Walter Spies: Ein exotisches Leben 3777430234, 9783777430232

Er ließ alles hinter sich: Den gesellschaftlichen Status als Sohn eines Industriemagnaten, seinen Geliebten, den Filmreg

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German Pages 240 [243] Year 2018

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Table of contents :
Danksagung
Inhaltsverzeichnis
Kapitel 1 - Unschuld und frühe Sühne
Kapitel 2 - Frühlings Erwachen
Kapitel 3- Kapellmeister des Sultans
Kapitel 4 - Immer nach Hause
Kapitel 5 - Pita Maha
Kapitel 6 - Das Leben ein Tanz
Kapitel 7 - So kam er unter die Deutschen
Epilog - Glückliche Tropen
Personenverzeichnis
Sachverzeichnis
Literaturhinweise
Abbildungsnachweis
Bilder
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Walter Spies: Ein exotisches Leben
 3777430234, 9783777430232

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In Erinnerung an Hans Rhodius

MICHA(l SCHINDH(lM

(in exotisc~es le~en

HIRM ER

Danksagung

Horst Jordt, dem Präsidenten der Walter Spies Gesellschaft Deutschland, bin ich für ebenso lehrreiche wie unaufdringliche Anregungen zu Dank verpflichtet. Das von ihm betreute Walter Spies Archiv hat großzügig dokumentarisches Material und Fotografien zur Verfügung gestellt. Ohne die Lektüre von Hans Rhodius' seit Jahrzehnten vergriffenem Band Schönheit und Reichtum des Lebens, Walter Spies wäre dieses Buch nicht möglich gewesen. Unter den Quellen (siehe Literaturhinweise im Anhang) möchte ich außerdem Island of Bali von Miguel Covarrubias aus dem Jahr 1937 sowie die aktuellen Werke über Spies von John Stowell (Walter Spies, a Life in Art) und Jamie James (The Glamour ofStrangeness) erwähnen. Michael Schindhelm

Inhaltsverzeichnis

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Kapitel 1: Unschuld und frühe Sühne 39

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Kapitel 2: Frühlings Erwachen

Kapitel 3: Kapellmeister des Sultans 106

Kapitel 4: Immer nach Hause 130

180 194

Kapitel 5: Pita Maha

Kapitel 6: Das Leben ein Tanz

Kapitel 7: So kam er unter die Deutschen 210

Epilog: Glückliche Tropen

216 Personenverzeichnis 221 Sachverzeichnis 223 Literaturhinweise 224 Abbildungsnachweis

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Kapitel 1 Unschuld und frühe Sühne

Der Gekko an der kahlen Wölbung des Tropenhimmels wirkte sogar aus dieser Enifernung größer als jene zu Hause auf Campuhan. Allein die stumpfilluminierte, basalifarbene Haut machte stutzig. »Nakajima-Auf klärer«,frohlockte Bohle, der vorn kniete, nach einigen Sekunden, »Heil Hitler!« Durchs Fenster verfolgten sie, wie der Gekko herunterkletterte. Zielbewusst.Japanische Schriftzeichen und ein unmissverständlicher roter Kreis am Heck. Das MG-Feuer hatte liingst eingesetzt, an Deck brachte man sich in Deckung. Dann fiel die erste Bombe. »Adolf sei bei unsDa will ich hin>Mir selbst scheint esja, lieber Herr Roh, daß ich vielleicht in zehn Jahren erst soweit sein werde, daß meine Bilder mich ganz befriedigen.« Vermutlich ahnte er bereits, dass er diesen Punkt nie erreichen würde. »Ich fühle genau, daß es in mir weiterwachsen wird, deshalb habe ich gar keine Eile.« Die Hauptablenkung aufBühlerhöhe war jedoch zunächst gesellschaftlicher Art und so ganz nach Walters Geschmack. Eine nicht mehr ganz junge Dame, deren Gatte sich im Kurheim von einem Herzanfall erholte, verwickelte Walter - vermutlich beim Sonnenbaden - in ein Gespräch über Musik, und wie sich herausstellte, kannte der junge Mann nicht nur Bach, sondern sogar Johann Hermann Schein, Heinrich Schütz und Georg Philipp Telemann. Zu Spiesens »Fähigkeit, glücklich zu sein«, gehörte die instinktive Zuneigung zu Menschen, die ihm buchstäblich Gutes tun wollten. Die Kultur des Verfalls, allmählich das moralische und soziale Ende der ersten deutschen Demokratie vorbereitend, hatte gewissen Menschen mit einer Tendenz zu uneigennützigem Idealismus nicht nur nichts antun können, sondern ihren Idealismus erst zur Blüte gebracht. Auf geheime Weise,

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sich erst Jahre später enthüllend, galt das sogar für Murnaus Verhältnis zu Walter. Augenblicklich präsent war dieser Idealismus jedoch in der Begegnung mit Georgette Schoonderbeek-Vreedenberg. Sie selbst hat die Szene in einem Rückblick festgehalten. Der knapp Siebenundzwanzigjährige spaziert mit der fünfundfünfzigjährigen Holländerin über die Höhenzüge des Nordschwarzwalds, über den Luchspfad, zur Waldkapelle oder zur Kohlbergwiese. Der zutrauliche junge Mann erzählt von den Klavierstunden in Moskau, dem Tod des Vaters, den Jahren der Verbannung unter den Tataren. »Wir trennten uns, wie das nach gemeinschaftlichem Hotelleben so oft der Fall ist: eine nette Erinnerung, weiter nichts.« Johan, Georgettes Ehemann, war Dirigent des Naardener Bachchors. Kurz vor einer Reise nach Breslau, wo die Schoonderbeeks das jährliche Bachfest zu besuchen geplant hatten, erhielt er einen dringlichen musikalischen Auftrag. Er hatte selbst den Einfall: der junge Bachverehrer aus Berlin! Nach einigen Depeschen reiste Georgette in Begleitung von Walter. Im Schwarzwald hatten sich ihre Gespräche nahezu ausschließlich um Musik gedreht. Erst jetzt wurde Georgette klar, dass sie in erster Linie einen Künstler vor sich hatte. Gerade war die Große Berliner Kunstausstellung mit seiner Beteiligung zuende gegangen. Das musste er ihr verraten haben. Und dass er sich nichts sehnlicher wünschte als eine eigene Ausstellung, nach Möglichkeit im Ausland, nach Möglichkeit in Holland. »Dass die damaligen Valutaverhältnisse zu diesem Wunsch beitrugen, versteht sich von selbst«, kommentiert Dame Schoonderbeek später. Zu der Zeit besaß die Reichsmark gerade noch ein Tausendstel ihres Wertes von 1914. Ein Jahr zuvor war er noch zehn Mal höher gewesen. Georgette konnte sich Walters

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Charme nicht entziehen und ließ sich nach Breslau von ihm in Murnaus Grunewaldhaus einladen. Ein Idyll muss die Douglasstraße in jenen Tagen geboten haben. Murnau hatte für Walter einen Flügel gemietet, da waren Staffelei und Leinwand. Der Regisseur, so Georgette, brauchte Spies' »sonnige Heiterkeit, die unbezwingbare Lebensfreude«. Beide Männer, aus gewiss unterschiedlichen Gründen, hatten zu ihr Vertrauen gefasst. Als sie den Grunewald verließ, hatte sie bereits den Plan im Kopf, ihre Verbindungen geltend zu machen, um Walters Arbeiten in den Niederlanden auszustellen. Angespornt von 1 den neuen Aussichten, malte Walter das Karussell zue~de und begann eine Serie von Bildern, die sich - spinöse Poeme auf das Landleben und seine Menschen - wie Wiederbegegnungen mit der Seelenlandschaft des Urals lesen lassen. Issay Dobrowen ließ sich überraschend in Dresden nieder, nachdem die Bolschewiki seinen Arbeitsvertrag nicht verlängert hatten, obwohl er noch kürzlich vor Väterchen Lenin selbst hatte auftreten dürfen. Möglicherweise haben sich die Freunde in Berlin oder an der Elbe wiedergesehen und der wilden Moskauer Monate gedacht. Die heftige Unruhe der Zeit war, wie sie selbst wussten, tief in sie gedrungen, und die Arbeit am Werk schien der einzige Weg, ihr nicht vollständig zu verfallen. Dobrowen assistierte bald dem Dirigenten Fritz Busch an der Semperoper und legte mit Boris Godunow den Grundstein für seine spätere Karriere im Westen. Veränderungen weit größeren Ausmaßes standen Spies bevor. Er, der Unbedenkliche, mag sie weniger erahnt als vielmehr absichtlich provoziert haben. Rastlosigkeit und Produktivität waren das Ergebnis, Eigenschaften, die seiner eigenen Versicherung gegenüber Kunstkritiker Roh, keinerlei Eile zu haben, Hohn zu sprechen schienen. In wenigen Monaten

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entstanden Schlittschuhläufer, Spreewald, Thüringer Wald, Baschkirischer Hirte und Das Tatarenfest. Inzwischen hatte Bruder Leo geheiratet und Walter zum Trauzeugen gebeten. Diese Rolle genügte ihm naturgemäß nicht. Leo zufolge brachte er die Gesellschaft zum Lachen und sowohl den Standesbeamten als auch den Pastor aus der Fassung. Der Familiensinn hatte bei Walter nicht nachgelassen. Die wirtschaftliche Lage drückte. Der von Bruno verwaltete Familientrust, mit dem Vater Leon die Spiesens vor dem Ruin hatte retten können, warf wegen der rasenden Inflation immer weniger ab. Walter verhalf Leo zu Filmkompositionen und wird auch Martante und Daisy ab und an unter die Arme gegriffen haben. Austreibung lautet der beziehungsvolle Titel von Murnaus nächstem Film, mit dem der Regisseur im Herbst und Winter 1922/23 beschäftigt war. Spies' künstlerische Beratung schien diesmal nicht benötigt worden zu sein. Oder hatte Walter das Angebot womöglich ausgeschlagen? Abgesehen von der Atelierarbeit hielt er die Beziehung zu Georgette in stetigem Fluss und sah das Ehepaar Schoonderbeek sogar im verschneiten Oberhof am Rennsteig, wo ihm die Idee zu dem herben Thüringer Wald gekommen sein muss. Spies schätzte es damals als sein bislang bestes Werk, betrachtete es paradoxerweise jedoch auch als einen »Kurzschluss«, weil darin zwar »Ruhe« sei, »aber auch schon ganz tot und erstarrt> Ich könnte wahnsinnig werden bei dem Gedanken, wie schön es hier ist, und wie furchtbar es ist, dass ihr alle dort in Deutschland seid und in Schlamm und Scheußlichkeiten erstickt.« Spies erwacht offensichtlich in einer lebendigeren, farbigeren Welt. Bereits auf der Zugfahrt nach der Flucht bestaunt er »Berge, Berge, Berge rechts und links, und von so phantastischen Formen, wie auf chinesischen Bildern ... , mit Bananenhainen und Kokoswäldern«. Sogleich fängt die leicht erregbare Fantasie »Atlasschmetterlinge und Seidenraupen in den Schluchten, über die wir flogen«. Nach einer Woche hat er bereits einen eigenen Diener und spricht »ganz gut Malaiisch«, beherbergt einen »lieben Affendiesen Halbgöttern«. »Tropfenweise, tiefe, erschütternde Gongschläge« erklingen zu Beginn des Gamelan, gefolgt von figurativen Frauenund Männerstimmen, kristallklaren Stahlklängen und Holztönen, wimmernden Violinen, »nadelfeinen Koloraturen von zarten Schilfflöten«, abwechselnd sanfter und wilder werdend. Dieser »Urwald« aus Tönen begleitet vier Prinzessinnen, die vor dem Sultan in edlen Gewändern tanzen, und Spies verfolgt gebannt, wie sie zur Grundstellung gelangen: >>mattockergelb bemalte« Körper, wie altägyptische Königinnen, in Stein gehauene Physiognomien, kleine Mädchen mit Schwert und Schild im Gefolge, in einem »todesstillen Tanzschritt«. Nun setzt der eigentliche Zauber ein, in perfektem Gleichmaß die Drehung einer Schleppe, das Auf- und Niederschlagen der Augen, die stilisierte Handbewegung, zuweilen in unendlich langsamen und unmerklichen Bewegungen, dann wieder »wilde Schlangengeschichten und Springfluten«, alles bis auf »einen Millimeter gleich, und wenn sie mit dem Fuß das Kleid zurechtschleudern, so ist auch das im Rhythmus«. Nach minutenlanger Stille bekämpfen sich die Prinzessinnen plötzlich mit den Schwertern, schleichen in unwahrscheinlichsten Stellungen wie auf einem Relief, »bleiche, gelblich durchsichtige, zarte Gesichter, die Lippen leicht getönt«. Diese nach ungefähr sechs Wochen Java-Aufenthalt aufgezeichnete Detailschilderung ist zweifelsohne nicht aus zweiter

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Hand. Spies ist darin vollständig präsent. Der Tänzer und Musiker, der Universalästhet in ihm erschaut das Ereignis aus Bewegung und Klang und vermag davon mit einer Intensität zu berichten, als wäre man selbst dabei gewesen. Das Buch Ecce homo protokolliert, wie Friedrich Nietzsche zu Beginn der Arbeit am Zarathustra Inspiration erlebt haben will, nämlich so, wie es sonst »Dichtern starker Zeitalter« vorbehalten sei. Am Ende eines Metaphernstroms, wie ihn die deutsche Sprache wohl nicht wieder hervorgebracht hat, steht der Satz: »Dies ist meine Erfahrung von Inspiration; ich zw9ifle nicht, dass man Jahrtausende zurückgehn muss, umJ~anden zu finden, der mir sagen darf >es ist auch die meine~~lüht es immerfort« im Kopf, dabei sei es nur ein »wü~_z\ges Ollämpchen. Das ist hell genug und wunderbar billig!. Uberdies ist da die nette Bleibe bei Djodjodipuro: Wohnung, Essen (gebratene Heuschrecken, geröstete fliegende Ameisen, Raupen vom Atlasspinner), Gehalt für »meinen Diener, meinen Gärtner, meine Köchin«, und mit »wunderbaren Batiken« aus der Pfandleihe richtet er sich gemütlich ein. Seine Hoheit Raden Mas steuert ein Bett bei, so groß, dass »zehn Leute darin Platz haben«. Spies haben es der »Wald und die schönen Lotusaugen eines Javaners« angetan. Tausend Küsse schickt er den »lieben Europäern« (sie!) zu Hause, und fügt hinzu: »Die Javaner küssen sich nicht, sondern beriechen sich.« Er muss es längst wissen. Ohne Geld geht es aber doch nicht, und das ist weiterhin knapp. Der Sultan ist knausrig, ebenso der Resident, für den er die Kopie eines grässlich schlechten Bilds malen soll sowie »eine Ecke im Garten«. Zum Malen bleibt überdies kaum Zeit. Spies beginnt daher Fotos von allem zu machen, was seine Aufmerksamkeit fesselt, also insbesondere Landschaften und ihre Bewohner, um diese später als Vorlagen für seine ersten größeren Arbeiten wie Die Krabbenfischer zu verwenden. Nicht nur, um sich selbst besser auszustatten, sondern vor allem, um den

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einen oder anderen Gulden nach Hause zu schicken, lässt er sich keinen Konzertauftritt entgehen. Unter Veranstaltern hat es sich bald herumgesprochen, dass es in Yogyakarta einen talentierten jungen Pianisten gibt. In einem Salon, »worin sehr fette gehörnte Ochsen an Kartentischen Nächte durchsitzen«, tritt er mit seinem javanischen Orchester auf.jedoch arrangiert als eine flotte Jazzband, sodass den Hornochsen bei »ultraviolettesten Foxtrotts« die Karten aus den Händen fliegen. NataliaBoshko kommt gerade aus China, um ihre Tournee auf Java fortzusetzen. Die berühmte russische Geigerin lehnt den gewohnten Partner ab und wünscht Spies als Begleiter. Der Auftrag, »nicht allzuschwere Dinge ... Kreutzersonate, Brahms G-Dur und eine Debussysonate«, erlaubt ihm, eine Woche über die Insel zu reisen. Die Russlandverbindung findet fast nahtlos ihre Fortsetzung, schon ist er mit dem Cellisten Stupin im Lande unterwegs. Der erweist sichjedoch als ein »furchtbarer Charakter«. Die Kritik ist hingegen von beiden Konzerten begeistert und dieser Erfolg entgeht den lokalen Musikliebhabern nicht. Der Susuhunan (Herrscher) von Surakarta lädt Spies ein, ihm bei der Modernisierung des Orchesters zu helfen. Spies scheint die Chance auf eine neue Anstellung zu wittern, aber offenbar bekommt man in Yogyakarta Wind von der Sache und so wird daraus nichts. Eigentlich fühlt er sich im Kraton von Hamengkubuwono VIII ja auch pudelwohl, besonders >>wenn ich in meiner Uniform, grün, rot und gold und mit roter Bahnhofsvorstehermütze, Butterfly am Klavier mitspielen muss«. Anlässe dieser Art ziehen sich »von neun morgens bis sechs abends« hin und werden üblicherweise mit Champagner und »großen Cigarren« abgerundet. Deutscher Besuch stellt sich ein, die Tänzerin Gertrude Leistikow zum Beispiel, um die Srimpitänze zu studie-

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ren. Außerdem »gibt es auch nirgends auf der Welt soviel Ruhe, von Menschen gezeugt«. Zwischendurch wird die Ruhe gestört: »Mein Klavier, das schon etwas klapprig ist, spielte ganz von alleine in einer Sekunde die ganze >Chromatische Phantasie< von Bach herunter!« Dergleichen Erdbeben kämen, so Spies, »alle zehenlang« vor, doch sei noch nie etwas eingestürzt. Anders sei es freilich im Hochland, wo die Berge »sichtbar!« wackelten und der Urwald Wellen schlage. Selbst habe man jedoch nur das Gefühl, betrunken zu sein oder »auf einer Schaubudentreppe zu ste~en, wie im Lunapark«. Im Kraton wimmelt es selbstredend von »zarten lotusäugigen Knaben«, von denen Spies einen so gut wie adoptiert. Es handle sich um ein Kind der Ouvertüre, bedeutet er seiner einstigen Gönnerin Bertel Kleyer, und das muss nun wirklich erklärt werden. Dem Sultan beliebte es nämlich, seinen Musikern besondere Namen zu geben, und so hießen Metro, Sosro, Sarti, Ardjo etc. im Kraton September, Donnerstag, Donauwellen, Fantasie, Regimentstochter usw. »Oh Bertele, darunter sind so schöne, so herrliche Köpfe, daß man's schade findet, daß sie sich durch europäische Musik so beschmutzen.« Unter den im Allgemeinen die indonesische Kultur geringschätzenden Europäern gab es etliche Ausnahmen. Das musste selbst Spies einsehen. Und die ethische Politiek hatte zuweilen ihr Gutes. Das koloniale Java-Institut etwa richtete jährlich eine Konferenz in Yogyakarta aus, die sich in diesem Jahr der Frage widmete, wie in der Erziehung der Urbevölkerung deren eigene Kultur stärker gefördert werden könnte. Spies, bei der Kolonialverwaltung bereits als ein Mann mit besten Beziehungen zum Palast bekannt und für sein Interesse an indigener Kunst geschätzt, richtete eine Ausstellung über javanisches

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Kunsthandwerk aus und stellte mit einer Mischung aus Zufriedenheit und Überraschung fest, dass es doch eine ganze Reihe kluger Holländer gebe und auf der Konferenz sogar einige Prinzen gesprochen haben. Es ist Fastenmonat, Puasa, und warum sollte er nicht auch fasten? Um vier Uhr früh nimmt er ein Mahl zu sich, dann schreibt er Briefe bis halb sechs, im Morgenrot geht er der Sonne entgegen, durch Bambuswälder, am Fluss entlang. Wie ein Storch fängt er Frösche und »buntgetigerte Schlangen«. Musik ist im Kraton derzeit untersagt. Der Tag gehört ohne Unterbrechung der Arbeit an der Staffelei. Geht die Sonne unter, steigt er auf eine Kokospalme und kann von dort die halbe Welt überblicken. Demnächst wird er für drei Wochen in die Ferien gehen, in die Berge. In Gedanken ist er bereits dort, in der »warmfeuchtduftenden Atmosphäre«. »Raubtierhafte« Blumen »lauern im Gebüsch«, die Sonne verdüstert sich hinter den Flügeln eines kleinen Schmetterlings. Ein »Nashornvogel füttert seine Frau mit runden Früchten, . . . alles trieft, tropft, schwitzt ... vollllll glockenhaftem Gezirpe und Geklingel«. Kurze Zeit darauf bestaunt er tatsächlich den Vulkan Merapi, der vor »türkisenen und tiefvioletten Winterwolken« dampft. »Ich kann nicht oft genug dahin.« Derweil ist die Regenzeit lange vorbei, bald wird es ein Jahr sein, dass Spies auf Java lebt. Gerade das Weltkind hat seine blauen Stunden, nur verbringt Walter diese meist mit sich allein. Das Briefeschreiben ist oft eine Befreiung von jener Einsamkeit, die den doppelt Fremden des Öfteren ankommt. Sein Gewissen komme ihm vor wie ein Aquarium, dessen Wasser trübe geworden sei. Ein Wasserwechsel tue Not, wie Spies der Mutter schreibt, damit er »wieder ein paar Wochen« in seinem Gewissen schwimmen könne »oder es in mir«. Die Innenwelt

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des Künstlers scheint von nun ab immer deutlicher gespalten zu sein in den Musiker und in den Maler. Als Musiker öffnet sich Spies inmitten der ihn umgebenden Gesellschaft aus Spielern und Publikum. Der Maler Spies zieht sich zurück in eine magische Landschaft, die den Menschen nicht als Gefährten, sondern in unpersönlicher Gestalt eines Bauern oder Jägers beherbergt. Ein Amsterdamer Anthropologe, C. T. Bertling, beschrieb Hans Rhodius in den 1960er Jahren, wie er zum ersten Mal Bilder von Spies sah. In einem kleinen Hotel in Yogyaka{ta besuchte er eine Ausstellung, und da »ergriff mich plötzlich und völlig, wie die Offenbarung einer Schönheit und Sanftmut, deren Existenz ich auf eine unerklärliche Weise manchmal doch schon vermutet zu haben schien, ... die Wehmut des alten Java«. Sogleich besuchte er den Künstler, »auf einer Staffelei ein fast vollendetes, mächtiges Panorama ... Als er mich bemerkte, schob er mir sofort gastfreundlich einen Rohrsessel hin und begann mit dem Frohsinn eines singenden Vogels zu erzählen«. Der Kunstkring hatte in Surabaya eine große Gemäldeausstellung ausgerichtet, die unter anderem Desa aufdem Dijengplateau, Kaliurang, Sawahs im Preangergebirge und die Heimkehrenden Javaner zeigte. Spies vertraute Bertling (und sicherlich auch anderen) an, dass Henri Rousseau, Paul Klee und die niederrheinischen Maler des 16. Jahrhunderts zu seinen Vorbildern zählen. Einern Kunstkritiker namens Tis war das Ungewöhnliche dieser Arbeiten in Surabaya bereits aufgegangen. »Es ist keine Nachahmung, sondern charaktervolle eigene Schöpfung; ... ein Stück aus dem fünfzehnten Jahrhundert, über das ein ungewöhnliches, neues, lebendiges Licht streift.« Die Linienführung in der Darstellung der Reisbauern sei primitiv wie bei Breughel, doch die Ausführung vom »grausamen Realismus eines Zola«.

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»Merkwürdigerweise geht's mir hier wie in Europa, dass ich die Bilder spielend loswerde Ich male immer nur, wenn ich etwas überwunden habe, um es von mir wegzuschmeißen, damit nichts in mir bleibt, was stören und aufhalten könnte.« Das klingt wie eine Reminiszenz an Hellerau, wo Kunst als spirituelle Therapie verstanden wurde. Ebenso gut könnte es sich um eine diplomatische Koketterie dem Kritiker gegenüber handeln, der ihn zusammen mit den »bedeutenden« Malern Grosz, Klee und Dix ausgestellt hatte. Spies wäre nicht der erste Künstler, der nahezu fremden Menschen Wahrheiten anvertraut, die er vor Vertrauten verborgen hält. Malen ist für ihn offenbar eine Versenkung in jene Bereiche seiner selbst, über die nur so Auskunft gegeben werden kann. Eine Unio mystica von Seele und Außenwelt. Das Ergebnis mag ein gelungenes oder ein misslungenes Werk sein, doch die eigentliche Erfüllung liegt in der mystischen Vereinigung, im unbewussten Prozess der Schöpfung. Der Puasa verspricht die Freiheit des Reisens. Spies lernt den Musikethnologen Jaap Kunst kennen, der die Flitterwochen mit seiner Frau darauf verwendet, in NiederländischIndien Feldforschungen zu betreiben. Anfang 1925 bittet ihn Spies, beim Regenten von Karangasem, einer Provinz auf Bali, Gusti Bagus Djelantik, eingeführt zu werden. Kunst verspricht Hilfe und stellt außerdem die Verbindung zu einem Musikerfreund her, Tjokorda Gde Raka Sukawati, dem Punggawa in Ubud. Mit dieser nahezu beiläufigen Vermittlung beginnt das romantische Abenteuer eines deutschen Künstlers, in dessen Folge die Insel Bali und speziell die Kleinstadt Ubud zur Dreh-

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scheibe einer wachsenden Schar von westlichen Künstlern, Forschern und Jetset-Reisenden werden sollte.Wie im Rausch überquert Spies die Nachbarinsel, »in jeder Fuge des Körpers« Vulkanstaub, von der »gewaltigen Natur« überwältigt. Im Ur-Dokument dieser überschwänglichen Begegnung, Spies' »Kintamani«-Brief an einen Freund auf Java aus dem April 1925, ist eine Aufführung des Tanzes Sangjang Dedari in der Puri des Punggawa beschrieben. Ein Mädchen fällt in Trance, psychedelisch anmutender Gamelan beginnt, ein Männerchor mit einem ansteigenden, rhythmischen Tsike-T1ke, Tsike-Take, dazwischen das Pianissimo einer Grabesstimme, die wild schwitzenden Männer liegen irgendwann übereinander, während das Mädchen schlafwandelnd durch dieses unirdische Spektakel schwebt. »Das Ganze war so etwas Niedagewesenes, Unmenschliches und irgendwie lang Ersehntes.« Gottbesessene Menschen, wie spielende Kinder mit einem tragischen Gesichtsausdruck. »Man hat das Gefühl, daß sie nichts dafür können«, stellt Spies fest. Er wird von einem Musiker aus Yogyakarta begleitet. Der »einzig dastehende Künstler« schüttelt nur still in sich gekehrt den Kopf. Bali scheint Spies von jetzt an »in jeder Hinsicht ganz unerschöpflich« zu sein. Gut möglich, dass er dies auch dem vor zwei Jahren verlassenen Freund Murnau mitgeteilt und damit dessen Fantasie angeregt hat. Vielleicht sogar jene zu einer Wiedervereinigung. Ganz ist die Verbindung ohnehin nicht abgerissen. Im August erreicht Spies ein Telegramm mit der Nachricht, Murnau wolle ihn im November besuchen. Sofort bittet er die liebe Mama, Murnau eine Wunschliste zu überbringen: Noten von Skrjabin, Busoni, Bach und Hindemith. Zum Ausgleich verspricht er üppige Feste mit Tänzen und Opern. »Vielleicht«, frohlockt er, »fahren wir nach Bali, zu den großen Leichenverbrennungen«.

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Daraus wird jedoch nichts. Murnau zieht es zunächst nach Hollywood. Walter wird er indessen auch in Kalifornien nicht vergessen. Seit Beginn des Jahres 1925 wird obendrein an Mutters Überfahrt nach Java gearbeitet. Martante hat die Kränkung überwunden und möchte sich nicht entgehen lassen, ihren Mittelsohn in der tropischen Fremde in die Arme zu schließen. Vermutlich ahnt sie bereits, dass er nicht mehr nach Deutschland zurückkehren wird. Wie sollte sie ihm das, angesichts der dortigen Misere, verdenken? Zwischen Ausstellungs- und Reisevorbereitungen, Musikproben und einer längeren Konzerttournee mit »furchtbaren Cabaretmenschen, die aber gut zahlen«, gibt er Ratschläge für Anreise und Aufenthalt. Diese beziehen sich insbesondere auf die Toilette. Leichte Sommersachen soll die liebe Mama einpacken, ein paar wärmere auch, denn »wenn man über den Äquator fährt, friert man erbärmlich«. Schick soll sie sich machen können für den Kraton, und dann muss ihr Name möglichst prachtvoll klingen: »Freiin Consul M. Spies« etwa oder »von, zu oder auf dem Mahl«. Im Juni ist es schließlich soweit. Obwohl von einem überraschenden Besuch nicht die Rede sein kann, scheint die Agenda von Walter nicht recht eingerichtet darauf, der Mutter einen gebührenden Empfang zu bereiten. Am 16. Juni gibt es ein Kunstkring-Konzert in Semarang mit Mily Hermann, am nächsten Tag ist er mit Proben überhäuft, am 18. muss die Mama in Batavia abgeholt werden, am 20. soll er mit seinen Leuten bei Prinz Paku Alam VII foxtrotten. Bei einem derartigen Arbeitsprogramm nimmt es nicht wunder, dass Martha Spies in den Berichten und Briefen der folgenden sechs Monate kaum Erwähnung findet. Gewiss wird sie einiger Zeit bedurft haben, um sich an die ungewohnte Umgebung von Walters

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glücklichen Tropen zu gewöhnen. Die wochenlange Seefahrt mag ihr ebenso zugesetzt haben wie die Gewächshausluft Yogyakartas. Martha hatte inzwischen die sechzig überschritten und sich - besonders in den letzten beiden Jahrzehnten - wenig geschont. Es ist trotzdem davon auszugehen, dass Walter seine liebe Mama, die »Freiin Consul«, mit Anstand sowohl in die holländischen als auch die javanischen Kreise eingeführt hat. War er selbst schon eine Attraktion - und das war er mittlerweile sicherlich -, dann wird die Frau Consul auch eine geworden 1 sein. Eine lustige Witwe, die die Härten des Lebens zu !)-ehmen und die Freuden zu schätzen gelernt hat. Der Besuch auf Java sollte zu ihren Freuden gehören. Nichts, auch nicht die lang ersehnte Präsenz der Mama, konnte Walter von der Musik abbringen. Musik war seine der Welt zugewandte Seite und brachte ihn mit all den wertvollen Menschen zusammen, die er im Kraton um sich versammeln konnte. Zu ihnen gehörte Sieglinde Hofland, die sich seit fünfzehn Jahren mit dem Gamelan beschäftigte und zu Prinz Paku Alam VII Zugang gefunden hatte, der als ein Förderer der Künste galt. Zwischen Hofland,Jaap Kunst und Spies entstand in der zweiten Hälfte des Jahres ein eifriger Austausch über die Möglichkeiten, Gamelan aufzuzeichnen. Das Java Institut hatte bereits zuvor einen Wettbewerb um die beste Notation javanischer Musik ausgeschrieben, doch obwohl sich der Meister Djodjodipuro und Frau Hofland in gemeinschaftlicher Bemühung beteiligt hatten, konnte keine Bewerbung überzeugen, nicht einmal, nachdem die Eingabefrist um zwei Jahre verlängert worden war. Spies machte indessen ermutigende Fortschritte im Erfassen der musikalischen Strukturen des rätselhaft-raffinierten Game-

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lans, erlernte Instrumente, wie Bonang Barung, Bonang Panerus und Gambang, und hielt eifrig die Nyogos von Prinz Paku Alam an, die Hauptmelodien und figurativen Stimmen ihrer Parts selbst aufzuschreiben. Noch wichtiger war, den Prinzen davon zu überzeugen, ein Klavier javanisch zu stimmen. Das Vertrauen, das die neue Freundin Hofland bei Seiner Hoheit genoss, mag dabei geholfen haben. »Es spielt sich ganz komisch darauf: die schwarzen Tasten Slendro, die weißen Pelog«, berichtete er Kunst. Die Nyogos waren begeistert, nun von ihm auf dem schwarzen Holzkasten begleitet zu werden. Hierauf gab es Ende September ein denkwürdiges Konzert. Hofland und Spies spielten auf zwei umgestimmten Flügeln, der Prinz gab auf einer Art Metallophon die Einsätze, Sänger stimmten ein. Walter erlernte außerdem vom Gamelan-Meister des Kraton, Larassumbogo, das Spiel auf dem Kendang und fand heraus, dass das Instrument bis zu 32 verschiedene Rhythmen hergibt, je nachdem, wie das Becken geschlagen wird. Die Klavierbearbeitungen wurden mit der Zeit immer kühner. Im Geschäft des Chinesen Yung auf der J alan Magelang wurde zuerst die von Spies entwickelte europäische Notenschrift ausprobiert. Drei Klaviere kamen zum Einsatz. Die Damen Hofland und Sitsen übernahmen die Partien des Gender, des Gambang sowie des Rebab und des Bonang, eine dritte Musikerin, Frau Lausada, die Partie der Metallinstrumente. Allein das Hauptinstrument des Gamelan, die Trommel, war nicht zu imitieren. Diese spielte Spies daher selbst. Eine Frau Elbers gab die Singstimme. Dieses Quintett führte den Puspowarno, den »Farbenreichtum der Blumen« auf, einen Schlager, den jedermann in Yogyakarta kannte. Unter den Zuhörern befanden sich nicht nur Ausländer, sondern auch lokale Experten wie der Bupati von Magelang. Für die Javaner war es unbestrit-

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ten eine Sensation, was dieser Deutsche, Yuan Walter, alles unternahm, um ihre Musik zu verstehen und sie den weißen Menschen zugänglich zu machen. Ende Oktober meldet sich überraschend Ubuds Punggawa Tjokorda Sukawati auf der Durchreise nach Weltevreden an. Als er von Spies' musikologischen Experimenten erfahrt, schlägt er vor, das Projekt auf Bali zu erweitern. Spies verspricht, auf den kommenden Puasa wieder zu Besuch zu kommen, diesmal mit der Mama. Zum Jahreswechsel besuchen »furchtbar hohe Herren« Walter Spies. Der Vorstand der »Batavia Kunstkri.pg en Volkslectuur« will von ihm »schreckliche Dinge«. Zuvorderst soll er die Sängerin Anna El-Tour bei Konzerten auf ganz Java begleiten. Außerdem ist eine Ausstellung für den nächsten August geplant, zum Jubiläum des Kunstkrings, an der man ihn beteiligen möchte. Endlich soll Spies Vorlesungen zu seinen allgemein beeindruckenden Musikstudien halten, auf der gesamten Insel, mit Lichtbildern und Demonstrationen. Alles auf Holländisch: »ein schrecklicher Gedanke für mich«. »Ich komme mir vor wie ein gräßlicher Missionar oder sowas ... Aber die Leute haben 17 Vorlesungen versprochen, und das bedeutet auch Geld!« Das kann Spies natürlich nicht ausschlagen, sei es nur, um die Mama und die Geschwister daheim zu unterstützen. Neben den Konzerten mit der El-Tour akzeptiert er auch eine Serie mit dem Geiger Fritz Hinze, doch all diese Sternchen am Südseehimmel der klassischen Musik entzünden in ihm wenig Enthusiasmus. Hinze kommt besonders schlecht weg. Der Mann sei zwar technisch versiert, aber oberflächlich, ohne jede Tiefe. Auf Reisen fotografiere er unentwegt die banalsten Motive und benehme sich wie ein dämlicher Tourist. Jaap Kunst war es gelungen, die Bataviaasch Genootschap van Kunsten en Wetenschappen für die Publikation von Spies' Game-

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lan-Partituren zu gewinnen. Bislang gab es keinerlei derartige Aufzeichnungen und der Gründer der Berliner Schule der Musikwissenschaft, Erich von Hornbostel, hatte sich bereiterklärt, die Publikation wissenschaftlich zu betreuen. Spies war inzwischen sogar imstande, sowohl in javanischer als auch westlicher Notenschrift drucken zu lassen. Die europäische Transkription erschien vernünftiger, aber Beilagen der javanischen Schrift wollte er hinzufügen, und sei es nur »pour epater le bourgeois«. Kunst an Hornbostel, 1926 Leiter des Phonogramm-Archivs der Berliner Hochschule für Musik: »Unsere Tonkunst kann, in rhythmischer Hinsicht, eine Menge davon lernen. Es ist merkwürdig: manche Passagen erinnern stark an Bachsehe Orgelwerke und andere Gendings ... an Präludien von Debussy.« Die Publikation wird, trotz wiederholtem Drängen von Kunst, Hofland und dem Verleger, nie zustande kommen. Noch im November 1932 wird Spies Jaap Kunst gegenüber zugeben, er habe an sich »Stöße voll druckfertigen Studienmaterials«, doch könne er sich einfach nicht zur Publikation entschließen, weil das »europäische Gehirn« zu >>Pseudowahrheiten« veranlagt sei und er deshalb allem Geschriebenen misstraue. Wieder erweist sich, dass Spies' Interesse erlahmt, sobald er sich etwas angeeignet und eine Lösung gefunden hat. Ebenso wenig wie er fertiggestellte Gemälde um sich haben kann, reizt ihn eine Veröffentlichung der Partituren. Schöpfung ist ihm ein Prozess, weniger ein Produkt, das Ephemere steht über dem Manifesten. Die westlichen Freunde sind begreiflicherweise enttäuscht, während die javanischen und balinesischen ihn darin weitaus besser verstanden haben mögen. Endlich ist erneut der Puasamonat herangekommen. Am 14. März 1926 besuchen Mutter und Sohn Spies die kleine Stadt Ubud auf Bali. Sukawati hat Wort gehalten und seine

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Nyogos auf Spies' Experimente vorbereitet. Walter zeichnet Sanghyang- und Gambuh-Stücke auf, lauscht stundenlang den intimen Nachtmusiken des Gender Wayang und macht sich unentwegt Notizen. Malutensilien gehören ebenfalls zum Reisegepäck, wie die Mama nach Hause berichtet. Sukawati stellt den Spiesens seinen Wagen zur Verfügung, mit dem sie die Insel bereisen, und gibt ihnen zu Ehren im Privatpuri von Karangasem ein Fest. Walter gestaltet die Dekoration zu einem Tanzdrama, das Ende April von Balinesen aufgeführt werden soll, und ein Junge aus Ubud geht ihm dabei zur Hand. 1 Kaum zurück auf Java, gilt es, sich um die Ausstellung in Batavia zu kümmern. Obwohl er drei der fünf von ihm beigetragenen Werke verkauft, erweist sich die Veranstaltung für Spies als eine große Enttäuschung. Sie steht in starkem Kontrast zu den gerade empfangenen Würden auf Bali. Wieder ist Narzissmus der kleinen Differenz im Spiel. Beifall seitens einiger weißer Freunde genügt ihm nicht.Java verliert mehr und mehr an Reiz. Spies beklagt, nicht zum Malen zu kommen und zu viele Geldverpflichtungen eingehen zu müssen, denn der Palast zahle nicht genug. Ludwig Berger von Phoenix Film hatte ihn zu einer Filmexpedition nach Bali eingeladen, ließ Spies jedoch hängen. Franz Roh sendet ihm das Buch Nach-Expressionismus, das den Untertitel »magischer Realismus« trägt und in dem auch Spies beschrieben wird. Zugleich fragt der Kritiker angesichts dessen letzter Arbeiten besorgt, ob der Maler auf Java nicht einer gewissen »Lähmung« anheimgefallen sei. Spies' Reaktion lässt keinen Zweifel, woher seine aktuelle Verdrossenheit rührt. Es sind keinesfalls die Javaner oder ihr Land, schreibt er dem Förderer zurück, sondern das »lähmende Sichducken vor dem schlappen, flachen, unkultivierten Europäer hier. Es ist ja ein

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Morast an Menschen, trostlos, unentrinnbar!« Angesichts der zahlreichen Unterstützer und Bewunderer unter den »Europäern« ist das ungerecht. Doch Spies hat offensichtlich genug von Yogyakarta, den Palastverpflichtungen, den Geldsorgen und Konzertaufgaben. Gerüchte gehen um, Spiesens hätten eine bedeutende Erbschaft angetreten, und so empfinden es bestimmte Kolonistenkreise als eine Zumutung, dass Spies sich als Angestellter und Freund von Eingeborenen geriert. In diese Stimmung hinein meldet sich erneut Tjokorda Sukawati. Er ist auf dem Weg zum Volksraad, einem Beratungsausschuss, den der Generalgouverneur in Batavia einberufen hat, um im Geist der ethischen Politiek Repräsentanten der Urbevölkerung eine Stimme zu geben. Sukawati schlägt Mutter und Sohn Spies vor, eine brachliegende Kaffeeplantage auf Bali zu erwerben, da dergleichen Grundstücke gerade sehr günstig seien. Der Handel mit Kaffeebohnen würde ausreichend Gewinn abwerfen, dass die gesamte Familie nach Bali übersiedeln könne. Einer von Sukawatis Brüdern stünde als Aufseher zur Verfügung. Martha befürwortet diesen Plan mindestens so stark wie ihr Mittelsohn. Also schreibt sie nach Berlin. Auch die Mädchen können sich dafür augenscheinlich erwärmen, doch Bruno, der für die Verwaltung der Familiengelder zuständig ist, lehnt das Vorhaben mit der naheliegenden Erklärung ab, dass das notwendige Geld fehle. Der interkontinentale Familienrat geht gleichwohl nicht ohne heikle Zwischentöne ab, denn Walter hat bislang den ihm zustehenden Erbschaftsanteil nicht erhalten. Am Ende bleibt Martha Spies nichts anderes übrig, als sich nach gut zwei Jahren in den Tropen allein auf den Heimweg zu machen. Zwiespältige Gefühle mögen sie bedrängt haben, doch Walter ist hier zweifellos besser aufgehoben als auf jener anderen Hemisphäre. Also umarmt sie ihn zum letzten

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Mal, ehe sie Ende August 1927 in Priok an Bord eines Überseedampfers geht. Franz Rohs Nach-Expressionismus enthält einen Druck von Henri Rousseaus Die schlafende Zigeunerin. Beim Aufschlagen dieser Seite fühlt sich Spies »so glücklich« wie seit Jahren nicht mehr. Eine Saite ist angeschlagen und das Echo kommt aus Bali. Ganz untertauchen will er dort, verrät er dem Kritiker. »Es ist da Natur in Mensch und Landschaft, die mich schrecklich viel angeht. Ganz mitten im Leben stehen und alle Sünden begehen können aus Glauben.« Er versichert Roh noch einmal, dass die Passivität 1 der Menschen hier nur äußerlich sei, in Wahrheit lebe_!l sie in »stärkster Concentration und Drüberstehen«. Der Balinese habe außerdem Dämonie und Lebenswahrheit: »Gott, Teufel, ich und die Welt, alles ist dasselbe!!« Walter Spies rüstet sich nun zu seinem persönlichen Jenseits von Gut und Böse, nachdem er die Mama auf hohe See geschickt hat. Wahrscheinlich ist das Degout gegenüber den Europäern in seiner Umgebung vornehmlich moralischer Natur: die unwillkürliche Empörung über eine Zivilisation, die ihre Dekadenz nicht begreift und dank dieses Nicht-Begreifens auf die >>Eingeborenen« herabschaut. Selbsthass ist dabei im Spiel, denn Spies ist sich seiner Rassenzugehörigkeit sehr wohl bewusst, ebenso des Umstands, dass er beides, Gott und Teufel, in sich hat. Dieser Widerspruch, das seit vier Jahren Java-Aufenthalt fortwährende Wandern auf der Grenze zwischen den Kulturen der Weißen und der Ureinwohner, soll in Bali endlich ein Ende finden. Denn dort herrsche noch »Lebenswahrheit«. Mehr als dreißig Jahre vorher war Paul Gauguin nach Polynesien aufgebrochen und hatte damit gewissermaßen das Finale ungeschützter Begegnungen zwischen dem westlichen Künstler und den Tropen eingeläutet. Gauguins Noa Noa,

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schamloses Protokoll dieser Begegnung, war zuerst in Deutschland erschienen, im Jahr 1908. Spies wird die Texte gekannt haben. Vielleicht hatte er sogar den erst später veröffentlichen Brief August Strindbergs an Gauguin aus jener Zeit gelesen. Gauguin, heißt es darin, sei ein »Wilder, der die hemmende Zivilisation« hasse, »irgendwo Titan, der den Schöpfer beneidet und in verlorenen Augenblicken seine eigene kleine Schöpfung macht ... der den Himmel lieber rot sieht, als ihn blau mit der Masse zu sehen«. »Glückliche Reise«, wünscht der schwedische Dramatiker, »nur kommen Sie wieder ... Denn auch ich beginne das ungeheure Bedürfnis zu empfinden, zu verwildern und eine neue Welt zu erschaffen.« Um nicht mehr und nicht weniger geht es auch Walter Spies: zu verwildern und eine neue Welt zu erschaffen. Georgette Schoonderbeek vertraut er die Vision eines neuen Bildes an. Später wird er es tatsächlich für Murnau malen: »Drei Landschaften übereinander, ganz unten Wasser mit weitem Meer, darüber über den Wolken beginnt der Wald mit Wiesen und schimmerndem Fluß und über diesem eine ganz nahe Sache, großblättriger Baum! Mit den Füßen im untersten Wasser, wo Fische und Krebse hausen, steht eine Männerfigur, ein Greis, ein heiliger Asket. Sein Körper geht durch die ersten Wolken in die zweite Landschaft, wo seine braungebrannten Rippen starren, und oben in der obersten Landschaft reicht er hinaus, ergreift in der Luft einen komischen Vogel, der aus dem Gezweig der Blätterbäume wegflattert.« Über allen drei Landschaften herrsche ein jeweils anderes Licht. Ein prophetischer Eindruck. Die Farbe müsse ein Zusammenspiel aus »Verhängnis, Ekstase und Offenbarung heiligster Göttlichkeit« ergeben. Er habe Angst vor diesem Bild, gesteht er der Freundin in Amsterdam, und es lässt sich vermuten, dass er sich selbst in der

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Figur des Anachoreten gesehen hat. Daher wünscht er sich, sie möge ihn bald auf Bali besuchen kommen: »übermorgen baden wir am Wasserfall, und Du reibst Deinen Rücken an einem Lavablock! Unterdessen wird Perlvater einen Chor von Vögeln dirigieren.« Denn: »Ich lebe nur heute.« Und: »Es stirbt sich leicht unter diesen Menschen.«

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~Kapitel4

Immer nach Hause

Nachdem Shiva die Insekten, Vishnu die Bäume, Isora die Früchte und Sambu die Blumen geschaffen hatte, beriet Batara Guru mit Brahma über die Schöpfung des Menschen, aufdass er die Welt bevölkere. Brahma gestand, er habe nicht das Wissen dazu, und bat Batara Guru, es als Erster zu versuchen. Dieser schufaus roter Erde vier Menschenfiguren und begann zu meditieren, aufdass er sie zum Sprechen, Denken, Gehen und Arbeiten erwecke. Brahma sagte, wenn dies Menschen seien, könne er dergleichen machen, und formte aus Lehm eine Gestalt, dem Menschen ähnlich. Batara Guru war darob verärgert und ließ es drei Tage regnen, bis Brahmas Menschenbild zerstört war. Als der Regen aufhörte, versuchte es Brahma aufs Neue, diesmal jedoch brannte er die geformte Erde. Da sah Batara Gutu die Menschengestalt und schwor, er würde Exkremente essen, falls Brahma diesem Menschenbild Leben einzuhauchen vermöge. So meditierte Brahma, gab dem Menschen das Leben und forderte von Batara Gutu, seinen Schwur wahrzumachen. Dieser geriet in Zorn und schuf Hundsgeschöpfe, auf dass sie auf ewig jaulten, bellten und Exkremente fräßen. Der Mensch lebte fort in der Schöpfung, doch nährte er sich lange Zeit allein vom Saft des Rohrzuckers. Vishnu, Herrscher der Unterwelt und Gott der Fruchtbarkeit und des J¾ssers, hatte Mitleid mit den Menschen und erschien in Verkleidung, um ihnen schmackhaftere Nahrung zu verschaffen. Er machte sich Mutter Erde zu Willen, damit sie Reis gebäre,

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und bald wurde sie Sang Hyang Ibu Pertiwi geheifsen, die Unterwoifene Großmutter. Sodann zog Vishnu in den Krieg gegen Indra, den Gott der Himmel, damit dieser die Menschen den Reisanbau lehre. Also wurde den Menschen, als Quelle von Leben und Wohlstand, ein Geschenk gemacht von den Göttern, und der Reis wurde geboren in der kosmischen Vereinigung weiblicher und männlicher Schöpferkraft von Wasser und Erde. Diese Legende, aufgezeichnet von dem mexikanischen Maler und Ethnologen Miguel Covarrubias in dem bis heute unv9rzichtbaren Werk Island cifBali, gehört zu den populären ~chöpfungsmythen der balinesischen Reisbauern. Bereits in seinen Briefen kurz nach Ankunft auf Java hatte Spies von den »verrückten« Reisfeldern, den Sawahs, nach Hause geschrieben: »Man sieht nur hunderte von Wasserflächen übereinander, eingerahmt durch schmale Erdwändchen, auf denen nicht zwei Menschen aneinander vorbei können.« Dieser subtilen Architektur widmete er eines der ersten Bilder, Sawahs im Preangergebirge, und er hat sich mit diesem technischen wie topografischen Wunderwerk immer wieder beschäftigt. Nicht allein die Felder sind mit feinsinniger Komplexität angelegt, wie er erfahren wird, es bedarf auch eines ausgeklügelten Systems von durch Felsen gebohrten Tunneln, Kanälen, Bambusrohren und Dämmen, um die Becken der Sawahs mit dem Wasser aus den Bergen zu füllen. Der Reisanbau legt außerdem Zeugnis ab von der engen Verwandtschaft zwischen Java und Bali. Diese galt es zunächst zu studieren. Spies konnte nicht überrascht sein, auf Kapitel blutiger Konflikte zu stoßen, in denen auch die Europäer eine düstere Rolle gespielt haben. Im Westen lediglich durch eine zwar tückische, aber eben doch schmale Meeresenge von dem mehr als zwanzigmal so

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großen Java getrennt, wurde Bali durch die Jahrhunderte häufig von seinen Nachbarn erobert, bis die ethnischen Unterschiede zwischen den Bevölkerungen nahezu ausgelöscht waren. Im 15. Jahrhundert begann auf Java eine rasch voranschreitende Islamisierungskampagne, der sich auch viele Prinzen unterwarfen. Mit Allah kam bald das Schwert der Fanatiker und bedrohte das Hindu-Königreich der Majapahit. Dem letzten Raja Javas wurde durch den Oberpriester das Ende seiner Regentschaft und der Untergang des Reiches nach Ablauf von vierzig Tagen angekündigt. Tief von dieser Offenbarung durchdrungen, verbrannte sich der Raja bei lebendigem Leib. Sein Sohn, außerstande, sich gegen die Islamisten und die priesterliche Voraussage zu stellen, floh in die letzte verbliebene Kolonie: Bali. Gefolgt von seinen Priestern und Künstlern, ließ er sich am Fuße des Vulkans Gunung Agung nieder, der höchsten Erhebung der Insel, und erklärte sich zum König von Bali (Dewa Agung). Er unterteilte die Insel in Fürstentümer, allerdings gewannen im Laufe der Zeit die balinesischen Fürsten ihre Unabhängigkeit zurück und bildeten eigene kleine Königreiche. Der Exodus der letzten Majapahit, ihrer Priester und Künstler, verwandelte die Insel Bali auf einen Schlag in das kulturelle Zentrum des gesamten südostasiatischen Archipels, denn die Kultur der Javaner galt als die am höchsten entwickelte der gesamten Region. Ihre Kunst, Religion und Philosophie lebten auf der kleinen Insel fort und überstanden das Vordringen des Islams. So isolierte sich Bali kulturell zum ersten Mal seit Jahrhunderten von der »Mutterinsel« Java, indem es die altjavanische Tradition bewahrte und >>balinesierte«. 1597 entdeckte eine niederländische Flottille unter Cornelis de Houtman das Eiland. Die Holländer befreundeten sich mit Seiner Königlichen Hoheit, dem Dewa Agung, einem ge-

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mütlichen Dickwanst mit zweihundert Frauen und fünfzig Zwergen, deren Körper derart verbogen waren, dass sie Augenzeugen zufolge an lokale Griffformen von Dolchen (kris) erinnerten. Nach einem ausgedehnten und zweifelsohne sinnenfreudigen Aufenthalt kehrten einige der Entdecker zurück nach Holland und verkündeten, sie hätten »das Paradies« gefunden. Der Rest der Mannschaft blieb gleich auf der Insel. Kaufmann Heemskerck wurde mit allerlei Geschenken aus Holland ins Paradies entsandt und im Gegenzug vom König mit einer zauberhaften Balinesin bedacht. Mit dem Auftauchen der Dut> Rechte« über Bali, die er überhaupt nicht besaß. Vorläufig verzichteten die Holländer darauf, diese einzufordern. Die Balinesen wiederum erkauften sich für einige Jahrzehnte weitgehende Autonomie durch eine stillschweigende Anerkennung der niederländischen Herrschaft. 1846 entbrannte allerdings Streit. Ein altbalinesisches Recht gestand den Insulanern zu, die Ladung von gestrandeten Booten oder Schiffen in Besitz zu nehmen. Die Bevölkerung

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sah keinen Grund, auf dieses Recht zu verzichten. Mit Militäroperationen zwangen die Holländer die Prinzen Nordbalis 1882 zu einem Abkommen, das ihnen die Küstenrechte nahm und Piraterie, Sklavenhandel sowie Kontakte zu anderen europäischen Mächten untersagte. Es brach Unfrieden aus unter den balinesischen Rajas und auf Lombok rebellierten die balinesischen Vasallen (sasaks). Zugleich bemühte sich England, seine Einflusssphäre in der Region zu erweitern. Vom niederländischen Militär eingefädelte Unterhandlungen zwischen Balinesen und Sasaks wurden von den Balinesen in den Wind geschlagen. 1894 besetzten die Niederländer Lombok und forderten von dem durch die Balinesen beeinflussten Raja Unterwerfung und die Entrichtung einer Reparation von einer Million Gulden. Obwohl der alte Raja einwilligte, kam es nach wenigen Tagen unter Einsatz von Gewehrfeuer und ohrenbetäubendem Trommelwirbel von Gamelan-Orchestern zu einem effektvollen Aufstand, in dessen Folge die Einheimischen ein Regiment von Holländern überwältigten. Die Gefangenen wurden verpflegt, Verwundete betreut, dann wurden sie mit einem Brief des Kronprinzen wieder freigelassen. Im Brief erklärte er das Vorgehen als eine Geste der Freundschaft im Interesse eines Friedensschlusses. Inzwischen waren die Nachrichten über den Aufstand nach Batavia und Holland gedrungen, wo Zeitungen augenblicklich die Balinesen üblen Verrats bezichtigten. Um das Ansehen des Militärs nicht weiter zu gefährden, wurden Streitkräfte mobilisiert und von Java nach Lombok gebracht. Die Sasaks raubten, die Holländer zerstörten Dörfer und Felder, Frauen setzten sich mit dem Dolch selbst das Ende, um nicht in die Hände der Fremden zu fallen. Der Kronprinz wurde getötet, der Palast

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geschleift und der alte Raja nach Batavia verschleppt, wo er kurz darauf vor Aufregung verstarb. Zugleich brodelte es unter den Prinzen von Südbali, die sich unterschiedlich gut oder schlecht mit den Holländern standen. Im Mai 1904 strandete ein chinesisches Dampfboot vor Sanur. Die Besatzung wurde gerettet, das Boot geplündert. Der Bootseigner, ein Chinese, verlangte von der niederländischen Kolonialverwaltung daraufhin eine Entschädigung in Höhe von dreitausend Silberdollar. Der Raja von Badung, Anak Agung Made, lehnte die Zahlung gegenüber den niederländischen Emissären ab. 1 Nach zwei Jahren fruchtloser Verhandlungen beseti;te die niederländische Marine am 15. September 1906 den Strand bei Sanur, nur drei Kilometer vor Denpasar, dem Sitz des Rajas. Unter dem Einfluss ihrer Brahmanen blieben die Anwohner zunächst friedfertig. Am nächsten Morgen war aus Denpasar eine balinesische Armee angerückt und forderte die Niederländer zu einem ungleichen Kampf heraus, bei dem eine Reihe von Weißen verwundet wurde, jedoch viele Balinesen ihr Leben ließen und der Rest den Rückzug antreten musste. In den folgenden Tagen blieben die Kolonialstreitkräfte in Sanur stationiert, um sich auf eine Gegenattacke vorzubereiten. Sie versuchten auch, die Einheimischen für sich einzunehmen. Die holländische Militärkapelle gab Konzerte am Strand, unter anderem wurde Sourire d'amour geboten. Als sie sich schließlich in Marsch setzten, war das Lächeln der Liebe verflogen. Auf dem Weg zur Hauptstadt gab es das eine oder andere Scharmützel, doch die Festung von Kesiman außerhalb von Denpasar war verwaist. Die Leiche des Kommandanten, getötet von einem Priester, weil er sich gegen den Rückzug gewehrt hatte, wurde gemeinsam mit zwei napoleonischen Kanonen aus dem europäischen Schicksalsjahr 1813 in einem Gewölbe entdeckt.

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Am Morgen des 20. Septembers begann das Bombardement von Denpasar zu Lande und zu Wasser. Der Palast fing rasch Feuer. Doch was in seinem Innern vor sich ging, hätten sich auch Europäer mit überbordender Fantasie nicht im Entferntesten ausmalen können. Der Raja Denpasars hatte im Kreise der Familie und des Hofes seine Sache für verloren erklärt und zu einem puputan, einem »Kampf bis zum Ende« aufgerufen. In kurzer Frist machte man sich bereit, einem ehrenvollen Tod entgegenzugehen, der ihnen - anders als dem Raja von Lombok - eine würdige Leichenverbrennung auf heimischer Erde garantierte. Punggawas, Offiziere, Verwandte, Frauen wie Männer, kleideten sich eilig in ihre besten Gewänder und bewaffneten sich mit dem goldenen Kris. Die Frauen sollen besonders enthusiastisch bei der Sache gewesen sein, legten Männerkleider an, umhängten sich mit Schmuck und lösten das Haar. Sie brachen Speere entzwei, um auf kurze Distanz effizienter zustechen zu können. Um neun Uhr morgens strömte ein karnevalesker Zug aus dem Palast, mit dem alten Raja in der ersten Reihe, von einem seiner Männer auf den Schultern getragen, geschützt durch den goldenen Schirm königlicher Macht, in der Rechten den mit Gold und Edelsteinen besetzten Dolch, ungerührt seinem Schicksal entgegenstarrend. Die Prozession näherte sich den Holländern auf der Hauptstraße von Denpasar Richtung Kesiman. Als sie auf dreihundert Meter heran waren, erkannten die niederländischen Kommandeure den wundersamen Aufzug vor ihnen. Balinesische Dolmetscher versuchten, den Raja zum Stehenbleiben zu bewegen, doch motivierten solche Warnungen die Prozession, nun noch eiliger auf das holländische Regiment zuzustürmen. Panisch eröffneten Schützen das Feuer. Einige schossen zunächst in die Luft, andere zielten in die Menge. Der Raja fiel als

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einer der Ersten. Bald hatte die zweite, die dritte Reihe der Balinesen die Linie der Holländer erreicht und griff mit Dolchen und Speeren an. Den Soldaten schien keine Wahl zu bleiben, und so begann das Gemetzel unter denkbar ungleichen Voraussetzungen. Brach ein Verwunderter unter den Gefolgsleuten des Rajas zusammen, war ein Zweiter zur Stelle, um diesen durch einen Dolchstoß zu entleiben. Wurde er von den Soldaten daran gehindert, sprang ein anderer ein. Stellten die entsetzten Söldner ihr Feuer ein, streckten ihnen Frauen Schmuck und Münzen hin, um sich ihren Tod zu erkaufen. Als 1 sich der Pulverdampf gelegt hatte, bedeckten Hunde~te von Toten die Straße zum Palast. Die Holländer verzeichneten ein Opfer, einen Feldwebel, von einer Frau erstochen. Am Nachmittag desselben Tages griff das Regiment den Palast des Rajas im benachbarten Pemetjutan an und erlebte das Trauma eines zweiten puputan. Die darauffolgende Nacht war erhellt durch die Massenverbrennungen von Leichen. Am folgenden Morgen stellte sich ein junger Punggawa und erklärte den holländischen Offizieren, er habe den »Kampf bis zum Ende« verpasst, da er nicht im Palast gewesen sei. Als seine Bitte, ihn zu erschießen, abgelehnt wurde, tötete er sich vor ihren Augen mit dem Kris. Der Raja von Tabanan, Gusti Ngrurah Agung, erschien wenige Tage darauf bei den Militärs, mit einem grünen Schirm anstatt einem goldenen, um seine Unterwerfung anzuzeigen, und verlangte den Residenten Liefrink zu sehen. Er sei bereit, die Kolonialmacht anzuerkennen, wenn ihm dieselben Rechte zugestanden würden wie sie den Alliierten der Holländer, den Rajas von Karangasem und von Gianyar, versprochen waren. Dies müsse die Regierung entscheiden, antwortete Liefrink, und dass der Raja in der Zwischenzeit auf Lombok festgesetzt

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werden müsse. Bevor es dazu kam, hatten sich der Raja und dessen erster Sohn am nächsten Morgen das Leben genommen. Der letzte unabhängige und zugleich der mächtigste Raja, Dewa Agung von Klungkung, wurde wegen seiner angeblich anmaßenden Haltung gegenüber der Kolonialverwaltung zwei Jahre später militärisch angegriffen. Das puputan-Szenario von Denpasar, Pemetjutan und Tabanan wiederholte sich. Die Soldaten blieben bis 1914 stationiert und wurden anschließend durch Polizeikräfte ersetzt. Die Rajas von Gianyar und Karangasem erhielten ihre autokratischen Rechte zurück und genossen von nun an gewisse Vorrechte gegenüber den anderen Fürsten. Ein Marionettenstaat entstand, in dem den Herrschern jeweils ein niederländischer Resident (Controleur) als »älterer Bruder« zur Seite gestellt wurde, dessen »Empfehlungen« nichts anderes als strikte Anordnungen waren. Tjokorda Gde Raka Sukawati stand als Punggawa von Ubud in den Diensten des Rajas von Gianyar. Der Kolonialverwaltung schien er ein besonders verständiger Balinese zu sein, weshalb man ihn zum Mitglied des »Volksraad« ernannt und ihm daher in mancherlei Hinsicht sogar größere Macht als dem Regenten selbst zugestanden hatte. Durch Vermittlung von Jaap Kunst war zwischen Spies und Sukawati eine Freundschaft gewachsen, gestärkt durch die Bali-Besuche von Walter allein und gemeinsam mit der lieben Mama sowie Sukawatis Visiten in Yogyakarta. Auch nachdem die Familie Spies das Angebot, eine Kaffeeplantage zu erwerben, ausgeschlagen hatte und die Frau Konsul nach Deutschland zurückgekehrt war, hieß der Punggawa Walter in Ubud willkommen. Prinz Tjokorda Gde Agung Sukawati von Ubud, Halbbruder des Punggawas, richtete Spies die Bale. Pegambuhan (ein Pavillon, in dem ursprünglich wahrscheinlich

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Gamelan-Instrumente aufbewahrt wurden) im Vorhof des Puri ein. Kurz darauf zog Spies in ein anderes Gebäude des Puri, der von einem Teich umgeben war und daher »Wasserpalast« genannt wurde. Das Anwesen gegenüber bewohnte I Gusti Nyoman Lempad, Balis bedeutendster Maler, Bildhauer und Architekt. In den 1950er Jahren erinnerte sich der Prinz, dass Spies von Anfang an die Nähe zu den einheimischen Künstlern gesucht habe. Spies' Ankunft im Sommer 1927 wäre ohnehin weder den Niederländern noch den Balinesen entgangen, denn er hatfe den Sultan von Yogyakarta um Urlaub von einem Jahr gebeten und gehörte zumindest auf Java inzwischen zu den allgemein bekannten Persönlichkeiten. Doch der Zufall wollte es, dass er sich dem Gefolge des geistigen Führers und Poeten Rabindranath Tagore anzuschließen vermochte, der zwischen dem 26. August und 9. September 1927 Bali einen Besuch abstattete. Tagore hatte 1913 den Literaturnobelpreis erhalten, allerdings mag dies wenig dazu beigetragen haben, dass er auf der Insel überall mit Ehren und enthusiastischer Gastfreundschaft empfangen wurde. Der Bengale galt unter den Hindus als bedeutende religiöse Persönlichkeit. Man richtete eigens für ihn rituelle und kulturelle Feste aus, sodass der Meister zu dem Schluss kam, auf dem tropischen Eiland achte und bewahre man die indischen Traditionen auf bewundernswerte Weise. Ob sich Spies an seinen eigenen Brief erinnerte, den er einst, kurz nach der Heimkehr aus dem nachrevolutionären Moskau, von Dresden aus dem Vater nach Berlin geschrieben hatte? »Althindostanisch« hatte er damals lernen wollen. »Stell Dir vor, Papa, wenn ich Tagore ... im Original lesen werde!!« Bis auf Weiteres gibt es für Walter wichtigere Dinge. Ein eigenes Heim etwa. An sich scheint es einfach: Der Beruf des

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Architekten ist auf Bali unbekannt und jeder imstande, sein Haus selbst zu bauen. Allerdings hat ein balinesisches Haus Körperteile wie ein Mensch: Der Familienschrein ist der Kopf, die Schlaf- und Wohnräume entsprechen den Armen, Küche und Speicher den Beinen, der Hof dem Bauchnabel, das Eingangstor den Geschlechtsorganen und die Jauchegrube dem After. Obwohl Walter gewiss Zugeständnisse gemacht hat und Vereinfachungen erlaubt sind, geht es nicht so rasch voran wie erhofft. Das Schilf für das Dach kann nicht geschnitten werden, solange Spies mit Tagore unterwegs ist, denn dafür ist es noch nicht reif, der Priester muss zuerst den Termin im Kalender festlegen, bevor die Arbeiten beginnen dürfen, mindestens ein Huhn und ein paar Schalen Reis und Früchte müssen als Opfergaben aufgebracht werden, der Bambus ist nicht trocken, und wehe, es wird zufällig eine gerade Anzahl von Bauteilen verwendet ... Immerhin hat Walter der Mama gegenüber schon eine klare Vorstellung davon, wie »unheimlich« gemütlich es werden wird: zwei »Herumfläzsalons«, mit Sofas, Batiken, Schnitzereien, Masken und Herrlichkeiten, zu Küchenschränken umgebaute Petroleumkisten, Esstisch, Stühle und Lampen, ein echtes »een zitje« (Niederländisch für Couch mit zwei Sesseln) als Willkommensgeschenk des Punggawa, die Zimmer von oben bis unten mit Matten beschlagen. Nur mit dem Boden hapert es: Stein, Zement und Holz sind zu teuer, also wird es eine Lage aus Kalk, Asche und Sand geben, darauf Matten und irgendwann einmal Teppiche. Der Freundin Hofland, die ihm soeben mit der Bezahlung eines Bildes aus dem Gröbsten herausgeholfen hat, singt er ein Hohelied der Einfachheit: »Nicht immer ist die Verfeinerung das Höchste oder kommt man durch sie der Wahrheit am

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nächsten. Ebenso wie ein Granitblock . . . eine Wahrheit oder eine Schönheit birgt, die niemals durch einen Edelstein erreicht oder auch nur nachgeahmt werden kann.« Selbst Murnau schickt Geld,jedoch nicht genug, um sich ein Klavier leisten zu können. Ein bisschen Sehnsucht nach den alten Zeiten kommt auf. Wie hat der einstige Geliebte die Traumlandschaft aufgenommen, das Bild, das Walter für ihn gemalt hat? Wie sieht er aus, was macht er? Er schreibt Murnau nach Hollywood, erfahrt von dort, dass der Regisseur mit Amerika »Schluß gemacht« habe und nun plane, mit einer Segeljacht über Ho1?olulu, Fidschi, Neu-Guinea und Flores nach Bali zu kQ.tI1men. Das ermuntert Spies fürs Erste. Er »denkt wenig an Beethoven und Mozart«, bringt den ersten Balinesen seine Notenschrift bei und geht auf Expedition nach Lombok, das ihm jedoch weit weniger gefallt als Bali. Tatsächlich bewirkt der Umzug einen drastischen Szenenwechsel: vom herrschaftlichen Palast in die Inselhütte. Yogyakarta ist zu jener Zeit von siebentausend Europäern und hunderttausend Javanern bewohnt, von denen allein der Kraton fünfzehntausend beherbergt. Denpasar, Südbalis Hauptstadt, vierzig Kilometer von Ubud entfernt, wird von fünfzehntausend Menschen bewohnt, unter denen sich siebzig Ausländer befinden, meist Kolonialbeamte. Kein Wunder, dass Walter Ubud zuerst als traurig empfindet, sobald Freund Sukawati nach Batavia gerufen wird: als sei dem Ort »der Kopf abgeschnitten«. Aber auf die Einheimischen kann er von Anfang an zählen. Als er im Oktober nur noch fünfzig Gulden hat, Bruno seiner Pflicht nicht nachkommt, die Dividende aus dem Familientrust auszuzahlen, und Walter daraufhin Murnau telegrafisch daran erinnern muss, dass er ihm für den Ankauf einiger Gemälde

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noch Geld schuldet, »kommen alle lieben Ubuder und bringen mir der eine Früchte, der andere Reis oder ein Huhn«. So kann es zwar nicht weitergehen, doch: »Sonst geht es mir ganz herrlich!« Strenggenommen folgt er der Devise, »durch Nichtstun Geld verdienen, um weiterhin nichts zu tun - perpetuum immobile«. Wären da bloß nicht die Tücken des Alltags: »Wasserholen kostet fünf Cent pro Eimer, und mit Küchengebrauch und Badewasser gehen etwa zehn Eimer täglich drauf ... fünfzehn Gulden im Monat. Und außerdem müssen Koch und Junge ihr Gehalt und Essen haben.« Die Mama wird sich beim Lesen ihre Gedanken machen, kennt sie doch nicht nur ihren Mittelsohn, sondern auch die Umstände auf Bali. Doch weiß sie auch, dass sich Walter nicht entmutigen lässt. Bali bietet täglich neue Überraschungen. Mit einem österreichischen Arzt namens Bargehr, der Leprakranke betreut, durchstreift er die Insel und tritt ein in den Zauber einer extravaganten Kultur. »Lungga kidja«, ruft man ihnen unterwegs zu, »wohin geht's?« Oft folgen sie einfach ihrer Neugier. Der Arzt behandelt vermutlich mit dem Öl des Chaulmoogra-Baums, einem zehn Jahre zuvor entdeckten Heilmittel, obwohl die Bakterien inzwischen starke Resistenzen entwickelt haben. Die Kranken leben weitab der Dörfer, aus Angst unter der Bevölkerung vor Ansteckung und vor jenen Geistern, die diese Menschen aus unbegreiflichen Motiven auf so dramatische Weise verstümmeln. In der Nähe von Tjulik, einem Dorfjenseits der letzten Berge, schlafen Bargehr und Spies wie so oft auf ihren Feldbetten, unter einem Dach, »wo schreckliche Hummeln hausten«. In der Nacht fallen ihnen die Hummeln ins Gesicht, und da erkennen sie im schwachen Licht einer Taschenlampe das Gesicht eines Aussätzigen, von der Krankheit zu einem ledernen Fetzen entstellt, blind und ohne Tastsinn an den Hand-

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stummeln auf der Suche nach dem angekündigten Doktor durchs Dunkel irrend. Einen seit dem letzten Erdbeben verlassenen Tempel entdeckt Walter, »viele Köpfe liegen herum und Arme und Beine, wie auf einem Schlachtfeld, darunter ein jahrhundertealter Buddha und Steinplastiken von solcher Wucht und Expression, daß ich viermal um mich selbst radschlug«. Und weiter: »Wenn ich ein amerikanischer Tourist wäre, hätte ich ihn [den Buddha] mitgenommen, und wir wären alle für ewig gesichert, denn das Ding hat etwa einen Wert von einer oder anderthalb Million,en Gulden.« Doch erstattet er dem Residenten Meldung ü9er den Fund und zieht weiter durch die unbekannten Gefilde, oft den Arzt begleitend. Da sind Dörfer, aus Familienanwesen zusammengesetzt, die durch Wälle begrenzt sind. Dazwischen verläuft eine einzige Allee, ausgerichtet von den Bergen zum Meer, den balinesischen Äquivalenten von Nord und Süd. Mächtige Laubbäume spenden genügend Schatten für die durch die Allee schlendernden Bauern, die morgens rhythmisch ihre Arbeitsgeräte gegeneinanderschlagen und abends mit Garben von Reispflanzen nach Hause kommen, und für die Frauen auf dem Weg zum Markt, glänzende schwarze Tongefäße auf dem Kopf balancierend. Nackte Kinder spielen an den Eingangstoren, daneben glockenförmige Käfige, in denen die wertvollen Kampfhähne aufbewahrt werden. Halbwüchsige mit gewaltigen Strohhüten treiben hellgraue und ockerfarbene Büffel durchs Dorf. Gänse waten durch die Sawahs und halten Ungeziefer von den Reispflanzen fern. Ein Hüter, oft ein alter Mann, dirigiert sie in die Rinne und stellt einen Bambusstab mit einem weißen Stofffetzen auf, der den Gänsen anzeigt, wie weit sie sich entfernen dürfen. Bei Sonnenuntergang zückt der Alte die Stange und

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marschiert mit seiner Gänseeskorte zurück ins Dorf. Kläffer jagen durch den Staub der Allee und ernähren sich vom Unrat, der zuweilen über die Wälle der Wohnhäuser fliegt. Die Mitte dieser Dörfer bildet ein Platz mit einem mächtigen heiligen Banyan, dem Prinzenpalast, einem Markt, einem Versammlungsort, dem Wachturm mit dem Kulkul, der balinesischen Alarmtrommel, und einem Gatter für die Kampfhähne. Hier werden Märkte und Feste abgehalten. Eines Nachts in Kintamani wird Spies Zeuge, wie sich auf das Toktok der Trommel bei Vollmond die Alten zu einem Bankett zu Ehren der Götter versammeln. Die Leute lassen sich schweigend um eine provisorisch errichtete Plattform herum nieder, Reis wird vor jedem Teilnehmer ausgeschüttet und der Priester hebt an zu einem Gebet, in dem er die Vorfahren anruft: »Kaki, Kaki, Großvater!« Dies ist die Einladung an die Geister der Verstorbenen, sich am Mahl zu beteiligen. Die Alten beginnen zu essen und unterhalten sich in vertrautem Plauderton. Mit den Lebenden und den Toten. Spies bereist das Land der Bali Aga, der Urbevölkerung Balis, die sich im Gebirge im Osten der Insel in kleinen Siedlungen verstecken. Die Leute schwärzen ihre Zähne und werden von einem Ältestenrat regiert. Anstatt ihre Toten zu begraben, überlassen sie die Leichen den wilden Tieren im Urwald. Wenn es die Stunde gebietet, rufen sie in spirituellen Zeremonien die Geister der Verstorbenen zu sich herab und bitten sie um Hilfe. Tenganan nahe Karangasem ist das letzte orthodoxe Dorf der Bali Aga. Für gewöhnlich ist keinem Fremden der Zutritt gestattet. Eine hohe Mauer umgibt die Siedlung, mit vier Toren, von denen drei hinausführen auf Plantagen und in Gärten. Das vierte und sogenannte Haupttor ist so schmal, dass eine untersetzte Person nicht hindurchpasst. Der große, blau-

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äugige Blonde verschafft sich auch durch diesen Schlitz Zutritt. Mädchen sieht er, deren Fingernägel, zum Zeichen, keine Handarbeit verrichten zu müssen, länger sind als die schlanken Finger selbst und von Kappen aus purem Gold geschützt. Als er später mit Rose und Miguel Covarrubias in das eigenbrötlerische Dorf zurückkehrt, fragt ihn der Häuptling, ob sie zum Willkommensmahl einen Flughund oder eine Gans wünschen. Bali, lehrt ihn ein bärtiger Priester, sei eine Welt für sich selbst, möge es auch andere Welten geben, Indien oder China zum Beispiel. Die Bali-Welt sei der Schauplatz eines permanent1n Kampfes zwischen Gut und Böse, Rechts und Links, Göttern und Dämonen. Sie bekämpfen sich mit magischen Kräften und benutzen die Insulaner als ihre Werkzeuge. Allein ein Gleichgewicht der positiven und negativen Mächte bewirke Harmonie in der Gemeinschaft. Opfer werden den Göttern gebracht, Früchte und Fleisch, ebenso den Dämonen, nur dass deren Opferspeisen verdorben sind und am Ende den wilden Straßenkötern zum Fraß vorgeworfen werden. Die Bali Aga leben das Jahr in zwölf vollen und schwarzen Monden, nach denen sie die Tage ihrer Feste bestimmen und den Reisanbau organisieren. Nyiepi, das Neujahrsfest, kündigt das Ende der Regenzeit und den Frühling an. Nach den obligaten Hahnenkämpfen vor Sonnenuntergang werden die widerstreitenden magischen Mächte mit Opfergaben auf den Dorfplatz gelockt: mit einem Altar für die Sonne, einem für die Toten und einem für die Dämonen. Beladen mit Früchten, Schnäpsen, Geld und Haushaltsgeräten, werden die Altäre in den Richtungen der balinesischen Windrose aufgestellt. Neun Priester verschieden hoher Ränge beziehen auf Gerüsten gegenüber den Altären Stellung. Nachdem die Priester die Opfer

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für die magischen Kräfte der Toten sowie für die guten und die bösen Götter geweiht haben, überreichen sie symbolisch der Menge Feuer und Wasser. Darauf bricht ein wahnwitziger Tumult los. Feuerwerke zünden, die Armen unter den Dörflern plündern die Altäre, die Kulkul-Trommeln schlagen, Bauern mit buntbemalten Gesichtern und Oberkörpern, bewaffnet mit Fackeln, stürmen durchs Dunkel und schreien aus Leibeskräften »Megedi, megedi. Fort mit euch!« Die Chaosparade hält an bis weit nach Mitternacht. Dann verfällt das Dorf plötzlich und wie auf geheimen Wink hin in tiefen Schlaf. Der kommende Tag ist absoluter Stille gewidmet, um den Geistern vorzuspielen, Bali wäre ausgestorben. Arbeit, Geschlechtsverkehr, Gassenplauderei, sogar Zigaretten sind nicht gestattet. Für Dämonen gibt es nichts zu tun. Später beginnt Spies, diese Gesichte und Geschichten in Gemälden festzuhalten. Es ist davon auszugehen, dass er sowohl nach Fotografien als auch nach der Erinnerung arbeitet. Oft sind die ersten Erfahrungen in der Fremde die tiefsten, jene, die im Gedächtnis überdauern. Werke wie die Balinesische Legende aus dem Jahr 1929 mögen auf Erlebnisse aus der Anfangszeit auf der Insel zurückzuführen sein. »Es ist sehr phantastisch«, wird Spies einem interessierten Sammler, dem holländischen Professor Bertling, auf Java erklären: »Ein Gefecht zwischen zwei eigenartigen Menschen auf Pferden in einer tropischen üppigen Landschaft; sie haben kurze Beine und schrecklich lange Körper, und die Pferde sind auch nicht so, wie PEerde eigentlich sein müssten. Auch die Perspektive ist anders als irgendwo auf der Welt ... Es ist absolut unnaturalistisch, aber trotzdem beinahe angsterregend naturalistisch gemalt«. So hätte Spies auch einen Traum erzählen können: unnaturalistisch und doch angsterregend naturalistisch. Kein Zweifel, hier

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berichtet er von seiner Initiation in die unverfälschte Kultur Balis, deren Bann er sich von nun an immer wieder freiwillig und dankbar aussetzen wird. Wann immer sie ausziehen, Bargehr und Spies, mischen sich dramatische Sensationen mit leichtlebigen Genüssen. Sie baden stundenlang unter Wasserfallen, streifen bei Ebbe durch die Korallenriffe, ein Reich von Seeanemonen, Nelken, Sternen und Seeigeln. »Ich bin schrecklich gestochen worden von einem Biest, das wie ein Stachelwurm von zwei Metern Länge aussah und sehr wütend auf mich wurde.« Sie schlafen am Strand, die Flut holt sie ein, vor Sonnenaufgang »viele~ Segllboote aus Borneo und Sumbawa«. Bei einem javanischen Zöllner werden sie mit einer »herrlichen Reistafel« verköstigt. Unter dem Vulkan Gunung Agung plötzlich trockenes Grasland, Ziegen und Kühe, »wie in Australien«. Dass der Mensch von Tigern angegriffen werde, sei »Tropenschwindel«, beruhigt er die Mama, als er von einer Jagd mit dem Maler Charles Sayers berichtet, ihrem »jugendlichen Freund«, der sich in Yogyakarta um sie bemüht und um den Kratersee herumgeführt hatte. Sayers, amüsiert sich Walter, sitze im Baum und werde von Moskitos getriezt. Das Aas ziehe eher Riesenvögel und Leguane »von drei Metern Länge« an. Gestern habe sich eine Eule in seinem Schmetterlingsnetz verfangen. Am Gunung Batur begegnen sie Leuten, deren Balinesisch er nicht versteht und die noch nie einen Europäer gesehen haben. Man schlafe kalt »und nicht wanzlos, ... zu ungefähr fünfzig Mann auf einem Bett«. Aber »das Schönste« sind für ihn immer wieder die Buchten und ihre Korallen. »Seegärten, ... Urwälder und Dickichte von den verrücktesten Korallensorten ... bis zu zwei Meter hohe Bäume, türkisfarbene Büsche, rote Wiesen«, Fische wie der Teufel persönlich, »voll Hörnern und

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Dornen und hohen Fahnen auf dem Rücken«. Er steuert das Kanu in kristallklarem Wasser über diese Monsterwelt hinweg und zeichnet unentwegt Libellen, Spinnen und Seeschnecken. »Klavier spiele ich im Urwald weniger. Dafür höre ich viel Vogelgezwitscher und Tigermiauen.« Als er zu Fuß durch die Mangroven unterwegs ist, berichtet er in einem der Briefe in die alte Heimat, bemerkt er gleich neben sich ein »Kroko des dilles«. Es folgt eine Jagdepisode, die aus einem Film mit Buster Keaton stammen könnte, mit zwei schwächelnden Schützen aus Holland, die das Biest mit ihrem Geballer erst so richtig zum Leben erwecken, Kulis, die derweil schon an dessen Schwanz hantieren, während es noch putzmunter um sich schlägt, »wie im Kasperletheater« die Kulis durch flaches Wasser vor sich herjagt und beinahe den Kahn zum Kentern bringt, in den sich schließlich alle retten. Am Ende, wie es sich für solche Anekdoten gehört, gibt es nur einen Toten, und das ist das Reptil: fünfeinhalb Meter lang, sieben Kugeln im Leib. Die magische Choreografie der Tänze ist ergreifend, doch die preußische Tugend der Pünktlichkeit unbekannt. Einmal erscheinen die Akteure mit vier Stunden Verspätung um Mitternacht, lassen sich verköstigen und schlafen sofort ein, worauf die Veranstaltung auf den nächsten Tag um vier Uhr nachmittags verschoben werden muss. Als Walter um acht zum Abendessen erscheint, hat weder der Tanz begonnen noch ist das Essen fertig. Um Mitternacht ist das Abendessen immerhin bereit, gegen vier Uhr morgens sollen die Tänzer anfangen, doch stattdessen beginnt es zu regnen, und alles fällt aufs Neue in den Schlaf. »Heute Abend ist es wieder für um vier angesagt worden, doch ich gehe nicht vor zwölf Uhr morgen Abend hin, vielleicht wird es dann gegen den übernächsten Morgen an-

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fangen. Aber sehen will ich's; es ist ein sehr selten gegebener Hexentanz.« In Denpasar besucht er einen der verbreiteten Hahnenkämpfe. Die Tiere, eingewickelt in Kokosblätter, werden auf den Markt gebracht und der Menge präsentiert. Wetteifrige strecken sich gegenseitig kepeng-Münzen hin und rufen ihre Angebote aus. Fünfzehn Zentimeter lange Messer stecken am rechten Fuß der beiden Gockel, dort, wo man ihnen zuvor den Sporn abgeschnitten hat, ein Gong ertönt und los geht's. Die Hähne werden nun gegeneinander aufgehetzt und in der Are.pa platziert. In einem für das menschliche Auge nicht nashvollziehbaren Tempo gehen diese sofort aufeinander los. Lediglich blitzende Klingen und das bald heftig spritzende Blut geben dem Beobachter eine Vorstellung vom Verlauf des Kampfes. Sobald einer der Hähne zusammenbricht, stößt der Sieger ein wildes Kikeriki aus und hackt weiter auf den toten Gegner ein. Zuweilen sind beide Tiere verwundet und der Kampf geht weiter, nachdem die Besitzer sie massiert oder ihnen Luft in die Lungen gepustet haben. Doch, alas, die Holländer haben neuerdings den Hahnenkampf wie zuvor schon die Witwenverbrennungen verboten. All das, was den Balinesen besonders am Herzen liegt ... Wie aufJava spricht man auch auf Bali verschiedene Sprachen,je nachdem, in welcher Beziehung die Leute zueinander stehen. 93 Prozent der Balinesen gehören zu den Sudras, der niedrigsten Kaste. Zwar macht man auch unter ihnen Unterschiede, so gehören etwa die Schmiede einer eigenen Schicht an, doch stehen sie alle unterhalb der drei herrschenden Kasten: jener der Priester (Brahmana), der Aristokraten (Satria) und der Militärs (i#sia). Die Brahmanen, weiß die Legende, entsprangen dem Mund Brahmas, die Satrias seinen Armen, die Wesias

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seinen Füßen. Den Brahmanen gebührt der höchste Rang. Der Legende zufolge forderte einst der Raja von Klungkung, Dewa Agung, einen Priester heraus. Er versteckte eine Ente im Brunnen, rief den Priester und verlangte zu wissen, was sich im Brunnen befinde. Eine naga (Python), behauptete der Priester. Der Raja begann heftig zu lachen und öffnete den Brunnen. Da schoss ein riesiges Reptil hervor, übermannte den Raja und hätte ihn umgebracht, wäre ihm nicht der Priester zu Hilfe gekommen und hätte die Schlange mit einem Wunderpfeil getötet. Im Verlauf der ersten Monate wird Spies vom gleichmäßigen Rhythmus des balinesischen Alltags eingeholt worden sein. Das Gurren der Tauben, die am Morgen in Staffeln übers Dorf ziehen, oder das Rascheln der Besen, mit denen die Frauen den Hof kehren, während die Männer die Hähne am Tor im Käfig ausstellen und sich mit einem ketipat-Snack auf den Weg in die Felder machen, durchflutete ihn. Irgendwann notierte Spies, er habe zum ersten Mal die Sonne gemalt. Außer an exklusiven Delikatessen wie gerösteten Bienen wird er sich an den vielen kleinen, stets kalt servierten Speisen delektiert haben, die nur dann als genießbar galten, wenn sie mit einem Brei aus gestampften Wurzeln, Nüssen, Zwiebeln, Knoblauch, Zitronensaft, Kokosnuss und rotem Pfeffer aufs Stärkste gewürzt wurden. Wie es sich unter Balinesen gehörte, wird er mindestens zweimal am Tag, vor den Hauptmahlzeiten, gebadet haben, obwohl der Eimer Wasser so schmerzhaft teuer war. Streng nach Geschlechtern getrennte Badeanstalten boten entweder natürliche Wasserbassins oder »Duschen« in der Form fantastischer Tiere. Auch unter ihresgleichen hielten Männer wie Frauen den Gegenstand der Scham vor den anderen verhüllt, wenn sie sich für Stunden gemeinsam im Pool versammelten und Plaudereien abhielten.

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Lange Zähne galten unter dem jungen Volk als hässlich, sodass sie den Kindern frühzeitig abgefeilt und begradigt wurden. Das Betelkauen oder gar Schwärzen der Zähne, wie es unter den Alten üblich war, kam außer Mode. Manche schrubbten sich gar die Vorderzähne mit Asche, um sie weiß zu bekommen. Auch ansonsten hielt der »zartgliedrige« Balinese viel auf seine äußere Erscheinung. Spies mag zunächst erheblichen Aufwand getrieben haben, um die Sympathie der Ureinwohner zu gewinnen, und gelegentlich nicht nur deren Sympathie. Nordische Gesichter mit scharfen Zügen, blauen Augen und blo1ndem Haar galten ihnen keineswegs als attraktiv, da sie a!J. Albinos erinnerten. Dass ihn dennoch nach kürzester Zeit stets eine Kohorte Halbwüchsiger umgab, er überall bekannt war wie ein bunter Hund und bewundert wurde ob seiner Künste, mag an Spies' ungewohnt freizügigem Auftreten gelegen haben. Das Weltkind in ihm fand sich unter den Insulanern schnell zurecht. Er teilte großzügig, was er besaß, konnte die Stunden ohne Bedenken mit der Dorfjugend »herumfläzen« oder sie mit seinen zuweilen kabarettistischen Späßen gewinnen, die schon bei dem hässlichen Dienstmädchen Katja in Moskaus Archipov-Straße gezogen hatten. Victor von Plessen, der extravagante Forschungsreisende aus dem Holsteinischen, der die Rolle eines Produzenten in Spies' künstlerischem Leben spielen sollte und ihm das erste Mal bereits 1924 in Yogyakarta begegnet war, gehörte zu den frühen Besuchern. Von ihm stammt die Beobachtung, Spies habe »den Leichtsinn des Heiligen« gelebt, »wie die Lilie auf dem Felde«. Zugleich überliefert derselbe Plessen eine eher unheilige, dafür aber ausgesprochen irdische und vielsagende Episode: »So erinnere ich mich«, schreibt der Baron Jahrzehnte später an

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Hans Rhodius, »wie wir an einem besonders schwülen Tag von einem furchtbaren tropischen Platzregen überrascht wurden, der Weg und Stege fußhoch unter Wasser setzte. Der Graben, der beiderseits der Straße durch die Dörfer ging und meistens trocken war, wurde zu einem reißenden Strom, der allen Unrat und Dreck in schäumender Flut mit sich abwärts riss. Da wir sowieso durchnass waren, war es verlockend, sich mit dem Treibholz und allem möglichen Fortgeschwemmten in die strömende Flut zu stürzen, um in sausender Fahrt unter kleinen Brücken an den Lehmmauern entlang nach unten geschwemmt zu werden.