralischen Pflichten bereits dadurch nachzukommen, dass sie es nicht selbst sind, die Menschen töten. Entscheidend sei also, dass man sich nicht selbst »die Hände schmutzig mache«. Die »clean hands policy« 4, die Pazifistinnen befolgen, erscheint ebenfalls moralisch verwerflich. Auch jemand, der keine Übel aktiv herbringt, mache sich moralisch schuldig, wenn er wissentlich und willentlich zulässt, dass andere Menschen Übel hervorbringen. Dieser Einwand gegen die pazifistische Position ist meines Erachtens berechtigt. Wenn man davon ausgeht, dass die Pflicht besteht, Menschen in Not zu helfen und sie gegen Gewalt zu schützen, stehen Pazifistinnen vor dem Problem, dieser Pflicht nicht nachzukommen. Es ist falsch, beispielsweise im Falle eines Genozids nichts zu unternehmen. Pazifistinnen haben nach meinen bisherigen Ausführungen noch keine positive Antwort auf die Frage gegeben, was wir im Falle solch massiver Menschenrechtsverletzungen tun sollen (und können), wenn eine militärische Hilfe aus moralischer Sicht ausgeschlossen ist. Damit bleibt jede pazifistische Position unbefriedigend, die keine Aussagen darüber macht, wie Menschen, deren Überleben akut bedroht ist, aktiv geholfen werden kann. Deontologinnen scheinen nun aber in besonderer Weise verpflichtet, dahingehend substantielle Vorschläge zu unterbreiten. Eine Möglichkeit, sowohl der Pflicht, Menschen nicht zu schädigen, als auch der Pflicht, Menschen zu helfen, nachzukommen, könnte in der Forderung bestehen, Menschen, deren Schutz gefordert ist, aus Situationen zu befreien, in denen sie einem Schadensrisiko ausgesetzt sind, und sie dort unterzubringen, wo sie sich in Sicherheit befinden. Eine pazifistische Position geht möglicherweise mit der Annahme besonders starker Verpflichtungen dahingehend einher, Menschen, die aus Kriegsregionen flüchten, aufzunehmen oder ihnen eine sichere Flucht zu ermöglichen. 3 4

Anscombe 1961, S. 255. Vgl. Orend 2005, S. 16.

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