Wagnis Mensch werden: Eine theologisch-praktische Anthropologie. Festschrift für Klaus Kießling zum 60. Geburtstag [1 ed.] 9783666703270, 9783525703274


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German Pages [480] Year 2022

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Wagnis Mensch werden: Eine theologisch-praktische Anthropologie. Festschrift für Klaus Kießling zum 60.             Geburtstag [1 ed.]
 9783666703270, 9783525703274

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Christian Fröhling Jakob Mertesacker Viera Pirker Theresia Strunk (Hg.)

Wagnis Mensch werden Eine theologisch-praktische Anthropologie

Festschrift für Klaus Kießling zum 60. Geburtstag

Christian Fröhling/Jakob Mertesacker/ Viera Pirker/Theresia Strunk (Hg.)

Wagnis Mensch werden Eine theologisch-praktische Anthropologie Festschrift für Klaus Kießling zum 60. Geburtstag

Vandenhoeck & Ruprecht

Mit 5 Abbildungen und einer Tabelle Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2022 Vandenhoeck & Ruprecht, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: © Nordreisender/Adobe Stock Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-666-70327-0

Inhalt

Grußwort des 1. Vorsitzenden der Deutschen Gesellschaft für Pastoralpsychologie 9 Andreas Kunze-Harper Grußwort des Bischofs von Limburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Georg Bätzing Grußwort des Rektors der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Thomas Meckel Vorwort der Herausgeber*innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15

TEIL I 

WAGNIS

Religiöser Glaube. Radikales Wagnis im Menschwerden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 Ottmar Fuchs Zwei Spuren in die Zukunft der Kirche. Das Narrativ von Pfingsten und die Herausforderungen des psychologischen Feldes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 Rainer Bucher Mystagogie, Pastoralpsychologie und Diakonie?! Komplexe christliche Seelsorge in einer komplexen Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 Doris Nauer Praktische Theologie und Grounded Theory. Zu den Risiken und Nebenwirkungen einer soziologischen Methode in der Praktischen Theologie . . 63 Norbert Hark Krisen. Besondere Momente von Gefährdung und Entwicklung . . . . . . . . . . . . . 74 Helga Kohler-Spiegel Wer wagt, gewinnt!? Professionelles Handeln zwischen Mut und psychologischer Sicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Martin Kempen Das Wagnis des Selbst-Werdens im Kontext einer prozessualen Wirklichkeit . . 98 Christoph Lubberich

Inhalt

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Gottesgeburt als Modell lebendiger Soteriopraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Georg Hummler Anthropology of hope. The phenomenon of resurrection . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 Skaidrīte Gūtmane »… sondern erlöse uns von dem Bösen«? Religionspsychologische Rückfragen an das jüdisch-christliche Gottesbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Ludger Verst An Grenzen Mensch sein. Das Scheitern nach Karl Jaspers als Thema der Praktischen Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Daniel Gerte Gedankensplitter zur religiösen Identitätsbildung im Religionsunterricht . . . . . 150 Stephan Pruchniewicz Freiheit in Verantwortung. Die Exerzitien des Ignatius von Loyola als Chance für den Epochenübergang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 Peter Hundertmark Wagnis der Freiheit. Begegnung, Internationalismus und Internet: Grenzerfahrungen im interkulturellen Spiritual Care and Counselling . . . . . . . . 169 Ulrike Elsdörfer Agiles Wagnis Kooperation. Ein Beitrag zur Zukunft der Organisation von Arbeit in Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Claudia Enders und Joachim Schlör

TEIL II 

MENSCH

Living Learning nach Ruth C. Cohn. Eine Gesellschaftstherapie? . . . . . . . . . . . . . 192 Matthias Scharer »Was alle Gott nennen«. Beziehungspsychologie als kritische Sonde . . . . . . . . . . 205 Heribert Wahl Wahrnehmen als Übung. Phänomeno­logische Perspektiven für eine leibsensible Religionspädagogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 Christian Fröhling »Du sollst dir (k)ein Bildnis machen!«. Kunsttherapeutische Impulse für seel­sorgliche Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Beate Josten-Sell Poetik der Zeit. Überlegungen zur ästhetischen Bildung des Religiösen im Anschluss an Paul Ricœur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 Anne M. Steinmeier

6

Inhalt

»Desintegriert mich!« Aktuelle Identitäts­diskurse und ihre Bedeutung für Reform­vorhaben in der katholischen Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 Lisa Straßberger Toraexegese als Beitrag zur Gerechtigkeit. Neutestamentliche Gedanken zu innerkirchlichem Machtmissbrauch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 Ansgar Wucherpfennig SJ Klaus Kießling, Diakon mit weltweiter Resonanz. Ein Plädoyer für Diakoninnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 Albert Biesinger »Um unseres Heiles willen«. Diakonische Kirche – Leben aus der Botschaft Jesu Christi als Dasein für andere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 Gebhard Fürst Professor Kießling – »Love Greets You« – from Finland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .290 Terttu Pohjolainen Maria von Magdala als barmherzige Sama­riterin? Ein Film als theologiegenerativer Ort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 Viera Pirker Menschwerdung durch Solidarität. Der Beitrag diakonischer Bildung . . . . . . . . . 307 Norbert Mette Zu Gast in fremden Welten. »Hingehen« als pastoralpsychologische Haltung nicht nur in Krisenzeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 Theresia Strunk Nah den zerbrochenen Herzen. Reflexionen von Erfahrungen in der Psychiatrieseelsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 Beate Glania MMS

TEIL III 

WERDEN

Reformen kirchlicher Machtstrukturen. Eine Antwort des Synodalen Weges auf die Missbrauchs- und Vertrauenskrise der katholischen Kirche . . . . . . . . . . . 346 Bernhard Emunds Zur Spiritualität des synodalen Weges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360 Bernd Jochen Hilberath Mensch werden mit Gott und der Kirche? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370 Godehard König Begleitung in Glaubens- und Welt­deutungs­prozessen aus Sicht einer Seelsorgerin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380 Birgitta Ortmans

Inhalt

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Mehr relational als integral. Pastorale Mitarbeiter*innen im Sozialraum . . . . . . 391 Bernd Hillebrand Pastoral Accompaniment of Couples. Prospects and Challenges for the Syro-Malabar Church Today . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 402 Wilson Parekkattil ISch Schöpferische Sorge. Schöpfungsverantwortung und Schöpfungsspiritualität als kirchlicher Verkündigungsauftrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 410 Christoph Hentschel Wie die ökologische Krise den Religions­unterricht verändert. Lernwege diakonischer Mystagogie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421 Theo Sprenger Fragile Beziehungen und Indifferenz im Religionsunterricht. Zur Erreichbarkeit von Schülerinnen und Schülern heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 428 Matthias Gronover und Reinhold Boschki Praxis und Theorie sind zwei Seiten einer Medaille. Das Theorie-PraxisProblem im Lehramtsstudium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439 Angela Kaupp In der Begegnung mit Zeitzeugen Mensch werden. Zu Herkunft, Bedeutung, Formen, Reflexion und Zukunft von Zeitzeugenprojekten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 450 Marc Fachinger Ein Wagnis des Menschen – Religiös werden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 462 Hermann-Josef Wagener Verzeichnis der Autor*innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 473

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Inhalt

Grußwort des 1. Vorsitzenden der Deutschen Gesellschaft für Pastoralpsychologie Andreas Kunze-Harper

Klaus Kießling – Pastoralpsychologe von Anfang an »Wer im Geringsten treu ist, der ist auch im Großen treu.« (Lk 16,10a)

Die Deutsche Gesellschaft für Pastoralpsychologie (DGfP) würdigt Prof. Dr. phil. Dr. theol. habil. Dr. h. c. Dipl. Psych. Klaus Kießling anlässlich seines 60. Geburtstags. Wir verdanken ihm viel. Seit 1995 ist er Mitglied in der DGfP und gehört der Sektion »Pastoralpsychologische Psychotherapie und Seelsorge« (PPS) an. Seit dem Jahr 2002 hat Klaus Kießling unter anderem die Schriftleitung der Zeitschrift »Transformationen« übernommen. Von diesem Zeitpunkt an erscheinen unter seiner Redaktion jedes Jahr mindestens zwei Hefte. Er ist außerdem in seiner Sektion PPS engagiert als Mitglied der Aufnahmekommission und der ad-hoc-Weiterbildungskommission und begleitet die Sektion seit Jahrzehnten sehr nachhaltig. Wenn man Menschen in der DGfP fragt, wie sie Klaus Kießling beschreiben würden, dann verweisen sie auf seine gewissenhafte, ruhige und fachlich stets sehr profunde Art. Auf jeden Fall wird er als zuverlässig und in der Sache kritischwach beschrieben. Und dazu gesellen sich die Beschreibungen von Freundlichkeit, Klugheit und Interdisziplinarität. Und das zeigt sich in seinen vielfältigen Funktionen und Aufgaben. Er ist Theologe, Diakon, Psychologe und Pastoralpsychologe, er arbeitet ebenfalls als Psychotherapeut, Supervisor und Hochschullehrer. Klaus Kießling drängt sich nicht in den Vordergrund, sondern ist lieber in einem verlässlichen Hintergrund und sorgt hier für ein systematisches Arbeiten. In diesem Sinne wirkt er mit klaren Worten orientierend. Seine hohen Kompetenzen in Kirche und Theologie, in Psychologie und Supervision verbindet er mit einem unprätentiösen Habitus, was die Begegnungen mit ihm in besonderer Weise auszeichnen. Er ist zudem für die DGfP und seine Sektion PPS wirkmächtig in seinem Engagement im Bereich von Wissenschaft und Öffentlichkeitsarbeit. Damit stärkt er nicht nur die Arbeit der DGfP und in seiner Sektion, sondern er unterstützt darin auch seine Kirche in ihrer von ihm erkannten und angemahnten Reformbedürftigkeit. Grußwort des 1. Vorsitzenden der Deutschen Gesellschaft für Pastoralpsychologie

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Von Beginn seiner beruflichen und wissenschaftlichen Laufbahn an ist er Pastoralpsychologe. Geprägt im Studium von Prof. Dr. Heinrich Pompey in Würzburg, einem Mitbegründer der DGfP, verbindet er in seiner beruflichen Vita diakonisches Engagement mit seiner Lehrtätigkeit als Professor für Religionspädagogik und Pastoralpsychologie an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt am Main. Im Laufe der Jahre entstehen zahlreiche Veröffentlichungen, die sich Fragen von Kontakt und Präsenz, von Treue und Passion widmen. Sie gehen der Seelsorge bei Seelenfinsternissen nach und beschäftigen sich mit der pastoralpsychologischen Frage nach der Schwebe des Lebendigen. Die Supervision betrachtet er als Lernprozess unter offenem Himmel. Und neben diesen Dingen schreibt und denkt Klaus Kießling über seine Kirche nach und engagiert sich über die DGfP hinaus in vielen nationalen und internationalen Gremien. In der Pastoralpsychologie stellen wir Fragen nach dem Verständnis von Wirklichkeit, Werten, Visionen und Sinnvorstellungen, die Menschen haben, wie sie durch sie geprägt sind und wie sie handeln. Diese Fragen gehen über die funktionalen, strukturellen und organisationalen Bedingungen hinaus, in denen sich Menschen befinden und arbeiten. Sie zielen auf die Verankerung von Wirklichkeitsverhältnissen, Werten und Visionen ab und werden in diesem Sinne ein wesentlicher Teil seelsorglicher und supervisorischer Prozesse. Dabei ist die Reflexion der Wirklichkeits- und Werteebene das Spezifische der Pastoralpsychologie und verbindet sich unmittelbar mit der Reflexion der eigenen Haltung und Praxis: Was sind meine Werte und wie gestaltet sich mein Wirklichkeitsverständnis? Der Grund, auf dem diese Reflexion geschieht und mit dem sie sich in Beziehung setzt, ist die christliche Tradition. Sie fragt nach dem Verständnis von Wirklichkeit und Sinnvorstellungen in vielfältiger Weise. Mit ihr werden die je eigenen Wertetraditionen in einen Zusammenhang gebracht. Auf diese beziehen wir uns, wenn wir pastoralpsychologisch in der Seelsorge oder in der Supervision arbeiten. Zugleich bedeutet dieser Vorgang, dass wir zum einen die christliche Tradition durch unsere Erfahrungen neu interpretieren, und zum anderen können wir uns in der christlichen Tradition neu verorten. Dieses Verfahren und Vorgehen ist das Herzstück der Pastoralpsychologie und für dieses Herzstück steht Klaus Kießling und mit ihm die Deutsche Gesellschaft für Pastoralpsychologie als Verband ein. Zu seinem 60. Geburtstag gratuliert ihm die Deutsche Gesellschaft für Pastoralpsychologie herzlich, mit tiefer Dankbarkeit und Anerkennung für alles Engagement in unserem Fachverband für Seelsorge, Beratung und Supervision. Andreas Kunze-Harper, 1. Vorsitzender der DGfP 10

Andreas Kunze-Harper

Grußwort des Bischofs von Limburg Georg Bätzing

Wie nah Seelsorge und Psychologie beieinanderliegen können, weiß wohl jede Seelsorgerin und jeder Seelsorger. Fast alle sind wir in unseren unterschiedlichen Handlungsfeldern an den Punkt gekommen, an dem wir Menschen über die geistliche Fürsorge hinaus auch die Inanspruchnahme psychologischer Hilfe empfohlen haben. Obwohl wir uns mit der »Seele« auskennen und manchmal auch hilfreiche Wege aus Abgründen und Nöten aufzeigen können, sind wir selbst keine Therapeuten, und es ist wichtig, diese Grenze zu kennen. Dazu ist es unerlässlich, sich mit den psychologischen Bereichen der Theologie zu beschäftigen: im Studium, in der Ausbildung, in der Seelsorge, in der Beratung, in der Supervision. Nur wenn wir verstehen, wie Geist und Seele, wie Glaube und Psyche einander bedingen, beeinflussen, wandeln, können wir dem konkreten Menschen mit all seinen Sorgen, Nöten und Anliegen angemessen begegnen. Dann hilft es dem einzelnen Menschen. Dieser Blick ist für eine Kirche, die sich entwickelt, unglaublich wichtig. »Für wen sind wir da?« oder anders: »Wo brauchen uns die Menschen?« Kirchenentwicklung ist missionarisch und diakonisch zugleich, denn sie macht deutlich, dass Kirche für die Menschen da ist. Dieser wichtige Kulturwandel beginnt bei jeder einzelnen Christin und bei jedem einzelnen Christen. Bevor sich meine Umwelt wandelt, muss ich mich selbst wandeln und bereit sein, mich auch auf unbekanntes Terrain zu begeben und mutig auf Menschen zuzugehen. Prof. Dr. Klaus Kießling ist seit vielen Jahren ein wahrer Menschenkenner. Als Diakon, Hochschullehrer und Psychotherapeut begleitet er Menschen bei ihrer Menschwerdung, die im Sinn einer humanistischen Pädagogik den Kern von Bildung ausmacht. Um sinnerfüllt und selbstbestimmt leben zu können, muss ich mich entwickelnd bilden. Wir sind Menschen und werden Menschen. Schon seine 1997 erschienene Dissertation beschäftigte sich mit Psychotherapie als chaotischem Prozess – als Wagnis in der Begleitung von Menschen. Und deshalb ist es auch folgerichtig, dass die Festschrift zu seinem 60. Geburtstag den treffenden Titel »Wagnis Mensch werden. Eine theologisch-praktische Anthropologie« trägt. Denn wenn »der Mensch […] der Weg der Kirche« ist Grußwort des Bischofs von Limburg

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(Enzyklika »Redemptor hominis« Papst Johannes Pauls II., Nr. 14 [1979]), ist die Pastoralpsychologie eine Brücke zu diesem Menschen. Als langjähriger Leiter des Seminars für Religionspädagogik, Katechetik und Didaktik sowie des Instituts für Pastoralpsychologie und Spiritualität und Inhaber des Lehrstuhls für Religionspädagogik und Pastoralpsychologie an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen hat Klaus Kießling zahlreiche Brücken im Bistum Limburg, in die deutsche Kirche und in die Weltkirche gebaut. An dieser Stelle seien nur einige seiner vielfältigen Tätigkeiten beispielhaft genannt: seine Mitgliedschaft im Diözesansynodalrat und in den Hauptausschüssen Schule und Hochschule sowie Kultur und Bildung des Bistums Limburg. Unter seiner Betreuung wurden zahlreiche Promotionen und Lizenziate abgeschlossen, und viele Studierende, die heute im Bistum und darüber hinaus arbeiten, können mit einer fundierten religionspädagogischen und pastoralpsychologischen Basis ihren Dienst gestalten. Die Deutsche Bischofskonferenz unterstützt Professor Kießling seit etlichen Jahren durch seine Mitarbeit in der Arbeitsgruppe »Ständiger Diakon«, in der Kommission für Geistliche Berufe und Kirchliche Dienste sowie in der Schulbuchkommission. Seinen Dienst als Diakon verband er unter anderem mit weltkirchlichem Engagement als Präsident des Internationalen Diakonatszentrums. Klaus Kießling hat auch eine besondere Beziehung zu Skandinavien, wo er an einem Gymnasium Religion unterrichtete. Zudem verlieh ihm die Christliche Hochschule Lettland im Jahre 2014 die Ehrendoktorwürde. Diese nur lückenhafte Aufzählung seiner vielfältigen Verdienste für Wissen­ schaft und Kirche verdeutlicht, dass Klaus Kießling mit Leib und Seele Pastoralpsychologe und Religionspädagoge ist. Seine Leidenschaft gehört dem Menschen, wie er ist und wie er sein soll – mit all den damit verbundenen Herausforderungen des Gelingens und des Scheiterns. Ich danke Professor Kießling für seinen Dienst in unserem Bistum ebenso wie für die katholische Kirche und hoffe, dass er auch in Zukunft der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen und dem Bistum erhalten bleibt! Dr. Georg Bätzing, Bischof von Limburg

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Georg Bätzing

Grußwort des Rektors der PhilosophischTheologischen Hochschule Sankt Georgen Thomas Meckel

In der Nachfolge von P. Prof. Dr. Karl Frielingsdorf SJ übernahm Klaus Kießling im Jahr 2004 die Verantwortung für den Lehrstuhl für Religionspädagogik und Pastoralpsychologie. Mit seiner Doppelqualifikation als promovierter Psychologe und promovierter praktischer Theologe bzw. habilitierter Religionspädagoge entsprach er dem gewünschten Profil und übernahm die Leitung des Seminars für Religionspädagogik, Katechetik und Didaktik sowie des Instituts für Pastoralpsychologie und Spiritualität, das P. Frielingsdorf im Jahr 1991 gründete. Als Religionspädagoge hat sich Klaus Kießling in vielen Feldern als profilierter Wissenschaftler ausgewiesen, insbesondere im Bereich der empirischen Religionspädagogik des Religionsunterrichts in der Berufsschule und zur Frage des konfessionell-kooperativen Religionsunterrichts. Prozesse religiöser Bildung und menschlicher Entwicklung sind Gegenstand einer Forschung und Lehre, die sich dem kulturellen und gegenwärtigen Kontext verpflichtet und sensibel gegenüber weiß. Das Institut für Pastoralpsychologie und Spiritualität steht in Forschung und Lehre im inter- und transdisziplinären Gespräch mit der Pädagogik, der Soziologie, der Psychologie und der empirischen Wissenschaft. Ein Markenkern ist die Verknüpfung von wissenschaftlicher Reflexion und Praxis, etwa im Bereich der Seelsorge und geistlichen Begleitung, der Schule, der Psychotherapie, in diakonischen Feldern und im weltkirchlichem Kontext. Das postgraduale Studium in Pastoralpsychologie ist für die Hochschule ein Gewinn und im deutschsprachigen Raum einzigartig. Es wird mit 30 Aufbaustudierenden internationaler Zusammensetzung berufsbegleitend durchgeführt und ist derart nachgefragt, dass die Studienplätze begrenzt vergeben werden müssen. Kollege Kießling hat in den vergangenen Jahren zahlreiche postgraduale Arbeiten begleitet und begutachtet, deren Verfasser*innen nun in unterschiedlichen Bereichen der Wissenschaft, der Praxis in Schule und Bildungswesen oder in der Pastoral tätig sind. Klaus Kießling ist seit dem Jahr 2004 Diakon der Diözese RottenburgStuttgart, wirkte langjährig als Vizepräsident und als Präsident des InterGrußwort des Rektors der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen

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nationalen Diakonatszentrums und hat in diesem Bereich auch entsprechend geforscht. Er ist im In- und Ausland ein gefragter Wissenschaftler und Gutachter und unterhält zahlreiche Beziehungen im deutschsprachigen und internationalen Raum, so z. B. zu den Katholisch-Theologischen Fakultäten an den Universitäten Münster, Tübingen und Bonn, zu den Evangelisch-Theologischen Fakultäten an den Universitäten Tübingen, Bonn und Halle, zum Fachbereich Katholische Theologie an der Universität Frankfurt am Main, zur Katholisch-­Theologischen Fakultät der Universität Graz und zur Katholischen Universität Linz. International pflegt er Beziehungen zur Universität Joensuu in Ostfinnland, zur Katholischen Universität Murcia in Spanien, zur Jesuitenuniversität Antonio Ruiz de Montoya und zur Päpstlichen Katholischen Universität Peru in Lima, zur Päpstlichen Katholischen Universität Chile in Santiago, zum St Augustine College of South Africa in Johannesburg und zum St Pius X College Mumbai in Indien. Die Christliche Hochschule Lettland in Jurmala bei Riga verlieh ihm im Jahr 2014 den Ehrendoktorhut. In der Hochschule und ihrer Selbstverwaltung hat Klaus Kießling zahlreiche Ämter und Aufgaben wahrgenommen, von denen nur einige genannt seien. Er war in den Jahren 2010 bis 2014 Prorektor der Hochschule und in zahlreichen Perioden Mitglied des Hochschulrats. Er war langjähriger Leiter des Ausschusses für Qualitätssicherung und ist seit 2010 Studienberater. Seit 2004 ist Klaus Kießling durchgängig Vertreter der Fächergruppe der praktischen Theologie im Promotionsausschuss der Hochschule. Wer Klaus Kießling kennt, schätzt seine verbindende und verbindliche Art, sein gutes Judiz und seine Kollegialität. Diese Festschrift ehrt zu seinem 60. Geburtstag den Kollegen Kießling, der nun bereits über 18 Jahre in Sankt Georgen lehrt und forscht und Profilelemente der Hochschule Sankt Georgen mitprägt und -gestaltet. Die Hochschule gratuliert sehr herzlich zu diesem Jubiläum. Prof. Dr. Thomas Meckel, Rektor der Hochschule Sankt Georgen

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Thomas Meckel

Vorwort der Herausgeber*innen

In der Neuzeit ist der Mensch in das Blickfeld wissenschaftlicher Untersuchun­ gen gerückt. Ein Philosoph und Theologe, der diesen Perspektivwechsel ernst genommen und reflektiert hat, ist Karl Rahner SJ. Gerade Rahner stellt für Klaus Kießling, zu dessen 60. Geburtstag dieses Buch erscheint, eine Art Wegweiser dar; ein Wegweiser auch für den Stil seiner Theologie, der sich als integrierend, abwägend, differenzierend und suchend beschreiben lässt. Den Jüngeren und den Älteren verbindet, den Menschen als Frage zu reflektieren und diese Frage offen zu halten, was bei genauerer Betrachtung kein leichtes Unterfangen ist. Rahner formuliert es so: »Der Mensch beginnt sein Dasein im Unterschied zu den Sachen, die immer fertig sind und sich von Fertigkeit zu Fertigkeit verschieben und darum zumal immer endgültig und nie endgültig sind, als das radikal offene, unfertige Wesen, und wenn sein Wesen fertig ist, ist es das durch ihn selbst in Freiheit geschaffene. […] Auf jeden Fall ist der Theologie von heute in dringlichster Weise durch die kategoriale Selbstmanipulation des Menschen die Frage aufgegeben, was denn eigentlich und wirklich jenes Wesen des Menschen sei, das auch der Selbstmanipulation als Horizont und verpflichtende Grenze vorgegeben ist.«1 Den Menschen als Frage zu behandeln, erfordert Mut und Durchhaltevermögen und es setzt verschiedene Gesprächspartner voraus. Denn die Frage nach dem Menschen wird keineswegs nur von der Theologie gestellt, sondern gerade auch von Human- und Sozialwissenschaften. Den Menschen als Frage zu behandeln, eröffnet also aus sich heraus ein interdisziplinäres Gespräch. Der Geehrte tritt dabei nicht nur dafür ein, dass die Theologie auf die Anthropologie nicht ver1

Karl Rahner, Experiment Mensch. Theologisches über die Selbstmanipulation des Menschen, in: ders., Schriften zur Theologie, Bd. 8, Einsiedeln – Zürich – Köln 1967, 260–285, hier: 270– 274 (Hervorhebung durch Hrsg.).

Vorwort der Herausgeber*innen

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zichten kann, sondern auch dafür, dass die Anthropologie gerade im Horizont der Theologie eine Gestalt und Konkretion gewinnt. Das Gespräch ist für Klaus Kießling schon in mehrfacher Hinsicht Untersuchungsgegenstand gewesen. So formuliert er mit Hans-Georg Gadamer: »Wir suchen von dem Gespräch aus, das wir sind, dem Dunkel der Sprache nahezukommen«2 (1997). Ein Gespräch setzt die Fähigkeit voraus, die jeweiligen unvertrauten Perspektiven tastend kennenzulernen, (methodisch) zu reflektieren und so eine Beziehung zwischen den Sichtweisen deutlich werden zu lassen. Damit sei eine, vielleicht die zentrale Fähigkeit angedeutet, die das wissenschaftliche, kirchliche und psychotherapeutische Wirken Klaus Kießlings prägt. Diese Fähigkeit macht aus dem Jubilar eine Art Grenzgänger, immer unterwegs und doch nicht rast- oder ruhelos: zwischen Theologie, Psychologie und Pädagogik, zwischen Theorie und Praxis und zwischen Ländern, Sprachen und Kontinenten. So führte ihn seine Faszination für unbekannte Perspektiven auch in interkulturelle und internationale Kontexte: unter anderem als Lehrenden und Lernenden nach Finnland, Litauen, Lateinamerika und Südafrika. Klaus Kießlings Art, »Grenzen zu begehen und Unterschiede auszuloten«, kann man paradigmatisch auch – vielen Autorinnen und Autoren des vorliegenden Bandes ist es bekannt – in den seit 2004 an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen stattfindenden Oberseminaren erleben, die den schlichten und doch anspruchsvollen Titel »praktisch-theologische Theoriebildung« tragen. In immer neuen Versuchen interpretiert und reflektiert er selbst seine unterschiedlichen Rollen, sei es als Wissenschaftler, als Diakon oder als Vater. Davon zeugen nicht zuletzt seine wissenschaftlichen Publikationen, die wir im Folgenden nur in Auswahl aufgreifen. Sie führen in verschiedenen Hinsichten vor Augen, was im Titel der vorliegenden Publikation ausgesagt ist: Menschwerdung ist Verheißung, aber auch Herausforderung und Wagnis. Aus den Gesprächen mit der Psychologie Eine wichtige Dokumentation eines interdisziplinären Gespräches stellt die 1998 verfasste psychologische Dissertation dar, die den Titel trägt: »Psychotherapie – ein chaotischer Prozeß? Unterwegs zu einer postcartesianischen Psychologie«3. Dort reflektiert Klaus Kießling die Strukturen der Therapie, die dazu beiträgt, 2 Klaus Kießling, »Wir suchen von dem Gespräch aus, das wir sind, dem Dunkel der Sprache nahezukommen.« – Philosophie des Gesprächs und der Sprache als Zugang zu personzentrierter Psychotherapie und Seelsorge, in: Wege zum Menschen 49 (1997) 319–339. 3 Klaus Kießling, Psychotherapie  – ein chaotischer Prozeß? Unterwegs zu einer postcartesianischen Psychologie, Stuttgart 1998.

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Vorwort der Herausgeber*innen

»Mensch zu werden«. Dabei findet die humanistische Eigenart der Begriffsverwendung Eingang, die gleichzeitig den Zustand wie auch die Vision des Ziels umschließt: Wir sind Mensch und werden Mensch. Einführungswerke, die für Theologinnen und Theologen das Gespräch mit der Psychologie ermöglichen sollen, legt er mehrfach vor: »›Nützlich und notwendig‹. Psychologisches Grundwissen in Theologie und Praxis«4 (2002) und »Grundwissen Psychologie. Lehrbuch für Theologie und Seelsorge«5 (2021). Aus den Gesprächen mit der Pädagogik Ein Wagnis ist es, »zur eigenen Stimme [zu] finden«6 – so der Titel der 2004 erschienenen Habilitationsschrift Klaus Kießlings, in der er empirisch und hermeneutisch die Berufsgruppe der Religionslehrkräfte an berufsbildenden Schulen untersucht. Ein multidisziplinäres Gespräch stellt die zeitgleich unternommene Reflexion religiösen Lernens dar: »Religiöses Lernen  – Multidisziplinäre Zugänge zu religionspädagogischer Theorie und Praxis«7 (2004). Den Religionsunterricht hat er nicht nur in seiner Zeit als stellvertretender Leiter des Tübinger Instituts für berufsorientierte Religionspädagogik, sondern auch weit darüber hinaus reflektierend begleitet. Das belegt auch die empirische Studie zur Konfessionalität des Religionsunterrichts: »Machen Unterschiede Unterschiede? Konfessioneller Religionsunterricht in gemischten Lerngruppen. Ansichten – Einsichten – Aussichten«8 (2018). Im Gespräch mit Weltkirche und Seelsorge Ein Beispiel dafür, wie der Jubilar im Blick auf »das Dunkle« einen Umgang und eine Sprache sucht, ist seine theologische Dissertation »Seelsorge bei Seelenfinsternis. Depressive Anfechtung als Provokation diakonischer Mystagogie«9 4 Klaus Kießling, »Nützlich und notwendig«: Psychologisches Grundwissen in Theologie und Praxis (Praktische Theologie im Dialog; Bd. 24), Fribourg 2002. 5 Klaus Kießling, Agnes Engel, Theresia Strunk & Hermann-Josef Wagener, Grundwissen Psychologie. Lehrbuch für Theologie und Seelsorge, Ostfildern 2021. 6 Klaus Kießling, Zur eigenen Stimme finden. Religiöses Lernen an berufsbildenden Schulen (Glaubenskommunikation Reihe Zeitzeichen; Bd. 16), Ostfildern 2004. 7 Klaus Kießling, Religiöses Lernen. Multidisziplinäre Zugänge zu religionspädagogischer Theorie und Praxis (Pastoralpsychologie und Spiritualität; Bd. 6), Frankfurt a. M. 2003. 8 Klaus Kießling, Andreas Günter & Stephan Pruchniewicz, Machen Unterschiede Unterschiede? Konfessioneller Religionsunterricht in gemischten Lerngruppen. Ansichten – Einsichten – Aussichten, Göttingen 2018. 9 Klaus Kießling, Seelsorge bei Seelenfinsternis. Depressive Anfechtung als Provokation diakonischer Mystagogie, Freiburg i. Br. 2002.

Vorwort der Herausgeber*innen

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(2002). Solche und ähnliche »radikalen Krisen« lassen ihn nicht los, und er ergründet ihre Herausforderung, beispielweise in der (finnischen) Publikation »Radikale Krisen: Probleme und Lösungen. Lehr- und Lernwege«10 (2010). Die Kirche und die pastorale Arbeit in Deutschland und in seiner Heimatdiözese begleitet Klaus Kießling ebenfalls: »Die Sternsinger, wenn’s die nicht gäbe!«11 (2012); »Werte – Religion – Glaubenskommunikation. Eine Evaluationsstudie zur Erstkommunionkatechese«12 (2014) und »Zwischen Dienstaufsicht und Dienstleistung. Studie zur Evaluation des Leitbilds der Diözesan-Kurie Rottenburg-Stuttgart«13 (2019). Unübersehbar ist die weltkirchliche und interkulturelle Perspektive, die Klaus Kießling regelmäßig nicht nur sucht, sondern auch untersucht. So wendet er sich der weltkirchlichen Arbeit der Gemeinden in den deutschen Diözesen und der Bischöflichen Aktion Adveniat zu: »Weltkirchliche Arbeit heute für morgen. Wissenschaftliche Studie in Gemeinden deutscher Diözesen«14 (2009); »Blickpunkt Lateinamerika. Empirische Studie zur weltkirchlichen Arbeit der Bischöflichen Aktion Adveniat«15 (2012) und »Seelsorge interkulturell. Pastoralpsychologische Beiträge«16 (2019). Regelmäßig beschäftigt ihn der Diakonat, so bereits 1998: »›Love greets you‹ – On the culture of deacony«17; »Lebenskunst. Multidisziplinäre Beiträge

10 Klaus Kießling & Guntis Dišlers, Radikalas krizes: problemas un risinajumi. Macibu metodiskais lidzeklis (= Radikale Krisen: Probleme und Lösungen. Lehr- und Lernwege), Jurmala (Lettland) 2010. 11 Klaus Kießling & Michael Mähr, »Die Sternsinger, wenn’s die nicht gäbe!« Eine empirische Studie, Ostfildern 2012. 12 Stefan Altmeyer, Albert Biesinger, Reinhold Boschki, Monika Duda, Perke Fiedler, Dieter Hermann, Simone Hiller, Klaus Kießling, Michael Mähr, Norbert Mette, Nicole Toms, Angelika Treibel & Melanie Wegel, Werte – Religion – Glaubenskommunikation. Eine Evaluationsstudie zur Erstkommunionkatechese, Wiesbaden 2014. 13 Klaus Kießling & Theresia Strunk, Zwischen Dienstaufsicht und Dienstleistung. Studie zur Evaluation des Leitbilds der Diözesan-Kurie Rottenburg-Stuttgart, Ostfildern 2019. 14 Klaus Kießling, Chunhee Cho & Viera Pirker, Weltkirchliche Arbeit heute für morgen – Wissenschaftliche Studie in Gemeinden deutscher Diözesen (Arbeitshilfen der Deutschen Bischofskonferenz; Bd. 235), Bonn 2009. 15 Klaus Kießling, Chunhee Cho & Hermann-Josef Wagener, Blickpunkt Lateinamerika. Empirische Studie zur weltkirchlichen Arbeit der Bischöflichen Aktion Adveniat (Diakonie und Ökumene/Diakonia and Ecumenics; Bd. 4), Münster 2012. 16 Klaus Kießling & Jakob Mertesacker, Seelsorge interkulturell. Pastoralpsychologische Beiträge, Göttingen 2019. 17 Klaus Kießling, »Love greets you« – On the culture of deacony (Publications of the Department of Practical Theology; Bd. 93), Helsinki (Finnland) 1998.

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zur Diakoniewissenschaft«18 (2004) oder »Diakonisch Menschen bilden. Motivationen – Grundierungen – Impulse«19 (2014). Als Wagnis kann auch das Aufgreifen von riskanten Themen wie dem der sexuellen Gewalt in kirchlichen Zusammenhängen gelten. Schon 2011 hat er das Buch »Sexueller Missbrauch. Fakten – Folgen – Fragen«20 herausgegeben, 2021 gefolgt von der Monographie »Geistlicher und sexueller Machtmissbrauch in der katholischen Kirche«21. Im Gespräch mit Klient*innen Als Psychotherapeut und Supervisor ermutigt Klaus Kießling Menschen zum Wagnis, den Schritt in den »luftleeren Raum« zu tun und zu erfahren, dass der Himmel hier tragen kann. Gerade im Aspekt des Werdens, wie er sich im Titel dieses Buches wiederfindet und auch für Klaus Kießling eine Realität ist, wird die unverbrüchliche Überzeugung des an Carl R. Rogers geschulten Therapeuten besonders deutlich, dass das, was im Menschen steckt, zum Vorschein und zum Wachstum kommen will. So ist sein pädagogischer wie sein psychologischer Ansatz ein mäeutischer, ein hervorbringender, in neugieriger Begleitung dessen, was in die Welt kommen mag.

Die Beiträge dieses Bandes Alle, die einen Beitrag zu dieser Festschrift beigetragen haben, sind Klaus Kießling in unterschiedlichen Weisen begegnet: als Theologe und Psychologe, als Wissenschaftler und Diakon, als Hochschullehrer und Kollege, als Autor und Leser, als Wegbegleiter und Gesprächspartner; vor allem als jemand, der lebendig macht, was uns – wie Rahner sagt – existenziell aufgegeben ist.

18 Klaus Kießling, Elämäntaito. Monitieteisiä artikkeleita diakoniatieteestä (= Lebenskunst. Multidisziplinäre Beiträge zur Diakoniewissenschaft), Vammala (Finnland) 2004. 19 Klaus Kießling & Heinz Schmidt, Diakonisch Menschen bilden. Motivationen – Grundierungen – Impulse (Diakonie. Bildung – Gestaltung – Organisation; Bd. 13), Stuttgart 2014. 20 Klaus Kießling, Sexueller Missbrauch. Fakten – Folgen – Fragen, Ostfildern 2011. 21 Klaus Kießling, Geistlicher und sexueller Machtmissbrauch in der katholischen Kirche, Würzburg 2021.

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Wagnis Im ersten Bereich »Wagnis« versammeln sich Texte, in denen Autorinnen und Autoren nicht locker lassen, und sich brennenden existenziellen Fragen stellen. Ottmar Fuchs stellt ins Zentrum den religiösen Glauben selbst, der trotz und im Angesicht der Erfahrung des Todes radikal das Menschwerden fordert. Rainer Bucher spürt dem Geist nach, der unverfügbar und abwesend, lebendig und in Gegenwart von Pfingsten als Aufbruch und dynamische Kraft der Kirche wirkt. Doris Nauer nimmt die Komplexität der Welt als Impuls für ein an Komplexität geschultes Verstehen von Seelsorge, Diakonie und Pastoralpsychologie. Praktische Theologie wagt den Gang in die empirische Forschung; grundsätzliche Überlegungen zur Grounded Theory stellt Norbert Hark an. Ein je neues Wagnis stellen die Erfahrung von Krisen und ihre Begleitung dar, die Helga KohlerSpiegel in ihrem Beitrag darlegt. Wagnis erzeugt Unsicherheit und Bewegung auf unsicherem Grund. Hier erfordert professionelles Handeln, wie Martin Kempen zeigt, besonderen Mut. Christoph Lubberich versteht das Selbst-Werden als intensiven Prozess, der auf eine prozessuale Wirklichkeit reagiert. Das Wagnis der Menschwerdung, der Gottesgeburt, lotet Georg Hummler als lebendige Soteriopraxis aus. Die Brücke zwischen Gott und Mensch, Himmel und Erde schlägt Skaidrīte Gūtmane, die, quasi der umgekehrten Bewegung folgend, die Theologie der Auferstehung Christi als ontologische Transformation des Menschen darstellt. Wie steht es um das jüdisch-christliche Gottesverständnis unter der Perspektive der Erlösung von allem Bösen? So fragt religionspsychologisch mit C. G. Jung Ludger Verst zurück. Das – alltagsweltliches Unbehagen und Verdrängungsprozesse auslösende – Scheitern ergründet Daniel Gerte. Stephan Pruchniewicz wagt die grundsätzliche Frage danach, ob Identitätsbildung religiös erfolgen kann, gar im Religionsunterricht. Eine besondere Form der Bildung ereignet sich im Wagnis der ignatianischen Exerzitien, die Peter Hundertmark als Dynamik des Übergangs auf Freiheit hin durchdenkt. Wagnisse können häufig nicht allein, sondern gerade gemeinsam bestanden werden: Interkulturelle Begegnung eröffnet für Ulrike Elsdörfer besondere Möglichkeiten im Umgang mit Freiheit und Gebundenheit, während Joachim Schlör und Claudia Enders mit dem agilen Wagnis der Kooperation schließlich organisationspsychologisch die Ebene der Kirchenentwicklung beschreiten.

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Mensch Unter der Überschrift »Mensch« geht es zunächst um die Frage, wie durch lebendige Bildungsprozesse und die Erfahrung geschenkten Lebens (Mit-)Menschlichkeit ermöglicht wird. Matthias Scharer zeigt dies mit Ruth C. Cohn, die mit der von ihr entwickelten Haltung und Methode der Themenzentrierten Interaktion lebendiges lebenslanges Lernen in den Dienst einer humaneren Gesellschaft stellt. Auf psychoanalytische Entwicklungs- und Beziehungstheorien gründet Heribert Wahl sein Modell des Gestaltkreises generativer Liebe, der die Weitergabe der (von Gott) empfangenen Lebendigkeit an andere beschreibt. Der Mensch als leibliches Wesen nimmt seine Umwelt wahr und wirkt kreativ gestaltend, zuweilen aber auch destruktiv und zerstörerisch auf die Welt ein. Christian Fröhling versteht Wahrnehmen als Übung und eröffnet damit phänomenologische Perspektiven für die Religionspädagogik. Glaubenskommunikation, die auf die Schaffung und Rezeption von Kunst setzt, lotet Beate Josten-Sell in ihrem Beitrag aus. Anne M. Steinmeier verknüpft Überlegungen zur Fragilität der Identität mit Aspekten des Erlebens und Erzählens von Zeit in der Literatur. Gewalt und Machtmissbrauch werden in zwei Texten in den Blick genommen: Die literarische Auseinandersetzung mit Erfahrungen von Diskriminierung und Machtmissbrauch birgt nach Lisa Straßberger das Potenzial, auf Kirche und Gesellschaft produktiv und kreativ zurückzuwirken. Ansgar Wucherpfennig SJ zeigt, wie im Neuen Testament und der Didache Machtmissbrauch in der Urgemeinde zum Thema wird. Mit positiven Gegenfolien – Diakonat bzw. Diakonie, Barmherzigkeit und Solidarität – beschäftigen sich die folgenden Beiträge: Albert Biesinger spricht sich überzeugt und überzeugend für ein eigenes Amt der ständigen Diakoninnen und Diakone aus. Gebhard Fürst entfaltet den diakonischen, auf Heil und Heilung ausgerichteten Grund(voll)zug von Kirche und fordert ihn damit zugleich ein. Einen persönlichen Einblick in die internationale Zusammenarbeit mit Klaus Kießling zum Thema des Diakonats und sein Engagement in Finnland gewährt Terttu Pohjolainen. Viera Pirker untersucht das Medium Film als theologiegenerativen Ort, der Neudeutungen im Blick auf den barmherzigen Samariter ermöglicht. Norbert Mette bringt Klaus Kießlings Interpretation des barmherzigen Samariters in ein Gespräch mit der Enzyklika »Fratelli tutti« und profiliert dabei das Verständnis des Jubilars von Solidarität. Auf die Bedeutung von innerem »Hingehen« und Empathie für Solidarität nicht nur in Pandemiezeiten geht Theresia Strunk ein. Mit einem interdisziplinär verorteten Verweis auf den heilen Kern jedes Menschen schließt Beate Glania MMS diesen Teil. Vorwort der Herausgeber*innen

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Werden Im dritten Teil unter der Überschrift »Werden« fällt zunächst der Blick auf den Synodalen Weg der Kirche in Deutschland. Zum einen werden bei Bernhard Emunds Macht, Sexualität und Geld als dringende Probleme für die theologische Anthropologie dargestellt, die auf dem Synodalen Weg diskutiert werden. Zum anderen untersucht Bernd Jochen Hilberath die Spiritualität des synodalen Weges. Er problematisiert die vordergründige Rede vom Heiligen Geist und kommt über den Begriff der Spiritualität zu einem anderen »Geist«. Godehard König schließt sich mit einem suchenden, persönlichen Reflektieren von Kirche an. Danach folgen drei Beiträge, die die Situation pastoraler Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bzw. spezifische pastorale Situationen in den Blick nehmen. ­Birgitta Ortmans beschreibt die Situation einer Ruhrgebietspfarrei, die an Bedeutung verliert, und deren Versuch, etwas dagegen zu unternehmen. Bernd Hillebrand konzipiert ausgehend von der Essener Citypastoral ein »neues Verhältnis von Kirche und Lebensraum«, das als ein relationales bestimmt wird. Wilson Parekkattil ISch begründet seinen Vorschlag, in der Familienpastoral der syro-­ malabar-katholischen Kirche in Indien vor allem auf Familiengruppen zu setzen. Im Anschluss widmen sich zwei Texte dem Thema Schöpfung. Für Christoph Hentschel gehören Schöpfungsverantwortung und Schöpfungsspiritualität wesentlich zum kirchlichen Verkündigungsauftrag. So erfahre sich der Mensch im Reagieren auf die Schöpfung und die Bezugnahme auf den Schöpfergott als Geschöpf, das sich selbst transzendieren könne, das leidempfindlich sei und einen Fürsorgeauftrag habe. Theo Sprenger sieht die »Notwendigkeit einer ökologischen Umkehr«. Er plädiert für eine Neubestimmung des Verhältnisses von Mensch und Natur im Christentum europäischer Prägung und entwirft zen­ trale, didaktisch noch zu entfaltende Eckpunkte einer theologisch-praktischen Anthropologie. Dies schlägt die Brücke zu Beiträgen, die sich der Pädagogik widmen. Matthias Gronover und Reinhold Boschki interessieren sich für Denk- und Fühlformen, die dem Diskurs und dem Handeln vorausliegen. Der Text nimmt viele Themen von Klaus Kießling auf und weist nach, inwiefern der Jubilar die jeweiligen Diskurse bereichert hat. Angela Kaupp stellt eine religionsdidaktische Lernwerkstatt vor, die als neue Lehrveranstaltung an der Universität KoblenzLandau entwickelt worden ist, um dem Theorie-Praxis-Problem in der Lehrerbildung zu begegnen. Der Beitrag von Marc Fachinger widmet sich der pädagogischen Arbeit mit Zeitzeugen. Beispielhaft zeigt er auf, wie ein Zeitzeugenprojekt ablaufen kann. Die Frage nach dem Sinn von Erinnerung und Erinnerungskultur mündet in eine Einordnung der Projekte in den Diskurs. Der Beitrag 22

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von Hermann-Josef Wagener reflektiert schließlich die Religiosität als grundlegende Disposition des Menschen und entfaltet deren Entwicklung, die mittels verschiedener Formenkreise abgebildet werden könne. Während der Vorbereitung des Bandes verstarb Leo Karrer, an den wir als prägenden Wegbegleiter von Klaus Kießling gern eigens erinnern. Mit dem Wissen, in diesem Buch keine vollständige theologisch-praktische Anthropologie vorlegen zu können, sondern eher vielfältige Impulse gesammelt zu haben, fühlen wir uns nicht unwohl, sondern eher der Sache verpflichtet: Mensch-Werden offenbart immer neue Geheimnisse, die niemals abschließend erkundet sein können. Dieses Gemeinschaftswerk wäre ohne die großzügigen Unterstützungen durch die Deutsche Gesellschaft für Pastoralpsychologie e. V. (DGfP) sowie durch die Diözesen Rottenburg-Stuttgart, Limburg und Mainz nicht möglich gewesen. Vertreterinnen und Vertreter der genannten Institutionen kommen im Band an unterschiedlichen Stellen eigens zu Wort. Rebecca Laura Anne Davis und Lia Alessandro danken wir für ihre Mitarbeit beim Korrektorat, dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, namentlich Frau Jana Harle, für die unkomplizierte Begleitung und Realisation dieses Projektes. Im Frühjahr 2022 Christian Fröhling Jakob Mertesacker Viera Pirker Theresia Strunk

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WAGNIS MENSCH WERDEN

Religiöser Glaube Radikales Wagnis im Menschwerden Ottmar Fuchs

Mit diesem Thema knüpfe ich an unser »altes« Gespräch an, das wir, Klaus und ich, im Zusammenhang seiner wunderbaren Habilitation »Die eigene Stimme finden« in Tübingen hatten und das ich in meinem Gutachten angedeutet hatte: »Der Glaube ist nicht nur eine sinnstiftende Aktivität, sondern auch eine Aktivität, die Sinn durchbricht und zerbricht.«

1 Totalität des Todes Ich habe einmal geträumt, dass ich sterbe und tief in einen schwarzen Abgrund falle. Ich bin aufgewacht und habe mich gefragt: Bleibt alles schwarz und ist damit alles zu Ende, oder gibt es am Ende des Abgrunds eine helle Öffnung in ein neues Leben hinein? Etwa wie bei der Geburt? Ich weiß es nicht. Wir können es nicht wissen. Die Grenze des Todes ist total wie totaler nichts sein kann. »Da ist noch keiner bzw. keine zurückgekommen«, sagt der Volksmund. Alles, was vorher über das Nachher des Todes gedacht, erhofft und fantasiert wird, zerschellt an der Todesgrenze selbst. An dieser Grenze leidet auch die katholische Dichterin Annette von DrosteHülshoff (1797–1848).1 In Begleitung dieser leider viel zu wenig als Theologin anerkannten Dichterin möchte ich gerade dieses Thema angehen. Obgleich Droste von Gott selbst keine diesseitige Erfahrung ihres Glaubens bekommt,2 erhofft sie dies doch noch etwas mehr von ihren Toten, denn deren Liebe hatte sie direkt erfahren, und sie wollte glauben, dass diese Liebe über die Todesgrenze hinaus weiterhin irgendwie wirksam sei. So wie sie selbst es täte: In ihrem Gedicht Letzte Worte vertieft Droste die Einsicht, dass der Tod die gegenseitige Solidarität nicht trennt. Es ist die Sorge um die Geliebten, die sie über den Tod 1 Vgl. Ottmar Fuchs, Subkutane Revolte. Annette von Droste-Hülshoffs geistliches Jahr. Eine theologische Entdeckung, Ostfildern 2021, 201 f.297 f. 2 Vgl. Fuchs 2021, 198–204.229–237.

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hinaus weiterleben lässt. Droste vertieft durch ihre eigene Person die kirchlich tradierte Verstorbenen- bzw. Heiligenbeziehung der Gläubigen mit der Einsicht, dass der Tod diese Beziehung nicht trennen kann. »Geliebte, wenn mein Geist geschieden, So weint mir keine Träne nach; Denn, wo ich weile, dort ist Frieden, Dort leuchtet mir ein ew’ger Tag! Wo aller Erdengram verschwunden, Soll euer Bild mir nicht vergehn, Und Linderung für eure Wunden, Für euern Schmerz will ich erflehn.«3

Aber auch Droste muss sich schmerzlichen Einsicht stellen, dass die Toten keine Zeichen mehr geben, dass sich Droste von ihnen unbeachtet und verlassen erfährt. Der Tod ist total und zerbricht alle Bande, auch die der Liebe. Von der Transzendenz kommt nichts herüber, weder von Gott noch von den bei Gott lebenden Toten. Als ob es beides nicht gäbe. In diesem Sinn ist Droste hemmungslos modern und einreihbar in die Linie Büchner, Nietzsche, Bonhoeffer und Altizer.4 »Wie brünstig flehend Hab’ ich oft in mancher Nacht An meine Toten mich gewandt! … Und nicht ein Zeichen ward mir je Kein Knistern in des Lagers Näh’ … Nicht einen Laut für meine Qual … An ihrer Statt, so dünkte mich, Würd’ alles, alles wagen ich, Zu lindern des Geliebten Wunden.«5

Droste kann sich also hinsichtlich der Auswirkungen des Jenseits auf das Diesseits auf nichts verlassen. »Gott« verändert ihre Situation und ihr Leiden nicht. Und sie erwartet es auch kaum mehr. Indem sie diesbezüglich mit nichts mehr rechnet und dennoch an Gott festhält, zeigt sie sich zugleich im höchsten Maße 3 Annette von Droste-Hülshoff, Sämtliche Gedichte. Mit einem Nachwort von Ricarda Huch, Frankfurt a. M. 1988, 380 f. 4 Vgl. Fuchs 2021, 34–37.195–198. 5 Droste-Hülshoff 1988, 497 f.

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doxologiefähig, nämlich Gott immer größer sein zu lassen, ihn auch anders sein zu lassen als die eigene Nichterfahrung Gottes, als das Nicht-glauben-Können, als die eigene Schuld, als die eigene Klage, als die eigene Verzweiflung. Noch im schwächsten Zustand gibt Droste derart Gott die Ehre: »Daß ich noch die letzte Kraft besitze, Dich zu rühmen, deinen Preis zu singen; Sind auch hier die Netze aufgeschlagen, Wo der Mund zu deiner Ehre schafft, Und ich wär’ zu schwach, das Lob zu tragen, Und es bräche meine letzte Kraft.«6

Die angesprochene Differenzerfahrung hat lokale und temporale Dimensionen. Sie markiert die Spannung im Jetzt genauso wie die Spannung zwischen Jetzt und der Zukunft. Gott ist a-topisch und u-topisch, er ist räumlich im Jetzt ohne Ort und zeitlich jenseits des geschichtlichen Jetzt. Gott bleibt im Raum der Sehnsucht. Wie Droste überhaupt die Sehnsucht als grundlegende Dynamik der Poesie verstanden hat: »Die Sehnsucht allein ist poetisch, nicht der Besitz.«7 In ihren Gedichten lernt Droste schmerzlich, was zugleich eine Befreiung von Abhängigkeit sein kann, nämlich sich von Gott nicht in irgendeinem Bedingungsverhältnis abhängig zu machen und auch Gott selbst nicht unter einen Abhängigkeitsdruck zu bringen, der immer darin landet, in einer WennDann-Struktur Bedingungen erfüllen zu müssen. Wenn du betest, dann hilft dir Gott! Droste erlebt genau das Gegenteil! Aber sie erlebt auch: Gott muss mir nicht nutzbar sein, um existieren zu dürfen.

2 Zwanghafte Verbindungen Eine besonders wirkungsvolle, auch raffinierte und tiefenpsychologisch verwurzelbare Zwangsverbindung zwischen Transzendenz und Diesseits war seit eh und je in den Religionen die Kategorie des Gebotes und vor allem des Verbotes. Man könnte fast sagen, in diesen Strategien feiert die anale Phase der Religionen ihre Urstände, sehr vorteilhaft für die, meist Männer, die in den Religionen die Herrschaft haben, weil ihnen dann eine immense Kontrollmacht zufällt. Viele 6 Droste-Hülshoff 1988, 422. 7 Droste-Hülshoff 1988, zitiert bei: Friedrich Castelle, Nachwort, in: Dichtungen der Droste. Eine Auswahl von Friedrich Castelle mit sechs Holzschnitten von Augustinus Heumann, 2. Auflage, M. Gladbach 1923, 275–281, hier: 277.

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Innen-Außen-Regulierungen gehören in diesen Zusammenhang, vor allem die zwischen rein und unrein.8 Bereits das Schöpfungshandeln Gottes selbst, wenn man es in seinen biblischen Grundtexten betrachtet, ist in diesem Zusammenhang hochambivalent. Darin ereignet sich die Ambivalenz von Selbstverwirklichung und Entfremdung, jener Entfremdung, die durch die ganze Menschheitsgeschichte nicht aufhört, immer wieder massiv erfahrbar ist, aber auch durch Gegenbewegungen gemildert und manchmal sogar außer Kraft gesetzt wird. Es gibt eine idealistisch-romantische Sicht der Schöpfung (Gen 1,1–2a) einen »religiösen Schöpfungskitsch«9, der Gott für die schöne Schöpfung dankt und Gott selbst entschuldigt: indem von Gott her nur das Gute und Schöne gesehen und das Böse und Schlimme und unendlich Schmerzliche in der Welt der Schuld der Menschen überantwortet wird. Letzteres legitimiert, jedenfalls in der biblischen Semantik des zweiten Schöpfungsberichtes (Gen 1,2b–25), dass Gott in der Despotie von Verboten und Kollektivstrafen auftritt. Gab es keine (Denk-)Freiheit im Paradies? War das Paradies an die Bedingung gebunden, »brav« zu sein? Nicht mehr wissen zu wollen, weil man sonst Gott selbst die Butter von Brot nimmt? Fällt Gott deshalb nichts Besseres ein, als mit harter Vertreibungsstrafe zu reagieren? Im System Gehorsam – schönes Leben versus Ungehorsam – Strafe und schmerzliches Leben? Hier geht es nicht um die »Menschwerdung« voraussetzungsloser Würde der Menschen, sondern um ihre Behandlung in einem Bedingungsverhältnis auf der Stufe der »analen Phase«, wo das Kleinkind mit Gewalt Reinlichkeit und die Grenzen zum »Schmutz« hin zu lernen hat.10 Aus dieser Perspektive darf man das Paradies als identitäre Größe verdächtigen mit einer scharf kontrastiv-degradierenden Innen-Außen-Beziehung (allerdings mit dem Trost der jetzt ganz anderen, aber doch bleibenden, aber doch weiterhin bedingungsgebundenen Gottesnähe). Warum lässt Gott das Paradies nicht in Frieden? Waren die Menschen im Paradies blöde und mussten erst durch die Differenz zwischen Gut und Bös zur Freiheit und durch Leiden zur Reife der Reflexion angestachelt werden, damit sie sich als solche bewähren können und müssen? Diese Wenn-Dann-Pädagogik wäre genauso ekelhaft. 8 Vgl. Ottmar Fuchs, Die Macht der Reinheit. Praktisch-theologische Kritik gegenwärtig kirchenleitender Realitäts- und Humanitätsdefizite, in: Regina Ammicht-Quinn (Hrsg.), »Guter« Sex: Moral, Moderne und die katholische Kirche, Paderborn 2013, 98–122. 9 Vgl. Günter Thomas, Theologie im Schatten der Coronakrise, Manuskript, Stand 18.03.2020. 10 Vgl. Werner Stangl, anale Phase, in: Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik, verfügbar unter: https://lexikon.stangl.eu/5652/anale-phase (letzter Zugriff am 19.09.2021); vgl. auch: Ottmar Fuchs, Die lebendige Predigt, München 1978, 72–78.

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Es geht im Kern um die Frage danach, ob dem Menschen die alleinige Schuld an der schlimmen Verfasstheit der Welt zugewiesen (was eine negative Egomanie des Menschen wäre) und Gott restlos entschuldigt wird. Wenn Gott tatsächlich die Welt von vornherein sehr gut gemacht hat, dann hat er dies selbst mit diesem zwanghaft-moralisierenden Eingriff zerstört und nicht allein der Mensch ist schuld an der Kontaminierung der Welt. Wozu der Menschheit dieses traurige und grausame Spiel auferlegt ist, bleibt unerfindlich. Die Warumoder Wozu-Frage des Psalms 22 bleibt unbeantwortet. Dieser Paradoxie setzt sich die Doxologie aus, in der Gott immer größer gedacht und angebetet wird als die eigenen Widersprüche, Zweifel und Verzweiflungen es zulassen.11 Die Doxologie, nämlich Gott unendlich Gott sein zu lassen, zerstört sich selbst, wenn sie sich an ein Wenn-Dann-Verhältnis zu binden hat, denn Gott wird dadurch so mickrig wie der Mensch selbst.

3 Entlastende Gegentöne Aber es gibt auch andere Texte. So müsste, gut kanonisch-intertextuell, die hoseanische Reue Gottes (in Hos 11) über das, was er getan hat, rückwirkend kritisch auch auf den Gott dieses Schöpfungsberichtes zu beziehen sein: »Denn Gott bin ich und nicht Mann, in deiner Mitte der Heilige; ich will nicht in Zornglut kommen.« (Hos 11,9). Gott spürt, so die Projektion dieses Widerspruchs in Gott hinein, in sich die Versuchung zum Mannsein, also dazu, in Zorn, Rache und Gewalt zu kommen, und erliegt ihr nicht, sondern es reut Gott. Mit solchem Mannsein der Menschen will Gott nichts zu tun haben. Und wenn, dann in der Weise des Widerspruchs und des Rollenwechsels vom androzentrischen zum androgynen Gott: »Ich war für sie wie die Eltern, die den Säugling an ihre Wangen heben.« (Hos 11,4b). Hosea hätte die Paradiesgeschichte wahrscheinlich anders weitergeschrieben. Wenn man in der Sprache der Entwicklungspsychologie weiterdenkt, dann ist die Entkoppelung der Transzendenzbeziehung von der Wenn-Dann-­Kategorie des Einhaltens von Verboten und Geboten ein enormer Fortschritt in Richtung »Reife« von Religion. Es gibt solche Prozesse in den Religionen, vor allem wo sie sich inhaltlich auf die je größere Gnade und Barmherzigkeit Gottes hin öffnen, die alle Wenn-Dann-Strukturen überholt.

11 Vgl. Ottmar Fuchs, Doxologie: Anerkennung Gottes in der Differenz, in: Jahrbuch für Biblische Theologie 32 (2017): Beten, Göttingen 2019, 291–315.

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Karl Rahner erreicht in seiner Geheimnistheologie Gottes diese Unbegrenztheit von Transzendenz in einer immer wieder beeindruckenden Weise, die deutlich macht, dass es sich dabei immer auch um eine Demutssteigerung und um einen Herrschaftsverzicht gegenüber Menschen und Gott von Seiten der Gläubigen handelt. Die Moralisierung Gottes erweist sich von daher als völlig unreife Überbrückung der Transzendenzgrenze, die das unendliche Geheimnis Gottes banalisiert wie die im Geheimnis ermöglichte Freiheits- und Liebesgeschichte. Solche Religionen bzw. Religionsanteile haben ihre »Menschwerdung« noch vor sich. Angesichts eines freiheitsschenkenden Gottes darf auch Gott von jeder Instru­ mentalisierung frei sein. Karl Rahner hat diese »Unbrauchbarkeit« Gottes brillant formuliert: »Das Christentum gäbe sich selber auf, wenn es nicht den Mut hätte, von dieser seligen Nutzlosigkeit der Liebe zu künden, die insofern ja absolut ›nutzlos‹ ist, weil sie ja gar nicht sie selber wäre, wenn der Mensch darin seinen eigenen Nutzen, seine Selbstbehauptung, seine eigene Vollendung suchen würde. Diese göttliche Nutzlosigkeit der Liebe zu Gott, ihre Unverbrauchbarkeit, die Rückweglosigkeit der von Gott in seinem Geist ermöglichten Radikalität unserer Transzendenz auf Gott müssen das Christentum und seine Kirchen […] verkündigen.«12 So seien wir »durchzittert von der letzten kreatürlichen Bescheidenheit, die weiß, wie man wirklich allein von Gott reden kann«, die »nicht beruhigt meint, klar und durchsichtig zu reden, sondern die analoge Schwebe zwischen ja und nein über dem Abgrund der Unbegreiflichkeit Gottes erschreckt und selig zugleich erfährt und bezeugt.«13 Nun darf das Wort Nutzen auch konstruktiv verstanden werden: Es gibt auch einen Nutzen außerhalb der Berechnung und kapitalistischen Kalkulation, auch außerhalb des Tausches, es gibt auch einen Nutzen in der Gabe. Unberechenbar und geschenkt. Allein die Ersetzung des Wortes Nutzen mit »guttun« zeigt, wie »nützlich« dieser Bereich unkalkulierbaren Nutzens sein kann. In diesem Sinn darf Gott nützlich sein für menschliches Leben, und zwar gerade darin, dass die Beziehung zu ihm eben nicht in der Kosten-Nutzen-Rechnung aufgeht. Denn die Befreiung liegt nicht in der Befreiung vom Nutzen, sondern in der Befreiung von der Wenn-Dann-Struktur. 12 Karl Rahner, Die unverbrauchbare Transzendenz Gottes und unsere Sorge um die Zukunft, in: ders., Schriften zur Theologie, Bd. 14, Einsiedeln 1980, 405–421, hier: 414. 13 Ders., Erfahrungen eines katholischen Theologen, in: Karl Lehmann (Hrsg.), Vor dem Geheimnis Gottes den Menschen verstehen, Freiburg i. Br. 1984, 105–119, hier: 106–108.

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4 Der zerrissene Gott Der religiöse Glaube lebt davon, immer auch über den Tod hinaus zu fantasieren. Auch das muss man sich nicht verbieten lassen. Wichtig ist allerdings, dass all unsere Fantasie spätestens im Tod abzugeben ist an den besagten Abgrund und an das Geheimnis dahinter. Von solchen Fantasien leben Spiritualitäten, Kunst, Rituale und Musik – und Theologien, vor allem die eschatologischen. Und die diesbezüglich Verantwortlichen haben die Verantwortung, dass diese Fantasien jetzt das Erlebnis-, Hoffnungs- und Sorgeniveau der Menschen erreichen und dass sie jetzt guttun und zu leben helfen. Und sie haben permanent zu signalisieren, dass ihre Fantasien nie identisch mit dem sind, was vom unendlichen Geheimnis her tatsächlich sein wird. Allenfalls sind ihre Narrative und Argumentative ahnende Spuren ihrer eigenen Hoffnungen. Derart ist der Glaube ein »religiöses Experiment«14, eine Wette, ein Einsatz, den man verlieren kann. Aber vielleicht tröstet die Einsicht des serbokroatischen Literaturnobelpreisträgers (1961) Ivo Andrić: »Sich in einer großen Hoffnung zu täuschen ist keine Schande. Allein die Tatsache, dass es eine solche Hoffnung geben konnte, ist so viel wert, dass sie mit einer Enttäuschung, wie schwer sie auch sei, nicht zu teuer bezahlt wird.«15 Gut, fantasieren wir im Traditionsmaterial des Christlichen und nehmen wir den Tod auch in diesem religiösen Bereich ernst: Ganz spannend wird die christliche Offenbarungssemantik, wenn man sie in ihrer dreifaltigkeitstheologischen Version radikalisiert. Denn dann findet der tiefe Riss zwischen Diesseits und Jenseits im Tod bzw. im künftigen und sicheren Untergang der Erde im Universum, in Gott selbst statt. Und zwar ohne dass der Riss dabei verkleinert oder zugekleistert wird. In Gott selbst ist die Todesgrenze unüberbrückbar. Und diese Unüberbrückbarkeit wird nur im unendlichen Jenseits, das uns völlig entzogen ist, überwunden. Dafür steht die etwas voreilige Botschaft von der diesseitigen Begegnung mit dem Auferstandenen. Doch dieser gehört bereits der unberührbaren anderen Welt an.16 Aus unserer Perspektive ist dieses Jenseits einer neuen Welt und eines Gottes durch und durch unmöglich. Versteht man aber Gott selbst als den Inbegriff der

14 Vgl. Tomáš Halík, Theater für Engel. Das Leben als religiöses Experiment, Freiburg i. Br. 2019. 15 Zitiert bei: Matthias Bormuth, Die Verunglückten. Bachmann, Johnson, Meinhof, Améry, Berlin 2019, 6. 16 Vgl. Ottmar Fuchs, Berührungen: ebenso notwendig wie sublimierbar, in: Klaus Koziol & Manuela Pfann (Hrsg.), Zwischen Digitalisierung und Pandemie. Begegnung neu bewerten (Mensch und Digitalisierung, Bd. 5), München 2020, 37–49.

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Unmöglichkeit, wie dies der französische Philosoph Jean-Luc Marion tut,17 gibt es wenigstens eine gedanklich-semantische Überbrückung dieses absoluten Risses. Mit der Hoffnung, dass es nicht nur ein raffiniertes Sprachspiel ist, sondern eine überraschende Rede, die an der möglichen Unmöglichkeit genauso festhält wie an einem Darüberhinaus. Diese Rede macht jedenfalls nicht den gleichen Fehler wie eine allzu große Sicherheit, im Jenseits einen Gott zu behaupten, nämlich überheblich zu behaupten, dass es ihn nicht gibt. Beide Aussagen übernehmen sich hemmungslos. So macht es rückwirkend einen elementaren Unterschied aus, ob Glaube oder Nichtglaube besserwisserisch, siegerhaft und kaltschnäuzig vertreten wird oder ob der Mensch in beiden Fällen nur tentativ sein kann, in Demut vor dem unendlichen Universum bzw. vor seinem unendlichen Geheimnis in »Gott«. Die Semantik, die die christliche Offenbarung für die Trennung und »Verbindung« von Immanenz und Transzendenz bereithält, ist faszinierend, weil hier der Hiatus in Gott selbst »aufgehoben« ist, ohne den Hiatus im geringsten synthesehaft zu schmälern: Mit der Menschwerdung Gottes in Jesus gibt es eine Diesseitigkeit Gottes, die in nichts an menschlichem Schicksal und Leiden zu wünschen übrig lässt. Der Tod am Kreuz ist so total, dass dahinter nichts mehr möglich scheint. Jesus selbst stellt sich solidarisch auf die Seite der Anklagenden, und er tut dies, solange es diese leidende Schöpfung gibt, in Gott gegen Gott:18 »Warum bzw. wozu hast du mich verlassen?« (vgl. Mk 15,34).19 Weder kausal noch final gibt es solange eine Antwort auf das große Warum, das beide Anteile am wuchtigsten enthält und nicht das Missverständnis des finalen Wozu befördert, man könne Leid überhaupt für ein bestimmtes Ziel instrumentalisieren. Ein Grund aber, der das Elend nicht verzweckt, muss einmal offenbar werden, sonst wäre alles absurd, und es wäre kein Gott oder Gott wäre eher willkürlich satanisch als gut. Mit den Fantasien der Menschheit bezüglich eines allmächtigen und souveränen Gottes, der die Menschen erniedrigt, ohne selbst jemals Erniedrigung erfahren zu haben, hat das Christentum nichts zu tun: »Deshalb ist es blasphemisch, Gott als Urbild und Garanten männlicher Herrschaft und sexueller Unterwerfung zu missbrauchen.«20 Schon im Neuen Testament wird allerdings 17 Vgl. Jean-Luc Marion, Jenseits von Frage und Antwort, in: Zur Debatte 42 (2012), Heft 7, 17–19. 18 Vgl. Ottmar Fuchs, Der zerrissene Gott. Das trinitarische Gottesbild in den Brüchen der Welt, Ostfildern 2014, inzwischen in 3. Auflage 2021. 19 Vgl. Bernd Janowski, »Mein Gott, mein Gott, wozu hast du mich verlassen?« Zur Rezeption der Psalmen in der Markuspassion, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 116 (2019) 371–401. 20 Joachim Kügler, Sexualität – Macht – Religion. Zeitreisen ins Bermuda-Dreieck menschlicher Existenz, Würzburg 2021, 122.

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diese christliche Semantik durch Zeus-Komplexe unterbrochen,21 wenn auf ihn jene Allmachtsfantasien projiziert werden, die man Gott schuldig zu sein glaubt, etwa wenn von Jesus Wunder erzählt werden. Der Kreuzesschrei dementiert alle Supranaturalismen. Die Macht-Wunder verdecken vorschnell die Wunden und blockieren die eigentlichen »Wunder« der Verwundbarkeit in bleibender Not. Was die Religionen oft nicht aushalten, nämlich die Trennung zwischen Diesseits und Jenseits, wird im Christentum bis ins Herz Gottes hinein exekutiert. Im Diesseits gibt es keine anderen Wunder als diejenigen, die im unendlichen Universum angelegt sind. Je weniger man die Todesgrenze als totale Grenze akzeptiert, desto ungenierter und unkontrollierter kann die projizierte himmlische Macht diesseitig zu ebenso unkontrollierbarer Herrschaft und Gewalt werden. Ohne den Atheismus eines solchen patriarchal allmächtigen und darin herrschaftsförmigen Gottes gibt es keine menschendienliche Religion.

5 Mysterium stricte dictum Der radikale Tod hat epistemologische Konsequenzen: Gott existiert als »Gott« nur jenseits unserer Kenntnis und ist unermesslich größer als sie, also kann unsere Erkenntnis nicht über seine Existenz bzw. über sein Wesen Auskunft geben. Nicht nur der Glaube, sondern auch das Wissen kommt hier nicht weiter und kann nicht die eigenen Möglichkeiten zum Maßstab des zu Erkennenden machen. Genau das tut übrigens Annette von Droste-Hülshoff ebenfalls nicht: Sie stellt die alten Wahrheiten sich selbst gegenüber hin, auch wenn sie sich in ihrem Leben nicht bewahrheiten und überlässt es dieser Wahrheit selbst, existent zu sein und sich zu offenbaren. So realisiert sie in ihrem Glaubensvollzug das Dogma eines Gottes, der mysterium stricte dictum, absolutes Geheimnis, ist, von dem wir auch in der Natur, in der Schöpfung und selbst in der Offenbarung nicht einmal mehr Spuren erspüren und denken können. Religionen bringen hier ihre semantischen Vorschläge ein, können sie aber nicht verifizieren. Für die Welt ist der allmächtige Gott tot.22 Diese ernüchternde Grundeinsicht ist bei Droste nicht »platonisch«-rational, sondern ereignet sich in tiefen emotionalen Brüchen der Gottesbeziehung, vor allem in der Klage gegen Gott und in der Anklage Gottes, dass er die Schöp21 Vgl. Kügler 2021, 121. 22 Vgl. Thomas J. Altizer, … daß Gott tot sei. Versuch eines christlichen Atheismus, Zürich 1968; Fuchs 2014, 89.103.121.

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fung derart geschaffen hat und die Menschen mit derart ambivalenten Fähigkeiten beschenkt hat. Angesichts einer längeren bettlägerigen Krankheit schreibt Droste: »Niemals werde ich den Wechsel ertragen zwischen deiner Glorie und meinen Finsternissen. Bis zum Hals wächst das Unverständnis. Ich könnte deine Kutte zerfetzen.«23 Angelika Jakob schreibt in ihrer Begegnung mit Droste: »Du, Du haderst mit dem ungerechten Richter, wozu gibt es IHN, wenn er falsch entscheidet?«, und: »Hast mehr als der Gott der Frommen diese Welt geliebt. Wenn ER dich nicht hören will, weißt du IHN zu zwingen, deine Seufzer einzuschlucken. Kratzt deine Sünden stellvertretend SEINER Güte ein.«24 Der Hiatus zwischen Welt und Gott steht für eine radikale Ent-Analogisierung des Verhältnisses von Gott und Welt. Kontinuitäten, Konvergenzen, Korrelationen, Kalkulierbarkeiten sind diesbezüglich außer Kraft gesetzt. Das Verhältnis ist weitgehend digitalisiert, das heißt, in den Wortgestalten ist nichts von dem erkennbar, was es meint. Bei Droste, und damit bestätigt sich die Modernität dieser Dichterin, gibt es so etwas wie eine radikale Loslösung von Bisherigem, nämlich den Verzicht auf jegliche Art von besitzhafter Belegbarkeit der Hoffnung. Dieser präsentische A-theismus führt bei ihr nicht zum ideologischen Atheismus, weil sie den Raum in die Unendlichkeit und in die Zukunft für einen Gott offenlässt, für dessen Existenz, aber nicht für dessen Beanspruchung für das Diesseits die traditionellen Kirchenrituale und Kirchensprache fungieren. Der Glaube macht den angesprochenen Erfahrungsmangel nicht zum Maßstab Gottes selbst, sondern lässt Gott nochmals unendlich größer sein als unsere diesbezüglichen Möglichkeiten und Unmöglichkeiten, und zwar in die Dynamik seiner Güte, Solidarität und Erlösung hinein. Teresa von Avila trifft ins Schwarze: »Wir sollten also, Schwestern, bei den verborgenen Dingen Gottes nicht nach Gründen suchen, um sie zu verstehen.«25 In einer Begegnung mit Teresa von Avila fängt Johannes vom Kreuz an zu schweben, ihm wird der Boden entzogen. Es ist die Paradoxie eines Glaubens, der das Antworthafte verliert und gleichwohl oder gerade deswegen (weil es keine oder nur unzulängliche, unbefriedigende Antworten gibt) über die Räume der Verzweiflung hinaus weitere Räume eröffnet, zumindest nicht verschließt und derart erahnen lässt.26

23 Angelika Jakob, Warum Gott mich nicht finden wollte, in: Walter Gödden, Dichterschwestern. Prosa zeitgenössischer Autorinnen über Annette von Droste-Hülshoff, Paderborn 1993, 33–50, hier: 43. 24 Jakob 1993, 34.35 (Hervorhebungen im Original). 25 Teresa von Avila, Die innere Burg, Zürich 1979 [1577], 135 (6. Wohnung, 4. Kapitel). 26 Zu einem solchen doxologischen Gebetstext vgl. Fuchs 2014, 222–225.

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6 Inhalt des Todes Theologisch handelt es sich in dieser absolut negierten Bedingungshaftigkeit, in dieser durch nichts (sei es durch Denkschlüssigkeit, sei es durch Ethik, sei es durch Spiritualität usw.) erleistbaren und erleistnotwendigen Unbedingtheit im Gottes(un)verständnis um reine Gnade, reine Gegebenheit vor aller Gegebenheit. Wo der Tod alle menschlichen Bedingungsleistungen zerbricht, ist der radikalste Ort, wo sich diese Gegebenheit des Unmöglichen und Grundlosen als rettende Möglichkeit erweist. In diesem Sinn sagt Frère Luc: »Der Tod ist Gott.«27 Helmut Merklein schreibt: »[…] wie denn auch der Tod die einzige Möglichkeit ist, um ganz in die Nähe Gottes zu gelangen«28. Das diesseitige Anvertrauen an diese Unbedingtheit, das keine selbstische Sicherheit benötigt, wird im Tod »ratifiziert«, indem das erzwungene Loslassen in den letzten Akt des eigenen Loslassens mündet, nicht ins Leere hinein, sondern in eine unendliche Verbindung von Leben und Liebe – so hoffen die Gläubigen. Droste schreibt: »Daß nur der das Leben findet,  Der das Leben läßt.«29

Hier ließe sich ein interessantes Gespräch mit Kurt Appels Gedanken eröffnen, Sterblichkeit als Erfahrungsform der Verwundbarkeit anzusehen, insofern die Sterblichkeit ein Geschenk sei, nicht verstanden »als Übergang in das »Nichts« …, sondern als Verlust aller Masken, Images und Abschirmungen, die unsere Existenz kennzeichnen.«30 Die Sterblichkeit der Menschen hat einen Inhalt, nämlich all jene Verobjektivierung und Positivierung des Ichs als eigenes Machtzentrum zu verabschieden und sich für die Verletzbarkeit zu öffnen.31 Dafür gibt es auch diesseitige Vor-Erfahrungen: Ich erinnere ich mich an die persönliche und strukturelle Umkehr des Naaman (in 2 Kön 5). Die junge Sklavin, die er im Krieg geraubt hat, ist auf der untersten sozialen Stufe. Sie taucht aber am Anfang der Geschichte auf und ist die Erste, die spricht: Der hautkranke Feldherr kann Heilung beim Propheten in Israel, bei Elischa finden. Naaman 27 Diesen Hinweis auf das Zitat von Frère Luc, einem der Patres, die von islamischen Fundamentalisten in Algerien getötet wurden, verdanke ich Ruth Fehling. 28 Helmut Merklein, Studien zu Jesus und Paulus II, Tübingen 1998, III. 29 Droste-Hülshoff 1988, 432. 30 Kurt Appel, Vom Preis des Gebets, in: ders. (Hrsg.), Preis der Sterblichkeit. Christentum und Neuer Humanismus, Freiburg i. Br. 2015, 186–228, hier: 227. Vgl. Ottmar Fuchs, Fundamentale und Praktische Theologie als »Gegengesang«, in: Theologische Quartalschrift 200 (2020) 346–357. 31 Vgl. Appel 2015, 195.

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macht sich tatsächlich auf die Suche nach Heilung. Denn niemand anders kann ihm helfen. Alle Machtstrategien versagen (Diplomatie, Geld und Militär). Die Sklavin aus Israel bewegt ihn zum Systemwechsel, zwar im System, aber doch in seiner Durchbrechung von der gewalttätigen Integration zur paritätischen Inklusion. Der feindliche aramäische Feldherr wird in der Hässlichkeit seiner Herrschaft, in der Ausbeutung, in seinem Siegersein entblößt und muss sich aller Macht entledigen, um gesund werden zu können. Die Empfehlung der Sklavin ist die Basis der ganzen Geschichte und Naaman muss auf dem Höhepunkt der Geschichte tief hinuntersteigen, ja er muss werden wie die Sklavin selbst, nackt, ohne alle Sicherung und ganz unten.32

7 Ein kosmisches Fest? Auch die Religion kann zum egoistisch-exklusiven Besitz verkommen. Eine diesbezüglich stützende spirituelle Haltung besteht aus dem christlichen Sprachspiel heraus darin, die Einsichten des Paulus, dass alles Diesseitige so zu gebrauchen ist, als hätte man es nicht (1 Kor 7,29–32),33 auch auf den Glauben, der ja diesseitig ist, zu übertragen: nämlich den Glauben und »Gott« zu »haben« als hätte man/frau beides nicht. Im Gegensatz dazu steht die Vorstellung von der Auferstehung aller Ichs der Menschen mit all ihren konkurrierenden, ausgrenzenden und selbstbehauptungsorientierten Anteilen.34 Es geht aber nicht um das Überleben des bürgerlichen Ichs im Jenseits, nicht um das Überleben dieses kolonialistischen Ichs und ÜberIchs, nicht um das Ich, das sich definiert von der Kategorie »Ich habe« (mich, die anderen, Erfolg, Besitz und ä.), sondern um eine völlig neue Weise des »Ich bin«35, nicht ohne die anderen und getragen von der Macht der Solidarität und Compassion. Michel de Certeaus Diktum »nicht ohne die Anderen« und des »Platzmachens« gilt unbegrenzt und radikal.36 Wer nur die eigene Unsterblichkeit und die der Seinen sucht, will den Sieg des Ichs bis in die Unendlichkeit hinein absichern. Jeder diesbezügliche reli32 Vgl. Ulrike Bechmann, Die Sklavin des Naaman. Kriegsgefangene, Prophetin, Friedensfrau, Stuttgart 2004, vor allem den Überblick: 43. 33 Vgl. Giorgio Agamben, Die Zeit, die bleibt, Frankfurt a. M. 2006, 34–55. 34 Vgl. Agamben 2006, 201. Vgl. auch: Ottmar Fuchs, Das Jüngste Gericht. Hoffnung über den Tod hinaus, Regensburg 2018, 136–139. 35 Vgl. Erich Fromm, Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft, 37. Auflage, München 2010. 36 Vgl. Michel de Certeau, GlaubensSchwachheit, Stuttgart 2009, 177 bzw. 180.

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giöse Fundamentalismus verschärft das Problem der Selbstsicherung der Menschen. Wenn ein Pfarrer in einer Ansprache sagt, er möchte unbedingt zu denen gehören, die auferstehen dürfen und in den Himmel kommen, im Gegensatz zu denen, die diese Rettung nicht bekommen (vor allem, weil sie nicht an Christus glauben), dann hat dies nichts mit dem Wesen der Liebe zu tun, die immer unbegrenzt angelegt ist. Paulus wird nicht müde, in 1 Kor 13,1–13 diese Unbedingtheit und Grenzenlosigkeit, wie sie sich auf Seiten der Menschen spiegeln könnte, zu verdeutlichen. Eschatologisch und kosmologisch bedeutet dies, dass die Liebe das Universum trägt, in der christologischen Fassung bedeutet dies nach dem Kolosserhymnus (Kol 1,12–20): dass Gott die Schöpfung durch Christus geschaffen hat. Nur eine Liebesmacht, die mit dem Leid der Welt Mitleid hat, ist es wert, unendliche Liebe genannt zu werden. Im christlichen Bereich bespricht Christus diesen Mitschmerz und die Mitfreude, dieses Mitgefühl Gottes mit der Welt. Im Mittelpunkt steht nicht das Überleben der Menschen, sondern das große kosmische Fest, in dem alle von ihrem positivistischen Festhalten an sich selbst erlöst sind und sich in das Wir der erlösten Menschheit in der Schau Gottes, unvergleichbar mit dem, was sie vorher gewesen sind, hineinbegeben. »Wenn es die Liebe ist, in der unsere letzte Subjektwerdung erfolgt […]«37, dann verliert das Subjekt jede Notwendigkeit, sich selbst zu objektivieren, und dann gilt: »gerade weil es nicht positiv, nicht verfügbare Anwesenheit ist, kann das Subjekt aus sich heraustreten, kann es empfinden, berühren und berührt werden«38. Die diesbezügliche Programmatik ist eindeutig: Die Sterblichkeit des in sich selbst inkurvierten bürgerlichen bzw. kapitalistischen Ichs, auch noch, in den exklusiven Religionen, in der Wenn-Dann-Struktur des angeblich verdienten Überlebens über den Tod hinaus, ist die Bedingung dafür, dass sich eine ganz andere Macht erweist, die sich im Diesseits als verwundbare Liebe zeigt und die im Jenseits ein großes Fest der Geliebten und Liebenden, der Verwundeten und Verwundbaren sein wird. Entgegen dem egoistischen Überleben-Wollen mit Hilfe entsprechender heilsexklusiver Religionen (im Gegensatz zu anderen, die diesen Sieg des Überlebens nicht haben werden) schenkt die Sterblichkeit die Abrüstung von alledem und öffnet für eine Welt, wo all dies weder möglich noch nötig ist.

37 Appel 2015, 226. 38 Appel 2015, 227. Übrigens betont Appel, »dass es keinen unzerstörbaren Kern des Subjekts gibt, denn ein solcher setzte wiederum die Anwesenheit eines positiven ›Etwas‹ voraus« (ebd.). Dies würde sich auch auf die Seele beziehen, sofern sie als Substanz gedacht wird (vgl. Fuchs 2018, 139–143).

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Was dies für die Gottesbeziehung bedeutet, kann man am Beispiel der Gebetserhörung verdeutlichen. So bleibt, übrigens auch für Droste, die fantastische Inkonsequenz zwischen der nur leisen Hoffnung, dass Gott doch zuweilen und ungerechterweise (gegenüber denen, die keine Hilfe erfahren) hilft, dass im Diesseits manches gut geht, und der großen Hoffnung, dass auch dann, wenn sich hier und gerade wenn sich hier nichts ereignet, der letzte Abgrund in die unendliche Grundlosigkeit der Liebe fällt. Wohl wissend, dass wir angesichts vieler, denen nie geholfen wird, kein Anrecht auf Hilfe haben. Weil Gott diese Welt unergründlicherweise so gewollt hat. Dafür ist er nicht zu entschuldigen. Doch darf Gott hoffentlich mehr sein als unsere diesbezügliche Klage. Wie der Psalm 22 im letzten Drittel in ein überschwängliches Lob Gottes mündet, obgleich sich die Not nicht geändert hat. In der Doxologie ist kein Wenn-Dann-Spiel mit Gott mehr möglich und es ist auch absolut unnötig. Denn wenn die biblische Spiritualität nicht ins Leere läuft, sondern wenn sie tatsächlich die inhaltliche Richtung dieses Geheimnisses offenbart, nämlich dass Gott im tiefsten Abgrund seines Geheimnisses zugleich die tiefste Liebe und Rettung ist, dann braucht es keine Zugriffe mehr. Zugriffe und Geschäfte gibt es immer nur in ressourcenbegrenzten Kontexten. Bei Gott aber gibt es keine Bedingungen. Genau diese Entgrenzung bringt die Doxologie in den Blick.

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Zwei Spuren in die Zukunft der Kirche Das Narrativ von Pfingsten und die Herausforderungen des psychologischen Feldes Rainer Bucher »Menschen, die erzählen, wes Geistes Kind sie sind, aus welchem Geist, aus welchem spiritus sie leben, gewähren Einblicke in ihre Spiritualität. Ein Leben aus dem Geist zeigt sich inspiriert, begeistert von Kräften und Impulsen, die nicht aus mir selbst kommen und, wenn sie bei mir ankommen, nicht bei mir bleiben.« (Klaus Kießling)1

Neben seiner so wohltuenden Freundlichkeit, Kollegialität und kommunikativen Sensibilität verbinde ich mit Klaus Kießling drei Merkmale: Er engagiert sich als Ständiger Diakon weltweit für eben dieses Amt, er ist Pastoralpsychologe mit wissenschaftlicher Leidenschaftlichkeit und leidenschaftlicher Wissenschaftlichkeit und er ist ein geistlicher Mensch. Letzteres zu(zu)schreiben ist natürlich heikel, denn wer hat schon das Recht, diese recht diffuse Kategorie jemandem einfach so, noch dazu öffentlich, zuzusprechen. Doch hier sei es gewagt, Klaus Kießling als geistlichen Menschen zu charakterisieren, und ich bin recht sicher, dass er es mir nachsehen wird in seiner großen Menschenfreundlichkeit. Da ich meine Perspektiven auf die Ständigen Diakone bereits anderswo dargelegt habe,2 sollen hier zu Ehren von Klaus Kießling einige skizzenhafte Überlegungen zum Pfingstnarrativ vom Heiligen Geist und zur Pastoralpsychologie entwickelt werden und dazu, warum diese beiden Referenzen in der aktuell äußerst schwierigen Lage möglicherweise Spuren in die Zukunft der katholischen Kirche legen können.

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Klaus Kießling, Interdisziplinär empirisch und mitleidenschaftlich spirituell. Pastoralpsychologie als Grundmuster Praktischer Theologie, in: Maria Elisabeth Aigner, Rainer Bucher, Ingrid Hable & Hans-Walter Ruckenbauer (Hrsg.), Räume des Aufatmens. Pastoralpsychologie im Risiko der Anerkennung (Festschrift zu Ehren von Karl Heinz Ladenhauf), Wien – Berlin – Münster 2010, 9–31, hier: 24. 2 Rainer Bucher, Das freie Amt. Der Diakon in der zukünftigen Sozialgestalt der Kirche, in: ders., An neuen Orten. Studien zu den aktuellen Konstitutionsbedingungen der deutschen und österreichischen katholischen Kirche, Würzburg 2014, 351–359. Dort wird vorgeschlagen, die »Stigmata« dieses Amtes (es hat es über lange Zeit nicht gegeben, sein Platz, die Diakonie, ist durch die Caritas besetzt und es ist das einzige Weiheamt, dessen Inhaber legitimen Sex haben können, in der klassischen klerikalen Atmosphäre ein asketischer Malus) als die Charismata eines nach-klerikalen Amtes zu deuten.

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1 Der Niedergang der pianischen Kirche Die Lage der katholischen Kirche in unseren Breiten ist schnell beschrieben und sie ist ziemlich desaströs. Denn wenn religiöse Institutionen gegen zen­trale normative Grundlagen jener Gesellschaften verstoßen, in die sie eingebettet sind, geraten sie in gesellschaftliche Existenzprobleme. Wenn diese Normen dann mit einigem Recht als säkulare Varianten der eigenen grundlegenden Prinzipien gedeutet werden können,3 dann haben religiöse Institutionen ein existenzielles gesellschaftliches Problem. Denn ihre Glaubwürdigkeit zerbricht in unübersehbaren, weil strukturellen Selbstwidersprüchen. Wenn dann noch skandalisierende Prozesse diese Selbstwidersprüche exemplarisch bündeln, steht es wirklich schlecht um sie. Sie verlieren dann nicht ihre Gegner, sondern ihre Anhänger. Genau dies ist aktuell in der römisch-katholischen Kirche Deutschlands und nicht nur dort der Fall. Die normative Grundlage westlicher Demokratien bilden die Menschenrechte, welche mit einigem Recht, wiewohl real gegen die katholische Kirche durchgesetzt, auch als säkulare Beschreibung christlicher Essentials begriffen werden können. Die skandalisierende Zuspitzung aber stellt der dreifache Verrat des Missbrauchsskandals4 dar: der Verrat an den Opfern, am Evangelium und an der eigenen integren Existenz. Wenn sich dann, wie in entwickelten kapitalistischen Gesellschaften üblich, Religion überhaupt nicht mehr länger normativ, 3 Vgl. dazu: Rainer Bucher, Menschenrechte in der Kirche. Eine pastoraltheologische Analyse, in: Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaften 55 (2014) 192–212. Das gesamte Jahrbuch ist dieser Thematik gewidmet. Vgl. auch: Hans-Joachim Sander, Macht in der Ohnmacht. Eine Theologie der Menschenrechte, Freiburg i. Br. – Basel – Wien 1999. 4 Die Literatur zu den theologischen Voraussetzungen und Konsequenzen sexualisierter Gewalt in der katholischen Kirche ist seit neuestem reichhaltig. Vgl. exemplarisch: Hans-Joachim Sander, Anders glauben, nicht trotzdem. Sexueller Missbrauch der katholischen Kirche und die theologischen Folgen, Ostfildern 2021; Gunter Prüller-Jagenteufel & Wolfgang Treitler (Hrsg.), Verbrechen und Verantwortung. Sexueller Missbrauch von Minderjährigen in kirchlichen Einrichtungen, Freiburg i. Br. 2021; Matthias Remenyi & Thomas Schärtl (Hrsg.), Nicht ausweichen. Theologie angesichts der Missbrauchskrise, Regensburg 2021; Jochen Sautermeister & Andreas Odenthal (Hrsg.), Ohnmacht. Macht. Missbrauch. Theologische Analysen eines systemischen Problems, Freiburg i. Br. 2021; Konrad Hilpert, Stephan Leimgruber, Jochen Sautermeister & Gunda Werner (Hrsg.), Sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen im Raum von Kirche. Analysen – Bilanzierungen – Perspektiven, Freiburg i. Br. – Basel – Wien 2020; Gregor Maria Hoff, Die Sakralisierungsfalle. Zur Ästhetik der Macht in der katholischen Kirche, in: ders., Julia Knop & Benedikt Kranemann (Hrsg.), Amt – Macht – Liturgie. Theologische Zwischenrufe für eine Kirche auf dem Synodalen Weg, Freiburg i. Br. 2020, 267–284; Magnus Striet & Rita Werden (Hrsg.), Unheilige Theologie! Analysen angesichts sexueller Gewalt gegen Minderjährige durch Priester, Freiburg i. Br. 2019. Aus pastoralpsychologischer Perspektive besonders instruktiv: Barbara Haslbeck, Regina Heyder, Ute Leimgruber & Dorothee Sandherr-Klemp (Hrsg.), Erzählen als Widerstand. Berichte über spirituellen und sexuellen

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sondern situativ vergemeinschaftet, die individuelle Nutzungslogik religiöser Orte also weder mehr dem alten kirchlich-katholischen Gefolgschaftsmuster, das auf exklusive Mitgliedschaft, umfassende kirchliche Biografiemacht und lebenslange Anhänglichkeit zielte, noch dem jüngeren Beheimatungsmuster, das von Gemeinschaftserfahrungen, Engagementspostulaten und Vertrautheitsversprechen geprägt war, folgt, sondern kirchliche Partizipation in ein situatives Nutzenkalkül eingebaut wird, dann befindet sich die katholische Kirche tatsächlich an einem »toten Punkt«, wie Kardinal Reinhard Marx in seinem Rücktrittsangebot an Papst Franziskus formulierte, oder mindestens an einem Kipppunkt ihrer konkreten Existenz.5 Nicht, dass in der Pastoralgemeinschaft Kirche nicht geglaubt, geliebt, gefeiert, gelobt und somit getan würde, was dem Evangelium entspricht, nicht, dass in ihr nicht viel, sehr viel gespeichert wäre, was wir heute in diesen entwickelten kapitalistischen Zeiten und Räumen bräuchten,6 gespeichert in spirituellen, weisheitlichen Traditionen, in ihrer Volksfrömmigkeit, in ihren diakonischen Traditionen und Institutionen und, natürlich, auch in ihrer großen, alten und würdigen Theologie. All dies ist voller Schätze und wer könnte schon ein Leben als professioneller Theologe wagen, hätte er oder sie nicht immer wieder die Erfahrung des Reichtums dieses thesaurus ecclesiae gemacht. Aber da sind halt dann auch diese Verdunkelungen und Verdüsterungen. Sie lassen sich in zwei Kategorien einteilen. Da gibt es diese völlig unnötigen Blocka­den, die verhindern, dass die kirchliche Tradition Dynamik entwickelt. Es sind dies allesamt Versuche, an katholischen Identitätsmarkern festzuhalten, die genau dazu nicht taugen, katholische Identität zu markieren. Das allein schon deshalb, weil sie es so demonstrativ wollen: Man merkt die Absicht und ist intellektuell wie spirituell verstimmt. Schlimmer aber noch: Über diese demonstrativen Identitätsmarker verrutschen alle christlichen Relevanzhierarchien. Das gilt für eine Sexualmoral, die niemandem mehr hilft und an die daher niemand mehr glaubt und sich hält, das gilt für ein asymmetrisches Geschlechterverhältnis, das seine Legitimität nicht nur vor gesellschaftlichen, sondern auch vor christlichen Plausibilitäten längst verloren hat, das gilt für eine klerikale Herrschaftsordnung, die außerhalb priesterlicher Kreise schlicht nicht mehr Missbrauch an erwachsenen Frauen in der katholischen Kirche, Münster 2020; Sandra Fernau, Verstrickungen im Glauben. Zur biografischen Bedeutung katholischer Religiosität vor dem Hintergrund sexuellen Missbrauchs durch Kleriker, Baden-Baden 2018. 5 Vgl. dazu: Rainer Bucher & Hans-Joachim Sander, Am Kipppunkt, online verfügbar unter: https://www.feinschwarz.net/am-kipppunkt-1/ bzw. https://www.feinschwarz.net/am-kipppunkt-2/ (letzter Zugriff am 19.08.2021). 6 Vgl. dazu: Rainer Bucher, Christentum im Kapitalismus, Würzburg 2019.

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anerkannt wird und selbst in ihnen nur noch bei jenen, die sie als Identitätskorsett brauchen. Ganz dunkel aber wird es, wenn man endgültig auf die dark side of the moon der Kirche gerät. Man kann ihr als katholischer Theologe nicht ausweichen und als katholische Theologin schon gar nicht und auch Klaus Kießling hat sich ihr gestellt,7 vor allem in und nach der jüngsten, der schrecklichsten Erkenntnis, dass geistliche und sexualisierte Gewalt pandemisch verbreitet war in der katholischen Kirche. Die grenzenlose Empathielosigkeit der kirchlichen Verantwortlichen und leider auch vieler Gläubiger gegenüber den Leiden der Betroffenen, sie ist unverzeihlich. Der Niedergang der tridentinischen und pianischen Formation der Kirche ist nicht aufzuhalten und man kann ihn nur begrüßen. Er ist die Voraussetzung für die Zukunft von Kirche und Glauben. Aber haben wir eine Vorstellung vom Danach? Und davon, wie wir zu ihm kommen könnten? Kann der Glaube der Einzelnen die Kirche retten? Oder ihre radikale institutionelle Reform? Oder wenn nur beides zusammen – wie käme es zusammen? Zwei Spurensuchen: eine mit Blick auf den theologischen Ursprung der Kirche, das Pfingstereignis, eine mit Blick auf die aktuelle Konkurrenz kirchlicher Pastoral aus dem psychologischen Feld.

2 Der Heilige Geist – ein Prinzip der Kirchenbildung Das Pfingstereignis ist die narrative Urszene des Kirche-Geist-Verhältnisses, man bezeichnet es gar als nachösterliche Gründungsszene der Kirche. Es ist eine sehr schöne Szene und es ist im wörtlichsten Sinne wunderbar, was dort geschieht. Die Kontraste dieser Urszene zur kirchlichen Realität heute freilich sind unübersehbar, aber eben auch inspirierend. Da ist zum einen das Problem »Geist und Institution«. Das Angebot der Pfingstperikope zu diesem Problem ist auf den ersten Blick höchst ambivalent. Denn Kirche kommt entweder gar nicht vor oder als Idyll. Einerseits wird die Institution Kirche geradezu ostentativ übersprungen, wenn der Geist in direktem Zugriff auf die Einzelnen eine einzige furiose, kollektive Ekstase inszeniert, sodass, wie es heißt, alle außer sich gerieten. Andererseits malt die Stelle ein geradezu märchenhaftes Idyll, genauer nicht nur eine, sondern gleich drei Idyllen: eine kommunistische (»Sie verkauften alles und gaben jedem, so viel er 7 Vgl. Klaus Kießling, Geistlicher und sexueller Machtmissbrauch in der katholischen Kirche, Würzburg 2021.

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nötig hatte«), eine religiöse (»sie lobten Gott«) und eine demokratische (»und waren beim ganzen Volk beliebt«). Viel weiter hilft das nicht. Ekstatische religiöse Erlebnisse und gemeindekommunistische Idyllen mag es manchmal geben, aber im Ganzen doch eher selten, selbst die Apostelgeschichte berichtet nur hier davon, und liest man die Paulusbriefe, dann gab es viel Streit in seinen Gemeinden. Auch scheint in dieser Perikope nicht ganz einfach und klar zu erkennen zu sein, wo wirklich der Heilige Geist wirkt und wo etwas ganz anderes, viel Zweifelhafteres. Das ist das Problem: Woran erkennt man den Heiligen Geist? Immerhin wird er in dieser Erzählung mit den Folgen süßen Weines verwechselt. Wenn der Geist auch in der Kirche wirken, sie gar in ihre Zukunft führen soll, dann müssten doch Kriterien angebbar sein, die zu entdecken helfen, wo und wie er wirkt. Mit dem Heiligen Geist hat die Kirche mithin mindestens drei Probleme: ein personales (Wie realistisch ist er?), ein kriteriologisches (Wie erkennt man ihn?) und, blickt man nur auf die heutige Kirchenrealität, ein institutionelles: Was hat das römisch-katholische Kirchenrecht mit dem Heiligen Geist zu tun, wo es schon bei den Menschenrechten in ihm einigermaßen hapert? – so könnte man hier fragen. Das Realismusproblem ist das Problem der geistlichen Relevanz des Alltags und der Alltagsbedeutsamkeit unserer geistlichen Existenz. Das aber ist nicht so sehr ein Willens-, sondern ein Konkretions- und Entdeckungsproblem, es ist zuletzt ein Problem der Wirklichkeits- und Erschließungskraft unseres Glaubens und seiner Begriffe. Es gibt im Christentum eine verhängnisvolle dualistische Tradition, die man als »Platonismus im Alltag« bezeichnen könnte und die nichts anderes ist als die Verachtung des Alltags, seiner Menschen und ihrer Würde. Dieses Denken ist tabuisierend, statisch, hierarchisch und zeitvergessen. Wahres Leben hat in ihm immer etwas Geordnetes und auch Ordentliches zu sein. In solch einem Konzept haben die begrifflichen Definitionen von Welt und Leben Vorrang vor den Erfahrungen mit Welt und Leben, ist die Doktrin das Paradies der reinen Ordnungen, sind Begriffe, gerade religiöse, bewunderte Schaukästen im leblosen Museum der Existenz. Der Extrinsezismus, das Äußerlichbleiben von Theologie und Alltag, geistlich gesprochen: von Gottes Geist und Alltag, hat schlimme Folgen: Er entsolidarisiert die Kirche von den Menschen außerhalb ihrer selbst, denn ihr Alltag, ihre Nöte und Sorgen, Freuden und Hoffnungen interessieren sie nicht. Dieses Äußerlichbleiben zerstört aber umgekehrt auch unsere eigene Religiosität, denn sie bleibt dann unkonkret, postulatorisch, bezieht sich auf ein Jenseits, aber ohne Folgen für das Diesseits und bringt damit eine Spaltung in uns selbst. 44

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Die Jünger und Jüngerinnen der Pfingstszene, sie wussten damals offenbar, dass es der Heilige Geist war, der sie übermannte. Doch heute gilt: Der Geist weht, wo er will, wie ist er zu erkennen? Das ist das Unterscheidungsproblem des Geistes. Ich möchte diese Frage beantworten mit einigen Überlegungen zum Begriff des Geheimnisses. Denn es scheint unbestreitbar, dass es ein Geheimnis ist und bleibt, welches Wirken in Welt und Kirche sich als Wirken des Heiligen Geistes herausstellen wird. Es könnte sein, dass gerade die letzte Unentscheidbarkeit der Frage, aus welchem Geist etwas ist, jene spezifische Wirklichkeit darstellt, die der Heilige Geist in unserer Welt ist. Ich stütze mich im Folgenden auf einige Überlegungen Karl Rahners.8 Rahner unterscheidet zwei Weisen, das Wort »Geheimnis« zu verstehen. In einem abgeleiteten Sinne meine es nicht-erklärbare Aussagen, also Sätze, deren Sinn und Bedeutung nicht erfasst werden können. Andererseits meine es aber auch eine bestimmte Erfahrung, die merkwürdige Erfahrung näherhin, dass der Mensch sich einerseits in einer Welt vorfindet, diese aber auch unendlich übersteigt. Diese Verwiesenheit von Gott und Welt in unserem Leben ist für Rahner dessen absolutes Geheimnis. Sie ist eine uns mögliche Erfahrung. Es gibt eine Anonymität Gottes im Alltag der Welt. Der anonyme Christ ist ein Mensch, der sich in der Verborgenheit seines alltäglichen Lebens dieser Wirklichkeit stellt: Er begegnet darin niemand anderem als Gott und Christus. Und er bezeugt damit das Wirken des Geistes. Denn Gott selbst ist es, der den Menschen »aus der Verfangenheit […] in die Endlichkeit seines Wesens und der Welt hineinführt in das Leben Gottes selbst. Und diesen Gott, der zu diesem Zweck in diese Welt kommt, nennen wir den Heiligen Geist«9 – so Rahner. Das aber heißt: Es ist nicht unsere Sache, im Einzelnen zu wissen, was geistgewirkt ist und was nicht, auch wenn es natürlich die Gaben des Heiligen Geistes gibt und die Erkenntnis von Gut und Böse. Zuletzt aber ist diese Erkenntnis Gott vorbehalten am Ende der Zeiten. Aber gerade dieses Wissen vom unendlich größeren Horizont Gottes ist es, was unser Verhältnis zur Welt und unsere Verhältnisse in ihr prägen könnte. Denn wir wissen nicht, wo der Geist weht, und müssen daher überall und immer mit ihm rechnen, gerade auch an Orten, wo wir ihn nie erwarten. Denn er ist Gott als absolutes Geheimnis unserer Gegenwart. Mit dem Geist Gottes in der Welt zu rechnen heißt, mit der Geheimnishaftigkeit dieser Welt und ihrer Menschen zu rechnen, heißt, die Erfahrung dieser Geheimnishaftigkeit als Erfahrung der Geheimnishaftigkeit Gottes zu 8 Vgl. Karl Rahner, Die Kirche als Ort der Geistsendung [1966], in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 10: Kirche in den Herausforderungen der Zeit. Studien zur Ekklesiologie und zur kirchlichen Existenz, Freiburg i. Br. 2003, 317–321. 9 Rahner 2003, 318 (Hervorhebungen im Original).

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qualifizieren, heißt auch, weder Welt noch Mensch zu verrechnen in unsere Nutzen- und sonstigen Kalküle, auch nicht die kirchlichen. Was das institutionelle Problem betrifft, da hilft wohl nur das, wovon die Apostelgeschichte nach der Pfingsterzählung berichtet und auch die übrige Kirchengeschichte, wenn auch bisweilen ex negativo, und was letztlich das konstitutive Problem der Praktischen Theologie ausmacht:10 Die Kirche muss ihre eigene institutionelle Struktur unter die dauernde Kritik durch die von ihr vertretene Botschaft stellen. Anders gesagt: Die Kirche hat zu werden, was sie verkündet. Das ist bisweilen und gerade heute, da ihre institutionelle Struktur sich immer deutlicher als defizitär gegenüber ihrer eigenen Botschaft erweist, schmerzhaft, aber die Kirche kann dem nicht ausweichen, sonst verrät sie sich.

3 Pastoralpsychologie und Kirchenentwicklung Aber nicht nur ihre theologisch-narrativen Anfänge, auch die Gegenwart ist als »Zeichen der Zeit« ein möglicher Orientierungsort der Kirche. Da zeigt sich: Sie verliert ihre institutionelle und kommunikative Dominanz, ihr Monopol auf Lebensorientierung. Kirchliche Pastoral, auch und gerade in dem, was man klassisch »Seelsorge« nennt, kommt unter Konkurrenzdruck, im Bereich der persönlichen Lebensbewältigung stark durch das alternative Lebensdeutungs- und Lebensorientierungsangebot dessen, was ich das »psychologische Feld« nennen möchte und worunter ich alle professionellen Angebote verstehe, Menschen in Lebenskrisen therapeutisch zu helfen. So richtig geliebt wird dieses psychologische Feld innerkirchlich immer noch nicht, so sehr die Pastoralpsychologie in den letzten Jahrzehnten einiges dafür tat, die ursprüngliche Fremdheit abzubauen. Ein wenig unheimlich sind die diversen Angebote des psychologischen Feldes vielen in der Kirche über 160 Jahre nach Freuds Geburt immer noch. Und das ja nicht ganz ohne Grund. Schließlich sind die Beziehungen zwischen dem in sich ja auch hoch diversen und untereinander nicht immer freundlich gesinnten psychologischen Feld und der kirchlichen Seelsorge über lange Jahrzehnte alles andere als friedlich verlaufen. Religion ist für Freud bekanntlich eine Illusion, was freilich, wie er gleich anfügt, keineswegs automatisch bedeute, dass sie ein Irrtum sei, aber eben doch, dass ihr primäres Motiv in der Wunscherfüllung liege. Zudem stand und steht, 10 Vgl. Karl Rahner, Die praktische Theologie im Ganzen der theologischen Disziplinen [1967], in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 19: Selbstvollzug der Kirche. Ekklesiologische Grundlegung praktischer Theologie, Solothurn – Freiburg i. Br. 1995, 503–515.

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und das ebenfalls nicht ohne Grund, die Seelsorge der Kirche(n) im Verdacht, ein einziger paternalistisch-patriarchalischer Gängelungs- und Infantilisierungszusammenhang zu sein, aus dem auszubrechen geradezu notwendig ist, will man erwachsen werden oder gar glücklich. Der aktuelle Missbrauchsskandal hat diesen Verdacht natürlich reaktiviert. Neue Königinnen lieben alte Königinnen nicht und alte die neuen noch viel weniger. Zu offenkundig lösten in immer größerer Breite die grundsätzlich eher nicht-direktiven Hilfsangebote des psychologischen Feldes die alte kirchliche Pastoralmacht ab, als dass die kirchlichen Akteure sich einfach damit zufriedengeben konnten. Zu deutlich beanspruchten und besetzten psychologische Angebote zumindest bei den gebildeten Ständen nunmehr jene Stelle der Seelenlenkung und Biografie(beg)leitung, die vormals die Priester der Kirche(n) besetzt hatten, als dass es nicht zu Rivalitäten gekommen wäre, zu deutlich schließlich knüpften die psychologischen und psychotherapeutischen Berufsfelder an die priesterlichen Funktionen an – mögen ihr Habitus und ihr Diskurs auch emanzipationsnäher und subjektorientierter sein. Jüngst erst berichtete mir ein Verantwortlicher einer deutschsprachigen Diözese, dass unter den Priestern seines Bistums große Enttäuschung darüber herrsche, in der Coronakrise so wenig gefragt gewesen zu sein – im Unterschied zu den Vertreter*innen des psychologisch-psychotherapeutischen Berufsfelds. Im Kern laufen die Probleme zwischen Pastoral und Psychologie darauf hinaus, dass man um dieselbe Kompetenz konkurriert: um die Kompetenz der problemlösenden Seelenleitung, der Existenzerhellung und Lebensführung, oder wie immer man das nennen will. Dieses Modell rivalisierender Kompetenzen arbeitet sich aneinander ab, nicht zuletzt in wechselseitigen Verdächtigungen, wie das unter Geschwistern manchmal üblich ist. Man wird nicht sagen können, dass diese Konstellation völlig überwunden sei, wenn ich aber recht sehe, ist es auch nicht mehr die Regel. Auf katholischer Seite haben etwa Hermann Stenger11, Heribert Wahl12, Karl Heinz Ladenhauf13, Karl Frielingsdorf14, Isidor

11 Vgl. Franz Weber, Thomas Böhm, Anna Findl-Ludescher & Hubert Findl (Hrsg.), Im Glauben Mensch werden. Impulse für eine Pastoral, die zur Welt kommt (Festschrift für Hermann Stenger zum 80. Geburtstag), Münster 2000. 12 Vgl. etwa: Heribert Wahl, Den »Sprung nach vorn« neu wagen. Pastoraltheologie »nach« dem Konzil – Rückblicke und Ausblicke, Würzburg 2009. 13 Siehe die Festschrift für Karl Heinz Ladenhauf: Aigner (u. a.) (Hrsg.) 2010. 14 Pater Karl Frielingsdorf SJ, Vorgänger von Klaus Kießling als Leiter des Frankfurter Instituts, war Mitbegründer und langjähriger Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Pastoralpsychologie.

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Baumgartner15, Maria Elisabeth Aigner16, Viera Pirker17 und eben auch Klaus Kießling18 viel dafür geleistet, dieses wechselseitige Misstrauen zu überwinden. Denn man kann auf den eigenen Kompetenzverlust auch anders, souveräner reagieren, etwa durch das Modell externer Kompetenzanreicherung. Wer spürt, dass er mit seinen eigenen Kompetenzen nicht mehr selbstverständlich ankommt, erwirbt sich neue, geht bei jenen in die Lehre, die jetzt Kompetenz und Anerkennung als Autorität versprechen. Das ist der Weg der priesterlichen Seelsorger vom sakralen Hierarchen zum psychologisch ausgebildeten einfühlsamen Biografiebegleiter und ihn zu gehen, lag nahe. Denn die nachtraditionale Gesellschaft, die ihre Selbstverständlichkeiten immer erst herstellen muss, produziert eine unabsehbare Menge an biografischen und kognitiven Kontingenzen, die nach Bewältigung schreien. Hier stützen sich psychologische und theologische Kompetenzen, ergänzen sich, legitimieren sich gegenseitig. Das ist viel wert, aber auch ein Problem. Denn das Modell sich stützender Kompetenzen von Theologie und psychologischem Feld könnte verschleiern, welche Probleme das je andere Fach aufwirft und ungelöst mit sich schleppt. Denn man kann nun diesen Problemen ins andere, erfolgversprechendere Modell ausweichen. Pastoralpsychologisch etwa ist es Allgemeingut, dass Aufmerksamkeit und nicht-direktive Kommunikation unabdingbar sind für gelingende Begleitung. Was bedeutet dies für die Wort-Verkündigung in der Predigt und anderswo? Wie reden Seelsorger*innen da von Gott, von Erlösung und Heil und auch Sünde, Schuld und Leid? Hat das eine Auswirkungen auf das andere? Oder wechselt man zu jener Sprach- und Handlungsform, die gerade den größten Rezeptionserfolg verspricht? Und umgekehrt: Was bedeutet der Glaube für die (pastoral-)psychologische Kompetenz? Das Modell rivalisierender Kompetenzen kann hierauf natürlich keine Antwort geben. Aber auch das Modell sich 15 Vgl. Barbara Haslbeck & Jörn Günther (Hrsg.), Wer hilft, wird ein anderer. Zur Provokation christlichen Helfens (Festschrift für Isidor Baumgartner), Berlin 2006. 16 Vgl. etwa Maria Elisabeth Aigner, Wut, Mut und Verletzlichkeit. Zur gegenwärtigen Lage der Pastoralpsychologie in Theologie und Kirche, in: Zeitschrift für Praxis in Kirche, Gesellschaft und Kultur 46 (2011) 219–224, sowie den am Grazer Institut für Pastoraltheologie und Pastoralpsychologie von ihr konzipierten und geleiteten Masterlehrgang Pastoralpsychologie. 17 Vgl. Viera Pirker, fluide und fragil. Identität als Grundoption zeitsensibler Pastoralpsychologie, Ostfildern 2013. 18 Siehe etwa auch: Klaus Kießling (Hrsg.), In der Schwebe des Lebendigen. Zum theologischen Ort der Pastoralpsychologie, Ostfildern 2012. Mit Bezug auf »Gaudium et spes« schreibt Kießling: »Es geht darum, an den Orten, an denen Menschwerdung von Menschen gefährdet ist, alternative Orte der Menschwerdung in Solidarität zu schaffen« (In der Schwebe des Leben­digen. Zum theologischen Ort der Pastoralpsychologie, in: ders. (Hrsg.) 2012, 111–132, hier: 125).

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wechselseitig stützender Kompetenzen kann nicht das letzte Wort im Handlungsverhältnis zwischen Pastoral und psychologischem Feld sein. Denn dieses Modell könnte verhindern, woran zu arbeiten wäre: an den Defiziten der eigenen Pastoral und ihrer Begriffe, um nur von jenem Bereich zu sprechen, für den ich stehe. In der Pastoralpsychologie treffen theologische und psychologische Kompetenz am nämlichen Objekt, dem Menschen in seiner konkreten, oft leidbeschwerten Lebenssituation, aufeinander. Das kann zu Konkurrenz führen und wird dann destruktiv. Das kann auch zu wechselseitiger Kompetenzstützung führen und wirkt dann hilfreich, aber verändert wechselseitig noch nicht arg viel. Das kann aber auch zu einem kreativen Kontrast führen, der Neues sichtbar macht und zwar in beidem: in unserem Glauben wie in unserer psychologischen Sicht des Menschen. Das wäre das Ziel. Die Differenz von theologischer und psychologischer Perspektive auf den Menschen sollte weder zur Denunziation des jeweils anderen benützt noch regionalisiert und harmonisiert werden. Sie sollte kreativ werden. Aber wie geht das? Nur kritisch. Gerade weil man gegen Freud festhalten muss, dass der Glaube von Realitäten, nicht von Idealitäten spricht, gilt: Er ist in seinen Konsequenzen überprüfbar. Ist das Leben in Gott im Glauben zu finden oder nicht? Pastoralpsychologische Sensibilität kann als Gegengift gegen jeden Institutionalismus der Pastoral wirken. Denn die Pastoralpsychologie kann mit anderen Mitteln und anderen Methoden, mit anderen Begriffen und anderem Blick feststellen, welches Leben aus welchem Glauben folgt und welches Leben wohin führt. Freilich: Niemand hat eine umfassende oder gar objektive Definitionsmacht über den Menschen, weder die Theologie noch die Akteur*innen des psychologischen Feldes. Die christliche Religion weiß das sogar, wenn sie es in der Praxis auch immer mal wieder vergisst. Denn die christliche Theologie sagt: Der Mensch ist ein Geheimnis Gottes und Gott ist das Geheimnis der menschlichen Existenz. Das psychologische Feld ist manchmal in der Gefahr, ein wenig vorschnell den humanwissenschaftlichen Glauben an die grundsätzliche Aufklärbarkeit menschlicher Existenz zu teilen. Da könnte die Pastoralpsychologie als theologische Disziplin einen Kontrast liefern, der alles andere als harmlos ist: den Kontrast der Selbstbescheidung und der Anerkennung der Geheimnishaftigkeit des Menschen. Die modernen Humanwissenschaften beerben die Theologie nämlich gerade in einigen ihrer problematischen Eigenschaften, etwa jener, autoritäre Gesamtperspektiven herstellen zu wollen. Da hat heute die Theologie Einspruch zu erheben und auf jene letzte Unverrechenbarkeit und Unverfügbarkeit hinzuweisen, die der Mensch als Gottes Ebenbild ist. Zwei Spuren in die Zukunft der Kirche

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Man darf die Pastoralpsychologie nicht aus der Aufgabe entlassen, Theologie zu sein.19 Sie ist es, wenn sie sich als Teil der Pastoraltheologie unter die Herausforderung des Pastoralbegriffs des Zweiten Vatikanischen Konzils stellt. Er definiert Pastoral als kreative und handlungsbezogene Konfrontation von Evangelium und menschlicher Existenz in ihrer sozialen wie personalen Dimension. Man darf aber auch die Theologie nicht aus der Aufgabe entlassen, sich auf dem Feld der menschlichen Existenz zu bewähren und sich dem kritischen Blick des psychologischen Feldes zu stellen. Anders gesagt: Optimiert die Pastoralpsychologie die Kirche mit ein paar psychologisch sensibilisierten Handlungskonzepten oder denkt die Pastoralpsychologie als theologische Disziplin darüber nach, was diese Sensibilität für den Glauben und seine Inhalte bedeutet? Stellt sich die Pastoralpsychologie der Frage, was die großen Begriffe unserer Tradition, was also »Auferstehung«, »Sünde«, »Erlösung« und schließlich »Gott« unter den Bedingungen eines psychologisch sensibilisierten Wissens und Handelns bedeuten könnten? Hilft die Pastoralpsychologie, aus diesen alten Begriffen des Glaubens Existenzbegriffe heutigen Lebens werden zu lassen? Die Theologie bezieht sich auf reale Dinge, nicht nur auf ein Jenseits der Welt, nicht auf eine Welt, die anderswo und ganz anders ist, dies dann allerdings unter der Perspektive jenes Gottes, den Jesus verkündet hat: in Worten und Taten. Damit wird die Theologie erfahrbar, nachprüfbar und auch kritisierbar. Theologie und das psychologische Feld sind daher in ihrer spezifischen Verbindung in der Pastoralpsychologie weder Konkurrenten um die Erlösung des Menschen noch einfach wechselseitige Kompensationshelfer der eigenen Sprach- und Hilflosigkeit: Sie sind Brüder oder Schwestern in der Entdeckung menschlicher Existenz, wie sie unter der Perspektive des Gottes Jesu sein könnte.

4 Das Pfingstnarrativ und die Aufklärungskompetenz des psychologischen Feldes – zwei Pfade in eine mögliche Zukunft der katholischen Kirche Die katholische Kirche ist aktuell in einer überaus heiklen Lage. Es ist nicht sicher, wie es mit ihr weitergeht, ja, ob es mit ihr überhaupt gut weitergeht. In dieser prekären Lage könnte die katholische Kirche von ihrem pfingstlichen Gründungsnarrativ lernen, dass Gott kein Phänomen nur der Vergangenheit ist, sondern auch unserer Gegenwart und der Zukunft. Dass Gott nicht nur dort ist, wo sie ihn vermutet und gerne haben möchte, sondern dort, wo es um das letzte 19 In dieser Intention sehe ich mich mit Klaus Kießling verbunden. Siehe Kießling 2012, 117.

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Geheimnis des Menschen und der Schöpfung geht, und dass der Geist weht, wo er will. Gott ist nicht nur eine Tatsache der Ewigkeit oder der Vergangenheit, sondern auch der Gegenwart unserer kleinen und manchmal armseligen Welt. Denn der Heilige Geist hat eben mindestens drei verstörende Eigenschaften: Er weht, wo er will, hat daher ein eher gebrochenes Verhältnis zu Institutionen, Grenzen und Regeln, und man erkennt ihn eigentlich nur an seinen Wirkungen. Von der Konkurrenzierung ihrer Pastoral mit den Ansätzen alternativer Lebensbegleitung aus dem psychologischen Feld aber könnte sie lernen, dass es in der Kirche nicht um irgendetwas und schon gar nicht um die Kirche geht, sondern um die menschliche Existenz, wie sie sein könnte im Horizont Gottes: in Freiheit und Gnade. Denn das weiß das Volk Gottes nicht einfach, das muss es immer wieder entdecken, erfahren, erkunden. Das Volk Gottes kann an seiner Aufgabe nämlich auch scheitern. Deshalb muss es dankbar sein für alle und alles, die es an seine ureigenste Aufgabe erinnern, etwa die Pastoralpsychologie. Das pfingstliche Narrativ und die kritische Aufklärungskompetenz des psychologischen Feldes: das sind zwei Pfade in eine mögliche Zukunft der katholischen Kirche. Klaus Kießling ist – unterwegs auf beiden Fährten – ohne Zweifel einer der Pioniere dieser Zukunft.

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Mystagogie, Pastoralpsychologie und Diakonie?! Komplexe christliche Seelsorge in einer komplexen Welt Doris Nauer

1 Wandel im christlichen Seelsorgeverständnis In den letzten Jahrzehnten hat sich das Verständnis christlicher Seelsorge unter der Einbeziehung internationaler Forschungsergebnisse und Praxiserfahrungen auch im deutschsprachigen Raum enorm gewandelt.1 Exklusivitätsansprüche einer ausschließlich biblisch, pastoralpsychologisch oder diakonisch fundierten Seelsorge werden immer seltener erhoben. Genau an diesem Punkt kommt mein Kollege Klaus Kießling ins Spiel. Denn er war einer der ersten Pioniere auf katholischer Seite, die es gewagt haben, eindimensional zementierte Denk-­Grenzen zugunsten einer multidimensionalen Denk-Weitung zu sprengen. Weil er Mystagogie, Pastoralpsychologie und Diakonie nicht nur in seiner Person, sondern auch in seiner Theologie als unlösbar zusammengehörig vereinen konnte,2 trug er entscheidend dazu bei, den Weg für ein komplexes Seelsorgeverständnis, das auch neuartigen interkulturellen Herausforderungen standhält,3 zu ebnen. Auf diesem Hintergrund zeichnet sich gegenwärtig sogar eine erstaunliche, weil außergewöhnliche inhaltliche Konvergenz zwischen katholischen und landeskirchlich-evangelischen

1 Vgl. Uta Pohl-Patalong & Frank Muchlinsky (Hrsg.), Seelsorge im Plural. Ansätze und Perspektiven für die Praxis, 2. Auflage, Berlin 2019; Doris Nauer, Seelsorgekonzepte im Widerstreit. Ein Kompendium, Stuttgart 2001. 2 Schon vor 20 Jahren hatte Klaus Kießling z. B. kein Problem damit, Mystagogie und Diakonie zusammenzudenken, wie bereits am Titel einer seiner ersten wichtigen wissenschaftlichen Publikationen deutlich wird: Vgl. Klaus Kießling, Seelsorge bei Seelenfinsternis. Depressive Anfechtung als Provokation diakonischer Mystagogie, Freiburg i. Br. 2002. Dass er als Psychologe natürlich immer auch die pastoralpsychologisch-heilsame Dimension christlicher Seelsorge mit im Blick hatte und noch stets hat, versteht sich von selbst. So ist es besonders Klaus Kießling im katholischen Raum zu verdanken, dass modernes psychologisch-psychotherapeutisches Know-how inzwischen sowohl für die Seelsorgelehre als auch für die Seelsorgepraxis rezipiert wird: vgl. Klaus Kießling, Agnes Engel, Theresia Strunk & Hermann-Josef Wagener (Hrsg.), Grundwissen Psychologie. Lehrbuch für Theologie und Seelsorge, Ostfildern 2021. 3 Vgl. Klaus Kießling & Jakob Mertesacker (Hrsg.), Seelsorge interkulturell. Pastoralpsychologische Beiträge, Göttingen 2019.

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Konzeptentwürfen christlicher Seelsorge ab.4 Die Konvergenz lässt sich auf zwei Grundüberzeugungen reduzieren: Ȥ Christliche Seelsorge kann weder beliebig definiert noch beliebig praktiziert werden. Sie hat sich im christlichen Traditionsfundament zu verankern, sprich was unter Seelsorge zu verstehen und wie sie alltagspraktisch umzusetzen ist, muss sich stringent und nachvollziehbar aus dem christlichen Gottes- und Menschenbild ableiten. Weil Christ*innen seit über 2000 Jahren an einen höchst geheimnisvollen nah-fernen, mächtig-ohnmächtigen multidimensional (trinitarisch) erfahrbaren komplexen Gott glauben, und dementsprechend auch den Menschen als ein höchst geheimnisvolles, ganzheitliches (körperliches, psychisches, spirituelles, soziales), jedoch in seiner Komplexität extrem ambivalentes (fast Gott gleich und Staub; sündig und erlöst) Seelen-Wesen sehen, das mit einer gottgewollten unantastbaren Würde ausgestattet ist, kann auch Seelsorge nur als ein ebenso komplexes Geschehen definiert und praktiziert werden. Ȥ Christliche Seelsorge darf nicht zeit- und kontextunabhängig konzipiert und praktiziert werden. Nur wenn die sozialen, strukturellen, ökonomischen, ökologischen, gesellschafts-, sozial- und kirchenpolitischen Rahmenbedingungen menschlicher Existenz sowohl auf der Ebene der Seelsorgetheoriebildung als auch auf der Ebene der alltäglichen Seelsorgepraxis mit bedacht werden, werden sich heutige Menschen in ihren Freuden und Hoffnungen, in ihren Nöten, Ängsten und Problemen, in ihrer Alltags-, Lebens- und Arbeitswirklichkeit von christlichen Seelsorger*innen überhaupt ernstgenommen fühlen. Auf der Höhe der Zeit kann eine traditionsverwurzelte Seelsorge daher nur dann sein, wenn sie sich als ein komplexes Geschehen am Puls der Zeit versteht, ohne sich dabei jedoch dem Zeitgeist kritiklos anzubiedern oder gar auszuliefern. Nimmt man beide Axiome (theologisch-anthropologische und sozial-kontextuelle Komplexität) ernst, dann lassen sich mindestens drei gleichwertige, einander ergänzende, alltagspraktisch aber ineinander übergehende Dimensionen christlicher Seelsorge herauskristallisieren: 1. Weil sich der geheimnisvolle allmächtige Schöpfergott, an den Christ*innen aufgrund ihres jüdischen Erbes bis heute glauben, vor über 2000 Jahren Menschen unter Verzicht auf all seine Macht als Mit-Mensch ganz konkret erfahrbar gemacht hat; weil Christ*innen weltweit zu Recht davon über4 Vgl. z. B.: Michael Klessmann, Seelsorge. Ein Lehrbuch, 2. Auflage, Neukirchen-Vluyn 2010; Doris Nauer, Seelsorge. Sorge um die Seele, 3. Auflage, Stuttgart 2014.

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zeugt sind, dass Gott sich konsequent hinter den vordergründig am Kreuz gescheiterten Menschen Jesus und seine Botschaft gestellt hat, weshalb er ihn »von den Toten erweckte« und Jesus deshalb tatsächlich der Christus, der erwartete Erlöser aller Menschen ist; und weil Gott auch heute noch als Heiliger Geist (die ruach) von allen Menschen aufgrund ihrer GeistDimension (spiritus) mitten in ihrem Alltagsleben hautnah als Kraft- und Trostquelle erspürt werden kann, hat Seelsorge eine spirituell-mystagogische Dimension (Abschnitt 2). 2. Weil Körper und Psyche gottgewollte, aber äußerst störanfällige Konstitutionsmerkmale des ganzheitlichen Menschen sind; weil Menschen sowohl in körperlichen als auch in psychischen Krisensituationen den liebevollen Schöpfergott schon immer als hilfreich erfahren haben; weil Jesus durch sein heilsames zwischenmenschliches Reden und Tun seine Mitmenschen hat spüren lassen, was es bedeutet, wenn Reich Gottes mitten im (kranken) Leben anbricht; und weil der Heilige Geist auch heute noch Heil­sames gerade auch für leidende Menschen bewirken kann, hat Seelsorge eine pastoralpsychologisch-­heilsame Dimension (Abschnitt 3). 3. Weil Menschen soziale Wesen sind; weil der leidenschaftliche Befreiergott, den Jüd*innen und Christ*innen bis heute bezeugen, tatsächlich entweder selbst in die Geschichte eingegriffen hat, um Menschen aus sozialer Not und struktureller Unterdrückung zu befreien, oder seine Propheten dazu beauftragt hat, dies ebenso leidenschaftlich in seinem Namen zu tun; weil Jesus sich gerade durch sein diakonisches Handeln und sein öffentliches Engagement für Kranke, Notleidende und Verstummte ausgezeichnet hat; und weil die inspirierende und systemkritische Kraft des Heiligen Geistes auch heute noch überall präsent ist, hat Seelsorge eine diakonisch-prophetische Dimension. Aus einer rein individuumszentrierten Seelsorge mit beziehungsweise stellvertretend für einzelne Menschen oder Menschengruppen wird sie zu einer Seelsorge an Strukturen (Kirche, Gemeinde, Krankenhaus, Altenheim, Hospiz etc.) sowie am Ganzen (Gesellschaft), wodurch sie sich in den ordens-, kirchen-, gesellschafts-, sozial- und öffentlichkeitspolitischen Raum hinein erstreckt (Abschnitt 4).5

5 Vertiefende Literaturhinweise zum komplexen Seelsorgeverständnis, das im Folgenden erläutert wird, finden sich in: Nauer 2014.

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2 Spirituell-mystagogische Seelsorge In den 90er Jahren des 20.  Jahrhunderts ist im deutschsprachigen Raum zunächst auf katholischer Seite ein Paradigmenwechsel im Verständnis von Seelsorge eingeleitet worden, der sich bereits im Kontext des Zweiten Vatikanischen Konzils anbahnte, als Karl Rahner, angeregt durch den Ordensgründer der Jesuiten, den theologischen Ansatz der Mystagogie wiederentdeckte und darauf hinwies, dass dieser entscheidende Folgewirkungen für das christliche Seelsorgeverständnis mit sich bringt. Stringent durchdacht wurden diese jedoch erst Jahrzehnte später, als Stefan Knobloch und Herbert Haslinger diesbezügliche Grundlagenarbeit leisteten und die Wortschöpfung »Mystagogische Seelsorge« ins Spiel brachten.6 Obgleich das Wort Mystagogie suggerieren könnte, dass durch Seelsorge (konfessionell) auserwählte Menschen in ein schwer zu verstehendes Glaubens(geheim)wissen eingeführt und in eine eingeschworene (elitäre) Gemeinschaft integriert werden sollen, ist damit etwas ganz anderes gemeint: die spirituelle Begleitung eines jeden dafür offenen Menschen auf dem Weg seines geheimnisvollen Lebens, das aus christlicher Überzeugung zutiefst mit dem geheimnisvollen Gott zu tun hat. Das paradigmatisch Neue an diesem Verständnis ist, dass Glaubenshilfe nicht auf Glaubenswissen, Glaubensbelehrung oder Glaubensnormierung von Kirchenmitgliedern abzielt. Anvisiert ist vielmehr, dass Seelsorger*innen nicht nur Kinder/Jugendliche oder Senioren, sondern gerade auch Menschen mittleren Alters in ihren spirituellen Bedürfnissen nicht allein lassen, sondern sich mit ihnen gemeinsam auf den Weg machen, um Spiel-, Frei- und Zwischenräume zu eröffnen, in denen Spuren Gottes mitten in der Alltags-, Lebens- und Arbeitswelt gesucht beziehungsweise aufgedeckt werden können, sodass Christ*innen (zum Beispiel in Kirchengemeinden), aber auch Nicht-Christ*innen (zum Beispiel in Krankenhäusern, Psychiatrien, Altenheimen, Hospizen, …) spüren, dass ein Andocken an den Heiligen Geist enorme Kräfte sowohl zum (Über-)Leben als auch zum Sterben freisetzen kann. Seelsorger*innen ermutigen Menschen deshalb dazu, ihre eigenen Erfahrungen der Gottesnähe, aber auch die der Gottesferne, ihre (kirchenkritischen) Fragen und Glaubenszweifel zuzulassen und bieten sich als dialogfähige Gesprächspartner auch für die Überwindung spiritueller Sprachlosigkeit an. Strategien wie die bloße Weitergabe fest geschnürter dogmatischer Wahrheitspakete, das Erteilen biblischer Schnellratschläge, moralische Besserwisserei oder voyeuristische Sündenaufdeckung sind dabei ebenso obsolet wie der Ver-

6 Vgl. Stefan Knobloch & Herbert Haslinger (Hrsg.), Mystagogische Seelsorge, Mainz 1991.

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such, die Notlage von Menschen für eine vereinsideologische Rekrutierung im Sinne von (Zwangs-)Bekehrung oder Missionierung auszunutzen. Mysta­ gogisch inspirierte Seelsorger*innen wollen tatsächlich immer dann, wenn Menschen sich darauf einlassen, neugierig machen auf die christliche Sicht von Gott und Mensch. Wenn sie von Gott erzählen, dann allerdings nicht im Modus der Drohbotschaft, sondern im Modus der für den christlichen Glauben typischen Frohbotschaft, in der die bedingungslose Liebe Gottes zu allen Menschen im Zentrum steht. Deshalb stellen sie, wenn dies erwünscht ist, auch Erfahrungen längst verstorbener Menschen zur Verfügung, die in der Heiligen Schrift überliefert worden sind und trotz ihres oftmals auf den ersten Blick altmodisch erscheinenden Charakters bei genauerem Hinsehen bis heute nichts an Aktualität eingebüßt haben. Christliche Seelsorger*innen widerstehen zudem nicht nur der Versuchung, das Geheimnis Gott enträtseln zu wollen, sondern auch der Versuchung, Menschen oberflächlich auf ein Jenseits zu vertrösten. Ihr Ziel besteht vielmehr darin, das Schweigen Gottes, die Nicht-Erfahrung der Gottesnähe oftmals ebenso sprachlos mit auszuhalten und trotz aller Hoffnungslosigkeit eine Perspektive der Hoffnung selbst über den Tod hinaus zu eröffnen. Sie unterstützen deshalb ihre Mitmenschen darin, sich dem gesellschaftlich vorherrschenden Zeitgeist des jung, schlank und gesund bleiben Müssens zu entziehen. Sie bestärken sie darin, ihre Unvollkommenheit, ihre Anfälligkeit für Krankheit und Behinderung, ihr Altwerden, ihre Endlichkeit und Sterblichkeit als zum Leben gehörig zu akzeptieren, damit sie nicht krampfhaft an ihrem eigenen Leben und an dem ihrer Bezugspersonen festhalten, indem sie es mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu verlängern suchen, sondern es im Vertrauen auf ein qualitativ neuartiges Leben bei Gott zur rechten Zeit loslassen. Wenn dabei auf den reichen Schatz der (alt)katholischen, evangelischen und orthodoxen Glaubenstradition zurückgegriffen wird, dann stellen christliche Seelsorger*innen zum Beispiel religiöse Texte, Kirchenlieder, Symbole und Hilfsmittel wie Kerzen, Kreuz, Marienbild, Heiligenbilder oder Rosenkranz zur Verfügung: Symbole, die für viele Menschen inzwischen antiquiert und überholt erscheinen, für andere dagegen von großem Wert sind. Wenn dies erwünscht ist, bieten sie auch Segensrituale an, geben Raum zum Beichtgespräch oder zum Bibellesen, salben Kranke, beerdigen Verstorbene und laden zu gemeinsamen liturgischen Feiern unterschiedlichster Art ein. Letzteres nicht, damit zum Beispiel Katholik*innen ihre (Sonntags-)Pflicht erfüllen, sondern damit ein FeierRaum für die frohmachende heilsame Gottesnähe eröffnet wird. Wenn Traugott Roser als evangelischer Praktischer Theologe und Experte von Spiritual Care 2018 die Frage stellt, ob es in einer Seelsorgebeziehung auch 56

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heute noch von Bedeutung sein könnte, von Gott zu reden,7 dann ist seine Frage im Blick auf christliche Seelsorge nur dann mit »Ja« zu beantworten, wenn dies auf glaubwürdige Art und Weise geschieht.8 Uralte Bilder, Metaphern und Symbole gilt es in die Erfahrungswelt heutiger Menschen zu übersetzen. Erst dann wird es methodisch überhaupt möglich sein, den Glauben ins Gespräch zu bringen, wie der evangelische Praktische Theologe Johannes Greifenstein 2020 einfordert.9 Inzwischen gibt es zudem methodische Hilfestellungen, wie biblische Bilder, Rituale, Texte, Gebete, Kasualien in die Seelsorge eingespielt werden können.10 Die spirituell-mystagogische Dimension verlangt Seelsorger*innen ein komplexes Kompetenzprofil ab. Benötigt wird nicht nur theologische Fachkompetenz, sondern auch eine basale interreligiöse Kompetenz. Unabdingbar ist zudem eine durch lebenslange Übung entstehende rituell-liturgische Kompetenz, das heißt die Fähigkeit, sich dem Wagnis auszusetzen, Bewährtes zu bewahren und immer wieder Neues auszuprobieren. Obgleich – vielleicht auch: weil – immer weniger Menschen mit der Bibel vertraut sind, braucht es auch eine bibelhermeneutische Kompetenz, das heißt die Fähigkeit, Bibeltexte mit aktuellen Lebensgeschichten in Verbindung zu bringen und Menschen davon erzählen zu können. Vorausgesetzt ist zudem, dass Seelsorger*innen nicht nur über eine eigene spirituelle Kompetenz verfügen, das heißt dass sie selbst im christlichen Glauben verankert sind und dies glaubhaft ausstrahlen, sondern auch über mystagogische Kompetenz, das heißt, dass sie andere Menschen auf ihrem spirituellen Weg hilfreich begleiten können.

7 Vgl. Traugott Roser, Könnte es von Bedeutung sein, von Gott zu reden?, in: Wege zum Menschen 70 (2018), Heft 2, 132–147. 8 Vgl. Wolfgang Greive, Glaubwürdig von Mensch und Gott reden. Theologie für kritische Geister, in: Theologische Revue 116 (2020), 1–3; Doris Nauer, Gott. Woran glauben Christen? Verständlich erläutert für Neugierige, Stuttgart 2017; dies., Mensch. Christliches Menschenbild heute? Verständlich erläutert für Neugierige, Stuttgart 2018. 9 Vgl. Johannes Greifenstein, Den Glauben ins Gespräch bringen, in: Wege zum Menschen 72 (2020), Heft 1, 4–16. 10 Vgl. Kerstin Lammer, Ein Ritual zeigt mehr als 1000 Worte. Über die Grenzen von Gesprächen und den Wert von Ritualen, in: Michael Utsch (Hrsg.), Religiöse Psychotherapie? Seelsorge und Psychotherapie im Gespräch (EZW-Texte; Nr. 267), Berlin 2020, 43–50; Nikolaas Derksen, Claudia Mennen & Sabine Tscherner, Bibliodrama als Seelsorge. Im Spiel mit dunklen Gottesbildern. Ein Praxisbuch, Ostfildern 2016.

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3 Pastoralpsychologisch-heilsame Seelsorge Obgleich in Nordamerika bereits in den 30er und 40er Jahren des 20. Jahrhunderts ein Paradigmenwechsel im Verständnis von Seelsorge stattfand, erreichte dieser erst Ende der sechziger Jahre Europa, wobei die Niederlande eine Vorreiterrolle einnahm. Ausgehend von Seelsorgeerfahrungen in psychiatrischen Kliniken wurde dafür plädiert, eine radikale Wende hin zum Menschen in all seinen körperlichen und psychischen Problemlagen vorzunehmen. Sich für Menschen Zeit zu nehmen; wertschätzend für sie da zu sein; sie so zu nehmen, wie sie sind; eine Vertrauensbeziehung aufzubauen; in Krisensituationen dabei zu bleiben ohne etwas machen oder verändern zu können; sensibel in den Arm zu nehmen; empathisch zuzuhören; Lebensgeschichte auszutauschen; humorvoll, kreativ, spielerisch und paradox intervenierend neue Sichtweisen einzuspielen; unaufdringlich (ethisch) zu beraten; eine eigene Position zu beziehen und dabei auch den Dissens nicht zu scheuen; Lebenskrisen ernst zu nehmen und zu deren Bewältigung aktiv beizutragen – all das sollte nicht länger als bloße Vorfeldarbeit für Glaubenshilfe, sondern als vollwertige Seelsorge im Sinne gottgewollter Beratungs-, Identitäts- und Krisenhilfe verstanden werden, selbst wenn dabei Gott, Glaube und Kirche überhaupt nicht thematisiert werden. Für evangelische Seelsorger*innen hatte dies zur Folge, dass das von Eduard Thurneysen entwickelte und bis dahin unangefochtene Verständnis von Seelsorge als verbaler Wortverkündigung (Kerygmatische/Verkündigende Seelsorge) zugunsten tiefenpsychologisch, gesprächspsychotherapeutisch, gestalttherapeutisch-integrativ, später auch (kognitiv-)verhaltenstherapeutisch und systemtherapeutisch beeinflusster Konzepte an Dominanz verlor. Auf katholischer Seite brauchte es jedoch erst das Zweite Vatikanische Konzil, das Jahre später den notwendigen Freiraum dafür eröffnen sollte, Seelsorge aus liturgischsakramentalen Engführungen (Sakramentenpastoral/Betreuende Seelsorge) zu befreien und psychotherapeutisch gewonnene Erkenntnisse und Methoden als Bereicherung wertzuschätzen. Eine – wie sich herausstellen sollte – äußerst segensreiche Bereicherung, denn: Seelsorge ist ein gefährliches Unternehmen. Weil Seelsorger*innen ihren Mitmenschen sehr nahe kommen, laufen sie Gefahr, diese, ohne es zu wollen oder überhaupt zu bemerken, (zusätzlich) zu beschädigen. Wollen sie wirklich heilsam mit Menschen umgehen, dann brauchen sie Know-how aus der modernen Psychologie und Psychotherapie, ohne sich dabei jedoch als (vielleicht sogar bessere) Psychotherapeut*innen (miss-) zu verstehen. In der Nachfolge Jesu unterstützen sie zwar aktiv die Bemühungen aller Professionen, die sich zum Ziel setzen, leidende Menschen von ihrer Krankheiten zu befreien. Oberstes Ziel von Seelsorger*innen ist es jedoch nicht, Men58

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schen zu suggerieren, sie könnten von allen Gebrechlichkeiten befreit werden, wenn sie denn genug glauben und/oder beten. Seelsorger*innen vertrauen zwar auf die Wirkkraft des Heiligen Geistes, widersetzen sich aber dem Versuch, ihn instrumentalisieren zu wollen, indem sie zum Beispiel (irreale) Hoffnungen auf Wunder-Heilungen schüren, deren Nichteintreten leidende Menschen in noch tiefere Krisen stürzen. Das Postulat der Heilsamkeit gilt zudem auch für die Seelsorger*innen selbst! Wer seelsorglich tätig ist, steht in der Gefahr, »rund um die Uhr« zu arbeiten, ohne dass es jemals genug ist. Jesu Dreifachgebot der Gottes-, Nächsten- und Selbstliebe fordert deshalb eine heilsame Selbst-Sorge ein und entlastet Seelsorger*innen vor der Selbstüberforderung, Reich Gottes auf Erden vollenden zu wollen. Praktisch-methodische Hilfestellungen gibt es inzwischen auch für die pas­ toral­psychologische Dimension. Nicht nur Handbücher zu nützlichem psychologischem und psychiatrischem Hintergrundwissen11, sondern auch Literatur, die ganz konkrete Beispiele und Tipps für gelingende Seelsorgebeziehungen anbietet.12 Wer pastoralpsychologisch sensibilisiert seelsorglich tätig sein will, braucht Fähigkeiten, die im Theologiestudium zumeist nicht erwerbbar sind. Seelsorger*innen benötigen daher Fort- und Weiterbildungen sowie Zusatzqualifikationskurse, die nicht nur die eigene Persönlichkeitskompetenz stärken, sondern auch nonverbale Begegnungskompetenz, verbale Kommunikationskompetenz, (ethische) Beratungskompetenz, interkulturelle Kompetenz und Selbstsorgekompetenz fördern.

4 Diakonische Seelsorge In den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts lässt sich ein weiterer tiefgreifender Paradigmenwechsel im Verständnis von Seelsorge ausmachen, der ausgehend von Lateinamerika nahezu zeitgleich auch in Nordamerika und Europa Auswirkungen zeigte. Das paradigmatisch Neue besteht darin, dass eine radikale Wende zur konkreten Lebenswelt vollzogen worden ist. Im deutschsprachigen Raum wurde zunächst auf evangelischer Seite (Henning Luther, Ulrich Bach), 11 Vgl. Jochen Sautermeister & Tobias Skuban (Hrsg.), Handbuch psychiatrisches Grundwissen für die Seelsorge, Freiburg i. Br. 2018. 12 Vgl. Timm Lohse, Das Kurzgespräch in Seelsorge und Beratung. Eine methodische Anleitung, Göttingen 2020; Hubert Klingenberger, Biographiearbeit in der Seelsorge. Anlässe. Übungen. Impulse, München 2015; Klaus Schäfer, Trösten – aber wie? Ein Leitfaden zur Begleitung von Trauernden und Kranken, Regensburg 2019.

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mit etwas Verzögerung auch auf katholischer Seite (Ottmar Fuchs, Hermann Steinkamp, Norbert Mette, Franz Weber) unter den Stichworten »Diakonische Seelsorge«, »Befreiende Seelsorge«, »Politische Seelsorge« und »Sozialpastoral« entsprechende Innovationsarbeit geleistet. Ausgangspunkt des neuen Ansatzes war die Kritik an einer rein individuumszentrierten Seelsorge, die weder der komplexen Lebenssituation heutiger Menschen gerecht wird, noch den konkreten Arbeitskontext zum Beispiel von Krankenhausseelsorge ausreichend in den Blick nimmt. Seelsorge in der Nachfolge Jesu fordert demnach die Bereitschaft ein, nicht (nur) in gemütlichen Pfarr- und Sprechzimmern auf Rat suchende Menschen zu warten, sondern den Weg dahin zu suchen, wo Menschen alltäglich leben beziehungsweise in Not sind. Christliche Seelsorge verlangt Seelsorger*innen ab, sich wortwörtlich »die Hände schmutzig zu machen«, das heißt sich solidarisch in den Dienst Not leidender Menschen zu stellen, zuzupacken und zu helfen, wo konkrete Hilfestellung gebraucht wird. Diakonisch inspirierte Seelsorger*innen machen sich deshalb zum Sprachrohr und zum Anwalt gerade der Menschen und Menschengruppen, die dem Beschleunigungs- und der Arbeitsüberlastung nicht mehr gewachsen sind, die an den Rand gedrängt und übersehen werden, die übergangen, outgesourct und ausgebeutet werden, deren Würde missachtet wird, die stumm gemacht werden oder bereits verstummt sind. Für sie treten sie analog zu Jesus manchmal still und leise, manchmal aber auch laut und öffentlichkeitswirksam ein. Für sie riskieren sie Konflikte, in Ländern, in denen Ungerechtigkeit, Ausbeutung und Korruption vorherrschen, sogar ihr Leben. In diesem Sinn zielt Seelsorge auch auf konkrete, oftmals materielle (Über-)Lebenshilfe ab. Seelsorger*innen in der Nachfolge Jesu können ihre Hände nicht in Unschuld waschen und strukturelle Sünde, das heißt strukturelle Rahmenbedingungen (sei es in Kirchengemeinden oder zum Beispiel im Gefängnis), die den Anbruch von Reich Gottes auf Erden – das heißt die Realisierung von etwas mehr Gerechtigkeit, Mitmenschlichkeit, Nächstenliebe, Barmherzigkeit, Gleichheit, Solidarität und Leben in Fülle – blockieren, einfach übersehen oder gar akzeptieren. Sie können sich ihrer prophetischen Aufgabe nicht entziehen, Unrecht beim Namen zu nennen, Selbsthilfepotenziale zu stärken, Solidarisierungsprozesse anzustoßen und sowohl personelle als auch institutionelle Vernetzungsarbeit zu leisten. In diesem Sinn ist Seelsorge immer auch eine Form struktureller Befreiungshilfe. Weil aber Reich Gottes immer nur angebrochen und unter irdischen Bedingungen nie ganz vollendet sein wird, werden auch Seelsorger*innen nicht alle Ungerechtigkeit aus der Welt schaffen. Ihre Aufgabe ist es daher nicht zu suggerieren, dass alles hier und jetzt veränderbar ist. Oftmals gilt es, Menschen darin zu bestärken, in gegenwärtig 60

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(un-)veränderbaren Strukturen und Zuständen überleben und weiterarbeiten zu können, ohne dabei die Hoffnung auf Veränderung aufgeben zu müssen. Die wenigsten methodischen Handreichungen finden sich im Blick auf die diakonisch-prophetische Dimension. Fündig wird man am ehesten im Bereich systemischer Seelsorge, die jedoch zumeist das Individuum unter Berücksichtigung seines sozialen Netzwerkes beleuchtet und weniger gesellschaftliche Systeme sowie organisatorisch-strukturelle Zusammenhänge und den Umgang mit ihnen in den Blick nimmt.13 Die diakonisch-prophetische Dimension setzt den Erwerb von Kompetenzen voraus, die bisher nicht im Fokus seelsorglicher Ausbildung standen: Organisations- und zupackende Handlungskompetenz; Systemkompetenz; Teamund Leitungskompetenz; Vernetzungskompetenz; öffentliche Repräsentationskompetenz; Gesellschafts- und Sozialpolitische Kompetenz.

5 Komplexe traditionsverwurzelte zeitgemäße Seelsorge Da keine Seelsorgerin und kein Seelsorger alle Kompetenzen, die ein komplexes zeitgemäßes Seelsorgeverständnis in den Spuren Jesu Christi einfordert, aufweisen kann, sollten christliche Seelsorger*innen nicht als Einzelkämpfer*innen eingesetzt werden. Sie benötigen die Einbindung in intrakonfessionelle, interkonfessionelle, interreligiöse und/oder interprofessionelle Teams, in denen verschiedene Charismen einander ergänzen können. Christliche Seelsorge auf der Höhe der Zeit setzt Seelsorger*innen voraus, die zwei fundamentale Voraussetzungen erfüllen: Ȥ Zum einen sind sie konzeptionell gut aufgestellt, weil sie sich während ihres Theologiestudiums sowie im Laufe ihres Berufslebens ein komplexes Seelsorgeverständnis erarbeitet haben, das sie in einfachen Worten jedem Menschen erklären können. Ȥ Zum anderen besitzen sie die notwendige Offenheit, Neugier und Kreativität, sich in allen drei Seelsorgedimensionen methodisch und alltagspraktisch weiterzuentwickeln. Will man den Kern christlicher Seelsorge prägnant auf den Punkt bringen, bietet es sich an, nicht die drei inhaltlichen Dimensionen nacheinander aufzuzählen, sondern sich für eine Art überkuppelnde Definition zu entscheiden. Weil christ13 Vgl. Christoph Morgenthaler, Systemische Seelsorge, 6. Auflage, Stuttgart 2019; Sabine Schröder, Systemische Seelsorge praktisch, Tübingen 2015.

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liche Seelsorge derart komplex ist, darf sie nicht primär oder gar ausschließlich als Sorge um das jenseitige ewige Seelenheil (miss-)verstanden werden. Christliche Seelsorge ist vielmehr Sorge um den ganzen gottgewollten Menschen in all seinen Möglichkeiten und Begrenzungen, in all seinen (un-)veränderbaren strukturellen Lebens- und Arbeitskontexten. Christliche Seelsorge, so könnte man biblisch-metaphorisch formulieren, zielt darauf ab, einzelnen Menschen oder ganzen Menschengruppen trotz aller Nöte und Probleme bereits hier und jetzt auf Erden zumindest ein wenig mehr gottgewolltes Leben in Fülle (Joh 10,10) im Sinne eines spürbaren Anbruchs vom Reich Gottes zu ermöglichen. Was dies genau bedeutet, liegt in der Definitionshoheit eines jeden einzelnen Menschen. Für den einen Menschen könnte es bedeuten, dass die Seelsorgebegegnung mystagogische Erfahrungsräume eröffnet. Für den anderen, dass Heilsames geschieht, weil der Mensch einfach vom Seelsorger oder der Seelsorgerin in den Arm genommen wird. Für einen anderen Menschen dagegen realisiert sich ein wenig Leben in Fülle, weil ihm beim Ausfüllen eines wichtigen Formulars von der Seelsorgerin oder vom Seelsorger ganz konkret geholfen wird. Komplexe christliche Seelsorge in einer komplexen Welt!

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Praktische Theologie und Grounded Theory Zu den Risiken und Nebenwirkungen einer soziologischen Methode in der Praktischen Theologie Norbert Hark

Schon in den 1960er Jahren wies Karl Rahner1 auf die Notwendigkeit sozialwissenschaftlicher Expertise für eine fundierte praktische Theologie hin. Klaus Kießling2 hat dieses Anliegen in seinen eigenen Untersuchungen aufgegriffen, die Zusammenhänge kritisch reflektiert und weiterentwickelt. Der inter- und intradisziplinäre Forschungszusammenhang3 bedarf fundierter Kenntnisse in den beteiligten Disziplinen, vor allem ihrer heuristischen und hermeneutischen Implikationen. Sozialwissenschaft kann nicht einfach eine »Magd für Theologie«4 sein, die liefert, was die Theologie gerade braucht, sondern muss als eine Disziplin mit eigenen Ansprüchen und Zielen betrachtet werden. Ähnlich wie bei der Einnahme von Medikamenten ist auf Risiken und Nebenwirkungen bei der Nutzung sozialwissenschaftlicher Konzepte im Rahmen theologischer Forschung zu achten. In der letzten Zeit wird immer häu-

1 Vgl. Karl Rahner, Die Gegenwart der Kirche. Theologische Analyse der Gegenwart als Situation des Selbstvollzuges der Kirche, in: Franz X. Arnold & Karl Rahner (Hrsg.), Handbuch der Pastoraltheologie. Praktische Theologie der Kirche in ihrer Gegenwart (Handbuch der Pastoraltheologie; Bd. II/I), Freiburg i. Br. 1966, 178–276. 2 Vgl. Klaus Kießling, Seelsorge bei Seelenfinsternis. Depressive Anfechtung als Provokation diakonischer Mystagogie, Freiburg 2002, 142–223; ders., Zur eigenen Stimme finden. Religiöses Lernen an berufsbildenden Schulen (Zeitzeichen; Bd. 16), Ostfildern 2004, 238–342; ders., Praktische Theologie als empirische Wissenschaft?, in: Doris Nauer, Rainer Bucher & Franz Weber (Hrsg.), Praktische Theologie. Bestandsaufnahme und Zukunftsperspektiven. Ottmar Fuchs zum 60. Geburtstag (Praktische Theologie heute; Bd. 74), Stuttgart 2005, 120–127; ders., Interdisziplinarität als Konstitutivum einer nachkonziliaren Praktischen Theologie, in: Reinhold Boschki (Hrsg.), Junge Wissenschaftstheorie der Religionspädagogik (Tübinger Perspektiven zur Pastoraltheologie und Religionspädagogik; Bd. 31), Berlin – Münster 2008, 67–87. 3 Vgl. Johannes A. van der Ven, Unterwegs zu einer empirischen Theologie, in: Ottmar Fuchs (Hrsg.), Theologie und Handeln. Beiträge zur Fundierung der praktischen Theologie als Handlungstheorie, Düsseldorf 1984, 105–112; ders., Entwurf einer empirischen Theologie, 2. Auflage (Theologie & Empirie; Bd. 10), Kampen – Weinheim 1994. 4 Norbert Mette & Hermann Steinkamp, Sozialwissenschaften und Praktische Theologie (Leitfaden Theologie; Bd. 11), Düsseldorf 1983, 166.

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figer die Grounded Theory als etablierte und gut dokumentierte Methode5 in theologischen Zusammenhängen aufgegriffen. Um ihre besonderen Risiken und Nebenwirkungen soll es im Folgenden gehen. Wie bei einem Medikament zunächst der Apotheker oder der Arzt gefragt werden sollen, sind für die Grounded Theory die Soziologie oder Sozialwissenschaftler zu wichtigen Umständen und Hintergründen der Grounded Theory zu befragen, um anschließend den Bezug zur empirischen Forschung innerhalb der Praktischen Theologie herzustellen.6

1 Heuristisches Konzept Zu den entscheidenden Nebenwirkungen der Grounded Theory gehört ihr heuristisches Konzept. Als die Gründerväter – Barney Glaser und Anselm Strauss – die Grounded Theory in den 1960er Jahren entwickelten,7 folgten sie ihrem pragmatischen Interesse, ergebnisorientierte Forschung zu unternehmen und vernachlässigten die heuristischen Voraussetzungen ihres Konzeptes. Die später von Glaser teils polemisch und aggressiv geführte Auseinandersetzung 5 Einen guten Überblick geben: Antony Bryant & Kathy Charmaz (Hrsg.), The SAGE Handbook of Grounded Theory, Los Angeles 2011; Norman K. Denzin & Yvonna S. Lincoln (Hrsg.), The SAGE Handbook of Qualitative Research, 4. Auflage, Los Angeles 2011; Claudia Equit & Christoph Hohage (Hrsg.), Handbuch Grounded Theory. Von der Methodologie zur Forschungspraxis, Weinheim 2016; Uwe Flick (Hrsg.), The SAGE Handbook of Qualitative Data Analysis, Los Angeles – London – New Delhi 2014; Uwe Flick, Ernst von Kardorff & Ines Steinke (Hrsg.), Qualitative Forschung. Ein Handbuch, 12. Auflage, Reinbek bei Hamburg 2017. 6 Die Grounded Theory wurde schon mehrfach auf die sich bietenden Chancen für die Praktische Theologie untersucht. 1993 legte Johannes von der Ven eine Untersuchung über die qualitative Inhaltsanalyse vor, die er mithilfe der wissenschaftstheoretischen und methodologischen Merkmale der Grounded Theory untersuchte (Johannes A. van der Ven, Die qualitative Inhaltsanalyse, in: ders. & Hans-Georg Ziebertz (Hrsg.), Paradigmenentwicklung in der praktischen Theologie (Theologie & Empirie; Bd. 13), Kampen 1993, 113–164). Stefanie Klein legte eine Untersuchung für die Methodendiskussion und ihrer Grundlagenarbeit in der Praktischen Theologie vor (Stephanie Klein, Erkenntnis und Methode in der Praktischen Theologie, Stuttgart 2005). Sie widmet ein eigenes Kapitel der Grounded Theory und stellt exemplarisch dar, wie diese Methodologie für die von ihr geforderte »Subjektivität der forschenden Person und der Personen in der Sozialwelt Rechnung« (Klein 2005, 23) tragen kann. Inken Mädler untersucht die Grounded Theory als standardisiertes sozialwissenschaftliches Forschungsverfahren, dass für eine Theoriebildung innerhalb der (evangelischen) Praktischen Theologie genutzt werden kann (Inken Mädler, Ein Weg zur gegenstandsbegründeten Theoriebildung: Grounded Theory, in: Astrid Dinter, Hans-Günter Heimbrock & Kerstin Söderblom (Hrsg.), Einführung in die empirische Theologie. Gelebte Religion erforschen, Göttingen 2007, 242–269). 7 Vgl. Barney G. Glaser & Anselm L. Strauss, The discovery of grounded theory. Strategies for qualitative research, New Brunswick 1999, 1967.

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mit den Arbeiten von Strauss liegt hier begründet.8 Glaser legt seinem Konzept einen streng induktiven Ansatz zu Grunde, bei dem aus den Daten der Erkenntnisfortschritt bei sorgfältiger Beachtung einschlägiger Regeln wie von alleine emergiert. Dies hat ihm von Käthe Charmaz9 und Adele Clarke10 den Vorwurf eingebracht, nach (scheinbar) objektiven Ergebnissen zu suchen.11 Strauss hat in der Tradition der Chicago School of Sociology im Sinn des amerikanischen Pragmatismus nach vorläufigen Ergebnissen gesucht, die keine allgemeingültige Geltung beanspruchen. Charmaz hat später diesen Ansatz in eine konstruktivistische Perspektive überführt.12 Clarke hat versucht, die Grounded Theory durch den »postmodern turn« zu führen.13 Diese Ansätze werden in der derzeitigen Soziologie rezipiert und führen die Grounded Theory über ein reines Methodenpaket in einen heuristischen Gesamtzusammenhang. Wie auch immer die Einzelheiten im Diskurs um die Heuristik der Grounded Theory zu werten sind, für die praktisch-theologische Forschung ergibt sich die Nebenwirkung, mit einem spezifischen erkenntnistheoretischen Modell konfrontiert zu werden. Überzeitliche oder übergreifende Forschungsergebnisse lassen sich im Sinne der Grounded Theory nicht erzielen. Auch allgemein rezipierte systematische Erkenntnisse der Theologie müssen im Forschungsprozess der Grounded Theory zumindest methodisch zurückgestellt werden. Die Vorläufigkeit der Erkenntnisse ist eine Nebenwirkung, die mit der Grounded Theory immer einhergeht. Eine Spannung zur Suche nach vermeintlich letzten Wahrheiten, die zumindest in der Vergangenheit theologisches Denken geprägt haben, liegt auf der Hand. 8 Vgl. Barney G. Glaser, Basics of Grounded Theory Analysis. Emergence Vs Forcing, 2. Auflage, Mill Valley 1992; Jörg Strübing, Zwei Varianten von Grounded Theory? Zu den methodologischen und methodischen Differenzen zwischen Barney Glaser und Anselm Strauss, in: Günter Mey & Katja Mruck (Hrsg.), Grounded Theory Reader, 2. Auflage, Wiesbaden 2011, 261–277. 9 Vgl. Kathy Charmaz, Constructionism and the Grounded Theory Method, in: James A. Holstein & Jaber F. Gubrium (Hrsg.), Handbook of constructionist research, New York 2008, 397–412. 10 Vgl. Adele E. Clarke, Situational Analyses: Grounded Theory Mapping After the Postmodern Turn, in: Symbolic Interaction 26 (2003), Heft 4, 553–576; dies., »Für mich ist die Darstellung der Komplexität der entscheidende Punkt.« Zur Begründung der Situationsanalyse, in: Mey & Mruck (Hrsg.) 2011, 109–131. 11 Vgl. Ali Taghipour, Adopting Constructivist versus Objectivist Grounded Theory in Health Care Research. A Review of the Evidence, in: Journal of Midwifery and Reproductive Health 2 (2014), Heft 2, 100–104. 12 Vgl. Kathy Charmaz, Constructing Grounded Theory. A practical Guide through Qualitativ Analysis, London 2006; dies., Grounded theory: Objectivist and constructivist methods, in: Denzin & Lincoln (Hrsg.) 2011, 509–535. 13 Vgl. Clarke 2003; Adele E. Clarke, Von der Grounded-Theory-Methodologie zur Situationsanalyse, in: Mey & Mruck (Hrsg.) 2011, 209–229.

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2 Abgrenzung zu Metatheorien: Datengestützte Theorie mittlerer Reichweite Eine zweite Nebenwirkung ist ebenfalls mit den Gründungsvätern der Grounded Theory verbunden. Sie entwickelten die Grounded Theory in bewusster Abgren­ zung zur soziologischen Forschung der sechziger Jahre, die von verbreiteten Metatheorien ausging. Oft wurden damals in der Soziologie Hypothesen und Konzepte auf der Basis solcher Metatheorien entwickelt und anschließend einer empirischen Überprüfung unterzogen. Glaser und Strauss gehen mit der Grounded Theory den umgekehrten Weg und brechen bewusst mit dieser Tradition. Sie wollen die empirische Wirklichkeit wahrnehmen und datengestützte Theorien mittlerer Reichweite konstruieren. Der Begriff »Theorie mittlerer Reichweite« wurde von Robert Merton14 entwickelt und bezieht sich auf eine vorläufige Theorie, die pragmatisch validiert werden muss und nur eine überschaubare Geltung beansprucht. Theoretische Konzepte spielen in der Analyse der Grounded Theory nur eine untergeordnete Rolle. Zwar haben Glaser und Strauss über das Maß des Einbezuges und die Art der Relation von theoretischen Vorerkenntnissen für einen Forschungszusammenhang in der Grounded Theory recht unterschiedliche Auffassungen vorgelegt, aber sie teilen das Misstrauen gegenüber etablierten und tradierten theoretischen Konzepten. Für die praktische Theologie, die Erkenntnisse mithilfe der Grounded Theory sucht, entsteht eine Spannung zum verbreiteten Verfahren, Theologie mit starkem Bezug zu biblischen und traditionellen Aussagen zu betreiben. Das iterative Verfahren der Grounded Theory in der Tradition von Strauss erlaubt zwar den Bezug auf theoretische Vorannahmen im Sinne einer theoretischen Sensibilität, diese haben sich aber der Analyse der Daten unterzuordnen.15 Für die praktische Theologie können Situationen entstehen, in denen allgemein akzeptierte biblische oder theologische Annahmen wenig oder keine Relevanz für die gesuchte Theorie mittlerer Reichweite entfalten. Diese Situation kann bis zum offenen Widerspruch der empirisch begründeten Analyse zu traditionellen Konzep14 Vgl. Robert K. Merton, On Sociological Theories of the Middle Range, in: Craig J. Calhoun, Joseph Gerteis, James Moody, Steven Pfaff & Indermohan Virk (Hrsg.), Classical sociological theory, Chichester (West Sussex) – Malden 2012, 448–459; Alexander Seifert, Theorien mittlerer Reichweite aus Daten gewinnen. Überlegungen zur Nutzung der Grounded Theory zur Theoriebildung mittlerer Reichweite, in: Journal für Qualitative Forschung in Pflege- und Gesundheitswissenschaft 3 (2016), Heft 1, 6–14. 15 Vgl. Anselm L. Strauss & Juliet M. Corbin, Grounded theory. Grundlagen qualitativer Sozialforschung, Weinheim 1996; dies., Methodical Assumptions, in: Equit & Hohage (Hrsg.) 2016, 128–140; Juliet M. Corbin & Anselm L. Strauss, Basics of qualitative research. Techniques and procedures for developing grounded theory, 4. Auflage, Los Angeles 2015.

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ten führen. Um nicht – wie in der Fabel von Hase und Igel – stets empirischen Erkenntnissen hinterher zu hetzen, um sie mit theologischen Konzepten in Einklang zu bringen, ohne sie jemals wirklich einholen zu können, muss Praktische Theologie diese Grundlage der Grounded Theory bei ihrer Forschung akzeptieren. Sie kann traditionelle und theoretische Annahmen nur behutsam aufgreifen und muss sie zumindest methodisch in weiten Teilen des Forschungsprozesses ausblenden.

3 Forschungsprozess Mit dem Stichwort Forschungsprozess ist ein entscheidender Risikofaktor der Grounded-Theory-Methodologie für die Praktische Theologie eingeführt. Grounded Theory wird unterschätzt, wenn sie als Methodenkoffer betrachtet wird, aus dem eine forschende Person nach Gutdünken Elemente auswählen kann.16 Eine solche Anwendung riskiert, das Potenzial eines Grounded-TheoryProzesses zu unterschätzen und anstelle einer sorgfältig strukturierten empirischen Analyse eine willkürliche und oberflächliche Betrachtung der Wirklichkeit zu präsentieren. Grounded Theory ist ein iteratives und tentatives Verfahren mit methodischen Elementen, die aufeinander bezogen sind, aber jeweils dem Forschungsinteresse und -prozess angepasst werden müssen. So kann alleine ein mehrstufiges Kodierverfahren, wie es in je eigenen Ausprägungen bei Glaser oder Strauss eingeführt wurde, nicht ohne das theoretische Sampling und die Suche nach theoretischer und praktischer Sättigung der Datenerhebung zu einer dichten Analyse führen. Selbst bei sorgfältiger Beachtung einschlägiger Kodierregeln bleiben Ergebnisse oberflächlich, rein deskriptiv und letztlich irrelevant. Würde in der Praktischen Theologie nicht die Methodologie der Grounded Theory insgesamt aufgegriffen und entsprechend reflektiert in den Forschungsprozess eingebunden, entstünde das Risiko, dass die Ergebnisse der Praktischen Theologie hinter den Ansprüchen der Sozialwissenschaften zurückblieben und im schlimmsten Fall als bloßer Dilettantismus der Theologie abgetan werden. In der Abbildung 1 ist der komplexe Zusammenhang eines Grounded-TheoryProzesses abgebildet. Da der Prozess selbst dynamisch verläuft, muss eine solche Abbildung schematisch bleiben.

16 Vgl. Roy Suddaby, From the Editors: What Grounded Theory is Not, in: Academy of Management Journal 49 (2006), Heft 4, 633–642.

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4 Falsches Verständnis von Daten Eine der größten und entscheidenden Risiken besteht in einem falschen Verständnis von Daten und ihrer Sammlung. Eng mit dem Wirklichkeitsverständnis und der pragmatisch orientierten Heuristik der Grounded Theory ist das Verständnis von dem, was Daten genannt wird, verbunden. Beide Gründungsväter haben immer wieder betont: »all is data«.17 Alle Zusammenhänge und Elemente, die eine Konstellation kennzeichnen, sind als Daten mit jeweils unterschiedlicher Relevanz zu betrachten. Clarke hat zum Beispiel in ihrem Ansatz besonders auf nicht-menschliche Akteure und Objekte hingewiesen, die entscheidenden Einfluss auf soziale Konstellationen haben können.18 Theologie betreibt ihr Geschäft traditionell mit Hilfe von Texten, deren Rezeption und Analyse. Es kann naheliegen, dies auch zu tun, wenn Praktische Theologie mit der Grounded Theory zusammen betrieben wird. Wenn Praktische Theologie sich ausschließlich auf verbale Daten berufen würde, riskierte sie einen verengten Blick, der gegebenenfalls Wesentliches ausklammert. In diesem Zusammenhang sind auch Machtkonstellationen und Machtdiskurse, die Clarke in Anlehnung an Michel Foucault ebenfalls als wichtige Elemente einer Grounded-Theory-Forschung betrachtet, einzubeziehen.19 Alleine die Auswertung einer Umfrage oder von Interviewtranskripten riskiert eine kurzschlüssige Analyse, die gegebenenfalls eher blinde Flecken einer forschenden Person offenbart, als einen wirklichen Erkenntnisgewinn zu versprechen. Es können also zu wenige Arten von Daten gesammelt werden, aber ebenso groß ist die Gefahr, eine überbordende Datenmenge anzuhäufen. Schon eine übersichtliche Zahl von Daten genügt, um mit der Analyse zu beginnen und erste Schritte im theoretischen Sampling zu unternehmen. Ein problematisches Verfahren wäre die unreflektierte Sammlung von Daten in einem ersten Schritt, um sie nach erfolgter Sammlung auszuwerten. So entstehen sehr schnell unübersichtliche und nicht zu bewältigende Datenmengen, die zudem in der Gefahr stehen, stets dieselbe Erkenntnis zu reproduzieren. In der Grounded Theory wird durch den Schritt des maximalen Vergleichs das Sampling vorangetrieben. Es werden Kontraste zu den bereits gesammelten Daten gesucht und theoretisch 17 Franz Breuer, Arnulf Deppermann, Udo Kuckartz, Günter Mey, Katja Mruck & Jo Reichertz, All is data – Qualitative Forschung und ihre Daten, in: Günter Mey & Katja Mruck (Hrsg.), Qualitative Forschung. Analysen und Diskussionen – 10 Jahre Berliner Methodentreffen, Wiesbaden 2014, 261–290. 18 Vgl. Adele E. Clarke & Reiner Keller, Situationsanalyse. Grounded Theory nach dem Postmodern Turn (Interdisziplinäre Diskursforschung), Wiesbaden 2012, 29–34. 19 Clarke & Keller 2012, 92–101.

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Forschungsinteresse Forschungsfrage s mo Me amme r g ke Dia tzwer e N

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Situationsanalyse Soziale Arena Positions-Maps

Forschungsbericht

Forschungsinteresse Forschungsfrage

Abb. 1: Forschungsprozess in der Grounded Theory

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maximale Gegensätze konstruiert. Auch abwegige Differenzen werden daraufhin untersucht, ob sie zu Daten führen könnten, die noch nicht vorliegen. So kristallisiert sich Zug um Zug heraus, welche Daten, die von Interesse sind, noch nicht erhoben wurden. Erst nach diesem Erkenntnisschritt kann der Forschungsprozess in eine erneute Datensuche münden. Dabei werden gezielt interessierende Daten gesucht und bereits vorhandene Daten nicht erneut erhoben. So lässt sich der Gefahr einer ausufernden Datensammlung begegnen. Sollten sich die durch das theoretische Sampling gesuchten Daten in der Praxis nicht finden lassen, sind aus dem Fehlen dieser Daten analytische Schlüsse möglich. Forschungspraktisch kann es dazu kommen, dass der Umfang der Datenerhebung vor Beginn des Forschungsprozesses festgelegt wird. Oft ist dies im Zusammenhang einer Finanzierung von Projekten sogar erforderlich. Diese Bedingung erschwert zwar das theoretische Sampling, lässt aber dennoch Spielraum. Dann ist nach der Erhebung erster Daten ein intensives theoretisches Sampling erforderlich, um sich in der weiteren Datenerhebung auf Lücken im Datenbestand konzentrieren zu können. So kann etwa ein Interview so beeinflusst werden, dass Themen besprochen werden, die sich bislang nicht in den Daten fanden.

5 Rezeption der Daten durch die forschende Person In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass die Daten keineswegs ein Rohmaterial darstellen, das lediglich von der forschenden Person aufgesammelt werden muss. Alle Arten von Daten bedürfen der Rezeption durch die forschende Person. Sie durchlaufen dabei einen hermeneutischen Prozess, bei dem die Subjektivität der forschenden Person mit ihren jeweiligen heuristischen Inte­ ressen und ihren hermeneutischen Prinzipien die Datensammlung beeinflussen. Die Erhebung von Daten ist letztlich eine Re-Konstruktion der empirischen Wirklichkeit, die die forschende Person bei der Erarbeitung der Datenerhebung leistet.20 Dies mindert nicht deren Wert, sondern ist ein wichtiger Schritt, ohne die eine Analyse im Sinne der Grounded Theory nicht gelingen kann. Da subjektive Einflüsse bei der Datensammlung und deren Analyse nicht vermieden werden können, bedürfen sie der methodischen Reflexion. Franz Breuer hat

20 Vgl. Robert Thornberg & Kathy Charmaz, Grounded Theory and Theoretical Coding, in: Flick (Hrsg.) 2014, 153–169; Christoph Hohage, Kathy Charmaz’ konstruktivistische Erneuerung der Grounded Theory, in: Equit & Hohage (Hrsg.) 2016, 108–125.

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Verfahren entwickelt, dies im Rahmen der Grounded Theory zu leisten.21 Praktische Theologie muss sich ihrer Standpunktgebundenheit und der Subjektivität der forschenden praktischen Theologinnen und Theologen bewusst bleiben, sonst riskiert sie eine nomologische, objektivierende Tendenz, die gerade die Grounded Theory überwinden möchte und in der Sozialwissenschaft längst überwunden ist. Das persönliche Engagement ist forschenden Personen nicht fremd, erst recht nicht in der Praktischen Theologie, und kann bei bewusstem und reflektiertem Einsatz geradezu zu einer Quelle der Erkenntnis werden. Der für die Entwicklung der Chicago School so bedeutende Robert E. Park forderte seine Studierenden auf: »But one more thing is needful: first hand observation. Go and sit in the lounges of the luxury hotels and on the doorsteps of the flophouses; sit on the Gold Coast settees and on the slum shakedowns; sit in the Orchestra Hall and in the Star and Garter Burlesk. In short, gentlemen [sic], go get the seat of your pants dirty.«22

6 Die unreflektierte Nutzung der Software Die Gründungsväter der Grounded Theory haben ihre Analyseprozesse mithilfe von Karteikarten und gelben Klebezetteln durchgeführt. Später füllten Excel-Tabellen ganze Wände von Forschungsinstituten. Mittlerweile ist der Einsatz von spezieller Software für die Grounded Theory zur Selbstverständlichkeit geworden.23 Solche Software bietet eine Fülle von Möglichkeiten, die, richtig eingesetzt, die Forschung erheblich erleichtern. Die Computerprogramme beinhalten auch eine Reihe von automatisierten Verfahren zur Kodierung und 21 Vgl. Franz Breuer, Reflexive Grounded-Theory. Eine Einführung für die Forschungspraxis (Lehrbuch), Wiesbaden 2009; Franz Breuer, Katja Mruck & Wolff-Michael Roth, Subjectivity and Reflexivity. An Introduction [10 paragraphs], 2002, online verfügbar unter: http://nbnresolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs020393. 22 Jane Gilgun, The Intellectual Roots of Grounded Theory, in: Current Issues in Qualitative Research 1 (2010), Heft 1, 1–7, hier: 2. Dort zitiert nach: James C. McKinney, Constructive typology and social theory, New York 1966. 23 Vgl. Gabriele Molzberger & Christina Rautenstrauch, Computerunterstützte Datenanalyse in der qualitativen Weiterbildungsforschung. Erfahrungen mit der Software MAXqda 2 und ATLAS.ti, in: REPORT 28 (2005), Heft 2, 20–28; Zdeněk Konopásek, Das Denken mit ATLAS.ti sichtbar machen: Computergestützte qualitative Analyse als textuelle Praxis, in: Mey & Mruck (Hrsg.) 2011, 381–403; Susanne Friese, Grounded Theory computergestützt und umgesetzt mit ATLAS.ti, in: Equit & Hohage (Hrsg.) 2016, 483–507; dies., Qualitative data analysis with ATLAS.ti, Los Angeles 2019.

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Analyse. Zwar ist in der heutigen Zeit der Einsatz solcher Software zur Selbstverständlichkeit geworden, aber die Risiken einer unreflektierten Nutzung liegen auf der Hand. Eine automatisierte Kodierung führt nur in sehr wenigen Fällen zu brauchbaren Ergebnissen. Letztlich ist es der kreativen und abduktiven24 Anstrengung der forschenden Person geschuldet, einen Erkenntnisgewinn zu generieren. Dazu ist die Software nicht in der Lage. Es wäre ein Missverständnis zu glauben, schnell mit Hilfe eines Computerprogramms empirische Analysen vornehmen zu können. Der Computer ist ein Werkzeug zur Ordnung von Daten. Die eigentliche Analyse und der Schritt zum Erkenntnisgewinn braucht Zeit und muss von der forschenden Person selbst geleistet werden.

7 Datenvorrang und Analyse Ein ganz besonderes Risiko entsteht beim Versuch, die Grounded Theory zur Prüfung von theologisch gewonnenen Hypothesen einzusetzen oder traditionelle Annahmen zu bestätigen. Dies würde dem Ansatz der Grounded Theory diametral widersprechen, denn die Daten haben Vorrang vor aller Analyse und unabhängig von Vorannahmen. Schon durch die Bezeichnung ihrer Methode schließen Glaser und Strauss ein solches Vorgehen aus. Die Übersetzung des englischen Begriffspaares »Grounded Theory« gestaltet sich schwierig, weil mit dem englischen Begriff grammatikalisch bereits ein Prozess angesprochen wird.25 »Grounded« bezieht sich auf den Vorrang der Daten, ihrer Erhebung und Durchdringung sowie ihrer Würdigung in einem wiederholt zu durchlaufenden Prozess. Begründet wird die gesuchte Theorie mittlerer Reichweite nicht durch scharfsinnige theoretische Reflexion, sondern durch das tentative und iterative Betrachten der Daten. Der Begriff »Theory« bezieht sich zwar auf eine rationale Analyse, ist aber stets mit einer pragmatisch orientierten Zielsetzung verbunden. Es geht bei der »Theory« nicht um logisch deduzierte Erkenntnis, sondern um Durchdringung der Wirklichkeit um ihrer praktischen Anwendbarkeit wegen. Nicht umsonst ist die Grounded Theory zunächst in Pflegewissenschaften ent-

24 Vgl. Jo Reichertz, Abduction. The Logic of Discovery of Grounded Theory, in: Bryant & Charmaz (Hrsg.) 2011, 214–228; dies., Die Abduktion in der qualitativen Sozialforschung (Qualitative Sozialforschung; Bd. 13), 2. Auflage, Opladen 2013. 25 Vgl. Jörg Strübing, Grounded Theory. Zur sozialtheoretischen und epistemologischen Fundierung eines pragmatistischen Forschungsstils (Qualitative Sozialforschung), 3. Auflage, Wiesbaden 2014, 9–14.

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wickelt worden und hat dort erhebliche Bedeutung gewonnen.26 Praktische Theologie würde sich wiederum den Vorwurf des dilettantischen Missverständnisses aussetzen, würde sie diesen zentralen Umstand nicht berücksichtigen.

8 Resümee Wo Risiken und Nebenwirkungen beschrieben werden, müssen die Möglichkeiten und die positiven Hauptwirkungen überwiegen, um den Einsatz eines Medikamentes – oder eben der Grounded Theory – zu rechtfertigen. Grounded Theory ist ein etabliertes und gut erprobtes Verfahren der Sozialwissenschaften. Bei der richtigen Anwendung kann die praktische Theologie von den Möglichkeiten ausgereifter und pragmatisch orientierter qualitativer Forschung profitieren. Mit den traditionellen Instrumentarien fehlen der Theologie die wissenschaftlichen Möglichkeiten zur Beschreibung der Wirklichkeit, die sie immer als von Gott durchdrungen betrachtet. Wenn praktische Theologie der Forderung von »Gaudium et spes« entsprechen will, die »Zeichen der Zeit im Licht des Evangeliums«27 zu betrachten, kann die Grounded Theory eine hervorragende Methodologie sein, um die Zeichen der Zeit zu beschreiben, zu begreifen und zu analysieren. Gewiss darf die Theologie nicht völlig im heuristischen Verständnis der Grounded Theory aufgehen und so ihr eigenes Anliegen, die Durchdringung von Gottes Anwesenheit in der Wirklichkeit, außen vor lassen. Bei der Suche nach Gottesspuren kann die Grounded Theory ein hervorragender Weg sein, empirisch fundiert und mit wissenschaftlichem Anspruch Ergebnisse zu suchen. Aber sie kann nicht Elemente der Grounded Theory im Sinne eines Baukastenprinzips beliebig zusammenstellen und für ihre eigenen Zwecke instrumentalisieren. Bei einem solchen Verfahren würden die Risiken und Nebenwirkungen überwiegen und möglicherweise die Nutzeffekte der Grounded Theory für die Praktische Theologie in ihr Gegenteil verkehren.

26 Exemplarisch und mustergültig siehe: Kathy Charmaz, Good Days, Bad Days. The Self in Chronic Illness and Time, New Brunswick 1991. 27 Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Pastoralkonstitution »Gaudium et spes« über die Kirche in der Welt von heute vom 07.12.1965, Art. 4.

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Krisen Besondere Momente von Gefährdung und Entwicklung Helga Kohler-Spiegel

Die Szenen sind so zahlreich, die auftauchen, wenn von Krise gesprochen wird, dass es ein erster Zugang sein könnte, Sie an eigene Erfahrungen mit Krisen zu erinnern … Was als Krise erlebt und wie Krisen wahrgenommen werden, welche Reaktionen sie auslösen und welche Copingstrategien als sinnvoll angesehen werden, lernen Menschen in frühester Kindheit. Die primären Bezugspersonen sind auch Modell für Erleben und Umgang mit Krisen. Deshalb zu Beginn die Erinnerung an eigene Erfahrungen …

1 Begriff Auf der Basis des altgriechischen Wortes κρίνειν sind »Krisen« Situationen oder Phasen im Leben eines Menschen, in denen sich etwas neu entscheidet, unterscheidet, in denen das Leben eine entscheidende Wendung nehmen kann. Krisen sind Differenzerfahrungen: Es ändert sich etwas, und es steht zu erwarten, dass nachher nichts mehr so sein wird wie vorher. Krise und Kritik sind etymologisch miteinander verbunden, sie »stammen aus derselben sprachlichen Wurzel, und sie markieren Grenzen. Nur während wir in der Kritik Unterscheidungen vornehmen, werden wir in der Krise von Unterscheidungen getroffen.«1 Krise meint also auch eine Zeit der Gefährdung und des Gefährdetseins. In der Medizin bezeichnet Krise eine plötzliche Veränderung des Gesundheitszustandes ohne Ankündigung, ohne vorhergehende Erkrankung, auch wenn sich Krankheiten verstärken, nachlassen, in eine andere Krankheit umschlagen oder aufhören. Krise markiert also den entscheidenden Moment im Verlauf einer Krankheit, den Wendepunkt zum Leben oder zum Tod hin. Krise bezeichnet die sensibelste, gefährlichste Phase, ursprünglich bei Krankheiten, später auch im psychischen Sinn übernommen, sie benennt den Höhepunkt, in der tradi1 Konrad Paul Lissmann, Lob der Grenze. Kritik der politischen Unterscheidungskraft, Wien 2012, 8.

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tionellen chinesischen Medizin wird für »Gefahr und Chance« dasselbe Zeichen verwendet wie für Krise.

2 Entwicklungsaufgaben und Entwicklungskrisen 2.1 Entwicklung verstehen Angefragt vom vorbereitenden Ausschuss der Konferenz »Kindheit und Jugend« des Weißen Hauses, entwickelt Erik Erikson 1950 sein Modell der Entwicklung der gesunden Persönlichkeit.2 »Das menschliche Wachstum soll hier unter dem Gesichtspunkt der inneren und äußeren Konflikte dargestellt werden, welche die gesunde Persönlichkeit durchzustehen hat und aus denen sie immer wieder mit einem gestärkten Gefühl innerer Einheit, einem Zuwachs an Urteilskraft und der Fähigkeit hervorgeht, ihre Sache ›gut zu machen‹, und zwar gemäß den Standards derjenigen Umwelt, die für diesen Menschen bedeutsam ist.«3 Nach Erikson sind die einzelnen Lebensphasen von spezifischen Krisen gekennzeichnet. Robert Havighurst (1900–1991) nimmt dies auf und nennt für jeden Lebensabschnitt spezifische Entwicklungsaufgaben, die zu lösen sind. »Eine ›Entwicklungsaufgabe‹ ist eine Aufgabe, die in oder zumindest ungefähr zu einem bestimmten Lebensabschnitt des Individuums entsteht, deren erfolgreiche Bewältigung zu dessen Glück und zum Erfolg bei späteren Aufgaben führt, während das Misslingen zu Unglücklichsein, zu Missbilligung durch die Gesellschaft und zu Schwierigkeiten mit späteren Aufgaben führt.«4 Zentrales Merkmal der Entwicklungsaufgaben – im Anschluss an Erik Erikson – ist diese Interdependenz: Damit ist gemeint, dass die Bewältigung oder Nichtbewältigung einer Entwicklungsaufgabe einer früheren Stufe Auswirkungen auf die Lösung von Entwicklungsaufgaben späterer Stufen hat. Entwicklungsaufgaben hängen also zusammen. Manche von ihnen sind einmalig im Leben, manche treten wiederholt auf und sind immer wieder zu lösende Entwicklungs2 Vgl. Erik Erikson, Identität und Lebenszyklus. Drei Aufsätze, Frankfurt a. M. 1973, 55–122. 3 Erikson 1973, 56. 4 Robert J. Havighurst, Developmental Tasks and Education, 3. Auflage, Boston 1976, 2.

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aufgaben. Entwicklung ergibt sich aus der Diskrepanz zwischen dem jetzigen Entwicklungstand und einem erwünschten, aktiv vorweggenommenen Zustand. Entwicklung wird also verstanden als Resultat vergangener Ereignisse und zugleich aus vorweggenommenen künftigen Geschehnissen. 2.2 Wenn Entwicklungsaufgaben zum Problem werden Die Fähigkeit, Entwicklungsaufgaben »gut« zu lösen, hat ihre Wurzeln in den Erfahrungen am Beginn des Lebens. Um Urvertrauen und sichere Bindung zu verstehen, hilft das Still-Face-Experiment von Edward Tronick5. Innert zwei Minuten zeigt sich, wie das Kind reagiert, wenn die primäre Bezugsperson, zum Beispiel Mutter oder Vater, keine Reaktion auf das Baby zeigt: Das Kind wird misstrauisch und unruhig, und – je länger es dauert oder je häufiger diese Erfahrung gemacht wird – ängstlich und verzweifelt. »Still Face« meint übersetzt ein erstarrtes, bewegungsloses Gesicht. Gesehen und gehalten sein, sich verbunden wissen und Resonanz erleben ist für die Entwicklung des Menschen zentral. Deshalb sind Beziehungswunden auch tiefe Verletzungen, die Menschen erleben, wenn sie sich zurückgewiesen, abgelehnt, ausgeschlossen oder verachtet fühlen – wenn sie nicht gesehen werden. Häufig als Kränkung wahrgenommen, ist es eine Verletzung des Selbstwerts und des Selbstwertgefühls.6 Vieles lässt sich über Entwicklungsaufgaben in den verschiedenen Lebensabschnitten, über entwicklungsfördernde und entwicklungshemmende Aspekte nachdenken, auch für die besonderen Herausforderungen in der langen Phase des Erwachsenenlebens bis ins hohe Alter. Viele dieser Entwicklungsaufgaben kommen von außen auf den Menschen zu, verbunden mit persönlichen, sozialen und sozioökonomischen Bedingungen, manche sind Folgen des eigenen Tuns, häufig sind es Mischformen. Entwicklungsaufgaben sind zuerst Aufgaben, nicht Probleme. Werden Entwicklungsaufgaben aber nicht angegangen, wird die Beschäftigung und Auseinandersetzung mit ihnen verfehlt oder verneint, wenn Entwicklung stagniert und Veränderungen nicht integriert werden (können), dann werden Entwicklungsaufgaben häufig zum Problem. Dies ist über alle Lebensphasen, beim Baby und Kind ebenso wie bei jungen Eltern, in der Lebensmitte, am Ende der Erwerbsarbeit und im hohen Alter sichtbar: 5 Vgl. Edward Tronick, Still Face Experiment, online abrufbar unter: https://www.youtube.com/ watch?v=apzXGEbZht0 (Stand 30.11.2009; letzter Aufruf am 01.09.2021). 6 Vgl. Bärbel Wardetzki, Nimm’s bitte nicht persönlich. Der gelassene Umgang mit Kränkungen, München 2012.

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Entwicklungsaufgaben sind Herausforderungen. Sie zu verschleppen, auszublenden, zu ignorieren und dergleichen mehr, lässt sie zum Problem werden.

3 Wenn das Leben zu sehr fordert … Nicht immer ist das Leben freundlich, manchmal häufen und verdichten sich diese Entwicklungsaufgaben so sehr, dass es (fast) zu viel wird, sie zu bewältigen. Häufig aber sind Krisen verursacht durch »Schläge von außen«, die so heftig sind, dass sie mit den gewohnten Coping- und Verarbeitungsstrategien nur schwer oder nicht bewältigen kann. 3.1 Trauma Auch der Begriff »Trauma« stammt aus dem Altgriechischen und bedeutet übersetzt Wunde. Medizinisch meint der Begriff Trauma eine Schädigung, Verletzung oder Verwundung lebenden Gewebes, die durch einen Schlag oder eine andere Gewalteinwirkung von außen entsteht. Übertragen auf die Psyche versteht man unter Psychotrauma ein (kurzes oder länger andauerndes, auch wiederholtes) dramatisches Ereignis von außen, das beim betroffenen Menschen eine massive, leidvolle seelische Erschütterung nach sich zieht, dass seine Verarbeitungsmöglichkeiten überflutet und ausschaltet. Von Menschen verursachte Traumen (»man-made-disaster«) sind deutlich schwerer zu verarbeiten als »nature-madedisaster«, also Katastrophen und Unfalltraumen.7 3.2 Traumaverursachte Veränderungen im Gehirn »Gerät die Amygdala in Übererregung, blockiert der Hippocampus. Und dann ist kein situationsangemessenes Empfinden und Verhalten mehr möglich.«8 Menschen haben ein blitzartig funktionierendes Notprogramm für Extremsituationen zur Verfügung: »fight or flight or freeze«. In Bruchteilen von Sekunden wird abgeschätzt, ob Kampf möglich oder Flucht beziehungsweise Rückzug notwendig ist. Wenn beides nicht geht, müssen Körper und Seele auf das dritte Überlebensprogramm umschalten: Erstarrung. Im Gehirn kann dieses Notprogramm des Menschen kurz so zusammengefasst werden: Die Übererregung 7 Vgl. Helga Kohler-Spiegel, Traumatisierte Kinder in der Schule. Verstehen – auffangen – stabilisieren, Ostfildern 2017. 8 Dorothea Weinberg, Verletzte Kinderseele. Was Eltern traumatisierter Kinder wissen müssen und wie sie richtig reagieren, Stuttgart 2015, 25.

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in der Amygdala mit den Affekten von Panik, Todesangst oder Tötungslust führt zur Blockade des Hippocampus; archaische Kampf-, Flucht- oder Täuschungsreaktionen übernehmen die Steuerung. Wenn der Hippocampus durch Hochstresserleben blockiert ist, ist ein Mensch weder durch Zureden noch durch Drohungen erreichbar. Erst wenn der Hippocampus wieder aktiv wird, kann die Person beziehungsweise ihre Vernunft wieder die Steuerung übernehmen. Diese wird aber nur aktiv, wenn die Amygdala sich wieder beruhigt – und diese kann sich nur beruhigen, wenn sie die Situation nicht mehr als gefährlich oder bedrohlich bewertet.9 Also braucht es zuerst Beruhigung, Sicherheit und manchmal auch Schutz.10 Zahlreiche Traumatisierungen führen nicht zu länger anhaltenden Verletzungen der Psyche. Wenn aber keine Beruhigung, keine Beantwortung eines Menschen in seiner Not und Panik und Ohnmacht geschieht, wenn niemand dem Kind oder Erwachsenen im Schock aus der Erstarrung hilft, wenn niemand Sicherheit gibt, dann bleibt die Psyche im Notprogramm, im Überleben. Dann ist fachliche Hilfe notwendig, damit es nicht zu einer »Posttraumatischen Belastungsstörung«11 kommt. 3.3 Und bei Kindern … All das kann Kinder betreffen. »Eine traumatische Situation bedeutet für ein Kind eine extreme, existentielle Bedrohung. Dabei kann das Kind entweder sich selbst sowie seine körperliche und seelische Einheit oder andere Menschen als bedroht erleben. Entscheidend ist, dass das Kind das Gefühl hat, ohnmächtig zu sein und nichts tun zu können, um sich oder den anderen aus der extremen Not herauszuhelfen. Dies ist die eigentliche ›Traumafalle‹: Es gibt bei aller Bedrohung keinen Ausweg. Daraus entsteht ein Gefühl extremer bedrohlicher Hilflosigkeit. Das sich gerade erst entwickelnde Selbstbewusstsein bzw. Selbstvertrauen und das Vertrauen in die Welt (Urvertrauen) werden durch eine derartige Erfahrung nachhaltig erschüttert oder gehen verloren.«12 9 Vgl. Helga Kohler-Spiegel, Traumatisierung bei Kindern. Wie man diese wahrnimmt und hilfreich begleitet, in: Katechetische Blätter 141 (2016), Heft 5, 372–375. 10 Lydia Hantke & Hans-Joachim Görges, Handbuch Traumakompetenz. Basiswissen für Therapie, Beratung und Pädagogik, Paderborn 2012, 38 u. ö. 11 Vgl. Alexander Friedmann, Peter Hofmann, Brigitte Lueger-Schuster, Maria Steinbauer & David Vyssoki, Psychotrauma. Die Posttraumatische Belastungsstörung, Berlin 2004, 11 ff. 12 Andreas Krüger, Erste Hilfe für traumatisierte Kinder, Ostfildern 2015, 19.

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Das bedeutet, dass für Erwachsene scheinbar unbedeutende Ereignisse für ein Kind traumatisch erlebt werden können, zum Beispiel die Mama im Kaufhaus längere Zeit zu verlieren oder in einen dunklen Keller gesperrt werden oder auch notwendige ärztliche Behandlungen, die mit ›Gewalt‹ (zum Beispiel Festhalten) verbunden sind. Angst ohne Verbindung zu einem sichernden Menschen, keine Hilfe von außen und selbst keine Möglichkeit, die Situation zu verändern – das meint Bedrohung ohne Chance auf die beiden sonst möglichen Notfallreaktionen, nämlich Kampf oder Flucht. Wenn beides nicht geht, müssen Körper und Seele auch bei Kindern auf das dritte Programm Erstarrung umschalten. Mit allen Konsequenzen. Zahlreiche Traumatisierungen führen nicht zu einer länger anhaltenden Belastung, weil jemand intuitiv oder bewusst das Kind oder den Erwachsenen in seiner Überforderung und Erstarrung wahrnimmt, zeitnah beruhigt durch Nähe und Sicherheit, von Herz zu Herz. Dann kann sich die Übererregung beruhigen, die Ohnmacht lösen und die Botschaft kann ankommen: »Es ist sicher, du bist sicher, ich bin da.«

4 So vom Menschen denken … – zur Anthropologie In der jüdischen und der christlichen Bibel ist diese Botschaft im Gottesnamen zentral: »Ich bin da«. Auch die Botschaft: ›Es ist sicher, du bist sicher.‹ beschäftigt die biblischen Erzählungen. Der Schöpfungshymnus (Gen 1) besingt – in einer Zeit von Krieg und Chaos und Gewalt und Deportation – die Welt als geordnet und gut. Jedes Lebewesen hat darin seinen Platz, der Mensch ist nicht des Menschen Feind, sondern als Mann und Frau gemeinsam Bild, Abbild Gottes mit besonderer Verantwortung für die Lebewesen. Das Ziel der Schöpfung, dieses wunderbaren »Gartens« Erde, ist der Schabbat, das genießende Ruhen, alle Lebewesen im Einklang mit allen – Schalom. 4.1 Einen guten Platz haben Die Welt wäre so schön, wenn nicht … Im Mythos des Anfangs Gen 2 wird der Heilszustand als »Paradies« gezeichnet, als Garten, beide Begriffe gehen etymologisch auf umfangen, umgürten zurück, und bezeichnen einen Ort, an dem der Mensch sicher und heil ist. Am Beginn steht: einen sicheren Platz haben, stabile Beziehungen, gute Versorgung – entwicklungspsychologisch ist diese Erfahrungen am Beginn des Lebens notwendig. Dieser Zustand wird durch die Krisen

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»Vertreibung« beendet, der Mensch, so bebildert der Mythos, mit der Fähigkeit zum Denken und Erkennen, zum Entscheiden und Handeln, ist hineingeworfen in eine Welt von Leiden und Begehren, von Polaritäten, Widersprüchen und Konflikten. Befreit aus primären Abhängigkeiten, muss der Mensch seinen Platz selbst definieren, dies bringt den Menschen in Konkurrenz zu anderen, biblisch auch zu Gott selbst. Seitdem ist der Mensch nicht einfach glücklich, sondern muss sein Glück suchen. Seitdem gehört die Ambivalenz von Glück und Leiden, von Freude und Schmerz, von Schuld und Versöhnung zum Leben des Menschen. 4.2 Weniger Angst haben Für den Juden Jesus ist dieses Menschenbild der Tora klar: Der Mensch hat die Fähigkeit und die Möglichkeit zum Guten wie zum Bösen. Er kann wie Kain und Abel in Gewalt verharren, er kann aber auch wie Esau und Jakob zur Versöhnung finden. Und: Der Mensch hat zugleich, so lebt Jesus vor, mit der Fähigkeit zum Bösen auch die Fähigkeit, diese Möglichkeit nicht zu leben. Der Mensch ist – in der Überlieferung bei Matthäus – eingeladen, so vollkommen zu sein wie der Vater im Himmel. Klingt verrückt – ist aber so: »Seid also vollkommen, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist« (Mt 5,48 mit Bezug auf Lev 19,2). Dies ist »Nachfolge«: Menschen sind eingeladen zu handeln, wie es von Gott geglaubt wird. Zugleich gilt die Zusage Gottes, geliebt, erwählt, begleitet zu sein. Diese Zusage Gottes ist im Namen Gottes sichtbar: JHWH – »Ich bin, der/die ich bin« (Ex 3,14) und: »Ich habe das Elend meines Volkes in Ägypten gesehen, und ihre laute Klage über ihre Antreiber habe ich gehört. Ich kenne ihr Leid …« (Ex 3,7). Diese Zusage der Präsenz und Zuwendung Gottes steht auch am Beginn und am Ende des Weges Jesu: Bei Jesu Geburt verkünden Engel die sichtbare Seite Gottes: »Friede den Menschen. Fürchtet euch nicht«, am Grab nach Jesu Tod verkünden Engel: »Fürchtet euch nicht«, die ersten Worte des Auferstandenen an die Jüngerinnen und Jünger lauten: »Friede den Menschen. Fürchtet euch nicht«. Dies ist die Botschaft von Weihnachten und von Ostern. Der Gott der Bibel verspricht den Menschen kein einfaches und unkompliziertes, auch kein leidfreies Leben, aber ein begleitetes Leben. 4.3 Konkretes Tun Dies mündet – christlich gesprochen – ins Handeln, Gottesliebe ist nicht ohne Menschenliebe zu haben. »Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deiner Kraft und all deinen Gedanken, und: Deinen Nächsten sollst du lieben wie dich selbst« (Lk 10, 27 mit Bezug zu 80

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Dtn 6,5 u. a.). Oder noch klarer, wie es im Ersten Johannesbrief überliefert ist: »Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, kann Gott nicht lieben, den er nicht sieht« (1 Joh 4,20, ungegenderte Übersetzung). Entscheidend ist, für die Person da zu sein, die mich gerade jetzt braucht, dass ich demjenigen zum Nächsten werde – überliefert in der Beispielerzählung vom barmherzigen Samariter (Lk 10,25–37). Direkt im Anschluss ist der Besuch Jesu bei Martha und Maria erzählt (Lk 10,38–42). Diese beiden Stellen gehören zusammen: Dem Gesetzeslehrer, der durch intellektuelles Fragen und Reden sich davor schützen wollte, sich wirklich einzulassen, der zwar die Weisungen kennt, aber nicht lebt, ihm ist gesagt: »Handle danach! Mach dir die Hände schmutzig …« Martha hingegen wird gesagt: »Es ist genug, setz dich hin …« Im Hier und Jetzt muss entschieden werden, was jeweils richtig ist zu tun. 4.4 Die Ruach geht weiter … Wie am Beginn der Schöpfung Gott dem Menschen den Lebensatem einhaucht, so haucht jetzt Jesus den Jüngerinnen und Jüngern seinen Geist ein. Das ist Pfingsten im Johannesevangelium, es ist die Geistsendung, die hier überliefert ist, der Sendungstext ist prägnant: »Friede sei mit euch! Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch. Nachdem er das gesagt hatte, hauchte er sie an und sagte zu ihnen: Empfangt den Heiligen Geist! Denen ihr die Sünden erlasst, denen sind sie erlassen; denen ihr sie behaltet, sind sie behalten.« (Joh 20,21–23) Oder in einer älteren Übersetzung: »Wem ihr die Sünden vergebt, dem sind sie vergeben; wem ihr die Vergebung verweigert, dem ist sie verweigert« (Vers 23). Die Botschaft ist einfach und klar. »Wem ihr die Sünden vergebt, dem sind sie vergeben; wem ihr nicht vergebt, dem ist nicht vergeben.« Hier ist vom »Wir« der Jüngerinnen und Jünger, von der ganzen Gruppe derer die Rede, die zu Jesus gehören: »Wem ihr vergebet, dem ist vergeben.« Im Geist Gottes handeln Menschen wie Jesus und damit handeln sie wie Gott selbst: Im Geist Gottes zu handeln, so überliefert das Johannesevangelium, bedeutet: Menschen vergeben einander, wenden sich einander zu, reichen einander die Hand – oder sie tun es nicht. Kein Wenn, kein Aber, keine Einschränkungen, keine Erklärungen, keine Bedingungen, keine Differenzierungen.

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5 Intervention »Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi. Und es gibt nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in ihren Herzen seinen Widerhall fände.«13 Christlich handeln bedeutet also, immer wieder neu auf den Menschen zu schauen – und den Menschen in Freude und Leid, in schönen und schweren Erfahrungen nicht alleine zu lassen, sondern mit den Menschen, an der Seite der Menschen alles Menschliche wahrnehmen, ernstnehmen und benennen. Dann können mit dem, was sichtbar wurde, was wahr- und ernstgenommen wurde, nächste Schritte überlegt, entwickelt und umgesetzt werden. Im Umgang mit Krisen greifen Menschen zuerst auf ihre erprobten und vertrauten Verarbeitungs- und Bewältigungsmuster zurück, um die Situation zu gestalten, um ihr nicht ausgeliefert zu sein. Wenn diese erprobten Strategien nicht zum Erfolg führen, werden weitere Versuche übernommen – unter Erweiterung der bekannten Verarbeitungsmuster, fachlich wird dies »Mehr desselben« genannt. Menschen greifen auf möglichst viele ihnen zugängliche Formen von Kampf (fight) oder Rückzug (flight) zurück. Führen auch diese Schritte nicht zur Bewältigung der Situation und zur Veränderung der Krise, können Rat- und Orientierungslosigkeit, ziellose hektische Aktivitäten oder (innere) Lähmung und Resignation die Person erfassen. Dann ist häufig aber das Realisieren und der Umgang mit der Trauer (und anderen Gefühlen in der Krise) behindert. 5.1 Krisen beinhalten Trauerprozesse Denn Krisen beinhalten – wie alle Veränderungsprozesse – auch Phasen von Trauer. Arbeit mit Menschen in Krisen bedeutet immer auch Trauerprozesse zu begleiten. William Worden14 spricht von vier Aufgaben innerhalb eines Trauerprozesses. Sie müssen im Prozess der Trauer gelöst werden, diese gelten nicht nur bei Abschieden und Tod, sondern in den meisten Veränderungsprozessen, vor allem dann, wenn die Veränderung nicht gewollt ist. 13 Zweites Vatikanisches Konzil, Pastoralkonstitution »Gaudium et spes« über die Kirche in der Welt von heute vom 07.12.1965, Art. 1. 14 Vgl. William Worden, Beratung und Therapie in Trauerfällen. Ein Handbuch, 5. Auflage, Göttingen 2017.

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1. Die Wirklichkeit des Todes und des Verlusts begreifen: Es ist eine langwierige und häufig auch emotional schwere Aufgabe, die Veränderung in ihrer Endgültigkeit zu realisieren. Das direkte »Be-greifen« und Sehen, dass es so ist, wie es ist, und der Austausch mit anderen Menschen kann diese Aufgabe unterstützen. 2. Die Vielfalt der Gefühle durchleben: Auch bei Erfahrungen in Krisen liegt eine Aufgabe darin, sich im Lauf des Krisenweges Stück für Stück die vielen unterschiedlichen Gefühle zuzugestehen – auch dann, wenn es sich um unerwartete und vielleicht auch unangenehme Gefühle handelt. Auch in Krisen können Wut und Trauer und Scham und Überforderung und Angst und Zweifel und vieles mehr auftauchen. 3. Veränderungen in der Umwelt wahrnehmen und gestalten: Krisen verändern nicht nur die betroffene Person beziehungsweise Personen, sondern auch das Umfeld. Veränderungen aufgrund einer Krise können auch den Bezug zu Familienmitgliedern oder zur Familie insgesamt, sie können die Verbindung zu Freundinnen und Freunden verändern, auch der Arbeitsplatz kann verändert erlebt werden. Diese Veränderungen können zusätzlich belasten, traurig machen … 4. Der oder dem Toten einen neuen Platz zuweisen: Meist wird spürbar, dass die akute Krisenzeit zum Abschluss kommt, wenn der Alltag wieder etwas entlastet ist und als ruhiger empfunden wird, wenn das Erleben wieder klarer und die eigene Kraft wieder stabiler zugänglich wird. Im Erzählen wird allmählich begonnen, von der Krise in der Vergangenheitsform zu reden, für Momente kommt sprachlich »Das war mühsam, da hatte ich Angst …« in die Narration. Das Erleben im Hier und Jetzt und der Blick in die Zukunft kann wieder freier werden, die Erfahrung der Krise bleibt als Erinnerung. Damit dieser Prozess möglich ist, braucht es den Mut, die Trauer zu sehen, und mögliche Schritte zur Veränderung. 5.2 KRISE als Krisenintervention Die Anfangsbuchstaben des Wortes »KRISE« können helfen, in Krisensituationen nicht in Lähmung zu kommen, sie geben einen ersten Leitfaden für sich selbst und für die Begleitung:15 Kontakt Rettungsanker Information Suchen Entscheiden 15 Vgl. Harald Haider, Psychische Probleme von Kindern und Jugendlichen. Wahrnehmen – verstehen – helfen, Linz 2008, v. a.: 7–34.

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Kontakt aufnehmen und Beziehung aufbauen: In Krisen, in schwierigen Situationen ist es ein erstes, Kontakt mit mir selbst und mit anderen aufzubauen. Bei den Sicherheitsinformationen auf Flugreisen heißt es vor dem Start: »Falls in einer Notsituation der Luftdruck in der Kabine sinkt, fallen Sauerstoffmasken aus den Fächern über Ihnen. Legen Sie zuerst Ihre Maske an, bevor Sie mitreisenden Personen helfen.« Es ist immer wieder zu erinnern: Kontakt zu mir selbst, vielleicht ein »Körperanker«, ein kurzes Drücken der eigenen Hand, der Finger, ein Rubbeln an den Ohren, etwas, das den Kontakt zu mir selbst herstellt. Dann ist es gut, Kontakt mit anderen aufzunehmen und in Beziehung zu treten. Rettungsanker anbieten: Ein »innerer Rettungsanker« beschreibt die Zuversicht, diese Kraft, auch wenn ich noch nicht weiß, was genau zu tun und was zu tun nicht sinnvoll ist. Innere Zuversicht ist notwendig, um die Kraft zu haben, Krisen zu bestehen und Krisen zu begleiten, besonders da ja die Dauer von Krisen im nicht-medizinischen Bereich zeitlich schwer einzuschätzen ist. Also, bevor es um das Handeln in Krisen geht: zuerst Kontakt aufbauen und den inneren Rettungsanker, die Zuversicht in mir, aktivieren, ohne schon zu wissen, was genau auf mich zukommt, aber mir gewiss zu bleiben, dass ich beziehungsweise wir Schritt für Schritt hindurchgehen werden. Informationen zusammentragen: Und dann braucht es natürlich den Austausch, das Reden. Erzählen und erzählen lassen, sich alles beziehungsweise vieles von der Seele reden. Die begleitende Person ist im Zuhören, sie hört empathisch zu, sie nimmt die betroffene Person in Krise wahr, sie nimmt die Situation und das Erleben der betroffenen Person ernst, sie gibt emotionale Entlastung, sie trägt durch gezielte Fragen zu Klarheit und Strukturierung bei, sie behält die Zuversicht, dass es Handlungs- und Lösungsmöglichkeiten geben wird, dass es – im Bild gesprochen – »in diesem dunklen Raum der Krise eine Tür geben wird, auch wenn sie zeitweise nicht sichtbar ist«. Sie hilft, dass etwas mehr verständlich wird, was die Krise genau ausmacht, wo die schwierigsten Herausforderungen sowie die Ängste, die Überforderung und anderes liegen. Suchen von Ressourcen, Alternativen und Zukunftsperspektiven: Dieser Schritt ist bedeutsam. Es geht jetzt darum, (meist kleine) Schritte in Richtung neue Handlungsmöglichkeiten, hoffnungsvollere Perspektiven und förderliche Problemlösungsstrategien zu überlegen und zu entwickeln. Diese Schritte müssen – selbstverständlich – zur betroffenen Person passen und von dieser als hilfreich und möglich empfunden werden. Techniken zur Unterstützung dieses Schrittes sind zum Beispiel zirkuläre Fragen, sich in Szenen probehalber Lösungsvarianten durchspielen, Menschen einbeziehen, die Teil der Lösung sein könnten, Zeitreise – wenn alles überstanden ist. 84

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Entscheiden: Erst jetzt geht es darum, konkret zu entscheiden: Welcher nächste Schritt macht jetzt Sinn? Was kann ich jetzt ganz konkret tun? Und – dabei darf nicht vergessen werden: »Tun« kann alle aktiven Handlungen umfassen, Tun kann aber auch bedeuten, etwas nicht zu tun, zu warten, etwas loszulassen. Expert*in für die eigene Situation bleibt immer die betroffene Person selbst.

6 Schluss Krisen sind vielfältig und schillernd, wann immer Aufgaben oder Fragen schwierig werden, wird das Wort Krise angefügt. So wird die Herausforderung, als Gesellschaft mit Menschen mit Fluchterfahrungen zur Flüchtlingskrise, oder die Herausforderung, in einer Paarbeziehung sich immer wieder neu aufeinander einzulassen, zur Beziehungskrise, Lebensfragen können zur Sinnkrise werden, und Entwicklungsaufgaben, die Menschen im Verlauf des Lebens bewältigen müssen, werden zu Entwicklungskrisen, wenn sie sich diesen nicht stellen. Die Auseinandersetzung mit Krisen ist ein zentral christliches Anliegen, ausgerichtet an »Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute«, soll es nichts Menschliches geben, das nicht im Herzen von Christinnen und Christen seinen Widerhall findet. Denn: Gemeinsam16  »Vergesset nicht Freunde wir reisen gemeinsam  besteigen Berge pflücken Himbeeren lassen uns tragen von den vier Winden  Vergesset nicht es ist unsre gemeinsame Welt die ungeteilte auch die geteilte 16 Rose Ausländer, Im Atemhaus wohnen. Gedichte, Frankfurt a. M. 1981, 111.

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die uns aufblühen läßt die uns vernichtet diese zerrissene ungeteilte Erde auf der wir gemeinsam reisen«

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Wer wagt, gewinnt!? Professionelles Handeln zwischen Mut und psychologischer Sicherheit Martin Kempen

»Attempto!« (Ich wag’s!) – so lautete der Wahlspruch von Graf Eberhard im Barte. Er wird in der inoffiziellen Landeshymne Württembergs als der reichste unter den Fürsten besungen und steht für viele Errungenschaften während seiner Regentschaft. So gründete er beispielsweise 1477 die Universität Tübingen, deren Motto auch heute noch »Attempto!« lautet. Diese Popularität Graf Eberhards darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sein Selbstverständnis als Landesherr durch eine zutiefst antijüdische Einstellung geprägt war. Eine schillernde und gegensätzliche Faktenlage, die sich einer eindeutigen Interpretation und eines einfachen Urteils entzieht, findet sich nicht nur mit Blick auf die Biografie Eberhards wieder, sondern ist auch ein Wesensmerkmal unserer Welt von heute. Im folgenden Beitrag wird zunächst die Bedeutung des Wagnisses in der Pastoral entfaltet, der Mut zum Wagnis und psychologische Sicherheit im Team/in der Organisation in ein gemeinsames Verhältnis gesetzt, um schließlich praktische Implikationen daraus abzuleiten. Diese geben Antwort auf die Frage, wie es gelingen kann, dass innerhalb der verfassten Kirche und darüber hinaus immer mehr Menschen wie einst Eberhard im Barte sagen können: »Ich wag’s!«

1 Prognostische Unschärfen und ihre Implikationen Volatilität. Ungewissheit. Komplexität. Ambiguität. Ursprünglich stammen diese vier Stichworte und ihr Akronym VUCA aus einer US-amerikanischen Militärakademie zur Beschreibung eines veränderten Weltgefüges nach dem Ende des Kalten Krieges. Doch mittlerweile werden diese Begriffe vor allem im Kontext der Arbeitswelt immer wieder herangezogen, um ein Marktumfeld zu beschreiben, mit dem sich Unternehmen und Führungskräfte zunehmend konfrontiert sehen. Volatilität: Die Geschwindigkeit, mit der sich Dinge verändern, ist enorm. Umbrüche können abrupt, unstetig und schnell schwankend sein, weshalb sie kaum vorhersagbar sind. Wer wagt, gewinnt!?

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Unsicherheit: Aufgrund des dynamischen Zusammenspiels unterschiedlichster Einflussfaktoren sind Ereignisse auch auf einer statistischen Basis kaum berechenbar. Prognosen sind kaum möglich. Komplexität: Eine Situation erweist sich als umso komplexer, je mehr zusammenhängende Faktoren und Einflussgrößen zu berücksichtigen sind, um jene adäquat zu beschreiben. Diese stehen in einem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis, sodass einfache kausale Erklärungen nicht mehr ausreichen. Ambiguität: Sachverhalte erweisen sich oftmals als unklar, doppeldeutig oder sogar widersprüchlich. Klare Schlussfolgerungerungen lassen sich dann nicht mehr ziehen. Situationen verweigern eine eindeutige Interpretation. Diese vier Phänomene beschreiben auch die Situation einer Kirche in der Welt von heute, in der nichts bleibt, wie es war, und auch niemand so recht weiß, was kommen wird. Das Akronym VUCA ist eine zeitgenössische Beschreibung für ein Phänomen, das Rahner die »prognostische Unschärfebedingung«1 nannte. Es durchkreuzt jedes Planen und Steuern in die Ungewissheit einer offenen Zukunft hinein. Doch im Unterschied zu einem Wirtschaftsunternehmen weiß »die Kirche […], daß das Unerwartbare und Unberechenbare ihrer eigenen Geschichte nicht nur die von außen an sie herankommende, unübersehbare Situation ist […]. Die Kirche weiß, daß in ihr eigenes innerstes Wesen der Geist Gottes eingestiftet ist, der lebendige Geist, der jetzt noch waltet und treibt, der sich also nie adäquat schon übersetzt und in die Verfügung der Kirche gegeben hat durch das, was wir Amt und Prinzipien, Sakramente und Lehre nennen.«2 Es ist dieser Geist Gottes der jeglichen Planungsbedürfnissen widerspricht, der quer zu allen Strukturen und Machbarkeitsfantasien weht, wo und wie er will. Die Unverfügbarkeit des Geistes Gottes kann unbequem und verstörend sein. Doch es ist genau dieser Geist, »der den Menschen und auch die Kirche selbst führt, wohin zu gehen sie nicht geplant haben, ins immer Neue und Unbekannte«3. Das Zweite Vatikanische Konzil bestätigt mit der dogmatischen Konstitution »Lumen gentium« diesen pneumatologischen und damit den innerlich freien und offenen Charakter der Kirche. 1

Karl Rahner, Die Frage nach der Zukunft, in: ders., Schriften zur Theologie, Bd. 9, Einsiedeln 1970, 519–540, hier: 531 Anm. 10. 2 Karl Rahner, Löscht den Geist nicht aus, in: ders., Schriften zur Theologie, Bd. 7, Einsiedeln 1966, 77–90, hier: 79. 3 Rahner 1966, 79.

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»Das ganze institutionelle Gefüge der Kirche, der ganze Apparat hat nur Sinn in Abhängigkeit vom und in Funktion zum Wirken des Geistes (LG 8). […] Im Innersten setzt der Geist Gottes an. Und Kirche ist erst dort voll gegeben, wo der Geist Gottes wirkt (vgl. LG 14). Kirche ist damit auch eine offene Größe. Denn der Geist bewirkt in der Geschichte der Kirche Ereignisse, die man nicht vorhersehen, planen oder ableiten kann.«4 Die Theologie ihrerseits radikalisiert diese prinzipielle Unverfügbarkeit innerweltlicher Zukunft, die sich jeder Planbarkeit und Machbarkeit entzieht, insofern in ihr die absolute Zukunft vermittelt ist. So verweist Rahner auf die Einheit in Unterschiedenheit von absoluter und innerweltlicher Zukunft, in der sich christliche Existenz ereignet. Theologie ist ihrem Auftrag nach docta ignorantia futuri, nicht nur für die absolute Zukunft, sondern auch für die innerweltliche Zukunft. »Docta ignorantia futuri ist von vornherein das eigentliche Thema des Theologen, das er gelegen oder ungelegen, gehört oder ungehört vortragen muß.«5 Zu den Kernaufgaben von Theologinnen und Theologen im interdisziplinären Diskurs gehören vor diesem Hintergrund die bleibende Offenheit der Frage nach der Zukunft stark zu machen, sich mit ganzer Entschlossenheit auf das Ungeplante einzulassen sowie die Überzeugung zu teilen, »daß das Wagnis ins Offene nicht ein trüber Rest von Irrationalismus, der langsam ausgeräumt wird, sondern ein bleibendes Existential und ein Moment an der Würde der Freiheit des Menschen ist«6. Theologisch, ekklesiologisch und auch soziologisch gibt es also genug Gründe, die prognostischen Unschärfen anzuerkennen und die docta ignorantia futuri hochzuhalten. Weder diese Erkenntnis noch der dazugehörende Wille, daraus praktische Implikationen abzuleiten, sind neu. Doch in der Umsetzung scheint die entfesselnde Kraft zu fehlen. Wie oft finden Fortbildungen zu und mit innovativen Methoden statt, die – zurück im pastoralen Alltag – in lauter organisatorischen Aufgaben dennoch untergehen? Wie oft werden kirchlichen Mitarbeitenden Steine in den Weg gelegt, weil sie sich anders verhalten, als es die Erwartungen an ihre Rolle verlangen? Wie oft werden engagierte und motivierte Menschen erst gar nicht wahrgenommen, weil ihre Talente und Visionen nicht in die typischen Tätigkeitsfelder für Ehrenamtliche hineinpassen? Und wie oft klammern sich die Mächtigen doch an ihre Macht, anstatt es dem Geist Gottes leichter zu machen, durch allzu menschliche Strukturen, Hierarchien 4 Siegfried Wiedenhofer, Ekklesiologie, in: Theodor Schneider (Hrsg.), Handbuch der Dogmatik, Bd. 2, Düsseldorf 2009, 47–154, hier: 96. 5 Rahner 1970, 519. 6 Rahner 1970, 536.

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und Ordnungen zu wehen? Kurzum: Wie oft verbleiben wir dann doch ganz (un-)bewusst in unseren gewohnten Denk- und Handlungsmustern, weil sie uns vermeintliche Sicherheit suggerieren? Rahner fordert bereits 1962 etwas ganz anderes von uns: »Wir leben in einer Zeit, wo es einfach notwendig ist, im Mut zum Neuen und Unerprobten bis zur äußersten Grenze zu gehen, bis dorthin, wo für eine christliche Lehre und ein christliches Gewissen eindeutig und indiskutabel eine Möglichkeit, noch weiter zu gehen, einfach nicht mehr sichtbar ist. Der einzig heute im praktischen Leben der Kirche erlaubte Tutiorismus ist der Tutiorismus des Wagnisses. Wir dürfen heute eigentlich nicht bei der Lösung von echten Problemen fragen: Wie weit muß ich gehen, weil es einfach von der Situation erzwungen wird, wenigstens so weit zu gehen, sondern wir müßten fragen: Wie weit darf man unter Ausnützung aller theologischen und pastoralen Möglichkeiten gehen, weil die Lage des Reiches Gottes sicher so ist, daß wir das Äußerste wagen müssen, um so zu bestehen, wie Gott es von uns verlangt.«7 Diese Aussage Rahners hat auch 60 Jahre später nichts an Aktualität eingebüßt – ganz im Gegenteil. Es braucht im kirchlichen Leben den Mut zum Wagnis mehr denn je. Es braucht den Mut, bis an das Äußerste zu gehen; den Mut, bis an die Grenzen zu gelangen, die erst erfahrbar werden, wenn sie überschritten oder zumindest berührt wurden, und selbst dann werden wir feststellen, dass viele Grenzen erweiterbar sind. Es braucht im kirchlichen Leben den Mut, Neues zu erproben, aus den Fehlern zu lernen und anders weiterzumachen. Es braucht individuellen Mut und psychologische Sicherheit, denn beides bedingt und fördert sich gegenseitig.

2 Mut Mut ist ein alltäglicher Begriff. Er ist in aller Munde und doch verweigert er sich einer klaren Definition. Vielmehr scheint jede Person ihr eigenes Verständnis davon zu haben, was Mut ist und was nicht. Insofern gleicht ein Definitionsversuch von Mut einer Entdeckungsreise dessen, was unterschiedlichste Menschen darunter verstehen. In einer psychologischen Metastudie findet sich die Quintessenz unterschiedlichster Definitionen von Mut: 7 Rahner 1966, 85.

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»Mut ist […] eine bewusste, absichtliche Handlung, die nach reiflicher Überlegung ausgeführt wird und ein objektiv beträchtliches Risiko für die handelnde Person mit sich bringt. Diese ist primär daran interessiert, ein edles Gut oder ein lohnenswertes Ziel zu erreichen, obwohl vielleicht Angst vorhanden ist.«8 Mut ist demnach eine Gewissensentscheidung, die nach intensiver Abwägung möglicher Chancen und Risiken zu einer konkreten Handlung führt. Dies unterscheidet Mut von Waghalsigkeit. Auch die etymologische Herkunft aus dem althochdeutschen muot verweist auf die Nähe zu Begriffen wie »Gesinnung«, »Kraft des Denkens« oder »Kraft des Herzens«.9 Im französischen Wort courage ist die Nähe zu le coeur (das Herz) unmittelbar enthalten. Wer also einer Handlung nachgeht, die ihm persönlich am Herzen liegt, beweist Mut. Vor allem dann, wenn damit die mögliche Gefahr einhergeht, dabei physisch oder auch psychisch verletzt zu werden. So zeigt sich im Kleinen bereits Mut, wenn jemand eine Idee einbringt, ohne sich ganz sicher sein zu können, ob sie auch wirklich richtig ist oder ob andere sie gut finden. Mut äußert sich, wenn jemand die üblichen Arbeitsfeldbeschreibungen verlässt und gegen die Regeln und Konventionen der Hierarchie und der gewachsenen Strukturen etwas Neues erprobt, weil es ihm oder ihr sinnvoll und wichtig erscheint. Mut zeigt sich auch, indem Dinge und Tätigkeiten bezüglich ihres Sinns und Zwecks hinterfragt und gegebenenfalls weggelassen werden, um Zeit und Raum für Neues zu ermöglichen. Mut zeigt, wer ein Experiment wagt, Fehler macht, daraus lernt und weitermacht. Es sind solche Beispiele aus dem pastoralen Alltag, die verdeutlichen, wie Mut jetzt schon Tag für Tag gegenwärtig ist, aber auch wie Mut sich im Kleinen weiter entfalten kann. Ob es in der Pastoral gelingt, das Evangelium immer wieder neu zu riskieren, zeigt sich nicht primär an den heroischen Einzeltaten historischen Ausmaßes, sondern vor allem in den kleinen, unscheinbaren Handlungen an allen Orten christlicher Existenz. Es braucht immer wieder neu den Mut zu Experimenten im pastoralen Alltag. Expertise und Erfahrung allein reichen in einer Kirche mit ihrer pneumatologischen Grundstruktur in der VUCAWelt von heute nicht mehr aus, um die aktuellen Herausforderungen zu lösen. Wer stattdessen ein Experiment wagt, bringt etwas in Erfahrung (lat. experiri), was vorher nicht bewusst und gewusst war. Dass damit auch Rückschläge, Ent8 Christopher R. Rate, Jennifer A. Clarke, Douglas R. Lindsay & Robert J. Sternberg, Implicit theories of courage, in: The Journal of Positive Psychology 2 (2007), Heft 2, 80–98, hier: 95 (Übersetzung M. K.). 9 Vgl. https://www.dwds.de/wb/Mut (letzter Zugriff am 15.09.2021)

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täuschungen, Frusterfahrungen oder Niederlagen einhergehen, versteht sich von selbst. Die größere Gefahr allerdings stellt das Ersticken im Gewohnten dar, dem nur scheinbar Ungefährlichen, worin Hoffnungslosigkeit und Resignation ihren Ausdruck finden. Wer jedoch etwas wagt und sich damit auch verletzbar zeigt, anerkennt die Offenheit der innerweltlichen Zukunft, in der sich die absolute Zukunft Gottes manifestiert. Wer sich mutig auf das Unbekannte einlässt, sich nicht zufriedengibt mit dem Gegenwärtigen und dadurch die geschichtliche Zukunft weiterschreibt, bezeugt die Hoffnung auf die absolute Zukunft. Im Ereignis des Wagnisses kommt das gegenseitige Bedingungsverhältnis von absoluter und innerweltlicher Zukunft zum Ausdruck. So konstatiert Rahner: »Wer als Christ sich einfach und kritiklos mit seiner bestehenden gesellschaftlichen Situation identifizieren würde, der müßte sich fragen lassen, ob er denn wirklich im realen Vollzug seines Lebens und nicht bloß theoretisch und in einer privaten Innerlichkeit an die absolute Zukunft glaubt, der müßte sich fragen lassen, wieso er denn ernsthaft das Gegenwärtige als das bloß Vorläufige realisiere, wenn er ihm nicht kritisch ein anderes Innerweltliches, wenn auch immer wieder selbst Vorläufiges, Künftiges entgegenstelle. Gerade also die Hoffnung auf die absolute Zukunft, die wir nicht machen, verlangt von uns die geschichtliche Utopie, die kritisch die Geschichte unruhig macht und weitertreibt, und bringt sie auch in der gesellschaftlichen Dimension hervor.«10 Die christliche Hoffnung bildet das Motiv für mutiges Handeln. Sie verweist auf die Diskrepanz zwischen der aktuellen Situation und einer alternativen Zukunft, die gleichwohl immer nur vorläufig bleibt. Sie ist »Motor und Kritik allen Willens […], der sich auf eine innerweltliche Zukunft hin ausstreckt, an der diese Hoffnung der absoluten Zukunft zu sich selbst vermittelt wird«11. Gerade deshalb kommt der Theologie die Aufgabe der docta ignorantia futuri zu, sie verweist auf die prinzipielle Offenheit der Zukunft und bewahrt vor Allmachtsfantasien und Planungssehnsüchten, die weder einer volatilen, ungewissen, komplexen und ambigen Wirklichkeit der Welt von heute noch einer Kirche gerecht werden, die um ihren pneumatologischen Kern weiß. Wenn aber der Mut zum Wagnis nicht nur für die Kirche, sondern auch für den Vollzug christlicher Existenz unabdingbar ist, so ist es umso wichtiger, dass in der Pastoral ein Klima der psychologischen Sicherheit aufgebaut wird, das den Mut zum Wagnis unterstützt und fördert. 10 Rahner 1970, 537 f. 11 Rahner 1970, 540.

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3 Psychologische Sicherheit Amy C. Edmondson definiert psychologische Sicherheit als »die geteilte Überzeugung, dass ein Team für ein zwischenmenschliches Risiko sicher ist«12. Ein Klima psychologischer Sicherheit ist mit zahlreichen wünschenswerten Verhaltensweisen verknüpft. So sind Mitarbeitende eher bereit, von Fehlern zu berichten, ihr Wissen zu teilen, ihre Ideen einzubringen, auch wenn sie sich selbst nicht sicher sind. Sie sind zufriedener und engagieren sich mehr, was sich nicht zuletzt in der Teamleistung ausdrückt.13 Wie es um die psychologische Sicherheit eines Teams steht, lässt sich unter anderem mithilfe eines deutschsprachigen Kurz-Fragebogens von Fischer und Hüttermann ermitteln:14 1. In diesem Team kann man auch Probleme und schwierige Themen offen ansprechen. 2. Niemand in diesem Team würde absichtlich etwas tun, das meiner Arbeit schadet. 3. Wenn man in diesem Team einen Fehler macht, dann wird einem das oft vorgehalten. (R) 4. In diesem Team kann man sich trauen, ein persönliches Risiko einzugehen. 5. Die Mitglieder dieses Teams sind manchmal Teamkolleginnen und Teamkollegen gegenüber abweisend, die anders sind. (R) 6. In diesem Team ist es schwierig, andere Teammitglieder um Hilfe zu bitten. (R) 7. Bei der Zusammenarbeit in diesem Team werden meine besonderen Fähigkeiten und Begabungen wertgeschätzt und genutzt. Die Anwendungsmöglichkeiten dieses Instrumentes sind zahlreich. Sie reichen von der wissenschaftlichen Erforschung des Konstrukts der psychologischen Sicherheit über die Reflexion der Fragen in Teamgesprächen bis hin zur Verwendung der Kurzskala in Teamworkshops oder Teamsupervisionsprozessen. Psychologische Sicherheit lässt sich nicht in Laborsituationen finden, denn sie entsteht mitten im gemeinsamen Arbeitsalltag, in welchem Teams in ihrer 12 Amy Edmondson, Psychological Safety and Learning Behavior in Work Teams, in: Administrative Science Quarterly 44 (1999), Heft 2, 350–383, hier: 350 (Übersetzung M. K.). 13 Vgl. M. Lance Frazier, Stav Fainshmidt, Ryan L. Klinger, Amir Pezeshkan & Veselina Vracheva, Psychological Safety: A Meta‐Analytic Review and Extension, in: Personnel Psychology 70 (2017), Heft 1, 113–165. 14 Josef A. Fischer & Hendrik Hüttermann, PsySafety-Check (PS-C): Fragebogen zur Messung psychologischer Sicherheit in Teams. Zusammenstellung sozialwissenschaftlicher Items und Skalen, o. O. 2020, online verfügbar unter: https://zis.gesis.org/skala/Fischer-H%C3%BCttermann-PsySafety-Check-(PS-C) (letzter Zugriff am 18.09.2021).

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Interaktion zwischenmenschliche Reaktionen erproben und erfahren. Erst durch eine gemeinsam erlebte Geschichte kann die geteilte Überzeugung entstehen, dass es sicher ist, ein Wagnis einzugehen. Das Wagnis ist jedoch nur ein erster Schritt. Der Prüfstein psychologischer Sicherheit liegt darin, wie Führungskräfte reagieren, wenn Mitarbeitende eine kritische Rückmeldung vorbringen oder Fehler eingestehen. Wer dann mit Verärgerung oder Verachtung reagiert, lässt psychologische Sicherheit schnell schwinden. Welche Schritte ermöglichen also dann eine bewusste Gestaltung und Aufbau psychologischer Sicherheit?

4 Praktische Implikationen Häufig ist die Rede von Fehlerfreundlichkeit, zum Teil sogar von Fehlerfreudigkeit in (pastoralen) Teams oder Organisationen. Dies ist mehr als irreführend. Es geht nicht darum, generell viele Fehler zu machen. Edmondson bietet hierfür einen differenzierten Blick auf unterschiedliche Arten von Fehlern an.15 Fehler, die durch mangelnde Aufmerksamkeit bei Routinetätigkeiten geschehen, sind möglichst zu vermeiden. Die Anfertigung von Checklisten kann dafür eine Lösung sein. Die zweite Kategorie von Fehlern sind unvermeidbare Fehler, die aufgrund unbekannter Einflussgrößen in einer kom­plexen Situation entstehen. Sie sind schnell zu identifizieren und entsprechend zu korrigieren. Erst intelligente Fehler eröffnen jedoch neue Lernhorizonte, indem etwas Neues gewagt und in der Praxis erprobt wird. Dieses Wagnis zum Experiment der Praxis (Prototyping) wird benötigt, wenn bisherige Lösungen nicht weiterführend sind.16 In kleinen Prototypen können theoretische Vermutungen praktisch erprobt und mithilfe von Feedbackschleifen korrigiert und weiterentwickelt werden. Indem möglichst früh intelligente Fehler gemacht werden, kann die Dunkelheit einer offenen Zukunft spielerisch ertastet werden. Eine solche Fehlerfreundlichkeit erweist sich letzten Endes nicht als Fehler-, sondern als Lernfreudigkeit. Die prognostische Unschärfebedingungen einer VUCA-Welt, der pneumatologische Charakter der Kirche sowie die bleibende Offenheit der Frage nach der Zukunft verlangen die lethologische Haltung des Nichtwissens.17 Das weise Nichtwissen schützt davor, auf der Grundlage einer eingeschränkten Datenbasis 15 Amy C. Edmondson, Strategies for Learning from Failures, online verfügbar unter: https:// hbr.org/2011/04/strategies-for-learning-from-failure (letzter Zugriff am 18.09.2021). 16 Vgl. Martin Kempen, Coaching als abduktiver Prozess vor dem bleibenden Geheimnis. Die Theorie U aus pastoralpsychologischer Perspektive, Berlin 2016. 17 Vgl. Kempen 2016.

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voreilige Schlussfolgerungen zu ziehen und damit bereits vorhandene Denkund Handlungsmuster zu bedienen. Mitarbeitenden fällt es leichter, sich und ihre Gedanken in den Diskurs mit einzubringen, wenn die Führungskraft eine demütige Haltung gegenüber ihrem eigenen Wissen und Können zum Ausdruck bringt.18 Demut beinhaltet den Mut, sich selbst kritisch zu reflektieren und gleichzeitig die Stärken und Beiträge anderer Teammitglieder wertzuschätzen. Wertschätzung zeigen Führungskräfte auch, indem sie offene Fragen stellen und aufmerksam zuhören.19 Je offener die Frage, desto besser, denn dann können die Mitarbeitenden in ihrer Antwort eigene Schwerpunkte setzen. Sie fühlen sich als Teil des Teams, das gemeinsam die Zukunft erprobt. Und schließlich zeigt die Führungskraft, dass sie die Kompetenz und Ansichten des Gegenübers achtet und wertschätzt. Dahinter verbergen sich die drei psychologischen Grundbedürfnisse, die Deci und Ryan in ihrer Selbstbestimmungstheorie postulieren.20 Dazu gehören der Wunsch, selbst zu entscheiden (Autonomie), sowie das Bedürfnis, Aufgaben bewältigen zu können (Kompetenz) und sich zugehörig zu fühlen (soziale Eingebundenheit). Werden diese Grundbedürfnisse befriedigt, kann sich intrinsische Motivation entfalten. Mitarbeitende engagieren sich mehr, können sich für aktuelle Fragestellungen begeistern und sind entsprechend auch bereit, das eine oder andere Wagnis einzugehen. Van Quaquebeke und Felps konnten in einer Studie nachweisen, dass offene Fragen und ein aufmerksames Zuhören besonders in Situationen ihre Wirkung entfalten, die zunächst überraschend wirken: unter hohem Zeitdruck, bei physischer Distanz und bei Aufgaben mit einer hohen Komplexität.21 Auf der Basis einer lethologischen Haltung der Führungskraft kann diese Methode des Respectful Inquiry zu Recht eine Minimax-­Intervention genannt werden: minimaler Aufwand, maximale Wirkung. Eine weitere Möglichkeit, Partizipation zu ermöglichen, Wissen zu teilen und eine Kultur gemeinsamen Lernens aufzubauen, ist eine institutionalisierte Form des Peer-to-peer-Learnings. Seit Oktober 2017 findet beispielsweise in der Diözese Würzburg in regelmäßigen Abständen ein sogenannter Ideenimbiss statt, der mit einem kurzen zehnminütigen Impuls einer Mitarbeiterin beziehungsweise eines Mitarbeiters beginnt und mit einem gemeinsamen 18 Vgl. Bradley P. Owens, Michael D. Johnson & Terence R. Mitchell, Expressed Humility in Organizations: Implications for Performance, Teams, and Leadership, in: Organization Science 24 (2013), Heft 5, 1517–1538. 19 Niels van Quaquebeke & Will Felps, Respectful Inquiry: A motivational account of leading through asking questions and listening, in: Academy of Management Review 43 (2018) 5–27. 20 Edward L. Deci & Richard M. Ryan, Self-determination theory, in: Paul A. M. van Lange, Arie W. Kruglanski & E. Tory Higgings (Hrsg.), Handbook of theories of social psychology, Bd. 1, Thousand Oaks 2012, 416–437. 21 Vgl. van Quaquebeke & Felps 2018.

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Imbiss am Buffet endet. Aufgrund der Coronapandemie wurde aus dem Ideenimbiss zwischenzeitlich ein Ideenstream. Die Absicht dahinter bleibt dieselbe: Kurze Inputs von Kolleginnen und Kollegen unterschiedlicher Abteilungen mitten im beruflichen Alltag und informelle Vernetzung mit anderen über Abteilungsgrenzen hinweg. Die Themen spiegeln die Vielfalt der Mitarbeitenden wider. Sie reichen von Resilienz über Sterbesegen und Trauerclowns hin zu Empfehlungen für die Urlaubslektüre oder praktischen Tipps für eine bessere Gestaltung von Sitzungen. Ein solches Format unterstützt den Aufbau einer Kultur der psychologischen Sicherheit, in der jede einzelne Person zugleich Lehrende und Lernende ist.

5 Schluss Diese praktischen Implikationen schaffen gute Voraussetzungen, damit mehr und mehr Menschen den Mut aufbringen können, ein Wagnis einzugehen und sich mit ganzem Engagement, mit allen Kompetenzen und Erfahrungen in einen gemeinsamen Lernprozess vor dem Horizont einer offenen Zukunft einzubringen. Durch den kontinuierlichen Aufbau eines Klimas psychologischer Sicherheit ist die Einladung ausgesprochen, die Ermutigung zugesprochen und vielleicht auch die Inspiration eingehaucht, ein unsicheres Wagnis einzugehen, damit der Geist Gottes in einer Kirche in der Welt von heute atmen kann. Denn erst im Wirken des Geistes Gottes entfaltet sich das Wesen der Kirche, in der die Unverfügbarkeit und das Unerwartete konstitutive Wesensmerkmale sind. Es braucht individuellen Mut, um einem Tutiorismus des Wagnisses praktisch erfahr- und greifbar werden zu lassen. Und es braucht psychologische Sicherheit, um mutiges Handeln zu fördern, denn wer Mut beweist, macht sich verletzlich und angreifbar. Deshalb gehört beides zusammen und bedingt sich oftmals gegenseitig: individueller Mut und die gemeinsam im Team oder auch in der ganzen Organisation geteilte Überzeugung, dass es sicher ist, sich selbst und seine Ideen einzubringen. Ohne ein Klima psychologischer Sicherheit ist ein mutiges Handeln schwieriger, aber umso wichtiger. Im mutigen Handeln findet schließlich die christliche Hoffnung ihren konkreten Ausdruck und kann dadurch auch zu einem wichtigen Korrektiv gegenüber Missständen werden oder eine alternative Wirklichkeit – im Kleinen wie im Großen – aufzeigen. Letztlich haben wir keine Wahl. Wir müssen »unter Ausnützung aller theologischen und pastoralen Möglichkeiten [so weit; M. K.] gehen, weil die Lage des Reiches Gottes sicher so ist, daß wir das Äußerste wagen müssen, um so zu 96

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bestehen, wie Gott es von uns verlangt«22. Dies gilt nicht nur für die Situation der Kirche, sondern auch für uns in unserer Menschwerdung, denn »das Wagnis ins Offene [ist; M. K.] nicht ein trüber Rest von Irrationalismus, der langsam ausgeräumt wird, sondern ein bleibendes Existential und ein Moment an der Würde der Freiheit des Menschen«23. In diesem Sinne lässt sich in Anlehnung an Graf Eberhard im Barte sagen: »Attemptemus – Lasst es uns wagen«. Denn nur wer wagt, kann auch gewinnen.

22 Rahner 1966, 85. 23 Rahner 1970, 536.

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Das Wagnis des Selbst-Werdens im Kontext einer prozessualen Wirklichkeit Christoph Lubberich

1 Einleitung Das Wagnis menschlicher Existenz gründet letztlich in der Uneindeutigkeit der Wirklichkeit. Diese Uneindeutigkeit ist dem Prozesscharakter der Wirklichkeit geschuldet, welcher vor allem in der Prozessphilosophie Alfred North Whiteheads beschrieben wird. Die Sicht auf die Wirklichkeit als Prozess verlangt letztlich auf allen Ebenen die Bereitschaft, althergebrachte Sicherheiten aufzugeben, ja sie als Scheinsicherheiten zu entlarven, um der Dynamik der Wirklichkeit gerecht zu werden. Dies trifft sich mit dem Menschenbild Sören Kierkegaards, der den Menschen als ein dynamisches Selbst versteht, das sich im ständigen Werden befindet und sich stets aufs Neue seinen Möglichkeiten zu stellen hat. Ein solches Wirklichkeits- und Selbst-Verständnis hat allerdings auch weitreichende Folgen für eine theologisch-praktische Anthropologie.

2 Prozessuale Wirklichkeit nach Alfred N. Whitehead Mit der organismischen Philosophie Whiteheads, die er vor allem in seinem Hauptwerk »Prozess und Realität«1 vorgelegt hat, liegt uns ein kosmologischer Entwurf vor, der den Anspruch erhebt, sämtliche Erfahrungen in ein kohärentes Ideenschema zusammenzufügen. Eine Theorie solcher Weite ist insofern auch als grundlegend für eine Anthropologie anzusehen, die sich in den Erfahrungen unseres Alltagslebens ausweist, da diese gemachten Erfahrungen vor dem Hintergrund des spekulativ-philosophischen Schemas interpretierbar sind. Im Rahmen dieses Artikels kann eine dezidierte Auseinandersetzung mit der Philo1 Vgl. Alfred North Whitehead, Prozess und Realität. Entwurf einer Kosmologie, 7. Auflage, Frankfurt a. M. 2015. Zur Darstellung des Wirklichkeitsverständnisses Whiteheads verwende ich die Studie von: Tobias Müller, Gott-Welt-Kreativität. Eine Analyse der Philosophie A.N. Whiteheads, Paderborn 2009.

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sophie Whiteheads nicht erfolgen. Ich beschränke mich auf eine skizzenhafte Darlegung wesentlicher Aspekte der Prozessphilosophie Whiteheads, die für eine theologisch-praktische Anthropologie fruchtbar gemacht werden können.2 2.1 Ereignisse als letzte Wirklichkeit Nach Whitehead lässt sich die Wirklichkeit als ein Prozess verstehen,3 wobei die basale Ebene der Wirklichkeit aus Ereignissen besteht.4 Damit verabschiedet sich Whitehead vom Substanzdenken, das unser bisheriges Weltbild geprägt hat.5 Die wirklichen Entitäten – oder: Ereignisse – werden wiederum definiert durch die Relationen, in denen sie zu anderen Ereignissen stehen. Das heißt, dass eine wirkliche Entität immer auch die Ursache für eine neue Entität sein kann. Letztlich lassen sich die wirklichen Entitäten nur durch den Verweis auf vorhergehende Entitäten, die diese neue wirkliche Entität ausmachen, erklären. Eine wirkliche Entität ist somit einerseits Ergebnis der Zusammenkunft verschiedener vorhergehender Entitäten und insofern Ziel eines Prozesses und zugleich eine neue potentielle Ursache eines neuen Prozesses, der neue wirkliche Entitäten zum Ziel hat. »Die Kohärenz, nach der das System [zur Erklärung der Wirklichkeit; C. L.] strebt, liegt in der Einsicht, daß der Prozeß, oder die Konkretisierung jedes wirklichen Einzelwesens, die anderen wirklichen Einzelwesen als seine Bestandteile enthält. Auf diese Weise erklärt sich die offensichtliche Solidarität der Welt.«6 Dieser beschriebene Prozess ist nach Whitehead allerdings kein gänzlich determinierter Prozess. Mittels seines Verständnisses der wirklichen Entitäten als Subjekte, die Erfahrungen machen, betont er die mentale Seite der Entitäten, die mit der materiellen Seite gleichursprünglich ist, und macht damit deutlich, dass der Prozess von Subjekten in unterschiedlichem Grade mitbestimmt wird und insofern das Moment der Freiheit immer gegenwärtig ist. 2 Dass die prozessphilosophischen Überlegungen Whiteheads kein abstraktes Glasperlenspiel darstellen, sondern sehr wohl auch praktisch-theologische Konsequenzen zur Folge haben, zeigt die Arbeit von Müller, die sich vor allem der Theodizee-Problematik annimmt (vgl. Müller 2009, 261–298). 3 Vgl. Whitehead 2015, 64. 4 Whitehead 2015, 57. 5 Vgl. dazu auch: Müller 2009, 45 ff. 6 Whitehead 2015, 38.

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2.2 Das subjektivistische Prinzip Nach Whitehead nehmen die Entitäten, die von den vorigen Entitäten konstituiert werden, diese wahr und erfassen diese entweder positiv, indem sie diese aufnehmen und zur Selbstkonstitution integrieren oder eben ablehnen. Dieses Einbeziehen oder Erfassen der Entitäten bezeichnet Whitehead als Prehension. Es ist die Form der Erfahrung, die die Entitäten als Subjekte ausmachen, wobei noch kein Selbstbewusstsein mitgegeben ist. Doch gerade die Möglichkeit der Ab- oder Annahme verdeutlicht zumindest ein sehr basales Moment der Freiheit, das in allen der Wirklichkeit zugrundeliegenden Entitäten bereits enthalten ist. Mit steigender Form der Erfahrung nimmt auch der Grad des Selbstbewusstseins und damit auch die Reichweite der Freiheit zu. Wie bereits angedeutet, wird eine aktuale Entität von den vorigen wirklichen Entitäten mitbestimmt, da diese quasi das Material der neuen wirklichen Entität darstellen. Die wirklichen Entitäten stellen somit die Wirkursache einer neuen wirklichen Entität dar, sobald sie verwirklicht wurden. Sie verlieren im Zustand ihrer Realisierung ihre Subjektivität und werden zum Objekt, einem Datum, dass zur Verwirklichung einer neuen Entität beitragen kann. »Man kann sagen, dass eine aktuale Entität bei ihrer Erfüllung gar nicht mehr im vollen Sinn aktual und sie selbst ist. In diesem Sinn interpretiert die Prozessphilosophie Platons Ausdruck ›nie aber wirklich seiend‹.«7 Die sich im Werden befindende Entität aber stellt die Finalursache dar, da sie selbst bestimmt, inwiefern sie die gegebenen wirklichen Entitäten aufgreift und sie konstituieren lässt. Sobald dieser Prozess abgeschlossen ist und die wirkliche Entität ihre Bestimmtheit erreicht hat, steht sie selbst wiederum als Wirkursache für die Genese einer neuen wirklichen Entität zur Verfügung. Whitehead betont, dass die Weise des Werdens der wirklichen Entität ihr Wesen bestimmt. »Daß wie ein wirkliches Einzelwesen wird, begründet, was dieses wirkliche Einzelwesen ist; so daß die beiden Beschreibungen eines wirklichen Einzelwesens nicht voneinander unabhängig sind. Sein ›Werden‹ liegt seinem ›Sein‹ zugrunde. Dies ist das ›Prinzip des Prozesses‹.«8 Da es im Werdeprozess allerdings kein Einzelding gibt, das sich zu den gegebenen wirklichen Entitäten verhalten könnte, sondern dieses Einzelwesen sich ja erst noch im Prozess konstituiert, stellt sich die Frage, welcher Art denn das Sub7 Müller 2009, 56. 8 Whitehead 2015, 66 (Hervorhebungen im Original).

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jekt sein soll, das die Weise des Prozesses durch ein positives beziehungsweise negatives Erfassen der Daten bestimmt. Whitehead bestimmt dieses Subjekt als eine Idee der jeweiligen wirklichen Entität, die sich konstituiert. Das Subjekt als Idee stellt die Zielursache dar und ordnet die Prehensionen derart, dass die aktuale Entität ihr Ziel erreicht, das heißt in der Art realisiert wird, wie es der Idee nach konstituiert werden soll.9 Das Ziel jeder wirklichen Entität besteht nach Whitehead letztlich in der Intensivierung der Selbsterfahrung, die durch kontrastreiche Prehensionen, die sich nicht ausschließen dürfen, gegeben ist.10 Letztlich streben die wirklichen Entitäten zu einer Ausgewogenheit der Komplexität und einer steigenden Verwirklichung der Möglichkeiten, die sich den wirklichen Entitäten zeigen. »Es besteht also ein Drang in Richtung auf die Realisierung der größtmöglichen Zahl der zeitlosen Gegenstände [Möglichkeiten; C. L.], die der Einschränkung unterliegen, in den Bedingungen des Kontrasts stehen zu müssen. Aber diese Einschränkung auf ›Bedingungen des Kontrasts‹ ist die Forderung nach ›Ausgewogenheit‹.«11 Die Intensivierung der Erfahrung steigt folglich mit dem Kontrast der Prehensionen und je kontrastreicher, oder mit anderen Worten: je komplexer und pluraler, die Entität bestimmt ist, desto intensiver ist auch die Erfahrung der folgenden Entitäten, die diese gegebene Entität zu ihrer Verwirklichung nutzen. Die Intensität der Erfahrung korreliert also mit der Anzahl und Qualität der Kontraste. Damit stellt sich die Frage nach dem Woher der zeitlosen Gegenstände, die sich als Möglichkeiten zeigen und letztlich die Grundlage des Prozesses darstellen, der unsere Wirklichkeit ausmacht. 2.3 Die zeitlosen Gegenstände Nach Whitehead sind die Subjekte frei, die Weise ihrer Verwirklichung zu bestimmen. Sie tun dies durch die positive Prehension der Annahme beziehungsweise der negativen Prehension der Ablehnung. Damit verwirklichen sie eine Möglichkeit, die ihnen gegeben ist und lehnen eine andere Möglichkeit ab, die sie ebenfalls hätten werden können. Die Möglichkeiten als reine Möglichkeiten, die 9 Vgl. dazu Müller 2009, 57 ff. 10 Vgl. Whitehead 2015, 167; vgl. dazu auch: Müller 2009, 59 f. 11 Whitehead 2015, 505.

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also noch nicht durch die Wirklichkeit bestimmt wurden, bezeichnet Whitehead als »zeitlose Gegenstände«12. Sie liegen vorerst im Status der reinen Potenzialität vor und bleiben daher noch abstrakt. Sofern sie aber verwirklicht, also von einem Subjekt erfasst wurden, liegen sie als »reale Potentialitäten« im weiteren Prozess der Konstituierung von wirklichen Entitäten vor und sind damit Teil des Prozesses der Wirklichkeit geworden.13 Die reinen Möglichkeiten sind auch der Grund dafür, dass Neues in die Wirklichkeit eingehen kann. Die Zahl dieser reinen Möglichkeiten muss zudem als unendlich gedacht werden, da auch der kreative Prozess der Wirklichkeit unendlich ist. Da nach Whitehead der letzte Grund der Wirklichkeit immer in einer wirklichen Entität zu suchen ist, stellt sich die Frage, welcher Art der Grund der zeitlosen Gegenstände, also der reinen Möglichkeiten, ist. »Zur Bestimmung der Eigenschaften der aktualen Entität ist folgender Gedanke hilfreich: Wenn Wirklichkeit die Entscheidung zwischen Möglichkeit meint, also das Eingehen eines oder vieler ewiger Gegenstände in die Wirklichkeit, und diese ewigen Gegenstände jeder zeitlichen Entscheidung vorausgehen müssen, dann kann man für die ontologische Fundierung der ewigen Gegenstände nur eine überzeitliche aktuale Entität annehmen, die in der Prozessphilosophie mit Gott zu identifizieren ist.«14 Gott ist also der Ort der unendlichen Möglichkeiten, die die Grundlage des Prozesses der Wirklichkeit ausmachen. Damit lässt sich das Verständnis der Zielursache, welche für die Verwirklichung der aktualen Entität ebenso wie die Wirkursache konstitutiv ist, näher darlegen. Die Zielursache bezieht sich auf die Möglichkeiten, die der wirklichen Entität offenstehen. Zwar gibt es nach Whitehead eine Rangordnung der Möglichkeiten durch Gott, der den aktualen Entitäten die besten Möglichkeiten offeriert. Doch die Möglichkeiten stehen der wirklichen Entität in der organischen Welt in einer großen Breite zur Verfügung, sodass es nicht unbedingt die von Gott präferierten Möglichkeiten verwirklichen muss. Somit ist eine Determiniertheit der wirklichen Entität durch Gott ausgeschlossen. »Das von Gott angebotene subjektive Ziel fungiert also als Leitidee im Prozess, die keineswegs eine vollständige oder zwingende Bestimmtheit vermittelt.«15 Gott wirkt vielmehr lockend. 12 Whitehead 2015, 100. 13 Whitehead 2015, 136 ff. 14 Müller 2009, 65. Während Müller den Begriff der »aktualen Entität« bevorzugt, verwende ich den synonymen Begriff der »wirklichen Entität«. 15 Müller 2009, 68.

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Die Möglichkeiten selbst werden von Gott dargeboten. »Als uranfänglich betrachtet, ist er [Gott; C. L.] die unbegrenzte begriffliche Realisierung des absoluten Reichtums an Potentialitäten.«16 Die Wahl der Möglichkeiten kann als kreativer Akt verstanden werden, in dem sich die Entität selbst überbietet, insofern sie ihren physischen Pol transzen­ diert. Diese Selbstüberbietung ist ein Akt in Freiheit, wenngleich nicht in einem absoluten Sinne, sondern stets begleitet von den determinierten Geschehnissen der Vergangenheit, die die Entität ebenso ausmachen. Gott wirkt aus der Zukunft, indem er eine Möglichkeit anbietet. Innerhalb des Freiheitsspielraums kann eine Entität eine der angebotenen Möglichkeiten ergreifen. Die Entitäten sind insofern kreativ. Die Welt und alles, was ist, sind somit – theologisch gesprochen – Mitschöpfer der Schöpfung Gottes.17 Mit Blick auf den folgenden Abschnitt bedarf es noch eines Übertrags in unsere Alltagswelt, da sich das bislang Beschriebene auf der mikrokosmischen Ebene abspielt, mit der sich heutzutage vor allem die Quantenphysik beschäftigt. Für unseren Alltag ist die Verbundenheit der Entitäten zu einem sogenannten nexus bedeutsam. Ein nexus besteht aus mehreren wirklichen Entitäten, die sich aufgrund eines gemeinsamen Formelements miteinander verbinden. Mit dem Begriff nexus ist eine Brücke zu unseren alltäglichen Erfahrungen geschlagen. Denn in unserem Alltagserleben nehmen wir keine ständig werdenden und vergehenden wirklichen Entitäten wahr,18 sondern Dinge, Lebewesen, Personen, die eine gewisse Dauer zu haben scheinen. Diese Gegenstände unserer Alltagswelt machen die makrokosmische Welt aus, »da sich die Einheit der dauerhaften Dinge bis hin zu komplexen Formen des Lebendigen als Resultat von diesen Gruppenbildungen darstellt«19. Aufgrund der komplexen Struktur, auf die an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden kann,20 zeigen diese nexūs (im Plural) eine stabilere Struktur, die auch in der Zeit andauert und deren Veränderung weniger augenscheinlich ist. Eine spezielle Form dieser Gruppenbildungen stellen wiederum die Gesellschaften dar, zu denen Whitehead unter anderem den Menschen zählt. Doch auch wenn 16 Vgl. Whitehead 2015, 614. 17 Vgl. Godehard Brüntrup, Prozess. Philosophie und Theologie, Vortrag in der Benediktinerabtei Niederaltaich am 16.06.2016, online verfügbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=oB8cMliueVY (letzter Zugriff am 18.10.2021). Brüntrup vergleicht die Kreativität bei Whitehead mit dem Begriff der »Selbstüberbietung« bei Rahner. 18 »Bei den Gegenständen unseres Alltags im Makro- und Mesokosmos handelt es sich nicht um aktuale Entitäten, vielmehr sind diese Gegenstände sogenannte Gemeinschaften von aktualen Entitäten« (Müller 2009, 47). 19 Müller 2009, 80. 20 Vgl. dazu: Whitehead 2015, 84–86.194–196.

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die Gesellschaften im Alltag erfahrbar sind und eine stabile Struktur aufweisen, sind sie doch auch Teil des Prozesses der Wirklichkeit und keine Substanzen, die sich durch Beständigkeit auszeichnen.

3 Anthropologische Aspekte – das Selbst-Verständnis Kierkegaards Durch die Darlegung Whiteheads bekommt die Anthropologie Kierkegaards nicht nur eine ontologische Fundierung. Die Dynamik des menschlichen Selbst, wie Kierkegaard es beschreibt, lässt sich letztlich auf die wirklichen Entitäten Whiteheads zurückführen und somit kosmologisch nachweisen. Das Menschenbild Kierkegaards kann als eine phänomenologische Darstellung der Prozessualität der Wirklichkeit im Bereich der Anthropologie gelesen werden. Kierkegaard beschreibt den Menschen als ein dynamisches Verhältnis von Verhältnissen. »Der Mensch ist Geist. Was aber ist Geist? Geist ist das Selbst. Was aber ist das Selbst? Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, oder ist das an dem Verhältnisse, dass das Verhältnis sich zu sich selbst verhält; das Selbst ist nicht das Verhältnis, sondern dass das Verhältnis sich zu sich selbst verhält.«21 Das Verhältnis, zu dem es sich zu verhalten gilt, ist bestimmt durch die Synthesen von Unendlichkeit und Endlichkeit, von Zeitlichem und Ewigem und von Möglichkeit und Notwendigkeit. Erst als Verhältnis zu diesen Synthesen zeigt sich das Selbst des Menschen. Dabei stellt die Betonung nur eines Momentes der jeweiligen Paare eine Verzweiflungsform dar. Wesentlich für die Thematik dieses Artikels ist der ständige Prozess des Verhaltens des Selbst zu sich selbst. Der Mensch ist aufgefordert, mit Blick auf seine Möglichkeiten zu existieren und sich ständig neu zu diesen Möglichkeiten zu verhalten, ohne in einem der Momente zu fliehen.22 Der Mensch ist also ständig im Werden. Bei Kierkegaard ist es letztlich eine ständige Negation der Verzweiflung, sich nicht in einem Pol der jeweiligen 21 Søren Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode, Simmerath 2004, 8. 22 Eine Flucht in die Endlichkeit ließe sich analog zu Whitehead als eine Verabsolutierung des physischen Pols, der jede Entität ausmacht, verstehen, während eine Flucht in die Unendlichkeit eine Überbetonung des mentalen Pols darstellt.

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Synthesepaare zu verlieren.23 Dass diese Gefahr stets besteht, beschreibt er meines Erachtens am eindrücklichsten in seinem Werk »Der Begriff Angst«24, in dem er mittels des Existenzials der Angst die Prädisposition zur Verzweiflung sichtbar macht. Angesichts der Freiheit des Menschen steht der Mensch ständig am Abgrund seiner Möglichkeiten. In dieser Erfahrung ergreift ihn der Schwindel.25 Auch hier zeigt sich erneut eine Parallele zu Whitehead, der den Menschen als Gesellschaft von Entitäten auch ständig mit den Möglichkeiten konfrontiert, wobei Whitehead dies aufgrund seines naturwissenschaftlich-nüchternen Blicks wertneutral darlegt und nicht auf die psychologischen Herausforderungen eingeht, die eine solche Konfrontation mit sich bringt. Die Angst bei Kierkegaard lässt sich als eine »neutrale Zwischenbestimmung« verstehen, die den Menschen dazu prädisponiert, sich in die Endlichkeit beziehungsweise Unendlichkeit oder aber in die Notwendigkeit beziehungsweise Möglichkeit zu flüchten und sich somit der Wahl, das heißt der Verwirklichung einer Möglichkeit, zu entziehen. Es ließe sich allerdings fragen, ob diese Flucht nicht lediglich eine andere Verwirklichung der Möglichkeit darstellt als diejenige, die dem Selbst mehr entsprechen würde. Die Flucht in eine der von Kierkegaard beschriebenen Verzweiflungsformen ist lediglich für das Selbst eine naheliegende Möglichkeit, die es ihm ermöglicht, dem Abgrund schnellstmöglich zu entkommen. Dabei muss allerdings betont werden, dass es nicht die Angst ist, die diese Flucht notwendig macht, sondern es ist eine Freiheitstat des oder der Einzelnen, der beziehungsweise die sich selbstverantwortlich dazu entscheidet. Dass der Abgrund der Möglichkeiten Angst hervorruft, wird nach der Darstellung des Möglichkeitsraums bei Whitehead nachvollziehbar. Der Mensch ist als hoch entwickeltes mentales Wesen dazu in der Lage, seine physischen Bedingtheiten in hohem Maße zu transzendieren und sich einen enormen Möglichkeitsspielraum vorzustellen. Auch wenn es ihm als endlichem Wesen nicht möglich ist, die gesamte unendliche Spannbreite der Möglichkeiten vorzustellen, was allein Gott möglich ist, so reicht es doch aus, sich vieler möglicher Szenarien der Wirklichkeit bewusst zu werden. Diese Möglichkeiten übersteigen auch in ihrer Dramatik die Wirklichkeit, sodass man Kierkegaard zustimmen muss, wenn er schreibt: »Wer es dagegen in Wahrheit gelernt hat, sich zu ängstigen, er wird wie im Tanze schreiten, wenn der Endlichkeit Ängste aufzuspielen beginnen, und der Endlichkeit Lehrlinge Verstand verlieren und Mut.«26 23 Vgl. dazu: Michael Theunissen, Das Selbst auf dem Grund der Verzweiflung. Kierkegaards negativistische Methode, Frankfurt a. M. 1991. 24 Vgl. Søren Kierkegaard, Der Begriff Angst, Simmerath 2003. 25 Vgl. Kierkegaard 2003, 60 f. 26 Kierkegaard 2003, 168.

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Die Angst macht ihm diese Möglichkeiten in dramatischer Weise erfahrbar. Letztlich kann die Angst als die größte Intensität des Bewusstseins im Sinne Whiteheads verstanden werden, denn »[d]ie größte Intensität erlangt es [das Bewusstsein; C. L.] als negative Wahrnehmung in der freien Imagination, durch die neue begriffliche Formen in das Universum gelangen, die nicht schon als Beispiel in der Welt vorgegeben sind. Denn hier werden unter Umständen neue Möglichkeiten erfasst, deren Realisierung durch die bisher verwirklichten Möglichkeiten noch gar nicht in Sicht ist.«27 In der Angst wird dem Menschen die Weite der Möglichkeiten existenziell bewusst. Auch in der Möglichkeit des Scheiterns, das heißt der Selbstverfehlung. Die Dramatik der eigenen Verantwortung sowohl für die eigene Existenz als auch die Existenz des anderen wird dem Menschen in der Erfahrung existenzieller Angst deutlich vor Augen geführt. Vor dem Hintergrund des Ideenschemas Whiteheads lässt sich nun aber die Frage nach dem Ursprung der Möglichkeiten, mit denen sich der Mensch unweigerlich konfrontiert sieht, ausmachen, der bei Kierkegaard noch im Unklaren ist. Die Möglichkeiten entstammen der Urnatur Gottes, der in seiner begrifflichen Natur diese Möglichkeiten bereithält und den Entitäten vorlegt. Mit der Vorstellung des zielursächlichen Wirkens Gottes wird auch die Annahme Kierkegaards gestützt, dass der Mensch als Selbst ständig aufgefordert sei, sich dem wahren Selbst anzunähern. Dennoch bleibt auch angesichts des göttlichen Ursprungs der Möglichkeiten und des Willens Gottes, dass der Mensch sich doch seiner Eigentlichkeit gemäß entscheiden möge, wie allen wirklichen Entitäten die Möglichkeit offen, sich diesem Willen zu verweigern und dem Prozess der Selbstwerdung eine andere Wendung zu geben. Diese ständige Freiheitsmöglichkeit ist es, welche in der existenziellen Angst in besonderer Weise aufscheint und den Menschen die Flucht in eine Form der Verzweiflung suchen lässt. Dagegen wäre es dem Selbst entsprechender, eine andere neue Möglichkeit zu ergreifen und ein Wagnis mit dem Risiko des Scheiterns und der Verfehlung einzugehen. Die Verwirklichung einer neuen Möglichkeit entspricht zudem dem Prozess der Wirklichkeit, wie Whitehead sie dargelegt hat. Ja, man kann sogar behaupten, dass die Wahl des Gewohnten dem Willen Gottes sogar entgegensteht, denn seine Schöpfung ist

27 Müller 2009, 79.

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ein kreativer Prozess, der auf das ständig Neue ausgerichtet ist und die Pluralität und die Kontraste bevorzugt.28 Somit stellt die menschliche Existenz innerhalb der Prozessualität der Wirklichkeit – und damit ihrer Uneindeutigkeit – stets ein Wagnis dar, dem man sich aber unausweichlich zu stellen hat. »Wie denkst Du über Dich selbst? Wie denkst Du über die Welt? … Das sind Fragen, mit denen alle fertig werden müssen, wie es ihnen gut scheint. […] Bei allen wichtigen Verrichtungen im Leben müssen wir einen Sprung ins Dunkle wagen […].«29

4 Fazit Vor dem Hintergrund des prozessualen Wirklichkeitsverständnisses Whiteheads und der Darlegungen Kierkegaards lassen sich einige Konsequenzen für eine theologisch-praktische Anthropologie ausmachen, die aufgrund des engen Rahmens hier nur angedeutet werden können. Außerdem lässt sich erkenntnistheoretisch festhalten, dass sich mit der Verknüpfung der prozessphilosophischen Kosmologie Whiteheads die anthropologischen Analysen Kierkegaards ontologisch fundieren lassen und dass sie dadurch ein stabiles Fundament erhalten. Außerdem lassen sich meines Erachtens plurale und kontrastreiche Lebensentwürfe als natürliche, ja sogar besonders gewünschte Teile des Prozesses ausmachen. Denn der Prozess der Wirklichkeit und die Verwirklichung der wirklichen Entitäten streben nach einer Intensivierung der Erfahrung, die durch eine Zunahme an Kontrasten und eine vermehrte Pluralität von Erfahrungen erreicht werden kann. Meiner Ansicht nach lassen sich somit die zunehmenden Lebensentwürfe in allen Bereichen des Menschlichen als Ausdruck des göttlichen Willens verstehen. Wenn die Welt und damit auch der Mensch mit Whitehead und Kierkegaard als Prozess verstanden wird, gilt es sich in eine Haltung der Veränderung einzuüben. Letztlich haben damit zum Beispiel mit Blick auf soziologische Veränderungen die Befürworterinnen und Befürworter des Beständigen und eines Einheitsdenkens, das eher dem Substanzdenken ent-

28 Vgl. Abschnitt 2.2. 29 James Fitzjames Stephen, Liberty, Equality, Fraternity, 2. Auflage, London 1874, 353 (zitiert nach: William James, Der Wille zum Glauben, Stuttgart 1899, 33).

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spricht, die Beweislast zu tragen, anders als dies im Alltag – vor allem im Kontext der katholischen Pastoral – der Fall zu sein scheint. Des Weiteren zeigt die Analyse des Selbst bei Kierkegaard, dass der Wunsch nach Beständigkeit und Sicherheit zwar verständlich ist, aber letztlich auf Scheinsicherheit abzielt, die mit Kierkegaard als eine Form der Verzweiflung zu deuten ist. Dagegen sind der Wandel und die Dynamik des Selbst die eigentlichen Weisen, wie das Selbst zu sich kommt. Dies bedeutet keine ständige Veränderung des Lebensentwurfs, sondern die ständige Auseinandersetzung mit den bislang getroffenen Entscheidungen und die Reflexion des Status quo. Außerdem geht damit eine Bereitschaft zur Veränderung einher, die unabdingbar ist, um sich nicht in der Endlichkeit oder in der Notwendigkeit zu verlieren. Zugleich bedarf es auch einer Erdung und Konkretisierung des Selbst im Alltag, um sich nicht in der Unendlichkeit beziehungsweise der Möglichkeit zu verlieren. Damit wird aus prozessphilosophischer Sicht auch der bipolaren Natur jeglicher Entität Rechnung getragen, die sich in einer materialistisch-physischen (also endlichen) und einer mentalen (also das Endliche transzendierenden) Seite ausdrückt. Weiterhin lassen sich vor dem Hintergrund der Kosmologie Whiteheads und der Analysen Kierkegaards Folgerungen für einen konkreten Umgang in der Auseinandersetzung mit den eigenen Möglichkeiten ziehen. Wenn Gott als der Ursprung der zeitlosen Gegenstände, das heißt der unendlichen Möglichkeiten, zu gelten hat und sich ein Teil dieser Möglichkeiten dem Menschen in der Erfahrung der Angst zeigt, so lässt sich vor dem Hintergrund eines den Menschen liebenden und am Prozess der Welt Anteil habenden Gottes doch mutig Neues wagen und es lassen sich neue Möglichkeiten ergreifen. Es bedeutet, dass der Abgrund der Möglichkeiten, wie Kierkegaard ihn darstellt, eben nicht ins Nichts führt, sondern in Gott ein Fundament findet, in dem letztlich alles aufgehoben ist.

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1 Auftakt Der Titel dieses Bandes »Wagnis Mensch werden« gibt Anlass zur Irritation: Wer wagt eigentlich was bei der »Menschwerdung«? Auf den ersten Blick legt sich – vor allem aus der Perspektive Praktischer Theologie gedacht – nahe, dass es bei diesem Unterfangen um die Frage geht, wie christliche Existenz zum Wachstum von praktischer (Mit-)Menschlichkeit, von Humanität, von erfahrbarer Menschenliebe in unserer von durch Menschen ausgeübter Gewalt zerrissenen Welt sinnvoll und effektiv beitragen kann. Wie können Christen kraft ihres Glaubens an den menschgewordenen Gott diesen in einer menschenfeindlichen Welt bezeugen? Es gibt aber noch einen ganz anderen Zugang zu der Wendung »Mensch werden«. Franz Kamphaus titelte 2019 ein wenig flapsig: »Mach’s wie Gott, werde Mensch«1. Doch welche geistig-theologischen Voraussetzungen bringen hier welche Konsequenzen hervor, bringen sie zur Welt? Der christliche Osten hört die Wendung »Mensch werden« nicht praktischtheologisch, sondern dogmatisch und liturgisch: Er spricht an Weihnachten vom »Hochfest der Menschwerdung unseres Gottes und Heilandes Jesus Christus«. Beim »Wagnis Mensch werden« liegt es also nicht fern, der Theologie des Festes der Gottesgeburt auf die Spur zu kommen. Mein Weihnachtstrauma – eine biografische Notiz

Es ist bezeichnend, wie üppig die satirischen Publikationen zum Thema »Weihnachten« ausfallen.2 Die Autoren sind sich darin einig, dass die Kultur des Weihnachtsfestes zu einem geistesfreien Konsumrausch verkommen ist, bei dem religiöse Inhalte zu leeren Sentimentalitäten degeneriert sind. Schon anno 1976 1

Franz Kamphaus, Mach’s wie Gott, werde Mensch. Ein Lesebuch zum Glauben, Freiburg i. Br. 2019. 2 Vgl. Hans Scheibner, Wer nimmt Oma?, Hamburg 2010; vgl. Gerhard Polt, Nikolausi, in: ders., Alles über Weihnachten, Zürich 2018, 7 f.; vgl. ders., Im Schatten der Gans, Zürich 2003. Und am derbsten: Walter Moers, Es ist ein Arschloch, Maria!, Frankfurt a. M. 1992 (versehen mit

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sang der Liedermacher Stephan Sulke: »Du lieber Gott, komm doch mal runter und schau dir die Bescherung selber an!«3 Mein Vater zelebrierte den Heiligabend als kerzenerleuchtetes Paradies für glückselige Kinderaugen. Auf diesen Abend konzentrierte sich seine Lebenssehnsucht nach einer heilen Welt, nach der heilen Familie. Mit einer unendlichen Hingabe schmückte er die weihnachtliche Stube. Der Christbaum erstrahlte im Kerzenlicht, das von Lametta und bunten Glaskugeln vertausendfacht wurde. Das Kripplein mit den Terracotta-Hummelfiguren war in einer Baumwurzel aufgestellt und über allem thronte ein Rauschgoldengel. Wir Kinder warteten gespannt in unserem Zimmer auf das Klingen des Glöckleins, mit dem das »Christkind« uns Eintritt gewährte. Mein Vater war mit seiner Kriegsbiografie heillos überfordert und flüchtete sich ins katholische Milieu. Dort fühlte er sich »daheim« und sicher vor den Verunsicherungen der bösen Welt »draußen«. Daher kam es auch zwangsläufig zu einer heftigen Krise, als wir Kinder uns entwickelten und eigene Gedanken und Ideen artikulierten und realisierten. 1978 hatten die Verbände der kirchlichen Jugendarbeit angeregt, Weihnachten einmal anders zu feiern: der Christbaum sollte an Weihnachten zu ökologisch-politisch-pazifistischer Reflexion anregen. So sollte ein vertrocknetes totes Tannenbäumchen aus dem nahen Wald an den sauren Regen gemahnen; mit meinen Geschwistern ersetzte ich das Lametta durch Stacheldraht, die Christbaumkugeln durch Handgranatenattrappen und die Kerzen durch leere Gewehrpatronenhülsen. Es heißt doch im Weihnachtsevangelium »Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden den Menschen seines Wohlgefallens« (Lk 2,14). Als wir dann das Christkindglöckchen läuteten, damit unsere Eltern in die weihnachtliche Stube eintreten konnten, stürzte mein Vater auf dem Absatz wieder hinaus, schloss sich im Elternschlafzimmer ein und drohte sich umzubringen, wenn wir nicht alles wieder so machen, wie es früher immer war. Wir hatten ihm seine sentimentale Idylle zerstört. Erst viele Jahre später erfuhr ich von ihm, dass er mit seinen Soldatenkameraden an Weihnachten 1942 im Kessel von Stalingrad tatsächlich ein Tannenbäumchen aus Ermangelung an Lametta und Christbaumkugeln mit Stacheldraht und (scharfen) Handgranaten geschmückt hatte, um davor das obligate »Stille Nacht« anzustimmen. Erst durch meine psychotraumatologische Ausbildung lernte ich viele Jahre später nach seinem Tod verstehen: Wir hatten seinerzeit folgender Bemerkung auf dem Einband: »WARNUNG! Dieses Buch könnte Ihre religiösen Gefühle verletzen! Entfernen Sie den Schutzumschlag erst, wenn Sie sicher sind, dass Sie keine haben!«). 3 Vgl. Stephan Sulke, Du lieber Gott, online verfügbar unter: https://www.flashlyrics.com/lyrics/stephan-sulke/du-lieber-gott-08 (letzter Zugriff am 21.09.2021).

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an diesem Heiligabend (ohne dies wissen zu können) unserem Vater einen sehr schmerzlichen und heftigen Flashback »beschert«. Die Perversion der Kultur des Weihnachtsfestes ging mir dann unwiderruflich an Heiligabend in meinem Zivildienst auf, den ich in einer Obdachlosenunterkunft ableistete: Der verzweifelte Schmerz dieser Männer, die alle dem sentimentalen Weihnachtsdiktat der »Heil(ig)en Familie« nicht entsprechen konnten (weil ihre Familien heillos zerrüttet waren), brachte sie schier um den Verstand. An diesem Abend gab es vier Suizidversuche in dem Haus. Später habe ich mich an Weihnachten regelmäßig für den Bereitschaftsdienst der Klinikseelsorge in Stuttgart gemeldet. Ein geschickter Fluchtweg. Praktische Nächstenliebe am Fest der Liebe. Wer geht schon freiwillig an Weihnachten arbeiten? Wer angesichts einer lebensverkürzenden Erkrankung an Weihnachten nicht aus der Klinik zu den Seinen nach Hause kann, der weiß, dass es sein letztes Weihnachten ist. Wie kann ich in meinem seelsorglichen Auftrag den schwerstkranken Patienten weihnachtlich begegnen ohne sie billig zu vertrösten? Wie soll das gehen? Was wünsche ich der einsamen sterbenskranken Patientin an Weihnachten auf der Krebsstation? »Frohes Fest«? Ihre Angehörigen sind ja so (mit sich selbst) beschäftigt: dem »Feiern«. Wie und warum kann sich ein leidgeplagter Mensch erschließen, dass Gott Mensch wird?

2 Unterwegs zu einer Soteriopraxis – oder: Wie kann Erlösung wirksam werden? Wirkliche Freude kommt im menschlichen Herzen dann auf, wenn Erlösung, die Lösung von gewalttätiger Bedrückung und einsamer Verzweiflung, erfahrbar wird. Und wenn an Weihnachten der Heiland den Himmel aufgerissen hat,4 was kann dies den nach Leben dürstenden Seelen bedeuten, die durch Leid geschlagen sind? Praktische Theologie muss sich zuinnerst immer als praktische Soteriologie verstehen. Die theologische Vorbedingung der Erlösung ist die unerlässliche Basis für das Heilshandeln der Kirche in der Welt der Menschen. Eine gelingende 4

Der Jesuit Friedrich von Spee dichtet in seinem Adventslied »O Heiland reiß’ die Himmel auf!« (1637) in der 4. Strophe: »Wo bleibst du Trost der ganzen Welt/darauf sie all ihr Hoffnung stellt/O komm, ach komm vom höchsten Saal, komm tröst’ uns hier im Jammertal!« (Gotteslob. Katholisches Gebet- und Gesangbuch, Ausgabe für die Diözese Rottenburg-Stuttgart, Ostfildern 2014, Nr. 231) und beschreibt damit sehr treffend die seelische Not und die brennende Sehnsucht des leidenden Menschen.

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Praktische Theologie muss sich ihrer soteriologischen Grundlagen vergewissern. Welche Denkfiguren, welche religiösen Überzeugungen lassen die Erlösung, die die biblische Tradition überliefert, real und praktisch erfahrbar werden? Michael Schulz führt den Begriff der »Soteriopraxis« ein: sie ist für ihn der in konkretes zwischenmenschlich-soziales Handeln umgesetzte Erlösungswillen Jesu Christi. Er begründet das erlösende Handeln des Menschen dogmatisch: »Christologie verpflichtet, weil Christus zur Soteriopraxis befähigt. Das auch vom Christen verlangte Tun zur Erlösung zeigt, dass das stellvertretende Handeln Jesu den Menschen nicht ersetzt, sondern wieder einsetzt in seine Freiheit zugunsten der Anderen.«5 Soll die christliche Erlösung in unserer Welt »funktionieren«, dann muss deren systematisch-theologischer Bauplan »stimmen« und frei sein von strukturellen Fehlern. Angesichts der Verkommenheit des Weihnachtsfestes in der abendländischen Kultur kann da etwas nicht stimmen. Wo ist da ein theologischer Ausweg? Wie ist das »Wagnis Menschwerdung« im Licht von Weihnachten zu deuten?

3 Das Geheimnis der Menschwerdung unseres Gottes und Heilandes Jesus Christus in der Tradition des christlichen Ostens »Wer in Gerechtigkeit geht und die Wahrheit sagt, wer es ablehnt, Gewinn zu erpressen, wer sich dagegen wehrt, Bestechung anzunehmen, wer sein Ohr verstopft, um nichts von Bluttaten zu hören, und seine Augen verschließt, um nichts Böses zu sehen: der wird auf Höhen wohnen, Felsenburgen sind seine Zuflucht; sein Brot wird gegeben, seine Wasserquellen sind gesichert. Deine Augen werden den König in seiner Schönheit erblicken, sie sehen ein fernes Land.« (Jes 33, 15–17) Die Ostkirche schaut den »König in seiner Schönheit« (Jes 33,17), wie er von der ersten Stunde seines irdischen Daseins in der Felsenburg liegt, die ihm Zuflucht gewährt. »Während abendländische Dichtung und Kunst sich mehr am Propheten Amos orientieren und die Krippe in das ›verfallende Haus Davids‹ (Amos 9,11) stellen – das dann im Laufe der Jahrhunderte mehr und mehr die Form eines 5 Michael Schulz, Der Beitrag von Emmanuel Levinas zum jüdisch-christlichen Dialog, in: Münchener theologische Zeitschrift 56 (2005) 148–161, hier: 160.

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Stalles annimmt –, geht die Ostkirche von der örtlichen Überlieferung der Stadt Bethlehem aus.«6 Dort feierten die Christen seit Anbeginn das Hochfest der Christgeburt in nahegelegenen Höhlen. Dort fanden die Hirten bei widriger Witterung mit ihren Herden Unterschlupf und hatten dort Futterkrippen aufgestellt. Während uns die Überlieferung des christlichen Ostens mit Jes 33,15–17 ein Bild der Menschwerdung vor Augen stellt, die nur durch ein menschliches Leben in gottgefälliger Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit (»von unten«) begriffen und empfangen werden kann, geht die lateinische Tradition aus von der Heilsvision des Amos 9,11 (der Wiederaufrichtung der zerfallene Hütte Davids) aus, in der es Gott ist, der in seiner Tatherrschaft (›von oben‹) auf wunderbare Weise die Größe seines erwählten Volkes wiederherstellt. Zeigt sich hier schon eine soteriologische Markierung? Welches Bild der Menschwerdung hat das größere Potenzial, eine gelingende Praktische Theologie zu entfalten? Der kirchlichen Überlieferung ging und geht es nie um bloße historische Fakten: So wie die johanneische Tradition in den »Wundern« Jesu »Zeichen« (σημεῖα)7 sieht – Erfüllungen alter prophetischer Visionen –, so hat auch die Höhle von Bethlehem eine ganz besondere Bedeutung für die Glaubenden. Die Gottesgeburt in der Höhle ist ein solches »Zeichen«, das sehr vielschichtig das Mysterium der Menschwerdung Gottes ins Bild setzt: Sie ist ein »Zeichen« »für Welt, Erde, altes und neues Israel, für Kirche, Mensch und Seele. Immer aber geht es um das, was Höhle eigentlich ist: um Bergendes, Aufnehmendes, Geheimnisvolles, nach Innen Nehmendes, nach außen Zeigendes, Offenbarendes und Schenkendes.«8 Die Hymnographen des christlichen Ostens besingen vor allem die Antinomien der Menschwerdung Gottes: »der Unendliche im Endlichen, der Zeitlose im Zeitlichen, der Große im Kleinen, der Reiche in der Armut, der Unberührbare jetzt zum ›Anfassen‹, der Unsichtbare jetzt sichtbar, der Unumgrenzte jetzt umgrenzt, der rein Geistige jetzt bei Mensch und Tier, der Logos bei den A-logischen«9.

6 Irenäus Totzke, Geburt in der Höhle, Freiburg i. Br. 1989, 7. 7 Vgl. Rudolf Bultmann, Das Evangelium des Johannes (Kritisch-exegetischer Kommentar über das Neue Testament; Abt. 2), 11. Auflage, Göttingen 1950, 78.217 Anm. 1.299 Anm. 2.346. 8 Totzke 1989, 8. 9 Ebd.

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4 Die Menschwerdung als Ernstfall der Erlösung Der christliche Osten kennt im Grund nur ein Dogma: »Gott ward Mensch.« Die Dogmengeschichte der frühen Kirche beschreibt somit nichts anderes als die Entfaltungen dieses Bekenntnisses. Hier öffnet sich die Tiefe des Erlösungsgedankens, den die Ostkirche bis zum heutigen Tage erschließt: die Theosis, die Vergöttlichung des Menschen.10 Athanasius von Alexandrien hat dies klar formuliert: »Der Logos ist Mensch geworden, damit wir vergöttlicht werden.«11 Die lateinische Theologie tut sich hingegen traditionell schwer mit dem Gedanken der Gottwerdung des Menschen. Denn Gott wird seit der Gegenreformation gerne »oben« gedacht – und der Mensch wie die Schöpfung von ihm getrennt »unten«. Auf keinen Fall einem Pantheismus Vorschub leisten! Daher ist die abendländische Überlieferung geprägt von juridischem Denken:12 Der Mensch steht kraft eines Rechtsbruches Gott gegenüber durch die sogenannte Erbsünde seit Augustinus in einer unsühnbaren Schuld bei Gott. Diese menschliche Schuld ist so unermesslich im Angesicht der Allmacht des Richtergottes, dass dieser willkürlich einen Teil der Menschen in seiner unfehlbaren Vorsehung zur ewigen Seligkeit, den anderen zu ewigen Höllenqualen unausweichlich vorherbestimmt – im Sinne einer »doppelten Prädestination«.13 »Die Konsequenz dieses Denkens ist der grauenvollste psychische Sadismus, den das Christentum je hervorgebracht hat, weil es zahllose Menschen über eineinhalb Jahrtausende hinweg in eine ausweglos-verzweifelte Gottes- und Lebensfurcht getrieben hat.«14 Solch ein Denken konterkariert die eindeutigen Zusagen des gnädig-allbarmherzigen Gottes:

10 11 12 13 14

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Vgl. Wladimir Lossky, Die mystische Theologie der morgenländischen Kirche, Köln 1961, 84 f. Athanasius, De Incarnatione 5. Vgl. Karl-Christian Felmy, Die orthodoxe Theologie der Gegenwart, Darmstadt 1990, 133 f. Vgl. Augustinus, De Civitate Dei, X. Georg Hummler, Lazarus komm heraus – Mit der provokativen Therapie von Frank Farrelly auf den Spuren der Erlösung, Ostfildern 2021, Kap. 4.4.1.

Georg Hummler

»Einer ist für alle gestorben.« (2 Kor 5,14) »Christus hat sich als Lösegeld hingegeben für alle.« (1 Tim 2,6) »Wie es also durch die Übertretung eines Einzigen für alle Menschen zur Verurteilung kam, so kommt es auch durch die gerechte Tat eines Einzigen für alle Menschen zur Gerechtsprechung, die Leben schenkt.« (Röm 5,18) »Wenn aber alles ihm untertan sein wird, dann wird auch der Sohn selbst untertan sein dem, der ihm alles unterworfen hat, auf dass Gott sei alles in allem.« (1 Kor 15,28)15 Der christliche Osten hingegen denkt Erlösung nie juridisch,16 sondern trinitarisch in der Figur der Kenosis.17 Die Bewegung des Abstiegs Gottes ist die Bewegung der Erlösung, wie sie die Christen des Ostens an den drei wichtigsten Hochfesten, dem altorientalischen Weltbild folgend, feiern: bei seiner Menschwerdung (an Weihnachten) steigt Gott unter die Erde, in die Finsternis, ja in den Dreck hinab. Bei seiner Taufe (Theophanie) steigt er in die Wasser unter der Erde und heiligt damit alle Wasser. Und an Ostern erobert er in seiner Höllenfahrt die Hölle, um alle und alles endgültig heimzuholen, mit dem Vater im Himmel zu vereinen und darin zu erlösen. Im Philipperhymnus (Phil 2,5–11) findet sich der Schriftbeleg par excellence für die Kenosis. Den treffendsten Kommentar zu Phil 2,6 hat Paulus selbst formuliert: »Denn ihr wisst, was Jesus Christus, unser Herr, in seiner Liebe getan hat: Er, der reich war, wurde euretwegen arm, um euch durch seine Armut reich zu machen.« (2 Kor 8,9)18 Die Denkfigur des erlösenden Abstiegs Gottes setzt die Ostkirche anschaulich ins Bild:

15 Zur ausführlichen Diskussion des Gedankens der Allerlösung: vgl. Hummler 2021, Kap. 4.8. 16 Vgl. Aleksej Stepanovic Chomjakov, Einige Worte eines orthodoxen Christen über die abendländischen Glaubensbekenntnisse, in: Nicolai von Bubnoff & Hans Ehrenberg (Hrsg.), Östliches Christentum. Dokumente, Bd. 1: Politik, München 1925, 139–199, hier: 161; vgl. Julius Tyciak, Theologie in Hymnen. Theologische Perspektiven byzantinischer Liturgie (Sophia; Bd. 10), 2. Auflage, Trier 1979, 17. 17 Vgl. Hermann-Josef Röhrig, Kenosis. Die Versuchungen Christi im Denken von Michail M. Tareev, Leipzig 2000. 18 Vgl. Etienne Carpentier & Regis Brunet, Führer durch das Neue Testament, Düsseldorf 2006, 117 f.; Petr Pokorny & Ulrich Heckel, Einleitung in das Neue Testament, Tübingen 2007, 168 f.273–285.

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5 Das ikonografische Zeugnis des christlichen Ostens am Fest der Menschwerdung Gottes19 Die beigefügte ostkirchliche Darstellung der Fleischwerdung unseres Gottes und Heilandes Jesus Christus aus der Kirche Agios Nikolaos tis Orphanos aus Thessaloniki aus dem 14. Jahrhundert (Abb. 1) gibt westlichen Betrachtern große Rätsel auf: Denn da sind die biblischen Zeugnisse des Abb. 1: Fleischwerdung unseres Gottes Lukas- (Lk 2,6–20) und des Matthä- und Heilandes Jesus Christus, Kirche Agios Nikolaos tis Orphanos, Thessaloniki, usevangeliums (Mt 1,18–2,12) inein- 14. Jahrhundert (Edition S. Sterghiopoulos, ander gemalt. Da ist kein strahlendes Photo Lykides, Thessaloniki) Mutterglück zu sehen, in dem Maria ihr neugeborenes Söhnchen verzärtelt. Nicht das neugeborene Kind ist im Mittelpunkt der Weihnachtsikone zu sehen: Übergroß zentral ist da Maria abgebildet. Sie ist die »Theotókos«, die Gottesgebärerin, das seelische Prinzip, das Gott zur Welt bringt. Sie ist das Urbild der menschlichen Seele, der Ort der Menschwerdung Gottes. Der Schoß der Gottesgebärerin ist unser eigenes Herz, die Krippe der Gottesgeburt.20 Sie liegt auf einem purpurnen kaiserlichen Kissen – von ihrem Kind abgewandt. Braucht sie Ruhe und Erholung nach der anstrengenden Geburt? Der neugeborene Christus liegt hinter ihr in einer finsteren Höhle wie eine Mumie eingewickelt in die Grabestücher des Ostermorgens in einem offenen Sarg. Für den christlichen Osten ist die Geburtshöhle identisch mit der Grabeshöhle. Im Osterkanon des Johannes von Damaskus singen die zum Grab Christi eilenden Frauen: »So lasset uns eilen wie einst die Magier und niederfallen und Myrrhen bringen als Gaben dem, der nicht gehüllt ist in

19 Vgl. Georg Hummler, Licht aus dem Osten – Ikonen als Himmelsfenster in unsere Welt, Hirsau 2021, 9 f. 20 Nicht von ungefähr dichtet der schlesische Mystiker Johannes Scheffler: »Wird Christus tausend Mal zu Bethlehem geboren und nicht in dir – du bleibst noch ewiglich verloren« (Angelus Silesius, Sämtliche poetische Werke in drei Bänden, Bd. 3: Cherubinischer Wandersmann, hrsg. von Hans Ludwig Held, München 1952, 13).

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Windeln, nein, in Grabestücher gehüllt ist.«21 Die allegorische Parallelisierung zwischen der Auferstehung und der Geburt Christi ist offenkundig. Der alttestamentliche Prophet Jesaja sagt: »Der Ochse kennt seinen Besitzer und der Esel die Krippe seines Herrn; Israel aber hat keine Erkenntnis, mein Volk hat keine Einsicht« (Jes 1,3). So werden die scheinbar dummen Tiere Ochse und Esel den trotz ihrer Vernunft blinden Betrachtern als Beispiel des Vertrauens vor Augen gestellt. Sie gehören zur anbetenden Gemeinde und fehlen auf keiner Ikone. Denn die Menschwerdung Gottes ereignet sich hier nicht als ein »Aufdie-Erde-Herniederkommen«. Es ist ein »In-die-Erde-­Hineinkommen« – in ihr Innerstes: Gott steigt in seinem Abstieg unter die Erde. In der großen Kenosis der Menschwerdung verlässt der Logos, das Wort des Vaters, die Sphäre des »Log-ischen«, um die Welt des A-Logischen zu erlösen. Denn der menschgewordene Gott will »alle zu sich ziehen«22. »Die Tiere deuten also geheimnisvoll die Unter-Welt und damit Tod und Auferstehung des Herrn an, um derentwillen Er ja eigentlich kam. Darüber hinaus steht der rotfarbige Ochse (Stier) für Männliches und Sonnenhaftes, der silberfarbige Esel für Weibliches und Mondhaftes.«23 Dem christlichen Osten ist eine Idyllisierung ins Pastorale, Hirtenhafte fremd. Aus dem Himmel, dem halbkreisförmigen Tympanon bricht das himmlische Licht herab. »Das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet, kam in die Welt« (Joh 1,9). Es ist in schwarzer Farbe gemalt, da das göttliche Licht ja gemäß der biblischen Überlieferung den Menschen blendet und seine Augen überfordert (vgl. Ex 33,22; Mt 17,2 par). Der Lichtstrahl durchbricht den toten Fels und trifft in der Höhle auf den menschgewordenen Gott. »Durch die barmherzige Liebe unseres Gottes wird uns besuchen das aufstrahlende Licht aus der Höhe, um allen zu leuchten, die in Finsternis sitzen und im Schatten des Todes, und unsre Schritte zu lenken auf den Weg des Friedens« (Lk 1,78–79). Rechts davon auf der Ikone kündet ein Engel den Hirten auf dem Felde die Frohe Botschaft (vgl. Lk 2,8–18). Gegenüber nahen sich die drei Magier mit ihren Gaben der Gottesgebärerin (vgl. Mt 2,1–12). Unter ihnen auf der Ikone ist der Heilige Josef abgebildet, wie er gemäß Mt 1,19 durch den Versucher von einem 21 Kilian Kirchhoff, Osterjubel der Ostkirche. Hymnen aus der vierzigtägigen Osterfeier der byzantinischen Kirche, hrsg. von Johannes Madey, 3. Auflage, Münster 1988, 21 f. 22 Vgl. die Ich-Worte im Johannesevangelium: »Und ich, wenn ich über die Erde erhöht bin, werde alle zu mir ziehen« (Joh 12,32). Hier ist auch wieder der Gedanke der All-Erlösung klar und deutlich artikuliert. 23 Totzke 1989, 12.

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Sturm zweideutiger Gedanken geplagt wird. Rechts unten auf der Weihnachtsikone ist die Szene des ersten Bades des neugeborenen Thronfolgers aus dem byzantinischen Hofritual abgebildet: Hier wurde der himmlische König geboren.

6 Ausklang »Das Geheimnis der Menschwerdung ist an keine Jahreszeit gebunden. Aber an Weihnachten begibt sich der östliche Christ ›in die Höhle‹, in die Geburtsgrotte von Bethlehem und staunt: der Unfaßbare wurde faßbar, der Unendliche endlich, der Reiche arm. Der unbedingte Geist steigt durch die Sphäre des Bedingten hinab auf die Ebene des Unter-Geistigen, des Animalischen. Gott unter den Tieren, denn alle will er zu sich ziehen. Im Dunkel der Höhle fühlt die Ostkirche das Dunkel des Abgründigen. Die Windeln des GottKindes gemahnen an die Leichentücher. Er wird sie zerreißen, wird wie ein Schmetterling aus der Puppe schlüpfen und die Schwingen der Auferstehung ausbreiten. Eine geheimnisvolle Identität zwischen den Magiern aus dem Osten und den Frauen am leeren Grabe wird sichtbar: das Männliche und das Weibliche auf dem Wege des Mysteriums. Und über allem der Stern, der die Heiden mit den Söhnen Abrahams in Gemeinschaft treten lässt.«24 Dieser heruntergekommene Gott25 geht in seiner Menschwerdung bewusst das Wagnis aller Wagnisse ein: er lässt sich physisch ein in das »Unten« – in seine Schöpfung – und wird selbst in seiner Selbstmitteilung ein Teil von ihr. Er entleert sich seines göttlichen Hochstatus (vgl. Phil 2,5–11), »entäußert sich all seiner Gewalt, wird niedrig und gering, und nimmt an eines Knechts Gestalt der Schöpfer aller Ding«26 und sprengt so in seinem freiwilligen Leiden, in seinem Tod am Kreuz schließlich die Hölle auf – um alle und alles in seinem Abstieg, seiner Kenosis zu erlösen. Dies ist der innerste Kern der Menschwerdung Gottes: Dass wir Menschen dann zu wahren Menschen werden, wenn wir in die psychosoziale Abwärtsbewegung gehen in unserem Wahrnehmen, Denken und Handeln. Wer Gott finden will, muss (wie er) herunterkommen (vom »hohen Ross«), die eigenen Berührungsängste, ja den eigenen Ekel überwinden lernen, um die Not der 24 Totzke 1989, Klappentext. 25 Vgl. Dieter Theobald & Vreni Theobald, Der heruntergekommene Gott. Weihnachtliche Betroffenheiten, Stuttgart 1994. 26 Nikolaus Herman, Lobt Gott ihr Christen alle gleich [um1560], in: Gotteslob 2014, Nr. 247, Strophe 3.

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Menschen und der Schöpfung psychisch und physisch zu berühren und sich von ihr berühren zu lassen. Dann wird Menschwerdung offenbar. Alfred Delp schrieb am 17. November 1944 auf einen Kassiber mit gefesselten Händen aus seiner Zelle im Gefängnis Berlin-Tegel: »Das eine ist mir so klar und spürbar wie selten: Die Welt ist Gottes so voll. Aus allen Poren der Dinge quillt er gleichsam uns entgegen. Wir aber sind oft blind. Wir bleiben in den schönen und bösen Stunden hängen und erleben sie nicht durch bis an den Brunnenpunkt, an dem sie aus Gott herausströmen. Das gilt für alles Schöne und auch für das Elend. In allem will Gott Begegnung feiern und will die anbetende, hingebende Antwort. Die Kunst und der Auftrag ist nur dieser, aus diesen Einsichten und Gnaden dauerndes Bewusstsein und dauernde Haltung zu machen und werden zu lassen. Dann wird das Leben frei in der Freiheit, die wir immer gesucht haben.«27 Diese spirituelle Sicht kann Erlösung praktisch erfahrbar werden lassen: überall dort, wo sie nicht gesehen, gehört, vermutet wird: in einer Flüchtlingsunterkunft, im Gefängnis, an einem Sterbebett, am Fließband, im Rotlichtviertel, auf einer Müllkippe, im hektischen Gewühl einer Großstadt, in der Begegnung mit einem Bettler, in einer psychischen Erkrankung, in der Begegnung mit perspektivlosen Jugendlichen und Gewaltopfern. So kann jede Nacht durch die Menschwerdung ihre Weihe erfahren.

27 Alfred Delp, Kassiber vom 17.11.1944, online verfügbar unter: https://www.sankt-peter-koeln. de/wp/gemeinschaft/veranstaltungen/elemente-ignatianischer-spiritualitat/ (letzter Zugriff am 19.09.2021).

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Anthropology of hope The phenomenon of resurrection Skaidrīte Gūtmane

1 The testimony of Latvian culture While studying for a postgraduate degree at the University of Latvia Faculty of Philosophy, I had the opportunity to attend lectures by professor Sergei Averintsev, an outstanding philologist, byzantologist and later head of the Department of Slavic Studies at the University of Vienna. Between lectures, the conversations focused on the Holy Trinity, which Averintsev ironically opposed to the Soviet-era »trinity« of idolatry1 and won the trust of the graduate students. We talked about the banned issues at the time, including the Creed and, of course, the Resurrection of Christ. To a question asking what he thinks about the Resurrection, the professor replied that »it is not given to us in experience« and that he does not even try to imagine its dynamics. When asked why, he replied: »What people imagine are myths.« On the other hand, the promised resurrection of the dead incomprehensible for human mind can only be believed. »If I believe in the resurrection of the dead, then the problem is deeply connected with man’s highest responsibility to God and other men, because we are endowed with ability to think for ourselves.« What does it mean to think for yourself? How is it possible to think for yourself? Most people follow others, but some stick to tradition. What tradition? It is known that in the Middle Ages monks were reading Virgil. Western culture kept the ancient philosophy and passed it to future generations. But Latvia – what tradition of hope does it keep? We have a collection of folk-songs, excellent volumes of the philosophy of the working day and virtues that can be »wrapped into a ball« around the composition structure called »the cross name«. If we take the term »resurrection« as the cross word, it is easy to »wrap up« songs about the »sun beyond«:

1 Which is: Marx–Engels–Lenin.

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Dieviņš veda dvēselīti Pliku, kailu debesīs; Te palika miežu lauki, Te mantiņa, bagātība. [God was guiding a soul Naked one, straight into a heaven; Here barley fields were left behind Along with riches, and wealth.] Vai dieniņa, man’ dieniņa Tu atnāci nezināma; Nu iet mana dvēselīte Paša Dieva debešos. [Woe to me, my day has come, You arrived with no warning; Now my soul is lifted up In the heavenly abode of God himself.]

What universal organ of metaphysical intuition and perception has made an ordinary Latvian person in pre-Christian times combine the world of his knowledge with the hope that the Bible speaks of? Here we see intuitive perception that people’s lives are wider, deeper, and wrapped in something unexpected more than a person can comprehend on a daily basis. Therefore, in expressing the hope of encountering another horizon of joy, people believed in the miracle that at least something in a person is immortal. Averintsev wrote that an understanding of the Resurrection must come from our lives. A person has to gain space and coordinates for his or her thoughts, and one has to agree that people may want to think their thoughts to the end, but do not manage them. There is no talk of the Resurrection without full-amount thinking space. We need to stop and look back at what we own and what we are currently losing forever. This is an absolute necessity. What to handle national memories? Latvian folk-songs offer a pantheistic paradigm about the connection between God and the world. The God of folk-songs is a cultural hero who answers man’s prayers. Man prays, and God synergistically comes »to sit at the end of the table« to offer help. It is a proper sense of the connection between God and man – through prayer and synergistic exchange. Of course, the connection in Latvian folk-songs is not as theoretically conscious as in the works of Orthodox theologians fr. Pavel Florensky, Alexei Losev, or the Russian emigrant theologians Vladimir Lossky and fr. John Meyendorff. The modern philosopher Sergey Horuzhy suggests that we stop at anthropolAnthropology of hope

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ogy, that we refuse to describe man and God as »substance« or »subject«, and instead speak about the relationship between God and man in the language of synergistic exchange.2 Anthropologically, such an approach changes the understanding of man; man is therefore a being to whom God has given an unchanging nature. Man is created to be infinite and immortal. He is born once to live forever. That is why the today’s technological man possesses essential core that man himself cannot take out of himself. Even if he feels self-sufficient in his mind, he is still on the periphery, and there will be a moment in his life when God will make him to encounter the energies of life-forces that come from God. In His love, God will offer rise on higher level of mind and wisdom in order to come to an understanding of what the Resurrection is. It is referred to in the Orthodox Church as »synergy«.

2 Cooperation of God and creation The Greek term συνεργία would be best translated as »cooperation« or »reciprocity«. This notion, quite remote to non-specialists, is extremely important in the theology of the Eastern Church and in the practice of spiritual asceticism. The doctrine of synergy has always existed in the Eastern Orthodox Church, but it was most accurately articulated by the Second Ecumenical Council of Nicaea (787) and the so-called tradition of hesychasm, the central concept of the spiritual life of the Orthodox Church. Special place to synergy is ascribed in the revelation to St. Gregory Palamas (14th century), who taught that the energies of God connect with the energies of creation and man.3 This concept first appears in the New Testament (1 Corinthians 3:9), where apostle Paul affirms that »we are co-workers (συνεργοί) in God’s service«. Due to the obedience to the energy of God’s blessing, the realization of God-likeness or deification (θέωσις) becomes possible. God-likeness requires man’s own pursuit of God’s blessing. As already described in the 5th century by St. John Cassian the Roman: »One must always be convinced that man cannot attain the perfection of his spiritual life by own efforts, and one cannot understand what the resurrection is – even if he perseveres in all his virtues. Man alone does not have the strength to rise to the heights of holiness and blessing. If God does not 2 Cf. Сергей Хоружий [Sergey Horuzhy], К феноменологии аскезы [On the Phenomenology of Ascetism], Москва [Moscow] 1998. 3 Cf. Saint Gregory Palamas, The Triads: In Defense of Those who Practice Sacred Quietude, transl. by Fr. Peter A. Chamberas, Hebron (USA) 2021.

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cooperate and lead man’s heart into humility and repentance, which is very good for everyone, then (…) not only man’s free will but also God’s blessing participates in man’s salvation. Together, they are equally needed.«4 The energy of God’s blessing and its special power can only be logically understood if man undergoes spiritual practice. This is not possible with intellectual effort alone. This is also confirmed by the Sermon on the Mount, which says, »Blessed are the pure in heart, for they shall see God« (Matthew 5:8). In the 14th century, the Church affirmed the dogma of the inseparability of God and His energy. Like other dogmas, the Council of the Church affirmed it as essential to the salvation of man, which is to say that biblical theology and anthropological problems cannot be solved by the human mind alone. For example, Karl Barth (1886–1968), a neo-orthodox theologian of the modern age, writes: »Faith denies any possibility of man attaining God, and therefore also complete love. God has revealed Himself as a Person, Jesus Christ. Without Christ, God is inaccessible to man, but Resurrection is the ultimate, most complete revelation to man, so the Resurrection is the key to the entire New Testament.«5 Barth radically opposed the psychologization of the hope of the Resurrection and rejected anthropocentrism in the sense of the Resurrection. It seems that the technocratic man has never realized the phenomenon of the Resurrection, the mysterious nature of light and hopes for immortality. Technological civilization gives sense of power, but that sense is deceptive. It seems that modern man acknowledges that everything exists in the given space and time, and that the depths of meaning of human life contain nothing more. For man, the notion of the Resurrection as something »above us« seems absurd. Accord4

Преподобный Иоанн Кассиан Римлянин [Venerable John Cassian the Roman], Тринадцатое собеседование аввы Херемона (третье) [Thirteenth conversation of Abba Heremon (third)]. О покровительстве Божием, или о том, как благодать Божия содействует совершению добрых дел (About the protection of God, or how the grace of God contributes to the accomplishment of good deeds) (Глава 16. О благодати Божией, превышающей малую веру человеческую) [Chapter 16. About the grace of God, exceeding little human faith], in: id., Писания к семи другим, посланным к епископу Гонорату и Евхерию, собеседованиям отцов, живших в египетской пустыне Фиваиде [Writings to seven others, sent to Bishop Honorat and Eucherius, conversations of the fathers who lived in the Egyptian desert Thebais], available online at: https://azbyka.ru/otechnik/Ioann_Kassian_Rimljanin/pisaniya_k_ semi/3_16 (last access on 1st May 2021). 5 Cf. Karl Barth, The Word of God and The Word of Man [Das Wort Gottes und die Theologie, 1928], transl. by Douglas Horton, New York 1957, 95.

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ing to the salvation history, God, by creating all that is under the sun, gave man the power to rule over all creation. To put it in the profane language of economics: one must not be self-sufficient. It requires prayer connection to God. As the ages changed, people saw the possibilities of their minds and began to live not within the circle of blessing, but within the confined area of their own goodness. Even if one thinks of himself as self-sufficient, i. e. separated from God, he will still be in the periphery because he has a core that needs contact with a force that corresponds to his core. Man is not created for seclusion, but for dynamic openness. The human telos (τέλος) does not stem from man’s own will or unwillingness, but from the »ability to reach the anthropological borderline«6 revealed by the Lord Jesus Christ. Man is a being who can exist at the extreme limit or borderline. He is not who he is today, but he is that which finds himself surpassing himself. His truth is revealed in the ability to disconnect oneself from illusory self-sufficiency and to approach the borderline of existence.

3 Presence of God Western philosophy today prefers a »closed world« because it has forgotten the irrevocable transcendental dimension. It largely describes the universe in neutral terms, thus failing to distinguish between what is a thing, what is a human being, and what is God. Greek and Russian Orthodox philosophy has always envisioned a conversation with God, which means a conversation about the meaning and truth of human life. Only a synergistic approach provides an answer to why we are currently in an anthropological crisis together with all the virtual illusions, suicide and euthanasia lobbies, biotechnology, genetic engineering and artificial intelligence. It is not about the death of man, it is about the disappearance of man as a unique phenomenon. It is a collective suicide when humanity equips a new being with what to replace itself – the so-called post-humanist man. One cannot fail to notice that today it is impolite and even impossible to speak of the spiritual nature of man. There is no death where God is. It is like fire and ice; you can have only one or the other in the same place. The testimony of this is the resurrection of Lazarus (John 11). I am amazed at the conviction with which Martha and Mary repeat, »Lord! If you had been here, my brother would not have died!« Think 6 Cf. Сергей Хоружий [Sergey Horuzhy], Конституция онтологической Границы [The Constitution of the Ontological Boundary], in: id., Очерки синергийной антропологии [The Essays on Synergetic Anthropology], Москва [Moscow] 2005, 24–35.

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about it, how is it possible to die in God’s presence? In this miraculous event, we see Jesus as the man before the death of his friend – he is confused because he does not know, so he asks, »Where have you laid him?« We also read that Jesus wept. This human manifestation in the person of Christ has caused much effort for exegetes to explain, but the meaning of the episode seems to be that death recedes when Christ faces death. On Easter night, we sing in the Church, »By death He conquered Death!« Many do not understand hope – is it burden or benefit? Is it an optical instrument to see farther and deeper? Or is it perhaps a pink bandage around the eyes of Christians? If it is worth thinking about the hope of the Resurrection, then we should ask what it might mean in practice. How is the hope of the Resurrection aligned with our existence?

4 Faith, Hope, and Love To understand this, Hope must be read in connection with Faith and Love, as many Church Fathers have noted. I want to mention St. John of the Ladder (7th century), who writes in his Ladder of Divine Ascent: »In my opinion, faith is like a ray, hope is like light, and love is like the bright disk of the Sun. Together they create the same brilliance and light.«7 Thus, the hope of the Resurrection given to man derives from the resurrection of Lazarus. This is a testimony of the resurrection of all men and of the Resurrection of Jesus on the third day after the cross of Calvary. St. John of the Ladder writes, »Hope is the power to manage treasures before they are acquired.«8 Hope has traditionally been embedded in the fundamental values of European culture. Hope expresses a life-affirming paradigm of worldview and expresses the direction of the Western mentality towards the worldview optimism. This general cultural paradigm is accompanied by various language discourses in the field of universal culture, such as philosophical, religious, psychological and others. Christianity fills the meaning of the word with a new content – showing a person the opportunity to live in a mode of perfected personality or God-likeness. Consequently, hope becomes a Christian mission throughout life, with the goal being the Resurrection and immortality. This is the eschatological perspective of hope. The Eastern Orthodox Church has pro7 Sv. Jānis Pakāpnieks [St. John of the Ladder], 30. pakāpiens. Par tikumu triādi – ticību, cerību un mīlestību [Step 30. On the Triad of Virtues – Faith, Hope, and Love], in: id., Pakāpieni uz Debesīm [The Ladder of Divine Ascent], Jūrmala 2014, 258 (2.). 8 Sv. Jānis Pakāpnieks 2014, 261 (29.).

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vided a systematic understanding of reaching the limit of one’s spiritual life connected with the bearer of eternal blessing. The other personality I would like to quote belongs to a completely different spiritual way of thinking: Eugen Moritz Rosenstock-Huessy, a 20th century religious philosopher, creator of the space of European historical, sociological and theological concepts, a master of paradox. He explains hope as a shock: »Faith, hope, and love are forces by which we gain time. Without faith in God, man is a self-created stump because he has cut off his future. Cut off his head. Without hope, man is cut off from the roots of his past. Without love, the other person is turned into just another object of this world. […] Faith holds the future and therefore it hold also the Resurrection. Hope belongs to the past, but love embraces another being in order to share it in the present.«9 Elsewhere, Rosenstock writes that hope always gives a person what he expects: »We hope to meet someone again, we hope to keep something, to win, to be healthy.«10 The Gospel, Rosenstock says, »is without the word ›hope‹, because the whole text of the Gospel shows the hope of the Resurrection, faith and love as a whole.«11 One can agree with Rosenstock that man is a being whose hope is closely tied to the longing to gain the power that humans once had before they decided to separate themselves from God as the source of life and to receive death. But at one time, people were with the Creator in the Garden of Paradise and were immortal. Every person carries this immortality in himself. Like King David expressed, »One thing I ask from the Lord, this only do I seek: that I may dwell in the house of the Lord all the days of my life, to gaze on the beauty of the Lord and to worship him in his sanctuary« (Psalm 27:4). We project into the future the common ontological experience of humanity that was given to us in the so-called collective memory since Creation, and we are convinced that the God-created and life-affirming content of existence that Adam and Eve once experienced in Paradise will undoubtedly be ours as well. We carry it forward in the future, relying on the event of Christ’s Resurrection that He has revealed to us. 9 Ойген Розеншток-Хюсси [Eugen Rosenstock-Huessy], Рабочие учат слишком мало, а учителя слишком много: разгадка Августином загадки времени [Workers Are Taught Too Little, and Teachers Teach Too Many: The Solution by Augustine to The Riddle of Time], in: id., Избранное: Язык рода человеческого [The Selected Writings: The Language of the Human Race], Москва – Санкт-Петербург [Moscow – Saint Petersburg] 2000, 36–76, here: 40. 10 Ойген Розеншток-Хюсси 2000, 41. 11 Ойген Розеншток-Хюсси 2000, 43.

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Of course, one can try to shape life with a worldview without hope. Unfortunately, it is the most common way of thinking in the last and present century. This approach has its own heroism and tragic pathos – to build a life with a clear mind, to place hope, tough and principled, only on yourself and on your own powers, and/or to value the past as an achievement and to defend with it one’s own atheistic beliefs. This is a position on which I would like to say a few more words: in parallel with this everyday life, there is a practice of life in which hope is inherent and is the most necessary factor for human existence. In one of her recent articles, Russian poet and translator Olga Sedakova perfectly emphasizes this approach to life. Referencing Dante’s Divine Comedy, she writes, »Giving up hope is the main sign of hell. Where hope disappears, hell occurs. Everything else is an area of hope.«12

5 Behold! Concluding my reflection on the Resurrection of Christ, which is at the heart of the faith of Church’s and the answer to the tempting and denying spirit of this age, I therefore ask: What would the Church be without the Christ Risen? And I answer: it would be a place where people come in and stay with their life difficulties. Looking back at the empirical history of the Church, we can see many unpleasant things – no less and no more than in any other human organization. Therefore, I would like to quote very private confession from professor Sergey Averintsev. He wrote, »I do not know how a tempter affects other people, but when it affects me, he does not refer to science or suggest criticism of theology. He says unto me, See yourself! How do you pray to God? How do you behave in people? Well, isn’t that a real theater? And you are not ashamed to think that this theater is something serious?«13

12 Ольга Седакова [Olga Sedakova], Данте: Мудрость Надежды [Dante: The Wisdom of Hope], in: Память и история: на перекрестке культур [Memory and Culture: On the Crossroads of Cultures]/ Сост. К. Б. Сигов [Comp. by K. B. Sigov], Киев [Kiev] 2009, 153–165, here: 165. 13 Сергей Аверинцев [Sergey Averintsev], Образ Иисуса Христа в православной традиции (Пасха: космически-сверхкосмическое таинство) [The image of Jesus Christ in the Orthodox tradition (Easter: A cosmic – super-cosmic sacrament)], in: id., Собрание сочинений. Связь времен [The Collected Works. The Connection of Times], Киев [Kiev] 2005, 150–168, here: 149.

Anthropology of hope

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The professor continues, »Then I think that in the lies the devil tells me there is part of the truth. But the bottom line is that I’m not alone. There is the Risen Christ with me in the Church. That is what reveals the true nature of the Church.«14 The power of the risen Christ is the only one that justifies people’s delusion between the truth and the weakness of this earthly existence.

6 What my deliberations imply for a theological anthropology? By reconstructing the anthropology of the Resurrection of Christ, contained in the Christian tradition of ascetism, the article shows how man is understood as »synergy« of created, natural energies, and uncreated, divine energies. According to Orthodox Christianity, the overarching goal of human existence is to achieve the state of deification, which we interpret as an »ontological transformation« of personality, which leads through anthropological crisis to the phenomenon of the Resurrection. Orthodox anthropology as an epistemological program provides the instruments to identify and describe man as created in the image and likeness of God, and as such forming human identities today.

14 Сергей Аверинцев 2005, ibid.

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Skaidrīte Gūtmane

»… sondern erlöse uns von dem Bösen«? Religionspsychologische Rückfragen an das jüdisch-christliche Gottesbild1 Ludger Verst

»Das Problem des Bösen ist eines der zentralsten Probleme des modernen Menschen. Keine Berufung auf alte Werte und Leitbilder schützt uns vor der Erkenntnis, in einer Welt zu leben, in der das Böse im Menschen, gigantisch aus der Tiefe aufsteigend, uns alle ausnahmslos vor die Frage stellt, wie wir mit diesem Bösen fertig werden können.«2

1 Skizzierung des Problems Das »Böse« als Gegensatz zum »Guten« scheint archetypisch in der menschlichen Natur angelegt zu sein und wird zumeist dem unerwünschten und verdrängten, dem unbewussten Schattenanteil der Seele zugeschrieben. Das »Böse« im Kollektiv erleben wir zurzeit auf der politischen, vor allem weltpolitischen Bühne durch globale existenzielle Bedrohungen: Rassismus, Populismus, Klimawandel – Phänomene, die in anderen Zusammenhängen intensiv diskutiert werden. Auch im weltkirchlichen Kontext ist die Frage nach dem Bösen virulent und nie wohl nur eine rein dogmatische Streitfrage gewesen. Insbesondere die katholische Kirche sieht sich heute zusehends mit der Frage konfrontiert, wie weit sie mit ihrer dogmatischen und ethischen Praxis Menschen nicht nur heilbringend begleitet, sondern ebenso heillos im Stich lässt, bisweilen überhaupt missbraucht und krank werden lässt. Die Gründe dafür wären zu beleuchten. Soteriologische Konzepte wie die »Sünden- und Erbsündenlehre« oder Theoreme wie das der »felix culpa« führen, aufs Ganze gesehen, mehr zu moralisierenden oder naiven Verstellungen des jesuanischen Blicks denn zur Erhellung der unlösbar scheinenden Verflochtenheit des Menschen in persönliche Schuld. Kirchliche Theologie identifiziert Gott einseitig als 1

Der Beitrag greift in einigen Teilen auf einen Vortrag zurück, den ich bei der Frühjahrstagung »Faszination des Bösen – erleben – durchleben – widerstehen« der Deutschen Gesellschaft für Analytische Psychologie (DGAP) am 7. März 2020 in Stuttgart gehalten habe. 2 Erich Neumann, Tiefenpsychologie und Neue Ethik, München 1964, 7.

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»summum bonum«, als »höchstes Gut«, während das Gegenteil, das »Übel«, nur menschlich verursacht sein kann und verurteilt werden muss.3 Was immer am Dunklen und Abgründigen verlockend und zugleich bestürzend sein mag: Am Ende muss es besiegt und der Mensch von ihm erlöst werden. Überdies wird durch die Historisierung des biblischen Sündenfall-Mythos bis heute anstelle einer verständlichen Psychologie des Bösen ein unbegreiflicher geschichtlicher Kollektiv- und Schuldzusammenhang konstruiert, der sich immer mehr als das eigentliche Übel dogmatischer Engführung und kirchlicher Bevormundung erweist.

2 Der religionspsychologische Orientierungsansatz Carl Gustav Jungs Vor diesem Hintergrund könnte ein dogmenkritischer psychologischer Blick möglicherweise neue und zugleich tiefergehende Orientierungen freilegen, die im weiten Kontext jüdisch-christlicher Gottesrede grundsätzlich zu vermuten sind. Dies soll mithilfe einiger vom Schweizer Psychiater Carl Gustav Jung (1875–1961) erarbeiteter und schulintern weiterentwickelter Konzepte der Analytischen Psychologie ausschnitthaft vorgenommen werden. 2.1 Gottesbild Den Wert alten menschheitlichen Wissens, zu dem auch das Wissen der Religionen gehört, transparent, ja, vielen überhaupt wieder zugänglich gemacht zu haben, ist eines der großen Verdienste C. G. Jungs. Er ist der Überzeugung: »Religionen stehen […] mit allem, was sie sind und aussagen, der menschlichen Seele so nahe, dass am allerwenigsten die Psychologie sie übersehen darf.«4 Eine zentrale Entdeckung seiner Psychologie ist, dass der Mensch in 3 Die Folge ist die Identifikation mit dem einen Gegensatzpol und die Verpönung des anderen. Das Gottesbild wird so rein männlich, rein geistig, ausschließlich gut; das Weibliche und das Leibliche werden als böse verdächtigt oder bekämpft. Klerikalismus, Sexualfeindlichkeit und der Ausschluss von Frauen von Weiheämtern wie in der katholischen Kirche sind Ausdruck dieser Entwicklung. Vgl. exemplarisch Gerhard Ludwig Kardinal Müller, »Es kann nur ein Mann sein«. Warum dürfen Frauen nicht Priester werden?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 50, 19.12.2021, 4. 4 Carl Gustav Jung, Versuch einer psychologischen Deutung des Trinitätsdogmas, in: Gesammelte Werke 11 (= GW 11), § 172 (im Folgenden gekürzt zitiert). Siehe auch: ders., Briefe, Bd. 1, hrsg. von Aniela Jaffé in Zusammenarbeit mit Gerhard Adler, Olten – Freiburg i. Br. 1972/73, 132: »Gott hat nie anders zum Menschen gesprochen als in der Seele, und die Seele versteht es, und wir erfahren es als etwas Seelisches.«

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der Verwirklichung seines Selbst5 das Gottesbild erfahre, womit Jung die uralte menschliche Erfahrung unterstreicht, dass Selbsterkenntnis in der Tiefe zur Gotteserkenntnis führen kann. Das Gottesbild6 selbst sage nichts darüber aus, ob Gott wirklich existiere, denn die Psychologie sei nicht in der Lage, metaphysische Behauptungen aufzustellen. »Dass die Gottheit auf uns wirkt, können wir nur mittels der Psyche feststellen, wobei wir aber nicht zu unterscheiden vermögen, ob diese Wirkungen von Gott oder dem Unbewussten kommen […]. Beide sind Grenzbegriffe für transzendente Inhalte.«7 Jung erkennt im Gottesbild den »Inbegriff nicht nur des geistigen Lichtes, […], sondern auch die »dunkelste, unterste Ursache aller naturhaften Finsternisse«8. Damit stellt Jung einen Gedanken zur Verfügung, der offenbar einer tiefen, psychologischen Wahrheit entspricht: die »Gegensätzlichkeit eines und desselben Wesens, dessen innerste Natur eine Gegensatzspannung ist«9. Von hier aus ergeben sich nun auch Bezüge zur biblischen Gottesrede, die religionspsychologisch als Impuls zur Befreiung aus einem einseitig verstandenen Gottesbild gelesen werden kann: Der Jude Jesus von Nazareth überwindet den moralischen Gott, indem er sich dem Gesetzlichen und Zweckhaften seiner Religion widersetzt und sie auf ihren göttlichen Kern von Liebe und Wahrheit hin vertieft. Aus dieser Tiefung erlebt und lebt er eine einzigartige, versöhnende Gottesnähe. Wie bedeutsam ein solch vertiefender Blick auf Glaube und Religion und so eben auch auf religiöse Praxis heute ist, dürfte aus eigener oder vermittelter Anschauung vielen bekannt sein. Zum einen begegnen uns Menschen – meist ältere – mit Lebensgeschichten, an denen schnell ablesbar ist, wie schwer Moralgesetze, ja, manchmal die gesamte religiöse Biografie auf ihnen lastet. Zum anderen gibt es Menschen in Kirche, Schule und Hochschule, denen die biblische und erst recht die kirchlich-konfessionelle Sprache nichts oder nurmehr Naives sagt und die diese Sprache, obgleich in Kinderschuhen steckengeblieben, dennoch nicht ablegen, weil ihnen außer den alten, inhaltsleer gewordenen Glaubensfloskeln eigene inspirierende Worte fehlen. Gerade die Praktische 5 Vgl. Gerhard Wehr, Christentum und Analytische Psychologie. Die Nachfolge Christi als Verwirklichung des Selbst, Stuttgart 2009, 103–127. Als empirischer Begriff bezeichnet das »Selbst« nach C. G. Jung »den Gesamtumfang aller psychischen Phänomene im Menschen. Es drückt die Einheit und Ganzheit der Gesamtpersönlichkeit aus« (GW 6, § 891). 6 Gottesbilder beruhen auf menschlichen Erfahrungen. Die Psychologie »kann nur konstatieren, dass die Symbolik der psychischen Ganzheit mit der des Gottesbildes koinzidiert, aber niemals beweisen, dass ein Gottesbild Gott selber ist oder dass das Selbst Gott ersetzt« (GW 9/2, § 308). 7 Jung, Antwort auf Hiob, in: Zur Psychologie westlicher und östlicher Religion, GW 11, § 757. 8 Ders., Über die Energetik der Seele, in: Die Dynamik des Unbewussten, GW 8, § 103. 9 Ebd. (Hervorhebung durch L. V.).

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Theologie dürfte wissen, dass eine Rede von Gott nicht schon vom Thema her religiös wird, sondern erst von ihrer sinnlich erfahrbaren Qualität, von einer Symbolsprache etwa, die in die Tiefe der Existenz, auf die Rückseite des Alltäglichen und Selbstverständlichen, kurz: in eine geistige wie geistliche Dimension zu führen versteht, die eben auch um das Abgründige des Göttlichen und Menschlichen weiß. 2.2 Vollständigkeit statt Vollkommenheit Einen weiteren bedeutsamen Impuls erhält die theologische Praxis durch das Schattenkonzept der Analytischen Psychologie, nämlich inhaltlich und methodisch sich den Persönlichkeits- und wohl auch den Systemanteilen10 zuzuwenden, die dem Urteil des Nicht-Akzeptiertwerdens unterliegen und sich — direkt oder indirekt — gerade deshalb immer wieder aufdrängen. Gerade hier unterliegt eine Kirche, die gern das Helle und Heile lobt, das Dunkle und Unheile aber mit moralischen Besen auskehrt, einer heillosen Überanstrengung. Aus der therapeutischen Erfahrung Jungs heißt es dazu: »Das Individuum mag sich zwar um Vollkommenheit mühen […], muss aber zugunsten seiner Vollständigkeit sozusagen das Gegenteil seiner Absicht erleiden.«11 Denn »im Unbewussten […] ist alles vorhanden, was im Bewusstsein verworfen wird, und je christlicher das Bewusstsein ist, desto heidnischer gebärdet sich das Unbewusste«12. Jung stellt Vollkommenheit und Vollständigkeit einander gegenüber. Die Suche nach Vollkommenheit, zum Beispiel als Nachfolge Christi, verschärfe nur den Konflikt. »Die Ganzheit ist keine Vollkommenheit, sondern eine Vollständigkeit.«13 Der Mensch solle nach Vollständigkeit, nach psychischer Ganzheit streben, das heißt nach einer Synthese der Gegensätze, was Jung auch als »coniunctio oppositorum« bezeichnet. So könne das Individuum in ihm festgeschriebene Gegensätze relativieren und in eine Äquidistanz zu beiden gelangen. 10 Die Kirche benötigt als Ganze — das zeigt katholischerseits allein der desaströse Umgang mit der Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs — eine Auseinandersetzung mit den Verstrickungen klerikaler Trieb- beziehungsweise Machtverdrängung, um sich der dahinterliegenden Ursachen ihrer moralischen Doppelbödigkeiten überhaupt bewusst zu werden. In diesem Zusammenhang richtet Klaus Kießling »drängende Fragen an Kirche und Theologie«, unter anderem dadurch, dass er die »Frage nach dem Unbewussten einer Institution« (Hervorhebung im Original) stellt, einer Kirche, die sich den dunklen Motiven ihres Machtgebrauchs dringend stellen müsse, wenn sie sich nicht als geschlossenes System »blickdicht abschirmen« wolle. Vgl. Klaus Kießling, Geistlicher und sexueller Machtmissbrauch in der katholischen Kirche, Würzburg 2021, besonders: 49–52. 11 Jung, Aion. Beiträge zur Symbolik des Selbst, GW 9/2, § 123. 12 Ders., Antwort auf Hiob, GW 11, § 713. 13 Ders., Praxis der Psychotherapie, GW 16, § 452.

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»Das Ich bewahrt nur seine Selbstständigkeit, wenn es sich nicht mit einem der Gegensätze identifiziert, sondern die Mitte zwischen den Gegensätzen zu halten versteht. Dies ist aber nur dann möglich, wenn es sich nicht nur des einen, sondern auch des anderen bewusst ist.«14 Der Jung’sche Schattenbegriff kann daher auch nicht einfachhin mit »dem Bösen« gleichgesetzt werden. Der Schatten als dunkler Persönlichkeitsanteil ist »in der Regel nur etwas Niedriges, Primitives, Unangepasstes und Missliches«15, nicht an sich böse. Auch hier zeigt sich das Prinzip der Gegensätzlichkeit, denn bei genauerer Betrachtung kann man entdecken, »dass der unbewusste Mensch, eben der Schatten, nicht nur aus moralischverwerflichen Tendenzen besteht, sondern auch eine Reihe guter Qualitäten aufweist, nämlich normale Instinkte, zweckmäßige Reaktionen, wirklichkeitsgetreue Wahrnehmungen, schöpferische Impulse und anderes mehr«16. Nach Jung ist eine intensive Beschäftigung mit dem eigenen Schatten auch deshalb dringend nötig, weil damit allfällige Projektionen, die so genannten Schattenprojektionen, zurückgenommen und deren Inhalt als Problem der eigenen Person eingeordnet werden können.17 Diese Einsicht, so Jung, wird dem Individuum allerdings »nicht nur von seinen sozialen und politischen Führern schwergemacht, sondern auch von seinen religiösen. Alle wollen die Entscheidung für das eine und damit die restlose Identifizierung des Individuums mit einer notwendigerweise einseitigen ›Wahrheit‹. Selbst wenn es sich um eine große Wahrheit handeln sollte, so wäre die Identifizierung damit doch etwas wie eine Katastrophe, indem sie nämlich die weitere geistige Entwicklung stillstellt. Anstatt Erkenntnis hat man dann nur noch Überzeugung, und das ist manchmal viel bequemer und darum anziehender.«18

14 Ders., Theoretische Überlegungen zum Wesen des Psychischen, in: Die Dynamik des Unbewussten, GW 8, § 425. 15 Ders., Psychologie und Religion, GW 11, § 134. 16 Ders., Aion, GW 9/2, § 423. 17 »Solch ein Mensch weiß, dass, was immer in der Welt verkehrt ist, auch in ihm selber ist, und wenn er nur lernt, mit seinem eigenen Schatten fertig zu werden, dann hat er etwas Wirkliches für die Welt getan. Es ist ihm dann gelungen, wenigstens einen allerkleinsten Teil der ungelösten riesenhaften Fragen unserer Tage zu beantworten« (GW 11, § 140). 18 Ders., Wesen des Psychischen, GW 8, § 250–251.

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Christen fällt eine solche Betrachtungsweise für gewöhnlich nicht leicht. Schleppen sie doch seit den Briefen des Apostels Paulus und dogmengeschichtlich seit Augustins Erbsündenlehre eine Last mit sich, die – wenn man sie aus dem Gottesbezug des Jesus von Nazareth heraus zu lesen und zu verstehen versucht –, zu einer Geschichte von Missverständnissen geführt hat. In den Evangelien gibt es weder Zitate im Sinne einer »ipsissima vox Iesu«, noch Hinweise der Autoren auf einen Sündenfall Adams, dessen Fehler durch Jesus rückgängig zu machen gewesen wäre. Paulus aber entwickelt eine »Theologie der Sünde« und eine damit zusammenhängende Anthropologie, die zur Grundlage der späteren Erbsündenlehre wurde: »Wie durch einen [einzigen] Menschen die Sünde in die Welt hereingekommen ist und durch die Sünde der Tod, so ist zu allen Menschen der Tod gelangt, weil [darum, dass] alle gesündigt haben« (Röm 5,12). Es gibt in der Theologie zwar immer wieder Versuche, den durch den Sündenfall Adams entstandenen Unheilszustand symbolisch zu verstehen. Herausgekommen sind dabei einige mehr oder weniger sprachliche Reparaturen am dogmatischen Lehrgebäude, weil man inzwischen zwar historisch-kritisch die biblischen Texte liest, in zentralen Fragen der Anthropologie aber voraufklärerisch bleibt. Es sind Abschwächungen in der Drastik der Rede über Sünde und menschliche Erlösungsbedürftigkeit. Vereinfacht könnte man sagen: »Erbsünde« bezeichnet heute eine prinzipielle, unserer menschlichen Natur entspringende Unfähigkeit, das, was wir als richtig erkennen, tatsächlich auch zu tun. Die traditionelle Erlösungslehre aber produziert weiterhin mehr Zweifel und Widerspruch, als dass der kritische Zeitgenosse sich selbst und die Welt darin tiefer verstehen könnte. Die Heilsbedeutung des Christlichen müsste nicht durch eine Sühneopfertheologie abgestützt werden, um das Einzigartige, das Prototypische des Jesus von Nazareth auf die Erfahrungen unserer Tage hin transparent zu machen. 2.3 Selbstwerdung Mit dem Individuationskonzept19 der Analytischen Psychologie liegt ein Bewusstsein und Unbewusstes gleichermaßen berücksichtigendes integratives Konzept vor, das menschliches Leben als einen lebenslangen Reifungsund Wandlungsprozess versteht. Jung bezeichnet es als das Herzstück seiner 19 Zum Begriff »Individuation« vgl. ders., Definitionen, in: Psychologische Typen, GW 6, §§ 825– 828. – Das Individuationskonzept ist »eine komplexe, philosophisch-psychologische Theorie, […] empirisch nicht letztgültig verifizierbar«; es unterliegt »geisteswissenschaftlichen Beurteilungskriterien. Allerdings ist es umgekehrt möglich, einzelne Bestandteile der Theorie einer forscherischen Untersuchung zu unterziehen« (Ralf T. Vogel, Individuation und Wandlung. Der »Werdensprozess der Seele« in der Analytischen Psychologie C. G. Jungs, Stuttgart 2017, 10).

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Psychologie. Es lässt sich kurz auf die Formel bringen: »Werde, der/die du bist.« Selbsterfahrung und Gotteserfahrung sind eng aufeinander bezogen. Jung sagt, es gebe eine natürliche Ausrichtung des Menschen auf das Göttliche; die Seele sei »naturaliter religiosa«20, weil sie der psychischen Notwendigkeit folge, sich auf Umfassenderes auszurichten. In Jungs Menschenbild ist die Bezogenheit auf das Transzendente der entscheidende Aspekt des menschlichen Lebens: »Bist du auf Unendliches bezogen? […] Wenn man versteht und fühlt, dass man schon in diesem Leben an das Grenzenlose angeschlossen ist, ändern sich Wünsche und Einstellung.«21 Wer sich auf Größeres und Umfassenderes, theistisch: auf Gott ausrichtet, verlässt das Oberflächliche und macht sich auf den Weg in die Tiefe seiner selbst. Im Verständnis der Analytischen Psychologie C. G. Jungs haben archetypische Symbole wie auch die Gottesbilder der religiösen Symbolik numinosen Charakter; sie verbinden die bewussten und unbewussten Seiten der Psyche und bringen in Berührung mit den Tiefenschichten menschlicher Existenz. Tiefenerfahrungen dieser Art werden in natürlichen Lebensbezügen, zum Beispiel in Träumen, symbolhaft erlebbar –, dort also, wo noch keine Differenzierungen oder Werturteile vorgeschaltet sind. Auch in den Bildern, Traum- und Wundergeschichten der biblischen Überlieferung werden Tiefenerfahrungen symbolisiert: »Der Geist ergründet nämlich alles, auch die Tiefen Gottes« (1 Kor 2,10). »Auf Unendliches bezogen« zu sein, wäre als Tiefen- oder Geist-Erfahrung spürbar, wenn »ein (innerer) Weg der Wahrnehmung, des Ergreifens und des Ergriffenwerdens beschritten«22 würde. Jung fragt weniger nach dem Glauben als solchem als vielmehr nach der dahinterstehenden Erfahrung. Entweder man macht sie oder man macht sie nicht: die Erfahrung eines Berührtwerdens, das in ein tiefes Erleben führt, was Paul Tillich bekanntlich Ergriffensein nannte von dem, was uns unbedingt angeht. So verstanden wäre Glauben der »innerste und umfassendste Akt des menschlichen Geistes«23, wie er im Selbst-Symbol24 der Analytischen Psychologie zum Ausdruck kommt – als 20 Jung, Psychologie und Alchemie, GW 12, § 14. 21 Aniela Jaffé, Erinnerungen, Träume, Gedanken von C. G. Jung, 5. Auflage, Olten 1987, 327 f. (Hervorhebung durch L. V.). 22 Wehr 2009, 43. 23 Paul Tillich, Dynamik des Glaubens (Dynamics of Faith). Neu übersetzt, eingeleitet und mit einem Kommentar versehen von Werner Schüßler, Berlin – Boston 2020, 1. Hauptkapitel: »Was Glaube ist«, 14–18. 24 Jungs »Selbst«-Begriff unterscheidet sich deutlich vom Selbstbegriff anderer psychologischer Richtungen, insofern das Ich das Subjekt des Bewusstseins, das Selbst aber das Subjekt der gesamten, also auch der unbewussten Psyche ist. Das Selbst bestimmt und strukturiert alle

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Selbstwerdung. Alle Verfasstheiten und Funktionen des Menschen wären in einem solchen Akt tiefgründend lebendig als einer »Quelle von Leben, Sinn und Schönheit«25.

3 Entwicklungs- und Erkenntniswege zum Göttlichen Erfahrungswege solcher Art können Entwicklungs- und Erkenntniswege zum Göttlichen sein. Auf ihnen müsste niemand von Schuld befreit und vom Bösen erlöst werden. Im Zueinander und Gegeneinander von Licht und Schatten, Hell und Dunkel, Gut und Böse bedeutete Selbsterfahrung Ganzwerdung. Dass im Prozess der Ganz- und Heilwerdung Entwicklungs- und Konfliktdynamiken zum Vorschein kommen, dafür gibt es gerade in biblischer Hinsicht eine Vielzahl eindrucksvoller Belege. Ich muss mich im Folgenden auf zwei Beispiele, ein alttestamentliches und ein neutestamentliches, beschränken. 3.1 Kain und Abel Am Opferwettstreit der beiden feindlichen Ur-Brüder Kain und Abel, wie ihn die hebräische Bibel in Gen 4,1–16 erzählt, möchte ich ein Beispiel lokaler mythischer Überlieferungsdynamik vorstellen, das den bereits angedeuteten Aspekt der Gegensatzspannung auf eindrucksvolle Weise veranschaulicht. Wir hatten ja gesagt, dass der Mensch in ihm festgeschriebene Gegensätze relativieren und in eine Äquidistanz zu beiden gelangen solle. Ich möchte zeigen, dass mythische Überlieferungen dies ermöglichen, weil sie keineswegs so starr formatiert sind, wie es aufgrund ihrer archaischen äußeren Form erscheinen mag. Um ihre Orientierungsfunktionen weiter erfüllen zu können, müssen Mythen den sich ändernden Erfahrungswelten gerecht werden. In einer religionsethnologischen Studie mit dem Titel »Der Tod der Reisjungfrau« schildert der Frankfurter Religionsforscher Karl-Heinz Kohl eine ostindonesische Lokalkultur, die Einflüsse einer bereits jahrhundertelangen Verwestlichung offensichtlich mühelos zu integrieren versteht. Unter der Oberfläche der verschiedenen Außeneinflüsse, nicht zuletzt auch durch die Mission der katholischen Kirche, kommt eine lebendige Erzählkultur zum Vorschein, die eigene mythische Traditionsbestände mit christlichen Erzähltraditionen spieleseelischen Entwicklungsprozesse und kann in diesem Sinne als das numinose und begrifflich nicht fassbare Transzendente im Menschen verstanden werden. 25 Jung, Psychologie und Religion, GW 11, § 167.

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risch zusammenbringt. Es zeigt sich: Mythen verfügen über einen »Variationsspielraum, der sie gegenüber neuen Erfahrungen durchaus offen bleiben lässt. Man kann sogar so weit gehen zu behaupten, dass deren Integration in den tradierten Diskurs Bedingungsmöglichkeit ihres Überlebens ist.«26 Am Beispiel des Mythos vom Bruderstreit zwischen Kain und Abel lässt sich nun veranschaulichen, wie Mythenexperten es verstehen, kraft ihrer Autorität in der lokalen Ritualsprache Passagen aus der alttestamentlichen Urgeschichte mit Versatzstücken aus der einheimischen religiösen Überlieferung zu verschmelzen. Kain, so die Überzeugung, sei der Begründer ihrer eigenen (Adat-) Religion gewesen, Abel aber der des Christentums. Anders als in der Bibel setzt sich nun allmählich eine Änderung am Kanon der Überlieferung durch, nach der die Gottheit die Opfer beider, Kain wie Abel, verworfen habe, da sie nicht wollte, dass sich ein Bruder über den anderen erhebe. In der oralen Tradition Ostindonesiens werden so aus ehemals feindlichen Brüdern die Begründer zweier Religionen, der lokalen Religion und des Christentums, was die grundsätzliche Gleichwertigkeit der beiden Religionsformen unterstreicht. Da die Gottheit keinem der beiden Brüder den Vorzug geben will, findet der Brudermord in der lokalen Version dieser Erzählung denn auch gar nicht erst statt: eine dynamische Auslegung des biblischen Ur-Bruderstreits, in der beide Gruppen ihr Konkurrenzverhältnis bearbeiten, indem sie es spiritualisieren. Die universale Religion und die lokalen religiösen Gebräuche sind nur unterschiedliche Formen, unter denen ein und dieselbe Gottheit verehrt wird.27 Was sich hier zeigt, ist der produktive Effekt der Schattenintegration. Eine Volksgruppe, eine Lokalkultur bewahrt ihre Authentizität und Selbstständigkeit, indem sie fortlaufend Anpassungsleistungen vornimmt und nicht mit ihrem Herkunftsmythos versteinert. Dies gelingt, weil sie in Verbindung mit den in ihr wirkenden, auch bedrohlichen Kräften bleibt –, wenn sie sich also nicht nur der inneren, sondern auch der von außen kommenden fremden Einflüsse bewusst ist und sie schöpferisch integriert. Nicht die restlose Identifizierung mit der angestammten mythischen Tradition, sondern die Weitung des Blicks hin auf eine gemeinsame kulturelle Vitalität ermöglicht die Integration des Fremden und Schattenhaften in das eigene System.

26 Karl-Heinz Kohl, Der Tod der Reisjungfrau. Mythen, Kulte und Allianzen in einer ostindonesischen Lokalkultur (Religionsethnologische Studien des Frobenius-Instituts Frankfurt am Main; Bd. 1), Stuttgart 1998, 72. 27 Vgl. Kohl 1998, 73.

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3.2 Jesus und Zachäus Mein zweites Textbeispiel ist die Geschichte eines Besuchs beim Zollpächter Zachäus, wie sie im Lukasevangelium (Lk 19,1–10) erzählt wird. Zachäus ist oberster Zollpächter in Jericho. Lukas schreibt: »Er wollte gern sehen, wer dieser Jesus sei, doch die Menschenmenge versperrte ihm die Sicht; denn er war klein. Darum lief er voraus und stieg auf einen Maulbeerfeigenbaum, um Jesus zu sehen, der dort vorbeikommen musste. Als Jesus an die Stelle kam, schaute er hinauf und sagte zu ihm: Zachäus, komm schnell herunter! Denn ich muss heute in deinem Haus zu Gast sein. Da stieg er schnell herunter und nahm Jesus freudig bei sich auf« (Lk 19,3–6). Wunderbar, wie Lukas – im Hauptberuf bekanntlich Arzt – in wenigen Strichen ein Charakterbild zeichnet und uns in den Seelenzustand des Zöllners einführt. Zachäus ist sehr reich, aber eben auch klein. Das eine bedingt womöglich das andere. Im Grunde ist er ein Mitläufer wie viele im damaligen von den Römern besetzten Palästina. Äußerlich, könnte man sagen, ist Zachäus auf eine Sensation aus. Er will den sehen, den alle sehen wollen und will ganz vorne mit dabei sein. Er steigt auf einen Baum, um mehr zu sehen als andere – eigentlich nicht, um entdeckt zu werden. Aber es kommt auch hier anders. Nicht, dass es ein kurzes »Hallo!« gibt, als Jesus vorbeikommt. Jesus spricht ihn vor allen Leuten an und kehrt bei ihm ein. Allein dieses Bild der Einkehr, des In-Kontakt-Kommens mit dem hohen Gast: Alle anderen können, ja, müssen mit ansehen, wie der wundersame Wanderprediger beim ihm einkehrt. Diese Einkehr wird – was zu erwarten ist von einer guten Geschichte – nicht ohne Folgen bleiben. 3.2.1  Eine Geschichte der Bewusstwerdung und Heilung

Es fängt damit an, dass Zachäus reflexartig sein Leben bilanziert. Wie im Sturm zieht es an seinem geistigen Auge vorbei. Nichts muss gesagt werden und nichts erfragt. Was jetzt geschieht, bleibt für das bloße Auge, für Außenstehende unsichtbar. Lukas inszeniert die Zachäus-Geschichte als innere Begegnungsgeschichte, als eine Geschichte der Bewusstwerdung. »Zachäus (aber) wandte sich an den Herrn und sagte: »Herr, die Hälfte meines Vermögens will ich den Armen geben« (Vers 8a). Es scheint genau die Hälfte seines Vermögens zu sein, an die er bislang nicht herankam, ja, gar nicht denken wollte und konnte, weil sie für ihn im Dunkeln, in seinem Schatten lag. Seine privilegierte Situation, die 138

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äußeren Umstände hatten irgendwie dafür gesorgt, immer mehr zu nehmen als erlaubt, andere und letztlich sich selbst zu betrügen. Jetzt, in der Begegnung mit Jesus, dem »Herrn«, geht es ihm auf, erschließt sich ihm, wer er ist: ein Halsabschneider aus eigener Bedürftigkeit. Er erkennt es – sonnenklar. Jung sagt von solcher Erkenntnis: »Er muss ohne Schonung wissen, wieviel des Guten er vermag und welcher Schandtaten er fähig ist, und er muss sich hüten, das eine für wirklich und das andere für Illusion zu halten.«28 Genau dies geschieht. Zachäus muss nicht von Bösem erlöst werden, sondern durch sein »Böses« hindurch: Selbsterfahrung, nicht Moral. Und so folgt eben kein Strafgericht Jesu. Seine Antwort ist kurz: »Heute ist diesem Haus das Heil geschenkt worden, weil auch dieser Sohn ein Sohn Abrahams ist« (Vers 9). Hier wird nichts moralisch vermessen oder aufgerechnet, sondern eine alte, eine tiefe Verbindung wiederhergestellt. Zachäus kommt mit sich und seiner Herkunft in Berührung; im eigenen Haus wird die gekappte Verbindung zum Hause Abrahams, Isaaks und Jakobs wieder hergestellt, die Verbindung zur spirituellen Wurzel der Väter als einer bewusstmachenden, mit dem Urgrund verbindenden Integration. 3.2.2  Das (An-)Erkennen der eigenen Wunde

Bei Jung ist der Inhalt, mit dem es Verbindung herzustellen gilt, der archetypische Formenreichtum des kollektiven Unbewussten, der sich in der Vielfalt symbolischer Ausdrücke als der umfassende Grund unserer unbewussten Ganzheit offenbart. Für diese Verbindung steht Jesus. »Heute ist diesem Haus das Heil geschenkt worden«: Heilung ist für Zachäus, den Raum der Wunde betreten zu dürfen, der sich hinter all den mächtigen Gefühlen von Kleinsein und falschem Reichtum und der Angst, entlarvt und isoliert zu sein, auftut. Das Anerkennen der eigenen Wunde und das damit verbundene Mitgefühl mit sich selbst sind ein unverzichtbarer erster Schritt auf dem Weg, (wieder) in die eigene Kraft zu kommen. Dann, in einem zweiten Schritt, stellen sich möglicherweise weitere Fragen: Wie ist der Kontakt zu meinem Vater? Wie ist die dunkle Seite meines Vaters und wie die helle? Welche Ähnlichkeiten gibt es zwischen meinem Vater, Abraham und mir? Erst wenn der Vater vom Sohn erkannt, wenn also die Vater-Wunde ganz gefühlt und als Wirklichkeit angenommen ist, können Selbst- und Ganzwerdung des Zachäus, das heißt die Menschwerdung des Göttlichen in ihm gelingen. Andernfalls würden unerledigte Aufgaben der Seele naiverweise in einen »himmlischen Vater« projiziert. Dass dies nicht geschieht, dafür steht der Menschensohn. »Denn der Menschensohn ist gekommen, um zu suchen und zu retten, was verloren ist« (Vers 10). 28 Jaffé 1987, 333.

»… sondern erlöse uns von dem Bösen«?

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4 Fazit – ein neues Gottes- und Selbstbewusstsein Ich habe zu zeigen versucht, dass das psychische Ganzwerden des Menschen mit einer Bewusstwerdung des Schattenhaften und Ängstigenden seiner Existenz einhergeht als einer heilenden und ganzmachenden Wahrheit, die nicht von außen an den Einzelnen herangetragen werden muss, sondern wesentlich schon in ihm selbst angelegt ist. Jesus, die Figur des Menschensohnes, stellt psychologisch, wie das Zachäus-Beispiel zeigt, ein Symbol solch heilsamer Selbstannahme dar: eine mögliche, eben die jüdisch-christliche Entsprechung des Selbst-Archetyps, der in innerer Schau realisiert und bewusst werden kann. Im schöpferischen Prozess der Selbstwerdung wird das Gesuchte und Begehrte, die »Ganzheit« im Sinne Jungs, vor allem als Abwesendes, als Fehlerhaftes, als Schatten präsentiert. Es geht darum, sich mit dem Bruder – oder sogar mit dem Feind (Mt 5,22–25) – und mit sich selbst zu versöhnen, das heißt, dem inneren Konflikt auf den Grund zu gehen und die dunklen Aspekte der eigenen (Trieb-)Natur in der eigenen (Lebens-)Geschichte anzunehmen29 und nicht zu unterdrücken: »[…] das Unterdrückte kommt an anderer Stelle und in veränderter Gestalt wieder zum Vorschein, aber diesmal belastet mit einem Ressentiment, welches den an sich harmlosen Naturtrieb zu unserem Feinde macht«30. Ein solcher Weg bedeutet nun gerade nicht die Aufhebung der Moral: »Die Moral eines Menschen zu zerstören, hilft […] nicht, weil es sein besseres Selbst töten würde, ohne welches auch der Schatten keinen Sinn hat. Die Versöhnung dieser Gegensätze ist eines der wichtigsten Probleme.«31 Am Kain-und-Abel-Beispiel wurde deutlich, dass Religionsformen und religiöse Wege sich entwickeln und Gottes Sein im Werden ist. Das Werden Gottes spiegelt sich in den schöpferischen Prozessen eines menschlichen Gottes- und Selbstbewusstseins, das alte Formen und Bilder erweitert oder überwindet und so das Gelingen individueller und gemeinschaftlicher Lebenswege stets aufs Neue möglich macht.

29 Roman Lesmeister schlägt vor, »das Verhältnis von Gut und Böse als Verhältnis von Liebe und Selbsterhaltung zu reformulieren« und so eine Grundlage für »eine Art gebrauchsfähiger Ethik« des Ich im Umgang mit dem Bösen zu bilden: »Liebe versus Selbsterhaltung heißt: Denken des Anderen, Denken an den Anderen versus Denken des Selbst, Denken an sich selbst« und — Navid Kermani zitierend — weiter: »›Das Leben, das man für andere lebt‹ versus das Leben, das man für sich selbst lebt« (Roman Lesmeister, Was bedeutet »Integration des Bösen«? Versuche an einem schwierigen Konzept, in: Analytische Psychologie 52 (2021), Heft 195, 10–26, hier: 24). 30 Jung, Aion, GW 9/2, § 51. 31 Ders., Psychologie und Religion, GW 11, § 133 (Hervorhebung durch L. V.).

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Ludger Verst

An Grenzen Mensch sein Das Scheitern nach Karl Jaspers als Thema der Praktischen Theologie Daniel Gerte

1 Scheitern – eine erste Annäherung In der menschlichen Erfahrungs- und Sprachwelt existieren Begriffe, die nur ungern zur Bewusstwerdung zugelassen werden, da sie mindestens ein Unbehagen auslösen. Ein solcher Begriff ist das Scheitern. »Scheitern« bezeichnet dem Wort nach einen irreversiblen Bruch mit einem vormals Ganzen, ein buchstäbliches In-Stücke-Gehen, bei dem die Fragilität des Lebens unmittelbar ersichtlich wird.1 Zurück bleiben Fragmente und Trümmer als Sinnbilder dieser manifesten Unordnung. In einem solchen Kontext zeigt sich die tragische Struktur des Daseins, der Mensch wird Protagonist in einer Dramaturgie, deren Ende er nicht kennt, weil ihm das Drehbuch unbekannt ist. Mit Stefan Zahlmann darf das Scheitern daher folgerichtig als »hässliches und bedrohliches Wort«2 ausgewiesen werden. Nun mag es wenig angemessen erscheinen, wenn ein Beitrag für eine Festschrift mit einer solch nüchternen Darstellung beginnt, zumal der Verfasser dieser Zeilen mit Klaus Kießling zu keiner Zeit Erfahrungen des Scheiterns zu machen brauchte. Vielmehr verdankt er dem Jubilar erhellende Momente in Bezug auf die Ausbildung in der praktisch-theologischen Theoriebildung als Grundlage für ein wissenschaftlich fundiertes und qualifiziertes Arbeiten in einer fachübergreifenden Disziplin sowie in zwischenmenschlichen Begegnungen, die jederzeit von Sympathie getragen waren und besonders dann wertvoll erscheinen, wenn ein Dissertationsprojekt berufsbegleitend entsteht. Das Scheitern soll zwar für eine theologisch-praktische Anthropologie fruchtbar gemacht werden, aber nicht das letzte Wort behalten, denn in Anlehnung an den Arzt und Philosophen Karl Jaspers ist der gescheiterte Mensch eben 1

Vgl. einführend: Helmut Rath, Scheitern, in: Joachim Ritter & Karlfried Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 8, Basel 1992, 1245 f. 2 Stefan Zahlmann, Sprachspiele des Scheiterns – Eine Kultur biographischer Legitimation, in: Stefan Zahlmann & Sylka Scholz (Hrsg.), Scheitern und Biographie. Die andere Seite moderner Lebensgeschichten, Gießen 2005, 7–31, hier: 7.

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jener, der die Möglichkeit zur Selbstverwirklichung als erhellenden Existenzvollzug in sich birgt.3

2 Das Scheitern nach Karl Jaspers Scheitern als philosophischer Begriff ist von Jaspers besonders in seinen Werken der 1930er Jahre prominent vertreten worden und stellt eine in sich konsistente Weiterführung der Ausführungen über die Grenzsituation dar. Die Grenzsituation ist objektiv die Folge eines vorausgesetzten Bruches in der Daseinsstruktur des Menschen, subjektiv ist sie »eine Wand, an die wir stoßen, an der wir scheitern«4. Diese Differenzierung bringt einerseits die ambivalente Verfasstheit menschlichen Seins überhaupt und andererseits die letztgültige Deutungshoheit des Subjekts zur Sprache, denn Grenzerfahrungen als Folge der Grenzsituation stehen in einem subjektiven Erschließungshorizont, der sich jeglicher Objektivität entzieht, wenngleich eine solche in der Seinswirklichkeit grundgelegte Objektivität bei Jaspers immer schon mitgedacht wurde. Berühmt geworden sind vier einzelne Grenzsituationen, an denen der Mensch in besonderer Weise brechen kann. Es sind dies der Tod, das Leiden, der Kampf und die Schuld.5 Terminologisch ist zu berücksichtigen, dass die Grenzerfahrungen als mögliche Folgen der Grenzsituationen und das Scheitern nicht synonym zu verwenden sind, denn in der Grenzerfahrung ist nicht zwingend die Erfahrung eines radikalen Bruchs gelegen. Das subjektiv gedeutete Scheitern setzt die Anerkennung und Akzeptanz einer Grenze voraus; was ein existenzieller Bruch ist, das erschließt der Mensch für sich selbst oder er verzichtet darauf. Die Möglichkeit der Verdrängung oder Verschleierung einer solchen Situation lässt sich mühelos nachvollziehen und es ist nicht in Abrede zu stellen, dass Abwehrstrategien ihre Berechtigung haben. Doch eben diese Gegenmaßnahmen bestätigen den Argumentationsaufbau und verweisen implizit auf die Grenzsituationen als »Grundsituationen unseres Daseins«6, mit welchen die Unmittelbarkeit und Unausweichlichkeit des Scheiterns sichtbar werden. Indessen soll nicht der Eindruck entstehen, dass Scheitern als Konsequenz einer ausgelegten Grenzerfahrung zu planen sei, so als ob es letztlich 3 Existenz ist, mit Kurt Salamun definiert, »der Lebensvollzug, in dem der Mensch sein unvertretbares, individuelles Selbst verwirklicht« (Kurt Salamun, Karl Jaspers, 2., verbesserte und erweiterte Auflage, Würzburg 2006, 50). 4 Karl Jaspers, Philosophie II. Existenzerhellung, 4. Auflage, Berlin 1973, 203. 5 Vgl. Jaspers 1973, 220–249. 6 Karl Jaspers, Einführung in die Philosophie, München 1959, 20 f.

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gedanklich vorausgenommen werden könnte. Ein wesentliches Charakteristikum besteht in der Unvorhersehbarkeit des Momentums und somit in einer Spielart existenzieller Kontingenz. Sobald sich der Mensch auf ein mögliches Scheitern denkend einstellt und es antizipierend einfangen möchte, wird eine konkrete Brucherfahrung verhindert, der Versuch einer vorweggenommenen rationalen Durchdringung der Situation entzieht sich dem Stoß vor die Wand. Zudem garantiert eine zurechtgelegte Abwehrstrategie keine wirkungsvolle Kompensation, denn das erfahrene Scheitern ist kein Widerfahrnis, welchem mit einem Präventionsprogramm begegnet werden könnte. Inmitten der Spannung zwischen »jederzeit scheitern können« und »es nicht zu verhindern wissen« bewährt sich das Leben mit und in Grenzen. Daraus entwickelt sich die Aufgabe, »das Scheitern wagen zu müssen, aber so, daß grade die Wirklichkeit und das Nichtscheitern gewollt wird [sic!]«7. Von diesem skizzenhaft dargelegten anthropologischen Zugang ausgehend sind für einen möglichen, theologisch-praktischen Theorieentwurf zwei Momente leitend: Zum einen sind mit Jaspers eine objektive und eine subjektive Variante des Scheiterns zu konstatieren. Objektiv deshalb, weil die Grenzsituation ein Urphänomen darstellt, welches strukturell mit dem Dasein überhaupt verbunden ist, und subjektiv, da das Individuum selbst erschließt, was Scheitern ist oder nicht ist. Zum anderen darf der teleologische Aspekt nicht unerwähnt bleiben. Wer das Scheitern beabsichtigt oder, im Gegenteil, mit aller Macht vermeiden möchte, der steht außerhalb dessen, was Jaspers als Wagnis bezeichnete. »Wagnis« bedeutet im beschriebenen Sinne, das Scheitern weder zu wollen noch dagegen zu revoltieren, vielmehr bedeutet »Wagnis«, sich unvoreingenommen der Zukunft zu öffnen.

3 Scheitern und Glaube Metaphorisch inszeniert, aber durchaus anregend ist der Gedanke, sich Jaspers als einen Zaungast am Garten der Theologie vorzustellen, dessen Absicht darin bestand, gelegentlich hochwertige Samenkörner über die Abgrenzung zu werfen, ohne den Boden des christlichen Glaubens selbst betreten zu wollen. Wer aber den Garten nicht betritt, der kann die Aussaat auch nicht beschädigen und erlaubt das gedeihliche Wachstum. Vor dem Hintergrund dieses Bildes soll nur auf zwei Aspekte eingegangen werden, welche für die Reichhaltigkeit des

7 Jaspers 1973, 381.

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jaspersschen Denkens im Blick auf Religion sprechen und als anschlussfähig für weitere Untersuchungen auszuweisen sind. 3.1 Die Figur des Jesus von Nazareth Jaspers machte die äußerst fruchtbringende Feststellung, dass Jesu Leben und Wirken paradigmatisch für die gebrochene und antinomische Existenz des Menschen stehen und sein Kreuzestod der Inbegriff des Scheiterns überhaupt ist.8 Jesus lebte aus dem unerschütterlichen Glauben an Gott, seinen Vater – allen Anfechtungen zum Trotz.9 Er hielt Kämpfe aus, integrierte Widersprüche und akzeptierte die Tatsache, dass die unbequemen Fragen des Lebens in letzter Konsequenz unbeantwortet bleiben und nur aus einem tiefen Vertrauen heraus erhellt werden können. Sein Handeln legte auf diese Weise Zeugnis für die ambivalente Struktur aller Gegebenheiten ab, denn die Polarität von verbaler Züchtigung und bedingungsloser Liebe schlossen sich bei ihm nicht gegenseitig aus. Mit Jaspers formuliert: »In Jesus liegt der Kampf, die Härte, die erbarmungslose Alternative, – und die unendliche Milde, die Kampflosigkeit, das Erbarmen mit aller Verlorenheit.«10 Diese Doppeldeutigkeit ist Ausdruck menschlichen Daseins überhaupt und zeigt sich konsequent in den Handlungsweisen Jesu. Sofern diese Grundsituation zum Bewusstsein zugelassen wird, ermöglicht sie eine Vertrauensbildung, aufgrund derer das Geschenk der Freiheit immer wieder erfahren werden kann. Schließlich nahm Jesus den Gang nach Golgatha auf sich, weil er sein Leben vertrauend in die Hände Gottes legte. Jaspers sah in diesem Kreuzweg das Leiden, welches gleichsam ein Spiegelbild eines jeden leidenden Menschen ist, auf eine sehr radikale Art und Weise verwirklicht, da es nicht ausgespart, sondern hingenommen und bis zur Vernichtung akzeptiert wurde. Aus christlicher Perspektive war damit das Ende jedoch nicht gesetzt, denn in diesem radikalen Scheitern offenbarte sich die Rettung durch die Hoffnung, welche Jesus in Gott setzte. Mit der aufgehenden Sonne am Ostermorgen verlor der Tod seinen Stachel, der auferweckte Christus hatte das Dunkel der Nacht besiegt.11 Nun führt die christlich gedeutete Auferweckung über Jaspers’ Glaubensverständnis hinaus, weil er zwar dem Menschen Jesus gebührende Wertschätzung zukommen ließ, jede historisch bindende und dogmatische

8 9 10 11

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Vgl. Karl Jaspers, Die grossen Philosophen, Bd. 1, 2. Auflage, München 1959, 207 f. Vgl. Mt 4,1–11. Jaspers 1959, 205 f. Vgl. 1 Kor 15,55.

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Zuschreibung des Christusglaubens aber kategorisch ablehnte.12 Jegliche zur Objektivität erhobene Festlegung stand für ihn einer Denkrichtung entgegen, welche die konkrete Existenz in den Mittelpunkt des Philosophierens stellte. In diesem Sinn ist der Christusglaube zwar eine bedeutende, aber subjektiv zu entschlüsselnde Chiffre. Folgerichtig grenzte Jaspers den religiösen Glauben vom philosophischen Glauben ab, wenngleich er, mit deutlich divergierender Zielausrichtung, von seinem Denkpartner Kierkegaard die Bestimmung des Glaubens als existenziell gefassten, entschiedenen Sprung übernahm. 3.2 Die Wirklichkeit der Transzendenz Zur existenziellen Seinsweise als konkretem Lebensvollzug gehören das Scheitern und die daraus resultierende Möglichkeit zur Existenzerhellung, die sich wesentlich auf Transzendenz bezieht. Die Transzendenz erinnert bei Jaspers an negativ-theologische Reflexionen: Gott ist als absolute Transzendenz der stets verborgene Gott, es gibt keine Möglichkeit, ihn rational oder empirisch einzuholen. Dennoch bleibt er der zentrale Bezugspunkt, Träger, Ziel und Ursprung von allem.13 Als religiöser Begriff ist Gott jedoch determiniert. Jaspers hingegen hielt Transzendenz offen: Sie entzieht sich jeglicher Objektivierung und bleibt als das absolute, verborgene Sein unbestimmt.14 Kritisch ist in Anlehnung daran zu fragen, wie der Mensch den konsequent verborgenen Gott dann überhaupt erahnen kann. Für Jaspers ist Gott eine vom Menschen existenziell für sich erschlossene Grundchiffre, wenngleich diese immer nur auf Transzendenz hinweisen kann, ohne Transzendenz gegenständlich werden zu lassen. Die vertrauensvolle Hingabe daran erscheint in diesem Kontext alternativlos. Jaspers formulierte in einem Gespräch mit Heinz Zahrnt: »Kein Mensch kann aus wissenschaftlichen Ergebnissen sein Leben führen. Jeder Mensch braucht für alles, was ihm ernst ist, Glaubensgrundlage.«15 Und im Blick auf die durch das Scheitern mögliche Selbstwerdung konstatierte er: »[…] was ein Mensch als er selbst wird, das wird erleuchtet und geführt

12 Weiterführend zur Figur des Jesus von Nazareth als Thema bei Jaspers empfiehlt sich die aufschlussreiche Studie von Josef Zöhrer, Der Glaube an die Freiheit und der historische Jesus. Eine Untersuchung der Philosophie Karl Jaspers’ unter christologischem Aspekt, Frankfurt a. M. 1986. 13 Vgl. Karl Jaspers, Von der Wahrheit, Neuausgabe, München 1991, 691. 14 Vgl. kommentierend dazu: Artur Szczepanik, Gott als absolute Transzendenz. Die Verborgenheit Gottes in der Philosophie von Karl Jaspers, München 2005, 192 f. 15 Karl Jaspers & Heinz Zahrnt, Philosophie und Offenbarungsglaube. Ein Stundenbuch, Hamburg 1963, 41.

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von einem Gottesgedanken, dessen Chiffren er erzeugt«16. All diese Erfahrungen aber bleiben in der Schwebe, ungreifbar schwingen sie in weiter Distanz zum Urgrund allen Seins. Schließlich ist auf den Rückschluss von der Persönlichkeit des Menschen auf den persönlichen Gott hinzuweisen beziehungsweise umgekehrt von dem transzendenten Gott auf die konkrete Existenz des Einzelnen.17 Für Jaspers ist Gott Person, da jedes Kind, als Zeuge einer ursprünglichen Bindung, Gott als Person denkt.18 Aus kindlicher Perspektive betrachtet ist Gott Person, da das Kind nicht weiß, dass die Vorstellung von einem persönlichen Gott eine bloße Vorstellung ist. Es ist mit Jaspers folglich festzustellen, dass Erwachsenen eine vertrauensbildende, kindliche Glaubenshaltung verloren gegangen ist. An sie ergeht die Einladung, sich darauf neu zu verständigen. Jede Einladung indes bedarf einer Entscheidung und so setzt auch die vertrauensvolle Hingabe an Gott einen entschiedenen Sprung voraus, der von jedem Einzelnen unvertretbar zu vollziehen ist. Jaspers wollte damit keineswegs einem Subjektivismus das Wort reden, vielmehr soll der Mensch in seiner Situation ernst genommen und für wenig hilfreiche, voreilig formulierte Vertröstungsstrategien sensibilisiert werden. Der Mensch ist dann frei, wenn seine Entschlüsse existenziell ohne Daseinstäuschungen vollzogen werden. Dogmatische Formulierungen stehen dem insofern entgegen, als sie Freiheit zu ersticken drohen.19 Resümierend wird deutlich: a) Eine unkritische und bloß rekapitulierende Aneignung von Glaubenssätzen verhindert den existenziellen Vollzug, der sich, bei Jaspers terminologisch in treuer Linie zu Kierkegaard, durch einen Sprung realisiert. Auf der Grundlage der Erfahrungen des Scheiterns unterliegt die Erhellung der Existenz keinem rein rational orientierten Lernprogramm; vielmehr ermöglicht sie den Aufschwung der Seele zu sich selbst durch ein täuschungsfreies Wagnis in das Leben. So wie das Kreuzesgeschehen auf Golgatha für das anthropologische Grundmomentum der Tragik des Daseins steht, scheint die Auferweckung von Ewigkeit her in die Gegenwart hinein, sofern die Auferweckung als Chiffre existenziell ergriffen wird. b) Die Ausführungen über Gott als Transzendenz beziehen sich auf das Dass und nicht auf das Was Gottes und bleiben somit negativ. Dies bedeutet poin16 Karl Jaspers, Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, München 1962, 230. 17 Vgl. auch: Bernd Weidmann, Gott als Person – Chiffre der Transzendenz oder mehr?, in: Jahrbuch der Österreichischen Karl-Jaspers-Gesellschaft 26 (2013) 147–165, besonders: 157. 18 Vgl. Karl Jaspers, Philosophie III. Metaphysik, 4. Auflage, Berlin 1973, 126. Die Parallele zu Lk 18,16 liegt auf der Hand. 19 So auch bei Jeanne Hersch, Karl Jaspers. Eine Einführung in sein Werk, 4. Auflage, München 1990, 25.

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tiert: »Allein die Transzendenz ist das wirkliche Sein. Daß die Gottheit ist, ist genug. Dessen gewiß zu sein, ist das Einzige, worauf es ankommt.«20 Obwohl Jaspers dezidiert eine genuin religiöse Sprechweise vermeiden wollte, um seine Distanz zur Theologie zum Ausdruck zu bringen, gelang dies nicht überzeugend, wenngleich er den philosophischen Glauben als Abgrenzung zum religiösen Glauben etablierte. Ohne Zweifel aber zeigt seine Philosophie deutliche Analogien zur negativen Theologie auf.21

4 Scheitern als Thema der Praktischen Theologie Folgende exemplarisch ausgewählte Aspekte können über die Ausführungen hinaus in Anlehnung an den Jaspers’schen Gedankenhorizont für eine theologisch-praktische Anthropologie bedenkenswert sein. 4.1 Der Umgang mit der Schwachheit Mit Recht empfehlen Gotthard Fuchs und Jürgen Werbick in ihrem Buch über das Verhältnis von Scheitern und Glauben den kritischen Umgang mit einer von außen herangetragenen »Theologisierung des Scheiterns«22 und explizieren, dass jedem Menschen selbst die Deutungshoheit über erfahrene Widerfahrnisse zukommt, denn nur der Einzelne kann zum Ausdruck bringen, was er für sich selbst erschlossen hat. Nicht anders verhält es sich mit der Bibel. Sie ist eine »Geschichtssammlung der Scheiternden«23. Die Erzählungen spiegeln zwar in einem ersten Moment kontextgebundene Erfahrungen wider, beschreiben aber darüber hinaus urphänomenale Zusammenhänge, die in einem zweiten Moment den Erfahrungshorizont eines jeden Menschen berühren. In diesem Sinn sind die heiligen Schriften zeitlos, da sie nicht nur irgendwelche Erfahrungen des Scheiterns aufzeigen, sondern die Realität von Grenzen, welche unvertretbar die existenzielle Wirklichkeit des oder der Einzelnen betreffen. Die Bibel setzt an dieser Stelle einen Doppelpunkt. Aus den Grenzerfahrungen erwächst im Vertrauen auf den transzendenten Gott die rettende Zuversicht, aus den Schriften 20 Karl Jaspers, Rechenschaft und Ausblick. Reden und Aufsätze, München 1951, 406. 21 Vgl. exemplarisch: Claus Uwe Hommel, Chiffre und Dogma. Vom Verhältnis der Philosophie zur Religion bei Karl Jaspers, Zürich 1968, 223: »Es ist unbestreitbar: Jaspers ist ein ›negativer Theologe‹.« 22 Gotthard Fuchs & Jürgen Werbick, Scheitern und Glauben. Vom christlichen Umgang mit Niederlagen, Freiburg i. Br. 1991, 29. 23 Fuchs & Werbick 1991, 45.

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des Scheiterns werden die Schriften der Hoffnung. Im Korintherbrief drückt Paulus diese Hoffnung so aus: »Deswegen bejahe ich meine Ohnmacht, alle Misshandlungen und Nöte, Verfolgungen und Ängste, die ich für Christus ertrage; denn wenn ich schwach bin, dann bin ich stark.«24 Damit soll keine schnelle und banale Sinnzuschreibung ins Wort gebracht werden, denn eine solche würde Jaspers prinzipiell ablehnen. Aber jeder Mensch kann die tiefendimensionale Erfahrung des Paulus für sich selbst annehmen, sofern sie für den Einzelnen Relevanz hat und dieser sie existenziell erhellt. Falls nicht, bleibt sie bedeutungslos. 4.2 Wider das Selbstoptimierungs- und Glücksstreben Für Jaspers bedeutete Menschsein nicht nur, scheitern zu dürfen, sondern aufgrund der Antinomik des Daseins auch scheitern zu müssen. Dies ist in einer Gesellschaft, die zumindest implizit die Selbstoptimierung des beziehungsweise der Einzelnen für eine optimale Leistungserbringung fordert, keine Selbstverständlichkeit. Scheitern wird, sollte es als solches erschlossen werden, als Kollateralschaden wahrgenommen. Besonders verheißungsvoll ist es, wenn die Selbstoptimierung mit dauerhaftem Glück in Verbindung gebracht wird. Sofern der Mensch heute, wie es Pascal Bruckner formuliert, zum Glück verdammt ist, wird er an den gestellten Anforderungen scheitern müssen.25 Mit Jaspers ist, in treuer Linie zu Immanuel Kant, anzumerken, dass Glück dem teleologischen Verständnis nach nicht gänzlich erfahren werden kann, da Existenz endlos ist und keinen vollkommenen Punkt erreicht.26 Somit ist das Glück ein Ideal und somit kein Gegenstand des Zeitlichen. Überdies kann der Mensch als Naturwesen seinen Neigungen keinen Einhalt gebieten, zudem sind Genüsse oder errungener Besitz keine Indikatoren für Glück. Vielmehr verursacht das Genussoder Besitzstreben neue, größere Wünsche, die es zu erfüllen gilt. Im Blick auf Jaspers ist weniger die Entwicklung einer Glückskultur zu fokussieren, sondern die Erkenntnis, das Leben angesichts der Tragik des Scheiterns zu gestalten. Nun ist das Phänomen des Scheiterns für die Praktische Theologie keineswegs neu. Mühelos lassen sich Parallelen zu verwandten Begriffen entdecken, so beispielsweise zu dem der Krise. Wie bereits Isidor Baumgartner aufzeigt, ist die Krise zwar ein schillernder Begriff, sie verweist aber für die Theologie auf eine bestimmte »Situation des Menschen vor Gott«27. Die Konvergenz mit 24 25 26 27

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2 Kor 10,12. Vgl. Pascal Bruckner, Verdammt zum Glück. Der Fluch der Moderne. Berlin 2001. Vgl. Karl Jaspers, Kant. Leben, Werk, Wirkung, 2. Auflage, München 1983, 99 f. So etwa prominent bei: Isidor Baumgartner, Pastoralpsychologie, Düsseldorf 1990, 145.

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einer christlich gedeuteten Lesart des Scheiterns ist hier ersichtlich. Dennoch haftet der Krise das Momentum des sich in der Gegenwart ankündigenden Überschreitens an, ein temporärer Zustand, der bald überwunden werden kann. Dementgegen ist das Scheitern die Erfahrung des radikalen Bruchs mit einem Ganzen, ein irreversibler Totalschaden, eine definitive Endgültigkeit, die weder ein gutes noch ein schlechtes Ende nimmt, sondern gar keines. Das erfahrene Scheitern ist der erfahrene Karfreitag, der von dem Glanz der Ostersonne nichts ahnen kann. Eine solch wuchtig erscheinende Aussichtslosigkeit lässt sich als Finalitätsparadigma beschreiben, welches lohnt, in einer theologischpraktischen Anthropologie mutig weitergedacht zu werden.

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1 Einleitung Zu den vielleicht beeindruckendsten frühen Zeugnissen menschlicher Kultur zählen sicher die Höhlenmalereien in Europa, wie sie etwa in den Höhlen von Altamira (Spanien) und in Lascaux (Frankreich) zu bestaunen sind. Bildgewaltig und bleibend mysteriös ragt dem Betrachtenden in diesen Bildern und Zeichnungen eine Vergangenheit entgegen, die sich uns sonst weitgehend verschließt. Neben den Darstellungen von Tieren und Menschen finden sich in den Höhlenlabyrinthen auch immer wieder Abdrücke von Händen, die angesichts der anderen Kunstwerke vielleicht eher en passant wahrgenommen werden. Doch sind es nicht eben diese, die am dichtesten an die Menschen, an die Künstler*innen jener Zeit, heranführen? In diesen Handabdrücken oder Handsilhouetten haben Menschen etwas ganz Individuelles und Persönliches zurückgelassen. Wer seine »Hand« hinterlässt, hinterlässt etwas von sich selbst, prägt sich selbst an dem Ort ein, den er mit dem Handabdruck markiert. Auch wenn das Motiv dieses Handelns nicht offensichtlich ist, schwingt darin vielleicht der Wunsch mit, sich selbst zum Ausdruck zu bringen – ein Stück Individualität zu dokumentieren. Natürlich gilt es bei der Interpretation der Werke in den Höhlen und auch bezüglich der Handbilder konsequent Zurückhaltung zu üben, aber der Eindruck, der sich auch nach Jahrtausenden einstellt, kann als Impuls für das eigene Nachdenken und Nachsinnen Berechtigung gewinnen. So sollen die Handabdrücke derer, die sie vor unvordenklich langer Zeit hinterlassen haben, für die nachfolgenden Überlegungen den Rahmen und den Anstoß liefern, wenn es um ein paar Gedanken zur religiösen Identitätsentwicklung gehen soll. Zugegebenermaßen ist das ein vielleicht auf den ersten Blick etwas unkonventioneller Angang.

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2 Identität ohne Kontext? Das unter Umständen Faszinierendste an den Handabdrücken und Handsilhouetten besteht in der Tatsache, dass wir eine Spur von Identität und Personalität vorfinden, der weitgehend oder vollständig der Kontext fehlt, bzw. sich dieser für uns nur schwer erschließen lässt. Identität oder auch nur eine Teilidentität ist ja als solche nur zu verstehen, zu artikulieren oder auch zu formen, wenn sie in einem bestimmten Kontext steht. Fehlt dieser, ist die Identität nichtssagend: Man bringt etwas zum Ausdruck über sich, man ist jemand, man möchte als jemand gesehen und verstanden werden, ohne dass andere die Möglichkeit haben, dies zu verstehen, weil die »Identität« nicht anschlussfähig ist im gegebenen gesellschaftlichen oder zwischenmenschlichen Setting. Nun lässt sich bezogen auf die Menschen, die aus welchen Motiven auch immer Spuren ihrer Identität in den Höhlen hinterlassen haben, diese Kontextlosigkeit mit dem großen zeitlichen Gap zwischen ihnen und uns heutigen Menschen erklären. Die Frage aber, ob wir nicht auch in unserem Versuch, die Identität anderer zu verstehen und auf sie bildend einzuwirken, vor einem ähnlichen Problem stehen, stellt sich vielleicht aber dennoch. Nicht aufgrund einer unüberbrückbaren zeitlichen Lücke, sondern aufgrund eines Kontextes, der sich für uns aus anderen Gründen nicht erschließen lässt bzw. dessen Wahrnehmung und Deutung fehlerhaft ist. Mit seinem prägnanten Buchtitel »Zur eigenen Stimme finden« hat Klaus Kießling1 nach meiner Lesart auf dieses Problem aufmerksam gemacht, indem er die Dignität der (religiösen) Selbstbeschreibung von Berufsschüler*innen und Lehrer*innen nachhaltig im Bewusstsein des Fachdiskurses implementiert hat. Zur eigenen Stimme finden heißt im Kontext religiöser Bildung oder des Religionsunterrichts auch, dem, der nicht über das bewusst oder unbewusst vorausgesetzte religiöse (Erfahrungs-)Wissen oder den entsprechenden terminologischen Vorrat verfügt, Platz einzuräumen und seine Selbstartikulation als wichtigen Beitrag zum angestrebten Lernprozess zu begreifen. Dieser Schritt ist umso wichtiger, wenn man ihn als Ausfaltung des durch die Würzburger Synode 1974 gefassten Beschlusses, Religionsunterricht von der Katechese zu trennen, begreift. Bei dieser längst bewährten Akzentverschiebung im Religionsunterricht bleibt aber ein Aspekt immer wieder neu zu bedenken: Ist der Kontext, in den hinein Schüler*innen ihre Vorstellung vom Glauben, ihren Glauben oder ihre Annäherung an die Phänomene des Religiösen artikulieren, ausreichend in der 1

Vgl. Klaus Kießling, Zur eigenen Stimme finden. Religiöses Lernen an berufsbildenden Schulen, Ostfildern 2004.

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Lage, diese (Selbst-)Äußerungen auch zu verstehen – oder begegnen sich hier zunehmend Lebenskontexte, denen der Brückenschlag zueinander nicht mehr gelingt, vielleicht auch nicht mehr gelingen kann. Anders formuliert: Wieviel wird in die Selbstaussagen der Schüler*innen hineingelesen, wieviel wird auf dem religiös geschulten Ohr gehört oder überhört? Bleiben sie mehr als individuelle Handabdrücke an einer Felswand, deren Individualität sich unter den spezifischen Bedingungen des Beobachter*innen-Kontextes auflöst, zumindest aber missgedeutet wird? Das Problem wird noch verschärft, nimmt man für den Religionsunterricht in Anspruch, dass er auch einen Beitrag zur Identitätsbildung leisten möchte, bei aller gewollten Unschärfe des Begriffes an dieser Stelle. Deshalb soll im Folgenden der Versuch unternommen werden, einen genaueren Blick auf den bislang hier ebenso unkonturierten Begriff des Lebenskontextes zu werfen – als dem entscheidenden Faktor für die Bildung einer eigenen sprachfähigen Identität.

3 Säkularer Glaube Aus dem Bereich denkbarer und faktisch vorhandener Lebenskontexte soll im Weiteren der säkulare Kontext im Vordergrund stehen. Auch hier ist selbstverständlich anzumerken, dass es sich bei diesem Terminus um eine im Grunde fiktive Annahme handelt: den säkularen Lebenskontext gibt es ebenso wenig wie den religiösen Kontext. Wobei genau diese Aussage die Problematik erneut deutlich macht: Wer legt aus welcher Perspektive fest, ob ein Lebenskontext religiös oder säkular zu verstehen bzw. zu deuten ist? Mit seinem Werk »This Life – Secular Faith and Spiritual Freedom«2 legt der in Yale lehrende schwedische Philosoph Martin Hägglund 2019 den Versuch vor, aus einer radikalen säkularen Grundhaltung heraus den demokratischen westlichen Gesellschaften die Bedeutung ebendieses in ihnen längst verbreiteten Phänomens für ihre zukünftige Entwicklung deutlich zu machen. Dabei versteht Hägglund seine Überlegungen unter anderem als Entgegnung auf Charles Taylors Buch »Ein säkulares Zeitalter«3. Radikal, wirklich im Sinne eines an die Wurzel gehenden Ansatzes, argumentiert Hägglund insofern, als er die von Taylor vertretene These, Religionen und Religiosität hätten auch im Hier und Heute zumindest als Option für einen individuellen Lebensentwurf eini-

2 Martin Hägglund, This life. Secular Faith and Spiritual Freedom, New York 2019. 3 Charles Taylor, Ein säkulares Zeitalter, Frankfurt a. M. 2012.

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ger Menschen weiterhin eine hohe Relevanz und Plausibilität,4 zwar als richtig wertet, jedoch intentional als gänzlich falsch zurückweist. Die Wurzel, an der Hägglund ansetzt, kommt im Titel der schwedischen Übersetzung seines Buches direkt zum Ausdruck. Dieser lautet: »Vårt enda liv«5, wörtlich übersetzt: »Unser einziges Leben«. Denn genau darum geht es ihm. Die Bedeutung der Einzigartigkeit des je einzelnen Lebens in seiner Zeitlichkeit und seiner dauernden Gefährdung hervorzuheben – als der einzigen lebenssinnstiftenden Erfahrung, zu der der Mensch seiner Ansicht nach fähig ist. Dieses sinnstiftende Potenzial der Einmaligkeit des Lebens wird Hägglund zufolge von einer religiösen Weltdeutung bzw. dem religiösen Glauben schlichtweg ignoriert und stattdessen in eine Jenseitshoffnung verlagert. Dem setzt er seine Idee eines säkularen Glaubens und der daraus entspringenden spirituellen Freiheit entgegen. Etwas vereinfacht: einen Glauben an das Leben, ohne Ausflüchte jenseits des Todes. Aus theologischer Perspektive scheint Hägglund zunächst eher klassische religionskritische oder atheistische Positionen in einem neuen Gewand zu präsentieren. Auf den zweiten Blick ist dies nach meiner Einschätzung aber mitnichten der Fall. Vielmehr versteht er es in seinem gedanklichen Ansatz, zentrale theologische Fragen, wie die nach dem Umgang mit Tod und Trauer, auf ihre auch etwa im christlichen Kontext durchschimmernden diesseitigen Gehalte abzuklopfen. In seinen Analysen verwendet er darüber hinaus ziemlich konsequent eine für religiös gestimmte Menschen bekannte Terminologie, was bereits an der Begriffsschöpfung »säkularer Glaube« deutlich wird. So beschreibt er die Vorzüge des säkularen Glaubens unter Bezug auf die Trauer um einen geliebten Menschen in Auseinandersetzung mit Charles Taylor wie folgt: »Daher kann das Sprechen von einer religiösen Ewigkeit – die Taylor zufolge tiefen Trost bei Beisetzungen spendet – nicht wirklich erfassen, wonach wir uns sehnen, oder ausdrücken, was wir fühlen, wenn wir trauern. Taylor bezeugt selbst die Schwierigkeit, eine Zeremonie für die Verstorbenen zu finden, die unsere stärksten Gefühle anspricht, aber er erwägt nie, dass dies daran liegen könnte, dass wir die Notwendigkeit einer religiösen Zeremonie einfach akzeptieren. […] Das Begraben der Toten kann verstanden werden als der fundamentale Ausdruck des säkularen Glaubens. Während des Begräbnisses – das hier ganz allgemein verstanden wird als jede Form den Verstorbenen zu ehren – markieren wir gleichermaßen den unwiederbringlichen Verlust eines Lebens und unseren andauernden Glauben an das Leben. 4 Taylor 2012, 14–16. 5 Martin Hägglund, Vårt enda liv. Sekulär tro och andlig frihet, Stockholm 2020.

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Wir bringen unseren Vorsatz zum Ausdruck, den Verstorbenen zu ehren und in Erinnerung zu behalten, und bekräftigen unsere Verantwortung für den, der nicht mehr lebt. Die Toten können nur weiterleben durch und in uns […]. Gerade weil die Toten nicht wieder zum Leben erweckt werden können – weil sie unwiderruflich tot sind –, tragen wir die Verantwortung für sie. […] Diese Übernahme der Verantwortung für die Toten ist nur verständlich aus der Perspektive des säkularen Glaubens, weil dieser das Bekenntnis ist zu einem Leben, das tödlich ist und uns fordert, gerade weil es tödlich ist. Ein religiöser Glaube an die Ewigkeit hat zur Würde der Trauer nichts hinzuzugeben; er kann die Trauer nur abschwächen, indem er das Erlebnis des Verlustes mindert. Natürlich trauern auch religiöse Menschen, aber auch ihre Trauer ist motiviert durch einen säkularen Glauben an die Unersetzlichkeit des endlichen Lebens, mehr als durch den Glauben an die Ewigkeit.«6 Hägglund versucht also deutlich zu machen, dass der überkommene Umgang mit Tod und Trauer falsch ist oder nicht mehr trägt, weil er durch einen völlig obsoleten religiösen Kontext überformt ist. Stattdessen gilt es seiner Auffassung nach, endlich den Kontext, in dem sich das Sterben und Trauern abspielt, ernst zu nehmen: Dieser Kontext ist das Leben hier auf Erden. Als zeitgenössischen literarischen Gewährsmann für seine Überlegungen führt Hägglund den norwegischen Schriftsteller Karl Ove Knausgård an, dessen sechsbändiges autobiografisches Werk in Deutschland unter den Titeln »Sterben«, »Lieben«, »Spielen«, »Leben«, »Träumen« und »Kämpfen« erschienen ist. In Knausgård sieht Hägglund den modernen Protagonisten der Diesseitigkeit, der den unverstellten säkularen Blick auf das was ist und seine je eigene Bedeutung für das Individuum literarisch einfängt und dabei sich selbst als der offenbart, der er für sich selbst ist. Für Hägglund ist das der Ausweis für die Kraft dessen, was er eben unter säkularem Glauben versteht. Diese Position teile ich bezogen auf das bzw. die genannten Werke von Knausgård nicht. Gleichwohl zeigt ein anderer Roman des Autors meiner Meinung nach in einer für die Leser*innen durchaus bedrängenden Art und Weise sehr viel deutlicher, wie ein säkularer Weltzugang auch klassische biblische Überlieferungen vergegenwärtigen kann und sie dabei völlig in einem Kontext aufgehen, in dem Gott Zug um Zug verschwindet. Mit seinem Verschwinden verbleibt den Menschen allein die Welt. Alle Identitätsfragen haben nur diesen Kontext. Jeder anders kontextualisierte Blick auf sie verfehlt das Individuum.

6 Hägglund 2019, 80 f. (Übersetzung durch S. P.; Hervorhebung im Original).

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Knausgårds Roman »Alles hat seine Zeit«7, dessen roter Faden die Frage nach der Existenz, genauer der Existenzweise, der Engel ist, berührt verschiedene alttestamentliche Erzählungen, darunter auch die Geschichte von Noah und dem Bau der Arche. Dabei versetzt Knausgård die biblische Geschichte in das vorindustrielle bäuerliche Leben in Norwegen, quasi in ein zeitloses Früher aus Sicht der Leser*innen. Die Noah-Erzählung ist wie häufig bei Knausgård eine Geschichte in der Geschichte und erzählt das Schicksal der Familie Noahs im Wesentlichen aus der Perspektive verschiedener Familienmitglieder. Am Ende liegt der Fokus auf denen, die die Flut nicht überleben, welchen sich im Alltäglichen ihres Lebens die Katastrophe langsam nähert und der gegenüber ihre Rettungsversuche nur als letzter schicksalsergebener Aktionismus erscheinen. Auf die Spitze getrieben wird dies literarisch in der Schilderung der mühevollen Geburt eines Kindes und dem fast unmittelbar folgenden Ertrinken der ganzen Familie. Am Ende bleiben ein wenig ruhmreicher Noah und die unbeantwortete Frage nach dem Warum. Die Frage bleibt auch deswegen unbeantwortet, weil sie in der ganzen Erzählung nie gestellt wird. So begegnet in der Erzählung ein Blick auf das Leben, das von Hoffnungen und Ängsten, Kuriositäten und alltäglichen Mühen, von Liebe und strapaziösen Beziehungen geprägt ist und in dem im einzelnen Menschen all diese Stränge auf je individuelle Weise zusammenlaufen. Anders formuliert entwirft Knausgård Menschen an der Schnittstelle dieser Erfahrungen, auf deren Hintergrund sie versuchen, ihr Leben zu gestalten – vielleicht auch nur zu leben –, eingefasst in die totale Grenze des Todes. Über diese Grenze hinaus verweisen nur die Gestalten der Engel, die jedoch als zunehmend verkümmernde Geschöpfe, nach meinem Verständnis lediglich den Transzendenzverlust der Menschen symbolisieren. Die Frage nach der Identität eines Menschen, so lässt sich der literarische Exkurs an dieser Stelle vielleicht zusammenfassen, ist vom Subjekt selbst, aber auch subjektiv von außen nur sinnvoll zu stellen, wenn sie allein im weltimmanenten Kontext verbleibt. So kann man Knausgårds Text tatsächlich lesen als literarische Ausformung dessen, was Hägglund zu beschreiben versucht: menschliches Leben, das auch ohne Bezug zu Gott lebenswert ist. Nicht weil ihm der Gottesbezug fremd oder nicht zugänglich ist, sondern weil auch im möglichen Vorhandensein dieses Bezuges sich das Leben nicht ändert. Selbstredend ist diese Analyse menschlichen Lebens und die damit einhergehende Sicht auf die Bedeutung eines religiösen Lebensentwurfes nicht unwidersprochen hinzunehmen. Aus theologischer Sicht ist sie allemal eine unzulässige Verkürzung des Religiösen per se. Gleichwohl aber ist sie theo7 Vgl. Karl Ove Knausgård, Alles hat seine Zeit, München 2009.

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logisch ernst zu nehmen, weil Hägglund letztlich die Überlegungen Taylors nur konsequent weiterdenkt. Er stellt zu Recht die Frage, was sich denn ändern würde, wenn die religiöse Option auch als Option nicht mehr gebraucht wird, weil sie, in der Terminologie Taylors, zwar zur angestrebten Fülle des Lebens führen kann, diese sich aber im Vollzug des Lebens und gerade an seiner Grenze nur kaum erfahrbar von den Angeboten anderer Optionen unterscheidet.

4 Folgen Die bislang vorgelegten Überlegungen scheinen vielleicht im Hinblick auf den Religionsunterricht oder andere religiöse Bildungsprozesse etwas abwegig, zumindest aber als philosophische und literarische Reflexionen mittelalter weißer Männer nicht gerade direkt anschlussfähig an die Herausforderungen, mit denen die genannten Bereiche hauptsächlich befasst sind. Die Pointe der dargestellten Überlegungen von Hägglund und Knausgård besteht für mich im Zusammenhang religiöser Bildungsprozesse aber in der wohl nicht wegzudiskutierenden Idee eines völlig auf das irdische Leben beschränkten Blicks auf das Leben. Die Annahme, dass ein Glaube und ein religiöser Lebens- und Weltzugang gar nicht in das Leben, welches man führt, passt, begegnet ja durchaus auch in verschiedenen Facetten in Äußerungen und Selbstbeschreibungen von Schüler*innen im Religionsunterricht. Diese Äußerungen werden in der Regel im Unterricht auch ernst genommen und im Idealfall als Bereicherung der stattfindenden Diskurse begrüßt. Es bleibt aber die eingangs bereits formulierte Vermutung, dass sich gerade in der skizzierten Unterrichtssituation zwei Lebenskontexte – vereinfacht ein nichtreligiöser und ein religiöser – begegnen, die sich reziprok nicht mehr erschließen lassen. Auf diese hier angenommene wechselseitige Sprach- und Verstehenskluft muss die Religionspädagogik eine Antwort finden, will sie auch zukünftig ein für Schüler*innen ernst zu nehmendes Orientierungsangebot in der institutionalisierten Bildung sein. Andernfalls droht die Gefahr, dass Religionsunterricht irgendwo zwischen einem religionskundlichen und einem kulturhistorischen Lehrangebot versandet. All jene derzeit bereits laufenden Projekte eines kooperativen oder dialogischen Religionsunterrichts, die ganz bewusst auch eine Brücke zum Fach Ethik oder zu dezidiert areligiösen Lebensentwürfen schlagen, begeben sich hier meines Erachtens auf den richtigen Weg. Das ist gerade deshalb der Fall, weil in diesen Versuchen in der Regel Spielarten des biografischen Lernens eine große Rolle spielen. Aus der sich in der Anlage dieser Unterrichtsprojekte ergebenden Heterogenität der Beteiligten schärft sich der Blick auf das Indivi156

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duum und seine Geschichte. Es kommt nicht nur zum moderierten Versuch, den anderen in seiner offensichtlichen Andersheit (etwa der Zugehörigkeit zu einer anderen Konfession oder Religion) zu verstehen, sondern es schult auch den Blick auf die eigene Identität, insofern sie durch die Zugehörigkeit zu einer scheinbar homogenen Gruppe geprägt ist. Das alles ist nicht neu. Dennoch erscheint es mir wichtig, deutlich zu machen, dass der unterrichtlich initiierte Zugriff auf die Biografie der Schüler*innen ein unter bestimmter Perspektive zu wenig reflektiertes Instrument in der Religionspädagogik ist. Damit ist Folgendes gemeint: Dass biografisches Lernen angesichts der aus vielfältigen Gründen heterogenen Ausgangslage in den verschiedenen Lerngruppen und Klassen zukünftig unverzichtbar ist, halte ich für gegeben. Offen ist, wie bereits mehrfach angedeutet, der Umgang mit den biografischen Beiträgen: die Frage etwa nach einer möglichen Einflussnahme auf die biografische Entwicklung (Stichwort konfessionelle Bildung) oder auch die nach der Wahrnehmungsperspektive, mit der einer biografischen Äußerung begegnet wird. Ohne an dieser Stelle eine abschließende Lösung anbieten zu können, soll aber quasi als Antwortversuch auf einen Aspekt hingewiesen werden, der das Thema der Wahrnehmung aufgreift und sich den Überlegungen des französischen Philosophen Gilles Deleuze und seines langjährigen Arbeitspartners, des Psychoanalytikers Felix Guattari, verdankt. Beide versuchen in ihrem kurzen Werk »Rhizome. Introduction« (Titel der deutschsprachigen Ausgabe »Rhizom«)8 mit der überkommenen Vorstellung einer linearen Auffassung des Denkens zu brechen. Sie betonen dagegen die vernetzte Struktur des Denkens und charakterisieren so auch die Existenzweise des Menschen. Die Biografie des Menschen, und damit auch jeder Moment seiner Existenz in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, ist nicht allein geprägt von einem linearen Früher, Jetzt und Zukünftigen, sondern vielmehr durch eine Fülle von Seitwärtsbewegungen, Verknüpfungen und Verästelungen, die den Menschen ausmachen und ihn bestimmen. In Anlehnung an die Flora sprechen Deleuze und Guattari von einer Rhizomstruktur, die sie der aus ihrer Sicht falschen Vorstellung einer Baumstruktur entgegensetzen. Unter Baumstruktur verstehen sie die lineare Ordnung von Wurzel, Stamm und Geäst, die sie als genealogisches Grundmuster verwerfen. Demgegenüber scheint allein das Rhizommodell ihrer Meinung nach der Vielfältigkeit des menschlichen Lebens – gerade in seiner Selbstwahrnehmung – zu entsprechen. Nicht Zielgerichtetheit, Struktur und Festlegungen sind die eigentlichen Charakteristika des (menschlichen) Lebens, sondern

8 Vgl. Gilles Deleuze & Felix Guattari, Rhizom, Berlin 1977.

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»Netzwerke endlicher Automaten, in denen die Kommunikation zwischen beliebigen Nachbarn verläuft und Stengel und Kanäle nicht schon von vornherein existieren; wo alle Individuen miteinander vertauschbar und nur durch einen momentanen Zustand definiert sind, so daß lokale Operationen sich koordinieren und sich das allgemeine Endergebnis unabhängig von einer zentralen Instanz synchronisiert«9. Ein solcher Zugang zur menschlichen Existenz löst zunächst Befremden aus, kann aber meines Erachtens das genannte Problem insofern erhellen, als dass die unscharfen und unabgeschlossenen biografischen Aspekte stehenbleiben können. Die Grauzonen, die Uneindeutigkeiten und die andauernden Suchbewegungen lassen sich in der Idee eines Rhizomsystems, das eben ein System ohne Systematik ist, in ihrer Bedeutung und Dignität erhalten und damit auch alles, was an religiösen und nichtreligiösen Aspekten und Vorstellungen und Erfahrungen vorhanden ist. Schüler*innen im Religionsunterricht, um hier den Bogen unvermittelt zurückzuschlagen, können auf dem Hintergrund eines so gelagerten Verständnisses von Biografie animiert werden, gerade die ihrem Leben immanente Unabgeschlossenheit möglicher Zugänge, Abwege und Abgründe gegenüber dem Phänomen des Religiösen in all seinen Spielarten zum Ausdruck zu bringen. Wenn sie erleben, dass ihre gegebene Unabgeschlossenheit als dynamisierende Ressource für den Unterricht ernst genommen und ihr eigenes Leben nicht in eine Entscheidungssituation getrieben wird, kann dies vielleicht eine Brücke schlagen in die Lebenskontexte, die sich aus einer Abwehrhaltung heraus einer religiösen Welterschließung verweigern (müssen), nicht zuletzt, um ihre für sich in Anspruch genommene säkulare Identität zu schützen. Lehrende können umgekehrt davor geschützt werden, allzu schnell nach religiösen Markern Ausschau zu halten, sie durch die Brille der eigenen religiösen Systematik zu ordnen und diese im schlechtesten Fall im Sinne einer Zuweisung im Unterricht zu verankern.

5 Schluss Die eingangs beschriebenen Handabdrücke und -silhouetten können im Bewusstsein, dass diese Interpretation unserem Lebenskontext entspringt, auch als der die Zeiten überdauernde Wunsch von Menschen betrachtet werden, als Individuum wahr- und ernst genommen zu werden. Um diesem basalen An9 Deleuze 1977, 28.

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spruch gerecht werden zu können, bedarf es einer hohen Sensibilität gegenüber dem Lebenskontext eines Menschen und darüber hinaus des Respektes vor seiner Interpretationshoheit über ebendiesen Kontext. Daher lässt sich festhalten, dass die oben angerissene These eines säkularen Glaubens, die Martin Hägglund propagiert, im Kontext religionspädagogischer Überlegungen tatsächlich den Blick schärfen kann auf die Bedeutung des Lebens in seiner Immanenz, vor allem dann, wenn sie für immer mehr Schüler*innen zum zentralen Interpretationsschlüssel ihrer Identität wird. Im Sinne einer Grunderfahrung des Menschen muss Säkularität auch im Religionsunterricht als gegeben hingenommen und in ihrer Dignität ernst genommen werden. Leben, hier verstanden als rhizomische Ausfaltung und (Such-)Bewegung, trägt gerade deswegen aber, entgegen der Annahme Hägglunds, das Potenzial zum Ausgreifen auf die Transzendenz in sich, auch als Bezugnahme auf einen sich ungeschuldet offenbarenden Gott. So bildet der säkulare Kontext eben nicht den Gegensatz zu einem religiösen, sondern kann verstanden werden als der gemeinsame Kontext religiöser und nichtreligiöser Menschen, in welchem dem Religionsunterricht auch die Aufgabe zukommt, Schüler*innen für ihre je eigene Entwicklung Raum zu geben – eben einer Entwicklung, die rhizomisch verschiedenste Kontexte durchdringen kann und diese in ein für die betreffende Person selbst (im Moment) kohärentes Ganzes bringt. Dynamisiert werden kann dieser Prozess durch die Begegnung mit anderen. Das erfordert von den Verantwortlichen vielleicht mehr noch als bisher Zurückhaltung in der Zielbestimmung des Religionsunterrichts – gerade im Hinblick auf sein Potenzial zur Identitätsbildung. Geht es doch um die Ertüchtigung zur eigenen Stimme, um die Ermöglichung, selbstbewusst den eigenen Handabdruck zu hinterlassen.

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Freiheit in Verantwortung Die Exerzitien des Ignatius von Loyola als Chance für den Epochenübergang Peter Hundertmark

Die Kirchen durchleben seit gut drei Jahrzehnten einen der gesellschaftlichen Entwicklung nachlaufenden Epochenübergang: Die einzelne Person wurde und wird zum ordnenden Zentrum ihrer je eigenen Welt – mit fundamentalen Konsequenzen für alle normgebenden und weltgestaltenden Institutionen. In einem früheren Epochenübergang von der mittelalterlichen Welt zur Neuzeit entwickelte Ignatius von Loyola ein Verfahren, wie der und die Einzelne für die neuen Lebensherausforderungen geistlich zugerüstet werden kann. Sein Ansatz einer umfassenden Freiheit in Verantwortung hat sich historisch als brauchbares Instrument der Selbstfindung – und in der Folge auch der Kirchen- und Gesellschaftsreform – erwiesen. Noch heute machen Menschen die Erfahrung, dass dieses spirituelle Trainingsprogramm ihnen hilft, ihre geistliche Identität zu finden und zu formen. Bleibt zu fragen, ob die Exerzitien auch für unseren Epochenübergang ein Instrument für eine Tiefenreform von Kirche und Gesellschaft sein können. Als Ignatius von Loyola in der ersten Hälfte des 16.  Jahrhunderts sein Exerzitienbuch1 verfasst, steht er unter dem Eindruck einer hohen Dringlichkeit geistlichen und kirchlichen Neuanfangs. Durch die Arbeit der Humanisten war das menschliche Individuum in den Mittelpunkt der Welterfahrung gerückt. Die Reformation in Deutschland nimmt dieses neue Paradigma auf und propagiert, dass deshalb jede und jeder selbst die Schrift kennen und nach Heiligkeit streben muss. Die römische Kirche selbst ist dringend reformbedürftig. Hinzu kommen die Nachrichten aus den neu entdeckten Erdteilen. Unzähligen Menschen dort, so die damalige Soteriologie, muss das Evangelium verkündet werden, um sie vor der Hölle zu bewahren. Vor diesem geistesgeschichtlichen Hintergrund entwirft Ignatius das Programm seiner Exerzitien. In heutiger Sprache würden wir sagen, Ignatius stand unter massivem Dauerstress. Es ist ihm klar, dass er als Einzelperson wenig ausrichten wird. Also gilt 1

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Ignatius von Loyola, Die Exerzitien, hrsg. von Hans-Urs von Balthasar, 14. Auflage, Einsiedeln 2010 (im Folgenden »EB«).

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es Menschen zu finden, die sich mit ihm der Aufgabe stellen, die Zeitenwende geistlich zu gestalten, die Kirche zu reformieren und die Menschen der neuen Welten für Christus zu gewinnen. Die Größe der Aufgabe erfordert Persönlichkeiten, die überwiegend auf sich alleine gestellt, geistlich leben und handeln können. Dafür entwirft Ignatius seine Exerzitien. Sie sollen rasch und ohne komplizierte äußere Bedingungen durchgeführt, in einer Art »Franchise-System« von verschiedenen Begleitern genutzt und unterschiedlichen Menschen und Situationen leicht angepasst werden können. Ignatius schlägt dabei einen gegenüber den bisherigen Ansätzen geistlicher Übungen radikal verkürzten Einübungsweg vor. Vier intensive Wochen müssen genügen, um ein apostolisches geistliches Leben einzuüben und umfassende spirituelle Mündigkeit zu erreichen. Der Jesuit Franz Xaver, der alleine nach Indien und Ostasien aufbricht, um dort das Evangelium zu verkünden, ist die heroische Gestalt, die diesen Ansatz später exemplarisch verkörpert. Da Ignatius sich selbst fraglos in der Kirche sieht, zugleich aber alle Kraft und eben auch sein Übungsprogramm der Exerzitien für die Reform der Kirche einsetzen will, setzt er die angestrebte geistliche Unabhängigkeit in Spannung mit loyaler Kirchlichkeit. Die Übenden, jede und jeder nach dem eigenen Maß, sollen in die Lage versetzt werden, in neuer, selbstverantworteter Weise Kirche zu sein. Auf diese Weise soll die Kirche als Ganze transformiert werden. Ignatius träumt von Menschen, die in der Lage sind, den Glauben selbstverantwortet und in der kirchlichen Gemeinschaft zu leben.

1 Innere Freiheit Ignatius beginnt die Übungen mit einem Fokus auf »Sünde«. Das ist zeittypisch, kann aber auch im Kontext seines Interesses gelesen werden. Da es ihm um Mündigkeit und Unabhängigkeit geht, macht es Sinn, sich zuerst der Macht der Sünde bewusst zu werden. Es gilt zu durchschauen, wie das Böse alle Wirklichkeit durchzieht. Erlernt wird dadurch eine Skepsis gegenüber allen Interessen und Strukturen – von Adam an (EB 51). Ignatius lässt vom ersten Tag an eine Hermeneutik des Verdachts einüben, die dann alle Wirklichkeitswahrnehmung begleitet. Die gleiche Skepsis wendet er dann auch gegen die Übenden selbst. Auch sie haben Macht über ihr eigenes Leben und in ihrem Umfeld – und stehen damit in der Versuchung, ihre Macht missbräuchlich – eben nicht in Einklang mit dem Willen Gottes, der Leben, Gerechtigkeit und Freiheit für alle will – einzusetzen. Der Blick auf die eigene Verstrickung in die Sünde ergänzt den Blick Freiheit in Verantwortung

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auf die sündigen Strukturen und Gegebenheiten. Mit diesem doppelten Fokus steigt Ignatius in eine längere Phase der Biografiearbeit ein. Erstes Ziel ist es, Abhängigkeiten aufzulösen, die durch eigenes Fehlverhalten entstanden sein können. Es soll ein Neuanfang gesetzt werden. Ignatius braucht für seine Reformanliegen Menschen, die nicht wegen früherer Fehler unter Druck gesetzt werden können. Damit erklärt sich unmittelbar auch der Sinn der an dieser Stelle vorgesehenen Lebensbeichte. Die Lossprechung setzt ja nicht nur Bekenntnis und Reue, sondern auch Wiedergutmachung voraus. Damit werden in der Rechtsauffassung seiner Zeit mögliche Altlasten endgültig entsorgt und ein effektiver Schlussstrich gezogen. In der Phase der Biografiearbeit kommen die Übenden erfahrungsgemäß auch in Kontakt mit eigenen Verletzungen und inneren Nöten. Wieder geht es darum, die dadurch entstandenen Abhängigkeiten zu relativieren und die innere Freiheit zu stärken. Das gleiche Ziel wird für alle kulturellen Prägungen, für Verpflichtungen gegenüber der Herkunftsfamilie, für die Loyalität zu einem Staat angestrebt. Der Einfluss all dieser Kräfte soll zurückgedrängt werden. Ignatius setzt dabei auf die Unterscheidung der Geister. Die Übenden lernen, ihren eigenen Reaktionsmustern auf die Spur zu kommen, den Einfluss ihrer Gefühle auf ihren Willen zu beschreiben, die Signale des Körpers zu deuten. Ziel ist es, den Automatismus emotional gesteuerter Handlungsimpulse zumindest für wesentliche Entscheidungen zu unterbrechen. Ignatius setzt dabei auf die Kraft einer Vision: Es soll bei jedem Schritt ein klein wenig mehr innere Freiheit angestrebt werden.

2 Individuelle Kriterien für die Unterscheidung In seinem Basistext »Prinzip und Fundament« (EB 23) setzt Ignatius die Überzeugung außer Kraft, dass es für das geistliche Leben Dinge gebe, die grundsätzlich immer und für jeden gleich gut oder schlecht sind. Eine objektive Beurteilung unabhängig von Person und Umständen ist aber in geistlichen Dingen nicht möglich. Alles kann ein Hindernis für die Freiheit sein und dafür, dass Gott mit diesem Menschen im Sinne des Evangeliums handeln kann, und alles kann dafür hilfreich sein. Ziel jeden menschlichen Lebens – so Ignatius – ist es, Gott zu loben, ihn zu ehren und ihm zu dienen. In heutigeren Worten gesagt: die Beziehung zu Gott in den Mittelpunkt zu stellen, Gott in seiner Entschiedenheit für Menschen und Erde Gott sein zu lassen und an Gottes Selbstsendung und Engagement mitzuwirken. Die Ausrichtung auf dieses Ziel hat dann positive Effekte für den 162

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Menschen. Dieser »Gewinn« kann jedoch nicht auf direktem Weg erreicht werden, ohne in angestrengte Selbstoptimierung abzugleiten. Indem sie sich Gott zuwenden, gewinnen die Übenden persönliche Reife und streben der Verheißung über ihrem Leben nach. Diese Verheißung hat für jeden und jede eine persönliche Gestalt, fühlt sich aber für alle nach gelingendem Leben und glückender Identität an. Dieser Verheißung entspricht ein geistliches Lebensmotto, das die Ausrichtung des Lebens, die persönliche Berufung und die je spezifische Teilhabe an der Sendung Gottes knapp zusammenfasst. Einmal gefunden, wird dieses geistliche Lebensmotto zum personalisierten Kriterium für die Unterscheidung der Geister. Dienlich sind die Verhaltensweisen, Einstellungen, Haltungen …, die in die gleiche Richtung weisen wie die Verheißung über dem eigenen Leben. Und so werde ich »einzig das ersehen und erwählen, was mich jeweils mehr zu dem Ziele hin fördert, zu dem ich geschaffen bin« (EB 23). Auf diese Weise bekommt die Freiheit eine Richtung. Sie weist nicht in eine vollkommen offene, unbestimmte Zukunft. Jede und jeder ist eingeladen, immer mehr Freiheit zu gewinnen, um sie zugunsten Gottes, der Menschen und der Erde einzusetzen. So gelingt das Leben. Ignatius will umfassende Freiheit in umfassender Verantwortung. Ignatius traut jedem und jeder zu – und verlangt es auch –, diese Freiheit selbst zu gestalten und in allen Entscheidungsfragen das Kriterium des eigenen geistlichen Lebensmottos anzuwenden. Niemand kann, niemand muss, niemand darf mir sagen, was meine Berufung ist und wie ich sie zu leben habe. Qualifiziertes Feedback, zum Beispiel durch eine geistliche Begleiterin oder einen Begleiter, kann sehr hilfreich sein. Aber niemand darf mir vorschreiben, wie ich als Mensch für die anderen und für den Anderen lebe. So zielt diese erste Phase der Exerzitien auf umfassende Selbstbestimmung: in Freiheit und Verantwortung – immer mehr ausgerichtet an Gott, seiner Selbstsendung und seiner Verheißung für mich. Ignatius ist damit für die Übenden seinem Ziel, selbstbewusste, autark verantwortlich handelnde Frauen und Männer Gottes und der Kirche zu formen, schon ein gutes Stück näher gekommen.

3 Erlösung In dieser ersten Phase der Exerzitien entdecken die Übenden ihre Bestimmung zu einem glückenden Leben, das sich zu anderen Menschen hinwendet. Sie erleben sich in Freiheit und Verantwortung gesetzt. Sie können und müssen wählen. Alle Lebensbereiche sollen immer mehr in diese geistliche FreiheitsFreiheit in Verantwortung

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dynamik einbezogen werden. Aber es gelingt nicht. Kulturelle Prägungen, neuronale Gesetzmäßigkeiten, biografische Erfahrungen und die unüberschaubare Komplexität des Lebens begrenzen die tatsächliche Entscheidungsfreiheit. Sympathie und Antipathie sind nicht steuerbar. Die »ungeordneten Anhänglichkeiten« (EB 21) lösen sich nicht auf. Der alte Adam lebt weiter. Leistungsdenken und zugesprochene Selbstverantwortung führen bei vielen Übenden zum Versuch, das Unmögliche zu erzwingen. Sie investieren sehr ernsthaft in die geistlichen Übungen. Sie bemühen sich, Gottes Führung in ihrer Biografie aufzuspüren. Sie versuchen, sich von Sünde fernzuhalten. Sie wollen die Ausrichtung auf Gott, die Liebe zu ihm und das Einstimmen in seine Sendung leben und auf alle Lebensbereiche ausweiten. Aber dann scheitern sie, überfordern sich, laufen in eine Sackgasse und vor die Wand. Übungen und geistliche Erfahrungen kommen zu einem schmerzhaften Stillstand. In diesem Stillstand – in der Verzweiflung über die eigene Unfähigkeit, Gott zu lieben und seiner Verheißung zu folgen – geschieht Bekehrung. Die Übenden werden sich der eigenen Erlösungsbedürftigkeit gewahr. Ohne Gottes Hilfe geht es nicht weiter, ist das Leben nicht zu gewinnen. Rechtfertigung, Vergebung, Neuausrichtung des Lebens, Zurücklassen von Verletzungen und fremdgesetzten Grenzen liegen nicht in der Verfügung des Menschen. Gnade und menschliches Bemühen müssen unter der Führung des Heiligen Geistes zusammenwirken. Die Übenden beginnen tastend in neuer Weise zu glauben. Oft  – und häufig überraschend schnell  – schlägt diese Erfahrung der Erlösungsbedürftigkeit in ein tiefes Erleben, dass die Erlösung schon gewirkt ist, um. Ganz konkret: Ich bin gerettet, für mich ist Jesus geboren, für mich hat er gelebt, für mich ist er gestorben, für mein Heil. Und Gott wendet sich mir auch heute und hier in Wohlwollen zu. Er holt mich an seinen Tisch, lädt mich in den Kreis seiner Freunde und Freundinnen, öffnet mir den Weg in ein glückendes Leben – obwohl er weiß, wie ich bin und dass ich es nicht schaffe, mich wirklich in der Tiefe zu ändern. Diese doppelte Erfahrung, erlösungsbedürftig und erlöst zu sein, ermöglicht eine weitere Dimension der Freiheit. Die Übenden lernen, aus dem Drang zur Selbstoptimierung – auch aus der Selbstoptimierung durch geistliche Übungen – auszusteigen. Das Leistungsprinzip, das unserer westlichen Lebensweise zugrunde liegt, wird in seiner Fragwürdigkeit sichtbar. Die inneren Antreiber können nun besser in die Schranken gewiesen werden. Der Zwang, es mir selbst, meinen Eltern, anderen Menschen oder der Gesellschaft zu beweisen, dieser Zwang, der so viele Menschen in die Erschöpfung treibt und sie für manipulierende Ausbeutung anfällig macht, zieht sich ein wenig zurück. Eine freiere Haltung und ein freieres Verhalten sind möglich und können nun eingeübt werden. 164

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4 Partnerschaft In diesen Raum der Freiheit platziert Ignatius die nächsten Übungen. Er lädt ein, den Blick von sich selbst und der eigenen Biografie weg zu lenken. Dies geschieht mit dem Ruf in die Nachfolge Jesu (EB 90–99). Ignatius versteht Nachfolge als Antwort des Menschen, der zuvor Leben, Freiheit und Erlösung gratis bekommen hat. Wurde bisher vorwiegend erwogen, wie Gott für den Menschen sorgt, ihn fördert und freisetzt, wird tritt nur die Idee einer Partnerschaft hinzu, in der beide – Gott und Mensch – zusammenwirken. Durch die übende Aneignung der Geheimnisse des Lebens Jesu wird diese Partnerschaft konkret. Im Mittelpunkt stehen die Menschwerdung Gottes und die Mitmenschwerdung der Übenden. Jesu Ruf in die Nachfolge, in Freundschaft und Vertrautheit mit ihm, beschenkt die Übenden mit einer neuen Würde. Christus bietet den Übenden an, auf dem Weg der Menschwerdung alles – Mühe und Erfolg, Scheitern und Rettung – mit ihm zu teilen. Das deutsche Wort »Partnerschaft« kennt eine Doppelbedeutung, die annähernd diese Beziehung ausdrückt. Die eine Dimension ist die emotionale Verbundenheit: Gott sucht, bietet und lockt in emotionale Nähe. Er bietet zugleich an, in seine Selbstsendung für Menschen und Erde verantwortlich mit einzusteigen: Christus ist der Herr, aber er räumt den Übenden nicht nur eine Aufgabe, sondern eine eigenverantwortliche Beteiligung an seiner Sendung ein. Die angebotene Partnerschaft umfasst diese beiden Dimensionen: Beziehung und Verbundenheit, aber auch die Senior- und Juniorpartnerschaft im gemeinsamen Wirken. Nehmen die Übenden dieses Angebot an, entsteht allmählich ein gemeinsamer Weg. Es beginnt eine Zeit des Aushandelns, die sich durchaus mit dem Geschehen zwischen zwei menschlichen Partnern vergleichen lässt. Immer wieder kommt es auch auf dem Weg der Nachfolge zu neuen Herausforderungen, stellen sich Krisen ein, muss die Beziehung nachjustiert werden – und vertieft sich dadurch. Die persönliche Berufung der Übenden bekommt nun eine klarere Gestalt. Nach und nach wird deutlich, was mein Platz in der Welt und im Plan Gottes ist, wie mein Beitrag zu seinem Heilshandeln gedacht ist. Die Übenden gewinnen an geistlichem und menschlichem Profil. Charismen, Geistesgaben für die Mitwirkung an Gottes Sendung und zum Aufbau des Gottesvolkes, werden sichtbar und beginnen ihre Wirkung zu entfalten. Langsam, oft fast unmerklich, verändert sich die Identität der Übenden. Die Übenden werden natürlich nicht völlig andere Menschen. Aber durch die Partnerschaft mit Christus bekommt das Leben einen neuen Rahmen. Der Glaube wird durch die Erfahrung der Partnerschaft in neuer Weise zur prägenden Komponente der Identität – vergleichFreiheit in Verantwortung

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bar der Veränderung, die sich einstellt, wenn zwei Menschen eine verlässliche, dauerhafte partnerschaftliche Beziehung miteinander eingehen. Der alte »Adam«, die alte »Eva« aber lassen nicht locker. Gerade die Erfahrungen der persönlichen Berufung und der sich neu entfaltenden Charismen bergen neue Gefahren. Die Versuchung, etwas Besonderes sein, einen exklusiven Platz im Herzen Gottes und in seinem Plan haben, oder auch – ganz menschlich – das Bedürfnis nach Sicherheit, Ansehen und Erfolg. Diese Wünsche sind völlig normal und gut. Wenn sie sich jedoch von der Nachfolge Jesu ablösen, zum Selbstzweck werden, wenn es darum geht, für das Individuum einen Sondergewinn zu erzielen, statt sich auf den Weg der Verletzlichkeit einzulassen, können sie in die Falle der Selbstbezogenheit und Selbstoptimierung münden. Jede und jeder wird jedoch für das eigene Leben umso mehr profitieren, als er oder sie »herausspringt aus Eigenwillen, Eigenliebe und Eigennutz« (EB 189). Besonders perfide ist, dass diese Versuchung sich häufig in der Gestalt »frommer« Hingabe daherkommt, hinter der sich bei näherem Hinsehen Leistung, Werkgerechtigkeit und egoistischer Nutzen verstecken. Im Dunkeln bleibt, was dies den Übenden selbst und seine Mitmenschen kostet. Von den Übenden oft unbemerkt stehen dann Freiheit, Indifferenz und die doppeltdimensionale Partnerschaft mit Jesus Christus auf dem Spiel. Ignatius begegnet dem, indem er in Erinnerung ruft, dass der Weg der Menschwerdung ein Weg der Kenosis – der Demut – ist, letztlich eine absteigende Lebenslinie. Durch die Inkarnation macht Gott sich verletzlich. Ignatius lädt die Übenden ein, betrachtend dem Menschwerdungsweg Jesu in wachsende Verletzlichkeit zu folgen. Die dunkle Konsequenz der Partnerschaft tritt nun in den Vordergrund. Zuerst wurde das Hochgefühl, Sendung und Erfolg mit Jesus zu teilen, erlebt. Nun wird deutlich, dass diese Partnerschaft auch in Mühe, Verletzlichkeit und Scheitern weiterbestehen soll und kann. Die Partnerschaft zwischen Gott und Mensch in der Nachfolge Jesu ist in doppeltem Sinne Passion: Leidenschaft und Leiderleben. Damit lässt Ignatius eine weitere Perspektive der Lebensbewältigung anklingen: Brüche, die es in jedem Leben gibt, die Erfahrungen von Grenzen und Scheitern, verbinden sich in einer emotional erlebten Nähe mit dem Lebensund Passionsweg Jesu. »Birg in deinen Wunden mich« betet das Gebet »Anima Christi«, eines der Lieblingsgebete des Ignatius. Zu erleben, dass die eigenen Wunden in seinen Wunden geborgen sind, öffnet wieder einen neuen Freiheitsraum. Denn nun müssen weder die erlittenen Wunden versteckt, noch künftige Wunden unbedingt vermieden werden. Was ich für mein Leben als richtig erkannt habe, bleibt richtig – auch wenn sich kein Erfolg einstellt. Die persön166

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liche Berufung trägt – auch wenn sie nicht anerkannt wird. Die Erlösung und auch mein Beitrag zur Sendung Gottes gehen durch Ohnmacht und Nacht. Die Übenden werden freigesetzt aus der gesellschaftlichen Norm des erfolgreichen, vorzeigbaren Lebens in stets jugendlichem Elan. Wunden und Narben, die das Leben schlägt, dürfen aus dem Schatten treten und ihren Beitrag zur Identität und Reife des Menschen entfalten. Diese neue Dimension der Freiheit öffnet sich dann hin auf eine weitere Dimension der Verantwortung. Die Freundschaft zu Jesus, die ihn auch auf dem Passionsweg nicht alleine lassen will, übersetzt sich in eine emotional erlebte und praktisch zu lebende Solidarität mit dem leidenden Leib Christi heute: Gottesvolk, Menschheitsfamilie, Erde und Kosmos. Gelingendes Leben vollzieht sich als Menschsein für andere – inkarniert und engagiert, verletzt und verletzlich.

5 Auf eigenen Füßen Dieser Weg der Partnerschaft mit Christus endet jäh. Jesus geht den Kreuzweg bis zum Ende, stirbt und wird begraben. Aus Verletzlichkeit ist letzte Niederlage geworden. Der Weg an seiner Seite geht nicht mehr weiter. Die Erschütterung, die diese Erfahrung auch in den heute geistlich Übenden auslösen kann, kann kaum überschätzt werden. Oft stockt jetzt auch der geistliche Weg. Trauer ergreift das Herz. Trauerarbeit ist zu leisten. Erst aus dem leeren Grab, auch dem leeren Grab der bisherigen Jesus-Nachfolge, kann radikal Neues geschehen: Jesus lebt, lebt aber bei Gott. Im Sterben hat er seinen Geist Gott übergeben. In den Auferstehungserfahrungen übergibt er den Geist Gottes den Jüngerinnen und Jüngern. Er stattet sie mit der gleichen Vollmacht aus, die er vom Vater hatte. Seine Sendung ist nun ihre Sendung. (vgl. Joh 20,21) Aus Jüngerinnen und Jüngern werden Apostelinnen und Apostel: Gesandte des Gesandten. Sie stehen in nun in der Verantwortung Gottes Wirken zu inkarnieren: Heilung, Vergebung, Gerechtigkeit, das Evangelium für die Armen und die Menschen aller Länder: Das Reich Gottes ist ihnen anvertraut. Emotional kann dieser Schritt vielleicht verglichen werden mit dem Erleben junger Erwachsener, die das Elternhauses verlassen: Plötzlich auf eigenen Füßen, plötzlich frei, plötzlich allein verantwortlich … Das lässt ein wenig von dem Enthusiasmus und zugleich der Ratlosigkeit der Zeuginnen und Zeugen der Auferstehung erahnen. Jetzt müssen sie, geistlich erwachsen und eigenverantwortlich, den Weg und die Sendung Jesu weiter leben. Nach und nach erst wird die innere Geistführung erlebt, die die Nachfolge ablöst und nun Kraft und Weisheit für den Weg gibt. Freiheit in Verantwortung

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Dabei irritiert, dass der Geist von jeder und jedem anders erfahren wird und Streit entsteht, obwohl sich alle vom Geist Gottes geführt erleben. Glauben, das zeigt sich spätestens jetzt, heißt miteinander den jeweils nächsten Schritt unterscheiden, abwägen und aushandeln. Zum Aushandeln mit Christus in der Partnerschaft tritt das dialogische Aushandeln mit den Christinnen und Christen hinzu. Wieder gibt es zwei Versuchungen. Die erste äußert sich als imaginierte Macht, die im auferstandenen Herrn zur Rechten Gottes zu gründen vorgibt, aber nicht kenotisch ist; die eben nicht freie Hingabe an die Selbstsendung Gottes zum Heil für Menschen und Erde ist. Die andere wurzelt in einer Verwechslung: Die geistgeführte Mündigkeit ist nicht die Mächtigkeit des umfassend gebildeten, energiegeladenen, perfekten Heros, den die europäische Moderne zu ihrem Leitbild erhoben hat. Mündige Christinnen und Christen sind Menschen der Inkarnation, die um ihre Beschränkung auf einen einzigen kleinen Ort und einen vergänglichen Körper wissen. Sie sind Menschen der Kenosis, verletzt und verletzlich, sind Menschen der Passion und der Nacht des Scheiterns – und darin Menschen der Auferstehung und des neuen Lebens. Die Würde der geistlichen Selbstbestimmung und Verantwortung hängt nicht an Gesundheit, geistiger Spannkraft und kluger Einsicht. Sie gründet vielmehr auf den Geist des gekreuzigten Erlösers. In den Schwachen ist Gottes Kraft mächtig. Weg und Schicksal Jesu bleiben gerade auch in den Erfahrungen von Ermächtigung und Vollmacht für die Christinnen und Christen normativ. Frei zu sein, geistlich-menschliche Mündigkeit zu leben, selbstorganisiert Kirche zu sein – und das inkarniert, konkret in den Bedingungen eines Ortes, von Jesus und den kenotischen Geheimnissen seines Lebens geprägt und geformt – ist die Verheißung der Exerzitien. Die Übenden werden durch sie zu »Gesandten an Christi statt« (2 Kor 5,20) geformt, befähigt Gottes Selbstsendung für Menschen und Erde heute geistgeführt ins Werk zu setzen. So sind die frühneuzeitlichen Exerzitien des Ignatius von Loyola – mit ihrem Programm umfassender Freiheit in Verantwortung – eine Chance und ein Instrument, um auch heute unseren Epochenübergang in Kirche und Gesellschaft zu gestalten.

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Peter Hundertmark

Wagnis der Freiheit Begegnung, Internationalismus und Internet: Grenzerfahrungen im interkulturellen Spiritual Care and Counselling Ulrike Elsdörfer

Unter dem Titel »Wagnis der Freiheit« wurde 1981 eine Sammlung von Vorträgen herausgegeben, die den damaligen Stand der internationalen Pastoralpsychologie beschrieben. Diese Sparte der Praktischen Theologie hatte sich nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt.1 Ein Kongress für internationale Seelsorge und Beratung war im Jahr 1979 Ausgangspunkt für die formale Geschichte der Treffen von pastoralpsychologisch tätigen Kollegen in verschiedenen Regionen der Welt. International heißt der Arbeitsbereich heute Spiritual Care and Counselling. Schlaglichter zeigen im Folgenden den Weg von der persönlichen Begegnung als wichtigstem Skopus pastoralpsychologischer Arbeit zur heutigen Relevanz von Spiritual Care and Counselling im Internet.

1 Anfänge der internationalen Pastoralpsychologie Pastoralpsycholog*innen sind in verschiedenen beratenden Berufen tätig, mit psychotherapeutischer Ausbildung in divergierenden Schulrichtungen. Sie sind ihren Herkunftsreligionen verbunden. Die Einsicht in Erschütterungen des 20. Jahrhunderts motivierte die erste Generation der Pastoralpsycholog*innen, sich mit psychologischer Vorbildung den Menschen seelsorgerlich zuzuwenden. Damit wurde der Pluralität von Wahrnehmungen Rechnung getragen, und vor allem wurde Seelsorge nicht als Belehrung, sondern als einfühlendes Verstehen praktiziert. Immer mehr wurde der Begriff Seelsorge durch Beratung ersetzt. Zugleich beleuchtete diese Generation psychologisch die Verstrickung ihrer eigenen Geschichte in die Katastrophe von Krieg und Holocaust. Theologen und Theologinnen aus verschiedenen Kirchen und Religionen begegneten damals 1 Vgl. Werner Becher, Alastair Campbell & George Keith Parker (Hrsg.), Wagnis der Freiheit. Ein internationaler Kongress für Seelsorge und Beratung, Göttingen 1981. Der Titel des hier vorliegenden Artikels nimmt auf diese programmatische Aufsatzsammlung zur internationalen Seelsorgebewegung Bezug.

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Psychiaterinnen und Psychiatern. Der Fokus lag, neben Erfahrungs- und Kenntnisaustausch, auf der Begegnung. Sie war der Angelpunkt des Unternehmens: Begegnung – Encounter. Ohne Wahrnehmung des Gegenübers in ihrem oder seinem kulturellen, materiellen, psychischen und geistigen Kontext erschienen die Theorien oder Berichte unlebendig. Englisch war und ist die Sprache der Treffen, aber die Sprachen der Begegnung sind vielfältig. Sie beginnen mit kleinen Gesten oder mit großen nonverbalen Erlebnissen wie dem Begrüßungsritual der Maori,2 zu dem bei der Eröffnung eines Kongresses in Neuseeland eingeladen wurde, und sie enden mit gemeinsamen Unternehmungen und tiefgreifenden Eindrücken. Besonders nenne ich den Besuch der Elmina Castles in Cape Coast, Ghana. Aus den von verschiedenen europäischen Kolonialherren genutzten Festungen wurden in mehreren Jahrhunderten Sklaven nach Amerika verschifft. Die unmittelbare Konfrontation mit diesem Ort war für die internationale Besuchergruppe beeindruckend. In anderem Kontext war es der Besuch im Konzentrationslager Auschwitz. Polnisch oder die Sprache der Akan in Ghana: auf ihnen lag nicht der Fokus. Aber das periphere Wahrnehmen der vielen fremden Klänge schuf eine Atmosphäre der Solidarität, welche die Treffen faszinierend machte. Eine professionelle und akademische Gemeinschaft ohne Zwänge etablierte sich, und das Wagnis der Freiheit in der Begegnung war erfolgreich. Mehr als das, es war eine spirituelle Kraft für die Teilnehmenden, die über die konkreten Treffen hinaus wirksam war. Die vorherrschende Methode der gemeinsamen Arbeit lag bei Clinical Pastoral Education (Klinische Seelsorgeausbildung), einer Mischung aus Praxis und Theorie von Beratung und Supervision, von Selbsterfahrung und Gruppenbegegnung. Wenn diese Methode auch, ausgehend vom amerikanischen Modell, weltweit führend war, so haben doch andere Ansätze wie tiefenpsychologische Therapie, humanistische psychologische Beratungsformen und systemische Beratung das Bild der internationalen Pastoralpsychologie ergänzt. Indigene Seelenkunde der Schaman*innen, indigene Heilkunst in afrikanischen Kulturen oder in der Südseeregion, Weisheit in der Begleitungspraxis der Hochreligionen Asiens machen das Bild gegenwärtig farbiger. Zugleich wächst ein neues Wissen um die fragile Lage von Menschen in allen Weltregionen. Die Wahrnehmung von Fragilität gehört zu der grundsätzlichen Vorgabe, die das Unternehmen internationaler Begegnung im Interesse der cura animarum entstehen ließ. Der katholische Theologe Henri J. M. Nouwen hat ein

2 Die Maori (Aotearoa/Neuseeland) pressen zur Begrüßung ihre Nasenspitzen gegeneinander.

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Buch »The Wounded Healer«3 geschrieben. Der Untertitel gibt das Programm: »In our own woundedness, we can become a source of life for others.« Cura animarum ist Begegnung mit dem anderen Menschen in Solidarität und Compassion, ist Bewegt-Sein von ihrer Armut, Sich-berühren-Lassen von seiner Trauer und Angst, von ihrer Erfahrung von Gewalt, Erniedrigung und Ausbeutung. Genauso ist cura animarum: Sich-berühren-Lassen von der Freude, von der Lebendigkeit, von gemeinsamen hoffnungsvollen Schritten, zu denen beide Seiten beitragen können.

2 Spiritual Care and Counselling in 2020 Wie passt cura animarum in die gegenwärtige Welt? Junge Demokratien setzen sich gegenwärtig ab von europäischen kolonialen Einflüssen. Geographische Grenzen der Vergangenheit fallen, ein postkoloniales Denken zielt auf Auflösung von Abhängigkeiten. Entwicklungs- und Schwellenländer setzen Schwerpunkte in ihrer eigenen kulturellen Hemisphäre, mit neuen Abhängigkeiten von neuen Wirtschaftsmächten. Globale Vernetzung lebt vom Wagnis, von Weite, vom Kennenlernen und Akzeptieren des Fremden, aber auch vom Wunsch zur Beibehaltung des Eigenen. Aus nationalistischen Motiven werden Grenzen in den Köpfen gezogen. Ethnien definieren sich über Abgrenzung und Zugehörigkeit. Ländliche oder städtische Welten bringen kontrastreiche Situationen hervor. Ein zufälliges, aber eindrückliches Bild aus dem Fernsehen: Schafe werden in Amman (Jordanien) über den Highway in der Innenstadt getrieben, umrankt von Wolkenkratzern, angeführt von einem Schäfer auf einem Esel. Weltweit ist der Taxisfahrer zu treffen, der Reisende in seinem Privatauto transportiert. Er ist jung und gut ausgebildet. Er ist Architekt, Banker oder Immobilienmakler. Aber der Einstieg und das Sich-Halten in diesen Berufen ist in vielen Gesellschaften schwer, und so ist das Taxifahren das erste oder zweite Standbein. Bildung ist ein Kulturgut. Sie ist zugleich Handelsware und Ausweis für Erfolg, Macht und Reichtum. Technik hilft allen, aber wie? Oft dient sie nur wenigen. Ihre Wirkungen sind ambivalent.

3 Vgl. Henri Nouwen, The Wounded Healer. Ministry in Contemporary Society: In our own woundedness, we can become a source of life for others, New York 1972.

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Globales soziales Leben setzt ein hybrides Konzept4 von Wirklichkeit voraus. Pluralität ist das grundlegende Merkmal der gegenwärtigen Welt. Global leben Menschen in Ambiguität5 und Hybridität. In Europa gibt es Hightech-PCs und E-Autos, zugleich bietet das Handy Kräutermedizin-Rezepte. Die Moderne ist weltweit eine Mischung von multiple modernities.6 Meistens aber werden Entwicklungsländer als multiple modernities beschrieben: Abhängige Gesellschaften, die Solidarität und Compassion benötigen und Wissen und Finanzen durch Entwicklungshilfe brauchen. Politisch überschreiten einige von ihnen seit Jahrzehnten ihre Grenzen, sie entdecken ihre Kraft zum empowerment.7 Welche Akzente setzt Spiritual Care and Counselling dabei?

3 Grenzen verändernde Transformationen in Spiritual Care and Counselling Solidarität und Compassion waren Prämissen der Begegnungs- und Entwicklungsarbeit vieler Kirchen in den letzten Jahrzehnten. Sie beinhalten Grenzüberschreitungen vom Gebenden zum Nehmenden, von der Stärkeren zur Schwächeren, von der Wissensentwicklerin zum Wissensanwender. Spiritual Care and Counselling reiht sich hier ein.

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Nico Koopman, reformierter Theologe, nutzt ein Konzept von Hybridität, um die Wirklichkeit der südafrikanischen Gesellschaft nach der Apartheid zu beschreiben, nach dem Modell »Es ist immer so … und es ist auch zugleich immer anders.« Koopman führt diesen Gedanken theologisch aus zu einer Pneumatologie der Hybridität (vgl. Nico Koopman, The Holy Spirit and Hybridity, in: Ulrike Elsdörfer [Hrsg.], Compassion – Kirchen in Afrika. Beratung und soziales Engagement, Sulzbach 2012, 113–124). 5 David Tracy sieht in der katholischen systematisch-theologischen Tradition ein Fundament, das nur dann Bedeutung für die Moderne bewahren kann, wenn es zur Wahrnehmung von Pluralität und Ambiguität fähig ist. Die Interaktion von Erinnerung, Erzählung und reflektierender Interpretation führt dazu, »the otherness of event, text and possibility« angemessen in den theologischen Denkprozess aufzunehmen (vgl. David Tracy, Plurality and Ambiguity. Hermeneutics, Religion, and Hope, San Francisco 1987, sowie dazu Len Hansen, Christian in Public. Aids, Methodologies and Issues in Public Theology, Stellenbosch 2007, 115). 6 Ich nutze ein Stichwort, das dem Werk des israelischen Soziologen Shmuel Eisenstadt entstammt. Der Begriff wird in der soziologischen und ethnologischen Forschung zur Beschreibung der Gesellschaften von Schwellen- und Entwicklungsländern genutzt. Er beinhaltet weitere Aspekte der Kulturtheorie, die ich außer Acht lasse. Ich referiere wiederkehrende Gedanken aus Shmuel Eisenstadt, Multiple Modernities, Abingdon 2002. 7 Empowerment steht hier für Emanzipationsbestrebungen vieler Länder, wirtschaftliche Stärke zu entwickeln und die kulturelle Identität ihrer Einwohner*innen zu bewahren.

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In einem Interview zum heutigen Stand der Begegnung in der kirchlichen Entwicklungshilfe nimmt die ehemalige Präsidentin von »Brot für die Welt«, Cornelia Füllkrug-Weitzel, die gegenwärtige Lage so wahr: »Die Zivilgesellschaft hat sich in vielen Ländern stark entwickelt. Die Aufteilung der Welt in den klassischen Süden und Norden ist obsolet geworden, und es gab einen echten Rückgang von extremer Armut. Wenn niemand mehr mit dem Herzen für ein Thema brennt und sich organisiert, findet keine Veränderung mehr statt. Der Internationalismus der 1970er Jahre hat uns getragen.«8 Im zweiten Statement spricht Füllkrug-Weitzel von früheren Motivationen, von dem, was offenbar heute so nicht mehr spürbar ist. Sie beschreibt die damalige Veränderung des Ethos hinter den Aktionen: Angebotene Solidarität war der damals neue Begriff. Er wurde demokratischer gedeutet als geleistete Hilfe. Die Haltung des Kolonialismus sollte überwunden werden. Das ist inzwischen offenbar geschehen. Es gibt neue Selbstverständnisse mit neuen Grenzen. Technologien haben die Kommunikation verändert. Kontakte werden anders als früher geknüpft. Zur internationalen Begegnung gehört eine spezifische Vorstellung von empowerment. Marginalisierte Länder positionieren sich aus eigener Kraft, sie lösen sich von kultureller Dominanz. Das theologische Entwicklungskonzept der Solidarität wurde von Insidern nicht als Vereinnahmung verstanden. Zu Insidern gehörten auch diejenigen, die Theorien für Spiritual Care and Counselling entwickelten. Theologie und Psychologie des Westens stellten die Tools dafür bereit. Über Jahrzehnte wurde Solidarität – mit westlichen Methoden – angeboten. Sie trägt heute nur bedingt für die digitale Zukunft im regionalen empowerment. Hier wird Internetberatung, erhoben mit den regional üblichen Tools, durchgeführt. Das Internet ist in entlegenen Regionen eines Landes verfügbar. Aufklärungsvideos über Gesundheitsthemen und über Gefahren im sozialen Miteinander sind grundlegende Teile von Erwachsenenbildung. Individuelle Beratung im Sinne des Counselling ist weniger leicht durchführbar. Das Internet wird oft vom ganzen Ort öffentlich genutzt. Praktikable Formen, Menschen auch individuell zu begegnen, bestehen in einer Mischung technischer Angebote – etwa Internet und Counselling via mobile phone calls. 8 Cornelia Füllkrug-Weitzel, Statt von Hilfe sprechen wir heute von Solidarität, in: Welt-Sichten. Magazin für globale Entwicklung und ökumenische Zusammenarbeit (2021), Heft 3, 46–49, hier: 48.

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International pastoralpsychologisch tätige Menschen bieten regional akzeptable Angebote. Sie sehen die Grenzen ihrer eigenen psychologischen Arbeitsformen. Auch ihre Theologien sind nicht mehr global gleich bedeutsam. Die schwarze Befreiungstheologie Nord- und Südamerikas wird in Afrika abgelöst von der Theology of Reconstruction.9 Für das heutige Afrika ist die aus eigenen Ressourcen erhobene Identität des Kontinents und seiner Kulturen wichtig. Sie bleibt verbunden mit der Theologie der verschleppten Sklaven und ihrem Befreiungsimpuls, weniger aber mit dem heutigen Amerika. Spirituelle Beratung und lokale Medizin bauen auf internationale Vorgaben, aber sie nutzen gleichzeitig ihre eigenen regionalen Quellen. Der Trend gilt weltweit. Einen Rückgang globaler Ausrichtung bestätigt Füllkrug-Weitzel auch für ihre Arbeit in Deutschland: »Für uns steht globale Gerechtigkeit im Fokus – auch des Klimaengagements. Aber der Einsatz für nationale und für globale Gerechtigkeit fällt leider auch in der ›Szene‹ zunehmend auseinander. Ob es um Agrar-, Klima- oder Asylpolitik geht: Immer müssen wir darum kämpfen, die globale Dimension des Problems in Aufrufen und Appellen zu berücksichtigen. Soziale Bewegungen und Parteien haben oft nicht mehr den globalen Blick – von Internationalismus kaum noch eine Spur.«10 Soweit der Ist-Zustand, der durch die Covid-19-Pandemie gestützt wird. In der Pandemie ist allerdings zunächst ein Internationalismus aus der Not entstanden. Ebenso wuchsen faktische und geistige Grenzziehungen. In Europa waren sie im Jahr 2020 massiv. Länder schlossen ihre Grenzen. Impfstoffe waren in ganz Europa nur schwer gerecht zu verteilen. Das Internet wurde zum einzigen Kommunikationsagenten zwischen Menschen trotz regionaler Nähe.

9 Vgl. Julius Gathogo, Latin American liberation theology: Does it fit in the schema of African theology of reconstruction?, in: Verbum et Ecclesia 42 (2021), Heft 1, a2103, online verfügbar unter: https://verbumetecclesia.org.za/index.php/ve/article/view/2103/4421. 10 Füllkrug-Weitzel 2021, 48.

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4 Wagnis der Freiheit – vom Internationalismus zum Internet Die Rolle der Technologie in dieser Begegnungsorientierung ist dominant geworden: »Das Engagement für Menschen im Süden wandert ins Internet ab, auf Spendenplattformen, die immer oberflächlicher werden. Versuche, die Ursachen in ihrer Tiefe zu verstehen, werden die Ausnahme.«11 Entwicklungsländer versprechen sich immer mehr vom empowerment gegenüber globalen Machtzentren. Das ist nur möglich mit detailliertem Blick auf ihre Grenzerfahrungen und noch existenten Abhängigkeiten. Spiritual Care and Counselling hat hier die Aufgabe, die einzelnen Menschen in der Tiefe zu begleiten. Aus der Tiefe des kulturellen Erbes, der individuellen Seele und aus der erlebten Weite der heutigen Welt wird Begegnung authentisch. Bislang scheint das ohne direkten Blickkontakt und physisches Berühren ungewohnt. Man nimmt derzeit an, sich aus persönlichen Treffen kennen zu müssen, um im digitalen Counselling eine relevante Begegnung zu haben. Die Sicht auf Care and Counselling als einzig analogem Begegnungsprozess in interkultureller und internationaler Weite wird sich ändern. Geringere Ressourcen der beteiligten Institutionen, Umweltschutzüberlegungen und die weltweite Lage in und nach Covid-19 führen zur digitalen Begegnung. Internet Counselling wird alltäglich werden. Das kann auf Kosten der Individualität, der Tiefe und der Weite der Begegnung geschehen. Bildschirme sind weltweit viereckig und differieren höchstens in der Größe. Nonverbales bleibt auf der Strecke, seltene Sprachen kommen nicht zu Gehör. Verallgemeinerung und Gleichmacherei regieren das Feld, ein privater, nicht einsehbarer Raum ist schwer herzustellen. Dies mag das Markenzeichen des interkulturellen Care and Counselling verspielen – das Wagnis der Freiheit zur individuellen Gestalt in der persönlichen, geschützten Begegnung. Dennoch ist der Trend unaufhaltsam. In Zimbabwe verfügt man auch auf dem Land über mobiles Internet und Handys. Diese Ressource ist wichtig in der strukturschwachen Region. Zimbabwe ist das am meisten von AIDS gezeichnete Land im südlichen Afrika. Es ist besser gerüstet für neue Pandemien als manches europäische Land. Resilienz in der täglichen Lebensführung sind vorauszusetzen, und technologische Erfahrung in der präventiven Kommunikation sind lange vorhanden. Vhumani Magezi stammt aus Zimbabwe und lehrt als Pastoralpsychologe in Südafrika. Er beschreibt, wie die Begegnung in seinem Kontext am besten funktioniert: als care at the in-between. 11 Füllkrug-Weitzel 2021, 49.

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»Care at the in-between – the definition focuses on an adequate characterization of contemporary practice of care and counselling. In Africa people in many respects are spending their daily lives between different areas and surroundings. They are kept in inner and outer migration, in the in-between: Ȥ two places: the geographical home and family and the place where they have Ȥ to live for work Ȥ the home, which they left because of war and the new country they fled to Ȥ indigenous traditions and modern technology Ȥ in patchwork families Ȥ health/freedom and dependence Ȥ mankind and nature. At the same time, care at the in-between denotes a state of global temporariness, a flux space where people have no fixed positions … This in-between therefore describes a space of confusion, anxiety, temporariness, combination of loss and gain. It challenges one to ask identity questions namely, what does it mean to have a home from your home or family? It challenges one to cultivate ›new muscles‹ for coping in life.«12 Spiritual Counselling ist nach Magezi ein provider of links – eine Form des Networking von alten zu neuen inneren und äußeren Schauplätzen. Links begleiten jede Begegnung. Analoges care at the in-between findet seine Fortsetzung im Internet. Wer beim Besuch in der Heimatregion ein persönliches Problem besprechen möchte, kann dort eine Beraterin oder einen Berater konsultieren. Der Kontakt wird fortgesetzt, wenn beide über eine individuelle und geschützte E-Mail-Adresse verfügen. AIDS Patienten, die in Goldminen arbeiteten, konnten ihre Lage weder in ihrer Arbeitsregion – in notdürftigen Unterkünften – noch in ihrem Heimatort zur Sprache bringen. Dort wurde die Krankheit geächtet, sie sollte Partnerinnen und Familienangehörigen nicht offenbar werden. So blieben die kirchlichen Beraterinnen und Berater vor Ort – Priester, Pfarrerinnen oder andere in helfenden Berufen Tätige, die zur Schweigsamkeit verpflichtet waren. Sie waren durch das Internet erreichbar. Und der Kontakt mit ihnen zog sich fort bis fast zum Tode der jeweiligen Patienten. 12 Vhumani Magezi, Pastoral care within globalization as care at the in between: the dynamics of pastoral care and counselling for meaning and coping in a global context, in: Ulrike Elsdörfer & Takaaki David Ito (Hrsg.), Compassion for one another in the Global Village. Social and cultural approaches to care and counselling, Zürich 2016, 65–78, hier: 70 f.

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Internetberatung ist Aufklärungsarbeit: Über AIDS, über die Lebensumstände von Arbeitern, die in Ghettos leben müssen, um das Geld für die Familie aufzubringen. Zugleich werden sie von der gleichen Familie geächtet, wenn sie sich AIDS zugezogen haben. In der kulturellen Tradition Afrikas hat Sexualität einen hohen Wert. Sexualität mit Schutz gilt als »unmännlich«. Die Folgekrankheit der ausgelebten Sexualität allerdings ist mit Tabu belegt. Aufklärungsarbeit hilft den Betroffenen und ihren Angehörigen, aus dem Ghetto der Ächtung und Verurteilung heraus zu kommen. Sie kann Wege zur Bewältigung des Totschweigens zeigen. Sie ist möglicherweise im Internet effektiver als durch die Angebote einer Beratungsstelle vor Ort. Frauen in Asien suchen Arbeit in den Metropolen. Das Internet bietet ihnen Eindrücke, die bis in ihre ländlichen Häuser dringen. In den Städten finden sie meist nur Arbeit im Sextourismus. Viele Frauen werden seelisch und physisch geschädigt. Sie haben keinen richtigen Wohnraum und sind abhängig von Schleusern. Ihr Geld reicht nicht, um die Familie zuhause besser zu versorgen. In Thailand gibt es Beratungsagenturen für die Frauen, in denen sie sich vor Ort ermutigen lassen können im Kampf gegen Missbrauch und Gewalt. Opfern wird Begleitung und Nachsorge angeboten. Religionen und staatliche Organisationen sind darin engagiert. Programme im Internet helfen, um begonnene Gespräche zuhause weiter zu führen. Von der Spiritualität des care at the in-between zur digitalen Beratung besteht ein kleiner Schritt. Er führt ins Private des Mannes, der Frau, die ihre Fragen nicht in der Heimat stellen können. Sie leben anders als die Tradition es will, sind in der Stadt isoliert. Sie müssen Geld verdienen, das es zuhause nicht zu verdienen gibt. Sie müssen die Werte ihrer Kulturen – Familie und Gemeinschaft erhalten –einlösen, ohne diese zu leben. Ihre Einsamkeit ist oft groß. Die Dilemmata von multiple modernities sind zahlreich. Die Menschen müssen von Beratungsangeboten an ihrem jeweiligen Ort erreicht werden – auf dem Marktplatz ihres Alltags. Man spricht im theologisch-spirituellen Kontext von theology of the market place.13

13 Dieser Begriff ist mir aus der Beschäftigung mit Praktischer Theologie in Südafrika geläufig, darüber hinaus wird er in vielen anderen Ländern verwendet.

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5 Anthropologisch-theologische Gedanken zu Wagnis und Freiheit im digitalen Spiritual Care and Counselling Berater*innen wollen sich mit den Menschen auf den market place des Internets begeben. So zeigen Bloggerinnen ihren konkreten Alltag als alleinerziehende Mütter. Sie sind role models für andere, die wie sie selbst als Kellnerin, mit Kind und wenig Geld auskommen müssen – ein erfolgreiches Coaching-Modell in Brasilien. Zum empowerment taugen Internetalltagscoaching und Internetaufklärung. Die Freiheit zur positiven Nutzung des Internet ist eine vorwärtsweisende Option. Zur theology of the market place gehört, Wertangebote zu machen: In Afrika im Hinblick auf verantworteten Umgang mit Sexualität innerhalb einer stabilen Beziehung, in Brasilien im Infragestellen patriarchalischer Zuordnungen in der Gesellschaft. Wie immer Wertungen in digitalen Beratungen und Aufklärungsvideos vorkommen, sie müssen annehmbar sein im Rahmen der gegenseitigen Konstellation. Eine theologische Anthropologie hat die Bewahrung des Menschen und der gesamten Schöpfung im Blick. Sie ist kontextuell auf dieses Ziel hin orientiert. Zum theologischen Werteangebot gehört in der derzeitigen Lage der Welt das klare Benennen von Rassismus, Nationalismus und Gewalt. Mobbing gehört zum Alltag junger Menschen, vor allem in westlichen Gesellschaften. Diese jungen Leute brauchen empowerment. Täter nutzen die Grenzenlosigkeit des Internets. Opfer schweigen oder berichten im geschützten Raum von erfahrenen Grenzüberschreitungen. Hier liegt das Wagnis der Internetberatung. Aufklärung und Coaching sind praktikabel, vertrauensbildende face-to-face-Begegnung ist sicherlich das beste Medium und muss – wenn möglich – zur Verfügung stehen. Die Chance der Internetberatung liegt in der schnellen und regional unabhängigen Verfügbarkeit. Deshalb wird sie sich durchsetzen, vor allem, wenn sie trotzdem in bestimmten kulturellen Zusammenhängen angebunden bleibt. Solange eine Rückbindung an Gewohntes, eventuell Tradition und Rituale möglich ist, können die Beratungssuchenden leichter ihnen Bekanntes erkennen und Neues entwickeln. Sie können lernen, damit für ihre eigene Situation nutzbringend umgehen. Für die Beratenden selbst und für ihre Aufgaben als Designer*innen und Multiplikator*innen der zukünftigen Ausbildungstools ist zu wünschen, dass die vertrauensbildende face-to-face-Begegnung jenseits der Covid-19-Pandemie weiterhin bedeutsam bleibt. Sie konstituiert geradezu die berufliche Identität der Menschen, die in ihren beratenden Berufen vielfachen Herausforderungen in Wagnis und Freiheit standhalten müssen. 178

Ulrike Elsdörfer

Agiles Wagnis Kooperation Ein Beitrag zur Zukunft der Organisation von Arbeit in Kirche Claudia Enders und Joachim Schlör

Betrachtet man heute, mit den Erfahrungen durch Corona, die zukünftige Arbeit in Unternehmen und Organisationen und in den Kirchen, so fällt einem auf, dass in den letzten Monaten vieles gelungen ist, was vorher undenkbar war, weil man »Dinge« gewagt hat, die dazu führten, dass sich die Arbeitsorganisationen verändert haben! Wie kann sich in Zukunft eine Organisation in ihrer Arbeitsorganisation auf Veränderungen einstellen, wenn sie es mit komplexen Umweltbedingungen zu tun hat? Und wie kann sie dem Wagnis Raum geben, Neues auszuprobieren, wenn die eigene Zukunft unklar und unsicher ist? Zugespitzt stellt sich diese Frage im Besonderen für die Kirchen, deren Organisation und für ihre Mitglieder. Zwei Perspektiven, die wir mit dem Begriff des Wagnisses verbinden, stehen im Folgenden im Fokus der Aufmerksamkeit: Agilität und Kooperation. Beiden Konzepten liegt der Gedanke zugrunde, dass sich in einer anderen Form der Struktur von Abläufen und Zuständigkeiten Lösungen generieren lassen, die letztlich dazu verhelfen, flexibler und offener auf die Lebenswirklichkeiten von Menschen zu reagieren oder aber Angebote zu schaffen, die es möglich machen, auf Zeit ein Bedürfnis zu befriedigen. Wir gehen dabei davon aus, dass das agile Management als Fremdprophetie für ein arbeitsorganisatorisches, mitarbeiterorientiertes und strategisches Wagnis angesehen werden kann.1 Innerhalb dieses agilen Verständnisses stellt die Arbeitsform der Kooperation die Möglichkeit dar, als Kirche oder kirchliche Organisationsteile sowie als Mitarbeitende mit anderen gemeinsame Themen in den Blick zu nehmen, die man alleine nicht bewältigen kann. Diese Form der strukturellen Zusammenarbeit außer-

1

Wir unterscheiden uns hier von einer herkömmlichen Definition der Agilität, deren Konzepte als Ziel die organisationale Anpassungsfähigkeit beinhalten, deren Kriterien Geschwindigkeit, Anpassungsfähigkeit, Kundenzentriertheit und Haltung umfassen. Vgl. dazu Hans-Georg Weigelt, Agilität systemtheoretisch betrachtet. Braucht es einen Paradigmenwechsel in der Beratung?, in: Supervision – Mensch. Arbeit. Organisation. Zeitschrift für Beraterinnen und Berater 37 (2019), Heft 2, 3–8.

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halb und innerhalb der kirchlichen Organisation erschließt ein Potenzial von Möglichkeiten, die den Fokus auf die Erfüllung der kirchlichen Aufgabe richten. In einer Fortbildungskurswoche für pastorale Mitarbeiter*innen einer katholischen Diözese mit dem Thema »Veränderungen gestalten« entstand eine Diskussion darüber, warum so eine Woche nicht vollständig mit den Prinzipien des Agilen Change Managements gestaltet wird, und es wurde die Meinung vertreten, dass das in Kirche überhaupt nicht funktionieren könne. In den Erfahrungen, die wir mit Kirche machen, ist diese Aussage wie ein Mantra an allen Orten zu hören und vieles, was mit Energie beginnt, endet in Enttäuschung, Resignation und Abkehr.

1 Kirchliche Dynamiken Dabei würden Arbeitsbedingungen, die mitarbeiter*innenorientiert und daran interessiert wären, kreativ, informativ und ergebnisorientiert zu sein, der kirchlichen Organisation guttun. Szenarien wie diese wären dann an der Tagesordnung: In einem Forschungszentrum einer großen Firma in der Nähe von Stuttgart stehen die Mitarbeiter*innen mit ihren Laptops in offenen Räumen an Stehtischen, Kaffeeautomat nebenan, es herrscht eine lockere Atmosphäre, sie besprechen, an was sie forschen, was gelingt, was nicht, tauschen sich aus. Was nach Kaffeepause aussieht, ist ein fortwährender Austausch von Informationen, Themen und Ergebnissen. Gemeinsame Fahrten zu und vom Arbeitsplatz werden vom Arbeitgeber gefördert – wissend, dass auch bei diesen Fahrten nicht nur über Privates geredet wird. In kirchlichen Einrichtungen, so zumindest ist es oft in Supervisionen (ja, in Supervisionen erfährt man öfter die schwierigen Anteile) zu hören, scheinen die Teams eher in einer Situation zu sein, in der es relativ oft überstrukturierte oder unterstrukturierte Bedingungen gibt. So gibt es auf der einen Seite lange Befindlichkeitsrunden mit kaum vorhandener Tagesordnung, wenig Ergebnissen und deren Kontrolle und auf der anderen Seite überstrukturierte Besprechungen, in denen ein Punkt nach dem anderen schnell sachlich abgearbeitet wird und sich die Teilnehmer*innen ungeachtet ihrer Person auf ihre Funktion reduziert fühlen. Neben dem Kleinen gibt es auch das Große. Die Überstrukturierung findet sich im sowohl im Aufbau der kirchlichen Organisation als auch in ihrem Vorgehen und ihren Abläufen. Die Bedingungen werden damit komplexer und unübersichtlicher. Überstrukturierung, wahrscheinlich sogar auch Unterstrukturierung, die schon vorher bestanden, könnten sich als Reaktionen auf 180

Claudia Enders und Joachim Schlör

sich verändernde Bedingungen noch verstärken. Von der Beschleunigung wie auch der Radikalität des gesellschaftlichen Wandels lernen wir, dass jede Vorstellung von Planbarkeit künftiger Entwicklungen nicht mehr möglich erscheint. Die zunehmende Volatilität der Rahmenbedingungen hat für das Agieren von Organisationen ein enormes Maß an Unsicherheit zur Folge; sie wird deshalb weniger als Bedrohung denn als Ressource angesehen.2 Diesen Phänomenen von Unter- oder Überstrukturierung liegen Bilder zugrunde, die die Unternehmenskultur und die Beziehungen zwischen den Mitarbeitenden bestimmen. Während das vorgestellte Beispiel aus der Forschung von einer professionellen, kooperativen Arbeitsbesprechung zugunsten von Ergebnisoptimierung, wirtschaftlichem Erfolg und Tempo ausgeht, folgen kirchliche Organisationen zumeist familiären Bildern, die mit familiären Beziehungen zu tun haben: Geschwisterlichkeit, die sich so darstellt, als ob alle Geschwister gleich(-berechtigt) seien, was jeder familiendynamischen Realität widerspricht; der Anspruch »wir sind alle eine Familie«, gepaart mit einem ebenfalls realitätsfernen, romantisch-kitschigen Bild, in dem sich alle gut verstehen und eine bestimmte Rolle einnehmen; der fürsorgliche Hirte (Pastor), der weiß, wo es hingeht und die Aufgabe hat, für alle so zu sorgen, dass sie sich wohlfühlen … nicht minder wird über die Beziehungen im Team gedacht – es geht um die Wahrnehmung von Befindlichkeiten in der Gestaltung der Team-Beziehungen und die damit verbundenen Verbindlichkeiten, die ausgesprochen und unausgesprochen eingefordert werden. Wenn diese nicht beachtet werden oder sie sich nicht einstellen, führt dies unweigerlich zu Enttäuschungen. Neben diesen Bildern, die sowohl die Gestaltung der Kommunikation als auch das Beziehungsgeschehen bestimmen und einen enormen Einfluss auf die Unternehmenskultur und -struktur haben, bestimmt Konkurrenz das Innenleben kirchlicher Organisationen. Wir denken zwar nicht, dass in kirchlichen Organisationen mehr oder weniger Konkurrenz ist als in agilen Unternehmen, aber Konkurrenz scheint sich in Kirche anders zu zeigen; sie entwickelt eine andere Dynamik. Beispiele dafür sind: Profildiskussionen über Berufsbilder, ordinierte und nicht ordinierte bzw. geweihte Menschen und die Frage, wer darf was tun, bei grundsätzlich ähnlicher Qualifikation. Es bedeutet auch, dass Macht fast immer gemäß diesen Unterschieden verteilt wird. Damit einher geht ein hoher kirchenspezifischer Reibungsverlust innerhalb von Teams und 2 Vgl. dazu die Beiträge in dem Heft Supervision – Mensch. Arbeit. Organisation. Zeitschrift für Beraterinnen und Berater 37 (2019), Heft 2, und den Vortrag von Rudolf Wimmer, »Steuerung des Unsteuerbaren – Wie richten sich Organisationen auf eine ungewisse Zukunft aus?«, im Rahmen des Fachtages am 28.11.2018 in Haus Villigst: »Adventure: Abenteuer Zukunft – Entwicklungen und Aufgaben von Kirche in kritischen Zeiten«.

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Arbeitsgruppen, der mit der Berufsgruppenzugehörigkeit bei ähnlicher Tätigkeit zu tun hat, also: die Priester, die Pfarrerinnen, die Diakone, die Prädikanten, die Pastoralreferent*innen. Immer wieder ist die Solidarität zur Berufsgruppe höher als zur Arbeitsgruppe oder zum Team und das bringt spezifische Konflikte mit sich. Aufgrund dieser Verteilung von Macht und der Effektivitätsverluste durch Konkurrenz nach innen statt nach außen liegt der Gedanke nahe, dass die professionelle Kooperation geringer ist, als sie möglicherweise sein könnte. Dieser Gedanke der Konkurrenz nach innen und der damit verbundenen eingeschränkten Kooperationen wäre in unterschiedlichen Ebenen zu überprüfen: auf der Ebene der Gemeinden untereinander, auf der Ebene der Dekanate, der Diözesen oder Landeskirchen und auf ökumenischer Ebene. Zu diesem spezifischen Verhältnis von Konkurrenz und Kooperation in den kirchlichen Organisationen gesellt sich das Phänomen, dass die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in diesen Feldern aufgrund einer geringen Personalsteuerung eine relativ hohe Autonomie in ihren Arbeitsfeldern haben. Dies liegt unter anderem begründet in einer ausgeprägten intrinsischen Motivation der Mitarbeitenden. In kirchlichen Zusammenhängen finden sich sogenannte Überzeugungstäter*innen mit einer hohen Leistungsbereitschaft; ihre Loyalität und innere Zugewandtheit kommen mit wenig Kontrolle und Anreizen aus, was analog in der Coronakrise beispielsweise im medizinischen Sektor ebenfalls sichtbar wurde. Das bedeutet zum einen, dass Kontrolle oder Prämien keine motivationsentscheidenden Maßnahmen innerhalb der kirchlichen Mitarbeiter*innenschaft sind, und zum anderen, dass Entscheidungen im Wesentlichen autonom und mit geringen Vorgaben getroffen werden. Allerdings – und das scheint eine Fußangel daran zu sein – wird auch frei entschieden, ob und mit wem kooperiert wird. Kooperation geht meist mit zunächst höherem Aufwand und dem Schließen von Kompromissen einher und ist deshalb oft anstrengender als »das eigene Ding zu machen«. Die in kirchlichen Veränderungsprozessen notwendig gewordenen oder angeordneten Zwangskooperationen, beispielsweise bei der Zusammenlegung von Kirchengemeinden, bei Personaleinsparungen und der Mitbetreuung vakanter oder verändert besetzter Gemeinden, Gebietsreformen usw., scheinen vor diesem Hintergrund kirchentypische Konflikte mit sich zu bringen, die sich aus der Dynamik der Konkurrenz nach innen ergeben. Für kirchentypisch halten wir diese Konfliktsituationen deshalb, weil sich zusätzlich zu allen anderen Herausforderungen von Fusionen und Übernahmen, wie es sie in Industrie und Wirtschaft häufig gibt, in kirchlichen Kontexten gerade dann die innere Konkurrenz verstärkt zeigt. Ein weiteres Phänomen, das sich damit verbindet, ist der hohe Begleitungsbedarf in Form von individueller und organisationaler Beratung. 182

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2 Agilität Nicht umsonst stoßen Agiles-Management-Konzepte in den Debatten um die Veränderung der Kirchen auf Anklang und Skepsis – sie scheinen ein Gegenentwurf zu der Überstrukturierung zu sein und bedienen Eigenverantwortung und Freiheit im Denken. Sie versprechen etwas »Neues« und eine Energie, die dies unterstützt. Und: Sie sind ein Wagnis. In den Grundlegungen zum Agilen Management3 findet sich die Haltung, dass grundsätzlich die »Individuen und Interaktionen«4 wichtiger seien als »Prozesse und Werkzeuge«, die dazu verwendet werden, Arbeitsabläufe zu organisieren. Unterstützt wird diese Haltung von dem Grundsatz, dass das »Reagieren auf Veränderung mehr als das Befolgen eines Plans«5 darstelle, will also sagen, dass die Veränderungen und nicht der festgeschriebene strategische Plan die Konstante seien. Für das sogenannte Change Management bedeutet dies, dass der Fokus auf die Menschen gerichtet ist: »Change Management beschäftigt sich mit der ›menschlichen Seite‹ einer Veränderung; Tools und Modelle sind lediglich ein Mittel zum Zweck.«6 Und es geht bei den wirksamen Veränderungen darum, »durch Verhaltens- und Einstellungsänderungen die Erreichung definierter Veränderungsziele zu unterstützen. Das geschieht am besten durch ein pragmatisches, lösungsorientiertes Vorgehen«7. Dabei sehen die beiden Autor*innen in einer »gelungene[n] Veränderungsbegleitung […] in der Regel […] eine Kombination aus Change Management-Expertise und Kenntnis der betroffenen Organisationseinheiten«8; sie meinen »damit eine vertrauensvolle Kooperation und Ko-Kreation zwischen Change Managementund Fachexperten«. Die Prozessorientierung ist so gestaltet, dass »die definierten Change Management-Maßnahmen in regelmäßigen Feedbackschleifen auf ihre Passung und Wirksamkeit«9 überprüft werden »und ggf. prozessorientiert« angepasst werden. Ein zentrales Moment in den agilen Prozessen stellt das Team dar. Ihm kommt ein hohes Maß an Verantwortung und Selbstorganisation in der Arbeitsorganisation zu. »Teams sind das Zentrum agilen Wirkens, unterstützt von 3 Vgl. dazu: Oliver Kohnke & Doris Wieser, Agiles Change Management. Revolution der Beratung?, in: OrganisationsEntwicklung. Zeitschrift für Unternehmensentwicklung und Change Management 1 (2019) 80–85. 4 Dieses und das folgende Zitat aus: Kohnke & Wieser 2019, 80. 5 Ebd. (ohne Hervorhebung des Originals). 6 Ebd. 7 Kohnke & Wieser 2019, 81. 8 Dieses und das folgende Zitat aus: ebd. 9 Dieses und das folgende Zitat: ebd.

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verschiedenen Führungs-/Funktionsrollen.«10 Neben dem Scrum-Master gibt es den Product-Owner.11 Beide Funktionen sind nicht mit Macht ausgestattet, sondern nehmen mit Hilfe von Kommunikation Einfluss und orientieren sich an der Aufgabe und der Funktion.12 Somit steht das selbstorganisierte Team im Mittelpunkt der agilen Managementkonzeptionen; es erinnert sehr stark an die Einführung von Teilautonomen Arbeitsgruppen in der Autoindustrie. In der damaligen Einführung der Gruppen­arbeit finden sich die Aspekte und Kriterien der agilen Konzepte wieder: Selbstorganisation, Delegation der Arbeitsvorbereitung, -organisation sowie Ergebniskontrolle, die durch die Gruppe selbst verantwortet wird. Letztere wiederum verfügt über Entscheidungs- und Kontrollkompetenz.13 Diese Form der Verantwortungsübernahme und die Selbstorganisation verlangen von allen Beteiligten, ihre Haltungen und Denkweisen zu verändern. Es entsteht eine neue Unternehmenskultur, die geprägt ist von einem positiven Menschenbild, von Wertschätzung und Kompetenz und von dem grundsätzlichen Gedanken, dass allein durch diese Form der Kooperation die Aufgaben zu bewältigen seien. Mit diesem Wandel der Unternehmenskultur verbindet sich auch ein Wertewandel, der mit einer Veränderung des eigenen Rollenverständnisses einhergeht und die Stärke im Team und der Gruppe für die Arbeitsprozesse betont. Wenn unter anderen IT-Konzerne im Konzept der Agilität Individuen den Vorrang geben, die menschliche Seite der Veränderung als bedeutsam erachten und Feedbackschleifen einfordern, klingt das in den Ohren einer kirchlichen Organisation nach Selbstverständlichkeiten: Die Begriffe »menschlich« und »individuell« scheinen zu einer Haltung zu passen, die doch eher das althergebrachte Markenkennzeichen von Kirchen als von Softwaregiganten sein dürfte. Dennoch scheinen die agilen Konzepte, wie oben beschrieben, sich einerseits nicht gut in kirchliche Strukturen einzupassen und andererseits gibt es einen vermehrten Ruf danach. Die Frage, die sich damit stellt, ist, ob sich hinter den »Selbstverständlichkeiten« kirchlich organisationalen Denkens wirklich diese Werte verbergen oder ob »kirchliches« Menschlich-Allzumenschliches das verhindert. Wie zeigen sich kirchliche Werte, die in der Theorie eine hohe 10 Weigelt 2019, 4. 11 Der Scrum-Master hat die Aufgabe, die agilen Methoden im Blick zu behalten, die Arbeitsbedingungen optimal zu gestalten und darauf zu achten, dass die Regeln eingehalten werden. Der Product-Owner verantwortet das Projekt und sichert unter anderem die fachlichen Aufgaben mit den notwendigen Ressourcen ab. Vgl. dazu: Weigelt 2019, 4 f. 12 Vgl. Weigelt 2019, 5. 13 Vgl. ebd.

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Parallelität zu agilen Konzepten haben, im organisationalen Handeln? Bleiben diese Werte durch die Unter- oder Überstrukturierung in der Organisation sowie durch Bilder familiärer Kultur auf der Strecke? Ein Beispiel soll das verdeutlichen: In einer Kleinstadt ist die über Jahre gewachsene ökumenische Kooperation plötzlich erschwert und sie endet, weil die evangelische Pfarrerin und der katholische Pfarrer über eine Nichtigkeit in eine Auseinandersetzung geraten. Die Begriffe aus den agilen Konzepten wie »Individualität«, »Eigenverantwortung«, »Menschlichkeit«, »Feedback« und »Autonomie« bekommen hier eine andere Bedeutung: Wenn die Kooperation mühsam wird, kann sie einfach und bedenkenlos, ohne Rechtfertigung den Vorgesetzten oder betroffenen Gemeindemitgliedern gegenüber, beendet werden. Sie scheint kein höheres Gut im Gesamtkontext zu sein. Sie ist strukturell nicht notwendig, nicht in der Organisation verankert, dem Belieben zweier autonomer Führungskräfte anheimgegeben. Wird die Kooperation generell als ein Wert in kirchlichen Organisationen angesehen? Wäre Kooperation ein Wert in kirchlichen Organisationen, müsste sie sich auf drei Ebenen zeigen: auf der Ebene der Arbeitsteams, auf der Ebene der hierarchischen Organisation und letztlich auf der Ebene der Führungskräfte. In erstgenanntem Fall würde der Aspekt der inneren Konkurrenz relativiert und es wäre zudem nicht mehr möglich, dass Teile der Organisation beliebig entscheiden, ob sie kooperieren wollen oder nicht. Vielmehr hätten die Führungskräfte die Aufgabe, durch den mühsamen Teil von Kooperation zu führen. Intrinsisch motivierte Führungskräfte brauchen Wertschätzung und positive Erfahrungen, das heißt auch Erfahrungen von Selbstwirksamkeit. Das pastoralpsychologische Feld, in dem Kooperation trainiert, analysiert und ausprobiert wird, ist das der Gruppendynamik. Wir sehen Ähnlichkeiten zwischen den Prinzipien des Agilen und der Gruppendynamik im Un-Planbaren und Unvorhersehbaren, in der hohen Bedeutung des »Faktors Mensch«, in Tempo und Dynamik. Aus diesem Grund sehen wir in der Gruppendynamik die Möglichkeit, dass sie kirchlichen Führungskräften hilft, kooperativ zu leiten.

3 Gruppendynamik »Die Unterschiedlichkeit ist das normale«, ist ein Grundsatz der Gruppendynamik, der die eigentlich positive Verschiedenheit von Menschen und die dadurch entstehenden Themen von Nähe und Distanz sowie Interessenkonflikte in Gruppen nicht als außergewöhnlich, sondern als alltäglich vorkommend beschreibt, auch wenn sich Menschen immer wieder eine Idylle der EinheitAgiles Wagnis Kooperation

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lichkeit wünschen, weil diese weniger Auseinandersetzungen um Abgrenzung und Annäherung mit sich bringt. Deshalb haben Gruppen und Organisationen Wege gefunden, um mit diesen Unterschiedlichkeiten von Interessen, Wünschen und sozialen Motiven umzugehen. Sie lassen sich in drei Grundprinzipien der Gruppendynamik zusammenfassen: Einheitlichkeit, Zugehörigkeit (oder »drinnen – draußen«) und Kompromiss. Einheitlichkeit kann durch hierarchische Macht14, also durch eine Anordnung von oben, oder durch Abstimmung nach Mehrheitsregeln erreicht werden. Dann gibt es Sieger*innen und Verlierer*innen der Abstimmung und es wird erwartet, dass sich beide an das entschiedene Ergebnis halten. Je nachdem, in welchem Maß eine Person in der Gruppe sich drinnen oder draußen positioniert oder positioniert wird, kann dies im Extremfall aufgrund der Unterschiedlichkeit der Interessen, Wünsche oder Meinungen den Ausschluss Einzelner oder von Teilen der Gruppe aus der Gesamtgruppe oder eine distanzierte Haltung zu den Aktivitäten der Gruppe nach sich ziehen. Es kann bedeuten, dass eine Gruppe eine Zeit lang unterschiedliche Wege geht, Untergruppen bildet, sich zeitweise teilt, unterschiedliche Interessen vertritt. Idealerweise vereinigt sich die Gruppe dann wieder. Kompromisse dienen dazu, unterschiedliche Interessen, Wünsche oder Fähigkeiten als Gruppe so zu verbinden, dass es keine Sieger*innen und Verlierer*innen gibt, sondern ein Ergebnis ausgehandelt wird, mit dem alle leben können. Dabei geben die Interessengruppen je einen Teil ihrer Maximalforderungen auf, wägen ab, ringen um ein für alle akzeptables Ergebnis. Häufig einigt sich die Gruppe auf den kleinsten gemeinsamen Nenner. Anhand des Beispiels eines Betriebsausflugs wollen wir die Überlegungen veranschaulichen: Ein Unternehmen in Dortmund möchte einen Betriebsausflug machen und einige Mitarbeiter*innen möchten gerne nach Hamburg, andere möchten nach München. Die Geschäftsleitung könnte nun entscheiden oder aber sie überlässt der Gruppe die Entscheidung und es kommt zu einer Abstimmung. Das mit der Abstimmung verbundene Ergebnis, angenommen Hamburg, wird von allen Gruppenmitgliedern akzeptiert (Einheitlichkeit). Es könnte aber auch entschieden werden, dass ein Teil der Mitarbeiter*innen nach 14 Macht ist oder wird in bestimmten Formen legitimiert. Nach König (vgl. Oliver König, Macht in Gruppen. Gruppendynamische Prozesse und Interventionen [Leben lernen; Bd. 106], 4. Auflage, Stuttgart 2007) gibt es vier Wege, um an dann legitimierte Macht zu gelangen: erben, ernannt werden, gewählt werden, erkämpfen. Wenn die Macht erlangt wurde, gelten ebenfalls Grundprinzipien, um mit Unterschiedlichkeit im Zuständigkeitsbereich umzugehen. Zu den positiven Aspekten der Macht vgl. Malte Henk & Britta Stuff, Die helle Seite der Macht, in: DIE ZEIT, Nr. 26 vom 19.06.2019.

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Hamburg fährt, die anderen nach München und sie sich am Rückkehrabend gemeinsam zum Essen treffen (drinnen – draußen). Oder sie könnten sich darauf einigen, nach Fulda zu fahren (Kompromiss). Für kirchliche Führungskräfte und Gruppen ist aus unserer Sicht entscheidend, sich situativ immer wieder diese drei Möglichkeiten zu vergegenwärtigen und nicht »automatisch« immer auf die gleiche Strategie zurückzugreifen. Diese drei Grundprinzipien und Strategien beinhalten Implikationen, die wiederum Folgen haben hinsichtlich Erwartungen, Motivation und Anwendung von Kompetenzen. Wenn es im ersten Fall der Einheitlichkeit Sieger*innen und Verlierer*innen gibt, werden sich im Beispiel des Betriebsausflugs sicherlich einige Begeisterte für Hamburg einbringen, etwas vorbereiten, organisieren und versuchen, die anderen auch zu begeistern. Sie sind motiviert und bringen gegebenenfalls ihre Kompetenz ein. Es besteht aber auch die Gefahr, dass die Verlierer*innen die Elbphilharmonie nicht so schön und die Atmosphäre und das Bier nicht so gut finden und dass sie das immer wieder kundtun. Die Verlierer*innen einer Abstimmung oder Wahl tragen oft das Ergebnis der Entscheidung nicht in erwünschtem Maße mit. Deshalb ist bei kritischen Entscheidungen zu bedenken, ob nicht schon im Vorfeld andere Wege gesucht werden sollten, bevor eine Situa­ tion geschaffen wird, die Sieger*innen und Verlierer*innen produziert. Im Falle des »drinnen – draußen« kann im Beispiel der getrennten Betriebsausflüge im ungünstigen Fall die Mitarbeiterschaft in zwei Teilgruppen zerfallen; im Optimalfall sind alle zufrieden und erzählen sich gegenseitig, wie schön es war. Wahrscheinlich haben dabei in den beiden Teilgruppen Menschen ihre Kompetenzen und Motivation stärker eingebracht, vielleicht einen Bekannten angerufen, der Opernkarten besorgt hat oder den Stadionbesuch organisiert, vielleicht hat auch jemand den anderen seine Kenntnisse in einem speziellen Hobby (Modelleisenbahnen in der Speicherstadt) zur Verfügung gestellt. Die Wahrscheinlichkeit, dass Kompetenz und Motivation in dieser Situation höher sind, scheint groß. Und wie sieht es mit der Fahrt nach Fulda, also dem Kompromiss, aus? Wenn es gut lief, sind alle froh, dass sie zusammen weg waren, denn Fulda ist ja auch ganz schön und eigentlich ist es auch nicht so wichtig, wo man ist, die Hauptsache ist ein gemeinsamer Betriebsausflug. Dann ist der Kompromiss gelungen. Im ungünstigeren Fall sind alle unzufrieden, weil sie nicht da waren, wo sie hinwollten und der Kompromiss zu viele Zugeständnisse erforderte. Wahrscheinlich ist in diesem Falle niemand motiviert gewesen, die Fahrt nach Fulda zu organisieren, und wahrscheinlich hat auch niemand seine Kompetenzen in Kunstgeschichte oder in Bezug auf historische Orgeln eingebracht. Agiles Wagnis Kooperation

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Vom Betriebsausflug zurück in kirchliche Organisationen: Wo machen Menschen, haupt- oder ehrenamtliche, legitimierte Leitungskräfte oder diejenigen, die aktiv Führung übernehmen, in kirchlichen Organisationen positive Erfahrungen mit diesen Steuerungselementen aus der Gruppendynamik? Wo begegnen sie den Dynamiken, die sich in einer Gruppe zeigen können? Wo lernen sie, dass Kooperation nicht nur mühsam ist, sondern die Unterschiedlichkeit ein Gewinn sein und Spaß machen kann? Diese Fragen gelten ebenso für diejenigen, die sie begleiten sollen. Wo machen Supervisor*innen, Gemeindeberater*innen, Coachs eigene Erfahrungen mit Kooperation? Oder sind auch »systemische Coachs« letztlich Einzelkämpfer*innen? Der Evangelist Lukas beschreibt, wie einige Frauen vom leeren Grab zurückkommen und den anderen die frohe Botschaft verkünden. »Und denen kamen die Worte vor wie leeres Gerede, und sie glaubten ihnen nicht.«15 Irgendwie hat es aber dann doch noch geklappt, dass sie nicht je nur ihr Ding gemacht und geglaubt haben. Irgendwie wurden die Bedenkenträger und Skeptiker vom Wagnis der Veränderung überzeugt. Zeitenweise haben sie kooperiert, Konflikte hatten sie auch genügend, aber dann ging es doch, weil ihnen die Aufgabe oder das gemeinsame Ziel näher war und es darauf ankam, die Situation zu bewältigen und Lösungen zu finden.

4 Wagnis Agile Kooperation In der Betrachtung der kirchlichen Arbeitsorganisationen mit ihren Unter- und Überstrukturierungen ist die gemeinsame Beschäftigung mit den Ursachen und Auswirkungen interner Konkurrenz ein Gewinn für alle Beteiligten. Dieser agile Fokus ist ein arbeitsorganisatorisches, mitarbeiterorientiertes und strategisches Wagnis. Die Beschäftigung mit dem Phänomen der internen Konkurrenz lässt andere Formen der Strukturierung von Abläufen und Zuständigkeiten zu, mit deren Hilfe sich gemeinsame Lösungen generieren lassen, die letztlich dazu verhelfen, die ausgeprägten intrinsischen Motivationen der Mitarbeitenden aufzunehmen und wertzuschätzen. Die Folgen könnten dann sein, dass die kirchlichen Angebote vermehrt auf die Lebenswirklichkeiten von Menschen reagieren. Kooperation ist zunächst ein Mehraufwand: Der Austausch von Ideen, Schwierigkeiten und Visionen braucht Zeit; die Unterschiedlichkeit der beteiligten Menschen muss gemanagt werden. Führungskräfte in kirchlichen Feldern haben und brauchen eine gewisse Autonomie und sie haben Alleinstellungsmerkmale 15 Lk 24,11.

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durch Weihe oder Ordination. Es ist ein lohnendes Wagnis, diese verändert zu erhalten und Leiten und Führen mit dem Gedanken der Kooperation verbindlich zu machen und darin eine Aufgabe zu sehen. Kooperation muss gewagt werden! Sie kann autonom agierenden, intrinsisch motivierten Menschen oder Organisationen nicht komplett verordnet werden, denn sie lebt gerade von der individuellen Entscheidung und Umsetzung. Allerdings ist die Kooperation ein Mittel zum Zweck, in unsicheren und unvorhersehbaren Zeiten eine verlässliche Orientierung zu schaffen, um in ihrem agilen Sinne Kirche für die Menschen zu sein.

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WAGNIS MENSCH WERDEN

Living Learning nach Ruth C. Cohn Eine Gesellschaftstherapie? Matthias Scharer »It seemed crazy, and still seems crazy to me, that only a few people gained the knowledge, the insight, the recognition that we gain in psychotherapy while the whole world feard the Nazi world, or the Vietnam world, or the Black and White world are unhappy, destroyed, and just a few people gain something more. So from the very beginning, when I studied psychanalysis my wish was to find ways to reach education, to reach myself and to reach others to reach classrooms and all organizations.« (Ruth C. Cohn)1

Mein sehr geschätzter Kollege Klaus Kießling schreibt in einer ausführlichen Rezension zu unserem biografisch orientierten Ruth C. Cohn Buch2: »Auch meine eigene Begegnung mit Ruth C. Cohn – ich war damals halb so alt wie heute – ist mir wieder ganz nahe«3. Seine implizite Einladung an meine Frau und mich – »interessierte[n] Leser*innen … weitere[n] Schätze in Ruth C. Cohns Nachlass [zu] heben«4, nehme ich zum Anlass, dies mit dieser Geburtstagsgabe zu tun. Tatsächlich wird die Themenzentrierte Interaktion (TZI) nach Ruth C. Cohn (1912–2010) kaum irgendwo als Gesellschaftstherapie dargestellt. Das mag auch damit zusammenhängen, dass der Begriff Gesellschaftstherapie selbst in der elektronischen Version des bekannten »Dorsch« (Lexikon für Psychologie)5 nicht vorkommt, weil Psychoanalyse und Psychotherapie zunächst auf Einzelpersonen ausgerichtet sind. Wohl ist heute bewusst, dass auch Bezugsgruppen und Gruppen im therapeutischen Prozess eine wichtige Rolle spielen. Auch wird der Verbindung von Kultur, Gesellschaft und Psychoanalyse etwa in der »Ethno-

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Ruth C. Cohn, Acceptance Speech for Psychologist of the Year Award 1971: HUB, UA, NL Cohn, Nr. 154, Bl. 52. Die Quellenangabe bezieht sich auf den Nachlass Ruth C. Cohns im Archiv der Humboldt-Universität zu Berlin. Die Abkürzungen bedeuten hier und im Folgenden: HumboldtUniversität Berlin, Universitätsarchiv, Nachlass Cohn, Nummer des Ordners, Blatt. Vgl. Matthias Scharer in Zusammenarbeit mit Michaela Scharer, Ruth C. Cohn. Eine Therapeutin gegen totalitäres Denken, Ostfildern 2020. Klaus Kießling, Rezension zu: Matthias Scharer in Zusammenarbeit mit Michaela Scharer, Ruth C. Cohn. Eine Therapeutin gegen totalitäres Denken, in: Wege zum Menschen 72 (2020) 457–459, hier: 457. Kießling 2020, 459. Vgl. Stichwort Psychotherapie, in: Markus Antonius Wirtz (Hrsg.), Dorsch. Lexikon der Psychologie, 18. Auflage, Göttingen 2017.

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psychoanalyse«6 große Aufmerksamkeit geschenkt. In das entsprechende Lexikon7 fand Ruth C. Cohn mit ihrer Gesellschaftstherapie jedoch keinen Eingang. Trotz der Leerstellen im Zusammenhang mit dem Begriff lässt sich in ihrem umfangreichen Nachlass mehrfach nachweisen, dass die ausgewiesene Psychoanalytikerin ihren Ansatz (auch) als Gesellschaftstherapie verstanden und sich selbst – in offiziellen behördlichen Dokumenten – als »Gesellschaftstherapeutin« bezeichnet hatte. Als Beispiel sei aus einem ihrer Briefe an die Lektorin des Klett-Cotta Verlages zitiert, der ihr bekanntestes Werk »Gelebte Geschichte der Psychotherapie«8 veröffentlicht hatte. Es geht um einen Titel, unter dem die TZI im Zusammenhang mit dem Weltkongress für Psychotherapie vom Verlag vorgestellt werden könnte. Ruth C. Cohn spielt mit unterschiedlichen Titelvarianten, wie sie das gerne getan hat. In jeder Variante verbindet sie die TZI mit dem Begriff Gesellschaftstherapie. Der präziseste Vorschlag ist: »Themenzentrierte Interaktion (TZI) ist Gesellschaftstherapie«9.

1 Verschwiegener Irrtum oder verspielte Chance? Angesichts der mangelnden Klarheit des Begriffes könnte man die Intention, welche Ruth C. Cohn mit TZI als Gesellschaftstherapie verbindet, als Missverständnis abtun und – wie es in der Regel geschieht – als Irrtum einer älteren Psychotherapeutin verschweigen. Doch die ungewöhnliche Intention, die sie mit dem Begriff Gesellschaftstherapie der TZI in die Wiege legt, hat offensichtlich mit dem – im Laufe von Ruth C. Cohns Leben immer bedeutungsvoller werdenden – gesellschaftspolitischen Auftrag zu tun, den sie angesichts der politischen Herausforderungen ihrer Zeit zunehmend empfindet. Bekanntlich ist die deutsche Jüdin aus einem angesehenen Elternhaus bereits 1933 als Studentin in die Schweiz emigriert; sie will Psychotherapeutin werden. Das Ungenügen mit ihrer langen, klassischen Lehranalyse im Schweizer Exil – ihre Angaben schwach hochgerechnet, liegt sie ca. 1600 Stunden auf der Couch – bezieht sich unter anderem auf die politische Abstinenz, die ihr der Analytiker mitten in 6 Vgl. Johannes Reichmayr, Einführung in die Ethnopsychoanalyse. Geschichte, Theorien und Methoden, Frankfurt a. M. 1995. 7 Vgl. Johannes Reichmayr, Ursula Wagner, Caroline Ouederrou & Binja Pletzer, Psychoanalyse und Ethnologie. Biographisches Lexikon der psychoanalytischen Ethnologie, Ethnopsychoanalyse und interkulturellen psychoanalytischen Therapie, Gießen 2003. 8 Ruth C. Cohn & Alfred Farau, Gelebte Geschichte der Psychotherapie. Zwei Perspektiven, 15. Auflage, Stuttgart 2016. 9 HUB, UA, NL Cohn, Nr. 237, Bl. 85.

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einer Zeit auferlegt, in der jüdische Bekannte im Konzentrationslager landen und dort Großteils ermordet werden. Im amerikanischen Exil (ab 1941), in dem Ruth C. Cohn beruflich nur mit großen Schwierigkeiten als Psychotherapeutin Fuß fassen kann, weil sie keine Ärztin ist, stößt sie auf die dort aufbrechenden Gruppentherapien, denen sie zunächst mit großer Skepsis begegnet, die sie aber später in ihr themenzentriert-interaktionelles Konzept integriert. Dass sie die TZI, vor allem nach ihrer Rückkehr nach Europa in den 1970er Jahren, zunehmend als Gesellschaftstherapie und sich selbst als Gesellschaftstherapeutin versteht, bahnt sich meiner Ansicht nach bereits in ihrer – bisher unbekannten – politischen Rede an, die sie 1957 auf dem »birthday dinner of the Theodor Reik Clinic« in New York hält: »Courage – The Goal of Psychotherapy«10. Obwohl ich seit den 1980er Jahren – damals angeregt durch Albert Biesinger – mit der Themenzentrierten Interaktion (TZI) nach Ruth C. Cohn vertraut und seit den frühen 1990er Jahren auch Lehrbeauftragter des jetzigen Ruth Cohn Institute for TCI-international bin, hat sich mir die gesellschaftspolitische und gesellschaftstherapeutische Bedeutung dieses Konzepts erst in der Auseinandersetzung mit den menschen- und demokratiefeindlichen Tendenzen erschlossen, die mit dem »Aufbruch nach rechts«11 in zahlreichen demokratischen Staaten Europas, in den USA und in Indien, wo ich regelmäßig mit TZI arbeite, einhergehen. Im Zuge der Migrationsbewegungen, die Ruth C. Cohn am eigenen Leib erlebt hat und die die Zukunft unseres Planeten bestimmen werden, weil Habitabilität (Bewohnbarkeit) und Hospitalität (Gastfreundschaft)12 zu den zentralen Kriterien für ein gutes Leben mit allen und allem gehören,13 entsteht – speziell in Europa – ein »kollektives Fremdeln«14, das in der politischen Agitation schwer missbraucht wird. Eine gesellschaftstherapeutisch ansetzende TZI könnte dem möglicherweise etwas entgegensetzen – vor allem dann, wenn in der »Dynamischen Balance« der TZI-Faktoren, auf die ich noch zurückkommen werde, der/ 10 Ruth C. Cohn, »Courage – The Goal of Psychotherapy«. Speech given to the members and friends of the Theodor Reik Clinic at the Plaza Hotel, January 14, 1957, Manuskript S. 1–16: HUB, UA, NL Cohn, Nr. 8, Bl. 115–130. 11 Vgl. Matthias Scharer, Aufbruch nach rechts. Eine Analyse menschen- und demokratiefeindlicher Tendenzen sensibilisiert durch Ruth C. Cohns Denken und Handeln, in: Themenzentrierte Interaktion 35 (2021) 133–143; ders., Themenzentrierte Interaktion mit Rechten, in: Lebendige Seelsorge 69 (2018) 423–427. 12 Vgl. Frederic Hanusch, Claus Leggewie & Erik Meyer, Planetar denken. Ein Einstieg, Bielefeld 2021, 55–58. 13 Vgl. Scharer 2020, 134–150. 14 Matthias Scharer in Zusammenarbeit mit Michaela Scharer, Vielheit couragiert leben. Die politische Kraft der Themenzentrierten Interaktion (Ruth C. Cohn) heute, 3. Auflage, Ostfildern 2021, 45–70.

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die Fremde/Andere seinen/ihren gebührenden Platz findet. Doch leider muss ich mich Helmut Johachs Meinung anschließen, der in seinem Beitrag zu den historischen und politischen Grundlagen der TZI im einschlägigen Handbuch zu Recht moniert, »dass mit der Weiterentwicklung der Theorie der TZI eine Einengung auf ein gruppenpädagogisches Konzept zur Bildung der Persönlichkeit einhergeht«15, das sich mit der gesellschaftstherapeutischen Intention und einer ihr entsprechenden Ausweitung der TZI-Theorie kaum verbinden lässt. Eine »gesellschaftstherapeutische« Weiterentwicklung der TZI würde auch das Menschen- und Weltverständnis deutlicher machen, das die TZI von Anfang an bestimmt, das aber mitunter hinter der TZI als »Methode« verschwimmt. Ruth C. Cohn hat noch im amerikanischen Exil, in dem sie die TZI in den 1960er Jahren entwickelt, aus Protest gegen eine einseitige methodische Verwendung ihres Ansatzes, der sie immer wieder begegnet ist, den ursprünglichen Begriff Theme-centered Interactional Method (TIM) in Theme-Centered Interaction (TCI) geändert. Wenngleich bis heute der Begriff »TZI-Methode«, den die Gründerin nach ihrer Rückkehr aus der Emigration bisweilen auch selbst verwendet, bekannt ist, bleibt wenigstens im Bewusstsein, dass es sich bei der TZI um eine »Haltung« und eine »Methode« handelt. Die Namensänderung von TIM auf TCI sollte den untrennbaren Zusammenhang mit dem »existentielle[n] und ethische[n] Kompaß für Menschenwürde und Lebenswürde«, den die sogenannten TZI-Axiome ausdrücken, und »die Verwirklichung der Humanität durch Bewusstwerdung und Bewusstseinserweiterung«16, die in den beiden TZI-Postulaten (Chairpersonpostulat und Störungspostulat) enthalten ist, verdeutlichen, ohne den die gesellschaftspolitische und gesellschaftstherapeutische Intention dieses Ansatzes nicht verstehbar ist.

15 Helmut Johach, Historische und politische Grundlagen, in: Mina Schneider-Landolf, Jochen Spielmann & Walter Zitterbarth (Hrsg.), Handbuch Themenzentrierte Interaktion (TZI), 3. Auflage, Göttingen 2014, 27–32, hier: 32. 16 Ruth C. Cohn, Verantworte dein Tun und dein Lassen, persönlich und gesellschaftlich: Offener Brief an Günter Hoppe, in: Themenzentrierte Interaktion 8 (1994), Heft 2, 85–87, abgedruckt in: Anja von Kanitz, Walter Lotz, Birgit Menzel, Elfi Stollberg & Walter Zitterbarth (Hrsg.), Elemente der Themenzentrierten Interaktion (TZI). Texte zur Aus- und Weiterbildung, Göttingen 2015, 29–32, hier: 30.

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2 »Lebendiges« oder »Totes« Lernen? Ruth C. Cohn liebte den von ihrem amerikanischen Kollegen Norman Liberman eingeführten Begriff »Living Learning«, der auch in der ursprünglichen Bezeichnung der Organisation enthalten war, der die TZI sowohl in Amerika als auch später in Europa und darüber hinaus in Lateinamerika, Sibirien und vor allem in Indien bekannt gemacht hatte: W.I.L.L. Es war die Kurzformel für »Workshop Institute for Living Learning« – ein Begriff, welchen die Entdeckerin der TZI zeitlebens mehr schätzte, als die heute mit ihrem Namen verbundene Bezeichnung »Ruth Cohn Institute for TCI-international«. Ihrer Meinung nach gab W.I.L.L. eine konzeptionelle Richtung vor, eben das »Lebendige Lernen«, das Ruth C. Cohn vom »Toten Lernen« unterschied. »Totes Lernen« unterstellte sie vor allem den Schulen und Universitäten, wenn sie nur »Lehrstoff« vermittelten, in der TZI-Terminologie also »Es«-lastig waren, die übrigen Faktoren, die zu einem lebendigen Lernprozess gehören, aber außer Acht ließen. Heutigen didaktischen Begrifflichkeiten und Standards entsprechend steht selbstverständlich nicht mehr die Vermittlung trockenen Lehrstoffs dem »Lebendigen Lernen« gegenüber. Längst hat sich die TZI-Didaktik mit der curricularen Ziel- und später mit der Kompetenz- und Standardbegrifflichkeit kritisch auseinandergesetzt17; es gab und gibt zahlreiche wechselseitige Anregungen. Sosehr in den letztgenannten Didaktiken ein Bewusstsein dafür geschaffen wurde, dass es vor allem im schulischen Lernen nicht einfach um die Vermittlung von Lehrstoff geht, sondern dass – wie es die curriculare Didaktik intendierte – neben den kognitiven auch emotive und psychomotorische Lernziele erreicht werden müssen, oder – wie es die sogenannte »Kompetenzdidaktik« vorsieht – standardisierbare Kompetenzen angezielt werden, bleibt die Auseinandersetzung mit der gesellschaftspolitischen und -therapeutischen Wirkung von Bildungsprozessen in der gegenwärtigen Bildungsdebatte vielfach ausgeblendet. Speziell Philosoph*innen und Soziolog*innen mahnen immer häufiger an, dass die Fixierung des Lernens auf standardisierbare und unmittelbar »brauchbare« Kompetenzen den Blick auf eine gesellschaftskritische Bildung eher ver17 Vgl. Matthias Scharer, Lebendigen Lernprozessen trauen, Kompetenzen fördern. Das »Innsbrucker Modell« der ReligionslehrerInnenausbildung unter der Herausforderung des Kompetenzund Standarddiskurses in der Religionsdidaktik, in: Österreichisches Religionspädagogisches Forum 21 (2013) 58–63; Sandra Bischoff, Themenzentrierte Hochschuldidaktik – Eine Antwort auf Bologna, Dissertation an der Universität Kiel 2016, online verfügbar unter: http:// macau.uni-kiel.de/receive/dissertation_diss_00020194 (letzter Zugriff am 01.08.2021); Sylke Meyerhuber, Helmut Reiser & Matthias Scharer (Hrsg.), Theme-­Centered Interaction (TCI) in Higher Education. A Didactic Approach for Sustainable and Living Learning, Cham 2019.

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stellt als öffnet. Denn die Auseinandersetzung darüber, ob eine an Bologna und an standardisierbare Kompetenzen orientierte Bildung zu einer vertieften Humanität, zu transkultureller und transweltanschaulicher Verständigung, zu planetarem Denken und in diesem Zusammenhang zu einem kritischen politisch-gesellschaftlichen Bewusstsein führt oder tendenziell in einer »globalen Immunität« mündet, in der selbst das Soziale noch ökonomisiert wird, wie das J. Masschelein/M. Simons18 befürchten, geht an die Substanz des Bildungsauftrags. Auch wenn man der momentan vorherrschenden Didaktik nicht gleich, wie K. P. Liessmann es tut, die »Praxis der Unbildung«19 unterstellen muss, geben die kritischen Einwände von H. Rosa im Hinblick auf die Unverfügbarkeit der Weltbeziehung, die pädagogisch ja angebahnt werden soll, zu denken. Welches Menschen- und Weltverhältnis kennzeichnet die gegenwärtige Bildung und wie befähigt sie lernende Menschen, noch immer nachwirkenden und auf uns zukommenden politisch-gesellschaftlichen Herausforderungen heilend und innovativ zu begegnen? Im Zusammenhang mit der gesellschaftspolitischen Abstinenz »gebildeter« Menschen gab es für Ruth Charlotte Hirschfeld, wie Ruth C. Cohn mit ihrem Mädchennamen hieß, ein Schlüsselerlebnis, das sie nie aus dem Bewusstsein verlor, wenn es um Lernen und Bildung ging: »In der Uni, jeden Donnerstag um zehn Uhr morgens, stürzt eine Bande von Nazi-Studenten in den Saal und zerrt jüdische Studenten aus den Bänken. Studentinnen fassen sie nicht an. – Der große Philosoph Nicolai Hartmann, der seinen Satz unterbrochen hat, macht eine Handbewegung. Die Tür wird geschlossen, und der Professor beendet seinen Satz. In der Pause sehe ich, wie die jüdischen Studenten in der Gosse blutig geschlagen werden.«20 Das Erschrecken über die politisch-gesellschaftliche Abstinenz und die Unfähigkeit des hochgebildeten Mannes, in dieser Situation verantwortlich zu handeln, verfolgte Ruth C. Cohn ein ganzes Leben lang.

18 Vgl. Jan Masschelein & Maarten Simons, Globale Immunität oder Eine kleine Kartographie des europäischen Bildungsraums, aus dem Niederländischen von Annegret Klinzmann & Mechthild Ragg, Zürich 2012. 19 Vgl. Konrad Paul Liessmann, Geisterstunde. Die Praxis der Unbildung. Eine Streitschrift, Wien 2014. 20 Cohn 2016, 462 f.

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3 »Generative« Themen als Brennpunkte Lebendigen Lernens Was wäre geschehen, wenn der berühmte Philosoph das schreiende Unrecht thematisiert und nicht mit einer Handbewegung abgetan und seine Vorlesung fortgesetzt hätte? Im schlimmsten Fall hätte er die Nazidiktatur nicht überlebt. Möglicherweise wäre ihm die Lehrbefugnis entzogen worden. Ich wage kein Urteil darüber, wie ich in dieser Situation gehandelt hätte. Für die Studentin Ruth Charlotte Hirschfeld war sein Nicht-Handeln jedenfalls ein Anlass, bereits 1933 in die Schweiz zu emigrieren, weil sie ahnte, was jüdischen Menschen bevorstand, wenn selbst die gebildetsten Menschen nicht Stellung bezogen. Wir leben in einer anderen und doch auch nicht total verschiedenen Welt21, in der politisch-gesellschaftliche Herausforderungen anstehen, deren NichtThematisieren spätere Generationen vielleicht als ebenso schwerwiegend empfinden, wie wir heute das Schweigen von Hochgebildeten in der Nazi-Diktatur. Deshalb ist das »Anteilnehmen«22 an persönlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen und das »Thematisieren« dessen, worum es in Bildungsprozessen wirklich geht – und sei es um den Widerstand einer Lerngruppe gegen eine vom Bildungsplan vorgesehene Thematik – ein zentrales Know-how, das sich TZI–Leiter*innen langfristig aneignen. Meiner Ansicht nach hat die Themenzentrierung bei Ruth C. Cohn drei Wurzeln: Ȥ eine poetische, die in den vielen veröffentlichten23 und unveröffentlichten Gedichten der deutsch-jüdischen Migrantin sichtbar wird, in denen sie konfliktreiche und hoffnungsvoll-ermutigende persönliche und gesellschaftliche Situationen in lyrischer Sprache thematisiert; Ȥ eine politische, indem sie sich mit dem Begriff »generative Themen« ausdrücklich auf den lateinamerikanischen Befreiungspädagogen Paulo Freire24 bezieht, der die Themen im Hinhören auf die Nöte der – vor allem mar-

21 Vgl. unter anderen Timothy Snyder, Black Earth. Der Holocaust und warum er sich wiederholen kann, München 2015. 22 Vgl. Ruth C. Cohn, Es geht ums Anteilnehmen, ergänzte Neuauflage, Freiburg i. Br. 1993. 23 Vgl. Ruth C. Cohn, … zu wissen dass wir zählen … Gedichte/Poems, mit Scherenschnitten von Annemarie Maag, Bern 1990. 24 Vgl. unter anderen Paulo Freire, Pädagogik der Unterdrückten. Bildung als Praxis der Freiheit, Hamburg 1973. Im Nachlass fanden wir unter anderem auch ein umfangreiches Manuskript eines Interviews mit Paulo Freire. Vgl. dazu auch die veröffentlichte Dissertation: Silvia Hagleitner, Mit Lust an der Welt – in Sorge um sie: Feministisch-politische Bildungsarbeit nach Paulo Freire und Ruth C. Cohn, Mainz 1996.

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ginalisierten – Menschen herausfand und an diesen Themen auch alphabetisierte, Ȥ eine therapeutische, indem sie über Themen persönlich und politisch bedeutsame Interaktionsprozesse anstiftet und beides miteinander verbindet. TZI-Themen zeigen sich in einer dialektischen Interaktion zwischen den sogenannten TZI-Faktoren, die bestimmt sind durch Ȥ jede einzelne Person, ihren Interessen und Anliegen, Widerständen und Störungen, dem »Ich«, Ȥ der Interaktion der aktuell anwesenden Menschen, dem »Wir«.

Zwischen Ich und Wir würde ich im Sinne von Ruth C. Cohns gesellschaftstherapeutischem Anliegen – als zusätzlichen Faktor – »Fremde/Andere« einfügen, wer immer sie sind. Ohne ihre – zumindest implizite – Anwesenheit sind die generativen Themen aus einer planetaren Perspektive heraus, die Ruth C. Cohn durch ihr Selbstverständnis als »planetary citizen« eingeläutet hatte, nicht mehr zu finden und zu bearbeiten. Ȥ Dazu kommt der »Es-Faktor«, die jeweilige Aufgabe beziehungsweise das sachliche Anliegen, um das es gerade geht. In traditionellen Lernsettings würde man vom Inhalts- beziehungsweise Sachbezug sprechen. Die drei beziehungsweise vier Faktoren sind nie statisch, über- oder nebeneinander geordnet, sondern bewegen sich in einer dialektischen Dynamik zueinander. Einmal tritt der Ich-Faktor, also eine einzelne Person oder mehrere Personen deutlicher in den Vordergrund; ein andermal wird die Interaktion zwischen den Personen wichtiger; dann wieder das jeweilige Anliegen, die Aufgabe, der Sachbezug, oder es kommen die »Fremden/Anderen« dazwischen. Ȥ Immer aber sind die Faktoren von einem weiteren Faktor umgeben, der für die gesellschaftstherapeutische Intention der TZI der wichtigste ist: dem »Globe«. Der Globe, symbolisiert durch eine Kugel, welche alle Faktoren berührt, bezeichnet den jeweiligen Kontext, in dem Lernen stattfindet. Er reicht bei Ruth C. Cohn von den konkretesten räumlichen, zeitlichen, institutionellen, politischen, gesellschaftlichen usw. Bedingungen, innerhalb derer einzelne Menschen stehen, in der sich ihre Interaktion vollzieht und Sachbezüge wichtig werden, bis in planetare und kosmische Zusammenhänge hinein. Natürlich könnte man den hier speziell herausgestellten Faktor »Fremde/Andere« auch dem Globe zuordnen; er darf nur nicht hinter den »privaten« Globes verschwinden. Living Learning nach Ruth C. Cohn

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4 »Teilmächtig« einen Resonanzraum für den Weltbezug öffnen Sich nicht distanziert aus dem Interaktionsgeschehen einer Gruppe/Klasse/ Organisation heraushalten, sondern sich in der Gruppe – am Thema zentriert – zwischen den genannten Faktoren in »Dynamischer Balance« zu bewegen, ist die spezielle Kunst partizipierender Leitung, die auf das Interaktionsgeschehen therapeutisch wirkt. Hier werde ich gesehen und anerkannt, wie ich bin. Nicht ein unbezogener Lehrstoff oder eine abstrakte Kompetenz stehen im Zentrum der Auseinandersetzung, sondern ein generatives Thema, dessen Bedeutung und Tiefe sich Schritt um Schritt erschließt. Störungen und Konflikte werden nicht unter den Teppich gekehrt, sondern ernst- und angenommen, indem auch sie zum Thema werden können. Ist ein solches Lernsetting nicht eine permanente Überforderung aller Beteiligten, speziell an Schulen und an Universitäten? In diesem Zusammenhang wird Ruth C. Cohns Diktum wichtig, dass zwar alles mit allem verbunden ist, dass ich aber, in welcher Rolle ich mich auch immer bewege, weder allmächtig noch ohnmächtig bin; vielmehr bin ich in meinem Weltbezug und noch mehr im Hinblick auf den Weltbezug einer Lerngruppe, bestenfalls teilmächtig. Doch wenn alles mit allem verbunden ist, erhält mein »minitrillionster«25 Anteil an der Menschheit im themenzentriert-interaktionellen Spiel der Möglichkeiten mir selbst und anderen einen Weltbezug zu eröffnen, eine immer wieder neue, spezifische, kooperative und thematische Gestalt, an der nicht nur der individuelle Kontext der lernenden Menschen, sondern auch der universal-planetare Globe präsent wird, der den gesellschaftstherapeutischen Möglichkeitssinn herausfordert. Bezieht man die Spielmetapher auf die TZI, dann geht es im Bildungsgeschehen um ein Spiel, das, der gemeinsamen Zukunft aller Geschöpfe, ja des ganzen Kosmos beziehungsweise unseres Planeten wegen, immer wieder neu inszeniert werden muss.

25 Matthias Kroeger, Ruth Cohns Globe-Verständnis und unsere Aufgaben, in: Themenzentrierte Interaktion 27 (2013), Heft 1, 62–78, hier: 65.

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»In dieser einen Stunde spiele ich.  Ich brauche alle andern Stunden  Um zu lernen,  Wie man Einsame, Angstvolle, Nicht-Wissende  Zu spielen lehrt.  Spiel und Wissen sind neu;  Weil das Verbieten Maechtiger alt ist.  Lehre, nicht Gewalt, heilt.« (Ruth C. Cohn)26

Nicht klischeehafter, routiniert wiederkehrender Lernstoff, sondern symboltiefe, generative Themen können einen Interaktionsraum eröffnen, der die Eigenverantwortung und Selbstbestimmung (Chairperson) der Lernenden, gerade auch im Ernstnehmen von Betroffenheiten und Störungen wachsen lässt, ohne das Wissen und das Gefühl für Abhängigkeiten und die generelle Interdependenz mit allen und allem zu verlieren.

5 Offenes Sprachlernen gegen Verschweigen und Ausblenden Der emeritierte Kirchenhistoriker und frühe TZI-Lehrer Matthias Kroeger, der 2021 verstorben ist, bringt das Thematisieren in der TZI mit den persönlichen und gesellschaftlichen Ausblendungen und Verdrängungen zusammen, durch die eine generative Themenwahl und Versprachlichung immer gefährdet ist. Kroeger spricht davon, dass es beim Thematisieren darum gehe, »[…] den ausgeblendeten, nicht sozialisierten, in Sprach- und Bewußtlosigkeit verharrenden Themen eine Sprache anzubieten«.27 Hinter jedem scheinbar noch so abstrakten Begriff steht ursprünglich eine lebendige Erfahrung; sie ausfindig zu machen und zum Ausdruck zu bringen sind wichtige Schritte im Thematisierungsprozess. Im digital gesteuerten Cyberspace steht das Thematisieren unter einer besonderen Herausforderung: Fake News, die sich in Sekundenschnelle weltweit verbreiten und gezielt eingesetzte Frames wandern »auf leisen Sohlen ins Gehirn«28. Der heimlichen Macht einer zersetzenden politischen Sprache kann 26 Ruth C. Cohn, … inmitten aller Sterne … Gedichte, 2. Auflage, New York 1952, 23. 27 Matthias Kroeger, Themenzentrierte Seelsorge: Über die Kombination Klientenzentrierter und Themenzentrierter Arbeit nach Carl R. Rogers und Ruth C. Cohn in Theologie und schulischer Gruppenarbeit, 4. Auflage, Stuttgart 1989, 213. 28 George Lakoff & Elisabeth Wehling, Auf leisen Sohlen ins Gehirn. Politische Sprache und ihre heimliche Macht, 4. Auflage, Heidelberg 2016.

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ein Prozess offenen Sprachlernens entgegengesetzt werden, wie ihn eine gesellschaftstherapeutisch bewusste TZI anbietet. Es geht um den Zusammenhang von Sprache und Lebensform, wie ihn Ludwig Wittgenstein29 herstellt: »Eine Sprache vorstellen heißt, sich eine Lebensform vorstellen«30, schreibt Wittgenstein. In der Syntax der Sprache spiegeln sich sowohl das Tun des Menschen als auch der Horizont seiner Sinn- und Welterfahrung. Im »Sprachspiel«31 fallen Sprache und Tätigkeiten des Menschen zusammen. »Dies ist keine Übereinstimmung der Meinungen, sondern der Lebensform.«32 Auf diesem Hintergrund ist die TZI für M. Kroeger »eine Methode übbaren, offenen Sprachlernens […], welche auch das Recht und die Stärke der Abwehr […] thematisiert«33. Es geht um Texte, »die als Themen niemanden zwingen, die auch nicht ganz oder gar nicht akzeptiert werden müssen. Ich kann mich zu ihnen selektiv verhalten, kann in ihrer Nähe gerne leben, ohne mich ganz mit ihnen identifizieren zu müssen; sie können allmählich, wenn ich es will, zu Begleitern und zu Spiegeln, in denen ich neue Facetten meiner selbst entdecke, werden. Die Sprache solcher Texte unterscheidet sich von Formeln und schlechter Sprache durch das Maß ihrer gestalteten Freiheit, die nicht dogmatische Unterwerfung verlangt, sondern kleine, schon gelebte und gestaltete, antizipierte Utopien anbietet und eine Art von Leben, zu dem sie verlockt. Ich glaube, daß gelungene Sprache Lebensmöglichkeiten erweitert und bereichert, indem sie Bilder gelungenen Lebens gestaltet. Ich glaube, daß es heilende und helfende Kraft gelungener Sprache gibt, die Freiheit gewährt, Identität anbietet, Gewißheit ausstrahlt und herausfordert.«34

6 Einfluss nehmen ohne Zwang und aus Verantwortung Lebendig Schreiben, Lehren und Lernen, in kleinen und großen Gruppen kommunizieren, Menschen begleiten, das waren für die Psychoanalytikerin und Pädagogin Ruth C. Cohn bewährte Wege, wie sie ihre »Gesellschaftstherapie« zur Humanisierung der Welt entwickelt und ausgeübt hatte. Dabei blieb sie nie neutrale Beobachterin: 29 Vgl. Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus. Tagbücher 1914–1916. Philosophische Untersuchungen. Schriften 1, Teil 1, Frankfurt a. M. 1980. 30 Wittgenstein 1980, 296. 31 Wittgenstein 1980, 293. 32 Wittgenstein 1980, 389. 33 Kroeger 1989, 214. 34 Ebd. (Hervorhebungen im Original).

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»[Es drängte mich,] Einfluß zu haben auf das Besserwerden in mir selbst und in der Berufsausübung (Patienten, Studenten), daß die Grausamkeit abnimmt, daß das Gut-Miteinander-Auskommen zunimmt, daß das, was man heute Selbstverwirklichung nennt, die kreative Note, die Eigenart im Menschen, gefördert wird.«35 Nicht ein (zusätzliches) politisches Postulat, wie es einer von Ruth C. Cohns Kollegen, Günter Hoppe, mit der Aufforderung »Greif ein!« vorgeschlagen hatte, sollte die gesellschaftstherapeutische Wirkung der TZI bekräftigen. Das »Greif ein!«, die Aktion um jeden Preis und unter allen Umständen lehnte Ruth C. Cohn ab. Die Formulierung, die sie G. Hoppe für ein mögliches drittes Postulat angeboten hätte, lautete: »Verantworte dein Tun und dein Lassen – persönlich und gesellschaftlich.«36 So sehr Ruth C. Cohn auch das gesellschaftspolitische Engagement für notwendig gehalten hatte, führte in ihrer Sicht kein Weg daran vorbei, die Selbstentscheidung und Selbstverantwortung jedes einzelnen Menschen, die seine Freiheit innerhalb der jeweiligen bedingenden Grenzen einschließen, uneingeschränkt zu achten und niemanden zu einer politischen Aktion zu verpflichten, der sie/er auch innerlich nicht völlig zustimmen kann. Denn die konkreten Situationen und Herausforderungen sind für Menschen sehr verschieden: »Es gibt eine lebensfördernde Stille, meditativ oder beschaulich, es gibt eine Zeit, sich in wissenschaftliche Arbeit zu vertiefen, einem kranken Familienmitglied zu helfen, sich selbst zur Gesundheit zu führen etc. ›Misch dich ein‹, speziell zur Behinderung oder Verhinderung von Gewalt und Gewalttaten, ist, wie bei fast allen Rezepten, die zu Taten aufrufen, zumindesten [sic] Frage-würdig. […] Wie ein Er oder eine Sie lebt, muß dieser Mensch gemäß seiner Bewußtheit, seinen Werten, seiner Einsicht über die gesellschaftlichen Folgen individuell entscheiden.«37

7 Fazit Der ungewöhnliche Begriff »Gesellschaftstherapie«, den Ruth C. Cohn für die TZI in Anspruch nimmt, markiert in gewisser Hinsicht ihren Weg von der (für sie bereits ungenügenden) Lehranalyse im Schweizer Exil über die diversen 35 Ruth C. Cohn, Vom Sinn des Lebens und Lernens in der heutigen Zeit. Ein Interview mit Ruth C. Cohn – Gesprächspartner: Elmar Osswald, in: Ruth C. Cohn, 1993, 55–62, hier: 56. 36 Cohn 1994, 86. 37 Cohn 1994, 86 f.

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Gruppenbewegungen und Gruppentherapien im amerikanischen Exil bis zur vorwiegend »globeorientierten« thematischen Ausrichtung der TZI. Im Zen­ trum »Lebendigen Lernens« nach Ruth C. Cohn steht der lebenslang lernende Mensch, in seiner Eigenständigkeit, Abhängigkeit und universalen Bezogenheit (anthropologisches Axiom), seiner bedingten Freiheit (pragmatisch-politisches Axiom), Entscheidungsfähigkeit und Verantwortung (ethisches Axiom). Die Chairperson, die jeder Mensch von vorneherein ist, im achtsamen Blick nach Innen und nach Außen, mehr und mehr zur Entfaltung zu bringen und Betroffenheiten und Störungen nicht zu übergehen, sind wichtige Postulate in einem Bildungsgeschehen »als Praxis der Freiheit«, wie es etwa Paulo Freire im Auge hatte, von dem Ruth C. Cohn den Begriff der »generativen Themen« übernommen hatte. Themen, wie die TZI sie versteht, eröffnen einen gesellschaftstherapeutischen Möglichkeitsraum für den unverfügbaren Weltbezug der Lernenden und Leitenden/Lehrenden. Sie bilden den Brennpunkt eines lebendigen Interaktionsgeschehens, das aus der sinnzerstörenden Alltagsroutine mancher Bildungssettings heraus- und in einen dynamischen Lern- und Erfahrungsraum hineinführen kann, in dem jede einzelne Person (Ich) als lernendes Subjekt, die Interaktion der Personen (Wir) und das Lernanliegen (Es) in einer dialektischen Balance miteinander verbunden sind; ohne die – zumindest implizit anwesenden – »Fremden/Anderen« ist ein gesellschaftstherapeutisch relevantes Lerngeschehen nicht möglich. Es wird berührt und verändert vom sich ständig wandelnden Kontext (Globe), der von den konkretesten Lebens- und Lernbedingungen der einzelnen Menschen bis in planetar-kosmische Zusammenhänge reicht.

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»Was alle Gott nennen« Beziehungspsychologie als kritische Sonde Heribert Wahl Das Bild vom Menschen kann die Vorstellung von Gott nicht einholen (Elazar Benyoёtz)1

1 Auf Wegen der Analogie Seine »Fünf Wege« zum Aufweis Gottes, oft als »Gottesbeweise« verkannt, schließt Thomas von Aquin jeweils mit dem Satz ab: »Das nennen alle Gott« (STh I 2,3). Selbst wenn eine welttranszendente, absolute Größe plausibel zu machen ist, werden heutzutage weder »alle« darin übereinkommen noch dafür das Wort »Gott« verwenden. Ohne so etwas wie einen psychologischen Gottesaufweis auch nur zu versuchen, möchte ich als Grenzgänger nach Entsprechungen, genauer: nach Analogien und Differenzen zwischen humanwissenschaftlichen (zum Beispiel psychoanalytischen) und theologischen Aussagen suchen. Interdisziplinäre Theologie dieser Art hat es, ohne die alte Demonstrationslast, zwar leichter als ein klassischer Gottesbeweis. Doch auch sie steht unter Voraussetzungen: Ȥ Die Annahme einer transzendenten Größe fußt keineswegs darauf, anthropologische Befunde zu extrapolieren und absolut zu setzen. Sie ist vielmehr in der Spur der christlich-theologischen Tradition gesetzt, also positionell. Ȥ Das strenge Analogie-Prinzip2 der immer größeren Unähnlichkeit aller Gottesrede verbietet jede kurzschlüssige Gleichung von theologischen und psychologischen Aussagen. Ein ständig oszillierendes Hin und Her zwischen beiden Bezugsebenen vermag jedoch ideologisierende Tendenzen offenzulegen – auf beiden Seiten.

1 Elazar Benyoëtz, Scheinhellig, Wien 2009, 272. 2 Unter Analogie verstehe ich eine Übereinstimmung zwischen verschiedenen Beschreibungsmerkmalen (hier: in Bezug auf Gott bzw. Mensch). Aus ihr wird – viceversa! – auf Ähnlichkeit auch in weiteren Merkmalen geschlossen. Zwischen theologischer und anthropologischer Ebene ist jedoch – gemäß der analogia-entis-Lehre – entscheidend, dass bei aller Ähnlichkeit die theologische Aussage auf eine immer größere Unähnlichkeit verweist (Analogie-Differenz).

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Auf diesem Hintergrund möchte ich einige solcher Wechselschritte zwischen traditionellen Gottesbildern und anthropologischen Impulsen, wie sie die moderne Psychoanalyse bietet, gehen.

2 Psychoanalytische Beziehungstheorie 2.1 Konsequentes Beziehungsdenken Mit dem »relational turn«, der Wende zur Beziehung, gehen Sozial- und Humanwissenschaften nicht mehr von einem isolierten Subjekt aus, das einer Welt der Objekte gegenüberstünde und dann sekundär zu ihr in Beziehung träte. Ausgangspunkt ist vielmehr von vornherein ein Miteinander: ein »Subjekt-in-Beziehung«. Diese Bewegung vollzieht die gesamte moderne Psychoanalyse (M. Klein, Balint, Bion, Winnicott, Kohut, Intersubjektive Psychoanalyse) wie auch die Erforschung der frühesten Mutter-Kind-Systeme (Stern und andere) mit: Unser Selbst entfaltet sich nicht als autarke Monade, unabhängig von anderen. Für unsere Identitätsbildung3 sind wir fundamental auf die gelingende Erfahrung intersubjektiver Praxis und Kommunikation angewiesen. Der relational turn (in Freuds Praxis schon grundgelegt) ist irreversibel. Diesseits jeder SubjektObjekt-Spaltung geht es, wie zahlreiche empirische Studien zum Mutter-KindPaar4 belegen, nie um ein »primäres Objekt«, sondern von Anfang an um ein »Selbst-in-Beziehung«. Dieses zuerst potenziell gegebene, »virtuelle Selbst« (Kohut) entwickelt sich nur in einer empathischen Matrix, im »Mutterboden« einer wechselseitigen Resonanz-Beziehung zwischen Kind und Pflegeperson. Diese systemische Perspektive avant la lettre hatte Winnicott längst genial antizipiert: »Es gibt den Säugling gar nicht«5, nämlich ohne die mütterliche Fürsorge; es gibt immer nur ein Kind und seine Mutter. Genau hier lokalisierte er auch jenen »schöpferischen Zwischen-Raum«6 (potential space), in dem neben Kultur, Philosophie und Kunst auch das Religiöse entspringt. 3 Auch Erikson hat mit seinem »psycho-ökologischen« Identitätsansatz von Soma – Psyche – Polis die alte »Cartesianische Zwangsjacke« abgestreift und jeden individuumzentrierten Ansatz überwunden: vgl. Erik H. Erikson, Einsicht und Verantwortung. Die Rolle des Ethischen in der Psychoanalyse, Frankfurt a. M. 1971, 143. 4 Vgl. Martin Dornes, Der kompetente Säugling. Die präverbale Entwicklung des Menschen, Frankfurt a. M. 1993. 5 Donald W. Winnicott, Reifungsprozesse und fördernde Umwelt, München 1974, 50 Anm. 1. 6 Vgl. Donald W. Winnicott, Vom Spiel zur Kreativität, Stuttgart 1973, 116–120.

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2.2 Ein teleologisch anderes Entwicklungsmodell Im psycho-theologischen Dialog interessiert natürlich besonders, wie sich die Grund-Beziehung gestaltet. Wie sind die jeweiligen Beziehungspole ausgeformt und worauf zielt ihre reziproke Entwicklung? Denn die psychologischen Modellierun­gen haben womöglich bedeutsame Konsequenzen im religionspsychologisch-theologischen Feld oder weisen – vorsichtiger gesagt – Entsprechungen auf, etwa für die konkrete Ausformung des Gottesbildes. Die individuozentrische Sicht der Selbst-Entwicklung, wie sie in der Vergangenheit leitend war, zielte – von Humanismus und Aufklärung bis zu Freuds Menschenbild – ein »reifes«, das heißt, autarkes, von anderen unabhängiges, klar getrenntes Subjekt an. Dieses normative Bildungsideal aus einer autoritärpatriarchalen Kultur (auch in Religion und Kirche) trägt nicht mehr. Ab den 1960er Jahren merken Psychoanalytiker wie Kohut, dass sich – mit veränderten soziokulturellen Hintergründen – auch die seelischen Störungen wandeln. Ins Zentrum rücken vor allem die vielfältigen Deformationen der Entwicklung: Welches empathische Umfeld braucht unser Selbst, um sich phasengemäß zu entfalten? Was behindert und was zerstört diesen Aufbauprozess? 2.3 Zentrale Stellgröße – das SelbstObjekt (Heinz Kohut) Nicht bloß für die frühe Mutter-Kind-Beziehung, sondern auch für die religiöse Wirklichkeit ist unser menschliches Urbedürfnis nach einem tragendhaltenden, das Leben mehrenden und inspirierenden Gegenüber grundlegend. Kohuts Selbstpsychologie7 prägt, indem sie die getrennten Größen Selbst und Objekt dialektisch ineinander verschränkt, den genialen Begriff »SelbstObjekt«. Er umfasst das, was wir für unsere Selbst-Werdung unabdingbar brauchen. Die anthropologische und theologische Erschließungskraft dieses Konzepts ist meines Erachtens noch nicht voll (an-)erkannt. Souverän und uneigennützig stellt sich das SelbstObjekt (zum Beispiel die Mutter) als bereits entwickeltes Selbst mit allen Fähigkeiten zur Verfügung, also gerade nicht »selbstlos«! Und diese notwendige Vor-Gabe müssen wir uns nicht durch Leistung verdienen. Im Miteinander erfährt der zuerst nur gebende (zum Beispiel mütterliche) Partner seinerseits Bestätigung und sieht sich zunehmend auch selbst freudig wahr- und ernstgenommen: als Selbst mit eigenen Inte7 Vgl. Heinz Kohut, Die Heilung des Selbst, Frankfurt a. M. 1976. Der Akzent auf den vitalen Bedürfnissen eliminiert Konflikt und Aggression in der menschlichen Entwicklung keineswegs, sondern gewichtet sie nur anders.

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ressen, Bedürfnissen und Rechten (über die Mutter-Rolle hinaus). Dadurch wird freilich die emotionale Verbundenheit (connectedness) zwischen beiden Beziehungspartnern wechselseitig immer stärker und tiefer! Ursprünglich entdeckt wurde diese faszinierende Beziehungsform in der therapeutischen Praxis: Die Psychotherapeutin übernimmt (in der Übertragung!) die Rolle eines empathisch resonanten SelbstObjekts, so wie die Mutterfigur (real) als frühkindliche Entwicklungshelferin fungiert. Für den vielleicht sperrig wirkenden Begriff SelbstObjekt schlage ich, in loser Anlehnung an Symington8, den griffigeren Ausdruck »lifegiver« vor: das kreative Gegenüber, das Leben schenkt und stimuliert, schützt und mehrt. Was für die Mutter-Kind-Beziehung empirisch gut belegt ist, gilt analog auch für spätere Lebensstufen und andere Lebenskontexte: zwischen Lehrer und Schülerin, Seelsorgerin und Ratsuchendem, Gruppe und Mitglied, für Lebenspartner und Freunde. Und es gilt natürlich auf der religiösen Bühne der Gotteserfahrung und ihrer Bebilderungen: zwischen Gott und den Glaubenden. Das bleibende Angewiesensein auf bedeutsame andere – von der Geburt bis ins hohe Alter – verliert in dieser Entwicklungslogik jeden Beigeschmack pathologischer Unreife. Entwicklung verläuft nicht normativ (und wertend) von infantiler Abhängigkeit zu erwachsener Unabhängigkeit, von Symbiose über Trennung/Individuation zur Autonomie, von unreifem Narzissmus und egozentrischer Selbstliebe zum Ersetzen der Primärobjekte durch »reife« Liebesund Hass-Objekte! Die konsequent zweipolige Beziehung zwischen SelbstObjekt und Selbst bietet ein qualitativ ganz anderes, zutiefst triadisches9 Modell: Die gegenseitige, immer noch wachsende Verbundenheit zwischen beiden Polen verändert und vertieft sich über den ganzen Lebenszyklus – und scheitert dabei natürlich ständig (siehe unten 3.2). 2.4 Vom SelbstObjekt zum Symbol-Zeichen: symbolische Erfahrung Unsere Kulturen haben vielfältige Ausgestaltungen dieser Grundrelation erfunden, um ihre generative, Leben mehrende Fähigkeit jeweils passend abzustimmen auf die psychosozialen Bedürfnisse und spirituellen Entwicklungsaufgaben im Lebenszyklus. Das triadische Modell gilt daher auch im gesamten Bereich kultureller Symbol-Zeichen, wie sie uns in Religion, Literatur, Musik und Bildender Kunst begegnen: Die Grundfunktion personaler »lifegivers« 8 Vgl. Neville Symington, Emotion and Spirit. Questioning the Claims of Psychoanalysis and Religion, London 1998. 9 Triadisch, weil der relationale Prozess im Zwischen-Reich: zwischen den Polen geschieht, ja darin besteht.

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kann nämlich auch von erfahrungsgesättigten Zeichen ausgeübt werden, die in kultureller Gestalt menschliches Leben tragen und bereichern; landläufig heißen sie Symbole. Ich verwende den Symbolbegriff anders: nicht nur als semiotisch-formalen Bezug zwischen einem verbergenden Zeichen und seiner wahren, aber verhüllten, »eigentlichen Bedeutung«, die es zu erraten und zu ›deuten‹ gilt. Aus dem lifegiver-Beziehungsmodell habe ich ein Konzept symbolischer Erfahrung10 entwickelt, das Zeichen als Verdichtungen früherer SelbstObjekt-Erfahrungen auffasst. Es sind potenzielle Symbol-Zeichen, denn »das Symbol« mit fixer Deutung gibt es nicht. Ein echtes Symbol-Zeichen trägt die Potenz in sich, seinen tragenden SelbstObjekt-Gehalt jetzt neu symbolisch erfahren zu lassen, wenn die Beziehung »stimmt«. Symbolische Kompetenz meint dann die Fähigkeit, vielfältige kulturelle Gestaltungen (vom Spielzeug über Rituale, Kunstwerke bis zu Gottesbildern) als Symbol-Zeichen zu erfahren, die unser Selbst stärken.11 Jede symbolische Erfahrung eröffnet im lebendigen Kon-Takt mit potenziellen Symbol-Zeichen ein tiefes Verbundensein mit ihrer emotionalen Wahrheit. Der Pol des Zeichens hält dabei die Stelle der ursprünglichen lifegiver-Figur (zum Beispiel der Mutter) offen, indem es sie vertritt, das heißt stellvertretend re-präsentiert, aber nie ersetzt! Symbol-Zeichen verdanken ihre Entstehung somit früheren, genuinen SelbstObjekt-Erfahrungen, die kreative Menschen in eine neue (religiöse und/ oder künstlerische) Gestalt umzuwandeln vermochten; und zwar auf ästhetisch so ansprechende Weise, dass daraus ein Muster für andere Individuen, Gruppen oder Generationen wurde, zum Beispiel die Psalmen. In diesem kulturellen Prozess »symbolfähig« geworden, vermag unser Selbst lebensmehrende Beziehungserfahrungen kreativ umzugestalten beziehungsweise rezeptiv aufzunehmen. In dichte kommunikative Szenen umgewandelt, zum Beispiel in die Eucharistiefeier, ermöglichen sie dem Einzelnen bzw. seiner Gruppe aktuell eine wirkliche, analoge lifegiver-Erfahrung, zum Beispiel Gemeinschaft im Herrenmahl12: Immer neu geschieht so emotionales »fitting together«, ereignet sich tiefes Verbundensein im jetzt neu geschenkten Zeichen-Gehalt. Das Beziehungs-Modell kann somit auf der (inter)personalen wie auf der kulturellen Ebene als Instrument dienen, um Gestalt und Niveau eines Gottes10 Zu diesem Symbolkonzept vgl. Heribert Wahl, LebensZeichen von Gott – für uns. Analysen und Impulse für eine zeitgemäße Sakramentenpastoral, Münster 2008. 11 Die Redewendung »Das ist nur symbolisch«, ist dann ebenso unsinnig wie jede fixe 1:1-Symbol-»Deutung« (Höhle = Vulva). 12 Der klassische Abendmahlsstreit zwischen »real« oder »symbolisch« erweist sich in dieser Perspektive als verfehlt.

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bezugs kritisch zu sondieren – immer unter Beachtung des Analogie-Kriteriums. Auch das Scheitern der Grundbeziehung und die Motive bzw. Interessen dahinter (zum Beispiel Beherrschen, Lenken, Unterwerfen) lassen sich aufdecken.

3 Theologische Probebohrungen Wenn wir die Leben schenkende Chiffre SelbstObjekt im Blick auf das jüdischchristliche Gottesbild aufnehmen, stoßen wir auf bewegende, aber auch verstörende Parallelen. Wenn schon auf der empirisch-psychologischen Ebene menschliches Sich-Entfalten auf ein von uns ganz unabhängiges, allmächtig erscheinendes »extra nos«, eine unverdienbare, nahezu total verfügbare VorGabe wie eine Mutterfigur angewiesen ist, klingen im Blick auf das Gottesbild sofort Fragen von Schöpfung, Gnade, Erlösung und Rechtfertigung an. Biblische Texte in Fülle lassen den Beistand eines voran- und mitgehenden, eines bergenden und rettenden Gottes gegenüber seinem bedürftigen Volk aufleuchten. Das absolute Prae des Leben schenkenden Gotteshandelns reicht von der Schöpfung über Israels Exodus und die Heimkehr aus dem Exil bis zu einem in Jesus von Nazaret sich vollkommen zur Verfügung stellenden Gott, dessen väterlich-mütterliche Zuwendung man sich ebenso wenig verdienen muss wie das Baby die Liebe seiner Mutter. Doch zugleich gibt es die Rede vom strafenden, vernichtenden, ja tötenden Gott. Können wir vor diesem Horizont – probeweise – analog von einem unbedingt vor-gegebenen, absoluten SelbstObjekt (SOGott) sprechen, das »alle Gott nennen«? Lassen sich Aussagen der Beziehungs-Psychologie so absolut ausziehen, dass sich klare Analogien und ebenso klare Differenzen für bestimmte Ausformungen jüdisch-christlicher Gottesbilder ergeben? Für ein sorgfältiges Wahrnehmen solcher Entsprechungen oder Spannungen zwischen einem Pol SOMensch beziehungsweise SOGott gehe ich nochmal einen Schritt zurück. 3.1 Theologisch relevante Transformationen der SelbstObjekt-Beziehung SelbstObjekt als lifegiver ist Chiffre für jenes Leben schenkende Gegenüber, auf das unsere Selbst- wie unsere Glaubens-Entwicklung zeitlebens angewiesen bleibt: von der Mutter/Pflegeperson über menschliche Partner*innen und kulturelle Symbol-Zeichen bis zum spirituell-göttlichen »Beistand« in der Theologie. Der johanneische Jesus verheißt das »pneuma« nicht ohne Grund als »Tröster« 210

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schlechthin; der »Paraklet« (Joh 14,16) ist der Herbeigerufene. Psychogenetisch betrachtet ist ja die Mutterfigur tatsächlich die erste »Herbeigerufene« und »Trösterin« par excellence, und pneumatologisch wirkt die Geistkraft (ruach) als Tröster-Geist, »der lebendig macht« (2 Kor 3,6) und in dessen schöpfe­rischem Lebensraum der Liebe alles neu wird.13 Freilich: Nur wenn die grundlegende Beziehungsfigur auf jeder Ebene im Lebens- wie im Glaubenszyklus ihre jeweils »stimmigen« Transformationen in passenden Begegnungen bzw. Symbol-Zeichen findet, wird ihr Funktionsniveau adäquat ausgestaltet sein. Dann nur eignet sie sich als kritische Sonde für die (praktisch)theologische Beanspruchung im Dienst von Seelsorge, Verkündigung, Liturgie und Diakonie, denn sie ist zwar die exemplarische Interaktionsform am Beginn interpersonalen Lebens, aber gerade deshalb bleibt sie vielfältiger Ausdifferenzierungen und Umwandlungen fähig und bedürftig: Der Prototyp (Mutter-­Kind) muss sich, in einem permanenten Aushandlungs-, Abstimmungs- und Austauschprozess, wandeln. Andere Personen, kulturelle Gebilde und Symbol-­Zeichen übernehmen auf je neuem Niveau die (über) lebensnotwendige SelbstObjekt-Rolle gegenüber dem sich entwickelnden (Glaubens)Selbst. Als (heils-)bedürftige Wesen bleiben wir ein Leben lang auf die menschlich-göttliche »Vor-Gabe« angewiesen, wenn das Hauptziel – »fitting together« und Verbundenheit (connectedness)14 auf möglichst vielen Ebenen, gerade auch der religiösen – gelingen soll. In all diesen Prozessen hat die Grund-Beziehung also einen geschichtlichdiachronen Gestaltwandel zu vollziehen: Aus der einseitigen, nahezu totalen Angewiesenheit am Anfang erwächst über die Festigung der Selbststrukturen allmählich eine Wechselseitigkeit, in der die eigenen Rechte und Bedürfnisse auch der SelbstObjekt-Figur (der Mutter, später anderer Partner bis hin zu »Gott«) anerkannt werden. So kann und muss ein Rollentausch stattfinden – auch die Lehrenden, Erziehenden oder Seelsorgenden sind Empfangende, nicht nur Gebende! Entsprechend wollen auch die Symbol-Zeichen in ihrem eigenen Recht anerkannt werden.15 13 Credo: »Et in Spiritum Sanctum Dominum et vivificantem«; Pfingstsequenz: »consolator optime« u. v. m. 14 Bahnt sich gesellschaftswissenschaftlich ein neues Verbindungs-Denken an? Der Verlag »Liens qui libèrent« (!) ruft, statt analytischem Trennen und Stabilisieren im Subjekt-Objekt-Schema, entschieden zu neuer Verbindung auf: »Relions-nous!« Vgl. Joseph Hanimann, Schleichwege in die Zukunft, Artikel vom 07.06.2021, online verfügbar unter: https://www.sueddeutsche.de/ kultur/parlament-wissen-paris-1.5314964 (letzter Zugriff am 09.11.2021). Folgt also auf den relational turn bald ein connexional turn? »connexio« ist übrigens ein zentraler Terminus in vielen Texten des Zweiten Vatikanischen Konzils! 15 Dafür stehen z. B. Exegese, Kirchengeschichte, Liturgik und Dogmatik ein.

»Was alle Gott nennen«

211

3.2 Unvermeidliche Störungen So wie in der Alltagsrealität jedes Mutter-Kind-Paars das »Band« durch Konflikt, Frustration und Unfähigkeit natürlich ständig zerbricht und durch empathische Verstehensversuche wieder neu geknüpft werden muss, so gilt das – über alle Beziehungsebenen des Lebens hinweg – auch in religiösen Bezügen und spiegelt sich grundlegend in der Gottesbeziehung. Kommt es auf jeder neuen Ebene zu einer angemessenen, nicht frühkindlich fixierten »Passung« mit (m) einem Gottesbild? »Passen« fällt auf diesem langen Weg nirgends mit Sofortbefriedigung zusammen; es meint nie harmonistisches Ineinander-Aufgehen (auch nicht bei den Mystikern!). Passende Resonanz erwächst in spannungsreichen Beziehungen, in motivierend-antreibenden oder kritisch infrage stellenden Auseinandersetzungen, auch mit der Gottheit. Nur durch kontinuierliche, nie reibungsfreie, oft entgleisende Prozesse müssen und können immer neu die wechselseitigen Bedürfnisse von Selbst und SelbstObjekt, Glaubenden und Gott – je nach Lebensstufe und Niveau der Bedürftigkeit – miteinander ausgehandelt und aufeinander abgestimmt werden – immer auf Zeit nur, im eschatologischen Wartezustand. Frömmigkeitsgeschichtlich und theologisch ist dabei unübersehbar: Gelingende Passungs-Erfahrungen haben sich über Jahrhunderte in tragenden Bildern großartig verdichtet: »Der Herr ist mein Hirte, nichts wird mir fehlen.« (Ps 23,2) Faktisch sind freilich auch in der Geschichte des Glaubens die scheiternden Passungen, das verlorene oder zerstörte Verbundensein unendlich viel häufiger, wie es Psalmen und Propheten vielfältig beklagen, bis hin zum Schrei Jesu: »Mein Gott, warum hast du mich verlassen!« (Ps 22,1) Zugleich sind uns reiche Erfahrungen in Symbol-Zeichen aufbewahrt, wie nach allen Brüchen immer wieder neu Passung ermöglicht, die empathische Verbundenheit wiederhergestellt – oder theologisch: der Bund mit Gott durch seine un-endliche Barmherzigkeit erneuert wird. Ich spreche von diabolischen Erfahrungen, wenn entweder die SelbstObjektFunktion direkt versagt (interpersonal) oder wenn sie in der Begegnung mit Symbol-Zeichen (einem Gottesbild, einem biblischen Text) katastrophisch zerbricht: Ihre ursprüngliche Botschaft wird zerstört, die Symbol-Zeichen sind zu »Diabolen« deformiert, die ihren potenziellen Wahrheitsgehalt durch Mythifizierung oder Ideologisierung zur Lüge entstellen.16

16 Vgl. Heribert Wahl, Glaube und symbolische Erfahrung. Eine praktisch-theologische Symboltheorie, Freiburg i. Br. – Basel – Wien, 1994, 125–160.

212

Heribert Wahl

Eine eigene Untersuchung muss dabei der biblischen, theologischen und frömmigkeitsgeschichtlichen Rede vom »verborgenen Gott« (Deus absconditus) oder vom »zornigen« Gott nachgehen: Da, wo »Gott« sich beleidigt zurückzieht, den Ungehorsam des »Kindes« mit furchtbaren Strafen ahndet oder grausam Rache übt, dort legt die Analogie zur lifegiver-Figur ein psychisches Niveau offen, das wie eingefroren (fixiert) ist: Ein schreckliches Scheitern wird auf der infantilen Beziehungs-Ebene direkt, ohne Chance einer Transformation, in ein irreligiöses Zerrbild hineingezwungen. Zum Diabol entstellt, hat es sich freilich – mit schamlosen Rationalisierungen aus der »Schwarzen Pädagogik« – über Jahrhunderte religiöser Erziehung halten und ausbauen können. Geraten wir jedoch auf diesem Weg nicht ganz schnell in die »Elternfalle« einer allzu billigen Religionskritik? Jedes Gottesbild beruht danach allein auf überhöhender Projektion der Elternfiguren, im Positiven wie im Negativen. Doch die hier angelegte Sonde – das lifegiver-Modell mit seiner Bandbreite von Transformationen im Lebenszyklus – entlarvt die reduktionistische Falle des »nichts anderes als« (etwa bei Freud). Sie zeigt aber zugleich die faktische Wahrheit so vieler Entstellungen religiöser Bilder auf. Leider ragen sie hinein in die biblischen und theologischen Zeugnisse selbst. Bis heute kennen wir unzählige Versuche, dieses Faktum historisch zu retuschieren, pseudo-exegetisch weg zu rationalisieren oder auch »fromm« zu mystifizieren, um solche archaisch-destruktiven Gottesbilder moralisch irgendwie noch zu retten (»Der strenge Gott in seiner Majestät meint es doch nur gut …«). Das kann in meinen Augen so nicht mehr gelingen. Ein Beispiel nur: der »Lasterkatalog« Gottes (nach Dietrich/Link) aus dem Alten Testament reicht vom göttlichen Zornes- und Blutrausch (Jes 63,1–6) über Krankheit als Ausdruck der Verfluchung (Dtn 28,21 ff.), Gott als grausamen Feind des unschuldigen Frommen (Hi 30,21), die Tötung der ägyptischen Erstgeburt (Ex 12,29) bis zur Vernichtungsweihe feindlicher Städte (Dtn 7,2.20–26). Dass die Bibel so »provozierend anthropomorph« von Gottes Zorn, Eifersucht und Rache rede, bringe eben Erfahrungen mit ihm (!) zum Ausdruck, »die man nur machen kann, wenn man sich auf ihn wie auf ein menschliches Gegenüber einlässt.«17 Wie selbstentlarvend! Genau hier markiert die Sonde unmissverständlich die Todeslinie der Analogie: Solche destruktiven Muster sind mit einer SOGott-Vorstel­lung inkompatibel und müssen diabolisch wirken, weil sie schon auf der zwischenmenschlichen lifegiver-Ebene krank machen und seelisch töten. 17 Walter Dietrich & Christian Link, Die dunklen Seiten Gottes. Willkür und Gewalt, Neukirchen 1995, 11 (Hervorhebung durch H. W.).

»Was alle Gott nennen«

213

4 Die Weitung des Modells Der beziehungspsychologische Ansatz schließt ein noch komplexeres Geschehen ein, das ich (frei nach Viktor von Weizsäcker) den »Gestaltkreis generativer Liebe« nenne (siehe Abb. 1): Die Selbstwerdung mittels hilfreicher lifegiver (die Bewegung vom gratis sich schenkenden »SelbstObjekt für mich« hin zum entwickelten Ich-Selbst) stellt nur den einen Ast des Beziehungsgeschehens (1) dar. Sie ist jedoch kein Endpunkt, kein Ziel in sich. Komplett wird der Zyklus – psychologisch gesehen; erst recht im Licht christlicher Anthropologie und Theologie – erst, wenn der andere Bogen (2) anschließt: der Schritt vom etablierten Selbst zum »SelbstObjekt für andere«. 1 SelbstObjekt-­Erfahrung

2

→ Selbstwerdung

3 ff.

→ SelbstObjekt-Funktion

lifegiving (für mich)

ich selbst

lifegiving (für andere)

Ich erfahre fremde

Ich bilde mein Selbst aus.

Ich werde fähig, anderen

SO-Hilfe (zum Beispiel

als SO (Mutterfigur) zu

durch Mutter).

dienen.

passiv-rezeptiv

rezeptiv-kreativ

aktiv-produktiv

Ich erfahre in Symbol-

Selbstentfaltung durch

Andere zu symbolischer

Zeichen umgestaltete

Symbol-Erfahrung

Erfahrung und Praxis



symboltheoretisch:

SO-Gehalte.

befähigen

theologisch: Erfahrung ungeschuldeter

Rechtfertigung

Gnade (pro nobis)

Liebe, Diakonie, Engagement

neue Schöpfung

Heiligung

Hingabe (pro vobis)

extra nos des Heils

Erlösung

Befreiung, Heilung

Abb. 1: Gestaltkreis generativer Liebe (lifegiving)

Der komplette, in sich unabschließbare Gestaltkreis umfasst somit zwei große Bögen: Die »fremde« lifegiver-Erfahrung am Anfang muss mir zuerst von außen geschenkt, vor-gegeben werden (gratia gratis data), damit ich – auf der psychisch-sozialen wie auf der religiösen Ebene – zu einem eigenständigen 214

Heribert Wahl

Glaubenssubjekt werden kann (1), das dadurch zum Da-Sein für andere (»pro«Prinzip) befähigt wird (2). So gesehen, bildet die Selbst-Figur im gesamten Gestaltzyklus tatsächlich die Mitte: Sie steht im Zentrum, aber nicht als egozentrischer Endzweck (isolierte »Selbstverwirklichung«), sondern als Scharnier, in dem sich die auf- und absteigenden Bögen treffen und verzahnen: kein Endund Zielpunkt, sondern entscheidendes, den Einzelnen oder die soziale Einheit in Anspruch nehmendes Bindeglied in einem fortschreitenden Prozess (3 ff.). Diese doppelte Befähigung, die personale Eigenständigkeit der SelbstObjekte anzuerkennen und zugleich anderen in ihrer Subjektwerdung als lifegiver voranzuhelfen, vollzieht sich individuell, sozial und intergenerational: zwischen Eltern und Kindern, Lehrenden und Schülern, Seelsorgern und Ratsuchenden, Gruppe und Mitgliedern; es gilt somit auch für die christliche Gemeinde als »koinonia«: Erfahrungsraum und Lebensmilieu des Glaubens, soweit er an Person und Botschaft Jesu Maß nimmt. Ekklesiologisch wichtige Kriterien kommen in den Blick.

5 Weiter fragen Im streng theo-logischen Sinn stößt man an dieser Stelle auf die Frage: Fällt nicht, auf Gott selbst bezogen, der gesamte Gestaltkreis als kontinuierliches Geschehen in Gott in eins? Denn das Anerkennen Gottes in seinem Selbst, das im lebenslangen Lernprozess des Glaubens ansteht, macht letztlich (eschatologisch) eines offenbar: In Gott fallen Selbst-Sein und SelbstObjekt-Sein vollkommen in eins. Und nur in ihm! Fragen an die Trinitätstheologie, Christologie und Eschatologie tun sich auf. Meine Skizzen für einen Dialog zwischen relationaler Psychoanalyse und Theologie brechen hier ab. Sie können nur anfanghaft das Beziehungsmodell »lifegiving«, seine Potenzen wie Entgleisungen und Deformationen zur Erprobung anbieten: als kritische Sonde für unser theologisches Denken und für die Praxis des Glaubens, die dieses Denken immer wieder in Frage stellt.18

18 In Vertiefung dieser Schritte müssen z. B. Konzepte Bions wie »container – contained«, »paranoid-schizoider Modus« und »depressiver Modus«, emotionale Wahrheit denken vs. lügen unbedingt einbezogen werden, zumal er explizit theologische Anspielungen bietet. Vgl. Wilfred R. Bion, Aufmerksamkeit und Deutung, Tübingen 2006.

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Wahrnehmen als Übung Phänomeno­logische Perspektiven für eine leibsensible Religionspädagogik Christian Fröhling

1 »In Fleisch und Blut übergegangen«? Inwiefern lässt sich Wahrnehmung erlernen?1 Zunächst lässt sich festhalten, dass Wahrnehmen geübt werden kann. Üben nimmt im menschlichen Leben einen breiten Raum ein. In der Pädagogik wird Üben als eine besondere Lernform verstanden, die gegenwärtig weder in Schule und Universität noch im pädagogischen Diskurs hoch im Kurs steht.2 Das Eigentümliche einer Übung ist dabei, dass sich das Können, zum Beispiel das der Wahrnehmung (aisthesis), erst nach oder mit den Wiederholungen eines Aktes einstellt, bis dieser, wie es das Sprichwort sagt, »in Fleisch und Blut übergegangen« ist. Damit hat Üben notwendig etwas mit Erinnern und Zeit zu tun. Zum Üben sind der und die Lernende darum auf Vorbilder oder Beispiele angewiesen. Eine Übung, wie an einem Beispiel Wahrnehmung geschult wird, vollzieht Johannes Stüttgen in seinem Vortrag im Jahr 1985 im Aachener Suermondt-­ Ludwig-­Museum, indem er die Skulptur »Kreuzigung« (1962–1963) von Joseph Beuys (1921–1986) einem Publikum erschließt.3 Stüttgen war Meisterschüler von Beuys, auf dessen Werk er sich im Vortrag bezieht. Die Erschließung der Skulptur bezeichnet Stüttgen als eine Seelenübung.4 Das Exemplarische an dieser Übung wiederum ist, dass Stüttgen versucht, die Beuys’sche Perspektive, die sich in der Skulptur manifestiert, im Vortrag im Sinne einer performativen Re-Komposition zu wiederholen. Am Beispiel dieses Kunstwerkes, das »als Evidenzphänomen vorausgegangener Intensitäten des 1

Die Grundlage des Textes bildet meine Antrittsvorlesung an der Katholischen Hochschule in Mainz am 28. Oktober 2021. 2 Als Ausnahme vgl. Malte Brinkmann, Die Wiederkehr des Übens. Praxis und Theorie eines pädagogischen Grundphänomens, Stuttgart 2021. 3 Vgl. Johannes Stüttgen, Kreuzigung, in: ders. (Hrsg.), Zeitstau. Im Kraftfeld des erweiterten Kunstbegriffs von Joseph Beuys; 7 Vorträge im Todesjahr von Joseph Beuys, Wangen im Allgäu 1998, 7–24. 4 Vgl. Stüttgen 1998, 7.

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Empfindens, Wahrnehmens und Verarbeitens begriffen werden«5 kann, zeigt er eine Perspektive, die Welt wahrzunehmen. Stüttgen übt dabei selbst das »sehende Sehen«6 ein, das nicht reproduktiv, sondern produktiv-­schöpferisch ist. Seine Erschließung der Beuys’schen Perspektive auf die Welt erscheint als eine Perspektive im Entstehen.7 Die Rekonstruktion der Übung im Sinne einer nichtidentischenWiederholung erlaubt es mir, einige Aspekte einer Phänomenologie der Wahrnehmung zu skizzieren, die religionspädagogisch stilbildend ist.8

2 Einüben der Wahrnehmung mit Johannes Stüttgen Abb. 1: Joseph Heinrich Beuys, Kreuzigung (1962–1963); Höhe 42,50 cm, Breite 19,00 cm, Tiefe 15,00 cm; Staatsgalerie Stuttgart, Überstellung des Baden-Württembergischen Kultusministeriums (© Staatsgalerie Stuttgart)

Stüttgen beginnt seinen Vortrag mit einigen methodischen Vorbemerkungen, deren Ausgangspunkt die zum Vortrag mitgebrachte Skulptur »Kreuzigung« ist. Er arbeitet dabei mit einem selbst gezeichneten Bewegungsdiagramm, das für ihn »so etwas wie eine logische Partitur«9 darstellt. Stüttgen berichtet zudem von den gescheiterten Versuchen von Beuys, »an das Spirituelle heranzukommen«10. Beuys suchte nach einem alternativen 5 Gert Selle, Gebrauch der Sinne. Eine kunstpädagogische Praxis, 6. Auflage, Reinbek bei Hamburg 1993, 312. 6 Bernhard Waldenfels, Sinnesschwellen, Frankfurt a. M. 1999, 103. 7 Vgl. Waldenfels, 1999, 104. 8 Für einen Überblick vgl. Peter Biehl, Der phänomenologische Ansatz in der deutschen Religionspädagogik, in: Hans-Günter Heimbrock & Peter Biehl (Hrsg.), Religionspädagogik und Phänomenologie (Forum zur Pädagogik und Didaktik der Religion; Bd. 15), Weinheim 1998, 15–46; Stefan Altmeyer, Welche Wahrnehmung? Kontexte und Konturen eines praktischtheologischen Grundbegriffs, in: Reinhold Boschki (Hrsg.), Junge Wissenschaftstheorie der Religionspädagogik (Tübinger Perspektiven zur Pastoraltheologie und Religionspädagogik; Bd. 31), Berlin 2007, 214–237. 9 Stüttgen 1998, 10. 10 Ebd.

Wahrnehmen als Übung

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Zugang. »Das erlebt Beuys als existentielle Krise, als existentiellen Schock – mit dem Charakter eines regelrechten Todeserlebnisses. Das Nichts. Der Nullpunkt.«11 Diese biografische Krise bildet für Stüttgen also einen präfigurativen Bezugspunkt, der in der Erschließung der Skulptur wiederkehrt. Abschließend zitiert er Beuys, der sein Anliegen so formuliert: »›[...] Mir ging es um die Wirklichkeit dieser Kraft [des Spirituellen; C. F.], eine stetig anwesende und sich verstärkende Gegenwart. Darauf habe ich hingewiesen. Es handelt sich also nicht nur um ein historisches Ereignis, sondern es ist ein reales Ereignis …‹«12 2.1 Die Vorbereitung Das erste Element einer Übung ist ihre Vorbereitung. Stüttgen entwickelt zunächst die Perspektive eines unvorbereiteten Zuschauers und wie sich jenem das Kunstwerk von Beuys erschließt. Bei ihm löst die Skulptur Ratlosigkeit und Beunruhigung aus. Er reagiert gereizt. Er hält die Skulptur für dummes Zeug, Abfall, puren Hohn oder eine Provokation. So hat er Zweifel, ob überhaupt eine Idee anwesend und damit präsent ist. Die Skulptur fällt für Stüttgen aus dem allgemein herrschenden Vorstellungsund Empfindungsvermögen und dessen Realitätsbegriff heraus, sodass in ihr eine unvertraute Verbindung von Idee und Stoff vorliegt.13 »Alle große Kunst ist widerspenstig; produktives Lernen beginnt nicht mit Eingängigem, sondern damit, daß man sich in Schwieriges ein-hört, ein-sieht, ein-liest, ein-spielt.«14 Die Vorbereitung, die Stüttgen vorschlägt, besteht in einer Haltungsänderung, die er auch dadurch zum Ausdruck bringt, dass er die Perspektive der Seele einführt. Die Übung besteht für ihn aus »dem Herunterfahren aller Voraussetzungen auf einen ›Nullpunkt‹«15. Er beschreibt eine Haltung, die es erlaubt, einen Zugang zur Skulptur zu finden, der »unterhalb der allgemeinen Bewußtseins- bzw. Zumutungslage«16 liegt. 11 Stüttgen 1998, 15. 12 Ebd. 13 Vgl. Stüttgen 1998, 8: »Zweierlei ist an dieser Reaktion hochinteressant, erstens, daß beide Pole aus dem allgemeinen herrschenden Vorstellungsvermögen, dessen Realitätsbegriff offenbar ein irgendwie geartetes Gemisch oder, positiv gesprochen, eine irgendwie geartete Verbindung ist, in der weder ›Geist‹ noch ›Stoff‹ fehlen darf, herausfallen.« 14 Bernhard Waldenfels, Sinne und Künste im Wechselspiel. Modi ästhetischer Erfahrung, 2. Auflage, Berlin 2010, 130. 15 Stüttgen 1998, 7. 16 Stüttgen 1998, 18.

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Für die betrachtende Seele heißt das zunächst, dem »unerklärten und unerklärlichen Werk gegenüberzustehen und ihm und der Frage nach seinem Sinn ohne Antwort standzuhalten«17, wie es der Kunstpädagoge Gert Selle nennt. Stüttgen klammert die Frage nach dem Sinn und der Deutung des Werkes ein. Er hebt hervor, dass diese Vorgehensweise keine Interpretation ist.18 Es geht Stüttgen nicht um ein voraussetzungsloses Wahrnehmen, sondern um das Bewusstmachen und die Relativierung des Horizontes des Betrachters. 2.2 Die dichte Beschreibung Das zweite Element einer Übung ist eine Art dichte Beschreibung. Stüttgen beginnt diese Beschreibung »am rein Materiellen […], [das] sich jeder Erklärung und Brauchbarkeit sperrt«19. Er untersucht den formalen Sinn, die Gestalt der Skulptur.20 Ausgangspunkt der Untersuchung ist der unmittelbare Eindruck der Skulptur. Sie löst beim Betrachter den Eindruck einer »elementare[n] Stimmigkeit«21 aus, gerade weil sie eine funktionale Logik und einen praktischen Zweck besitzt.22 Stüttgen untersucht ausgehend vom Gesamteindruck der Skulptur die Grundmaße und Proportionen mit der Unterstellung, dass deren ursprüngliche Idee in indirekter Weise anwesend ist.23 Er folgt dabei den Assoziatio17 Gert Selle, Olivestone. Bei Beuys in Zürich 1994, in: ders. (Hrsg.), Betrifft Beuys. Annäherung an Gegenwartskunst, Unna 1994, 9–18, hier: 13. 18 Vgl. Stüttgen 1998, 16: »So geht es im folgenden nicht um Interpretation, sondern um die reine Beschreibung des durch die Beschreibung vorgeführten Sachverhalts.« 19 Stüttgen 1998, 10. 20 Vgl. Stüttgen 1998, 20: »Mir kam es darauf an, die Form als solche ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken und die Wirkung auf die Seele, die von der Form ausgeht. Denn es geht in der Kunst nicht um die interpretatorische Suche nach sogenannten ›Ideen‹ oder ›Inhalten‹, die etwa, wie immer behauptet wird, ›hinter der Materie‹ stehen, sondern um die Erscheinung der Materie als eine Idee.« 21 Stüttgen 1998, 16. 22 Vgl. ebd.: »Immerhin bestätigt er [der Sachverhalt, dass Teile bereits für eine Skulptur benutzt wurden] den ersten, unmittelbaren Eindruck, der sehr tief nachwirkt, aber kaum zu Bewußtsein kommt, daß nämlich dieses Ding eine ganz nüchterne, funktionale Logik hat und zu einem praktischen Zweck zusammengebaut worden ist.« 23 Vgl. Stüttgen 1998, 16 f.: »Dazu kommt nur noch, daß die Größe des Gestells, seine spezifische Form und Massenverteilung von der Idee einer Skulptur bestimmt sind, die selbst nicht mehr vorhanden und zu sehen ist, für die aber das hier Sichtbare Ausgangspunkt und Grund war. Dieses indirekte Moment ist permanent anwesend, wie bei einem Skelett, das einmal in einem lebendigen Körper gesteckt hat, oder einem Baugerüst, das entfernt wird, wenn der Bau selbst schließlich steht. […] Von daher ist es auch klar, daß die elementare, wenn vielleicht auch in der Regel gar nicht bewußt, wahrgenommene Wirkung dieses Gebildes eine Maß- und Proportionswirkung ist« (Hervorhebung durch C. F.).

Wahrnehmen als Übung

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nen, die sich aus den Proportionen ergeben: »Ein kleines Mädchen […] fragte spontan: ›Ist das eine Waage?‹.«24 Die Assoziation, dass es sich um eine Waage handeln könnte, wird hervorgerufen durch die Lage der beiden Flaschen, die Mittelachse und die von oben herabgelassene Nadel. Diese auf Symmetrie hin angelegte Gesamtfigur bekommt durch die leicht nach rechts geneigte Flasche eine Spannung, eine Gefährdung der Symmetrie. Stüttgen lenkt die Aufmerksamkeit auf die ununterbrochen zitternde Nadel. Sie richtet das gesamte Gebilde präzise aus: nämlich auf den Erdmittelpunkt.25 So nimmt er verschiedene Richtungen und Bewegungen wahr, die der Skulptur innewohnen. 2.3 Die Realisation Das dritte Element einer Übung ist Realisation, eine Art Gewahrwerden. Stüttgen spricht von einer Veränderung, die dem Betrachter widerfährt: »Das Gesetz einer feinen Beziehung tritt in Funktion: Trete ich nämlich aus meiner eigenen, durch das Ding da und seinen Abstand ausgelösten Erregung heraus und werde ihrer nun von außen im Abstand gewahr, dann tritt mir das Ding auf einmal ganz nahe, wird mir zum Nächsten überhaupt, zum Innersten, zu einer wirklichen Kostbarkeit.«26 Die Realisation markiert den unkalkulierbaren Moment, in dem die Gestalt der Skulptur im Wahrnehmungsvermögen des Betrachters aktualisiert wird, wodurch sich die unerschöpfliche Fülle des Seins selbst manifestiert.27 Die Skulptur wird zum Brennpunkt einer nicht lokalisierbaren Form von Präsenz.28 24 Stüttgen 1998, 17. Vgl. ebd.: »In Erscheinung tritt der Begriff des Gleichgewichts, bewirkt durch die Lage der beiden Flaschen, die Mittelachse und die von oben als Lot herabgelassene, immer leicht vibrierende Nadel. […] Durch diesen asymmetrischen Störeffekt [die leicht nach rechts geneigte Flasche; C. F.] der an und für sich auf Symmetrie hin angelegten Gesamtfigur kommt eine Spannung und ein Gefährdungscharakter zustande.« 25 Vgl. ebd.: »Achten wir jetzt aber auf die feine silberne, ununterbrochen zitternde Nadel, die vom Kopfende des Pfahls frei in den Zwischenraum der aufeinandergebauten Teile der linken und rechten Seite hineinhängt! Diese auf einen blanken, fast abstrakten Strich zusammengezogene, spitze Sonde richtet die unter ihr nach oben aufgestockte, spröde, sperrige Masse der Gesamtstellage präzise aus, und zwar auf den dieser Masse, ja der Stofflichkeit im ganzen eigensten Begriff: das auf den Erdmittelpunkt bezogene Gravitationsprinzip.« 26 Stüttgen 1998, 15 f. 27 Vgl. Stüttgen 1998, 19: »Dieser Umschlag an der äußersten Stufe, wo erst das Wesen erscheint, ist Transsubstantiation.« 28 Vgl. ebd.: »Hervorgerufen wird sie [die Reinigung von den Vergangenheitsvorstellungen; C. F.] durch die unmittelbare Präsenz des Dinges.«

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»Durch diese Grundbestimmungen der Komposition und den gänzlich ausgetrockneten Materialcharakter der Einzelteile drängt sich der Begriff ›Tod‹ auf. Er tritt, indem die Seele dies an dem konkreten Gegenüber realisiert, als ›lebendiger Begriff‹ ins Bewußtsein. Der Tod als lebendiger Begriff!«29 Es ist eine Erfahrung von Präsenz, in der bislang Unterschiedenes vereint erscheint und zwar aufgrund einer Ähnlichkeit. »Die Beuys-Skulptur Kreuzigung bewirkt insofern eine Potenzierung des Materialismus im Sinne des homöopathischen ›similia similibus curantur‹. Sie zieht das Materiewesen restlos auf sich, entzieht es also der unterbewußten seelischen Verfügbarkeit. Für die Seele bedeutet das eine schockartige Entleerung. Diese Bereinigung ist aber die Bedingung für eine Verbindung von Innen und Außen auf höherer Ebene. Jetzt erst spricht das Ding an sich und liefert seinen Begriff dem erlösten Empfangsorgan.«30 Hier reflektiert Stüttgen die Realisation, indem er das homöopathische Ähnlichkeitsprinzip erwähnt: Ähnliches wird mit Ähnlichem behandelt, was sich auf das Materiewesen bezieht. Für Stüttgen wird im Wahrnehmungsakt, der als Realisation gefasst ist, auf einer höheren Ebene Innen und Außen, Sichtbares und Unsichtbares verbunden. Der Modus dieses Entdeckens ist das einsehende Verstehen.31 Im einsehenden Verstehen einer Sache erfährt der oder die Betrachtende innere Sammlung und Harmonie. »Das scheinbar Häßliche wird sichtbar als das Schöne.«32 Die Skulptur schenkt sich der betrachtenden Person in einem »Überfluss« an Präsenz. Die Selbsterzeugung von Begriffen am Gegenstand ist für Stüttgen Liebe und führt zu einer Haltung der Ehrfurcht.

29 Stüttgen 1998, 18. 30 Stüttgen 1998, 19 (Hervorhebungen im Original). 31 Vgl. Josef Pieper, Glück und Kontemplation, hrsg. von Berthold Wald, 2. Auflage, Kevelaer 2015, 57: »Kontemplation ist nicht denkendes, sondern schauendes Erkennen. Sie ist nicht der ratio zugeordnet, nicht der Kraft des schlußfolgernden und beweisenden Denkens, sondern dem intellectus, dem Vermögen des ›einfachen Schaublick‹. Schauen ist die vollkommene Gestalt von Erkennen schlechthin. Schauen nämlich ist die Erkenntnis dessen, was anwesend und gegenwärtig ist – genau ebenso wie das sinnliche Sehen.« 32 Stüttgen 1998, 19.

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2.4 Der Rahmen der Seelenübung Das vierte Element einer Übung ist ihr Rahmen, den Stüttgen nach seiner Seelenübung im Vortrag bedenkt. Die Übung hat für Stüttgen zum einen eine Art ideologiekritische Kontrollinstanz, nämlich »für alle, die schon etwas zu wissen glauben«33. Zum anderen ist die »Kreuzigung« für ihn ein Initiationsinstrument für die »soziale Skulptur« (Beuys), die im eigenen Denken, aus dem Nichts geschaffen, lebendig wird. Die »Kreuzigung« bildet für Stüttgen nichts ab, sondern sie wird von ihm als Kraftwerk verstanden. Zugleich wird der »Kreuzigung« eine Art Appellfunktion zugesprochen: »Hier nämlich, in dieser Kreuzigung, wird nicht – mehr oder weniger gelungen – eine Kreuzigung dargestellt oder abgebildet, sondern als ganz realer Vorgang provoziert, als Aktion.«34 Es geht also für Stüttgen wie für Beuys nicht um eine abstrakte Theorie, sondern um eine Vorgehensweise. Stüttgen deutet die Reaktualisierung der sozialen Skulptur in der »Kreuzigung« als »die Realisierung des Christentums«35.

3 Phänomenologische Perspektiven: Ereignis, Leib und Habitus Auf der Grundlage des Beispiels »Stüttgen« möchte ich Wahrnehmung phänomenologisch untersuchen und drei Perspektiven skizzieren, die für eine Religionspädagogik und ihr Selbstverständnis stilbildend sind. Phänomenologie verstehe ich als Wissenschaft der Wahrnehmung, in der es darum geht, die Struktur von Wahrnehmung offenzulegen.36 Phänomenologische Zugänge reflektieren die Wahrnehmung zweiter Ordnung: die Wahrnehmung dessen, wie eine sinnenhafte Gegebenheit von jemandem wahrgenommen wird.37 Damit wird der Blick – im Sinne einer Epoché – umgelenkt: von dem, was sich zeigt, auf die Art und Weise, wie sich etwas für jemanden als etwas zeigt.

33 34 35 36

Stüttgen 1998, 7. Stüttgen 1998, 20 (Hervorhebung im Original). Stüttgen 1998, 21. Für eine ausführliche vgl. Thomas Fuchs, Leib, Raum, Person. Entwurf einer phänomenologischen Anthropologie, 2. Auflage, Stuttgart 1999. 37 Vgl. Fuchs 1999, 26: »Die Grundvoraussetzung, die den Phänomenologen leitet, ist dabei die, daß wir mit jeder Erfahrung mehr erfahren als nur ein gegenständliches Faktum: nämlich die Seinsweise des Begegnenden ebenso wie die Struktur unserer Erfahrung selbst, die es freizulegen gilt« (Hervorhebung im Original).

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Die Erschließung der Beuys’schen Perspektive auf die Welt durch Stüttgen erscheint als eine Perspektive im Entstehen. Stüttgen stellt nichts dar, sondern versucht die Perspektive, die sich in der Skulptur manifestiert, nachzuahmen, aber eben nicht zu kopieren. Diesen Blickwechsel beschreibt der Phänomenologe Bernhard Waldenfels so: »Innerhalb der Phänomenologie entspricht diese doppelte Sichtweise der Abkehr von der direkten, ›natürlichen‹ Blickrichtung, die zunächst in der Welt der Dinge befangen ist. Auch diese Abkehr führt nicht zu einer anderen Welt, etwa einer Welt bloßer Formen oder bloßer Erlebnisse, sondern sie bewirkt eine andere Einstellung zur Welt; diese unsere Welt erscheint als andere, nicht mehr als fertig bestehende Welt, sondern als Welt im Entstehen.«38 Das entdeckende Beschreiben der Perspektive von Beuys lässt sich nicht in einer Beschreibung oder Deutung der Skulptur fixieren, darauf weist Stüttgen selbst mehrfach hin.39 Denn im Bereich der Sinnbildung kommt es »zu einer Verdopplung, infolge deren das jeweils stattfindende Ereignis sich von den wiederholbaren Sinngehalten und sinnlichen Gestalten absondert«40. Das Bewusstsein wird erworben, um den Preis der reflexiven Verflüssigung des Gewordenen. Maurice Merleau-Ponty formuliert die Differenz zwischen Wahrnehmungsakt und Thematisierung: »Vor dem Ausdruck gibt es nur ein unbestimmtes Fieber und erst das fertige und verstandene Werk wird zeigen, daß dort etwas war und nicht nichts.«41 Auf der Ebene der Reflexion der Wahrnehmung entsteht dadurch eine Schwierigkeit, die der Religionspädagoge Tobias Kaspari sehr präzise beschreibt:

38 Waldenfels, 1999, 104 (Hervorhebungen im Original). 39 Vgl. Käte Meyer-Drawe, Vom anderen lernen. Phänomenologische Betrachtungen in der Päda­gogik [1996], in: Malte Brinkmann (Hrsg.), Phänomenologische Erziehungswissenschaft von ihren Anfängen bis heute. Eine Anthologie (Phänomenologische Erziehungswissenschaft; Bd. 4), Wiesbaden 2019, 363–378, hier: 368: »Im Unterschied zu Theorien, die Lernen nur als Resultat thematisieren, betonen phänomenologische Analysen die konflikthafte Beziehung von Vollzug und Thematisierung und versuchen, das, was sich am Lernen dem expliziten Wissen gegenüber sperrig verhält, indirekt zu berücksichtigen, indem sie die Differenz von Thematisierung und Vollzug im Gedächtnis behalten.« 40 Waldenfels 2010, 15 (Hervorhebungen im Original). 41 Maurice Merleau-Ponty, Der Zweifel Cézannes, in: Christian Bermes & Maurice MerleauPonty (Hrsg.), Das Auge und der Geist. Philosophische Essays (Philosophische Bibliothek; Bd. 530), Hamburg 2003, 3–21, hier: 17. Wahrnehmen als Übung

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»Die Wahrnehmung verweist nicht auf ein anderes, sondern in ihr erscheint etwas Uneinholbares. Die Wahrnehmung versucht die Ambivalenz des sich ihr zeigenden Phänomens nicht zugunsten einer reflexiven Deutung zu überspringen, weil Wahrnehmung, wie der Leib, selbst ein Übergang ist. Ein Übergang ist nicht semiotisch als Summe vielfacher Deutungen zu verstehen, sondern das ambivalente Zugleich-da-Sein vielfacher Erscheinungsweisen. Wird Wahrnehmung hingegen als Deutung missverstanden, dann ist der Leib nicht mehr das Medium erfahrener Präsenz, sondern ein empirisch reduziertes Mittel, dessen gesammelte Daten kognitiv zusammengesetzt und plausibilisiert werden müssen. Das Paradigma der Deutung spaltet das deutende Subjekt vom erfahrenden Leib ab und gibt den Leib als Konstrukt des Bewusstseins aus.«42 Wahrnehmung ist dann eine Erscheinungsweise des Phänomens und keine reflexive Deutung desselben. Am Beispiel von Stüttgen wird erkennbar, wie der Leib als Medium der Wahrnehmung rehabilitiert werden kann. Denn Stüttgen beschreibt Phänomene des Stimmungsraums und tiefere Schichten des Erlebens, also Gefühle und Werte. Sie lassen sich intuitiv erleben, sie sind mittelbar – eben leiblich – erschlossen. Doch sie lassen sich niemals »dingfest« machen und reflexiv vollständig einholen. Die intuitive Wahrnehmung der Werte ist damit ein eigener Erkenntnismodus, der sich nicht in einen reflexiv-objektivierenden Erkenntnismodus auflösen lasst. Denn der Erkenntnismodus qua Leib ist der Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt wie auch zwischen Psychischem und Physischem vorgeordnet.43 Das deckt sich mit der phänomenologisch zentralen Unterscheidung von Körper und Leib. Der Leib ist nicht im Raum, sondern im Raum ist der Körper als vergegenständlichte Leiberfahrung. Der Leib ist nicht ein Ort im Raum, sondern er verräumlicht sich und erzeugt selbst einen Raum.44 So ist der Leib als Hintergrund aller Wahrnehmung gedacht. Er »vermittelt eine ursprüngliche seelische Partizipation an der Welt«45.

42 Tobias Kaspari, Das Eigene und das Fremde. Phänomenologische Grundlegung evangelischer Religionsdidaktik (Arbeiten zur praktischen Theologie; Bd. 44), Leipzig 2010, 299 (Hervorhebungen im Original). 43 Vgl. Johannes Hoff, Verteidigung des Heiligen. Anthropologie der digitalen Transformation, Freiburg i. Br. 2021, 341–356. 44 Vgl. Fuchs 1999, 91: »Der Leib ist nicht ›im Raum‹, sondern er verräumlicht sich fortwährend und erzeugt selbst einen Raum« (Hervorhebung im Original). 45 Fuchs 1999, 21.

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Für Thomas Fuchs stiftet die leibliche Resonanz eine Wesenserkenntnis, die er – wie auch Stüttgen – mit der homöopathischen Formel analysiert »Der Leib erfährt an ihr [der Wahrnehmung; C. F.] das Andere, aber er erfährt es an sich selbst, indem es ihn berührt und verändert; und er erfährt es in seiner Verwandtschaft zu sich, als das Andere seiner selbst. Der Leib ist gleichsam das homöopathische Simile zum Stoff der Welt. Er berührt, hört und sieht die Dinge, indem er sie, verwandt mit ihnen, in sich widerklingen läßt und so an ihnen partizipiert.«46 Fuchs verwendet – wie Stüttgen auch – den Begriff der Ähnlichkeit. »Ähnlich­ keit ist die Weise der Erfahrung, in der die Welt für uns zu einer Einheit wird.«47 Aus der leibvermittelten Wahrnehmung entspringt »Sinn«.48 Das Bewusstsein erwächst also aus einem Erleben, das sich eben als Modus leibvermittelter Wahrnehmung reflektieren lässt, aber in seinem Vollzug jeder begrifflichen Reflexion vorgeordnet ist. Damit ist angedeutet, was zum Erlernen der Wahrnehmung auch gehört. Noch einmal Thomas Fuchs: »Zum Erlernen der Wahrnehmung gehört für den Menschen auch, ein Gefühl für Charakter, Stil und Eigentümlichkeit eines Gegenstandes oder einer Situation zu entwickeln; es bedeutet, eine sensiblere und nuanciertere Weise der Wirklichkeitserfassung auszubilden. […] Man entwickelt einen ›Sinn für etwas‹, einen ästhetischen ›Geschmack‹ (für gute Musik, einen guten Wein), aber auch einen Reinlichkeits-, Ordnungs-, oder Gerechtigkeits›sinn‹. Hierher gehört auch das ›Takt-‹ oder ›Feingefühl‹ für soziale Umgangsformen, der ›siebte Sinn‹ als atmosphärische Wahrnehmung oder die ›Intuition‹ als ganzheitliche, gestalthafte Erfassung einer Situation. ›Bildung‹ bedeutet insofern wesentlich Ausbildung der Leiblichkeit und der Organe des ästhetischen, wissenschaftlichen oder moralischen Wahrnehmens.«49

46 Fuchs 1999, 172 (Hervorhebungen im Original). 47 Fuchs 1999, 204. 48 Vgl. Fuchs 1999, 172: »Das pathische Moment der Wahrnehmung erfaßt als gemeinsame Grundschicht der Sinne ihre intermodalen Qualitäten (Synästhesien, Gestaltverläufe, Intensitätskonturen, Rhythmus, Ausdruck) und damit eine Ähnlichkeit des Stils, die quer zur dinglichen Einteilung der Wirklichkeit liegt. V. [Viktor] v. Weizäcker hat vom ›Prinzip einer allge­ meinen Synästhesie‹ gesprochen: ›Danach gäbe es eigentlich gar nicht die Sinne, sondern nur eine Sinnlichkeit, einen Sinn.‹« (Hervorhebung im Original). 49 Fuchs 1999, 329 f.

Wahrnehmen als Übung

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Am Beispiel »Stüttgen« habe ich versucht zu zeigen, wie Wahrnehmen als Übung verstanden werden kann und dass Übung auf den Leib als Medium der Wahrnehmung angewiesen ist.50 Durch die wiederholenden Wahrnehmungsakte (im Sinne einer nichtidentischen Wiederholung) bildet sich »mit der Zeit« ein Vermögen beziehungsweise ein Können.51 Der Träger dieses Vermögens ist der Habitus. Die Bildung des Könnens setzt eine Veränderung der Haltung des Menschen (habitus) voraus. Diese Reifung wird ethisch als Tugend verstanden. Denn »›Tugend‹ meint […] eine seinsmäßige Reifung der Person. Der tugendhafte Mensch ›ist‹ derart, dass er aus innerster Neigung, durch sein Tun das Gute verwirklicht.«52 Der oder die Übende geht gelegentlich selbstvergessen in der Tätigkeit auf und wird im Vollzug eins mit dem Gegenstand.53 Dieser Augenblick »ursprünglichen Verstehens muss sich immer wieder neu erschließen«54.

50 Vgl. Silke Leonhard, Leiblich lernen und lehren. Ein religionsdidaktischer Diskurs (Praktische Theologie heute; Bd. 79), Stuttgart 2006. 51 Vgl. Otto F. Bollnow, Übung als Weg des Menschen [1974], in: Brinkmann (Hrsg.) 2019, 197– 212, hier: 201 f. 52 William J. Hoye, Tugenden. Was sie wert sind, warum wir sie brauchen, Ostfildern 2010, 12. 53 Vgl. Bollnow 2019, 208 f. 54 Hoff 2021, 187.

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»Du sollst dir (k)ein Bildnis machen!« Kunsttherapeutische Impulse für seel­sorgliche Praxis Beate Josten-Sell

In der Klasse 6 eines Gymnasiums forderte ich im Religionsunterricht die Schülerinnen und Schüler dazu auf, ihre Vorstellung von Gott bildnerisch zu Papier zu bringen, und erhielt prompt von den Aufgeweckten unter ihnen eine schlau begründete Verweigerung: »›Du sollst Dir kein Bildnis machen!‹ heißt es in der Bibel.« Steht das Bilderverbot einer Glaubensäußerung mit bildnerischen Mitteln tatsächlich entgegen? Der exegetische Befund hierzu ist eindeutig. Das Bilderverbot flankiert das Fremdgötterverbot und unterstützt die Durchsetzung von Ausschließlichkeitsanspruch und monotheistischem Bekenntnis des JHWHGlaubens.1 Einer Formulierung des eigenen Glaubens mit künstlerischen Mitteln steht es keinesfalls entgegen. Und dennoch ist die Verbindung zwischen Kunst und Kirche seit Anbeginn einerseits spannungsgeladen und distanziert und andererseits selbstverständlich und eng. Wird im ersten christlichen Jahrtausend die spannungsvolle Seite bestimmt durch die am alttestamentlichen Bilderverbot orientierte Frage der Darstellbarkeit Gottes in der Gestalt des in Christus inkarnierten Gottes2, machen sich Spannungen gegenwärtig daran fest, dass die Kirche ihre Relevanz als selbstverständliche Auftraggeberin verloren hat und damit nicht mehr den Gegenstand künstlerischen Arbeitens entscheidend bestimmt.3 Doch ebenso selbstverständlich und fruchtbar war und ist das Zusammenspiel von Kunst und Religion, von Kunst und Kirche. Über Jahrhunderte hinweg war die Kirche als Institution maßgebliche Auftraggeberin für Kunstschaffende. Schließlich und nicht zuletzt ist der Kirchenraum als der zentrale Versammlungsort der Gemeinde selbst ein von Menschen geschaffenes

1 Vgl. Bernd Janowski, Bilderverbot, in: Angelika Berlejung & Christian Frevel (Hrsg.), Handbuch theologischer Grundbegriffe zum Alten und Neuen Testament, Darmstadt 2006, 116– 118, hier: 116 f. 2 Vgl. Ludger Schwienhorst-Schönberger, Das biblische Bilderverbot und die bildliche Darstellung Gottes – ein Widerspruch?, in: Thomas Möllenbeck & Ludger Schulte (Hrsg.), Präsenz. Zum Verhältnis von Kunst und Spiritualität, Münster 2019, 13–30, hier: 19–21. 3 Als ein Beispiel nenne ich den inzwischen beigelegten, im Jahr 2007 aber öffentlich geführten Streit im Erzbistum Köln um den Einbau des von Gerhard Richter entworfenen Glasfensters im südlichen Querhaus des Kölner Doms.

»Du sollst dir (k)ein Bildnis machen!«

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architektonisches Kunstwerk und damit erlebbarer Ort der Untrennbarkeit von Glaubensvollzug und Kunst. Im Rahmen dieses Aufsatzes sollen nicht die Kunstwerke selbst als die äußerlich sichtbaren Dokumente dieser untrennbaren Verbindung im Fokus stehen. Vielmehr soll es um die Bedeutung der kreativen Prozesse des Schaffens wie auch des Rezipierens von Kunst für die Glaubenskommunikation gehen. Einige Überlegungen aus dem Umfeld von Kunsttherapie und Kunstphilosophie sollen für das Experimentieren mit künstlerischen Mitteln und Methoden in der Pastoral werben.

1 Über die bildhafte Darstellung Gottes und die Rede von Gott in sprachlichen Bildern Laut exegetischem Befund markiert das Bilderverbot im Rahmen der theologischen Entwicklung des alttestamentlichen Monotheismus die Kehrseite des Fremdgötterverbots. Der Gott Israels hebt sich ab von den Göttern der umliegenden Völker. Er fordert seine alleinige Verehrung, die ein Bilderverbot absichert, das einer Verwechslung JHWHs mit den Göttern des Umraums zuvorkommt.4 Die Annahme, das Bilderverbot reflektiere in philosophischem Sinne die Nichtdarstellbarkeit Gottes, verliert damit ihre Plausibilität.5 Dtn 5,8 verbietet nicht die Darstellung Gottes im Kunstwerk, sondern die anbetende Verehrung eines solchen Bildnisses.6 Die Bibel verbietet die Anbetung Gottes im Dinglichen und dokumentiert zugleich mit sprachlichen Mitteln die immaterielle Präsenz des unsichtbaren Gottes in der Welt. Um diese Präsenz Gottes ins Wort zu bringen, bedient sich die Bibel sprachlicher Bilder. Unmittelbar anthropomorphe Bilder der Präsenz Gottes7 stehen neben solchen Szenen, die darauf abstellen, 4

Vgl. Reinhard G. Kratz, Bild, in: Angelika Berlejung & Christian Frevel (Hgg.), Handbuch theologischer Grundbegriffe zum Alten und Neuen Testament, Darmstadt 2006, 114–116, hier: 116. 5 Vgl. Schwienhorst-Schönberger 2019, 17. 6 Der Verehrung der Götter im Bild, wie sie im polytheistischen Umfeld Israels ausgeübt wurde, ging dabei durchaus mit einer theologischen Reflexion einher. Schwienhorst-Schönberger schreibt: »Die Götter und ihre Bilder wurden nicht völlig miteinander identifiziert, zumindest dort nicht, wo sich Anfänge eines theologischen Nachdenkens zeigten. Gleichwohl waren die Götter in ihren Bildern gegenwärtig. Die Götterbilder waren mehr als ein Zeichen, sie waren eine Art Sakrament, eine wirkmächtige Vergegenwärtigung des Göttlichen in der Welt« (Schwienhorst-Schönberger 2019, 17). 7 In Gen 3,8 hören Adam und Eva, dass Gott im Garten Eden umhergeht. Es ist nicht davon die Rede, dass sie ihn auch sehen. Und dennoch entsteht vor dem inneren Auge der Lesenden das Bild eines Gottes, der im Garten spazieren geht.

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dass Gott auch in seiner Präsenz der Nicht-Sichtbare bleibt.8 Die biblisch-theologische Rede von Gott bewegt sich im Spannungsfeld des anthropomorph Konkreten einerseits und des der sinnlichen Wahrnehmung Entzogenen andererseits.9 Biblische Sprache ist Symbolsprache. Sie kommt dem Menschen in seinem Bedürfnis nach Wiedererkennen von Vertrautem entgegen und mutet ihm zugleich das Verwirrende, Verstörende, Ungewisse zu. Sie realisiert das laut Heribert Wahl für symbolische Erfahrung konstitutive Spannungsfeld von Passung und Differenz.10 Die Begriffe von Passung und Differenz in der symbolischen Erfahrung geben in Verbindung mit den Überlegungen des Kunstphilosophen und Kunsthistorikers Gottfried Boehm einige wertvolle Hinweise für das Potenzial des künstlerischen Ausdrucks in der Glaubenskommunikation. In der Verbindung der beiden Autoren Wahl und Boehm wird deutlich (siehe unten in den Abschnitten 3 und 4), dass es gerade die Verborgenheit Gottes ist, die wir im Bild zum Ausdruck bringen oder erfahren können, was die zweifache Lesbarkeit des Titels dieses Aufsatzes aus pastoralpsychologischer Per­ spektive begründet.

2 Wo sind in der Kunsttherapie Impulse für pastorale Praxis zu suchen? Seit Anbeginn seiner Geschichte scheint der Mensch ein Künstler zu sein. Dies belegen die archäologischen Funde von Höhlenmalereien. Hans Jonas spricht gar vom Homo pictor und sieht in der Fähigkeit zur bildnerischen Gestaltung das den Menschen vom Tier unterscheidende Merkmal.11 Die Kunsttherapie beobachtet und nutzt die dem Menschen eigene Schaffenskraft, die beim Künst-

8 Der Sehnsucht des Mose, die Herrlichkeit Gottes sehen zu wollen, gibt Gott statt, und gleichzeitig ist es Gott selbst, der ihn vor der Unerträglichkeit dieses Anblicks schützt (Ex 33,18–23). 9 Im Datum der Inkarnation ist dieses Spannungsfeld in die Offenbarung des christlichen Gottes unmittelbar hineingeschrieben, was nicht zuletzt das Ringen der ersten christlichen Konzilien um die angemessene Formulierung der Gleichzeitigkeit der göttlichen und menschlichen Natur Jesu Christi bezeugt. 10 Vgl. Heribert Wahl, Symbolische Erfahrung: umgestaltete Beziehungserfahrung. Skizze einer psychoanalytisch fundierten Symboltheorie, in: Wege zum Menschen 51 (1999) 447–462, hier: 449 f. 11 »Die Stufe des Menschen ist die Stufe der Möglichkeiten, die angezeigt […] sind durch das Bildvermögen: die Stufe einer nichtanimalischen Mittelbarkeit der Objektbeziehung und eines Abstandes von der Wirklichkeit, der durch jene Mittelbarkeit zugleich unterhalten und überbrückt wird« (Hans Jonas, Homo pictor: Von der Freiheit des Bildens, in: Gottfried Boehm (Hrsg.), Was ist ein Bild?, München 1994, 105–124, hier: 123 f.).

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ler »oft an Grenzen der existenziellen Dringlichkeit heranzureichen scheint«12, deren Ursache jedoch nicht vollständig aufklärbar ist.13 Kunsttherapie initiiert und unterstützt psychotherapeutisch wirksame Entwicklungsprozesse, indem sie Menschen zur Produktion eigener oder zur reflektierenden Betrachtung vorhandener Kunstwerke anregt. Sie gründet auf der Annahme, dass sich sowohl beim produktiven bildnerischen Handeln als auch bei der reflektierten Rezeption von Kunst die inneren Bilder und (psychischen) Prozesse einer Person externalisieren und positiv beeinflussen lassen. 2.1 Die wertschätzende Betrachtung von »Laienkunst« in der Kunsttherapie Ausdruck der Persönlichkeit ist ein Kunstwerk unabhängig vom künstlerischen Bildungsgrad der jeweiligen Person. Aus diesem Grund steht die Kunsttherapie ein für die Wertschätzung des künstlerischen Ausdrucks eines jeden Menschen, sei es sogenannte Laienkunst, seien es die Schöpfungen von Kunstschaffenden, die im öffentlichen Kunstbetrieb Anerkennung finden. Die vom Arzt und Kunsthistoriker Hans Prinzhorn zusammengetragene und nach ihm benannte Sammlung der Werke psychisch Kranker steht als museales Denkmal für diese Wertschätzung. Ihre dramatische Rezeptionsgeschichte, die von der Anerkennung des künstlerischen Ausdrucks von Psychiatriepatient*innen über den Missbrauch der Sammlung für propagandistische Zwecke gegen die sogenannte »entartete Kunst« durch die Nationalsozialisten bis hin zur heutigen musealen Würdigung unter dem Dach der Klinik für Allgemeine Psychiatrie des Universitätsklinikums Heidelberg reicht, legt Zeugnis ab von der aufrüttelnden, bewegenden Macht von Kunst. Der Kunsttheoretiker und Kunsthistoriker Gottfried Boehm weist den Werken der Sammlung Prinzhorn aufgrund ihrer Ausdrucksstärke ihre museumswürdige Bedeutung zu. Es ist die Handschrift der Malenden, die uns in den Bildern und Zeichnungen unverwechselbar entgegentritt.

12 Karin Dannecker, Warum Kunst? Über das Bedürfnis, Kunst zu schaffen, in: dies. & Uwe Herrmann (Hrsg.), Warum Kunst? Über das Bedürfnis, Kunst zu schaffen, Berlin 2017, 1–8, hier: 2. 13 Karin Dannecker schreibt: »Was den Menschen bewegt, Kunst zu schaffen, bleibt eine anregende, vermutlich nie vollständig zu beantwortende Frage« (Dannecker 2017, 2).

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»Man lernt […] Handschriften unterscheiden. Das heisst, dass das jeweils Dargestellte: eine Figur, ein Zeichen, ein Ding, völlig mit einer Ausdrucksart verschmilzt. Die Verschmelzungsleistung macht die Bilder unverwechselbar, und sie bedingt, dass wir etwas sehen, was wir so und sonst noch nicht gesehen haben.«14 Um diese Verschmelzung von Ausdruckskraft und Dargestelltem ringt der künstlerische Prozess. In diesem Ringen ereignet sich die eigentümliche Erfahrung von Verwirrung und Klärung, die in sich bereits einen Wert darstellt und sich nicht erst durch die Fertigstellung eines künstlerischen »Produkts« rechtfertigt. Im Gegenteil: Dieses Ringen ist komprimiertes Leben und entfaltet als solches sein therapeutisches Potenzial. Denn es verlangt von Kunstschaffenden die Bereitschaft, sich auf das immer wieder neue und unkalkulierbare Wechselspiel von Gelingen und Scheitern, Frage und Antwort, Suchen und Finden, Leere und Fülle, Verzicht und Geschenk einzulassen. 2.2 Über das Schöpferische in der Rezeption von Kunst Doch nicht nur die Produktion, sondern auch die Rezeption von Kunst stellt einen individuell schöpferischen Akt dar. Vor diesem Hintergrund verstehe ich die wirkungsgeschichtliche Bedeutung und bleibende Sprengkraft des Ausspruchs »Jeder Mensch ist ein Künstler« eines Joseph Beuys. Dieser Satz entzieht dem Kunstbetrieb jede festschreibende Kriteriologie zur Definition von Kunst. Damit sind keineswegs die Verschiedenheiten kreativer Äußerungen bis zur Beliebigkeit nivelliert. Die Sprengkraft des Satzes »Jeder Mensch ist ein Künstler« liegt darin, die Rezeption von Kunst als kreativen Akt zu manifestieren. Ohne den absichernden Rückhalt einer Kriteriologie sind Kunstrezipient*innen zur undelegierbaren persönlichen Stellungnahme herausgefordert. Dies lässt allein die Begegnung zwischen Bildwerk und Betrachtenden als den Ort gelten, an dem sich die Bedeutsamkeit eines Kunstwerks erweist. Die Pointe des Beuysschen Ausspruchs sehe ich darin, dass er die Rezipient*innen von Kunst in ihrer eigenen kreativen Verantwortung ernst nimmt.15 14 Gottfried Boehm, Die Kraft der Bilder. Die Kunst von »Geisteskranken« und der Bilddiskurs, in: ders., Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens, 5. Auflage, Berlin 2017, 229–242, hier: 238 f. 15 Über den schöpferischen Akt der Rezeption schreibt Søren Kierkegaard in seiner »Abschließenden unwissenschaftlichen Nachschrift zu den Philosophischen Brocken«. Vgl. hierzu Beate Josten-Sell, Was fängt der Glaube mit dem Zweifel an? Zur pastoralpsychologischen Rezeption der Schrift »Die Krankheit zum Tode« von Søren Kierkegaard (Zeitzeichen; Bd. 49),

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2.3 Künstlerisches Handeln als Symbolhandlung Während das Warum von Kunst letztlich im Dunkeln zu verbleiben scheint, hält die Kunsttherapie für das Was mit dem Begriff des Symbols einen Minimalkonsens fest: »Unter dem Terminus Symbol können wir den gemeinsamen Nenner festhalten, der die zentralen Fähigkeiten sowohl der menschlichen Psyche als auch der Kunst zu verbinden in der Lage ist.«16 In der künstlerisch darstellenden Deutung der geistigen und physischen Welt greift der Mensch gestaltend in diese Welt ein. Im künstlerischen Schaffen nimmt der Mensch daher den ihm von Gott erteilten Auftrag zur Mitwirkung an der göttlichen Schöpfung wahr. Dieses schöpferische Tun in der Logik des Symbolbegriffs Heribert Wahls zu verstehen, eröffnet weitere Perspektiven für die Relevanz kunsttherapeutischen Denkens in pastoralpraktischer Absicht.

3 Künstlerische Erfahrung als symbolische Erfahrung im Zusammenspiel von Passung und Differenz 3.1 Die Momente von Passung und Differenz in der symbolischen Erfahrung (Heribert Wahl) Passung und Differenz versteht der Pastoralpsychologe Heribert Wahl in seinem psychoanalytisch fundierten Symbolbegriff als die konstitutiven Momente symbolischer Erfahrung.17 Gelingende symbolische Erfahrung setzt ein Mindestmaß an Übereinstimmung, Konsens, eben an Passung zwischen den interagierenden Personen, dem Symbolzeichen und der kommunikativen Absicht voraus.18 Das Moment der Differenz steht dafür, dass das Symbolzeichen das Bezeichnete niemals stellvertretend erfasst oder den intendierten Inhalt zur Gänze erfüllt. Nur Ostfildern 2021, 68–77. Was dort in Bezug auf die Rezeption der Texte Kierkegaards und seine von ihm selbst kunstvoll konstruierte Rolle als Autor formuliert ist, gilt in gleichem Maße für bildnerische Werke: Rezeption (Kierkegaard spricht von Aneignung) ist ein unhintergehbar individueller Akt, der die existenzielle Relevanz des Rezipierten für das Individuum begründet. 16 Karin Dannecker, Psyche und Ästhetik. Die Transformationen der Kunsttherapie, Berlin 2006, 5. 17 Vgl. Wahl 1999, 449 f. 18 Laut Wahl »gipfelt jede symbolische Erfahrung in der Begegnung mit einem potentiellen Symbol-Zeichen, die mir eine spezifische Erfahrung tiefen Verbundenseins mit dem Gehalt dieses Zeichens eröffnet. Wenn dieser mit dem aktuellen Selbstobjekt-Bedürfnis des Subjekts ›zusammenstimmt‹ und ›paßt‹, wird eine neue Selbstobjekterfahrung möglich und auch verwirklicht – jetzt auf einer transformierten und differenzierten symbolischen Ebene, auf der ein ursprüngliches, emotionales ›fitting together‹ sinnlich wiedererlebt werden kann« (Wahl 1999, 449).

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dann, wenn die an der Symbolhandlung Beteiligten um diese Leerstelle wissen, die notwendig zwischen dem Zeichen und dem Bezeichneten klafft, wenn sie diese Leerstelle offenhalten und der Versuchung widerstehen, sie in der Suche nach Absicherung auszufüllen, gelingt symbolische Erfahrung.19 Dies gilt für symbolische Erfahrung in jeglicher interpersoneller Interaktion, umso mehr aber noch in der Glaubenskommunikation, die einem Gegenstand gewidmet ist, der sich per se der Darstellbarkeit und unmittelbaren Vermittelbarkeit entzieht. 3.2 Passung und Differenz in der künstlerischen (Inter-)Aktion In welcher Weise kann im künstlerischen Erleben – sei es in der Rezeption, sei es in der Produktion von Kunst – von Passung und Differenz die Rede sein? Kunstschaffende machen tagtäglich die paradoxe Erfahrung von Passung und Differenz. Die Suche nach Passung bedeutet für sie die Suche nach der Übereinstimmung des Geschaffenen mit dem künstlerischen Initialimpuls des Werks sowie der eigenen Handschrift. Dabei ereignet sich diese Suche unter Bedingungen, die von der Eigendynamik des verwendeten Materials bestimmt sind. Die Arbeit von Kunstschaffenden besteht darin, ihren künstlerischen Initialimpuls in Material umzusetzen, sodass sie von ihrem Werk sagen können: »Es passt«. Auch in der Rezeption von Kunst lässt sich das Moment der Passung ausmachen. Von Passung können wir immer dann sprechen, wenn ein Kunstwerk etwas in uns auslöst. Wir fühlen uns angesprochen, wenn es emotional aktiviert: berührend, bewegend, tröstend, aufrüttelnd, erschütternd, aber auch provozierend oder verärgernd. Zugleich kann ein*e Künstler*in ein Werk nur unter der Bedingung der Toleranz von Differenz ins Leben entlassen. Auch um den Erhalt der Differenz ringt der künstlerische Prozess.20 Ein Kunstwerk hat nie den Charakter der direkten Mitteilung einer Botschaft. Kunst folgt der Logik der indirekten Mitteilung, die ihren Gehalt in der Interaktion von Schaffenden, Werk und Rezipient*innen entfaltet.21

19 Als Diabol bezeichnet Wahl die vermeintlich symbolische Verwendung eines Zeichens, die die Differenz zwischen dem Gehalt, auf den es verweisen soll, und seiner Zeichengestalt nicht anerkennt, wenn sie vielmehr vorgibt, das Bezeichnete gehe im Zeichen selbst auf. Vgl. Wahl 1999, 454 f. 20 Möglicherweise liegt hier ein Kriterium für die Unterscheidung zwischen Kunst und Kitsch. Als Kitsch wären dann solche Werke zu bezeichnen, die eine Differenz zwischen Intention und Werk nicht aufrechterhalten, die vielmehr auf eine unmittelbare und berechenbare Wirkung abzielen. 21 Vgl. oben Anm. 15.

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Das künstlerische Objekt ist keinesfalls ein in absichtsgelenktem Handeln entstandenes Produkt, sondern Teil des künstlerischen Prozesses, der um Passung und Differenz ringt. Für den Künstler oder die Künstlerin ist es einmal Bilanz, ein anderes Mal neuer Impuls, Probehandeln oder Formulierung einer neuen Frage. Die Möglichkeiten sind so unendlich, wie es die Möglichkeiten des Lebens sind. Dies gilt für die Kunstschaffenden selbst wie auch für die Rezipient*innen von Kunst. Das Kunstwerk wird eine Rezeptionsgeschichte erfahren, die von dem oder der Kunstschaffenden nicht mehr bestimmt werden kann. Nun sind es die Betrachtenden, die die Geschichte des Werks in der je eigenen Weise der Betrachtung und Resonanz fortschreiben. Hier schließt sich der Kreis zu Joseph Beuys. 3.3 Künstlerisch-symbolische Erfahrung in der Glaubenskommunikation Der künstlerische Ausdruck des eigenen Glaubens steht nicht nur ausgewiesenen Künstlerinnen und Künstlern offen, sondern jedem Menschen, der kreativen Schaffensdrang in sich verspürt und ihn in Bezug auf seinen Glauben entdecken möchte. An dieser Stelle komme ich noch einmal auf Boehm zurück, der die Bilder der Prinzhorn-Sammlung als solche bezeichnet, »die sich ja gar nicht darum scheren, ob wir sie als Kunst ansprechen oder nicht. Wenn uns das 20. Jahrhundert diesbezüglich eine Lehre hinterlassen hat, dann die, dass die Grenzen der Kunst auf nicht vorherzusehende Weise verschiebbar sind. Die Frage nach einer quantitativen Definition – Ist das (noch) Kunst? – hat sich damit erledigt. Sie kehrt als qualitative Frage zurück: Was setzt Bildwerke instand, uns auf diese oder jene Weise, so oder so zu überzeugen?«22 Im Bild tritt der Glaube des oder der anderen unmittelbar gegenüber und gewinnt in der Intimität des Bildes eine besondere Strahlkraft.23 Dies gilt sowohl dann, wenn das seelsorgliche Format die gleichzeitige Präsenz der Gestaltenden vorsieht, als auch dann, wenn Seelsorge die besondere Chance des künstlerischen Ausdrucks nutzt, räumliche oder zeitliche Distanzen zu überbrücken.24 22 Boehm 2017, 230 (Hervorhebungen im Original). 23 Im seelsorglichen Kontext wird diese Überzeugungskraft gegebenenfalls unterstützt durch den sprachlich geführten Dialog der Gestaltenden. 24 Beispielsweise in der Gefängnisseelsorge oder in der Seelsorge im Zusammenhang von Sterben und Tod zeigt sich das Potenzial der Kunst zur Überwindung zeitlicher und räumlicher Distanz in besonderer Weise. »Knastkunst« überwindet die Mauern einer Haftanstalt, sodass die

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Ein weiteres Moment, das laut Boehm das Bildnerische ausmacht, weist die Kunst als geeignetes Medium der Glaubenskommunikation in besonderer Weise aus. So ist es seiner Auffassung nach die »Bildkraft in uns selbst«25, die uns Bilder schaffen und verstehen lässt, deren Eigenart es ist, Widersprüchliches zusammenzubringen: »Sie bringen auf eine evidente Weise zusammen, was sich sonst nur auszuschliessen scheint: Greifbares und Ungreifbares, Nahes und Fernes, Inneres und Äußeres, Phantastisches und Reales, Abgesondertes und Verbindendes, high and low. Noch einmal: Bilder sind, wenn sie gelingen, plausible Synthesen dessen, was sich einer normalen Ja-Nein-Logik entzieht.«26 Damit ist das Bild vom Verdacht der festschreibenden Abbildung befreit und als vorzügliches Medium einer Glaubenskommunikation belegt, die Spannung und Widerspruch im Paradox des Glaubens zum Ausdruck verhelfen will.

4 Differenz als Spezifikum des Bildes und der Rede von Gott Wie in jeder Form symbolischer Erfahrung ist das Moment der Differenz weniger eingängig als das der Passung. Dem augenscheinlichen Erleben des Bildes als eines Dings, das etwas sichtbar macht, zum Trotz sprechen kunstphilosophische Überlegungen dafür, das Wesentliche des Bildes gerade nicht in der Abbildung, sondern im Verbergen und im Abwesenden zu sehen. Dem Moment der symbolischen Differenz sei daher hier noch einmal aus kunsttheoretischer Perspektive ein besonderes Augenmerk geschenkt. Der Kunsthistoriker Gottfried Boehm schreibt: »Was in der ikonischen Diffe­ renz sichtbar wird, der Gehalt, den sie hervorruft, meint etwas Abwesendes. […] Jedes Bild deutet, indem es stilisiert, und keines schafft Präsenz ohne den unvermeidlichen Schatten der Abwesenheit.«27 Das Bild zeigt seinen Gehalt als einen abwesenden. Als abwesender erhält der Gehalt im Bild und in der Imagination Präsenz. »Bilder implizieren eine innere Verschränkung, eine prozessLebensdeutungen von Inhaftierten in der Öffentlichkeit einen Platz erhalten können. Werke, die in der Begleitung Sterbender an der Schwelle des Lebens zum Tod entstehen, können diesen Augenblick über seine zeitliche Begrenzung hinaus in ungeahnter Dichte lebendig halten. 25 Boehm 2017, 240. 26 Ebd. 27 Gottfried Boehm, Jenseits der Sprache? Anmerkungen zur Logik der Bilder, in: ders., Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens, 5. Auflage, Berlin 2017, 34–53, hier: 38 f.

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hafte Reflexivität, ikonischen Kontrast oder ikonische Differenz. Ihre Momente ›spielen‹ zwischen Verkörperung und Verweisung, zwischen Materialität und Wirkung bzw. Sinn.«28 Das Bild simuliert laut Boehm nicht, sondern eröffnet einen Deutungsraum.29 Das heißt, Bildbetrachtung bedeutet das Erleben der Kreativität des eigenen Sehens. Der Gegenstand ist im Bild nicht abbildhaft anwesend, sondern als abwesend, als Deutungsmöglichkeit anwesend. So verstanden, steht in der Glaubenskommunikation das Bild selbst und nicht das Bilderverbot für eine negative Theologie gerade. Zugleich stellt das Bild ein legitimes Dokument des individuellen Glaubensprozesses dar, nicht des Gegenstands des Glaubens selbst. Unabhängig von einer möglicherweise konkretistisch anmutenden Gegenständlichkeit ist es stets die Verborgenheit Gottes, die wir im Bild zum Ausdruck bringen oder erfahren können. Dies rechtfertigt noch einmal die doppelte Aussage des Titels dieses Aufsatzes nicht allein aus pastoralpsychologischer, sondern auch aus kunstphilosophischer Perspektive. In diesem Sinne ist jede*r Glaubende dazu berechtigt, wenn nicht gar dazu herausgefordert, seinen und ihren Glauben in der je eigenen Sprache zu Wort – oder eben ins Bild – zu bringen. Die Mittel und Wege der Kunst stellen ungeahnte Perspektiven der Glaubenskommunikation in Aussicht, die das Risiko des Experiments allemal lohnen. Eine letzte Anmerkung: Meine Geschichte mit Klasse 6 schloss am Ende des Schuljahres mit einer Ausstellung im Schulgebäude, bei der alle Schüler*innen, die dies wollten, ihre Werke mit stolzem Eifer der Schulöffentlichkeit präsentierten.

28 Gottfried Boehm, Ikonoklasmus. Auslöschung – Aufhebung – Negation, in: ders., Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens, 5. Auflage, Berlin 2017, 54–71, hier: 59. 29 Vgl. Gottfried Boehm, Unbestimmtheit. Zur Logik des Bildes, in: ders., Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens, 5. Auflage, Berlin 2017, 199–212, hier: 202. Boehm verweist hier auf das Werk Paul Cézannes »La Montagne Sainte Victoire, von Les Lauves aus gesehen« (1902–1906). Weder Farben noch Formen der einzelnen Bildelemente sind im Detail der dargestellten Landschaft eindeutig zuzuordnen. Erst die Betrachtung des Gesamtbildes erlaubt dem Auge die Deutung der konkreten Landschaft. »Cézanne gelingt es, eine erstaunliche Einsicht zu formulieren, nämlich mit den autonomen, das heisst völlig unähnlichen Mitteln der Malerei sichtbare Natur zu erfassen« (ebd.).

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Beate Josten-Sell

Poetik der Zeit Überlegungen zur ästhetischen Bildung des Religiösen im Anschluss an Paul Ricœur Anne M. Steinmeier

1 Narrative Identität »Lernen, sich zu erzählen, bedeutet auch: lernen, sich anders zu erzählen.«1 Diese zentrale Erkenntnis Paul Ricœurs ist mein Ausgangspunkt für die Überlegungen zum »Wagnis Mensch werden«. Mit dieser Leitformel ist die grundlegend metaphorische Referenz in der Verständigung um Sinn, der Zugehörigkeit zur Welt und zur Geschichtlichkeit eines Lebens formuliert. Der vielschichtige Problemkomplex, der hier aufgegeben ist, konzentriert sich in der Wahrnehmung der Fragilität der Identität und der Veränderungsprozesse des Selbst. Hier wird einer »Phänomenologie des praktischen Sinns«2 der Weg gewiesen, die zu poetischen Sinnbildungspotenzialen führt, die hermeneutische Horizonte in Entdeckungen einer reziproken »narrativen Flexibilität«3 aufsprengt und Wahrnehmungen von »Revisionen des Heiligen«4 eröffnet.

2 Der »Grund« in der Zeit 2.1 Inkarnierter Sinn Erzähler des eigenen Lebens zu sein, bedeutet nicht, Autor zu sein. Die unverwechselbar eigene Geschichte ist unlösbar mit anderen Geschichten, mit Erzählungen anderer vor uns und mit uns verwoben.5 Zu den erzählten und noch 1

Paul Ricœur, Wege der Anerkennung. Erkennen, Wiedererkennen, Anerkanntsein, Frankfurt a. M. 2006, 134. 2 Thiemo Breyer & Daniel Creutz (Hrsg.), Phänomenologie des praktischen Sinns. Die Willensphilosophie Paul Ricœurs im Kontext, Paderborn 2019. 3 Richard Kearney, Diakritische Hermeneutik – Nach Ricœur, in: Breyer & Creutz (Hrsg.) 2019, 327–344, hier: 339 (Kursivschreibung im Original; im Folgenden: Kearney 2019a). 4 Richard Kearney, Revisionen des Heiligen. Streitgespräche zur Gottesfrage, Freiburg i. Br. 2019 (im Folgenden: Kearney 2019b). 5 Vgl. Paul Ricœur, Zeit und Erzählung, Bd. I, München 1988, 119.

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nicht erzählten, zu den ausdrücklichen und unausdrücklichen Geschichten des eigenen Lebens6 gehören die eigene Herkunft, die Familie und der Ort, an dem ein Mensch aufgewachsen ist. Dazu gehört der Horizont einer Kultur mit ihrer Geschichte und ihren Traditionen, mit der Vielfalt der symbolischen Formen, in denen Erfahrungen artikuliert werden.7 Der »Grund« eines Menschenlebens sind vielsprachige Grammatiken des Seins, die vor und auch »jenseits« der Sprache erlernt werden.8 Oder mit Klaus Kießling formuliert: »Es liegt eine Vielstimmigkeit in jeder Stimme, und unser eigener Leib, der uns in einer Welt wohnen lässt, lässt uns Fremdes im Eigenen und Eigenes im Fremden finden.«9 So dass eine Geschichte für den Menschen eintreten kann, mit einer Geschichte ein Mensch, »das Subjekt«, wie Ricœur sagt, »hervortritt«10. Diese Wahrnehmung führt Ricœur zu Freud und über ihn hinaus.11 2.2 Interpretation und »Überdeterminierung« Hatte Freud formuliert: »Wo Es war, soll Ich werden«12, eine Haltung, die auf die »Aufklärung« gerade auch der als triebdynamisch-illusionär markierten Religion zielte, so antwortet Ricœur: Das »Ich« »wird« nicht ohne Bilder, noch durch Brüche, durch den Verlust oder gar die Abwesenheit von Bildern und Vorstellungen hindurch.13 Zum Schlüssel dieser Relecture wird die Lesung der Polysemie des Symbols, das nicht nur die Kindheit »wiederholt«, sondern zugleich ein nach vorn weisendes, »prophetisches« Potenzial enthält.14 Ein und dasselbe Symbol kann »gegensätzliche und in sich kohärente Interpretationen tragen und […] erzeugen«15. 6 Vgl. Ricœur 1988, 120. 7 Vgl. Emil Angehrn, Subjekt und Sinn, in: Ingolf U. Dalferth & Philipp Stoellger (Hrsg.), Krisen der Subjektivität, Tübingen 2005, 225–240, hier: 235. 8 Vgl. Christopher Bollas, Der Schatten des Objekts. Das ungedachte Bekannte. Zur Psychoanalyse der frühen Entwicklung [1987], Stuttgart 1997, 48. 9 Klaus Kießling, Interkulturalität und (Nicht-)Verstehen – Gastfreundschaft als Ermöglichung von Seelsorge, in: Christiane Burbach (Hrsg.), Handbuch Personzentrierte Seelsorge und Beratung, Göttingen 2019, 249–265, hier: 254. 451 (im Folgenden Kießling 2019a). 10 Vgl. Paul Ricœur, Über Psychoanalyse. Schriften und Vorträge, Gießen 2016, 221. 11 Vgl. Paul Ricœur, Die Interpretation. Ein Versuch über Freud, 4. Auflage, Frankfurt a. M. 1993. 12 Sigmund Freud, Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse [1944], in: Gesammelte Werke (= GW XV), 86 (im Folgenden gekürzt zitiert). 13 Vgl. Paul Ricœur, Hermeneutik und Psychoanalyse. Der Konflikt der Interpretationen, Bd. 2, München 1974, 206. 14 Ricœur 1993, 507. 15 Ricœur 1993, 507. Vgl. ausführlich Anne M. Steinmeier, Wiedergeboren zur Freiheit. Skizzen eines Dialogs zwischen Theologie und Psychoanalyse (Arbeiten zur Pastoraltheologie; Bd. 33), Göttingen 1998, 40–51.

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Eben das ist, »was die Psychoanalyse Überdeterminierung nennt«: eine Dialektik zweier gegensätzlicher Funktionen, »die das Symbol in einer konkreten Einheit koordiniert«16. Die Prägnanz dieser »Schöpfung« liegt in der Stiftung einer spezifischen Zeit.17 Grundlage für diese Interpretation ist die Lesung der »Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci«.18 Eine Lesung, in der wir vielleicht »auf einen der seltenen autobiographischen Anklänge« im Werk Ricœurs treffen: Vielleicht weist »die Nähe und das Einfühlungsvermögen zu Leonardo da Vinci« auf eine gemeinsame »schmerzliche Wunde des Anfangs […], da beide früh verwaisten«.19 Denn hatte Freud von der Möglichkeit gesprochen, dass Leonardos »Mutter das geheimnisvolle Lächeln besessen, das er verloren hatte, und das ihn so fesselte, als er es bei der Florentiner Dame wiederfand«20, so entdeckt Ricœur hier die Schöpfung einer neuen, bisher so nicht gewesenen Gegenwart: »Die Mutter und ihre Küsse existieren zum ersten Mal unter den der menschlichen Betrachtung sich darbietenden Werken. Leonardos Pinsel erweckt nicht die Erinnerung an die Mutter, er schafft diese Erinnerung als Kunstwerk. […] Das Kunstwerk ist damit Symptom und Kur zugleich.«21 Es ist die symbolische Form der Kunst, die den »Stoff« des Lebens aufnimmt und zugleich schöpferisch verwandelt: Denn »[e]inzig das Kunstwerk gibt den Fantasien des Künstlers eine Gegenwart; und die ihnen so verliehene Realität ist diejenige des Kunstwerks im Innern einer Kulturwelt.«22 Damit ist das Entscheidende der »Überdetermination« bedeutet: In der Prägnanz der Zeiterfahrung sind Ausdrückliches und Unausdrückliches, Anwesendes und Abwesendes miteinander verwoben.23

16 Ricœur 1993, 507. Vgl. Ricœur 1974, 206. 17 Vgl. Michael Moxter & Markus Firchow, Die Zeit der Bilder. Ikonische Repräsentation und Temporalität, Tübingen 2018. 18 Vgl. Ricœur 1993, 562. 19 Ricœur 2016, 13. 20 Sigmund Freud, Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci [1910], GW VIII, 183. 21 Ricœur 1993, 183. 22 Ricœur 1993, 186. 23 Vgl. Moxter & Firchow 2018, 109.

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2.3 Zeit des Erzählens Von hier führt der Weg Ricœurs zum weiten Feld lebendiger Metaphorik, vor allem zur Erzählung. In der Erfahrung des Lesens bildet die »Welt des Werkes« eine »immanente Transzendenz«24, in der die Zeit selbst konfiguriert wird. Als Beispiel sei das narrative Feld des Romans »Mrs. Dalloway« von Virginia Woolf ausgewählt.25 Unter der Überschrift »Zwischen sterblicher und monumentaler Zeit« spürt Ricœur der »Vielfalt der Beziehungen zwischen der konkreten Zeiterfahrung der verschiedenen handelnden Gestalten und der monumentalen Zeit«26 nach. Im Rahmen dieses Aufsatzes sei der Blick auf Clarissa und Septimus fokussiert. Beide begegnen einander an denselben Orten (in den Straßen von London, in Parks), sie hören beide die Stundenklänge von Big Ben und die Geräusche der Stadt. Sie befinden sich im selben narrativen Feld.27 Aber ihre Erfahrungen erlebter Zeit könnten gegensätzlicher nicht sein: Clarissa, die »perfect hostess«, in ihrer »Liebe zum Leben, zur vergänglichen Schönheit, zur Veränderung des Lichtes, […] zum ›fallenden Tropfen‹«28, und Septimus, der Soldat, den die Bilder des Grauens der Geschichte des ersten Weltkrieges in Gestalt seines Kameraden Evans immer wieder überfallen und der sich schließlich, nicht zuletzt durch die Erfahrung grauenvoller Ärzte, für den Freitod entscheidet. Beide lernen sich nie kennen. Ihre Schicksale und ihr Erleben bleiben unverbunden. Aber die Erzählstimme siedelt einen »tunneling process«29 an, der zwischen beiden verläuft. Die Schicksale und Erfahrungen kommunizieren wie durch »unterirdische Höhlen«, in denen die »Abgründe« »zwischen den Seelen« überbrückt werden.30 Die fiktive Zeiterfahrung in »Mrs. Dalloway« ist »weder die Clarissas noch die von Septimus, […] sie wird dem Leser durch den Widerhall […] einer einsamen Erfahrung in einer anderen einsamen Erfahrung nahegelegt. Dieses Netz […] ist die Zeiterfahrung in Mrs. Dalloway«31. Der »Sinn des Ganzen« liegt auf der »Gegenüberstellung der Zeiterfahrungen von Sep24 Paul Ricœur, Zeit und Erzählung, Bd. II, München 1989, 171 (Kursivschreibung im Original). 25 Vgl. Ricœur 1989, 173–191. Außer dem Werk von Woolf untersucht Ricœur »Der Zauberberg« von Thomas Mann und Marcel Prousts »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« (vgl. Ricœur 1989, 192–259). 26 Ricœur 1989, 183. 27 Vgl. Ricœur 1989, 177. Die Verbindung von Virginia Woolf und William James ist hier nur anzudeuten. 28 Ricœur 1989, 188. 29 Virginia Woolf (zitiert nach: Ricœur 1989, 176 Anm. 3). 30 Ricœur 1989, 179. 31 Ricœur 1989, 191 (Kursivschreibung im Original).

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timus und Clarissa«32. Die »Präsenz«: »For there she was«, zu der Clarissa am Abend des Tages zu ihrer Gesellschaft zurückkehrt, die sie um sich versammelt, versammeln muss – »she must assemble«33 –, vergisst nicht, dass Septimus »is intended to be her double«34. Ein Gedächtnis, in dem »ihr Entsetzen und ihre Liebe zum Leben«35 verschmelzen zu einem Wagnis des Lebens, das der Herausforderung und Entschlossenheit nicht weniger als des Zuspruchs der Zeichen bedarf. Ein solches Zeichen, das ihre Rückkehr zu den Gästen trägt, ist eine Geste, die Clarissa zufällig beobachtet: Es ist die »Geste der alten Dame auf der anderen Straßenseite, die ihren Vorhang beiseite schiebt, sich vom Fenster zurückzieht und ›ganz still und allein‹ zu Bett geht – eine Figur der Gelassenheit, die plötzlich an den Refrain aus Cymbeline erinnert: ›Fear no more the heat of the sun …‹«, jenen Vers Shakespeares, dem beide, Clarissa und Septimus, an eben diesem Tag begegnet waren.36 Die »Tiefe der Zeiterfahrung« liegt in der Loslösung von jeder linearen Folge, die in der »Welt des Textes« existiert, die »nur die Fiktion erforschen kann«37 – und die doch nicht allein imaginär bleibt, sondern erforscht, was die »Lebenszeitlichkeit« in einem »unbedingten Sinne« angeht. Die Innovation der semantischen Figur der Zeiterfahrung liegt in der Möglichkeit, die Zeiterfahrung neu zu bilden. Die das literarische Werk auszeichnende Poetik der Zeit zielt auf eine Erweiterung des Horizontes der Erfahrung in der gelebten Zeit. Im Blick auf »Mrs. Dalloway« ist dies der Erfahrungsmodus des »there she was«. Einer Präsenz, in der Ricœurs Antwort auf das »empfindliche Gleichgewicht« – oder auch den »subtilen Konflikt?«38 – liegt, den er zwischen Freuds »wesentlich kritische[m], gegen die archaischen Objekte und Illusionen gerichtete[n] Thema« des Realitätsprinzips und dem des »wesentlich lyrischen, gegen den Todestrieb gerichteten Thema« des Eros sieht.39 Es ist die Prägnanz der Gegenwart, in der Clarissa am Abend zu den Gästen am Tisch zurückkehrt.

32 Ricœur 1989, 186. 33 Virginia Woolf (zitiert nach: Ricœur 1989, 190; Kursivschreibung im Original). 34 Virginia Woolf (zitiert nach: Ricœur 1989, 189 Anm. 14; Kursivschreibung im Original). Interessant ist der Hinweis, dass in der ersten Fassung Clarissa den Freitod begehen sollte (vgl. Ricœur 1989, 189 Anm. 15). 35 Ricœur 1989, 189. 36 Ricœur 1989, 189 f. (Kursivschreibung im Original). 37 Ricœur 1989, 172. 38 Ricœur 1993, 346. 39 Ricœur 1993, 345 f.

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Ist es zu viel, hier das Gedächtnis eines anderen Tisches danebenzustellen? Zumindest entspräche es Ricœurs Hermeneutik der biblischen Texte. Denn deren generativer Poetik entspricht kein »Wille, der sich unterwirft«, sondern eine »Einbildungskraft, die sich öffnet«40. Mit Klaus Kießling fasziniert mich die Komposition der Perikope zum Emmausgang (Lk 24,13–35). Dieser Text, diese Begegnung mit dem Auferstandenen, »zeigt nicht nur zwei Jünger, denen sich ein Dritter zugesellt«41. Es ist ein Text, der für die Dimension des Dritten öffnet, für die Qualität einer »presence«, wie Kießling in Bezug auf Carl Rogers schreibt, in der Menschen ihren eigenen spirituellen Habitus weiter entwickeln können. Eine Erfahrung, die sich nicht in eine »Überzeugung« funktionalisieren lässt, die auch auf anderem Wege, als Postulat ohne den Text, zu gewinnen wäre.42 So wird in der Emmaus­ erzählung nur der Name des Einen genannt, »und der andere?«, fragt Kießling. »Wir wissen es nicht und sollen es wohl auch nicht wissen. Denn so hält der Erzähler dieser Geschichte einer und einem jeden von uns den Platz frei.«43 Diese Offenheit wahrt das Geheimnis, in der eine menschliche Erfahrung das »Transzendente, das Unbeschreibbare, das Spirituelle«44 einschließt. Im »Brechen des Textes« eröffnen sich Räume »solidarischer Präsenz«45. Das Leben im Geist aber ist nicht ohne den Leib, nicht ohne den Leib der Texte, nicht ohne den Leib der Lesenden. Der aus Irland stammende katholische Philosoph Richard Kearney weist im Rahmen seiner »diakritischen« Hermeneutik »nach« Ricœur auf die »nicht hinreichend« entwickelte »Hermeneutik der fleischlichen Interpretation« hin, wie sie Maurice Merleau-Ponty entwickelt hat.46 Dabei trifft der Begriff des Fleischlichen in der deutschen Übersetzung Kearneys den zugrundeliegenden Begriff des chair nur äußerst unzureichend – im Französischen schwingen Bedeutungen wie »Inkarnation«, »Begehren«, »sinnliche Fülle« mit. Prägnanzen, die sich mit Merleau-Ponty als gleichzeitiges Ergreifen und Ergriffenwerden, als Verflechtung von Empfindendem und Empfunde40 Paul Ricœur, An den Grenzen der Hermeneutik. Philosophische Reflexionen über die Religion, München 2008, 82 f. 41 Klaus Kießling, Solidarische Präsenz – Personzentrierte Haltung und spiritueller Habitus, in: Burbach (Hrsg.) 2019, 444–452, hier: 451 (im Folgenden: Kießling 2019b). 42 Vgl. Richard Rorty, Der Roman als Mittel zur Erlösung aus der Selbstbezogenheit, in: Joachim Küpper & Christoph Menke (Hrsg.), Dimensionen ästhetischer Erfahrung, Frankfurt a. M. 2003, 49–66, hier: 61. 43 Kießling 2019b, 451. 44 Ebd. in Bezug auf Rogers. 45 Jörg Seip, »Ich lese gerade wieder …«. Die vielerlei Lektüren eines Predigers, in: Lebendige Seelsorge 55 (2004) 82–88, hier: 86. 46 Vgl. Kearney 2019a, 334.

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nem, als schöpferisch-responsive Zwischenleiblichkeit (intercorporéité) »zeitigen«47. Kearney spricht von einem »Lesen zwischen den Zeilen der Haut und des Fleisches«, das »in den drei Konnotationen des französischen sens Sinn ergibt: Gefühl, Richtung, Bedeutung«. Sens als ein »vielschichtige[s] Spüren, das – wie die Jakobsleiter – den ganzen Weg nach oben und unten geht, vom Gedanken zur Berührung und zurück«, sodass wir der »Bedeutung aufsteigend und absteigend in Spiralen mit offenen Enden«48 begegnen. Damit ist das Potenzial einer »narrativen Flexibilität« aufgerufen, die zu Ricœurs »entscheidende[r] Wichtigkeit einer Hermeneutik des narrativen Gedächtnisses« führt.49 »Dies beinhaltet, ›Verantwortung zu übernehmen in der Imagination einer und in Sympathie für eine Erzählung des Anderen, durch die Lebensgeschichten, die den Anderen betreffen.‹«50 Dabei kann der Begriff Sympathie zu Missverständnissen von Vereinnahmung oder alles Vertraute überfliegender Faszination führen.51 Was hier bezeichnet ist, ist mit Kießling durch die Kultur der Gastfreundschaft zu präzisieren, in der »Fremde und Fremder […] oft synonym für Gäste«52 stehen: »Als Gast wohne ich nicht in der Welt meines Gegenübers, der Gast wohnt vielmehr als Fremder auf der Schwelle, er ist weder völlig drinnen noch völlig draußen. Die Figur des Gastes ›tritt auf als Vorgestalt einer radikalen Fremdheit, indem sie die Grenzen der vorgegebenen Ordnung überschreitet.‹«53 Hier wird nichts bloß relativ oder beliebig, vielmehr ein »echter Austausch von Geschichten und Erzählstimmen« möglich, der sich »effektiv einem arroganten oder rigiden Konzept kultureller Identität« verweigert.54 Mit Paul Ricœur spreche ich von »Wegen der Anerkennung«55. Dabei führt der original französische Begriff »reconnaissance« in der Polysemie von Erkennen, Wiedererkennen und Anerkennen zugleich zu einer nur im Französischen vorkommenden dynamischen »Differenzierungsmacht«, die in der 47 Vgl. Christian Bermes, Wahrnehmung, Ausdruck, Simultanität. Merleau-Pontys phänomenologische Untersuchungen 1945–1961, in: Maurice Merleau-Ponty, Das Auge und der Geist. Philosophische Essays, Hamburg 2003, XI–LIII, hier: XXVI. 48 Kearney 2019a, 335. 49 Kearney 2019a, 339 (Kursivschreibung im Original). 50 Ebd. 51 Vgl. Kießling 2019a, 250. 52 Kießling 2019a, 256. 53 Kießling 2019a, 258. 54 Kearney 2019a, 339. 55 Vgl. Ricœur 2006.

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Gleichung von »reconnaissance« und »Dankbarkeit« wirkt.56 Ich würde ein Weiteres hinzufügen, das ist die Freude. Eine Freude, die Klaus Kießling so lebendig aus seinem Spanischkurs beschreibt, in dem man am Ende jeder Lektion auf Unterschiede der Sprachen »Entre culturas«, zum Beispiel in Havanna und Barcelona, hingewiesen wird.57 Gibt es ein besseres Beispiel für die Präsenz gelebter Spiritualität? Einer Präsenz, die der in Bogotá ausgebildete und in Wuppertal promovierte Philosoph Leonardo Verano Gamboa mit Merleau-­ Pontys »Sprachphänomenologie« als »sinnliche Erfahrung eines Feldes« beschreibt, die »als Weise einer Eröffnung«58 gegeben ist. Auch in Bezug auf die Wahrheit. In dessen, durch seinen frühen Tod unvollendetem Werk »Das Sichtbare und das Unsichtbare«59 geht es zentral um die »Wahrheit des sinnlichen Logos als offene Bewegung zur Welt.«60 Eine Bewegung, die mit Richard Kearney zur Suchbewegung eines »Anatheismus« führt.61

3 Anatheismus – »Reimagining the Sacred«62 Das Konzept des Anatheismus gründet in einer Wahrnehmung, die hierzulande übliche Gegenüberstellungen von der Wiederkehr der Religionen und der Säkularität, in der religiöse Traditionen gänzlich abgebrochen sind, unterläuft. Mit der griechischen Vorsilbe ana werden schillernde und ambivalente Sprachspiele eröffnet. Zum einen wird hier die Bewegungsrichtung eines Wieder und Zurück bezeichnet, zum anderen bewirkt die Verbindung Ana-Theismus die Ununterscheidbarkeit der Lesarten: Ana-Theismus und An-Theismus. René Dausner kommentiert in seiner Einleitung zur deutschen Ausgabe des Buches »Reimagining the Sacred«: »Der Anatheismus schafft Raum für Erinnerungen sowohl theistischer als auch atheistischer Traditionen und ermöglicht eine neue Sichtung bekannter, allzu bekannter Argumente.«63 Dabei geht es nicht um eine Art finaler Vermittlung oder Auflösung im spekulativen Diskurs. Kearney betont 56 Ricœur 2006, 26. 57 Kießling 2019a, 250. 58 Leonardo Verano Gamboa, Phänomenologie der Sprache bei Maurice Merleau-Ponty, Würzburg 2012, 57. 59 Maurice Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, München – Paderborn 2004. 60 Gamboa 2012, 187. 61 Vgl. Kearney 2019b, für das Folgende vor allem: 21–41. 62 Vgl. Richard Kearney & Jens Zimmermann (Hrsg.), Reimagining the Sacred. Richard Kearney debates God, New York 2016. 63 René Dausner, Einleitung zur deutschen Ausgabe. Neue Impulse für die deutsche Theologie, in: Kearney 2019b, 7–16, hier: 12.

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vielmehr, »dass Anatheismus sowohl ein atheistisches als auch ein theistisches Moment in sich trägt«, was bedeutet, dass »das Moment des ana- tatsächlich ein Risiko« in sich birgt: »Es kann auch schiefgehen.«64 Es kann schiefgehen, weil es in der Teilhabe wurzelt, die »das radikale Wagnis des Lebens in sich«65 trägt und so alles bloß binäre In-Beziehung-Setzen bereits vorgegebener Größen überwindet.66 »[D]as ab deo einer Abkehr von Gott eröffnet die Option des ad deum einer Rückkehr zu Gott nach Gott, eines supplementären Schritts von aftering and overing.«67 Es geht um eine poetische Epiphanie, in der das Heilige im Zufall, das Höchste im Niedrigsten aufscheint, das Geheimnis des Sakramentalen in den alltäglichsten Dingen zu entdecken ist.68 Das aber bedeutet nicht, dass »das Heilige das Weltliche sei«.69 Es ist keine Vermischung: Anatheismus spricht vielmehr von einem Heiligen »im Weltlichen, durch das Weltliche, vorwärts auf das Weltliche. Ich würde sogar sagen«, so Kearney, »dass das Heilige vom Weltlichen nicht zu trennen sei, dabei aber von ihm unterschieden bleibe. Der Anatheismus spricht von ›wechselseitiger Anregung‹ [›interanimation‹] zwischen dem Sakralen und dem Säkularen, nicht aber von Fusion oder Konfusion. Beide sind untrennbar miteinander verbunden, aber niemals ein und dasselbe.«70 Damit nimmt Kearney Merleau-Pontys Figur des chair in religiöser Absicht auf und schließt zugleich an Ricœurs Herausforderung an, uns die »Wahrheit des Freudismus über die Religion« anzueignen, die nicht allein darin bestehe, den Glauben der Ungläubigen zu bestärken, sondern »den Glauben der Gläubigen zu läutern«.71 Doch es geht hier nicht um einen zweiten religiösen Glauben nach dem Atheismus, sondern um die »Zeitigung« eines Anfangs, wie Kearney in gedanklicher Nähe zur »messianischen Zeit« Benjamins, aber auch zum Denken Derridas und Agambens, zu formulieren sucht.72

64 Kearney 2019b, 22 f. 65 Paul Tillich, Systematische Theologie, Bd. I, Berlin – New York 1987, 127. 66 Vgl. Steinmeier 1998, 69 f. 67 Kearney 2019b, 40. 68 Sheila Gallagher, Pneuma hostis – künstlerische Notiz zum Titelbild, in: Kearney 2019b, 19. 69 Kearney 2019b, 41. 70 Ebd. 71 Paul Ricœur, Der Atheismus der Psychoanalyse Freuds [1966], in: Eckart Nase & Joachim Scharfenberg (Hrsg.), Psychoanalyse und Religion (Wege der Forschung; Bd. CCLXXV), Darmstadt 1977, 206–218, hier: 217. 72 Kearney 2019b, 24 f. Anm. 5.

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Das Wagnis des Menschseins, darin kulminiert die Perspektive des Anatheismus, gründet in jenem Wagnis Gottes, das sich in der Ur-Szene des Christlichen – der »Verkündigung« – »zeitigt«.

4 Die Nazarenerin – das Wagnis Gottes Klaus Kießling schreibt: »Mit der Geburt Gottes, mit der Menschwerdung Gottes setzt unsere eigene Menschwerdung ein.«73 Der Text im Lukasevangelium umfasst nur wenige Zeilen und hat doch über Jahrhunderte Dichtende und Malende herausgefordert, »den ursprünglichen Moment [zu] erkunden, in dem Maria in Nazareth dem Fremden begegnet und darüber nachsinnt, ob sie ja oder nein sagen soll«74. Kearney bezeichnet sie »gern als ›die Nazarenerin‹«, die sich in der Erinnerung an die »Erzählungen ihres abrahamitischen Glaubens […] frei dafür entscheidet zu glauben, dass das Unmögliche möglich sein kann, dass sie ein Kind empfangen kann, wie Sarah vor ihr, als sie von göttlichen Fremden heimgesucht wurde«75. Kearney sieht hier »eine Szene religiöser Imagination […], ein ursprüngliches anatheistisches Szenarium, das in poetischen Vorstellungen wieder anzutreffen ist, welche vielleicht zu einem neuen Glauben führen«, wie überhaupt »die eindrucksvollsten Wege, um zu diesem Gründungsereignis der Christenheit zurückzukehren, über Dichter und Maler führen und weniger über Prediger und Theologen«76. In fast allen Portraits hat die Nazarenerin in der einen Hand ein Buch und in der anderen Hand eine Lilie. Ihre Antwort an Gabriel ist »savvy – ein gefühltes Wissen, ein Denken, das auch ein Tasten und Schmecken ist, sapientia als sapere – savourer – savoir«77. Oder wie Denise Levertof in ihrem Gedicht »Annunciation« zu imaginieren einlädt:

73 74 75 76 77

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Kießling 2019b, 446. Kearney 2019b, 33. Kearney 2019b, 35 f. Kearney 2019b, 33. Kearney 2019b, 36.

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»But we are told of meek obedience. No one mentions courage. The engendering Spirit did not enter her without consent. God waited. She was free to accept or to refuse, choice integral to humanness. »78

Das Wagnis der Menschwerdung realisiert sich in der Möglichkeit, sich »dem ursprünglichen und fortwährenden Versprechen eines heiligen Fremden zu öffnen, eines absolut Anderen, der als Geschenk kommt, als Ruf und Berufung, als Aufforderung zur Gastfreundschaft und zur Gerechtigkeit«.79 In einer »Mystik der offenen Augen«80, wie Klaus Kießling im Anschluss an Johann Baptist Metz schreibt. Einer Mystik, die die Zusammenhänge wahrnimmt, die in der Zeit Gottes »gründen«. Einer Zeit, die Ricœur als das »ewige Präsens« göttlicher Sorge bezeichnet hat. In dieser Sorge ist ein regressiv-progressives »Werden« Gottes, sein »Gedächtnis«, imaginiert, in dem jede Existenz »makes a difference« in Gott, wie Ricœur am Ende seines Lebens schreibt.81 Ein Gedächtnis, in dem nicht nur die Sünder »gerechtfertigt« werden, sondern der »Sinn« gerettet wird.82 Weshalb nichts, was geschieht, gleichgültig ist. Weshalb es des Wagnisses bedarf, wahrhaft Mensch zu werden.

78 Denise Levertov, Annunciation, in: dies., Selected Poems, New York 2002, 162 (zitiert nach: Kearney 2019b, 37 Anm. 20). 79 Kearney 2019b, 25. 80 Kießling 2019b, 445. 81 Vgl. Paul Ricœur, Lebendig bis in den Tod. Fragmente aus dem Nachlass, Hamburg 2007, 63. 82 Vgl. Ricœur 2007, 67.

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»Desintegriert mich!« Aktuelle Identitäts­diskurse und ihre Bedeutung für Reform­vorhaben in der katholischen Kirche Lisa Straßberger

1 Zeitzeichen Vor dem Hintergrund einer irritiert reflektierten Mitgliedschaft in der katholischen Kirche liegt den folgenden Überlegungen die selbstkritische Frage zugrunde, welche Grundeinstellungen besser dazu geeignet sein könnten, Menschen mit Unrechtserfahrungen aufmerksam zu begegnen und mitverantwortete Strukturen, die Unrechtserfahrungen reproduzieren, zu erkennen und abzubauen – unabhängig davon, ob sie innerhalb oder außerhalb der verfassten Kirche bestehen. Der vergleichende Ansatz zielt darauf ab, Vorstellungen von einem Gegenüber von Kirche und Welt zu hinterfragen und dieses Verhältnis eher als offenporiges Zusammenwirken zu fassen.1 Scharf abgrenzende Identitätsdiskurse aufgrund von Unrechtserfahrungen werden innerhalb, aber auch jenseits des von sexuellem und geistlichem Missbrauch existenziell erschütterten Katholizismus geführt. Durchgesetzte Deutungsmacht ist hier wie dort mit der Vielfalt andersartiger Lebensentwürfe und kultureller Narrative konfrontiert. Kollektiver Integrationsanspruch und individuelles Abgrenzungsbegehren als Antwort auf Marginalisierung und Unterdrückung produzieren Spannungen, die als systemgefährdende Krisen2 gedeutet werden. Identitätsdiskurse lenken den Fokus auf etablierte Sprachmuster3, biographisch erinnernde Erzählungen und literarisch durchgestaltete Erfahrungsund Erwartungszusammenhänge.4 Diese spielen im Zugriff auf das Thema 1

Vgl. Petra Morsbach, Der Elefant im Zimmer. Über Machtmissbrauch und Widerstand, 3. Auflage, München 2020, besonders: 313–322. 2 Vgl. Adam Przeworski, Krisen der Demokratie, Berlin 2020. 3 Vgl. David Ranan (Hrsg.), Sprachgewalt. Missbrauchte Wörter und andere politische Kampfbegriffe, Bonn 2021. 4 Vgl. Shida Bazyar, Drei Kameradinnen. Roman, Köln 2021; Asal Dardan, Betrachtungen einer Barbarin, 2. Auflage, Hamburg 2021; Fatima Daas, Die jüngste Tochter. Roman, Berlin 2021. Vgl. Elisabeth U. Straßberger, Treue und Passion. Liebesbeziehungen unter dem Druck des Scheiterns. Praktisch-theologische Reformansätze aus interdisziplinärer Perspektive, Ostfildern 2015, besonders: 30–52.

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deshalb eine herausragende Rolle. »Erzählen ist Widerstand«5, stellen die Herausgeberinnen der gleichnamigen Dokumentation von Lebensberichten sexuell und spirituell missbrauchter Frauen fest: Im Erzählen eigneten sich die Betroffenen die Deutungshoheit über die durchlittenen Ereignisse wieder an und könnten so die Opferrolle überwinden. Svenja Flaßpöhler nimmt ebenfalls an aktuellen Konflikten Maß und zeigt die Kehrseite der Sprachmacht: »Eine sprachliche Verletzung berührt einen Menschen in seinen Grundfesten. Denn wenn Identität in der beschriebenen Weise ein Effekt von Sprache ist, dann kann die Sprache sie logischerweise auch zerstören beziehungsweise Menschen von vornherein Identität verweigern, ihnen regelrecht die Existenzberechtigung entziehen.«6 Abgrenzung von etablierten Sprachmustern ist dann Selbstschutz.

2 »Desintegriert mich!«7 Diese entschlossene Aufforderung des Lyrikers und Politikwissenschaftlers Max Czollek am Ende seines 2018 erschienenen Essays markiert eine Verweigerung. Sie zielt auf die Mechanismen einer Dominanzkultur. Max Czollek verweigert sich dem »deutschen Gedächtnistheater«8 und weist auch angesichts fortdauernder antisemitischer Übergriffe innerhalb der deutschen Gesellschaft die beengende Rolle des identitätsstiftenden Juden im deutschen »Alles wieder gut«-Narrativ zurück.9 Durch den Zuzug von Juden und Jüdinnen aus dem russischen und afrikanischen Raum in die deutschen jüdischen Gemeinden habe er die befreiende Diversität jüdischen Lebens und jüdischer Narrative und daraufhin verstärkt die unerträgliche Enge und Instrumentalisierung des deutsch-jüdischen Diskurses innerhalb Deutschlands erfahren.10 Er fordert

5 Barbara Haslbeck, Regina Heyder, Ute Leimgruber & Dorothee Sandherr-Klemp, Erzählen als Widerstand. Berichte über spirituellen und sexuellen Missbrauch an erwachsenen Frauen in der katholischen Kirche, Münster 2020, 13. 6 Svenja Flaßpöhler, Sensibel. Über moderne Empfindlichkeit und die Grenzen des Zumutbaren, Stuttgart 2021, 137. 7 Max Czollek, Desintegriert euch!, München 2018, 193. 8 Czollek 2018, 19–34. 9 Czollek 2018, 182. 10 Vgl. Czollek 2018, 9.139–153.

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»radikale Vielfalt«11 als Grundlage neuer Allianzen bei der politischen Willensbildung innerhalb einer demokratischen Gesellschaft.12 Dazu »braucht es die Anerkennung der akuten existentiellen Bedrohung, der sich derzeit viel zu viele Menschen in Deutschland ausgesetzt sehen«13. In provokativer Umkehrung des als übergriffig wahrgenommenen Mehrheitsdiskurses etabliert er den Begriff »deutsch« als unterscheidendes Label für das Täter*innenkollektiv.14 Sein Aufruf versteht sich als Widerstand gegen Fremdbestimmung und ist zugleich die Absage, eine fortwährend als diskriminierend wahrgenommene Mehrheitsgesellschaft weiter durch eigene Mitwirkung zu stabilisieren. Sein Schlusswort an die Mehrheit: »Desintegriert mich!«15 verbindet Czollek mit einer Aufforderung an Menschen mit vergleichbaren Diskriminierungserfahrungen: »Desintegriert Euch!« – so der Titel seines Essays. Mit seiner Abkehr steht Czollek nicht allein. Die Aktivistin, Pädagogin und Dichterin May Ayim verfasste in ihrem Gedicht »Der Käfig hat eine Tür« folgende Zeilen, die für die Ingeborg-Bachmann-Preisträgerin von 2020, Sharon Dodua Otoo, wegweisend waren: »[…] es ist mir inzwischen lieber ich bin ausgegrenzt ich bin nicht eingeschlossen […]«16

Von geistlichem und sexuellem Missbrauch Betroffene wehren sich gegen die Deutungshoheit kirchlicher Akteure im Zusammenhang mit den erlittenen Verbrechen und gegen ihre Instrumentalisierung beim Aufarbeitungsprozess.17 Selbstabgrenzung als Weg zu Empowerment ist auch das Mittel der Wahl einer wachsenden Gruppe engagierter Katholikinnen. Die Gruppierung Maria 2.0 ver11 »Die Idee der Integration von allem und allen ist nicht nur eine frei verfügbare Projektionsfläche für deutsche Phantasien kultureller Dominanz – die ihr zugrunde liegende Vorstellung eines gesellschaftlichen Zentrums macht es auch unmöglich, die radikale Vielfalt der deutschen Gesellschaft anzuerkennen, die heute schon Realität ist« (Czollek 2018, 188). 12 Vgl. Czollek 2018, 61 f. 13 Czollek 2018, 189. 14 Vgl. Czollek 2018, 10 f.44. 15 Czollek 2018, 193. 16 Sharon Dodua Otoo, Dürfen Schwarze Blumen Malen? Klagenfurter Rede zur Literatur, Klagenfurt 2020, 23, online verfügbar unter: https://files.orf.at/vietnam2/files/bachmannpreis/202022/ otoo_klagenfurter_rede2020_ansicht4_752860.pdf (letzter Zugriff am 15.09.2021). 17 Vgl. Offener Brief »Spiritualisierte Gewalt« vom 23.02.2021, online verfügbar unter: https:// www.feinschwarz.net/offener-brief-spiritualisierte-gewalt/ (letzter Zugriff am 23.03.2021). Vgl. Josef Haslinger, Mein Fall, Frankfurt a. M., 2020; Claudia Moenius, Feuer der Sehnsucht, München 2018, 157–164.

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weigert die Vereinnahmung durch eine von Missbrauch- und Vertuschungsskandalen beschädigte Kirche bei anhaltender Ungleichbehandlung von Frauen. »An diesem Abend haben wir zusammen geweint, auch gewütet und getobt. Am Ende fassten wir den Beschluss, zu tun, was Generationen von Frauen schon lange vorschlugen: draußen zu bleiben. So entstand die Initiative Maria 2.0. […] Getauft, berufen, singend, segnend. Wir fragen nicht mehr um Erlaubnis und warten nicht mehr auf Beifall der ›Geweihten‹.«18 Den exemplarisch hier aufgerufenen Bewegungen und Positionierungen ist gemeinsam, dass die Bereitschaft der Akteur*innen, innerhalb des von ihnen kritisierten Systems auf Abschaffung des Unrechts hinzuwirken, weitgehend erschöpft ist. Ihr Blick richtet sich auf Gesellschaftsstrukturen, die jenseits der als Dominanzkultur wahrgenommenen verortet sind. Dabei fordern sie eine eigentlich in Demokratien verwurzelte Selbstverständlichkeit: nämlich innerhalb eines friedlichen Lebensvollzugs im Rahmen einer antizipierten freiheitlichen Grundordnung so sein zu können, wie sie sich selbst bestimmen. Solche Positionen haben revolutionären Charakter, wenn sie sich auf ideologisch verfestigte oder hermetische hierarchische Strukturen beziehen. Innerhalb einer demokratischen Ordnung wirken sie jedoch stabilisierend, gerade weil sie deren Grundlagen unter den Stichworten »Vielfalt«, »Teilhabe«, »Empowerment«, »Selbstbestimmung« kritisch und offensiv ins Spiel bringen und Schlüsselwörter aus dem kritisierten Narrativ für sich reklamieren. Durch performative Aktionen, die eine radikal veränderte Praxis auch und gerade im Sprachgebrauch fordern, und diese bewusst trotz erkannter (Selbst-)Widersprüche und Widerstände zu etablieren suchen19, unterscheiden sie sich nicht nur von Reformvorhaben sondern auch von utopischen Gesellschaftsentwürfen. Sie eröffnen eigenständig Zukunftsräume unter veränderten Rahmenbedingungen im Hier und Jetzt. Neue Allianzen werden gesucht, um die fremdbestimmte Kategorisierung zu beenden.

18 Lisa Kötter, Schweigen war gestern. Maria 2.0 – Der Aufstand der Frauen in der Katholischen Kirche, bene!, München 2021, 15 f. 19 Vgl. Abendmahlsfeiern beim Kirchentag: Wunsch nach mehr Gemeinsamkeit, Artikel vom 15.05.2021, online verfügbar unter: https://www.ekhn.de/aktuell/detailmagazin/news/abendmahlsfeiern-beim-kirchentag-wunsch-nach-mehr-gemeinsamkeit.html (letzter Zugriff am 10.9.2021). Vgl. das Programm der Tage jüdisch-muslimischer Leitkultur vom 3. Oktober bis 9. November 2020, online verfügbar unter: https://www.tdjml.org/ (letzter Zugriff am 10.9.2021).

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Der für die dynamische Entwicklung einer Gemeinschaft elementar wichtige Übergang von Protest zu Abspaltung lässt sich, wie das Forschungsprojekt Cassandra belegt, durch eine sensible Wahrnehmung der aktuellen literarischen Zeugnisse ausmachen: »Hinweise auf Gefährdungslagen und drohende Eskalationen sind meist unüberhörbar, denn es gibt keinen Krieg ohne einen vorangehenden Krieg der Wörter. Und am hellhörigsten reagiert die Literatur, reagieren Künstler und Kulturschaffende: als empfindliche Seismographen der Wirklichkeit.«20 Die folgenden literarischen Zeugnisse inszenieren, anders als die oben zitierten Positionen, nicht ein Setting der Abspaltung, sondern sie signalisieren einen Missstand innerhalb der Gesellschaft und drängen auf Sensibilisierung, Respekt und Veränderung. Sharon Dodua Otoo platziert auf der Zeitebene der Gegenwart ihres 2021 erschienenen Romans »Adas Raum« diese Szene: »Ich lebe hier. War nie woanders. In meiner Familie war ich immer die einzige Schwarze. Alle sagten mir, wir sind gleich. Aber ich sah doch mit eigenen Augen, dass es nicht stimmte. Weißt du, was für ein Scheißgefühl das ist? Ständig und von allen Menschen angelogen zu werden?«21 Darunter liegen in Erzählschleifen Erfahrungskontexte schwarzer Personen in vergangenen Jahrhunderten. Sie handeln von wiederkehrender Verfolgung und weitergegebenen Traditionen der Fruchtbarkeit, von Ausgrenzung, Gewalt und Selbstbehauptung. Stichwort »Hautfarbe«, Stichwort »Geschlecht«: Mit ungeminderter Heftigkeit werden soziale Konflikte auf dem Feld der Körper- und Leibwahrnehmung ausgetragen und politisiert.22 Der Spoken-Word-Künstler, Lyriker und Übersetzer Jayrôme C. Robinet engagiert sich in Projekten für antidiskriminierendes Handeln.23 20 Jürgen Wertheimer, Sorry Cassandra! Warum wir unbelehrbar sind, Tübingen 2021, 9. 21 Sharon Dodua Otoo: Adas Raum, Frankfurt a. M. 2021, 219. 22 Vgl. Gunda Werner, An den Kreuzungen der Macht – Mehrfachdiskriminierungen als Gefährdung und als amtskirchlicher Ausweg? Ein etwas anderer Blick auf Machtmissbrauch. Vortrag auf der Tagung zu Macht und Missbrauch an der Goethe-Universität in Frankfurt am 10. und 11. Juni 2021, online verfügbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=BxQ8j64v0rA (letzter Aufruf am 11.09.2021). 23 Vgl. https://www.xartsplitta.net/schreibworkshop-fuer-transjugendliche/ (letzter Zugriff am 12.09.2021).

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MENSCHLICHE KORREKTHEIT »Am Anfang war die Beschimpfung. Davor stehe ich. Will ich mir diese Beschimpfung wirklich wieder aneignen? Wörter will ich nicht zurückerobern. Erobern will ich eigentlich gar nichts. Wörter will ich wieder lieb gewinnen. Wörter will ich lieb haben können.  ›Ich meine’s aber nicht beleidigend!‹  Ich stehe vor dem unbeleidigenden Wort. Meine Wunde wundert sich. […]«24

Stichwort »Wunde«. Vulnerabilität: Jayrôme Robinets oben zitiertes Motiv der Beleidigung und Wunde weckt aus christlich-theologischer Perspektive die Erinnerung an das Karfreitagsgeschehen, das Erleiden und Durchschreiten existentieller Ohnmacht in der angefochtenen Gewissheit eines bergenden Gottes. So verstärkt sich aus christlicher Perspektive ein (eigentlich) unhintergehbarer Aufruf zur Solidarität. Unterbleibt diese, ist gar die verfasste Kirche ausgrenzend (zum Beispiel in Aspekten ihrer Sexualmoral oder im Umgang mit Missbrauch), führt dies zu weiterer Verletzung. Auch hier gilt die Erkenntnis aus der Konfliktforschung des CassandraProjekts: Anhand von Veränderungen in der Text- und Rezeptionslandschaft könne insbesondere in fragilen Konstellationen »untersucht werden, wie sich Friedensprozesse und oder latente Eskalationsprozesse zwischen Konfliktparteien entwickeln«25. Svenja Flaßpöhler zeigt aus philosophischer Perspektive, dass die Verletzlichkeit des Menschen und seiner Ordnungssysteme ihm entweder auf den Wegen Friedrich Nietzsches Anlass zu Selbstüberwindung und Stärke sein kann oder mit Emanuel Lévinas Aufruf zu Einfühlung und Mitmenschlichkeit. Im ersten Fall soll sich die Wunde schließen, im zweiten bleibt sie das Signum der conditio humana, Anlass und Ausgangspunkt reflektierter Liebe und Solidari24 Jayrôme C. Robinet, Das Licht der Sonne ist weder gerecht noch ungerecht, Berlin 2015, 20. 25 Wertheimer 2021, 165.

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tät. »Solidarität brauchen dabei vor allem jene, die immer noch gesellschaftlich diskriminiert und marginalisiert werden: People of Colour, Homosexuelle, Transmenschen, Frauen, Geflüchtete, Opfer von sexualisierter Gewalt.«26 Aus nietzscheani­scher Perspektive gerät die Bewältigung der Zukunft in den Blick. Bei Lévinas ist die empfindliche Erinnerung an durchlittenes Unrecht – wie die Shoah – Voraussetzung dafür, vergleichbarem Unrecht vorzubeugen. »Menschen müssen sich in ihrer Verletztheit zeigen, müssen auf ihre Ethnie, ihr Geschlecht verweisen, um strukturelle Diskriminierungsdynamiken zu benennen«27, schreibt Flaßpöhler und führt aus, wie aber durch die notwendige Betonung authentischer Empfindung Schutzfunktionen einer formalisierten Kommunikation verlorengehen. Dazu wird die Frage virulent, wie den sich vervielfältigenden und widerstreitenden Ansprüchen des jeweils anderen konkret Rechnung getragen werden könne.28 Für eine christlich orientierte und gleichzeitig gesellschaftlich verantwortete Lösung dieser Frage verweise ich als Grundmodell individueller Empathie, die mit konfliktbewusster öffentlicher Stellungnahme verknüpft ist, auf die neutestamentliche Erzählung von der Begegnung zwischen Jesus und Maria mit dem Salböl (Joh 12,12–19) sowie Zachäus auf dem Baum (Lk 19,1–10). Die in einer konkreten Begegnung diskriminierte Person wird als (Gast)geberin mit allen ihren Potenzialen angesprochen: Solidarität auf Augenhöhe. Damit ist auch festgehalten, dass Empathie als handlungsleitende Grundeinstellung einen reflektierten Gottesbezug braucht, um selbstlos gute Handlungen zu motivieren, die den anderen in seiner Würde und Autarkie respektieren.29

3 Erzählt euch! Freisetzende Solidarität also, Begegnung, Berührung, Einladung, Gastmahl. Aber: Wie können wir uns umarmen, wenn wir nicht einmal wissen, wo die anderen stehen?30, fragte die Politikwissenschaftlerin, Journalistin und Bloggerin Kübra Gümüşay bei ihrem Vortrag im Haus am Dom in Frankfurt. Voraussetzung solidarischen Handelns, so ihre Überzeugung, ist die wertschätzende Wahrnehmung des jeweiligen Gegenübers, sei die Person scheinbar vertraut oder offensichtlich 26 27 28 29 30

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Flaßpöhler 2021, 50 f. Flaßpöhler 2021, 43 f. Vgl. Flaßpöhler 2021, 57. Vgl. Flaßpöhler 2021, 90. Kübra Gümüşay, Solidarität. Wie ist Teilhabe für alle möglich. Vortrag am 09.03.2021, vgl. auch https://hausamdom-frankfurt.de/beitrag/solidaritaet-wie-ist-teilhabe-fuer-alle-moeglich/ (letzter Zugriff am 08.11.2021).

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fremd.31 Zu solcher Wertschätzung gehört ein kritisches Bewusstsein von der eigenen Begrenztheit. Kübra Gümüşay entfaltet in ihrem Buch »Sprache und Sein« das Zueinander von Muttersprache und Fremdsprache mit dem jeweils unterschiedlich ausgeprägten kulturellen Gedächtnis der Sprachgemeinschaft.32 Nicht die Begrenztheit der jeweiligen Sprachspiele ist ihre Schwäche sondern deren Verabsolutierung: »Stereotype sind Panzer der Ignoranz, die die Ignorierten zu tragen haben. Sie wiegen schwer.«33 Sie engagiert sich für einen Kulturwandel: hin zu mehr Erzählräumen, hin zu mehr Demut. Sie verwendet diesen religiös konnotierten Begriff für eine Haltung, die ihre Überzeugungskraft aus der Erkenntnis zieht, dass sich nur im gleichberechtigten Austausch die vielfältigen Aspekte unserer geteilten Lebenswirklichkeiten angemessen begreifen lassen: »[S]olange wir nur sprechen, wenn wir unseren Einsatz erhalten, zu Themen, die uns zugeschrieben werden, solange werden wir nicht wirklich gehört werden. Wir bleiben Inspizierte. Wir tragen den Panzer.«34 Elisabeth Steinkellner, preisgekrönte Jugendbuchautorin, die 2021 die von der Jury des Katholischen Kinder- und Jugendbuchpreises ihr zugedachte Auszeichnung auf Intervention der Verantwortlichen in der Deutschen Bischofskonferenz nicht erhielt35, thematisiert, wie bestimmte Sprachmuster auch bei der jüngeren Generation virulent sind, im Generationenkonflikt diskriminierend verstanden werden und dem Sprachwandel unterliegen. Das Thema hat sich nicht erledigt. »In der Arbeit und auf der Uni ist Carla meistens Engelbert. ›Ich bin ja nicht einmal der und einmal die, sondern immer ich‹, war die Antwort, als ich mal fragte, ob es nicht anstrengend sei, immer wieder die Identität zu wechseln. ›Aber für die Leute ist es halt einfacher, wenn sie dich in eine Kategorie stecken können. Solange die nicht wissen, ob du Mann oder Frau bist, können die nicht mal normal mit dir reden. Erst wenn sie dich mit einem Label versehen können, sind sie zufrieden. Mann, Frau, oder meinetwegen auch Trans. Hauptsache, eine Kategorie ist da. Aber wer weiß, vielleicht kommt der Tag, an dem ich einfach ICH sein kann, Carl-Berta und Engelchen Krahvögelchen. Und niemanden juckts.‹«36 31 32 33 34 35

Vgl. Kübra Gümüşay, Sprache und Sein, 3. Auflage, Berlin, 2020, 27–43.143–145. Vgl. Gümüşay 2020, 27–43. Gümüşay 2020, 69. Gümüşay 2020, 71. Zur Papierklavier-Debatte vgl. https://www.presseportal.de/pm/66749/4910597 (letzter Zugriff am 09.05.2021). 36 Elisabeth Steinkellner, Papierklavier, illustriert von Anna Gisela, Berlin 2020, o. S.

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Die Intransparenz vieler kirchlicher Entscheidungen trägt wesentlich zum Legitimationsverlust der Institution bei, in diesem Fall der Deutschen Bischofskonferenz. Hilfreich wäre die Offenlegung der Gründe für die Entscheidung zur Nichtvergabe wie auch zur anschließenden (begrüßenswerten) Reform des Vergabeverfahrens gewesen.37 Statt (kontroverser) Kommunikation Schweigen und Kenntnisgabe. Vom öffentlichen Diskurs hat sich das Gremium dadurch ausgeschlossen, obwohl der Protest in einem offenen Schreiben an die Verantwortlichen herangetragen wurde.38 Die Schriftstellerin Kirsten Boie spricht von der Gefahr der Verzwergung eines bisher renommierten katholischen Preises.39 Die Chance, eigene Positionen, womöglich auch Irrtümer, verständlich zu machen, wurde vergeben. Die Zuspitzung um die Preisvergabe macht wieder deutlich, dass die notwendigen Begriffe zur kollektiven Bestimmung dessen, was wir wahrnehmen und was wir gut heißen, das individuell Wahrgenommene begrenzen und deshalb offen sein und über sich hinausweisen müssen. Dieses Sprachbewusstsein wird in der Literatur lebendig gehalten. Lena Gorelik gönnt sich und der Leserschaft einen ganzen Roman zu der Überschrift »Wer wir sind«40. »›Papa, was ist die Synagoge?‹ ›Da gehen die Juden hin.‹ ›Wer sind die Juden?‹ ›Wir sind das.‹ Seine Stimme, leiser, auch sein Blick. Nach hinten, nach rechts. Entwischt mir. ›Wir sind Juden?‹ […] ›Und sag das niemanden.‹ ›Was?‹ ›Dass wir Juden sind.‹ ›Nicht mal Julia?‹ […]

37 Vgl. https://www.spiegel.de/kultur/literatur/katholische-kirche-bischofskonferenz-muss-sichbei-jugendbuchpreis-raushalten-a-650aa6b0-a01c-4d78-acb6-ad9295e29ef7 (letzter Zugriff am 15.07.2021). 38 Vgl. https://www.spiegel.de/kultur/literatur/offener-brief-gegen-absage-des-katholischenjugendbuchpreises-a-ce6e080e-ce99-421e-81e6-7e39b604a8da (letzter Zugriff am 20.05.2021). 39 Ebd. 40 Lena Gorelik, Wer wir sind. Roman, Berlin 2021.

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›Nein, auch ihr nicht. Wahrscheinlich weiß sie es aber.‹ ›Woher?‹ ›Von ihrer Mutter.‹ ›Und woher weiß die das?‹ ›Das sieht sie.‹ Woran, an meinen Haaren. Ich merke mir die Stimme und auch seinen finsteren Blick.«41

Die Erfahrung von unterschwelligem, unkalkulierbar ausbrechendem Antisemitismus und defensivem Identitätsverlust prägt diese Szene. Die Mühe, diskriminierende Fremdbestimmungen aufzuweichen und Selbstbezeichnungen wieder zum Atmen zu bringen, muss die Sprachgemeinschaft gemeinsam aufbringen. Dafür gibt es Vorbilder, Menschen, die nicht zur Waffe umgekehrter Ausgrenzung greifen, und dennoch keinen Mantel des Schweigens über verbrecherische Taten breiten. In der Debatte um die Bezeichnung »Menschen mit Nazihintergrund«42 weist Meron Mendel darauf hin, dass durch »einen identitätspolitischen Gebrauch von Erinnerungskultur«43 ethnische Differenzen verschärft und Gruppen gegeneinander ausgespielt würden. »Kann uns die Bezeichnung der Nachkommen der Täter als ›Menschen mit Nazihintergrund‹ helfen, das Übergewicht vermeintlicher Opfererinnerungen zu korrigieren und anzuerkennen, dass die Gesellschaft im Nationalsozialismus mehrheitlich aus Tätern und Mitläufern bestand? Eher nicht.«44 Mit dieser Bezeichnung würde an eine Tradition angeknüpft, die die »Differenz zwischen ›Deutschen‹ und ›Migranten‹ in der Erinnerungskultur fortschreibt«45. »Eine postmigrantische Erinnerungskultur […] soll auch als zukünftiger Kompass für humanistische und universalistische Identifikationen funktionieren – für schon immer und für neue Deutsche gleichermaßen.«46 Diese Erkenntnis hat das Potenzial, willkürlich eingeführte Korrektive mit der Zeit wieder zu verflüssigen, die (wie Quoten- und antidiskriminierende Sprachregelungen) zur Durchsetzung politischer Teilhabe phasenweise not41 Gorelik 2021, 196 f. 42 Meron Mendel, Wie Identitätspolitik schadet. Wer sind die »Menschen mit Nazihintergrund«?, Artikel vom 22.03.2021, online verfügbar unter: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/identitaetspolitik-versus-erinnerung-an-den-holocaust-17256208.html (letzter Zugriff am 23.03.2021). 43 Ebd. 44 Ebd. 45 Ebd. 46 Ebd.

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wendig zu sein scheinen, bevor sich gleichberechtigte Allianzen im politischen Alltag bilden können. Man kann die hier aufgeführten Ausschnitte aktueller Identitätsdiskurse als Indiz zerbröckelnder Gemeinschaft deuten. Auf den zweiten Blick allerdings entpuppt sich die zu dieser Diagnose gehörende Hintergrundfolie einer ehemals intakten, zu bewahrenden Einheit oftmals als Konstrukt zur Abwehr von Partizipationsbestrebungen. Denn die Akteur*innen der protestierenden gesellschaftlichen Gruppen treten ursprünglich gerade nicht als monolithischer Block auf, sondern sehen sich innerhalb ihren engeren Communities von einer Vielfalt unterschiedlicher Narrative umgeben, erleben diese als Manifestationen von Freiheit und beharren auf individueller Autonomie und unabhängiger Positionierung.47 Die demokratisch gesinnten Teile der Gesellschaft und die katholische Kirche als öffentliche Institution schwächen sich selbst, wenn sie mit Unverständnis und verunsicherter Abwehr auf Proteste reagieren, die berechtigterweise einen gemeinsamen Grundwert ihrer jeweiligen Ordnung einfordern – kulturelle Vielfalt und Selbstbestimmung aufgrund unverfügbarer Menschenwürde. Eigentlich stützt der katholische Traditionsbegriff eine Ordnung »radikaler Vielfalt«, wenn die Frohe Botschaft der Evangelien nicht ein- sondern vierstimmig, mehrstimmig in mehrsprachigen Briefen, Hymnen und Zeugnissen tradiert und die Bibel, Buch der Bücher, auf keinen Fall weitererzählt wird ohne die Stimmen der Fremden und Außenseiter*innen. Im Gegenteil: Erst wenn die Vielstimmigkeit erstickt wird, wachsen die Mauern und die Irrtümer, eskalieren die Auseinandersetzungen. Die Instruktion der Kleruskongregation, die die Diskussionen des Synodalen Wegs um partizipative Leitung von Gemeinden (Sommer 2020)48 und Segnungen von gleichgeschlechtlichen Paaren (Frühjahr 2021)49 beenden sollen, erreichen, wie die ungestillte Diskussion um die Zulassung von Frauen zum Priesteramt, vor allem eins: Desintegration und ein tieferes Auseinanderklaffen von kurialer Lehre und regionaler Praxis. Sie zwingen viele deutsche Bistümer und Gemeinden zu einem Doppelgesicht, das die Idee weltkirchlicher Einheit einerseits, die Notwendigkeit individueller Seelsorge und 47 Otoo 2020, 29. 48 Vgl. Kongregation für den Klerus, Instruktion »Die pastorale Umkehr der Pfarrgemeinde im Dienst an der missionarischen Sendung der Kirche« vom 20.07.2020, online verfügbar unter: https://www.dbk.de/fileadmin/redaktion/diverse_downloads/presse_2020/2020-07-20_ Instruktion-Die-pastorale-Umkehr-der-Pfarrgemeinde.pdf (letzter Zugriff am 27.07.2020). 49 Vgl. Kongregation für die Glaubenslehre, Responsum ad dubium über die Segnung von Verbindungen von Personen gleichen Geschlechts, vom 22.02.2021, online verfügbar unter: https:// www.vatican.va/roman_curia/congregations/cfaith/documents/rc_con_cfaith_doc_20210222_ responsum-dubium-unioni_ge.html (letzter Zugriff am 15.09.2021).

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gerechter Partizipation anderseits nur mühsam zusammenhält. Zwar werden so auf manchen umkämpften Feldern im praktischen Vollzug Zukunftsräume geschaffen. Verdeckte Konflikte unter verschleiernder Fassade untergraben jedoch auf Dauer Glaubwürdigkeit. Dadurch entstehen Willkür und Machtanmaßung – Raum für die Ausbreitung von geistlichem und sexuellem Missbrauch, das haben Analysen im Rahmen der MHG-Studie belegt.50 Notwendig wäre eine Reform in Kirchenrecht, Lehre und Liturgie, die der ursprünglich von den ersten Aposteln (Gal 3,28) erkämpften Weite verpflichtet ist, jede einzelne Person in ihrem Sosein aufzunehmen. Die kirchenrechtlich festgeschriebene Sanktionierung individueller freiheitlicher Lebensentwürfe durch Ausschluss von Sakramenten muss abgelöst werden durch eine seelsorgliche Hinwendung zur Ermöglichung des Guten Lebens in der begründeten Hoffnung auf Gottes Zuwendung.51 Denn aus neutestamentlicher Perspektive wird ein Narrativ des Heil-Werdens angeboten, offen für Auslegung in die aktuelle Lebenswelt, konsequent im Verzicht auf verfügbare Macht. Stattdessen wird das machtvolle Heilsangebot unmissverständlich an die freie Zustimmung des individuellen Menschen gebunden und bildet so die Grundlage für ein ungezwungenes Liebesgeschehen in gegenseitiger, ungeschuldeter Wertschätzung. Hinter dieses Narrativ der Erlösung mit seinen eindeutigen Haltungs- und Handlungsvorgaben darf kirchliches Handeln nicht zurückfallen. Niemand, der Jesu Blick (Petrus) oder seine Nähe (blutflüssige Frau) sucht, wird zurückgewiesen. Diese Wahrnehmung und Wertschätzung des Gott suchenden Menschen muss Grundlage einer umfassenden Reform des Kirchenrechts werden, auf deren Grundlage die strittigen Themen Segensfeiern für gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften, Zulassung von wiederverheirateten Geschiedenen zur Eucharistie, Abschaffung des Pflichtzölibats, Zulassung von Frauen zum Priesteramt geklärt werden. Mit der Niederlegung klerikaler Machtanmaßung im Horizont einer diakonischen Mystagogie52 kann und muss eine behutsame Aktualisierung des Bußsakraments

50 Vgl. MHG Forschungskonsortium, Forschungsprojekt: Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz, Projektbericht vom 24.09.2018, online verfügbar unter: https://www.dbk.de/fileadmin/redaktion/diverse_downloads/dossiers_2018/MHG-Studiegesamt.pdf (letzter Zugriff am 13.09.2021). 51 Vgl. Johannes Hoff, Verteidigung des Heiligen. Anthropologie der digitalen Transformation, Freiburg i. Br. 2021. 52 Vgl. zu »diakonischer Mystagogie«: Klaus Kießling, Seelsorge bei Seelenfinsternis. Depressive Anfechtung als Provokation diakonischer Mystagogie, Freiburg 2002.

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einhergehen, das die Vergebung von Schuld in den Mittelpunkt des Glaubenslebens zurückholt, mit dem Potenzial, Gewaltspiralen zu unterbrechen.53 Dann könnten Katholik*innen beherzt und in einem gestärkten Verständnis von allgemeinem Priestertum eine angstbefreite Haltung der Wahrnehmung und Wertschätzung in den hier beschriebenen gesellschaftlichen Konfliktfeldern vertreten und friedensstiftend wirken. Daraus ergäbe sich eine neue, Identität stiftende Option für die Genannten gegenüber den Ungenannten54, die die Mehrheit des Kollektivs bilden, eine Option für die Bezeichneten gegenüber den Unbezeichneten, für die Abgegrenzten, die Unterschiedenen, Diskriminierten, die Opfer und die Schuldiggewordenen. Denn »mit zu den stärksten aggressionssteigernden Faktoren«55 rechnen die Forschenden im Cassandra-Projekt das Gefühl, nicht wahrgenommen, nicht gehört zu werden.

53 Vgl. zu Versöhnung, die Täter*innen in den Blick nimmt: Klaus Kießling, Geistlicher und sexueller Machtmissbrauch in der katholischen Kirche, Würzburg 2021, 52; Straßberger 2015, 285–321. 54 »In beiden Fällen [gemeint sind Juden und Jüdinnen sowie Muslim*innen in Deutschland] wird die Minderheitenrolle von einer Position aus befragt, die unbenannt und darum unsichtbar bleibt. Ich bezeichne diese Dominanzposition als, Achtung: deutsch« (Czollek 2018, 10). 55 Wertheimer 2021, 179.

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Lisa Straßberger

Toraexegese als Beitrag zur Gerechtigkeit Neutestamentliche Gedanken zu innerkirchlichem Machtmissbrauch Ansgar Wucherpfennig SJ

Mit diesem Beitrag zu Klaus Kießlings 60. Geburtstag möchte ich einen neutestamentlichen Beitrag in der kirchlichen Missbrauchskrise leisten. Damit steht er in einem größeren Zusammenhang der Bedeutung der Gerechtigkeit für eine biblische Ethik. Die Frage nach der Gerechtigkeit ist meines Erachtens auch zentral unter den Fragen anlässlich des kirchlichen Missbrauchs. Allerdings bedarf es dazu erst einer Vorklärung, nämlich, ob so etwas wie Missbrauch im Neuen Testament überhaupt vorkommt. Diese Vorklärung versucht mein Beitrag anzugehen. Damit geht er einem Thema nach, das für den feierlichen Anlass vielleicht etwas zu schwer ist. Ich möchte ihn dennoch in Dankbarkeit Klaus Kießling widmen. Diejenigen, die Fragen der Gerechtigkeit existenziell an sich heranlassen, haben das Wagnis auf sich genommen, Mensch zu werden. Klaus Kießling habe ich als Mensch, Christ und Kollegen erlebt, der nicht mit lauter, aber vernehmbarer und beharrlicher Stimme für Gerechtigkeit eintritt. »Bei allen Formen von Missbrauch geht es um Missbrauch von Macht. Als sexualisierte Gewalt ist er an vielen Tatorten präsent, auf eigene Weise in der katholischen Kirche. Dabei drängt sich in wachsendem Maße die Frage nach spezifischem geistlichem Missbrauch auf.«1 Mit diesen Sätzen deutet Klaus Kießling in seinem jüngeren Buch gleich zu Beginn den Zusammenhang von geistlichem und sexuellem Missbrauch an. Dem Zusammenhang zwischen Machtmissbrauch und seinen tiefer liegenden Ursachen in »Kollusionen«2 geht er in seiner Untersuchung genauer nach. Im Zuge dessen akzentuiert Klaus Kießling auch den kirchlichen Auftrag neu:

1

Klaus Kießling, Geistlicher und sexueller Machtmissbrauch in der katholischen Kirche, Würzburg 2021, 7. 2 Kießling 2021, 22 (Hervorhebungen im Original): »Geistlichen Missbrauch verstehe ich als Kollu­ sion einer geistlichen Autorität mit spirituell Suchenden, die systemisch begünstigt die Macht des Täters wachsen lässt und diejenigen mundtot macht, die in der Beziehung zu Opfern werden.«

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»Als Kirche kommen wir unserem Auftrag nach, wenn wir mit der Option für die Armen, Traumatisierten und Ausgestoßenen Ernst machen. Diesem Auftrag nachzukommen ist erst recht dann unsere Pflicht, wenn die Kirche diese Armen, Traumatisierten und Ausgestoßenen selber produziert hat.«3 Um hier gleich einem Missverständnis vorzubeugen: Sicherlich kann die Kirche sich nicht als Helferin und Retterin für die Opfer anbieten, deren Leib, Seele und Würde sie selbst durch ihre Verhaltensweisen, Handlungen und Strukturen verletzt hat. Das würde die Betroffenen wiederum in eine gefährliche Doppelbindung zur Kirche führen, die oft eine tieferliegende Ursache ihrer Verletzungen ist. Die Kirche kann das von ihr produzierte Leid nicht einfach wieder gut machen. Die Option für die »Armen, Traumatisierten und Ausgestoßenen« bedeutet im Fall von Opfern der Kirche zunächst vor allem, dass Menschen in der Kirche ihre Perspektive ernst- und annehmen, ihr Leid anerkennen. Es bedeutet, dass man in der Kirche akzeptiert, dass beschädigtes Vertrauen in die Kirche bei Betroffenen von Missbrauch oft für lange Zeit und nicht selten für immer verletzt bleibt.4 Sich diesem neuen Akzent einer Option für die Armen zu stellen, ist in der katholischen Kirche nicht unumstritten. Oft wird die Option für die Armen mit ihrem befreiungstheologischen Akzent als Solidarität der Kirche mit den Armen verstanden, die unter die Räder der sozialökonomischen und politischen Verhältnisse außerhalb der Kirche geraten sind. Das Neue an Klaus Kießlings Akzentuierung liegt aber auf den Armen, deren Leben die Kirche selbst beschädigt hat. Von diesen Armen distanzieren oder dissoziieren sich Vertreter*innen der Kirche oft und in verschieden subtilen Formen. Dagegen möchte ich zeigen, dass bereits die Gemeinden des Matthäusevangeliums den Missbrauch von Macht bis in ihre eigenen Reihen hinein erfahren haben.5 Armut und Machtmissbrauch waren im ersten Christentum keine zwei voneinander trennbaren Bereiche, beides kannten bereits die frühchristlichen Gemeinden. In ihnen gab es passive Opfer wie auch aktive Täter*innen von Machtmissbrauch. Die erste Seligpreisung der »Armen im Geiste« macht deutlich, dass Kirche 3 Kießling 2021,33 (Hervorhebung durch A. W.). 4 Vgl. Klaus Mertes, Verlorenes Vertrauen. Katholisch sein in der Krise, 2.  Auflage, Freiburg i. Br. – Basel – Wien 2014; Kießling 2021, 38 f. 5 Vgl. Ansgar Wucherpfennig, Leitung, Vollmacht, Ämter und Dienste in biblischer Perspektive – Kirche nach dem Matthäusevangelium im Blick auf die Missbrauchskrise, in: Thomas Meckel & Matthias Pulte (Hrsg.), Leitung, Vollmacht, Ämter und Dienste. Zwischen römischer Reform und teilkirchlichen Initiativen (Kirchen- und Staatskirchenrecht; Bd. 33), Münster 2021, 33–46.

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»selig« werden kann, wenn sie eine solidarische Beziehung zu denen kultiviert, die sie selbst verletzt hat. Dies gehört elementar zu Matthäus’ Verständnis von Gerechtigkeit. Dem möchte ich mich zunächst mit einigen Beobachtungen zum sozialgeschichtlichen Sitz des Matthäusevangeliums annähern.

1 Ein frühchristlicher Lehr-Lern-Betrieb Das Matthäusevangelium hat seinen Sitz im Leben in einem frühchristlichen Lehr-Lern-Betrieb. Das Lesen und Studieren in der Schrift war mit sozialem Lernen verbunden. Am Ende der Gleichnisrede vergleicht Matthäus Schriftgelehrte, die »Schülerin« oder »Schüler des Himmelreiches« geworden sind, mit einem Hausherren, der aus seinem Schatz Neues und Altes hervorbringt (Mt 13,52). Der Vergleich mit dem Hausherren setzt voraus, dass im orientalischen Haushalt der Mann die Aufsicht über die Vorratskammer geführt und daraus frische und alte Früchte auf den Tisch gebracht hat.6 In seinem Evangelium konzentriert sich Matthäus oft auf Männer als seine Adressaten, was nicht ausschließt, dass damit heute bald 2000 Jahre später auch Frauen angesprochen sein können. Mit seinem Vergleich steht Matthäus in einer älteren biblisch-jüdischen Tradition: Weise Menschen in Israel kennen das Alte und ahnen das Künftige voraus (vgl. Weish 8,8); sie sind mit der Weisheit der Vorfahren vertraut und ersinnen eigene Weisheitsworte. Im rabbinischen Lehrbetrieb ist das Alte die Tora, und das Neue sind die Worte und Deutungen der Schriftgelehrten.7 Der Vergleich bei Matthäus könnte als weisheitlich-biblische Grundlage für das religionspädagogische Prinzip der Korrelationsdidaktik dienen. Das Alte und das Neue im Schatz schriftgelehrter Schülerinnen und Schüler des Himmelreichs setzt ein wechselseitiges Aufeinander-Bezogen-Sein von biblischer Überlieferung und jeweils gegenwärtiger Lebenswelt voraus. Martin Hengel hat den am Himmelreich geschulten Schriftgelehrten als »Signatur des Evangelisten«8 verstanden. Matthäus zeichnet mit diesem Vergleich aber wohl nicht nur seine eigene Signatur, sondern auch ein Porträt der 6 Vgl. Joachim Gnilka, Das Matthäusevangelium. 1. Teil zu Kap. 1,1–13,58 (Herders theologischer Kommentar zum Neuen Testament; Bd. 1, Teil 1), 2. Auflage, Freiburg i. Br. 1988, 511. 7 Vgl. ebd.: Sir 18,29; 21,15a und das ausdrucksstarke Bild in Sir 24,30–34. 8 Martin Hengel, Die Bergpredigt des Matthäus und ihr jüdischer Hintergrund, in: ders. (Hrsg.), Judaica, Hellenistica et Christiana (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament; Bd. 109), Tübingen 2002, 219–292, hier: 238 Anm. 35. Die christliche Tradition hat den Evangelisten verbreitet mit dem Zollpächter Matthäus in 9,9 identifiziert. Den Namen des Evangelisten behalte ich hier bei. Geschichtlich gehe ich aber von einem unbekannten Autor aus, der eine jüdische schriftgelehrte Ausbildung erhalten hat.

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Christusglaubenden, an die er sich mit seinem Evangelium wendet. Matthäus zielt darauf, seine Leserinnen und Leser mit seinem Evangelium in einen Prozess der Charakterbildung zu involvieren, um sie selbst zu christusgläubigen Lehrenden zu erziehen. Dabei spricht Matthäus auch innergemeindliche Probleme an.

2 Nur einer ist euer Vater – der Einschub in Mt 23,8–12 Im Judentum nach der Zerstörung des Tempels waren die christusglaubenden Gemeinden des Matthäus eine Minderheit. Aufgrund ihres Bekenntnisses zu Jesus als Messias wurden sie zunehmend weniger integrationsfähig in das entstehende jüdische synagogale Judentum ohne Tempel. Joachim Gnilka hat in der feindseligen Darstellung des Proselytismus (Mt 23,8) eine Persiflage »jüdische[r] Missionstätigkeit«9 gesehen. Die Christusglaubenden unter den Adressaten des Matthäusevangeliums haben sich anderen missionarisch aktiven jüdischen Gruppierungen gegenüber in einer inferioren Konkurrenzposition gesehen. Dies ist der Hintergrund für die Worte Jesu in Mt 23 mit den sieben Weherufen gegen die Schriftgelehrten und Pharisäer (23,13–31). Die geschichtliche Situation rechtfertigt die Polemik moralisch nicht, aber sie lässt sie zumindest besser verstehen. Eines der erschreckendsten Kapitel in der Geschichte des christlichen Antisemitismus ist, dass sie schon früh judenfeindlich ausgelegt wurden. In Jesu Kritik an den Schriftgelehrten und Pharisäern in Mt 23,1–33 lassen sich auch religiöse und psychologische Phänomene wahrnehmen, die heute als Machtmissbrauch10 bezeichnet werden können: selbstkritikfreie Vereinnahmung von Tradition für die eigene Machtposition (23,2), eigennützige Verschärfung von Geboten und Vorschriften (23,4.23–24), narzisstisch zur Schau getragene Frömmigkeit (23,5–6), Vortäuschung eigener moralischer Integrität bei gleichzeitiger Vorteilnahme im Namen religiöser Praktiken (23,24–25.27). Allerdings verstanden sich auch die Christusglaubenden in den Matthäusgemeinden noch als jüdische Schriftgelehrte, und sie waren offenbar bis auf das Christusbekenntnis in vielem nicht weit von den kritisierten Schriftgelehrten und Pharisäern entfernt. Das lässt sich bereits daran erkennen, dass der matthäische Jesus die Lehrautorität der Schriftgelehrten und Pharisäer konzediert: »Was er an ihnen kritisiert, ist mangelndes Tun«11, also eine defizitäre Praxis. Die polemische Kri9 Gnilka 1992, 286. 10 Zu einer aktuellen Analyse vgl. Kießling 2021, 16–20. 11 Klaus Wengst, Das Regierungsprogramm des Himmelreichs. Eine Auslegung der Bergpredigt in ihrem jüdischen Kontext, 2. Auflage, Stuttgart 2019, 21.

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tik an den konkurrierenden Schriftgelehrten lässt sich dann also rückwenden auf die eigene Gemeindesituation, und das tut Matthäus auch. Unmittelbar nach dem Anfangsteil der Rede (23,2b–7) und vor den Wehe­ rufen gegen die Schriftgelehrten und Pharisäer (23,13–33) unterbricht Jesus seine rhetorischen Angriffe und spricht seine Jünger direkt an: »(8) Ihr (aber) sollt euch nicht ›Rabbi‹ rufen lassen, einer nämlich ist euer Lehrer, ihr alle (aber) seid Brüder. (9) Auch sollt ihr auf der Erde nicht (jemand) euren ›Vater‹ rufen, einer nämlich ist euer Vater, der himmlische. (10) Und ihr sollt euch nicht ›Meister‹ rufen lassen, denn euer Meister ist einer: der Messias. (11) Der Größte unter euch soll euer Diener sein. (12) Denn wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt, und wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden.« (Mt 23,8–12) Die Ehrenanreden Rabbi, Lehrer haben ihren Sitz im Leben im Schul- und Lehrwesen. Auch der Vatertitel ist als Ehrenbezeichnung für Gelehrte belegt.12 Die sprachliche Form der dreifachen Verzichtsaufforderung in den Versen 8–10 stammt vermutlich aus dem eigenen Schulbetrieb der Gemeinden des Matthäus. Der kurze in sich geschlossene Abschnitt ist ein Beispiel frühchristlicher ToraExegese, denn sie legen das Schma Jisrael aus, und beziehen den Messias Jesus in das monotheistische Bekenntnis zum Gott Israels ein. Das Bezugswort im Schma Jisrael ist das Zahlwort ›eins‹, das bei seiner Rezitation besonders betont wurde und bis heute wird. In der Mitte steht das Bekenntnis der Jünger und der Gemeinde, das sie mit Israel teilen: Der Gott Israels ist einer. Gott ist die zentrale Lehrautorität. Das Zahlwort »eins« steht aber auch in den beiden rahmenden Aufforderungen: Aus der Einzigkeit der Lehrautorität Gottes in der Gemeinde folgt (a) eine geschwisterlich gleichberechtigte Gemeinschaft aller in den Gemeinden (23,8c), und (b) eine untrennbare Einheit von Gott und seinem Messias. Der Χριστός ist »Co-Lehrer« des einen Gottes (23,10b). Beide 12 Vgl. Matthias Konradt, Das Evangelium nach Matthäus (Das Neue Testament Deutsch; Bd. 1), Göttingen 2015, 356; William David Davies & Dale C. Allison, A Critical and Exegetical Commentary on the Gospel According to Saint Matthew, Vol. 3: Commentary on Matthew XIX–XXVIII (International Critical Commentary on the Holy Scriptures of the Old and New Testaments), reprint, London – New York 2004, 276 f.

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gemeinsam sind die einzig anzuerkennende Lehrautorität: »Wo Gott und sein Messias als die Autoritäten anerkannt sind, fallen alle zwischenmenschlichen Differenzen als irrelevant in sich zusammen.«13 Jesus führt seine Anklage gegen das »Ansehen und Scheinenwollen vor den Menschen statt vor Gott«14 nicht nur gegen die Pharisäer und Schriftgelehrten oder gegen die Jünger. Mit den Jüngern als angesprochenen Erzählfiguren sollen sich auch die ersten Hörer des Matthäusevangeliums selbst angesprochen sehen, die faktischen Lehrenden in der Matthäusgemeinde. Dies wird ihnen schon dadurch nahegelegt, dass Jesus hier aus dem Duktus seiner Rede aus- und nach der Anrede seiner Jünger wieder einsteigt. Die Kritik spricht also offenbar in der Gemeinde bereits verbreitete Ehrenerweise an. Männliche Machtpositionen wurden mit Ehrenanreden dekoriert und ihr Missbrauch auf diese Weise verschleiert. Wahrscheinlich ist, dass in dieser Mahnung – wie meist im Matthäusevangelium – mit den Jüngern Männer gemeint sind.15 Daraus folgt nicht, dass Macht in den Gemeinden nur von Männern ausgeübt werden durfte. Gerade die zitierte Stelle stellt hegemonial männliche Hierarchien unter eine fundamentale theologische Kritik. Wenn Lehrende in den Gemeinden sich die Stelle Gottes und seines Gesalbten anmaßen, setzen die Missstände ein, die Jesus darauf in den Weherufen angreift. Um es in der von Klaus Kießling verwendeten pastoralpsychologischen Terminologie auszudrücken: Die Stimmen der Lehrenden in den Gemeinden werden dann in einer »Kollusion«16 mit der Stimme Gottes verwechselt, der die einzige Lehrautorität zu sein hat. Die Stimme der Lehrenden wird »fatalerweise […] unter der Hand zu derjenigen Gottes«17. Dabei geht es nicht allein um einen Verstoß gegen das Hauptgebot im Schma Jisrael. Zugleich geht es um ein schlimmes Vergehen an den Menschen.18

13 Konradt 2015, 356 f. (Hervorhebung im Original). 14 Roland Deines, Die Gerechtigkeit der Tora im Reich des Messias, Tübingen 2004, 405. 15 Vgl. dazu Wengst 2019, 26 f., der kommentiert: »Diese exegetische Einsicht kann es selbstverständlich nicht begründen, dass bestimmte ›Ämter‹ in der Kirche nur von Männern ausgeübt werden dürften. In diesem Fall wäre es vollkommen willkürlich, wieso das Kriterium der Männlichkeit der Schüler Jesu in den Evangelien gelten soll, nicht jedoch das ihrer Jüdischkeit und die klare Bestimmung ihrer Anzahl auf zwölf – ganz davon abgesehen, dass sie kein ›Amt‹ innehatten und schon gar nicht ein ›Priesteramt‹.« 16 Kießling 2021, 21. 17 Kießling 2021, 13. 18 Vgl. ebd. (Hervorhebung im Original): »Dabei geht es nicht allein um einen Verstoß gegen das Erste und das Zweite Gebot, sondern zugleich um ein Vergehen an einem Menschen.«

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3 Missbrauch an Kindern und Kleinen Die Vergehen an Menschen, die hier in der Gemeinde angesprochen sind, lässt eine intratextuelle Beziehung im Matthäusevangelium erkennen. In Vers 11 hat Matthäus an die dreifache Aufforderung zum Verzicht auf Ehrenanreden ein Wanderlogion eingefügt: »Der Größte unter euch soll euer Diener sein.« Eine Variation dieses Wanderlogions hat er bereits in 18,4 verwendet und dort konkret auf ein Kind bezogen, das Jesus seinen Jüngern in die Mitte gestellt hatte, die mit internen Machtfragen (18,1b) beschäftigt waren: »Wer sich also selbst kleinmacht wie dieses Kind, jener ist der Größte im Reich der Himmel.« Darauf folgt in 18,6 eine scharfe Warnung davor, »diesen Kleinen« ein Harm zuzufügen: »Wer auch immer eines dieser Kleinen, die an mich glauben, zu Fall bringt, für den wäre es besser, dass er mit einem Mühlstein um seinen Hals in der Tiefe des Meeres versenkt worden wäre.« Wenn Peinigern dieser Kleinen gedroht wird, dass sie mit einem Mühlstein ins Meer geworfen werden, ist damit wohl die Todesstrafe durch Ertränken gemeint. Lorne Zelyck hat in einer jüngeren Untersuchung überzeugende Argumente dafür vorgetragen, dass dieses Wort auf das verbreitete Aussetzen von Kindern im römischen Imperium reagiert.19 Kinder wurden aus verschiedensten Gründen ausgesetzt: als vaterlose, illegitime Kinder, mit körperlichen Einschränkungen oder auch, weil die Familie das Kind nicht ernähren konnte. Oft wurde das Kind eingewickelt auf der Straße niedergelegt und blieb zunächst am Leben, gelegentlich wurde es gefunden. Eine andere Form war, das Kind zu ertränken, etwa in einer Kiste mit Gewichten in einen See geworfen. Kinder, die ihre Aussetzung überlebt haben, wurden oft als Sklavinnen und Sklaven in Häuser aufgenommen, wo sie zu sexuellen Diensten zur Verfügung standen.20 Dieser Zusammenhang macht wahrscheinlich, dass das Gerichtswort Jesu hier mit dem Versenktwerden mit einem Mühlstein der Regel des Talio folgt. Peinigern, die Kinder aussetzen, sie ertränken, ihr Leben bewusst aufs Spiel setzen oder sie sexuell missbrauchen, droht Jesus an, dass sie selbst eine mindestens ebensolche Strafe im Gericht erhalten. Matthäus hat in 18,1–9 eine Vorlage aus dem Markusevangelium (9,33–48) zu einer harten Warnung vor dem Missbrauch dieser Kleinen zugespitzt. Dass er den Ausdruck »einen von diesen Kleinen, die an mich glauben« (Mt 18,6: ἕνα τῶν μικρῶν τούτων τῶν πιστευόντων εἰς ἐμέ) ohne Änderung aus Markus übernommen hat, lässt annehmen, dass 19 Vgl. Lorne Zelyck, Matthew 18,1–14 and the Exposure and Sexual Abuse of Children in the Roman World, in: Biblica 98 (2017) 37–54. Vgl. auch Wucherpfennig 2021. 20 Vgl. auch Hubertus Lutterbach, Gotteskindschaft. Kultur- und Sozialgeschichte eines christlichen Ideals, Freiburg i. Br. – Basel – Wien 2003, 174–191.

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es Missbrauch an Kindern, Kleinen und Armen auch unter den Christusglaubenden der Matthäusgemeinden gab. Möglicherweise hatten sich auch Autoritäten in diesen Gemeinden an »Kleinen« schuldig gemacht. Diese Vermutung lässt sich durch einen Vergleich mit der Didache erhärten.

4 »Seelenmord« in der Didache In der Didache zeigt sich eine sozialgeschichtliche Wirklichkeit, die in die chronologische und geographische Nähe des Matthäsuevangeliums gehört und mit dessen Wirklichkeit in vielem vergleichbar ist. Bereits der Titel der Schrift »Zwölf-Apostel-Lehre« deutet an, dass Lernen und Lehren auch im Zentrum der Gemeinden der Didache stand. Sie gibt eine Zusammenfassung und Neuinterpretation der Überlieferung Jesu, die nächste Parallelen zum Matthäusevangelium aufweist, zum Beispiel das Vater-Unser in Did. 8,2, das mit Mt 6, nicht aber mit Lk 11 übereinstimmt. Gleichzeitig verbindet die Didache ihre Jesus-Überlieferung mit Herausforderungen, auf die Christusglaubende in einem anderen Umfeld als dem der ursprünglichen Jesusbewegung Antworten finden mussten. In ihrer ethischen Lehre (Did. 1–10) lehnt sich die Didache in Kapitel 2 an die zweite Tafel des Dekalogs an: »(2) Du sollst nicht töten, nicht ehebrechen, keine Kinder verderben, keine sexuelle Unmoral treiben, nicht stehlen, nicht Zauberei treiben, nicht Gift mischen, du sollst ein Kind nicht abtreiben und das Geborene nicht töten, nicht den Besitz deines Nächsten begehren. (3) Du sollst keinen Meineid schwören, kein falsches Zeugnis geben, nichts Übles reden, nichts Böses nachtragen.« Auch hier liegt ein Stück aktualisierender Toraexegese21 vor: Die zweite Dekalogtafel (Ex 20,13–17; Dtn 5,17–21) bildet das Gerüst, in das andere Gebote eingefügt sind, die Missbräuche unter Verbot stellen, die vermutlich in den Gemeinden vorkamen oder denen Christusglaubende in den Gemeinden der Didache ausgesetzt waren. Darunter nehmen Gewaltverbrechen gegen (werdende) Kinder und Kleine einen besonderen Raum ein. Sie sind gleich dreifach erwähnt:

21 Dass möglicherweise eine verbreitetere Schultradition vorliegt, zeigt die Parallele im pseudepigraphen Barnabasbrief (19,4).

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1. das Verbot, »Kinder zu verderben«, 2. das Verbot der Abtreibung (wohl der älteste Beleg dieses Verbots in der christlichen Literatur22) und 3. das Verbot der Tötung von Kindern. Das Verbot »du sollst kein Kind verderben« (οὐ παιδοφθορήσεις) folgt in Did. 2,2 unmittelbar auf die beiden Dekaloggebote. Die verbreitete Übersetzung mit »Knaben schänden« kann leicht irreführen, denn dies grenzt das semantische Spektrum des griechischen Verbums zu stark ein. Damit sind erstens nicht nur gleichgeschlechtliche pädosexuelle Handlungen von Männern an Knaben angesprochen, und das Verb des Kompositums meint zweitens nicht explizit sexuelle Handlungen, sondern hängt mit dem griechischen Verb φθείρω (Substantiv φθορά) für »zugrunde richten, vernichten, verderben« zusammen. Gemeint ist, dass Erwachsene durch ihr Handeln Kinder körperlich und seelisch dauerhaft traumatisieren, ihre Lebensvoraussetzungen »zerstören«, dass Erwachsene ihre Macht an Kindern so missbrauchen, dass sie »Seelenmord«23 an ihnen begehen. Unter den Ämtern in der Gemeinde nennt die Didache Lehrer (διδάσκαλοι oder διδάσκοντες) neben Aposteln und Propheten. Die διδάσκαλοι waren Wanderlehrer, die von Ort zu Ort zogen und sich für unbefristete Zeit in den Gemeinden aufhielten, um dort eine längere regelmäßige Lehrtätigkeit aufnahmen. Sie sollten zusammen mit den Propheten in der Gemeinde eine ebensolche Achtung erhalten wie die Hohepriester am Jerusalemer Tempel. Die Gemeinden sollten ihnen die Erstlingsgaben von Kelter, Tenne, Rinder und Schafen geben (Did. 13). Ebensolche Ehre und damit auch wirtschaftliche Vergeltung ihrer Tätigkeit sollten die Bischöfe und Diakone erhalten, die ebenfalls den »Dienst der Propheten und Lehrer« in der Gemeinde wahrnahmen (Did. 15,1–2). Vergleichbare Ehrungen waren in Mt 23,8–12 kritisiert. In der Didache werden alle Lehrenden in der Gemeinde aber in 11,1–2a auf die ethische Lehre verpflichtet, zu der auch die Verbote der Schädigung von Kindern und Kleinen in Did. 2,2–3 gehören: »Wer nun (zu euch) kommt und euch alles zuvor Gesagte (ταῦτα πάντα τὰ προειρημένα) lehre, den nehmt auf. Wenn aber der Lehrende sich selbst (davon) abkehrt und eine andere Lehre zur Auflösung lehrt, dann hört nicht auf ihn.« Den Lehrenden wird nicht direkt vorgehalten, dass sie gegen die Gebote in 2,2–3 verstoßen hätten, aber es gab vermutlich auch Lehrende, die sich an die ethische Unterweisung der Schrift nicht gehalten 22 Vgl. Lutterbach 2003, 181–185. 23 Kießling 2021, 37 f.

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haben. Sonst hätte für diesen Fall keine Vorkehr getroffen werden müssen. Auch die Didache kennt in ihren Gemeinden also offenbar den Machtmissbrauch zumindest gegenüber Kindern, wie er sich im Matthäusevangelium gezeigt hat – auch wenn sie anders darauf reagiert, als das Matthäusevangelium. Während das Matthäusevangelium mit seinem Erzählen aus dem Leben Jesu auf die Charakterbildung zielt, stellt die Didache ethische Regeln und Gesetze auf, die dem Missbrauch Grenzen setzen.

5 Beitrag zu einer theologischen Anthropologie und Ansätze zu einer praktischen Ethik Mit meinem Beitrag habe ich versucht zu zeigen, dass sich zwischen der aktuellen Missbrauchsanalyse durch Klaus Kießling und den Texten im Matthäusevangelium und der Didache trotz großer kultureller Unterschiede zum jüdischhellenistischen Umfeld der Kaiserzeit auf dem Gebiet der Anthropologie auch beträchtliche kulturübergreifende Gemeinsamkeiten zeigen: Spiritualität und Sexualität bezeichnen Vollzüge in sozialen menschlichen Beziehungen, die sich als anfällig für verschiedene Formen von Missbrauch erweisen. Diese Formen treten auch innerhalb religiöser Gemeinschaften selbst zutage und setzen oft mit unauffälligen alltäglichen Gewohnheiten ein, etwa an hierarchischen Strukturen mit den ihnen entsprechenden Ehrenerweisungen und Dienstleistungen. Das Matthäusevangelium versucht mit seiner Jesus-Überlieferung diesen kulturübergreifenden Gefährdungen einer Gemeinschaft eine kontrakulturelle Tendenz entgegenzusetzen: Dies tut er durch den Rückgriff auf das Hauptgebot in der Tora. Mit dem monotheistischen Bekenntnis werden missbrauchsanfällige religiöse Autoritätsgefüge delegitimiert, und allein Gott und sein Messias als die einzig wahrhaft legitime Autorität etabliert. Die Didache greift ebenfalls auf die Tora zurück, aber mit dem Dekalog auf einen anderen zentralen Text ihrer Rezeptionsgeschichte. Durch ihre Ergänzungen zum Dekalog stellt sie Gebote unter dessen sakrale ethische Autorität, mit denen die Gemeinden dem Missbrauch gegenüber Kindern und Kleinen wehren können. An dieser Stelle wäre weiter zu arbeiten. Denn es legt sich die Vermutung nahe, dass Matthäus zu seiner impliziten Kritik am gesellschaftlichen und innergemeindlichen Machtmissbrauch auch eine implizite Ethik entwickelt hat. Diese lässt sich meines Erachtens bereits in den Seligpreisungen der Bergpredigt erkennen. Die ersten acht Seligpreisungen haben als gemeinsamen Fokus die »Gerechtigkeit« (Mt 5,6.10). Klaus Wengst hat daher die erste Seligpreisung der »Armen dem Geist nach« (οἱ πτωχοὶ τῷ πνεύματι) so verstanden, 270

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dass die Gemeinde glücklich gepriesen wird, wenn sie sich mit den Armen solidarisch versteht: »im Vertrauen auf den nach unten gehenden Gott« geht es um eine »Solidarität der Gedemütigten, ein im wörtlichen und übertragenen Sinn Stehen bei den Bettelarmen«24. Dies würde in der heutigen Situation der Missbrauchskrise von der Kirche die nicht aufgegebene Solidarität mit den Opfern und eine Anerkennung ihres Leids als Geschädigte verlangen. Diese Solidarität und Anerkennung hat allem weiteren Handeln vorauszugehen, wenn dieses im Sinn der Gerechtigkeit bei Matthäus ethisch verantwortungsbewusst sein soll.

24 Wengst 2019, 39.

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Klaus Kießling, Diakon mit weltweiter Resonanz Ein Plädoyer für Diakoninnen Albert Biesinger

Im Februar 1999 überreichte mir Klaus Kießling seinen Band »Love greets you. On the culture of deacony«, Helsinki 1998, mit der Widmung: »Lieber Herr Prof. Biesinger! In der Aussicht auf weitere diakonische Lehr- und Lernerfahrungen grüßt Sie herzlich Ihr Klaus Kießling 5.2.1999«.1 So ist es dann auch gekommen. Die zentralen deutschsprachigen Veröffentlichungen von Klaus Kießling im Rahmen des von ihm geleiteten Forschungsprojekts »Pro Diakonia« belegen seine umfangreiche und höchst beeindruckende Dynamik zu diesen Lehr- und Lernprozessen.2 Die Komplexitätskraft Klaus Kießlings, Diakonat und praktizierte Diakonia als praktisch-theologisch reflektierte Lehr- und Lernprozesse in einen hermeneutischen Zirkel zu bringen, zeigt bis heute bleibende Wirkung. Dies gilt auch für eine vertiefte Diskussion der Ordination von Frauen als Diakoninnen. Klaus Kießling steht – gleich kurz nach seiner Ordination zum Ständigen Diakon 2004 – für eine Klartext-Etappe des Internationalen Diakonatszentrums (IDZ) als dessen Vizepräsident von 2005 bis 2009 und von 2009 bis 2017 als dessen Präsident und Leiter der Theologenkommission. Diese ist geprägt von einer eindrucksvollen Dynamik einer neuen »Raketenstufe« zur Internationalisierung

1 Klaus Kießling, Love greets you. On the culture of deacony (Publications of the Department of Practical Theology; Bd. 93), Helsinki 1998. 2 Klaus Kießling (Hrsg.), Ständige Diakone – Stellvertreter der Armen? Projekt Pro Diakonia: Prozess – Positionen – Perspektiven (Diakonie und Ökumene/Diakonia and Ecumenics; Bd. 2), Münster 2006; Klaus Kießling & Michael Mähr, Pro Diakonia Latina oder: Vom lebensnahen Mut der Diakone in Lateinamerika (Teile I und II), in: Diaconia Christi 42 (2007) 25–60 und 158–172; Klaus Kießling & Michael Mähr, Pro Diakonia Africana: Die Diakone im Südlichen Afrika als Brückenbauer zwischen Gesellschaft und Kirche, in: Diaconia Christi 46 (2011) 9–68; Klaus Kießling, Pro Diakonia Asiatica I: Ständiger Diakonat in der kulturell pluralen Welt Indiens, in: Diaconia Christi 47 (2012), Heft 1, 22–27; Klaus Kießling, Pro Diakonia Asiatica II: Portraits von Diakonen, Kandidaten und Diözesanverantwortlichen in der kulturell pluralen Welt Indiens, in: Diaconia Christi 47 (2012), Heft 1, 42–53; Klaus Kießling & Hermann-Josef Wagener, Pro Diakonia Asiatica III: Weitere Portraits von Diakonen in der kulturell pluralen Welt Indiens, in: Diaconia Christi 47 (2012), Heft 1, 77–88.

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des Ständigen Diakonates in neue Weltregionen – bis nach China. Noch nie gab es vorher einen solchen Schub auf alle Kontinente und vor allem in Segmente der katholischen Kirche hinein, die sich dem Ständigen Diakonat bisher verweigert, verschlossen oder aber sich gleichsam »tot gestellt« haben. Der »Ausbildungskongress Lateinamerika« 2007 in Buenos Aires war eine wesentliche Initialzündung für die Beschleunigung der quantitativen und qualitativen Vertiefung und Ausbreitung des Ständigen Diakonates.3 Das von ihm geleitete Forschungsprojekt Pro Diakonia war zuvor schon einmalig in Qualität und Auswirkung. Es widmet sich der Stärkung des Ständigen Diakonats, soziologisch und empirisch-wissenschaftlich begleitet.4 Klaus Kießlings herausragende kommunikative und theologische, aber auch seine professionell psychologische Kompetenzen haben eine hohe Motivationsdynamik entwickelt. Lange vorher hatte Margret Morche in ihrem wichtigen Grundlagenband5 die Gründung des damals noch so titulierten »Internationalen Informationszentrums für Fragen des Diakonates« und dessen erste Aufgaben aus ihrem Insiderwissen als langjährige Leiterin der Geschäftsstelle des IDZ in der Freiburger Zeit präzise beschrieben. Klaus Kießling ist es gelungen, in Kooperation mit dem engagierten und ergebnisorientierten Protektor des IDZ, Bischof Dr. Gebhard Fürst sowie mit den zuständigen Domkapitularen für Weltkirche in der Diözese Rottenburg-Stuttgart, Klaus Krämer und Heinz-Detlef Stäps, das Internationale Diakonatszentrum entschieden weiter zu profilieren. 2013 gab es weltweit 43.195 Ständige Diakone, fünf Jahre später waren es 47.504.6 Diese Entwicklung wäre ohne das IDZ nicht denkbar gewesen. Ständige Diakone sind die am intensivsten wachsende Gruppe der Seelsorgeberufe weltweit. Aber umso mehr: Es gibt riesige Herausforderungen: Die Ordination von Frauen zu Diakoninnen steht dringend an. Die folgende Skizze kann erschließen, wie Klaus Kießlings Lebenswerk als international wirkender Diakon Zukunft hat.

3 Vgl. Kießling & Mähr 2007; vgl. Klaus Kießling, Wer handelt in persona Christi, in: Diaconia Christi 45 (2010) 7–8; vgl. Klaus Kießling, Diakonische Spiritualität, in: Diaconia Christi 45 (2010) 185–202. 4 Vgl. Kießling 2006. 5 Vgl. Margret Morche, Zur Erneuerung des Ständigen Diakonates, Freiburg i. Br. 1996, 72–76. 6 Vgl. Neue Kirchenstatistik vorgestellt: Anzahl der Katholiken weltweit steigt weiter, in: Vatican News vom 25.03.2020, verfügbar unter: https://www.vaticannews.va/de/vatikan/news/2020-03/ vatikan-statistik-paepstliches-jahrbuch-veroeffentlichung.html (letzter Zugriff am 30.10.2021).

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1 Diakonin ohne Weihe – zur Ordination von Frauen als Diakoninnen Einleitend sollen zwei Beispiele das Thema und die Notwendigkeit umreißen: Ȥ Die Autobahnkirche Baden-Baden ist beim Gottesdienst – vorbereitet von der katholischen Frauenbewegung anlässlich des »Tages der Diakonin« – voll besetzt. Es sind auch etliche Männer darunter. Die Predigerin ist auf der Programmplanung so ausgedruckt: »Hildegard Enkrich – Diakonin ohne Weihe«. Und sie predigte exzellent. Ȥ Seit Jahren bin ich für einzelne Themen in der Begleitung der Kontaktgruppe für psychisch Kranke in Rottenburg am Neckar ein geladener TheologenGast. Diese Kontaktgruppe will psychisch Kranke miteinander vernetzen und ihnen Stabilität und Kraft geben, sodass die zeitliche Distanz zwischen den Klinikaufenthalten größer wird – und sie ist größer geworden. Aufgebaut und dann auch geleitet wurde diese Gruppe vor über 40 Jahren von Maria Wespel, Fachkrankenschwester für Psychiatrie, die dies ehrenamtlich mit einem kleinen Team nachhaltig und beeindruckend realisiert hat. Kürzlich hat sie sich von der Gruppe aus Altersgründen verabschiedet. Am liebsten hätte ich sie zur Diakonin geweiht – sorry, sie dringend zur Weihe vorgeschlagen. Diese beiden Frauen – und noch viele andere – sind für mich tatsächlich »Diakonin ohne Weihe«. Meine bereits schon vor Jahren vorgetragenen »Optionen für die Ausbildung von Diakoninnen« und die grundlegende »Option für den Diakonat der Frau« sind heute noch dringlicher geworden.7 Unsere Kirche macht ganz offensichtlich theologische Denkfehler: Sie fragt immer noch ungeschichtlich, ob die Konzeption von Diakoninnen, die es früher gab, zum Konzept von Ständigem Diakonat von Männern in der heutigen Ordinationsstruktur passt. Damit beschädigt sie sich selbst. »Es lässt sich mit Sicherheit sagen, dass es in der östlichen Tradition Beispiele für die Weihe von Diakoninnen gab. Der lateinische Weiheritus für Diakoninnen aus dem 12. Jahrhundert, der in die karolingische Zeit zurückgreift, heißt: ›… Ordo ad diaconam faciendam: … Item missa ad diaconam con7 Vgl. zu dieser meiner Relecture: Albert Biesinger, Diakonat – ein eigenständiges Amt in der Kirche. Historischer Rückblick und heutiges Profil, in: Peter Hünermann, Albert Biesinger, Marianne Heimbach-Steins & Anne Jensen (Hrsg.), Diakonat: Ein Amt für Frauen in der Kirche – Ein frauengerechtes Amt?, Ostfildern 1997, 53–77, hier: 59 f.69 ff.

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secrandam‹. Darin sind Momente der Jungfrauenweihe, der Bestellung der Äbtissin und Traditionen der Diakoninnenweihe vorhanden. Nach der byzantinischen Tradition wird die Diakonin durch Handauflegung geweiht. Belege aus dem 8./9. Jahrhundert bis Konstantinopel 1027 betonen ausdrücklich, dass die Bischöfe, Priester, Diakone und Diakoninnen öffentlich im Altarraum, vor dem Altar, geweiht wurden.«8 Abraham-Andreas Thiermeyer formuliert: »Die Weihe der Diakonin geschieht also durch Handauflegung (»epithesis ton cheiron«) und Gebet des Bischofs.«9 Nach dem lateinischen Ritus liegen die Diakoninnen zur Litanei ausgestreckt auf dem Boden, danach spricht der Bischof über sie das Gebet und die Consecratio im Sinne einer Präfation. Danach legt ihr der Bischof die Stola um den Hals und übergibt Ring und Halsschmuck. Das Weihegebet ist dasselbe wie bei der Weihe des Diakons. Es wird das Wort consecratio gebraucht, nicht nur benedictio (Segnung).10 Die außerliturgischen Aufgaben der Diakoninnen waren unter anderem »allen Frauen beistehen, besonders den Kranken und Not leidenden, sich um die Unterkunft für die Fremden und Armen kümmern«11. Die Diakonin gehört zum Klerus, sie wird im Osten ordiniert (cheirotonein). Die pastoral-liturgischen Aufgaben der Diakonin sind »Mithilfe bei der Taufe der Frau, Salbungen, nach der Taufe in Empfang nehmen, zum Ankleiden führen, Mithilfe bei der liturgischen Versammlung, die eintretenden Frauen umscharen, an der Türe wachen.«12 »Es sind soziokulturelle Gründe, warum sich im hellenistischen-semitischen Kulturraum aufgrund der zurückgezogenen Lebensweise der Frauen die ›Diakonin‹ für die Pastoral an den Frauen entwickelte. Wenn es Bereiche gibt, die nur Frauen zugänglich sind, ist der pastorale Druck, Frauen zu Diakoninnen zu koordinieren, erheblich höher. In der um 230 n. Chr. in Syrien entstandenen ›didascalia apostolorum‹ wird die pastoral-liturgische Aufgabe der Diakonin in der Mithilfe bei der Frauenseelsorge gesehen: ›Tauf-

8 Biesinger 1997, 59 f. 9 Abraham-Andreas Thiermeyer, Der Diakonat der Frau. Liturgiegeschichtliche Kontexte und Folgerungen, in: Walter Groß (Hrsg.), Frauenordination. Stand der Diskussion in der katholischen Kirche, München 1996, 56. 10 Vgl. Thiermeyer 1996, 53–63. 11 Thiermeyer 1996, 56. 12 Ebd.

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helferin, Ölsalbung der weiblichen Katechumenen, katechetische Unterweisung, Pflege von kranken Frauen, Besuche und pastorale Dienste in den Frauengemächern‹.«13 Fasst man die historische Analyse gebündelt zusammen, dann kann man mit Abraham-Andreas Thiermeyer Folgendes festhalten: »Der Diakonat der Frau ist ein legitimes Amt in der Tradition der Kirche. Der Diakonat der Frau ist in den verschiedenen Traditionen der ungeteilten Kirche Jesu Christi gültig nachzuweisen, und zwar als Ordo (Weihe) und als Mysterium (Sakrament). Weder ein ökumenisches Konzil noch ein gesamtkirchlicher verbindlicher Text aus der Tradition der Kirche führt dogmatische Überlegungen gegen den Diakonat der Frau an. Die Kirche kann, wenn sie es in ihrer Tradition getan hat, bei pastoral-liturgischer Notwendigkeit dieses Amt reaktivieren, zumal der Diakonat der Frau kirchenamtlich durch nichts blockiert werden könnte. Dies müsste um so leichter möglich sein, als heute die Frau, zumindest in der römisch-katholischen Kirche, in der Pastoral und der Liturgie ohne Weihe bereits mehr Möglichkeiten hat und Tätigkeiten ausführt, als dies im Laufe der Tradition ein männlicher Diakon je getan hat.«14 Natürlich darf die heutige Diskussion nicht übersehen, dass die frühe Kirche anders gedacht und verstanden hat. »Die Überlegung, ob der Diakonat der Frau eine Weihe/Ordination ist, eine höhere oder niedere Weihe, ein Sakrament oder ein ›sakramentale‹ ist lediglich aus den Überlegungen einer späteren westlichen Theologie zum Ordo überhaupt zu verstehen. Es macht Sinn, sich von diesen Fesseln zu lösen […].«15 Daran schließen sich weitere Überlegungen an. Die Hermeneutik, dass nur das, was es einmal gab, geben darf, kann langfristig auch theologisch falsch sein. Indem Papst Johannes Paul II. festgelegt hat, dass die Ordination von

13 Biesinger 1997, 60 f. 14 Thiermeyer 1996, 62 f.; vgl. Biesinger 1997, 62. 15 Biesinger 1997, 62.

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Frauen zur Priesterin für immer nicht möglich sei, hat er sich übernommen. Was soll denn ein späterer Papst oder ein Konzil denken, wenn einer der Vorgänger-Päpste sich so dominant verhält und meint, er könne seine Nachfolger lehramtlich an die Ketten legen? Es kann unter dem Aspekt der geistgewirkten Weiterentwicklung der kirchlichen Lehre theologisch nicht stimmen, dass ein einziger Papst alle zukünftigen Päpste in einer solchen Weise fesselt und in ihrer Lehrautorität so beschädigt, dass sie den Menschen ihrer jeweiligen Zeit den Zugang zur Gottesbeziehung, zu ihrem zeitgenössischen Glauben und vor allem auch zu ihrer eigenen Berufung verschließen müssen. Das theologische (Horror-)Argument, es sei ja kein Zufall, dass Gott als Mann Mensch geworden sei, kann nur jemand weiter kommunizieren, der Theologie missbräuchlich betreibt. Gott ist Mensch geworden. Und Gott wohnt in Männern und Frauen. Frauen und Männer werden in der Taufe in gleicher Würde Königskinder in der Königsherrschaft Gottes. Dass zur Zeit Jesu die zwölf Apostel auch die zwölf Stämme Israel abbilden sollten, schließt nicht aus, dass es auch Apostelinnen gab, etwa Maria Magdalena. Heute gibt es viele Apostelinnen – möglicherweise mehr als männliche Apostel. Wenn man nämlich von der anderen Hermeneutik herkommt und nach den Herausforderungen kirchlichen Handelns in der Gegenwart fragt, dann sind die vielen »Diakoninnen ohne Weihe« der beste Beleg dafür, diese konsequenterweise auch zu ordinieren. Dorothea Reininger hat vor mehr als zwanzig Jahren in ihrem beeindruckenden Band Grundlagen zur Präzisierung und Weiterentwicklung der Argumentation zum Diakonat der Frau erarbeitet.16 Sie beschreibt die erste Initiativen zum Diakonat der Frau in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil sowie die Intensivierung der Bemühungen in der Zeit nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil bis heute und den derzeitigen Stand der Bemühungen. Dieser Band ist für die derzeitigen Diskurse leider zu sehr in den Hintergrund gerückt. Dorothea Reininger müsste in der römischen Kommission zum Diakonat der Frau, die Papst Franziskus erneut eingerichtet hat, mit am Tisch sitzen. Ihr »Plädoyer für einen Ständigen Diakonat der Frau in einer diakonischen Kirche als Brücke zwischen den christlichen Kirchen«17 war schon damals prophetisch – heute erst recht.

16 Vgl. Dorothea Reininger, Diakonat der Frau in der einen Kirche Mit einem Geleitwort von Bischof Karl Lehmann, Ostfildern 1999. 17 Vgl. Reininger 1999, 675–680.

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Karl Lehmann18 hat die Überlegungen von Dorothea Reininger bereits zuvor konsequent unterstützt. Er plädierte für eine teilweise Integration der verschiedenen geistlichen Berufungen, die bisher schon für Frauen profiliert entwickelt wurden, in den Diakonat der Frau.

2 Spirituelle Bekehrung ist dran Nicht nur aus der Sicht von Frauen ist es spirituell unverständlich, wenn ihnen bei der Taufe zwar die Gotteskindschaft zugesprochen wird, ebenso auch die Fähigkeit, sich das Ehesakrament mit ihrem Ehemann zu spenden sowie Kinder zu taufen, ihnen aber die Würde des Sakramentes der Ordination verweigert wird. Jesus, der niemanden ausgegrenzt, der Frauen entgegen so mancher damaligen Üblichkeiten zu ihrem Recht verholfen hat, würde in der heute völlig anderen kulturellen Situation laut aufschreien, dass die Kirche ordinations­theologisch so mit Frauen kommuniziert. Es ist anzunehmen, dass sich ein künftiger Papst dafür entschuldigen wird, wie die Kirche derzeit mit Frauen durch den Ausschluss von der Ordination umgeht. Das Argument, dass es über so viele Jahrhunderte Kirche so gehandhabt wurde, überzeugt nicht. Korrekturen sind immer fällig und sehr wohl nötig und möglich. Ein dramatisches Beispiel dafür: Der jahrhundertelang andauernde Antijudaismus, der Hass und die Abwertung gegenüber jüdischen Menschen, die Herabwürdigung ihrer Religion und ihrer Existenz mit blutigen Konsequenzen wurde doch noch (!) – spät, allzu spät – vom Zweiten Vatikanischen Konzil korrigiert. Die Kirche hat die Aufgabe, sich dem Geist Gottes anzuvertrauen, nicht nur bisherigen oft fragwürdigen Traditionen. Man kann natürlich davon ausgehen, dass auch in den bisherigen Traditionen Gottes Geist wirkt. Dass es dabei aber auch zu Un-Geist gekommen ist, dies lässt sich historisch leicht festmachen. In diesem Sinne ist nicht nur der theologische Diskurs dringend weiterzuführen. Es stehen vielmehr endlich auch Veränderungen an. Und eines ist sicher: Dass Frauen nicht zur Diakonin geweiht werden können, wird so lange ein Dauerthema sein und bleiben, bis diese Verbote aufgehoben sind.

18 Vgl. Karl Lehmann, In allem wie das Auge der Kirche. 25  Jahre Ständiger Diakonat in Deutschland – Versuch einer Zwischenbilanz, in: Arbeitsgemeinschaft Ständiger Diakonat in der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg.), Jahresheft mit Dokumentation der Jahrestagung »25 Jahre Ständiger Diakonat in Deutschland – Ein Plädoyer für eine diakonische Kirche« Nr. 10 (1993), 9–27, hier: 25.

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Die dauernden Warnungen vor der Gefahr einer »Spaltung« der katholischen Kirche ist praktisch-theologisch analysiert nicht einsichtig: Seit Jahren haben sich weltweit große Gruppen von Frauen von der katholischen Kirche abgespaltet, weil sie sich im Blick auf den Ausschluss von der Ordination als »ent-würdigt« wahrnehmen. Handelt die oben genannte Fachschwester für Psychiatrie als ehrenamtliche Leiterin der Kontaktgruppe für psychisch Kranke etwa nicht in persona Christi des Diakons?19 Ein richtungsweisendes Resümee zu dieser kritischen Rückfrage kommt mit Bezug auf Gisbert Greshake vom Liturgiewissenschaftler Winfried Haunerland: »Die liturgische Entwicklung und die verschiedenen Aufgaben, die Diakone im Laufe der Zeit übernommen haben, lassen vermuten, dass das spezifische Profil des Diakonats nicht einfach aus der Geschichte erhoben werden kann, sondern auch von der Kirche selbst immer wieder modelliert werden muss. Insofern reichen nicht weitere Forschungen und theologische Theorieentwürfe […].«20 Theologisch stimmig ist, dass die Kirche sehr wohl in der Lage ist, im Hören auf das Wirken des Heiligen Geistes ihre Ämter weiterzuentwickeln und zu ordnen – und die »Zeichen der Zeit« zu erkennen. Da überzeugen auch nicht Häresievorwürfe gegenüber denjenigen, die sich erlauben, diese Fragen zu formulieren und immer wieder neu auch öffentlich zu thematisieren. Langfristig wird man diejenigen zitieren, die die innovativen Argumente zusammengetragen haben und nicht die, die sich in der Dauerbehauptung einigeln »Das war immer schon so« und »Weiter so«. Ein »Weiter so« auch auf diesem Gebiet wird es nicht geben. Und dafür muss man nicht »links« oder »rechts«, liberal oder konservativ denken, sondern nur ein aufrechtes theologisches Koordinatenkoordinatensystem entwickeln. Dann wären manche Entscheidungen emotionsloser, schneller und vor allem auch für die Glaubwürdigkeit der Verkündigung der großen Verheißungen Gottes zu fällen.

19 Vgl. Albert Biesinger, Rezension: Das aktuelle theologische Buch, Hauke, Manfred & Hoping, Helmut (Hrsg.): Der Diakonat. Geschichte und Theologie. Verlag Friedrich Pustet, Regensburg 2019, in: Theologisch-praktische Quartalschrift 169 (2021) 82–85. 20 Winfried Haunerland, Das Amt des Diakons nach den Zeugnissen der römischen Liturgie, in: Manfred Hauke & Helmut Hoping (Hrsg.), Der Diakonat. Geschichte und Theologie, Regensburg 2019, 100.

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3 Kein »Upgrade« zum Priester Wenn die Amazonassynode die Weihe von erprobten und bewährten Diakonen zu Priestern vorschlägt, dann ist dies möglicherweise für die Weiterentwicklung des Diakonates problematisch. Wer sich dem Ständigen Diakonat verschrieben hat, kann ja nicht wollen, dass jetzt Diakone ein »Upgrade« machen zum Priesteramt. Dies würde den Diakonat als eigenständiges Amt möglicherweise sogar gefährden. Diakone sind speziell: Nach Karl Lehmann führen sie »rasch in die Mitte der christlichen Sendung, wenn sie im Umgang mit Fremden und Heimatlosen, mit Alleinstehenden und Armen, Alten und Kranken Solidarität realisieren und in der Gemeinde anstiften. Orientierungslosigkeit, Selbstaufgabe und Verzweiflung, Drogenkonsum und Suchtabhängigkeit signalisieren Abgründe menschlicher Existenz und gesellschaftliche Einbrüche. Elementares Interesse jeden Bischofs müsste sein, daß die Kirche sich dafür investiert.«21 Diese spezielle Berufung von Diakonen und – hoffentlich sehr bald auch – Diakoninnen ist als Schwerpunktbildung in der Ordinationsstruktur ein wertvolles Gut, das nicht nivelliert werden sollte, obwohl Priester und Bischöfe immer auch Diakone sind und bleiben. Diakoninnen sind auch deswegen hoch bedeutsam, weil sie doch in der kirchlichen Alltagspraxis schon längst – oder schon immer – in diesen solidarischen Zusammenhängen spirituell eindrucksvoll handeln. Ich denke im Blick auf die Ordination von Priestern eher an das innovative Konzept der Priester in zivilen Berufen – an Priester, die also von vornherein Priester werden wollen. Dazu das interessante Originalzitat meines damals noch jungen Tübinger Theologieprofessors Joseph Ratzinger: »Sie [die Kirche im Jahr 2000; A. B.] wird als kleine Gemeinschaft sehr viel stärker die Initiative ihrer einzelnen Glieder beanspruchen. Sie wird auch gewiss neue Formen des Amtes kennen und bewährte Christen, die im Beruf stehen, zu Priestern weihen: in vielen kleineren Gemeinden bzw. in zusammengehörigen sozialen Gruppen wird die normale Seelsorge auf diese Weise erfüllt werden. Daneben wird der hauptamtliche Priester wie bisher unentbehrlich sein. Aber bei allen diesen Veränderungen, die man vermuten kann, wird die Kirche ihr wesentliches von neuem und mit aller 21 Biesinger 1997, 63; vgl. Lehmann 1993, besonders: 25.

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Entschiedenheit in dem finden, was immer ihre Mitte war: im Glauben an den dreieinigen Gott, an Jesus Christus, den menschgewordenen Sohn Gottes, an den Beistand des Geistes, der bis zum Ende reicht.«22 Ich argumentiere empirisch belegbar: Gemeinsam mit dem Bonner Moraltheologen und empirischen Psychologen Jochen Sautermeister habe ich 2015 in Bonn, Frankfurt a. M. (Hochschule Sankt Georgen), Freiburg i. Br., Mainz, München, Regensburg und Tübingen insgesamt 479 Studierende (298 Frauen und 181 Männer) in einer Pilotstudie befragt, wie sie zu den Lebensformen Zölibat und der Kombination von Ehe und Priester stehen. Auch wenn es sich um eine Pilotstudie handelt, sind die Ergebnisse aufgrund der hohen Datenmenge als bemerkenswerte Tendenz-Aussagen einzuschätzen: Mehr als die Hälfte der männlichen Studierenden hatte sich bereits mit der Frage befasst, ob der Priesterberuf für sie eine Lebensoption sein kann. Und: Knapp 30 % der Männer gaben an, wegen des Zölibates einen anderen Beruf als das Priesteramt anzustreben. Darüber hinaus lässt aufhorchen, dass für mehr als 60 % der Zölibat demnach »kein zentrales Element ihres Verständnisses von einem katholischen Priester« und zwar »weder aus traditionell-religiösen noch aus praktischen Überlegungen« ist. Unter den befragten Frauen ist diese Ansicht noch verbreiteter als unter Männern. Und 30 % der männlichen Studenten, die nicht Priester im herkömmlichen Sinn werden wollen, sehen im Modell der Ordination zum »Priester im Zivilberuf« eine Option für das eigene Leben. Priester im »Zivilberuf« ist wie Diakon im »Zivilberuf« etwa als Krankenpfleger, Lehrer, Handwerker, Journalist oder Landwirt zu verstehen. Es spricht alles dafür, die Möglichkeit einer doppelten Berufung sowohl zum Priestertum als auch zur Ehe unter berufungstheologischen und sakramententheologischen Gesichtspunkten vertieft zu verstehen. In Lateinamerika wurde mir beim Kongress über Ausbildungskonzepte für Ständige Diakone 2002, den ich als Vizepräsident des IDZ mitgeleitet habe, immer wieder der Begriff »sacramentalidad doble – matrimonio y diaconado« kommuniziert.23

22 Joseph Ratzinger, Wie wird die Kirche im Jahre 2000 aussehen?, in: Joseph Ratzinger, Glaube und Zukunft, München 1970, 123. 23 Vgl. Encuentro Latinoamericano De Diaconado Permanente, Bogota 26.–30. Agosto de 2002.

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4 Fazit Dass der Ständige Diakonat zwar im stetigen gesamtkirchlichen Wachstum begriffen, bis heute aber immer auch in Krise und Verhandlung steht und ein nächster Schub der Entwicklung fällig ist, überrascht nicht.

5 Dank Stefan Sander, der langjährige theologisch sehr fundierte Geschäftsführer des IDZ, – leider 2020 viel zu früh verstorben –, hat in einem breit rezipierten Beitrag in der Herder Korrespondenz24 wertvolle Einblicke gegeben. Er hat viele Jahre mit Klaus Kießling erfolgreich zusammengearbeitet. Ihm ist in diesem Beitrag ausdrücklich mit Hochachtung zu gedenken. Und zum Schluss noch ein spezieller DANK an Klaus Kießling: Als erster stellvertretender Leiter des Institutes für berufsorientierte Religionspädagogik (IBOR) an der Universität Tübingen hat Klaus Kießling von 2004 bis 2006 mit seiner empirischen Kompetenz und bewundernswerten Schaffenskraft eine fundierte qualitative und diskursive Analyse auf katholischer Seite vorgelegt25 – sie wurde dann auch als Habilitationsschrift angenommen. Ich danke dir, lieber Klaus Kießling – in dieser ersten Phase des Institutes hast du Aufbauarbeit, Organisation, Vernetzung und nicht zuletzt auch Ausdauer eingebracht. Der Theologe und der Psychologe in dir haben dabei nicht nur kognitiv, sondern auch im Blick auf Kommunikation, Ermutigung sowie Vertrauensbildung bestens zusammengewirkt.26

24 Vgl. Stefan Sander, Die Marginalisierten, in Herder Korrespondenz 74 (2020), Heft 9, 32–36. 25 Vgl. Klaus Kießling, Zur eigenen Stimme finden. Religiöses Lernen an berufsbildenden Schulen (Zeitzeichen; Bd. 16), Ostfildern 2004. 26 Vgl. meine Festrede zum 20-jährigen Jubiläum des Katholischen Institutes für berufsorientierte Religionspädagogik (KIBOR) am 13. Oktober 2021 im Auditorium Maximum der Universität Tübingen.

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Die Frage, aus welchen Wurzeln wir leben, aus welchen Quellen sich unser Zusammenleben speist und auf welchen Fundamenten sich unsere Gesellschaft – auch über Ländergrenzen hinweg – aufbaut, ist eine zutiefst diakonische Fragestellung. »Die Zeichen der Zeit zu erkennen und sie im Licht des Evangeliums zu deuten«1, diese Aufgabe hat das Zweite Vatikanische Konzil der katholischen Kirche auf ihren Weg mitgegeben. Das Konzil versteht Kirche als Volk Gottes, als Communio, als Gemeinschaft der Glaubenden in der strukturierten Gestalt des Zusammenwirkens von Charismen und Talenten, von Diensten und Ämtern der Kirche vor Ort, in den Kirchengemeinden, in der Kirche an vielen Orten. Als Christinnen und Christen haben wir den gemeinsamen Auftrag, an jedem Ort dieser Welt präsent zu sein, wo Menschen ihren Glauben miteinander teilen und mit ihrem Glauben auch ihr Leben, ihre Güter und ihre Zeit. Solidarität – auch grenz-, kultur- und religionsüberschreitend – ist keine Idylle, sondern Ausdruck unseres Selbstverständnisses. So formulierte der deutsche Schriftsteller Heinrich Böll bereits Ende der 1950er Jahre nach den Erfahrungen des Nationalsozialismus, des Zweiten Weltkrieges und seiner menschenverachtenden und menschenvernichtenden Folgen: »Selbst die allerschlechteste christliche Welt würde ich der besten heidnischen vorziehen, weil es in einer christlichen Welt Raum gibt für die, die der heidnischen wie der gottlosen Welt nutzlos erschienen und erscheinen.«2 Ich bin überzeugt davon, dass hierzu das Christentum einen Beitrag von zentraler Bedeutung leisten kann und dass sich umgekehrt unsere Gesellschaft entscheidender Dimensionen berauben würde, wenn sie diese Facetten leichtfertig, nachlässig oder gar mutwillig ausklammern würde. 1

Zweites Vatikanisches Konzil, Pastoralkonstitution »Gaudium et spes« über die Kirche in der Welt von heute vom 07.12.1965, Art. 1. 2 Heinrich Böll, Eine Welt ohne Christus, in: Karlheinz Drescher (Hrsg.), Was halten Sie vom Christentum? 18 Antworten auf eine Umfrage, München 1958, 21–24, hier: 23.

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1 Als Kirche aus dem Geist Jesu Christi diakonisch leben und handeln Wo die Kirche sich in ihrem ganzen Sein, in ihrem Leben und Handeln Jesus von Nazareth, dem Mensch gewordenen, gekreuzigten und auferstandenen Christus verpflichtet weiß, wo sie ihm nachfolgt, wo sie in seinem Geist lebt und handelt, da ist Kirche nur bei sich selbst, wenn sie eine dienende Kirche ist. Die Kirche als Ganzes ist in all ihren Vollzügen und Dimensionen, in all ihren Gliedern und ihrer ganzen handelnden Gestalt diakonische, eine dienende Kirche. Das Diakonische, das Dienende an ihr, ist nicht ein Segment neben anderen Segmenten. Das Diakonische gehört durchgängig zu der das Wesen der Kirche theologisch bestimmenden Trias: Verkündigung, Liturgie, LiebesDienst: Martyria, Leiturgia, Diakonia. Diesen Dienst der Diakonie vollzieht die Kirche nach »innen«, in den Binnenraum der Kirche hinein gegenüber den einzelnen Menschen und gegenüber der Gemeinschaft, und nach »außen« in die Gesellschaft hinein. Das Den-Menschen-Dienen wirkt personal und individuell, sozial und strukturell. Eine diakonische Kirche ist eine auf das Wort Gottes hörende und zugleich aus der lebendigen Anschauung Jesu Christi handelnde Kirche. Der Verfasser des Jakobusbriefes schreibt: »Nehmt euch das Wort zu Herzen, das in euch eingepflanzt worden ist und die Macht hat, euch zu retten. Hört das Wort nicht nur, sondern handelt danach; sonst betrügt ihr euch selbst. Ein reiner und makelloser Dienst vor Gott, dem Vater, besteht darin: für Waisen und Witwen zu sorgen, wenn sie in Not sind« (Jak 1,21b.22.27). So vollzieht Kirche als Volk Gottes den Geist Jesu Christi und den Sinn seines Kommens in die Welt von Menschen. Auf den Sinn seines Lebens und die Glaubwürdigkeit seiner Botschaft angesprochen, antwortet Jesus selbst: »Blinde sehen wieder, Lahme gehen und Aussätzige werden rein; Taube hören, Tote stehen auf und den Armen wird das Evangelium verkündet« (Lk 7,22). Jesus selbst stellt sich damit in die prophetische Botschaft des Volkes Israel und sendet die Jünger mit den Worten aus: »Geht und verkündet: das Himmelreich ist nahe. Heilt Kranke, weckt Tote auf, macht Aussätzige rein, treibt Dämonen aus!« (Mt 10,7). Es geht also um die »Armen«, die »Zertretenen«, es geht um die »Übersehenen«, die Benachteiligten, um die gescheiterten und die schuldig gewordenen Menschen. Das Konzil identifiziert als Ziel der besonderen Liebe Gottes und der Solidarität der Menschen »die Armen und Bedrängten aller 284

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Art«3. An dieser Sendung, an diesem lebendigen Wesen der Kirche haben die Diakone in ihrem Dienst Anteil. Die diakonische Kirche ist Kirche in der Nachfolge Jesu Christi, des Χριστός διάκονος. Jesu Worte sind eindeutig. Er sagt von sich selbst: »Ich bin nicht gekommen, mich bedienen zu lassen, sondern um zu dienen« (διακονεῖν; Mk 10,45). Jesus wendet sich an alle Menschen, hat aber besonders diejenigen im Blick, die dieser heilenden Botschaft, der rettenden und erlösenden Tat am meisten bedürfen. Besonders deutlich wird dies in der Aussage Jesu: »Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken. Ich bin gekommen, um die Sünder zu rufen, nicht die Gerechten« (Mk 2,17; Mt 9,12; Lk 5,31). So wird in der Nachfolge Christi Kirche diakonische Kirche.

2 Jesus Christus – Heiland der Verlorenen Der besondere Dienst Jesu Christi gilt – nach seinen eigenen Worten und Gleichnissen, seinen vielen Zeichenhandlungen und Taten – den in den Augen der Welt »Verlorenen«. Viele Worte und Taten Jesu gehen unmissverständlich in die Richtung der zentralen Aussage Jesu über sich selbst und seine Sendung. Im Haus des Zachäus – auch eines in den Augen der Gerechten »Verlorenen« – sagt Jesus ganz unvermittelt: »Ich bin gekommen, um zu suchen und zu retten, was verloren ist!« (Lk 19,10). Jesus wendet sich in seinem Dienst an den Menschen zu ihrem Heil allen zu. Sein besonderes Augenmerk gilt aber den Verlorenen aller Art. Die Gleichnisse vom Verlorenen im 15. Kapitel des Lukasevangeliums zeigen dies besonders eindrucksvoll. Im Neuen Testament wird Jesus »Retter«, »Erlöser«, »Heiland« genannt: Der Titel, den Jesus trägt – griechisch σοτήρ, lateinisch salvator –, ist so allumfassend, dass wir im Deutschen drei Worte brauchen, um diesen einen Begriff zu übersetzen: »Retter«, »Erlöser«, »Heiland«. Besonders der für Jesus gebrauchte Titel »Heiland« spricht aus, was gemeint ist, wenn wir von der Bedeutung von Heil und Heilung in einer diakonischen Kirche sprechen. Jesus ist der Heiland der Menschen, weil er für sie heilsam wirkt, sie heilt, ihnen Heilung und Heil schenkt. Diese Dimension von Heil und Heilung ist tief eingestiftet in die von Jesus initiierte christliche Religion, letztlich in die auf Jesus Christus zurückgehende und von ihm ausgehende Kirche. Jesus spielt auf sein heilendes Handeln selbst an, wenn er seine Tätigkeit mit dem Wort rechtfertigt und qualifiziert: »Nicht die Gesunden, sondern die Kranken brauchen den Arzt« (Mt 9,12). 3 Pastoralkonstitution »Gaudium et spes«, Art. 1.

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Ignatius von Antiochien formuliert am Anfang des 2. Jahrhunderts in seinem Brief an die Gemeinde in Ephesus: »Es gibt nur einen Arzt, geisthaft und leibhaft zugleich«4: Jesus Christus. Christus der heilende Arzt ist in das Christentum und die europäische Kultur tief eingeschrieben: Johann Sebastian Bach vertont in einer seiner Kantaten das Wort: »Ach heile mich, du Arzt der Seelen, ich bin sehr krank und schwach«5. »Christus als Arzt« weist ihn aus als Heiland der Menschen und ihres Zusammenlebens. Heil und Heilung den Menschen und für die Menschen zu bringen, das ist die zentrale Sendung Jesu. Ja das ist der Grund der Sendung des Gottessohnes in die Welt.

3 Heil und Heilung als zentrale Dimension diakonischen Handelns Heil und Heilung bilden die zentrale Dimension in der christlichen Religion. Um dies allzeit lebendig zu halten, haben die Kirchenväter im Großen Glaubensbekenntnis formuliert: »Propter nos homines, et propter nostram salutem, descendit de caelis. Et incarnatus est.« – »Für uns Menschen und zu unserem Heil ist er vom Himmel gekommen und hat Fleisch angenommen.« Die Inkarnation des ewigen Logos hat den Zweck, uns Menschen das Heil zu bringen. »Um unseres Heiles willen« – dieser Sinn des Lebens Jesu zielt auf den ganzen Menschen, der hier und heute lebt, der Orientierung und Glück, innere Kraft und Gelingen seines Lebens in Gemeinschaft mit anderen sucht und im Heute zu seiner Vollendung unterwegs ist. Die Vollendung des Heiles ist ihm dann als Geschenk – Christen sagen dazu auch »ewiges Leben« – verheißen. Der Bekenntnissatz aus dem Großen Glaubensbekenntnis – »um unseres Heiles willen« – gibt den Grund und das Ziel der Geschichte Gottes mit uns Menschen an. Gott hat durch Jesus Christus und in IHM zum Heil der Welt und zum Heil der Menschen gehandelt. Im Lichte des Grundgedankens des Christushymnus im Philipperbrief kommt dem »descendit«  – dem »ER ist zu uns herabgestiegen«  – große Bedeutung zu. In einer Zeit, in der viele die Karriereleiter hinaufsteigen wollen, ist einer herabgestiegen, der ewige Gottes-Sohn in Jesus von Nazareth! Er nimmt unsere arme Menschennatur an – geht mit den Menschen »durch den Staub« des Menschen und seiner oft heillosen Existenz. Das griechische διά κονίας heißt wörtlich »durch den Staub gehen«. 4 Georg Muschalek (Hrsg.), Kult, Kultur und christliche Liturgie – Beobachtungen zu einer gegenwärtigen Unsicherheit (Bild und Gleichnis. Überlegungen zur neuen Suche nach dem Menschen; Bd. 6), Tübingen 1990, 61. 5 BWV 135, Kantate: Ach Herr, mich armen Sünder.

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4 »Durch den Staub gehen« – für die Armen und Bedrängten aller Art Für die Seelsorge, für die Pastoral, steckt darin das Grundprogramm einer Kirche, die sich wie Christus selbst den Menschen um ihres Heiles willen zuwendet. Als Seelsorger in Christi Namen können wir nur von Angesicht zu Angesicht mit den Menschen verkehren. Die Frohbotschaft vom Heil in Gott und durch Gott in Jesus Christus soll ja, wie wir es täglich im »Benediktus« beten, konkrete »Erfahrung des Heils« werden (vgl. Lk 1,77). »ER wird uns mit der Erfahrung des Heils beschenken!«, heißt es verheißungsvoll. Viele Menschen sehnen sich heute nach »Erfahrungen des Heils«, nach Heilung und Heilsein; und viele landen dabei an den falschen Adressen, bei den Illusionen des Konsums oder eines esoterischen Religionsersatzes. Wo also kann Heil handgreiflich werden in unserer Verkündigung? Dort, wo wir Gott verkünden, der »sich selbst« »um unseres Heiles willen« offenbart. Das betont die Offenbarungskonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils.6 Wo kann Heil konkret werden in unserer Caritas und Diakonie? Dort, wo wir einen Gott verkünden, der will, dass wir nicht nur das Leben des Leibes, sondern ein »Leben in Fülle haben« (vgl. Lk 12,4; Joh 10,10): ewiges Leben. Das Wort aus dem Glaubensbekenntnis »für uns Menschen und um unseres Heiles willen« verweist uns auf das Ziel, auf den Zweck und den Sinn des Handelns Gottes: Für uns Menschen handelt Gott. Und dieses Wort erklärt die Absicht der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus: in allem geschieht die Menschwerdung zu unserem Heil. Unser oft zerrissenes und verletztes Leben soll in umfassender Weise ganz werden, gelingen und heil sein – jetzt und heute, aber auch durch den Tod hindurch im neuen Leben in Gottes Gegenwart. Das Wort »um unseres Heiles willen« lenkt endgültig die Aufmerksamkeit auf Jesus, der unter uns Menschen gelebt hat. Das Glaubensbekenntnis verweist uns auf sein heilsames und Heil wirkendes Handeln an uns. Richten wir unseren Blick deshalb immer wieder auf Jesus Christus, der unter uns Menschen gelebt und sich für uns hingegeben hat. ER hat für uns Menschen gelebt und gehandelt. Damit wir heil werden und Heil erlangen, ist ER uns Menschen nahegekommen. Wie ein roter Faden zieht sich dieses »Für uns Menschen und um unseres Heiles willen« durch das irdische Leben Jesu. Die Nähe zu den Menschen – besonders zu den bedrohten, verletzten, leidenden und abgeschobenen Menschen – ist wie ein Grundmuster seines Lebens: 6 Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution »Dei verbum« über die göttliche Offenbarung vom 18.11.1965, Art. 11.

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Ȥ Jesus sucht die Gemeinschaft mit den Missachteten, um sie aus ihrer unheilen und leidvollen Situation zu befreien. Ihnen schenkt er seine heilsame Nähe. Ȥ Jesus wendet sich Menschen zu, die es schwer haben, die ohne Ansehen sind, die in den Augen vieler Frommen gottlos leben. Ȥ Jesus vergibt Schuld, die ausgrenzt. Er setzt sich für stigmatisierte Menschen ein, macht sie wieder gemeinschaftsfähig und heilt sie von ihrer Isolierung. Ȥ Jesus weiß sich gesandt, die »gebrochenen Herzen« zu heilen und den mit der Todeswunde geschlagenen Menschen zu sich selbst zu erheben. Weil Jesus das tut, verkündet Lukas die frohe Botschaft: »Der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und heil zu machen, was verloren war« (Lk 19,10). Jesu Kraft zu heilenden Begegnungen stammt aus seiner einmaligen Nähe zu Gott, seinem Vater. In einzigartiger Weise war er auf ihn hin offen. Immer wieder begab sich Jesus in die Einsamkeit, um mit IHM zu reden und zu IHM zu beten. Die heilsame Nähe zu Menschen verwirklicht Jesus aus der heilsamen Nähe zu Gott. Das gilt auch für uns. Indem wir aus diesem Geist des Evangeliums Jesu Christi leben und handeln, entsteht eine neue Weise zu leben: Leben als Dasein für andere. Zu diesem neuen Lebensstil lädt er uns alle ein. Der neue Lebensstil der Jünger besteht in heilsamem Sprechen und Handeln zum Heil der Menschen. Gott braucht uns Menschen. Wir sind seine »Sprache« für unsere Zeit. ER wirkt durch unsere menschlichen Zeichen und Gesten. Nähe verwandelt! Nähe im Geiste Jesu wirkt heilsam und verwandelt zum Guten. Wertschätzung richtet auf! Zuwendung mobilisiert unsere Kräfte. Das wirkt heilsam. Besonders gilt das für die »Armen und Bedrängten aller Art«.

5 Der Dienst des Diakons – mehr als soziales Engagement Jesus nachfolgen heißt: in seinem Geist und nach seinem Vorbild denen, die auf Distanz gehalten oder aus der Gemeinschaft entfernt werden, Nähe zu schenken. IHM folgen heißt: denen, die sich wie ausgesetzt empfinden, die draußen vor der Tür stehen, durch mitmenschliche Zuwendung und heilsame Begegnungen wirkmächtige Nähe zu schenken. In der Nachfolge Jesu tragen Christen und – durch die Weihe beauftragt – insbesondere die Diakone, die durch den Staub des menschlichen Daseins, seiner Sorgen und Nöte zu gehen bereit sind, aus ihrer Gottesbeziehung die Kraft zur heilsamen Verwandlung in sich. Diakone können sie heilsam wirken in heilsamen Worten und helfenden Taten. Sowohl neutestamentlich als auch kirchen- und sprachgeschichtlich ist der Dienst des Diakons mehr als soziales Engagement. Die Kirche gründet in Chris288

Gebhard Fürst

tus. Sie würde ihren Existenzzweck in der Welt, ja sie würde Christus als ihr Haupt verlieren, wenn sie sich nicht in allen ihren Vollzügen, auch in der Verkündigung und der Liturgie, grundsätzlich als dienende und diakonische Kirche in der Welt und für die Welt verstehen und entsprechend wirken würde.7 Das unzerstörbare Merkmal, das dem Diakon in der Weihe eingeprägt wird und ihn mit Christus verbindet, bezeugt die Gnade und Kraft Gottes dort, wo unsere menschliche Kraft endet. Seine Brückenfunktion kann der Diakon auf vielfältige Weise ausüben: indem er »an die Ränder« geht, zu den sozial Ausgeschlossenen; aber auch indem er mit Ehe und Familie im Klerus steht; indem er Kirche in seiner Arbeitswelt repräsentiert und dort für Menschen zum Ansprechpartner wird, die Kirche nicht aufsuchen würden. Er kann Brücke sein zwischen verbandlicher Caritas und Gemeindecaritas, zwischen kirchlichem und außerkirchlichem Engagement im Lebensraum.8 Sein Dienst steht für die Einheit von Gottes- und Nächstenliebe.9 »Wenn die Wirklichkeit Gottes als Ereignis unbedingter Zuwendung offenbar werden soll, kann dies angemessen nur im Geschehen unbedingter Zuwendung (zum Menschen) erfolgen. Gottes unbedingte Zuwendung lässt sich angemessen nur bezeugen in einer Praxis, die das vollzieht, was sie bezeugt.«10 Unsere Zeit braucht vielleicht mehr als je Menschen, die aus eigener Lebensund Glaubenserfahrung Sinn erhellen und Erfahrung deuten können.

7 Vgl. Gebhard Fürst, Gott und den Menschen nahe – Diakone in missionarischer Kirche, 2. Auflage, Ostfildern 2014, 46. 8 Vgl. Bischöfliches Ordinariat der Diözese Rottenburg-Stuttgart (Hrsg.), Diakon (Die pastoralen Dienste und Ämter. Berufsprofile; Bd. 2), Rottenburg a. N. 2011; vgl. auch: Fürst 2014, u. a.: 24. 9 Vgl. auch: Benedikt  XVI., Enzyklika »Deus caritas est« über die christliche Liebe vom 25.12.2005, insbesondere: Art. 16. 10 Hans-Joachim Höhn, Fremde Heimat Kirche. Glauben in der Welt von heute, Freiburg i. Br. – Basel – Wien 2012, 84.

»Um unseres Heiles willen«

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Professor Kießling – »Love Greets You« – from Finland Terttu Pohjolainen

The high rooms at Freiburg University felt to us so festive, so valuable. In the spring of 1994, we two women, rector Maija Vehviläinen and me, were going to meet the professor of Caritas Science at Freiburg University, Dr. Heinrich Pompey. He was a tall and imposing man, but we felt us so small and insignificant, when we got to know this wise and gentle person. We had been put into contact with him through Dr. Theodor Strohm, professor of Diaconal Science at the University of Heidelberg. Our goal at the time was to create a cooperation network that would enable us to develop diaconal studies contents at the Diaconal Institute of Lahti University of Applied Sciences. We presented our new curriculum based on the concepts of faith, hope and love. Dr. Pompey had invited his assistant, a young man named Mr. Klaus Kießling, to continue the conversation with us. We subsequently agreed on Professor Pompey’s visit to Finland in the summer of 1995. Rector Vehviläinen said, »We also want to get Mr. Klaus Kießling to come to our university as soon as possible and many times.« This moment began our varied and decades-long collaboration with Professor Dr. Dr. Dr. h. c. Kießling. The Lahti Diaconal Institution was founded in Vyborg in 1869, when the German Kaiserswerth deaconess movement spread around the world. Finland’s first deaconess graduated from our Diaconal Institution in 1872, just 150 years ago. The vocational training of deaconesses was always in diaconal institutions. It is only since the 1990’s that deaconesses and deacons in Finland have been educated at the Universities of Applied Sciences. The Lahti Diaconal Institute started to develop its own diaconal training at the new Lahti University of Applied Sciences in 1992. The Diaconal Institute of Lahti University of Applied Sciences was a pioneer in diaconal training at the university level. Cooperation with both Finnish and international universities made it possible to raise the level of vocational diaconal education to the university level. Amazingly quickly, we were able to network with almost all key institutions providing university level diaconal training around the world. 290

Terttu Pohjolainen

We wanted to hold on to the core of diakonia, faith, hope and love in our teaching. The curriculum created based on these concepts opened the possibility of developing the contents of diaconal teaching and training ecumenically and globally. As the operating practices we had joint international seminars, exchanges of experts, student exchange, research cooperation, development projects, study visits and the sharing of literature and research information among ourselves. We got to know each other personally, the professors, other teachers and experts in the network. Working together was natural and active. Information technology developed to our aid, although it was not yet possible to hold international virtual meetings at that time. The Lahti Diaconal Institut was part of Lahti University of Applied Sciences from 1992 to 2004. Then, it had to join Diakonia University of Applied Sciences when the laws of university of applied sciences changed. Klaus Kießling has been the visiting lecturer more than once each year in diaconal studies or trainings and seminars at the Lahti Diaconal Institute over the past 20 years. He has accumulated visits to Finland well over 30 times as a beloved and respected lecturer. As a researcher and productive writer, Klaus Kießling participated in the making of Anno Domini, Diaconal science yearbooks published by the Lahti Diaconal Institution, with his advice and articles in 2001–2009. The yearbooks had usually two themes that were discussed by research assignments or articles. The themes of the 2001 Diaconal Science Yearbook were diaconal science and proximity.1 The following year, the publication discussed about historical diakonia and love.2 In 2003, the authors of the Diaconal Science Yearbook sought the specificity of diakonia from their own history in diakonia, their own daily lives, their work and vocation and their studies.3 The 2004 yearbook dealt with themes of diaconal education and vocation.4 The following publication explored volunteering in the diaconal field and mercy as a concept.5 Anno Domini 2006, Yearbook of Diaconal Science was addressed as a thank you to the Professor Heinrich Pompey of the Department of Caritas Science 1 2 3 4 5

Cf. Mikko Lahtinen & Tuulikki Toikkanen (eds.), Anno Domini 2001 – Yearbook of Diaconal Science. Tampere 2001. Cf. Mikko Lahtinen & Tuulikki Toikkanen (eds.), Anno Domini 2002 – Yearbook of Diaconal Science. Tampere 2002. Cf. Mikko Lahtinen & Tuulikki Toikkanen (eds.), Anno Domini 2003 – Yearbook of Diaconal Science. Vammala 2003. Cf. Mikko Lahtinen & Tuulikki Toikkanen (eds.), Anno Domini 2004 – Yearbook of Diaconal Science. Vammala 2004. Cf. Mikko Lahtinen & Tuulikki Toikkanen (eds.), Anno Domini 2005 – Yearbook of Diaconal Science. Vammala 2005.

Professor Kießling – »Love Greets You« – from Finland

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at the University of Freiburg when he celebrated his 70th birthday. Professor Pompey has also been a tireless supporter of the Lahti Diaconal Institute in its efforts to promote the development of diaconal science. The yearbook wrote about peace, international diakonia and ecumenical networks. In the book, Pope Benedict XVI’s circular, Deus Caritas est, was published. This strongly ecumenical yearbook is even more exceptional as some of the articles were published in German language. Without Klaus Kießling’s diplomatic work, it would not have been possible to publish the book like this.6 The articles of the 2007 Yearbook of Diaconal Science dealt with the renewal of diaconal practices, as well as the renewal of diaconal actors in the face of the challenges of the times.7 The following year’s yearbook of diaconal science, for its part, considered questions about God and surrender at a time when humanity had plunged into an uncertain and unpredictable situation due to a severe economic recession.8 The chance of diakonia succeeding in such a time is to support giving up as diaconal deeds. The last Anno Domini was published in 2009. Its themes were home, the face of need and institutional diakonia. The articles looked at the theological and historical roots and interpretations of diaconal actors in practical diaconal activities.9 The nine books were a major result of a collaboration between diaconal experts from different disciplines. Klaus Kießling played a crucially strong role in this work, which he carried out with his advice and studies and articles. The book series has been originally published in Finnish, and numerous articles have since been translated from English, German or Swedish into Finnish. The Lahti Diaconal Institution has also published (2004) the book of Klaus Kießling named Life Skills: Multidisciplinary articles on diaconal science. Klaus Kiessling sums up his message to the idea, »Diaconia is a skill – the art of sharing life and hope with others.«10 Our experience here in Finland is that Klaus Kießling has lived with us exactly as he has so wisely taught us. We will never forget his wonderful lectures and the way he taught. We remember and honor 6 Cf. Mikko Lahtinen, Terttu Pohjolainen, Tuulikki Toikkanen & Klaus Kießling (eds.), Anno Domini 2006 – Yearbook of Diaconal Science. Vammala 2006. 7 Cf. Mikko Lahtinen, Terttu Pohjolainen & Tuulikki Toikkanen (eds.), Anno Domini 2007 – Yearbook of Diaconal Science. Vammala 2007. 8 Cf. Mikko Lahtinen, Terttu Pohjolainen & Tuulikki Toikkanen (eds.), Anno Domini 2008 – Yearbook of Diaconal Science. Vammala 2008. 9 Cf. Mikko Lahtinen, Terttu Pohjolainen & Tuulikki Toikkanen (eds.), Anno Domini 2009 – Yearbook of Diaconal Science. Vammala 2009. 10 Klaus Kießling, Elämäntaito. Monitieteisiä artikkeleita diakoniatieteestä. Lahden Diakonisäätiö, Lahden diakonian instituutti 2004.

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his great ecumenical work in the International Deaconate Center and his cooperation with the DIAKONIA World Federation, the association of protestant diaconal communities. His first book in Finland was published in English in 1998, very soon after his first visit in Finland. It dealt with diakonia in culture.11 With these writings, I would like to greet our beloved professor with the words of the title of his first book in Finland: »Love greets you!«– Love greets You, Klaus Kießling – from Finland.

11 Klaus Kiessling, »Love Greets You«, about the culture of deacons. Helsinki 1998.

Professor Kießling – »Love Greets You« – from Finland

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Maria von Magdala als barmherzige Sama­riterin? Ein Film als theologiegenerativer Ort Viera Pirker

Es ist nicht zu viel behauptet, dass der Perikope vom »Barmherzigen Samariter« eine eminente Bedeutung für die Arbeit von Klaus Kießling zukommt. Er legt sie aus auf verschiedene Themen hin, die seine Arbeit prägen: Diakonie, Professionalität, Seelsorge und Selbstsorge, Solidarität, Begleitung, Bildung entlang der Frage, wer der*die Nächste, was Nächstenliebe ist, und wie sie sich zeigen und realisieren kann. Immer wieder kommt er in diesen Feldern mit dem »Barmherzigen Samariter« in Berührung, die Perikope bildet einen wichtigen Anhaltspunkt für seine pädagogische Arbeit mit Studierenden und Promovierenden sowie in anderen Ausbildungsformaten, ebenso für bildungstheoretische Überlegungen mit dem Ziel der Diakonie, die sich in Lehrveranstaltungen und Publikationen spiegeln.1 Lose einen älteren, gemeinsam gesponnenen Faden aufgreifend2 will ich in diesem Beitrag eine Szene aus dem Film »Maria Magdalena« analysieren, die als innovative und gegenwärtige Neuerzählung der lukanischen Perikope gelesen werden kann.3 Der Gedankengang weiß sich inspiriert von der Annahme, das Kino als locus theologicus zu verstehen. Leo Karrer hatte diese Dynamik mit der Analyse des doppelten Wirklichkeitsbezugs des Films als Ort der Erfahrung gefasst: »Die Realität des Films zeigt […] Dinge nicht, ›wie sie sind‹, sondern nur, wie im Medium Film Wirklichkeit wahrgenommen und verarbeitet bzw. interpretiert wird.«4 Daran beteiligt sieht er interessengebundene 1 Vgl. Klaus Kießling, Lernziel: Solidarität – sozialpsychologische Qualität und theologische Dignität eines Prozesses, in: Albert Biesinger, Ottmar Fuchs & Klaus Kießling (Hrsg.), Solidarität als interkultureller Lernprozeß (Tübinger Perspektiven zur Pastoraltheologie; Bd. 22), Münster 2005, 71–95, sowie den Beitrag von Norbert Mette in diesem Band. 2 Klaus Kießling & Viera Pirker, Diakonische Spiritualität als Kunst solidarischer Lebensteilung, in: Michael Langer & Winfried Verburg (Hrsg.), Zum Leben führen. Handbuch religionspädagogischer Spiritualität, München 2007, 188–202; Klaus Kießling & Viera Pirker, Solidarisch und spirituell – das Leben teilen, in: Albert Biesinger & Joachim Schmidt (Hrsg.), Ora et labora. Eine Theologie der Arbeit, Ostfildern 2010, 219–228. 3 Vgl. Garth Davis, Mary Magdalene, 2018, 2:00 h, vgl. https://www.imdb.com/title/tt5360996/ (letzter Zugriff am 26.12.2021). 4 Leo Karrer, Warum sich Theologie für den Film interessiert. Versuchs-Thesen zu einem Brückenschlag, in: Pastoraltheologische Informationen 17 (1997) 321–328, hier: 325.

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(Kulturindustrie) und subjektive Wirklichkeitskonstruktionen – die »Wirklichkeitszufuhr« des Films, der also immer als ein Medium der »Wirklichkeitsverarbeitung« zu verstehen ist. Die Theologie steht ihrerseits vor der Herausforderung, sich gegenüber der als »Offenbarung« verdichteten Erfahrungen als auch der Erfahrungen der jeweiligen Gegenwart, in der die Offenbarung neu zur Wirkung und Deutung kommen soll, treu und offen zugleich zu verhalten.5 Film lässt sich verstehen als eine »dichte Form«, als »Erfahrungsträger und mediale Interpretation von Erfahrungen«6, die es theologisch eigenständig zu erschließen gilt. Wie Reinhold Zwick in seinen Überlegungen zum Kino als theologischem Erkenntnisort darstellt, bereichern »Filmerzählungen das Nachdenken über die großen Fragen des Menschen auf eindringliche, oftmals sehr originelle Weise und immer auf Augenhöhe mit den je gegenwärtigen Befindlichkeiten«7 – keineswegs lediglich durch explizite Aufnahme von narrativen Stoffen der biblischen und religiösen Tradition. Für Zwick erweisen sich Filme als exegetisch besonders interessant, wenn diese die rezeptionsorientiert appellativen Leerstellen der biblischen Texte, welche dazu einladen, sich selbst in Bedeutungsaufbau und Interpretation kreativ einzuschalten, konkretisieren und interpretieren und wenn sie zudem Vorstellungs- und Deutungsangebote unterbreiten, die über den Text selbst weit hinausgehen.8

1 Maria Magdalena – die zentrale Figur Mit historisch anmutenden Bekleidungen und zeitgeschichtlicher Einbettung ist der Film formalästhetisch eher konventionell am historischen Vorbild orientiert,9 doch eindrücklich aufgrund seiner frischen Perspektive, denn er folgt konsequent der Person Maria Magdalena, deren Geschichte als Jüngerin an der Seite Jesu und ihr Blick auf seine Person erzählt wird. Dieses Unterfangen

5 Vgl. Karrer 1997, 327. 6 Karrer 1997, 328. 7 Reinhold Zwick, Filme machen sehend. Zum Kino als theologischer Erkenntnisort, in: Die deutschen Bischöfe (Hrsg.), Visuelle Wahrheit und diskursive Deutung. Eine Feldbeschreibung katholischer Filmarbeit in Leitgedanken, Arbeitsbereichen und kulturellen Kommentaren (Arbeitshilfen der Deutschen Bischofskonferenz; Bd. 326), Bonn 2021, 30–40, hier: 30; der Gedankengang bezieht sich auf: Neil J. Hurley, Theology Through Film, New York 1970. 8 Vgl. Zwick 2021, 36–38. 9 Joachim Valentin, Filmisches Schweben und Weben, in: Herder Korrespondenz 72 (2018), Heft 4, 52.

Maria von Magdala als barmherzige Sama­r iterin?

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mag in loser Tradition Luise Rinsers verstanden werden, die mit ihrem Roman »Mirjam« der Person 1983 eine eigene Geschichte verlieh.10 1.1 Die Person und ihre Rezeption »Nach den Evangelien war Maria Magdalena sowohl bei Jesu Tod wie bei seiner Grablegung zugegen. Sie gilt als die erste Zeugin seiner Auferstehung. Im Jahre 591 behauptete Papst Gregor, Maria Magdalena sei eine Hure gewesen; eine falsche Annahme, die sich bis zum heutigen Tag hält. Im Jahre 2016 wurde Maria Magdalena vom Vatikan als ›Apostolin der Apostel‹ diesen gleichgestellt – und als erste Verkünderin der Auferstehung Jesu anerkannt.«11 So schließt der Abspann den Film, und er wirkt nach einer bewegenden, in knapp zwei Stunden sensibel erzählten Begegnung mit ihrer Person im Film durchaus erschreckend: Wie konnte dieser Frau solch ein Unrecht angetan werden? Die Entstehung der Jesusbewegung wurde über Jahrhunderte als vorwiegend männliche Geschichte erzählt. In der kirchlichen Tradition, in Schriften und Ikonografie wurde ihrer Person später vieles zugeschrieben. Sie galt als Sünderin, als Ehebrecherin und Hure, ebenso als die Frau, die Jesus salbte: So gut wie alle namenlosen Frauen aus den Evangelien wurden ihr zugesprochen. Populäre Fiktionen stilisierten Maria Magdalena und Jesus zu einem Paar, wie filmisch bei Martin Scorseses »The Last Temptation of Christ«12 und zuletzt im ebenfalls verfilmten Weltbeststeller »The Da Vinci Code«13 von Dan Brown. Lediglich das Lukasevangelium hält es überhaupt für erwähnenswert, dass einige Frauen mit Jesus und den Jüngern ziehen, unter ihnen Maria Magdalena, der Dämonen ausgetrieben wurden (Lk 8,1–3). Das Johannesevangelium erzählt ausführlich von ihrer Begegnung mit dem Auferstandenen (Joh 20,1–18) – ein für die Entwicklung des Christentums höchst bedeutsamer Text,14 auf den sich schließlich auch der hohe Titel der apostola apostolorum beruft, der auf Thomas von Aquin zurückgeht.

10 Vgl. Luise Rinser, Mirjam, Frankfurt a. M. 1983. 11 Davis 2018, Abspann. 12 Vgl. Martin Scorsese, The Last Temptation of Christ (Die letzte Versuchung Christi), 1988, 2:44 h, vgl. https://www.imdb.com/title/tt0095497 (letzter Zugriff am 26.12.2021). 13 Vgl. Dan Brown, Sakrileg, 2004 (Originalausgabe: The Da Vinci Code, 2003); Ron Howard, The Da Vinci Code, 2006, 2:26 h, vgl. https://www.imdb.com/title/tt0382625 (letzter Zugriff am 26.12.2021). 14 Vgl. dazu Andrea Taschl-Erber, Maria von Magdala – Erste Apostolin? Joh 20,1–18: Tradition und Relecture (Herders Biblische Studien; Bd. 51), Freiburg i. Br. – Basel – Wien 2007.

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Das vatikanische Dekret vom 3. Juni 2016 greift die feministisch-theologische Rezeption der Maria Magdalena nicht auf und spricht auch nicht von Gleichstellung, wertet hingegen ihre Eigenschaft als Symbolträgerin der »Würde der Frau« und Vorbild des »Geheimnisses der Barmherzigkeit«, da sie in einer besonderen Beziehung zu Christus gestanden hat.15 1.2 Die filmische Adaption Die »größte Geschichte aller Zeiten«16 vom Leben, Botschaft, Leiden, Sterben des jüdischen Lehrers Jesus, der dann christlich als Gottessohn erkannt und bezeugt wird, sperrt sich gegen jedes Filmformat und verlockt doch immer wieder Regisseure, sich daran zu versuchen. Auch Regisseur Garth Davis hat sich der Herausforderung angenommen, die scheinbar auserzählte Geschichte mit einer Riege hochkarätiger Schauspieler*innen neu zu adaptieren. Das Drehbuch von Philippa Goslett und Helen Edmundson erweist sich als theologisch klug und erzählerisch gewandt; es ist in kundiger Beratung mit biblisch, archäologisch und historisch Forschenden sowie religiösen Menschen entstanden. Der Regisseur verfolgt in seinem Film das Interesse, eine der wichtigsten, nach wie vor kulturprägenden Geschichten überhaupt für die Gegenwart neu zu erzählen, jedoch für ein Publikum, das nicht unbedingt religiös ist, sondern allgemein – kulturell – ein tieferes Verständnis dafür entwickeln möchte. Über sich selbst und die Hauptdarstellerin Rooney Mara sagt Davis: »Da wir beide nicht direkt religiös sind, war es für uns eine besondere Herausforderung, denn der Film wird auch als religiöser Film gesehen. Aber wir fühlen uns mit der spirituellen Botschaft verbunden, die auf gewisse Weise 15 Im Dekret heißt es: »Die erste Zeugin der Auferstehung des Herrn und die erste Evangelistin, die heilige Maria Magdalena, wurde von der Kirche im Westen und im Osten immer mit höchster Ehrfurcht geachtet, wenn sie auch auf verschiedene Weise verehrt wurde. Da die Kirche zu unseren Zeiten berufen ist, eindringlicher über die Würde der Frau, über die Neuevangelisierung und über die Fülle des Geheimnisses der Barmherzigkeit nachzudenken, schien es gut, den Gläubigen das Beispiel der heiligen Maria Magdalena noch besser vor Augen zu stellen. Diese Frau nämlich wird als diejenige anerkannt, die Christus geliebt hat und von ihm am meisten geliebt wurde. Vom heiligen Gregor dem Großen wurde sie ›Zeugin der göttlichen Barmherzigkeit‹ genannt, vom heiligen Thomas von Aquin ›Apostolin der Apostel‹; von den Gläubigen unserer Tage kann sie als Beispiel für den Dienst der Frauen in der Kirche entdeckt werden« (Prot. N. 257/16 vom 03.06.2016, online verfügbar unter: https://www.vatican. va/roman_curia/congregations/ccdds/documents/sanctae-m-magdalenae-decretum_ge.pdf [letzter Zugriff am 10.01.2021]). 16 George Stevens, The Greatest Story Ever Told (Die größte Geschichte aller Zeiten), 1965, 4:20 h, vgl. https://www.imdb.com/title/tt0059245/ (letzter Zugriff am 26.12.2021).

Maria von Magdala als barmherzige Sama­r iterin?

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verloren gegangen ist. Wir nehmen die Menschen zurück zur Kernbotschaft Jesu: Dass die Macht in uns, nicht außerhalb von uns liegt. Dass es nicht um Ideologie und Regeln geht, sondern darum, zu hören, was in uns ist, und damit in Verbindung zu treten.«17 Der Film erzählt eine Emanzipationsgeschichte. Zu Beginn des Films lebt Maria im Dorf Magdala am See Genezareth. Der Film zeigt das einfache Leben der jüdischen Fischer, die von der römischen Besatzung geknechtet werden, sich in der Synagoge zum Gebet versammeln und ihren Alltag in klaren familiären Strukturen verbringen. Gleich zu Beginn unterstützt Maria als Hebamme eine andere Frau bei einer gefährlichen Geburt – sie erweist sich als talentiert darin, Neues auf die Welt zu begleiten, ein Motiv, das in der weiteren Folge verschiedentlich aufgenommen wird. Eine innere Sehnsucht nach Gott kann sie nicht benennen, sie ziemt sich nicht in der klaren Geschlechterordnung der ländlichen Gemeinschaft. Maria will nicht heiraten, auch wenn die Familie drängt und eine Besessenheit vermutet. Daher wird der Wanderprediger Jesus (Joaquín Phoenix) als Heiler zu ihr gerufen. Er fragt nach ihrer Sehnsucht und spricht ihr Gutes zu: »Bleib im Licht!« Mit dieser Begegnung nimmt die Geschichte ihren Lauf. Maria wird als erste Frau in den Jüngerkreis aufgenommen, mit der Taufe im See bekräftigt. Das Wasser hat im Film symbolische Bedeutung: Es wirkt als ein metaphorischer Ort des Innenlebens.18 Die Männer im Jüngerkreis teilen ihre existenzielle Erfahrung, dass es keine Alternative zur Nachfolge Jesu gibt, von dem sie die Befreiung von der römischen Besatzung erhoffen. Auf Marias Bitte hin predigt Jesus zu den Frauen, die sich von ihr taufen lassen. Jesus erscheint älter und handfester als es andere Darstellungen nahelegen. Phoenix schmiegt sich an seine Rolle an, ohne der Versuchung zu erliegen, Jesus vollständig interpretieren zu wollen. Wie Phoenix Jesus zeigt, kann dieser gewesen sein, und wenn er so war, war er zugleich überzeugend als auch befremdlich. Maria hört und sieht, ahnt und versteht von ihm mehr als die anderen Jünger, die zu sehr in ihren eigenen Wünschen, Nöten und Hoffnungen verharren. Der Film folgt, gerahmt von Prolog und Epilog, in acht Kapiteln einem topologischen Konzept, indem er den Weg Jesu nachzeichnet, der divergierend zu den synoptischen Evangelien Stationen in »Magdala«, »Kana« und »Samaria« aufweist, am »Weg nach Jerusalem« sowie in vier Stationen in Jerusalem: »Einzug in Jerusalem und Aufruhr im Tempel«, »Mahl in Jerusalem«, »Verhaftung 17 Universal Studios, Production Notes (Press Material), 2018, 12 f. [Übersetzung V. P.]. 18 Vgl. Martin Ostermann, Maria Magdalena. Arbeitshilfe des Katholischen Filmwerks, Frankfurt a. M. 2018, 4, online verfügbar unter: http://www.materialserver.filmwerk.de/arbeitshilfen/ Maria_Magdalena_A4_web.pdf (letzter Zugriff am 26.12.2021).

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und Tod in Jerusalem«, »Auferstehung in Jerusalem«.19 Das Drehbuch hebt die Jesusgeschichte von den neutestamentlich überlieferten Texten vielfältig ab. So werden wörtliche Zitate aus den Texten der Evangelien, den Gleichnissen und Predigten Jesu weitestgehend vermieden – bis auf das »Vater Unser« begegnet aus dem Munde Jesu kaum ein bekanntes Wort, hingegen hebräische Gebete, freie Predigten, Gespräche und Zusprüche. 1.3 Eine zentrale Konstellation: Maria und Petrus20 Dramatisch und theologisch höchst bedeutungsgeladen gestaltet sich die Konstellation zwischen Maria und Petrus (Chiwetel Ejiofor). Die Gegensätzlichkeit ihrer Nachfolge kulminiert in einem stilisierten Streitgespräch zwischen Maria als Kreuzes- und Auferstehungszeugin und Petrus, der Jesus verleugnet hat. Nach der Begegnung mit dem Auferstandenen kommt Maria zurück zu den Jüngern, die versammelt sind und nicht wissen, wie es weitergehen soll. Sie überbringt die Botschaft des Auferstandenen und der schwelende Konflikt zwischen ihr und Petrus bricht auf. Er sagt: »Wir müssen warten, bis Jesus wieder kommt. Er wird wiederkommen und dann wird er uns versammeln«; Maria entgegnet: »Das Reich Gottes beginnt jetzt in unseren Beziehungen, in unseren Herzen, und das ist es, was Jesus von uns will, dass wir heute und hier miteinander anfangen«. Dieses Gespräch fußt auf einem frühchristlich überlieferten Vorbild, dem Evangelium der Maria. Der apokryphe Text aus dem 2. Jahrhundert mit gnostischer Prägung verleiht der Maria von Magdala eine Stimme und ihrer Person Kontur. Es war durchaus verbreitet, wurde aber nicht in den biblischen Kanon aufgenommen. Das Drehbuch begibt sich in die Spur dieses apokryphen Textes, der sich ganz der Jüngerin, die Jesus liebte, zuwendet.21 Theologisch konstelliert sich das Gespräch im Film als Grundstreit zwischen präsentischer und futurischer Eschatologie, also einer Interpretation des Reiches Gottes, das im Hier und Jetzt, in den Herzen und im Handeln der Menschen beginnt, gegenüber einem Warten auf die Wiederkunft des Erlösers, mit der erst der Anbruch eines neuen Reiches erhofft und ersehnt wird.

19 Nach: Ostermann 2018, 5. 20 Vgl. zum Folgenden: Viera Pirker, »Maria Magdalena«: die Hebamme des Glaubens, Artikel vom 14.03.2018, online verfügbar unter: http://www.feinschwarz.net/maria-magdalena-diehebamme-des-glaubens/ (letzter Zugriff am 26.12.2021); Viera Pirker, Maria Magdalena: Ein Jesusfilm über die apostola apostolorum, in: Katechetische Blätter 144 (2019), Heft 2, 150–153. 21 Vgl. zur Überlieferung des »Evangelium Mariae«: Taschl-Erber 2007, 479–588.

Maria von Magdala als barmherzige Sama­r iterin?

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2 Die Szene – Samaria Die Beziehung von Petrus und Maria gewinnt bereits zu einem früheren Zeitpunkt des Filmes an Dynamik. Im Folgenden wird die Szene mit der Überschrift »Samaria« (59:24–66:50) analysiert, die eher lose Anhaltspunkte in den Evangelien hat. Eingebettet zwischen der Erweckung eines Toten und dem Anweg nach Jerusalem, gliedert sie sich in den Duktus der Erzählung organisch ein, stellt sich jedoch im Grunde in der Betrachtung der biblischen und zeitgeschichtlichen Hintergründe als eine Rätsel aufgebende, vielschichtige Sequenz dar. Maria und Petrus sind darin zu zweit als Apostel ausgesandt, sie kommen zu sterbenden Menschen in ein Dorf. Petrus will weiterziehen, weil er dort keine Unterstützer findet, Maria aber handelt in Nächstenliebe. 2.1 Transkript der Szene »Samaria« ist in fünf Sinneinheiten eingeteilt. (1) Maria und Petrus sind zu zweit ausgesandt. Unterwegs diskutieren sie ihr Verständnis der Visionen Jesu. (2) Sie erreichen gemeinsam ein scheinbar verlassenes Dorf. Hier finden sie die Leichen von Erschlagenen, Hungernde und viele Verletzte. Petrus will gleich weiterziehen, Maria aber entscheidet, zu helfen. (3) Maria holt Wasser, Petrus mahnt sie weiterzuziehen. (4) Maria beginnt, die Menschen zu pflegen, ihre Wunden zu versorgen, und ihnen beim Sterben beizustehen. Petrus unterstützt Maria schließlich. Sie begleitet eine Frau beim Übergang in den Tod. (5) Nachdem beide das Dorf wieder verlassen haben, reflektiert Petrus das Geschehene und gesteht ein, »dass Maria durch ihr Handeln aus Gnade ein besseres Verständnis der Botschaft Jesu gezeigt habe als er«22. 59:00 SAMARIA (Einblendung der Überschrift) (1) Maria und Petrus gehen alleine durch eine weite, karge Landschaft. Die Kamera begleitet sie, der Schnitt ist fokussiert auf die Sprechenden. Petrus: Hat er gesagt, was er gesehen hat? Maria: Ich glaube, es war eine Vision von Dingen, die noch kommen. Petrus: Das Königreich [Reich Gottes]. Wir müssen mehr Menschen versammeln. Jerusalem. Am Pessachfest. Dort wird er es beginnen. Maria: Wie? Petrus: Das habe ich nie hinterfragt. Maria: Ich glaube, er fürchtet sich. Davor, was Gott als nächstes von ihm verlangt. 22 Ostermann 2018, 8.

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Petrus: Der Rabbi fürchtet gar nichts. Maria: Ich bin froh, dass er demütig ist. Petrus: Ach ja. … (2) 60:00 Petrus: Es leben ein paar hundert Menschen in dem Dorf. Ich werde einen Ort zum Predigen suchen, während du sie versammelst. Die beiden kommen auf einen Pfahl zu, dann sehen sie am Boden liegende, verbrannte Überreste eines menschlichen Körpers. Petrus: Römer. Wir müssen vorsichtig sein. Beide gehen an einer Felswand mit Höhleneinschnitten entlang. Maria: Sie haben alles zerstört. Wo sind die Menschen? Sie betritt eine der Wohnhöhlen, Fliegen summen im Hintergrund. Der Blick schweift, am Boden liegen ausgemergelte, tote Körper. Maria schreitet durch die Räume, Petrus bleibt vor dem Eingang stehen. Ein Mensch stöhnt. Mehr Körper liegen am Boden, Maria geht zwischen ihnen hindurch. Im Hintergrund ist Petrus zu sehen, der auch den Raum betritt. Maria kniet nieder, sie greift die Hand eines Liegenden. Petrus bedeckt Nase und Mund mit dem Gewand. Petrus: Wer konnte, ist geflohen. Bitte, Gott, erlöse uns. Das Auge des Liegenden blitzt auf: Er lebt. Maria springt auf, geht rasch zum Eingang, hinaus aus der Höhle. Petrus folgt ihr. Petrus: Wo gehst du hin? Maria: Sie brauchen Wasser. Petrus: Maria, wir können nicht bleiben! Maria! Diesen Menschen können wir nicht helfen! Hier können wir nichts tun. Maria dreht sich um, schaut ihn frontal an, dreht sich wieder um, geht mit raschem Schritt fort. (3) 61:42 Blick aus der Luft, ein langer Weg, der in ein Tal hinabführt. Zwei Menschen laufen rasch bergab. Petrus (ruft): Wir müssen weiter, in andere Städte. Maria! Wir müssen die taufen, die ihm folgen können. Er selbst hat, er selbst hat es uns gesagt! Maria geht schweigend weiter zu einem Bach, füllt einen Lederbeutel mit Wasser. (4) 62:12 Zurück bei den sterbenden Menschen, Maria versorgt einen Mann mit Wasser. Hält einem anderen den sinkenden Kopf. Pflegt einem dritten eine Wunde. Streichelt eine Frau. Ein abgemagertes Kind weint. Petrus schaut ihr zu, schaut die Leidenden an, Maria eilt von einem zum anderen, ist bei einer Frau, die ihr Kind streichelt. Petrus hockt sich nieder. Petrus: Maria, wir müssen gehen. Maria von Magdala als barmherzige Sama­r iterin?

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Maria: Ihre Zeit ist gekommen. Nimm das Kind. Petrus: Komm, Kind, komm zu mir. (Es zuckt auf seinen Armen) Ruhig, Kind, ruhig. Maria (streichelt die bebende Frau, blickt ihr direkt in die Augen): Sieh mich an. Sieh mich an. Du wirst gesehen und gehört in jeder fürsorglichen Tat. Preise Gott mit Nächstenliebe. (Der Blick bricht) Petrus (hält das Kind, schüttelt es sanft): Lebe, Kind, lebe! (5) 64:22 Maria geht durch den Außenbereich des Dorfes. Sie hebt den Blick. Ein römischer Soldat mit einem roten Mantel reitet auf sie zu, beide schauen sich an, das Pferd pariert, der Soldat galoppiert schließlich weg. Petrus kommt auf Maria zu. Beide sitzen jetzt miteinander im hohen Gras. Petrus: Mein Sohn versteckte mein Werkzeug im Sand. Und dann war er da: Jesus von Nazareth. Er rief meinen Namen, das war alles! Und es war zugleich wie alles, das ich je hatte in meinem Leben. Es war leuchtend, wie diese Bilder, die Malereien auf Glas. Und er wurde zur einzigen Wahrheit auf der Welt. Aber was du im Dorf gemacht hast (er beginnt zu weinen) – Gnade. Das war Gnade. Die beiden gehen im Abendlicht durch die Hügellandschaft. 2.2 Biblischer Hintergrund und Analyse der Szene In der Szene werden mehrere biblische Motive und Momente miteinander verbunden und können als explizite Erweiterung dieser Bibelstellen verstanden werden. Durch die Überschrift wird eine Beziehung zu einem im Neuen Testament selten erwähnten Ort etabliert. Samaria, die Region um die ehemalige Hauptstadt des alten Nordreichs, begegnet zweifach als Aufenthaltsort Jesu in Joh 4,1–42 – das Gespräch mit der Frau am Jakobsbrunnen – und Ort der Hinwendung vieler Samariter zu Jesus, sowie in Lk 17,11–19 – die Begegnung mit zehn Aussätzigen, eine Erzählung, die dem lukanischen Sondergut zugeordnet ist. Außerdem begegnet Samaria als Herkunftsort des barmherzigen Samariters (Lk 10, 30–37), ebenfalls eine Erzählung aus dem lukanischen Sondergut. Die Aussendung der Zwölf erfolgt in Mk 6,6b–13 ausdrücklich »jeweils zwei zusammen«, und »in Mt 10,5 gebietet Jesus den Jüngern, die er sendet: ›Geht nicht den Weg zu den Heiden und betretet keine Stadt der Samariter‹.«23 In Lk 10,1–24 werden 72 Jünger ausgesendet. Die ausdrückliche »Aussendung zu zweit« (Mk 6,7 und Lk 10,1) nimmt keine weitere Deutung oder Geschlechter23 Vgl. Ostermann 2018, 9.

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konstellation vor. Auch wenn die altkirchlich tradierten Listen männlich durchformuliert sind, wagt Martin Ebner auf diesem Hintergrund die These, dabei »an die Aussendung von Ehepaaren zu denken. Ganz schwach werden diese missionierenden Ehepaare noch in der vorpaulinischen Mission sichtbar. Priska und Aquila (vgl. Apg 18,2; Röm 16,3 f.) sowie Andronikus und Junia (vgl. Röm 16,7) sind dafür namhafte Beispiele.«24 In Lk 10,9 gehört zur Aussendung der 72 die explizite Aufforderung Jesu: »Heilt die Kranken, die dort sind, und sagt den Leuten: Das Reich Gottes ist euch nahe«, ähnlich Mt 10,7–8: »Geht und verkündet: Das Himmelreich ist nahe! Heilt Kranke, weckt Tote auf, macht Aussätzige rein, treibt Dämonen aus! Umsonst habt ihr empfangen, umsonst sollt ihr geben.« Im Film wird die Aussendung nicht inszeniert, aber in Gespräch und Handeln zwischen Maria und Petrus reflektiert. Zu Beginn diskutieren beide ihr unterschiedliches Verständnis des Reiches Gottes und der Person Jesu. Petrus’ Verständnis ist klar: mehr Menschen für das Reich Gottes versammeln; Maria formuliert deutlich zurückhaltender. Ihr Verständnis zeigt sie später im situationsbezogenen Handeln. Die unheilvolle Lage der Region in der Zeit der römischen Besatzung wird im Film explizit dargestellt. Gekreuzigte, geschlagene, in Armut gepresste und unterworfene Menschen begegnen mehrfach, so auch in der Szene »Samaria«. Römer haben dieses Dorf ausgepresst. Gegen Ende der Szene begegnet ein römischer Soldat, der jedoch über den Blickkontakt mit Maria Magdalena hinaus nicht weiter handelt. Die Besatzung wirft die Menschen in eine elende Situation. Hier regt sich Marias Mitgefühl. Ihre präsentische Interpretation des Reich Gottes fasst sie nicht in Worte, sondern zeigt sie im Handeln für die Elenden, hier und jetzt. Besonders intensiviert sich dies in der Begleitung der Sterbenden. Mit den Worten »Ihre Zeit ist gekommen« verbindet sich für eine Hebamme das Signal für den Beginn eines neuen Lebens und als Geburtshelferin ist Maria auch jetzt gefragt, jedoch im deutenden – mäeutischen – Hinüberhelfen, im Begleiten des Hineingeboren-Werdens in eine neue Welt. Von den wenigen Worten, die Maria spricht, gelten die meisten der sterbenden Frau. Allein für sie versprachlicht Maria eine Botschaft des Heils, die direkt auf ihr modellhaftes Handeln zurückverweist. Petrus unterstützt sie kaum, doch verknüpft die Erfahrung mit seiner eigenen, unausweichlich intensiven Berufung zur Nachfolge Jesu, die sich ganz und gar auf den Rabbi richtet, ohne dass er eine eigene Umsetzung seiner Botschaft im Herzen fände. Dies ist die Fähigkeit der Maria Magdalena, wie sie sich in der Szene »Samaria« zeigt, und die Petrus als grace, Gnade, bezeichnet. 24 Ostermann 2018, 9, mit Zitat aus Martin Ebner, Jesus von Nazaret. Was wir von ihm wissen können, Stuttgart 2016, 123.

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2.3 Eine Neuinterpretation des »Barmherzigen Samariters«? Inwiefern kann die Szene nun als eine Neuinterpretation der Perikope vom »Barmherzigen Samariter« verstanden werden? Jesus stellt sich mit dieser Parabel der Frage was zu tun sei, um das ewige Leben zu gewinnen. Das Doppelgebot der Liebe erfordert Konkretisierung: »Wer ist mein Nächster?« Dieses Tun besteht, in der Interpretation von Klaus Kießling, in der Übernahme einer sozialen Verantwortung, die aus einer empathischen Regung heraus ihren Anfang nimmt.25 Zwei mögliche Helfer, ein Priester und ein Levit, sehen den zerschundenen Mann, doch interpretieren ihn nicht als ihre Verantwortung, gehen an ihm vorbei, verschließen ihre Augen, bleiben bei ihrem nicht dargelegten Ziel – Bewahrung kultischer Reinheit wird häufig als Argument ins Feld gezogen. Da sie alleine sind, entstehen ihnen keinerlei soziale Kosten, niemand kann ihr Handeln missbilligen. Der Samariter – eine verachtenswerte Randgestalt26 – leistet hingegen spontan Hilfe in der Not, und sorgt dafür, dass der Verletzte weiterhin gepflegt wird. »Der verletzliche Leib des einen weckt das aufmerksame Herz des anderen.«27 Dies muss nicht in purem Altruismus vollzogen werden, der Samariter überfordert nicht die eigene Kraft, sondern zieht Unterstützung hinzu, handelt »nicht selbstlos, sondern sich treu«28. Die Antwort auf die Frage nach dem ewigen Leben könnte also lauten: »Wenn du ewiges Leben suchst, so rette das Verlorene, Armselige, Lebensuntüchtige! So handelt der Samariter, und so fährt gerade der altruistisch Handelnde einen Gewinn ein!«29 Die Szene lagert die Situation von vornherein anders, nicht als erzählte Parabel, sondern in einem Geschehen, in dem auch das rahmende Streitgespräch einen Platz findet. Denn Petrus und Maria diskutieren – der eine mit Worten, die andere mit Taten – um die Deutungshoheit und Interpretation ihrer Sendung. Die Notlage ist nicht Pech (unter Räuber gefallen), sondern entsteht durch die politische Gewalt, die Menschen in den Tod treibt. Petrus und Maria sind nicht allein, sondern zu zweit unterwegs, handeln also vor Augen und (Miß-)Billigung einer anderen Person. Petrus will das eigene Ziel verfolgen, auch angesichts der Chancenlosigkeit, die ihm in der Notlage überwältigend erscheint. »Hier können wir nichts tun … Wir müssen weiter, Menschen taufen … Wir müs25 Vgl. zu dieser Interpretation: Kießling 2005, 91–95. 26 Vgl. François Bovon, Das Evangelium nach Lukas (Evangelisch-Katholischer Kommentar zum Neuen Testament; Bd. III/2), Zürich – Düsseldorf – Neukirchen-Vluyn 1996, 99. 27 Bovon 1996, 90. 28 Kießling 2005, 92. 29 Kießling 2005, 93.

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sen gehen.« Maria sagt nichts, sondern handelt spontan, situativ und personenbezogen, auch wenn sie ihrerseits genau wie Petrus die Chancenlosigkeit des Unterfangens sehen muss. Und doch zögert sie nicht, bleibt sich darin selbst treu. Das »ewige Leben« der biblischen Perikope wird zur Ankündigung der himmlischen Gerechtigkeit für eine sterbende Frau: »Du wirst gesehen und gehört in jeder fürsorglichen Tat. Preise Gott mit Nächstenliebe.« Mit diesen Worten nimmt sie Bezug auf die Soteriologie, die im Streitgespräch von Lk 10 mit der Frage nach dem »ewigen Leben« so bedeutsam ist. Diese Szene berichtet von einer intensiven, gelebten Nächstenliebe und einem Solidarhandeln, wie es der jesuanischen Botschaft zutiefst inne liegt und in der Kirchengeschichte Wirkung erlangt hat als eine wesentliche Form der Nachfolge Jesu, jedoch vorösterlich in dieser Weise in den Evangelien nicht expliziert wird. In »Samaria« erscheint Maria Magdalena als Präfiguration der vielen Frauen und Männer, die sich in der Nachfolge Christi den Elenden, Kranken und Sterbenden zuwenden, von Elisabeth von Thüringen bis Mutter Theresa.

3 Ein Film als theologischer Erkenntnisort Ein australischer Regisseur und seine internationale Crew widmen sich der alten Story, nicht aus religiösen, sondern aus kulturellen Gründen. Ihr Interesse liegt darin, dass die Kraft dieser Geschichte nicht verloren geht, sondern für die Gegenwart erzählt wird. Eine Gegenwart, die anders kaum sein könnte – im Bemühen um religiöse Sensitivität30, im Bemühen um einen feministischen Blick, der mit der Figur Maria Magdalena maßgeblich verbunden ist.31 Wenn es religiöser Bildung und ihrer Entwicklung in der Gegenwart darum geht, Lebenspraktiken und Wirklichkeitserfahrungen von Menschen heute zu deuten, wird sie »nicht zuletzt auf den Film als Ort verdichteter menschlicher Erfahrung und Gestaltungsort davon ergriffener Biografien verwiesen«32 und sollte auf diese nicht verzichten: »Denn der Film als mediales Kunstwerk ist in dichter Weise Erfahrungsträger und Interpretation von Erfahrung […]« und bildet als solches auch den zentralen Ort, an dem Filmschaffende »[…] Lebenspraxis 30 Vgl. Sarah Egger & Viera Pirker, Maria Magdalena. Ein christlich-jüdisches Filmgespräch, in: Dialog – DuSiach. Christlich-jüdische Informationen 113 (2018) 16–33. 31 Vgl. Taschl-Erber 2007; zum feministischen Blick des Films Valentin 2018. 32 Viera Pirker, Filmarbeit in der Pastoral, in: Die deutschen Bischöfe (Hrsg.), Visuelle Wahrheit und diskursive Deutung. Eine Feldbeschreibung katholischer Filmarbeit in Leitgedanken, Arbeitsbereichen und kulturellen Kommentaren (Arbeitshilfen der Deutschen Bischofskonferenz; Bd. 326), Bonn 2021, 15–29, hier: 18.

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und gesellschaftliche Praxis reflektiert und gedeutet zum Ausdruck bringen.«33 Filme können so »als Orte theologischer Spurensuche, als Orte der Fragen, Themenkonstellationen und Interpretationen verstanden werden: Sie bilden eigenständige theologiegenerative Orte.«34 Theologische Filmrezeption und ihre Reflexion »wird den Film über die ›Wirklichkeitszufuhr‹ hinaus immer auch als Medium der ›Wirklichkeitsverarbeitung‹ verstehen«35 und dieses Zusammenspielen reflektieren und begleiten. Die Theologie des Films »Maria Magdalena« entsteht aus einem säkularen Zugriff auf biblische Stoffe, in hoher Verantwortung vor dem religiösen, dem archäologischen, dem religionshistorischen Gehalt sowie im vollen Wissen um die filmische Tradition, in der der Film steht. Er reißt aus der Gegenwart heraus Fragen auf, die diskutiert werden. Kann eine Frau Trägerin der Botschaft sein, im Auftrag und Modell Jesu handeln? Wirkt sie im Begleiten wesentlicher Übergänge sakramental? In der modernen Erzählung der alten, nicht erzählten Geschichte wird Maria von Magdala als Diakonin im altkirchlichen Sinne dargestellt. Sie tauft die Frauen, sie trägt die Verkündigung zu den Frauen, sie sorgt dafür, dass Frauen am Evangelium teilhaben, sie wirkt Nächstenliebe in Gnade. Der Film zeigt sie als Trägerin, Versteherin und Interpretatorin der jesuanischen Botschaft, als eigenständig Handelnde mit spezifischen Fähigkeiten und Entscheidungen. Sie verleiht dem Anliegen von Lk 10 Gestalt. Diese immer an der Grenze von Christologie und Ethik36 rezipierte und diskutierte Perikope zeigt: »Indem wir anderen Nächste werden, erfüllen wir das Gesetz, also den Willen Gottes, und nehmen unsererseits das Anliegen und die Haltung Christi an.«37 Maria Magdalena übernimmt die Position der Nächsten, und sie handelt, so man die Szene »Samaria« in der Anspielung auf die Parabel vom Barmherzigen Samariter verstehen will, hier ganz in dieser Haltung. Die Macht des Handelns liegt in den einzelnen Menschen, Männern wie Frauen gemeinsam, und kann nicht auseinandergerissen werden: Dieses Deutungsangebot bildet das Herz des Films.

33 Beide Zitate aus Leo Karrer & Eleonore Näf, Gewaltige Opfer – Gewaltige Täter: Seelsorge in der Spannung zwischen Opfern und Täter. Praktisch-Theologische Reflexion zu Dead Man Walking, in: Leo Karrer, Eleonore Näf & Charles Martig (Hrsg.), GEWALTige OPFER. Filmgespräche mit René Girard und Lars von Trier (Film und Theologie; Bd. 1), Köln 2000, 139– 149, hier: 141. 34 Pirker 2021, 19. 35 Pirker 2021, 29 (mit Verweis auf Karrer 1997). 36 Vgl. Bovon 1996, 82. 37 Bovon 1996, 99.

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Menschwerdung durch Solidarität Der Beitrag diakonischer Bildung Norbert Mette

Der Titel dieses Beitrags ist der Überschrift eines Aufsatzes von Klaus Kießling entnommen.1 Solidarität ist für diesen der Weg zu und das Ziel einer Sozialkultur, die allen Menschen – nah und fern – ein menschenwürdiges Leben ermöglicht. Besonderes Augenmerk gilt dabei jenen, denen im Status quo ein solches Leben erschwert wird – den »Armen, Marginalisierten, Opfern von Unrecht und Gewalt«. Solidarität basiert auf »der Gemeinsamkeit der gleichen Würde aller Menschen, die Menschenantlitz tragen«2. In vielen Beiträgen konkretisiert Kießling, wie solidarischer Umgang miteinander in verschiedenen Handlungsfeldern (vor allem im diakonischen und schulischen Bereich) den Betroffenen zur Menschwerdung verhelfen kann. Dabei erweist sich angesichts der durch gesellschaftliche Entwicklungen brüchig gewordenen Sozialnetze das Schaffen eines Bewusstseins für die Notwendigkeit von Solidarität als höchst aktuell. Die Sorge, dass der Prozess der Individualisierung einem puren Individualismus Auftrieb gibt und es dadurch zu tiefgreifenden sozialen Spaltungen weltweit kommt, treibt unter vielen anderen die globale Entwicklung wach verfolgenden Menschen auch den derzeitigen Papst, Papst Franziskus, um. Ausführlich hat er dieser Problematik seine Enzyklika »Fratelli tutti« gewidmet, in der er dringlich an Geschwisterlichkeit und soziale Freundschaft appelliert.3 Neben diesen beiden Begriffen durchzieht der mit ihnen eng verwandte Begriff »Solidarität« die Ausführungen des Papstes wie ein roter Faden. Diese Enzyklika wird deswegen hier herangezogen, weil in ihr der Papst mit Klaus Kießling das Anliegen der Menschwerdung durch Solidarität teilt. Diese 1

Vgl. Klaus Kießling, Menschwerdung durch Solidarität. Theologisch-anthropologische Grundierungen einer zukunftsfähigen Schulpastoral, in: ders. & Heinz Schmidt (Hrsg.), Diakonisch Menschen bilden. Motivationen – Grundierungen – Impulse, Stuttgart 2014, 205–224. 2 Klaus Kießling, Lernziel: Solidarität – sozialpsychologische Qualität und theologische Dignität eines Prozesses, in: Albert Biesinger, Ottmar Fuchs & Klaus Kießling (Hrsg.), Solidarität als interkultureller Lernprozeß (Tübinger Perspektiven zur Pastoraltheologie; Bd. 22), Münster 2005, 71–95, hier: 73. 3 Vgl. Papst Franziskus, Enzyklika »Fratelli tutti« über die Geschwisterlichkeit und die soziale Freundschaft vom 03.10.2020 (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls; Nr. 227), Bonn 2020.

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Gemeinsamkeit wird besonders auffällig dadurch, dass beide als Beispiel für vorbildliches solidarisches Handeln sich die lukanische Parabel vom barmherzigen Samariter (Lk 10,25–37) vorgenommen und ausgelegt haben. Darauf soll im ersten Punkt dieses Beitrags eingegangen werden, um daran anschließend zu erörtern, welche Impulse sich daraus für Erziehung und Bildung ergeben.

1 Zwei Lesarten der Parabel vom barmherzigen Samariter 1.1 Die Lesart von Klaus Kießling Einerseits angeregt durch den Psychoanalytiker Hort Eberhard Richter, der bereits vor 50 Jahren angemahnt hatte, dass die Menschheit angesichts der sich ihr stellenden neuen Herausforderungen nur Zukunft haben könne, wenn sie sich für die Schaffung einer lebenswerten Erde solidarisch einsetze und entsprechend zu leben und zu handeln lerne, und andererseits herausgefordert durch die Diagnose von Hermann Steinkamp, dass Christ*innen angesichts der Pathologien der Moderne in Sachen Solidarität »als Lernbehinderte, als Legastheniker« zu gelten hätten, hat Klaus Kießling es in einem Beitrag unternommen, der Frage, was Solidarität aus sozialpsychologischer Sicht ausmacht und welche Bedeutung ihr in theologischer Perspektive zukommt, nachzugehen.4 Mithilfe einer solchen multidisziplinären Untersuchung erhoffte er sich, das von Richter so bezeichnete »Lernziel Solidarität« genauer bestimmen und operationalisieren zu können. Das Ganze mündet in dem Schlussabschnitt ein, in dem Kießling den barmherzigen Samariter aus der gleichnamigen lukanischen Parabel (vgl. Lk 10,25–37) als »Vorbild im Lernprozess Solidarität« präsentiert.5 Zur Auslegung der Perikope greift er auf die in den vorhergehenden Abschnitten erarbeiteten Kategorien und Theoreme zurück. Dass im Unterschied zum Samariter »die mit dem Kult verbundenen Männer – Priester und Levit« dem unter die Räuber Gefallenen nicht helfen und somit das Lernziel Solidarität nicht erreichen, führt Kießling darauf zurück, dass ihnen keine sozialen Kosten entstehen, »da niemand da ist, der ihre Unterlassung beobachten und missbilligen könnte«6. Den Gegensatz dazu verkörpere

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Vgl. Kießling 2005. In den ersten beiden Anmerkungen wird verwiesen auf (1) Horst H. Richter, Lernziel Solidarität, Reinbek bei Hamburg 1974, und (2) Hermann Steinkamp, Solidarität und Parteilichkeit. Für eine neue Praxis in Kirche und Gemeinde, Mainz 1994, 98. 5 Vgl. Kießling 2005, 89–95. 6 Kießling 2005, 91.

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ein Samariter, »einer, der keine manifesten religiösen Motive zeigt«7, der die Kosten der Hilfe auf sich nehme und dadurch »als ganz profanes Vorbild des Lernprozesses Solidarität«8 wirke. Er handele aus Mitleid, »aus anerkennenswerten humanen Beweggründen«9 sozialer Verantwortung. Der weitere Fortgang der Geschichte zeige, dass der Samariter sich nicht als Helfer in Abhängigkeit von dem Hilfsbedürftigen verstricken lasse. Er mache von institutioneller Unterstützung Gebrauch, indem er den Verletzten in einer Herberge abgebe, dem Wirt Geld für die Pflege hinterlege und seinem eigenen Weg folge. Kießling resümiert: »Vor psychologischem Hintergrund bezeugt die Geschichte vom barmherzigen Samariter eine den Rahmen menschlicher Grenzen respektierende und zugleich sehr eindrucksvolle Zuwendung – eine Liebe, eine compassio, die dem Fremden aufhilft, ohne den Liebenden zu überfordern; eine Liebe, in der Fremd- und Selbsthilfe zusammenspielen. Purer Altruismus ist nicht gefragt: Der Samariter ist nicht selbstlos, sondern sich treu – und gewinnt seine Treue zu sich selbst neu.«10 Weiterhin fragt Kießling, ob dem Samariter reziproker Altruismus als Motiv unterstellt werden könne. Weil beide, er und der Verletzte, ihrer Wege gehen und sich kaum mehr begegnen würden, sei das ausgeschlossen. Auch der von der Soziologie her möglicherweise aufkommende Verdacht, bei der Hilfe handele es sich um eine altruistisch verschleierte Machtausübung, treffe bei dieser Geschichte nicht zu. Wenn Jesus zum Schluss den Gesetzeslehrer frage, wer dem Überfallenen zum Nächsten geworden sei, spiele er gleichsam mit den Rollen der beiden Hauptpersonen: Der Helfende erweise sich als der Nächste für den Hilfsbedürftigen, so wie für diesen der Helfer der Nächste sei. »Beide«, so kommentiert Kießling, »Helfer und Beschenkter, sind also einander Nächste und befinden sich als solche auf gleicher Ebene. Sie gehen miteinander eine Solidargemeinschaft ein – in symmetrischer Beziehung, in der der eine dem anderen nicht Ersatzmann ist, welcher den anderen von seinem Platz verdrängt, sondern zum Stellvertreter wird, der den Platz des anderen freihält, bis dieser ihn wieder einnehmen kann.«11 7 Kießling 2005, 91. 8 Kießling 2005, 92. 9 Ebd. 10 Ebd. 11 Kießling 2005, 93.

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Als weiteren Aspekt führt Kießling einen Verweis auf die sozialpsychologische Gemeinsamkeit des Samariters und des Überfallenen an: Beide seien marginalisiert, der Überfallene als der, um den sich die sozial und religiös Etablierten nicht (mehr) kümmern, und der Samariter als Angehöriger eines Volkes, das vonseiten der Juden verachtet wird. Damit füge sich diese Parabel exakt in die allgemeine Botschaft Jesu von Nazareth ein und unterstreiche das, worin dessen Nachfolge bestehe: »Das Reich Gottes«, so umreißt dies Kießling, »das Jesus verkündet, gilt den Armen, denen, die in ihrer unantastbaren Würde angetastet sind, die massiver Selektionsdruck aus dem Leben hinauszukatapultieren droht. Christliches Engagement konzentriert sich darum auf die antiselektionistische Suche nach dem Verlorenen, nach den an den Rand des Lebens Gedrängten und solidarisiert sich mit ihnen. Christliche Solidarität ist dabei weniger sozialer Kitt zum Zusammenhalt der eigenen Gemeinschaft, sondern richtet sich vielmehr an den Armen und ihrem Solidar­bedarf aus, ob sie zur Kirche gehören oder nicht. Christliche Solidarität lässt hoffen: auf ein Leben jenseits des Selektionsprinzips – und auf das ewige Leben, nach dem der Gesetzeslehrer in der Geschichte vom barmherzigen Samariter fragt.«12 Das Letztere interpretiert Kießling so, dass die Erwartung von Belohnung (oder Bestrafung), die beim Konditionieren von Verhaltensweisen eine wichtige Rolle spiele, auch hier aufgegriffen werde. Die Aussicht auf das ewige Leben fungiere »nicht als plumper Vertröster oder Verstärker, der gegen gute Führung im Lernprozess Solidarität unmittelbar eingetauscht werden könnte«13, sondern deute »vielmehr einen heiligen Tausch an, der Lohn im Himmel, ja Freude bei Gott«14 verheiße. Diese Deutung wird meines Erachtens durch die Perikope nicht gedeckt. Sie endet mit den Worten Jesu: »Dann geh hin und handle du genauso!« (Lk 10,37). Er antwortet damit dem Gesetzeslehrer wohl, dass genau das, wonach er sucht – das ewige Leben –, sich im solidarischen Handeln, so wie es in dieser Geschichte erzählt wird, ereignet.

12 Kießling 2005, 94. 13 Ebd. 14 Ebd.

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1.2 Die Lesart von Papst Franziskus Es ist das zweite Kapitel seiner Enzyklika »Fratelli tutti«, welches – wie erwähnt – Papst Franziskus einer Auslegung der Perikope vom barmherzigen Samariter gewidmet hat. Das vorausgehende Kapitel hat er »Die Schatten einer abgeschotteten Welt« überschrieben. Darin führt er eine Reihe von »Tendenzen der heutigen Welt« an, »welche die Entwicklung einer Geschwisterlichkeit aller Menschen behindern«15. Als Indizien für einen Rückschritt hinter Einsichten, die aus Kriegen und Katastrophen gelernt worden sind, führt er an:16 (teilweise aggressiver) Nationalismus; Globalismus einer am Gemeinwohl desinteressierten und auf schnelle Erträge bedachten Wirtschaft; Verlust des Geschichtsbewusstseins; stattdessen: grenzenloser Konsumismus und inhaltsloser Individualismus; neue Formen einer kulturellen Kolonisation; planlose und polarisierende Politik; Aussonderung von als überflüssig abgestempelten Menschen (Isolierung der älteren Menschen; junge Menschen ohne Zukunftschancen; Reduktion der Kosten der Arbeit); Rassismus; Spaltung zwischen armen und reichen Menschen und Völkern; Verletzung der Menschenrechte; Ungerechtigkeit; Ungleichheit von Mann und Frau; neue Sklaverei und Menschenhandel; keine gerechte Verteilung der natürlichen Ressourcen; Kriege, Attentate, Verfolgungen; Errichtung von Mauern zum eigenen Schutz; Schwächung der Werte und des Verantwortungsbewusstseins; Zwänge zur Migration; Schließung der Grenzen gegenüber Flüchtlingen; Verbreitung von Hetze und Hass in den sozialen Kommunikationsmitteln; skrupellose Finanzspekulation und Ausbeutung. Zu alldem ist nun noch die Coronapandemie hinzugekommen, die auf besonders drastische Weise die hinter den aufgezählten Indizien liegenden Ursachen der aktuellen verhängnisvollen Entwicklung unseres Globus aufdecke wie hauptsächlich den Vorrang der Verfolgung der Eigeninteressen an politischer und ökonomischer Macht in Form eines individuellen und kollektiven Egoismus; die verbreitete Missachtung der Menschenwürde und der Menschenrechte; die globale Spaltung der Welt zwischen reicher und armer Bevölkerung, wobei letzterer immer stärker die Lebensgrundlagen entzogen werden. Zusammenfassend hält der Papst fest:

15 Enzyklika »Fratelli tutti«, Art. 9. 16 Vgl. Enzyklika »Fratelli tutti«, Art. 11–53.

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»Die weltweite Gemeinschaft weist schwerwiegende strukturelle Mängel auf, die nicht durch Zusammenflicken und bloße schnelle Gelegenheitslösungen behoben werden. Es gibt Dinge, die durch neue Grundausrichtungen und bedeutende Verwandlungen verändert werden müssen.«17 Dafür, dass es sich bei diesen Dingen nicht bloß um ein reines Wunschdenken handelt, zeigt, dass es weltweit viele Initiativen und Projekte gibt, die sich genau in diesem Sinne engagieren. Der so sich artikulierenden Hoffnung möchte der Papst in dieser Enzyklika eine Stimme geben. Das läutet er mit dem zweiten Kapitel – »Ein Fremder auf dem Weg« überschrieben – ein. In seiner Auslegung des darin im Mittelpunkt stehenden Gleichnisses vom barmherzigen Samariter stellt er die Perikope zunächst in den Kontext des die ganze Bibel durchziehenden Gebots, den anderen unter Einschluss des Fremden zu lieben und sich um ihn zu kümmern.18 Im Weiteren charakterisiert er die in der Geschichte vorkommenden Personen im Einzelnen,19 und zwar so, dass sie jeweils eine für sie charakteristische Haltung verkörpern. So hält der Überfall eines nicht näher beschriebenen Reisenden durch die Räuber – als Vertretern der »dunklen Schatten der Verwahrlosung, der Gewaltanwendung aufgrund von schäbigen Machtinteressen, von Gier und Konflikten«20 – die Adressat*innen dazu an, sich zu fragen, wie man sich selbst in einer solchen Situation verhalten würde. Die vorbeigehenden Priester und Leviten charakterisiert der Papst als abgesondert von der Wirklichkeit, gleichgültig und die Nicht-Ihresgleichen geringschätzend. Hinzukomme, dass sie religiöse Menschen waren, von Amts wegen mit dem Abhalten von Gottesdiensten beauftragt. Der Papst sieht darin ein Beispiel dafür, dass »die Tatsache, an Gott zu glauben und ihn anzubeten, keine Garantie dafür« sei, dass man auch lebe, wie es Gott gefalle.21 Im Übrigen müsse man sehen, dass zwischen denen (den »Räubern«), die die Gesellschaft hintergehen, um sie auszuplündern, und denen, die sich für makellos halten und zugleich die Ressourcen der Gesellschaft für sich beanspruchen und nutzen, eine geheime Liaison bestehe. Das desillusioniere und lasse diejenigen hoffnungslos werden, die nicht die Ressourcen beherrschen und die Meinungsbildung bestimmen würden. Der Blick auf den verletzten Menschen schließlich lasse bewusst werden, wie auch heute »unter dem Deckmantel der politischen Korrektheit oder ideologischer

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Enzyklika »Fratelli tutti«, Art. 179. Vgl. Enzyklika »Fratelli tutti«, Art. 57–62. Vgl. Enzyklika »Fratelli tutti«, Art. 72–76. Enzyklika »Fratelli tutti«, Art. 72. Vgl. Enzyklika »Fratelli tutti«, Art. 74.

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Modeerscheinungen«22 auf die Leidenden geblickt werde, ohne sie zu berühren. Der Samariter handele alternativ: Er bleibe stehen, schenke dem Überfallenen seine Nähe, pflege ihn und kümmere sich um ihn. Obwohl er sicher den Tag verplant habe, habe er den Verletzten »für würdig gefunden, ihm seine Zeit zu schenken«23. Der Papst kommentiert zusammenfassend und weiterführend: »Es ist interessant, wie die Unterschiede zwischen den Gestalten der Erzählung vollständig verwandelt werden angesichts des qualvollen Ausdrucks des gefallenen und gedemütigten Menschen. Es gibt keine Unterscheidung mehr zwischen dem Bewohner von Judäa und dem von Samaria, es gibt weder Priester noch Händler; es gibt einfach zwei Arten von Menschen: jene, die sich des Leidenden annehmen, und jene, die um ihn einen weiten Bogen herum machen; jene, die sich herunterbücken, wenn sie den gefallenen Menschen bemerken, und jene, die den Blick abwenden und den Schritt beschleunigen. In der Tat fallen unsere vielfältigen Masken, unsere Etikette, unsere Verkleidungen: Es ist die Stunde der Wahrheit. Bücken wir uns, um die Wunden der anderen zu berühren und zu heilen? Bücken wir uns, um uns gegenseitig auf den Schultern zu tragen? Dies ist die aktuelle Herausforderung, vor der wir uns nicht fürchten dürfen. In den Augenblicken der Krise stehen wir sozusagen vor einer bedrängenden Alternative: Wer in diesem Moment kein Räuber ist beziehungsweise distanziert vorbeigeht, ist entweder verletzt oder trägt auf seinen Schultern einen Verletzten.«24 Es ist deutlich, wie sehr es dem Papst daran liegt, das Gleichnis vom barmherzi­ gen Samariter so auszulegen, dass es höchst aktuell wirkt. Diese Geschichte, so betont er, wiederholt sich. Sie hebe auf die grundlegende Option ab, die gerade auch heute ergriffen werden müsse, »um diese Welt, an der wir leiden, zu erneuern«25. Angesichts so großen Leids und so vieler Wunden bestehe der einzige Ausweg darin, so zu werden wie der barmherzige Samariter. Und er setzt auf die Initiativen, die sich für eine Erneuerung des Zusammenlebens einsetzen, indem sie sich der Zerbrechlichkeit der anderen annehmen. Es sind Frauen und Männer, die nicht zulassen, »dass eine von der Exklusion geprägte Gesellschaft errichtet wird«, sondern die dem gefallenen Menschen nahekommen, ihn aufrichten und ihm helfen zu laufen, »damit das Gute allen zukommt«26. 22 Enzyklika »Fratelli tutti«, Art. 76. 23 Enzyklika »Fratelli tutti«, Art. 63. 24 Enzyklika »Fratelli tutti«, Art. 70. 25 Enzyklika »Fratelli tutti«, Art. 67. 26 Ebd.

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1.3 Ein kurzer Vergleich So sehr die beiden Lesarten die Überzeugung verbindet, dass der barmherzige Samariter als Protagonist für eine empathische Einstellung und solidarisches Handeln zu gelten hat, so sind die Akzente jeweils unterschiedlich gesetzt. Kießling wendet sich hauptsächlich an Christen und Christinnen mit dem Motiv, ihnen darzulegen, dass und wie Solidarität ein für ihren Glauben grundlegendes Element darstellt, und führt dafür theologische Argumente an, wie die Menschwerdung Gottes, die Reich-Gottes-Botschaft und die Einheit von Gottes- und Nächstenliebe. Zugleich greift er auf (sozial)psychologische Einsichten zurück, die eine realistische Vorstellung davon an die Hand geben, wie sich ein solidarisches Handeln entsprechend der condition humaine gestaltet. Das macht er an der Figur des Samariters fest. Er steht im Mittelpunkt von Kießlings Lesart. Der Papst hat sein Schreiben »an alle Menschen guten Willens, jenseits ihrer religiösen Überzeugungen«27 gerichtet. Wenn er darin die zweitausend Jahre alte Erzählung vom barmherzigen Samariter aufnimmt, geht er davon aus, dass sich auch Nichtchrist*innen von ihr ansprechen lassen. Auffällig an seiner Lesart dieses Gleichnisses ist, wie er es durchgängig mit einer aktuellen Note versieht, indem er immer wieder Einstellungen und Verhaltensweisen, wie sie von damals berichtet werden, auf die Gegenwart überträgt. In diesem Sinne befasst er sich mit allen in der Geschichte vorkommenden Personen. Besonderes Augenmerk richtet er neben dem Samariter auf die Räuber und provoziert dabei die Leser*innen indirekt mit der Frage, zu welcher Seite sie gehören beziehungsweise gehören wollen, zu der des Samariters oder zu der der Räuber. Das Verhalten der beiden Tempeldiener kommentiert er verallgemeinernd: »Paradoxerweise können diejenigen, die sich für ungläubig halten, den Willen Gottes manchmal besser erfüllen als die Glaubenden.«28 Ausdrücklich geht der Papst noch auf den kulturellen und religiösen Hintergrund des Samariters ein29 und verweist auf die transzendente Dimension, die sich für Gläubige aus der Botschaft Jesu erschließt.30

27 28 29 30

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Enzyklika »Fratelli tutti«, Art. 56. Enzyklika »Fratelli tutti«, Art. 74. Vgl. Enzyklika »Fratelli tutti«, Art. 80–83. Vgl. Enzyklika »Fratelli tutti«, Art. 84 f.

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2 Impulse für eine diakonische Bildung Wie eingangs erwähnt, ist für Klaus Kießling der Samariter gewissermaßen die Verkörperung des »Lernziels Solidarität«. An ihm lassen sich, wie er es herausgearbeitet hat, vorbildlich die Eigenschaften ablesen, die eine solidarisch handelnde Person qualifizieren. Der Appell Jesu, sich aufzumachen und entsprechend zu handeln, richtet sich ja nicht nur an den ihn fragenden Gesetzeslehrer. Klaus Kießling gehört zu dem Kreis der Religionspädagog*innen, denen es ein Anliegen ist, diesen Impuls unter der Bezeichnung »diakonische Bildung« stärker auch in ihr Fach einzubringen und sich dafür einzusetzen, dass es als dessen konstitutiver Bestandteil begriffen und in die Praxis umgesetzt wird.31 Das Stichwort »konstitutiv« besagt, dass die diakonische Bildung nicht bloß für den Bereich der kirchlichen Diakonie beziehungsweise Caritas von Belang ist, sondern für die religiöse Erziehung und Bildung insgesamt. Allerdings kann durchaus aus den mit Bildungsprozessen im diakonischen Bereich gemachten Erfahrungen auch für andere Bereiche wie etwa für die Katechese oder die Schule gelernt werden. Wie sehr zum Beispiel Heranwachsende aus ihrer Begegnung mit Menschen, die gewöhnlich nicht in ihrem Blickfeld sind, für ihre eigene Persönlichkeitsentwicklung profitieren, indem sie die Welt nachher mit anderen Augen als zuvor sehen, bezeugen die Erfahrungsberichte von Teilnehmer*innen an entsprechenden schulischen Praktika. Damit ist ein wichtiges Element diakonischer Bildung angesprochen: das Lernen in der Praxis. Von daher betont Klaus Kießling, dass diakonische Bildung nicht nur im Unterricht erfolgt, sondern einer ihn umgebenden Kultur bedarf. So gehen für ihn beispielsweise Religionsunterricht und Schulpastoral Hand in Hand.32 In der Begegnung mit Menschen, insbesondere mit den »Armen und Bedrängten aller Art«33, so hebt er die besondere Dignität diakonischer Bildung hervor, eröffnet sich ein transzendenter Raum, ein Verweis auf ein Geheimnis, das das Leben – einzeln und gemeinsam – trägt.34 Es ist dieses Zusammenspiel von Diakonie und Mystagogie, mit der Kießling der diakonischen Bildung eine 31 Eine informative Einführung in das Anliegen diakonischer Bildung gibt: Martina BlasbergKuhnke, Diakonie, in: Burkard Porzelt & Alexander Schimmel (Hrsg.), Strukturbegriffe der Religionspädagogik, Bad Heilbronn 2015, 169–175. 32 Vgl. Klaus Kießlings Beiträge in: Kießling & Schmidt (Hrsg.) 2014. 33 Zweites Vatikanisches Konzil, Pastoralkonstitution »Gaudium et spes« über die Kirche in der Welt von heute vom 07.12.1965, Art. 1. 34 Vgl. Kießling 2014 sowie: ders., Mystagogisch und solidarisch in kulturell pluraler Welt, in: Wege zum Menschen 64 (2012) 454–468.

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besondere Tiefenschärfe gibt. Im Sinne der Einheit von Gottes- und Nächstenliebe verweist die diakonische Mystagogie auf das beziehungsreiche Geheimnis der Liebe Gottes, wie zugleich die mystagogische Diakonie »als Anwältin und Sprachrohr für Verstummte und Ungehörte« einsteht, »für sie Partei ergreifend und mit ihnen solidarisch«35. Für Papst Franziskus hält die Erzählung vom barmherzigen Samariter der Gegenwart einen Spiegel vor: Raubzüge gegen Menschen (und Natur) sowie die Gleichgültigkeit gegenüber den Opfern haben weltweite Ausmaße angenommen. Gegen solche globalen selbstdestruktiven Entwicklungen anzugehen, erfordert nach ihm einen radikalen ethischen und spirituellen Bewusstseinssprung. Dazu beizutragen, müssen sich eine zeitgemäße Erziehung und Bildung angelegen sein lassen. Auch wenn der Papst das nicht ausdrücklich geschrieben hat, kann seine Enzyklika »Fratelli tutti« als ein umfassendes Bildungsprogramm gelesen werden.36 In vielen anderen Beiträgen hat er sich genau in diesem Sinn geäußert.37 Zur praktischen Umsetzung dessen hat der Papst, wie im September 2019 angekündigt38, im Oktober 2020 die Erneuerung des Globalen Bildungspaktes (Pacto Educativo Global) offiziell gestartet. Worum es ihm in diesem Pakt geht, hat er in seiner Botschaft ausgeführt, aus der ein längerer Auszug wörtlich wiedergegeben sei: »Erziehen ist immer ein Akt der Hoffnung; er ruft zur Mitbeteiligung auf und zur Umwandlung der sterilen, lähmenden Logik der Gleichgültigkeit in ein anderes Denken, das unsere gegenseitige Zugehörigkeit berücksichtigt. Wenn sich heute die Bildungssysteme nach einer Logik der Ersetzbarkeit und Wiederholung richten und es nicht vermögen, neue Horizonte zu entwickeln und aufzuzeigen, in denen Gastfreundschaft, Generationensolidarität und der Wert der Transzendenz eine neue Kultur begründen, verpassen wir dann nicht eine historische Gelegenheit? […] 35 Kießling 2012, 460. 36 Das Stichwort »Erziehung« findet sich in der Enzyklika »Fratelli tutti« unter den Nummern 103, 109, 114, 130, 187 sowie 276, und das Stichwort »Bildung« unter den Nummern 98, 114, 136 sowie 266. 37 Eine systematische Zusammenstellung liegt vor von: Luiz Fernando Klein S. J., Papa Francisco: La Nueva Educación y el Pacto Educativo Global, Edición de la Conferencia de Provinciales en América Latina y El Caribe –CPAL, [Santiago de Chile] 2021, online verfügbar unter: https:// drive.google.com/file/d/1CNY7Gcx6dupGtYcfBXn-1NSKXVLoTlrG/view (letzter Zugriff am 20.06.2021). 38 Vgl. Papst Franziskus, Botschaft zum Start des Bildungspakts vom 12.09.2019, online verfügbar unter: https://www.vatican.va/content/francesco/de/messages/pont-messages/2019/ documents/papa-francesco_20190912_messaggio-patto-educativo.html (letzter Zugriff am 20.06.2021).

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Wir sind der Meinung, dass Bildung einer der wirksamsten Wege ist, um die Welt und die Geschichte menschlicher zu machen. Bildung ist vor allem eine Frage der Liebe und der Verantwortung, die von Generation zu Generation weitergegeben wird. Bildung bietet sich daher als das natürliche Gegenmittel zur individualistischen Kultur an, die bisweilen in einen wahren Kult des Ich und in die Vorherrschaft der Gleichgültigkeit ausartet. Unsere Zukunft darf nicht von der Spaltung, von der Verarmung des Denkens und der Vorstellungskraft, des Zuhörens, des Dialogs und des gegenseitigen Verständnisses gekennzeichnet sein. Das darf nicht unsere Zukunft sein. Heute bedarf es eines Neubeginns für ein Bildungsengagement, das alle Glieder der Gesellschaft miteinbezieht. Hören wir auf den Appell der jungen Generationen, der die Notwendigkeit und zugleich die Gunst der Stunde für einen erneuerten Bildungsweg klar unterstreicht, der nicht durch bewusstes Ausblenden schwere soziale Ungerechtigkeiten, Rechtsverletzungen, tiefe Armut und das Aussondern von Menschen begünstigt. Es braucht einen ganzheitlichen Weg, um jenen Situationen von Einsamkeit und Zukunftsängsten zu begegnen, die bei jungen Menschen Depressionen, Süchte, Aggressionen, verbalen Hass und Mobbing hervorrufen. Es ist ein gemeinsamer Weg, auf dem uns die Geißel der Gewalt und des Kindesmissbrauchs, das Phänomen der Kinderbräute und Kindersoldaten, das Drama der verkauften und versklavten Minderjährigen nicht gleichgültig lassen. Hinzu kommt der Schmerz über das ›Leiden‹ unseres Planeten aufgrund sinnloser und gefühlloser Ausbeutung, die eine schwere Umwelt- und Klimakrise hervorgerufen hat.«39 Den Begriff »diakonische Bildung« gebraucht der Papst nicht; aber der Sache nach prägt er sein Bildungsverständnis. Der weithin vorherrschend gewordenen Art, Bildung zu verstehen und zu praktizieren, hält er vor, dass sie sich auf eine Anpassung auf den Status quo beschränkt; statt neue Horizonte zu eröffnen, verführe sie zu einer narzisstischen Haltung, die der Mit- und Umwelt gegenüber blind sei. Mit seinem Bildungspakt möchte der Papst stattdessen erreichen, dass 39 Vgl. Papst Franziskus, Videobotschaft aus Anlass der Begegnung »Global Compact Education. Together To Look Beyond« vom 15.10.2020, online verfügbar unter: https://www.vatican.va/ content/francesco/de/messages/pont-messages/2020/documents/papa-francesco_20201015_ videomessaggio-global-compact.html (letzter Zugriff am 11.02.2022). Zur Ausgestaltung dieses neuen Erziehungspakts sind im Internet zahlreiche Informationen zugänglich, unter anderem auf der Homepage von »Global Compact on Education«, online verfügbar unter https://www. educationglobalcompact.org/ (letzter Zugriff 14.02.2022).

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die Bildung wieder das einlöst, was ihr klassisches Verständnis ausmacht und zudem angesichts der vorfindlichen sozialen und ökologischen Krisen in der Welt dringend ansteht, nämlich die Befähigung der Menschen zur gemeinsamen verantwortlichen Gestaltung einer Zukunft, die ein gedeihliches Leben für die gesamte Schöpfung bereithält.

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Zu Gast in fremden Welten »Hingehen« als pastoralpsychologische Haltung nicht nur in Krisenzeiten Theresia Strunk

Weihnachten 2020, mitten in der Coronakrise: Im Nachdenken über die Bedeutung der Festtage kommt mir ein mich im ersten Moment irritierendes Bild in den Sinn: Gott im Maxi-Cosi. Zumindest heute wäre es doch vielleicht so. Einer, der als Kind geboren wird und der damit eingefleischte Liebe in Höchstform unter Beweis stellt, gibt die Orte seiner Anwesenheit nun einmal nicht vor, sondern lässt sich die Welt zunächst von anderen zeigen, sich herumtragen und neugierig mitnehmen in den Kosmos seiner Angehörigen. Gottes »Eingehen« in Menschengestalt ermöglicht und impliziert zugleich sein »Hin-« bzw. »Mitgehen«. Dass eine »schrittweise« greifbar werdende »ZuWendung« von Menschen heilsame Wirkung entfalten kann, aber nicht muss, ist auch in psychotherapeutischen Zusammenhängen vielfach reflektiert worden. Dies erweist sich gerade in Zeiten einer zunehmenden gesellschaftlichen und kirchlichen Sensibilisierung für Grenzverletzungen sowie Erfahrungen geistlicher, sexueller oder psychischer Gewalt als ungebrochen aktuell. So lässt »Hingehen« nicht zuletzt an Annäherungsversuche und an die Frage denken, wie weit diese zwischen Menschen reichen können bzw. dürfen. In Verbindung mit »Aufgenommen-Werden« weckt das »Hingehen« Erinnerungen an Gastfreundschaft – an Gäste mit einem Interesse, an fremdem Leben Anteil zu nehmen, und an Gastgeberinnen oder Gastgeber, die ihrerseits daran Anteil geben. Derartige Bilder hat Klaus Kießling in pastoralpsychologischen Zusammenhängen vielfach reflektiert. So möchte ich im Folgenden theologische und psychologische, übernommene und selbst erfahrene Erkenntnisse zur Bedeutung eines »hingehenden«, empathischen Zugewandt-Seins aufgreifen und die Relevanz einer von einfühlendem Verstehen getragenen Haltung in verschiedenen Kontexten aufscheinen lassen, denen sich teilweise auch Klaus Kießling gewidmet hat. Ich unternehme also einen Streifzug durch benachbarte, sich partiell überschneidende Felder – im Bewusstsein, sie im Rahmen dieses Artikels nur oberflächlich »beackern« zu können. Konkret lasse ich mich von der Inkarnation, die ich hier mit Heinrich Pompey als »ins volle Leben einstei­ Zu Gast in fremden Welten

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gen«1 verstehen will, zunächst biblisch (1.) und dann psychologisch (2.) zu der bereits benannten Facette des »Hingehens« leiten. Von dort aus wage ich einen Sprung zur Empathie (3.), die ich unter pastoralpsychologischer Perspektive nochmals mit der Inkarnation in Beziehung setze (4.). Sie führt mich zu der Frage, inwiefern inneres Hingehen gerade in Krisen Kongruenzerfahrungen zu ermöglichen vermag (5.), ja inwiefern es speziell in Zeiten pandemiebedingten Social Distancings eine heilsame gesellschaftliche Wirkung entfalten kann, die Solidarität erst ermöglicht (6.). Der Beitrag schließt mit einem kurzen Fazit (7.).

1 »Ins Leben einsteigen« – ein biblischer Zugang »Als Jesus zur Zeit des Königs Herodes in Betlehem in Judäa geboren worden war, siehe, da kamen Sterndeuter aus dem Osten nach Jerusalem und fragten: Wo ist der neugeborene König der Juden? Wir haben seinen Stern aufgehen sehen und sind gekommen, um ihm zu huldigen. Als König Herodes das hörte, erschrak er und mit ihm ganz Jerusalem.« (Mt 2,1 ff.) Schon bei manchen Zeitgenossen des Gottessohnes weckt dessen MitmenschWerdung Misstrauen. Andernorts öffnet sie Türen: die Tür des Stalls und seines Elternhauses, aber auch die eines Zöllners (Lk 19), die des todkranken Lazarus und seiner Schwestern (Joh 11) oder die Herzenstüren der Jünger auf dem Weg nach Emmaus (Lk 24). Und Jesus nimmt von ihr keinen Abstand: Als ein kurzfristiger Rückzug Unverständnis bei der ihm folgenden Menge auslöst, scheint er sowohl seine eigene Psychohygiene als auch die der Jünger hintanzustellen: »Als er [aus dem Boot; T. S.] ausstieg, sah er die vielen Menschen und hatte Mitleid mit ihnen; denn sie waren wie Schafe, die keinen Hirten haben. Und er lehrte sie lange« (Mk 6,34). »Hingehen«, ja – darüber weit hinausgehend – »mitfühlen«, existenziell »mitleiden« mit den Verletzten, Hilf-, Wehr- und Orientierungslosen – diese Motive durchziehen das Wirken des Menschensohns von der Krippe bis zum Kreuz. In zwischenmenschlichen Begegnungen erweisen sie auch heute ihre Relevanz.

1 Heinrich Pompey, Theologisch-psychologische Grundbedingungen der seelsorglichen Beratung, in: Wilhelm Horkel (Hrsg.), Christliches ABC heute und morgen. Handbuch für Lebensfragen und kirchliche Erwachsenenbildung, Loseblatt-Ausgabe, Bad Homburg 1986, 179–209, hier: 199.

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2 »Ins Leben einsteigen« – ein psychologischer Zugang Wie sehr lasse ich mich ein? Wie nah kann, will und darf ich einer Person und ihrem Leben kommen? Solche Fragen stellen sich in meiner Arbeit als Psychologin häufig. Das Interesse daran, mir die Welt des oder der anderen zeigen zu lassen und mir von den Ressourcen bzw. Schwierigkeiten, von denen er oder sie spricht, ein eigenes Bild zu machen, hat mich inzwischen zu dem einen oder anderen Hausbesuch geführt. Eine jugendliche Patientin greift einen solchen Termin in einem späteren Kontakt – nun wieder in meinem Büro in der psychiatrischen Institutsambulanz – noch einmal auf: »Ich war dann gestern bei meiner Oma – ach, Sie wissen ja, wo …« So öffnet sich für einen Moment ein naturalistischerer Zugang zum Gegenstand des Gesprächs, ja ein größerer Raum geteilten Verständnisses, auf den beide – Patientin und Behandlerin – gleichermaßen zugreifen können. Eine andere Jugendliche reagiert auf das Angebot, ein nächstes Gespräch in ihrem Zuhause zu führen, zunächst irritiert, dann augenscheinlich auch erfreut. Während des kurz darauf erfolgenden Besuchs wirkt sie lange unsicher und ratlos: Was machen wir denn jetzt? Was von meiner Welt lege ich offen? Sich etwas zeigen zu lassen, ohne den Eindruck zu vermitteln, längst Bescheid zu wissen und so die besten Wege, ja alle Klippen der sich eröffnenden Welt bereits zu kennen, stellt bisweilen eine Herausforderung eigener Art dar. In dem Fall der zweitgenannten Patientin wurde dies deutlich, als sie im Behandlungsverlauf mit dem Unterton des »Sie haben gut reden« äußerte: »Sie haben doch für alles einen Rat!« Das Anklopfen an der Tür eines anderen und – wenn die Erlaubnis dazu denn gegeben wird – das folgende Eintreten, ja der achtsame Umgang mit dem, was sich in dieser neuen Welt zeigt, brauchen sicher wesentlich anderes. So betont Klaus Kießling: »Der therapeutische Begleiter ist im ›Haus‹ seines Gegenübers Gast, der eingelassen wird, wenn er den Hauseingang findet und respektvoll und wertschätzend anklopft. Er verhält sich anders als der Hausbesitzer. Er betrifft nur Räume, in die ihm Einlass gewährt wird. […] Er fühlt sich während seines Aufenthaltes vielleicht wie zu Hause […]; und doch sieht er das Haus als Gast mit anderen Augen als der Gastgeber, was keinem von beiden zum Mangel gereicht, vielmehr für letzteren zum Geschenk des Gastes werden kann.«2 2 Klaus Kießling, Spiritualität als solidarische Präsenz ins Gespräch bringen. Zur Förderung der Kompetenzen katholischer Religionslehrkräfte an berufsbildenden Schulen, in: Matthias Gronover (Hrsg.), Spirituelle Selbstkompetenz: Eine empirische Untersuchung zur Spiritualität von Berufsschulreligionslehrkräften (Glaube – Wertebildung – Interreligiosität. Berufsorientierte Religionspädagogik; Bd. 9), Münster 2017, 124–137, hier: 130.

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Die Demut und Zurückhaltung im Blick auf fremdes Leben, durch die eine Therapeutin zum willkommenen Gast statt zum grenzüberschreitenden Eindringling im »Haus« ihres Patienten werden kann, bringt auch die Psychoanalytikerin Luise Reddemann ins Wort, wenn sie ihr therapeutisches Vorgehen folgendermaßen beschreibt: »Ich habe mir angewöhnt, möglichst jede Intervention in Form einer Frage zu stellen. ›Kann es sein, dass … Mir kommt gerade der Gedanke, dass … Was halten Sie davon …‹ u. Ä. Interventionen lassen dem Patienten seine Verantwortung eher, als wenn man sagt: ›Sie machen das jetzt, weil … oder Sie haben Angst vor …‹ usw. […] Das ist auch ein Nachteil für die Beziehung, die immer mehr ins Ungleichgewicht gerät, und es entsteht der Eindruck, als gäbe es einen hoch kompetenten Therapeuten und einen erheblich weniger kompetenten Patienten. […] Ein Patient, der sich durch eine Deutung wie ertappt oder entmutigt fühlt […] oder der empfindet, der Therapeut wisse mehr über ihn als er über sich, wird dies auch mit Stresssymptomen beantworten. Man müsse viel vergessen, was man gelernt habe, sagte der niederländische Traumatherapeut Lansen […]. Wichtig sei, natürlich und mitfühlend zu sein.«3 Damit ist das Stichwort genannt, mit dem auch Carl R. Rogers, der Begründer der personzentrierten Psychotherapie, eine heilsame Haltung des Hingehens beschreibt: Empathie.

3 Empathie nach Carl R. Rogers … Empathisches Verstehen stellt im personzentrierten Ansatz neben bedingungsfreier Akzeptanz (Wertschätzung) und Kongruenz (bzw. Echtheit) eine zentrale Grundhaltung dar. Es beinhaltet, »daß der Therapeut ein genaues, empathisches Verständnis für die innere Welt des Klienten hat. Die private Welt des Klienten verspüren, als wäre sie die eigene, ohne jedoch je diese ›Als-Ob‹-Qualität außer acht zu lassen […] Wenn die Welt des Klienten dem Therapeuten so klar ist, und er sich darin frei bewegen kann, dann kann er sowohl sein Verständnis für die Dinge mit3 Luise Reddemann, Imagination als heilsame Kraft. Zur Behandlung von Traumafolgen mit ressourcenorientierten Verfahren, 14., durchgesehene Auflage, Stuttgart 2008, 21.25.

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teilen, die der Klient genau kennt, wie auch die Bedeutungen von Klientenerfahrung nennen, die diesem kaum bewußt sind.«4 Auch hierbei geht es nicht um »Besserwisserei«. Empathie im Sinne Rogers’ dürfte für einen Klienten vielmehr dann spürbar sein, wenn er die Erfahrung machen kann, dass die Therapeutin keine Zweifel an dem hegt, was er meint, und dass sie fähig ist, seine Gefühle zu teilen.5

4 … und in pastoralpsychologischen Hinsichten So wie der barmherzige Gott in seinem Sohn menschliche »Lebens- und Leidens­not« tatkräftig, ja existenziell teilt (Compassio-Aspekt), ohne in ein »mitleidiges Bedauern unseres Schicksals« zu verfallen, gehe es – so betont Pompey – auch psychologisch nicht um ein »mitleidiges Bejammern«, sondern um »ein echtes Mitgehen, Mitverstehen, Mitfühlen, Miterfahren des Leidens eines Kranken, eines Zerstrittenen, einen Betrübten, eines Hoffnungslosen […] (analog der Inkarnation Gottes in Jesus Christus)«.6 Solches Sich-Einfühlen setzt damit »Hingehen« und Sich-Einlassen wesentlich voraus: »Das bedeutet für die seelsorgliche Begleitung, das Leiden mit auszuhalten und in der Ausweglosigkeit an sich herankommen zu lassen, ohne aggressiv abwehrend zu reagieren, ferner die Auswirkungen einer Angst, Depression usw. mitzufühlen, zu verstehen sowie offen zu sein für noch weitere Resignationsschocks.«7 Hier klingt schon an: Wer empathisch ist, zeigt eine hohe Toleranz gegenüber Inkongruenzerfahrungen. Im Folgenden wird dieser Zusammenhang näher erläutert. Zunächst sei jedoch darauf hingewiesen, dass unter pastoralpsychologischer Perspektive durchaus deutlich wird, inwiefern die Parallelisierung von Empathie und Inkarnation – verstanden nun eben nicht mehr nur als »Einstieg ins 4 Carl R. Rogers, Entwicklung der Persönlichkeit. Psychotherapie aus der Sicht eines Psychotherapeuten (Konzepte der Humanwissenschaften), 12. Auflage, Stuttgart 1998, 277 f. 5 Vgl. Rogers 1998, 278. Im Kontext der Psychotherapie wären weitere Bezüge zur Empathie, z. B. im Rahmen des psychoanalytischen Mentalisierungskonzepts oder der Dialektisch-­ Behavioralen Therapie (DBT), eigens aufzugreifen. 6 Pompey 1986, 200. 7 Ebd.

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Leben«, sondern zugleich auch als Selbstmitteilung, als Entäußerung Gottes – Grenzen hat. So betont die Theologin und Psychologin Agnes Engel, dass sich »in Inkarnation, Entäußerung und Selbstmitteilung, Analogien zur Empathie finden lassen«, jedoch mitzudenken sei, dass »die Selbstmitteilung Gottes, sein Mitleiden, sein unbedingter Beziehungswille und seine Liebe über das hinaus[geht; T. S.], was als Empathie bezeichnet wird«.8 Dies lasse sich beispielsweise in der Verhältnisbestimmung von Selbstmitteilung und Empathie aufweisen: »In der Empathie zwischen Menschen geht es um das Teilhaftigwerden, um das Verständnis der anderen Person, ihres Erlebens und ihrer Intentionen. Die eigene Person bleibt in der Differenz bewusst, tritt jedoch während des empathischen Erlebens in den Hintergrund. Genau an dieser Stelle kann der theologische Begriff der Selbstmitteilung die psychologische Definition der Empathie ergänzen. Das Paradox der Selbstmitteilung in der Entäußerung ist in seiner Radikalität allein Gott möglich. Dennoch verweist es darauf, dass der empathische Akt nicht gleichsam blutleer, losgelöst von der Person verläuft, sondern gerade durch das Einlassen auf den Anderen, den Versuch des Verständnisses und das Dafür-Eintreten mit der eigenen Person, Menschen in Kommunikation miteinander treten und die Liebe Gottes nachahmend verwirklichen. Gerade durch das Loslassen und Zurücktreten der eigenen Person teilen sie etwas von sich selbst mit.«9 Differenzerleben – ich und der andere, Eigenes und Fremdes in mir oder jenseits von mir – kann Menschen herausfordern und als krisenhaft erlebt werden. Es kann aber eben auch jene Chance sein, die individuelle Kongruenz und zwischenmenschliche Gespräche erst ermöglicht. Bedeutung kommt ihm somit in Alltags- und in Krisenzeiten zu. Eine ungeahnte Aktualität entfaltet es gerade im Kontext des globalen, vielfach mit Spaltungstendenzen verbundenen Ringens um der Coronapandemie angemessene Maßnahmen. Um dies näher aufzuweisen, soll zunächst das (In-)Kongruenzverständnis von Rogers aufgegriffen werden.

8 Agnes Engel, »… in der Rolle eines Menschen, der echt ist«. Eine pastoralpsychologische Untersuchung zur Methode des Perspektivenwechsels im innerkirchlichen Dialog (Reihe Zeitzeichen; Bd. 45), Ostfildern 2019, 153. 9 Engel 2019, 152.

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5 (In-)Kongruenz in der Krise Personzentrierte Psychotherapie vollzieht sich im Horizont von Krisenerfahrungen. So geht Rogers davon aus, dass sich gerade bei außergewöhnlichen lebens­ geschichtlichen Ereignissen leichthin Erfahrungen einstellen, die nicht zum Selbstkonzept eines Individuums (den Wesenszügen und Fähigkeiten, Werten, Idealen und Zielen, die es sich bisher zugeschrieben hat, usw.) passen.10 Diese neuen, fremd erscheinenden Erfahrungen führen »zu einer Verstörung des Selbstkonzeptes, schließlich zu leidvoller Inkongruenz, also zu einem Auseinanderklaffen zwischen meinem bisherigen Selbstkonzept und meinem aktuellen Erleben und Erfahren. Mein Organismus antwortet auf die zunächst unterschwellige Wahrnehmung dieses Klaffens mit Abwehr, schließlich mit spürbarer Angst«11. Das verursacht psychisches Leid. Im Rahmen seiner Theorie macht Rogers deutlich, wie die beschriebene Inkongruenz gerade durch ein Beziehungsangebot überwunden werden kann, das seitens der Therapeutin oder des Therapeuten spürbar von Wertschätzung, Echtheit und eben auch präzise einfühlendem Verstehen geprägt ist. Dass solche Empathie auch in nicht therapeutischen Kontexten durch einen Perspektivenwechsel ermöglicht wird und erleichtert werden kann, wenn das zu verstehende Gegenüber in seiner Position authentisch wirkt, wenn es um Verständnis wirbt, seine Sichtweise differenziert darlegen kann und wenn die Sichtweise emotional wahrgenommen wird, zeigt Agnes Engel am Beispiel des innerkirchlichen Dialogs empirisch begründet auf.12 In diesem Zusammenhang stellt sie die Bedeutung dar, die der eigenen Überwindung zum Perspektivenwechsel sowie einem »anschließenden, fortwährenden Prozess des Loslassens der eigenen Gedanken und des wirklichen Einlassens auf den anderen mit dessen Position, dessen Geschichte und Erleben«13 für das Zustandekommen eines Perspektivenwechsels zukommt. Strategien wie ein emotionales Nachfühlen fremder Äußerungen, die Identifizierung mit dem Gegenüber oder die Vorstellung, selbst in der Situation des anderen zu sein, benennt sie als hilfreich.14 Es liegt nahe, diese Erkenntnisse auf die Frage zu übertragen, was sie für den 10 11 12 13 14

Vgl. Kießling 2017, 127. Ebd. (Hervorhebung im Original). Vgl. Engel 2019, 360. Engel 2019, 359. Vgl. Engel 2019, 310.

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Umgang mit unterschiedlichen, teilweise hoch kontroversen Einstellungen und Haltungen in der Coronapandemie bedeuten können: nicht nur, aber gerade weil der Ruf nach gesellschaftlichem Zusammenhalt und Solidarität das Pandemie­ geschehen von Anfang an geprägt hat. Eröffnet sei der folgende Abschnitt mit einigen persönlichen Wahrnehmungen.

6 Zum Beispiel: Coronapandemie Nahezu zeitgleich mit dem erstmaligen Anstieg der Coronainzidenzen in Deutschland, noch in der Phase der »Hamsterkäufe« – für viele sicher eine Inkongruenzerfahrung eigener Art –, wurden Hashtags wie #wirbleibenzuhause zum greifbaren Ausdruck des Rufs nach gesamtgesellschaftlicher Solidarität. Die Vermeidung bzw. Unterbrechung von Infektionsketten schien aus virologischer und epidemiologischer Sicht der beste Weg, um eine Überlastung der Krankenhäuser und damit – so die Hoffnung – viele Todesfälle zu verhindern. Andererseits ließ sich schnell vermuten, dass die protektiv gemeinte Aufforderung zu Social Distancing alleinstehenden, jungen, alten oder kranken Menschen bzw. Personen mit eingeschränkten materiellen, emotionalen oder sozialen Ressourcen neben dem Schutz vor einer Ansteckung mit dem Coronavirus auch verstärkte Gefühle von Einsamkeit oder existenzieller Überforderung bescheren könnte. Als der Impfstoff dann verfügbar war, ließen die einen sich impfen und erwarteten das im Sinne der Solidarität auch von ihren Mitmenschen. Andere verwahrten sich gegen diese Forderung anfänglich oder auf Dauer etwa mit dem Hinweis auf das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Auch globale Fragen wurden virulent: Während gerade in »Industrieländern« über die Booster-Impfung diskutiert wurde, wies die WHO darauf hin, dass zunächst eine faire weltweite Verteilung der Coronaimpfstoffe sichergestellt werden sollte.15 In dieser Gemengelage entstanden Spaltungen: etwa zwischen Impfbefürwortern und Impfskeptikern, angeblichen »Panikmachern« und vermeintlichen »Verschwörungstheoretikern«. Verständigung schien zunehmend erschwert, die so vehement eingeforderte gesellschaftliche Solidarität gefährdet. Von »Hingehen« und Einfühlen war – wohl nicht nur wegen der Aufforderung, sich physisch voneinander fernzuhalten – stellenweise nicht mehr viel spürbar. Dies lässt es lohnend erscheinen, soziologische und theologische Begründungen von Solidarität näher in den Blick zu nehmen. 15 Vgl. z. B. Karolin Schäfer, Corona-Impfstoffe: WHO fordert Stopp der Booster-Impfungen in reichen Ländern, Artikel in der Frankfurter Rundschau vom 23.12.2021, online verfügbar unter: https://www.fr.de/panorama/corona-who-booster-impfung-pandemie-kritik-auffrischungimpfstoff-91198671.html (letzter Zugriff am 25.01.2022).

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6.1 Solidarität bei Émile Durkheim16 Die Frage, wie moderne Individualität und Solidarität zusammengedacht werden können, beschäftigt schon Émile Durkheim. Historisch deskriptiv ansetzend fasst er die Solidarität der Vormoderne als Gemeinschafts- und Zusammengehörigkeitsgefühl bzw. Gefühl gegenseitiger Verpflichtung aufgrund von Gleichheit auf (»mechanische Solidarität«). Davon unterscheidet er das Solidaritätsverständnis der Moderne: Bedingt durch die Arbeitsteilung und ihre Folgen gründe Solidarität hier gerade in der Erfahrung von Ungleichheit und dem daraus resultierenden Bewusstsein wechselseitiger Abhängigkeit. Als »organische Solidarität« könne sie gleichwohl zu einer neuen Form sozialer Kohäsion werden. Insofern scheint Solidarität bereits bei Durkheim auch als ethischer, auf Mitmenschlichkeit, Hilfsbereitschaft und Sympathie zielender universaler Wert auf. In dieser Hinsicht kommt sie in der Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts ebenfalls zum Tragen: Gerade weil Mitmenschlichkeit allen Menschen zustehe, sei sie auch für Arbeiter geltend zu machen. Dieser universalen Gültigkeit und damit Normativität ungeachtet wird zugleich jedoch ihre faktische Partikularität, ja gewissermaßen ihre Standortgebundenheit deutlich: Real empfundene Zugehörigkeit und wechselseitige Verpflichtung beziehen sich in der Regel auf bestimmte Gruppen, bevorzugt die jeweilige Eigengruppe (im genannten Fall die Arbeiterschaft, nicht die Kapitaleigner).17 Solidarität bewegt sich somit im Spannungsfeld zwischen ethischer Normativität (universelle Geltung) und faktischer Reichweite (partikulare Begrenzung). Darin kann auch der theologische Solidaritätsdiskurs verortet werden. Er tendiert zu einem ethischen, universalistischen Verständnis von Solidarität und bietet so die Chance, speziell den altruistischen Aspekt, die Unbedingtheit und breite Geltung des genannten Wertes neu ins Bewusstsein zu heben – gleichsam als Bereicherung und Erweiterung des »faktische[n; T. S.] Ethos eines solidarischen Individualismus«18.

16 Der folgende Abschnitt stützt sich wesentlich auf Ansgar Kreutzer, Mehr als ein Gefühl vagen Mitleids. Christliche Beiträge zu Begriff und Praxis heutiger Solidarität (Linzer WiEGe Reihe. Beiträge zu Wirtschaft – Ethik – Gesellschaft; Bd. 1), Linz 2008, 16–34, online verfügbar unter: https://kidoks.bsz-bw.de/files/22/WiEGe_Reihe_Bd1.pdf. (letzter Zugriff am 25.01.2022). 17 Diese in deskriptiver Hinsicht begrenzte Bindekraft von Solidarität erklärt, warum sie bisweilen auch als »schwächste der starken Bindungen« angesehen wird (Kreutzer 2008, 28, unter Rekurs auf Karl Otto Hondrich und Claudia Koch-Arzberger). 18 Kreutzer 2008, 29. Aus Platzgründen muss hier darauf verzichtet werden, die zentrale, gerade naturrechtliche Begründungen einbeziehende Bedeutung von Solidarität im Rahmen der katholischen Soziallehre darzulegen. Vgl. dazu ebenfalls: Kreutzer 2008.

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6.2 Solidarität in systematisch-theologischer Perspektive19 Im Rahmen der Systematischen Theologie wird Solidarität unbedingt und universal konzipiert. Sie findet ihre Verankerung hier vor allem in Christologie und Soteriologie. So hält Helmut Peukert das kategorische Moment der Sorge um den anderen, das schon im kategorischen Imperativ Kants impliziert sei, ja Solidarität im christlichen Sinne gerade in eschatologischer und damit radikal universalistischer Perspektive – der Perspektive einer Errettung aller durch Gott – für realistisch. Die ethische und eschatologische Dimension von Solidarität findet ihre Fundierung dabei in der Christologie: Eine universal ausgerichtete Solidarität identifiziert der Theologe »als ein Spezifikum der Lebensform Jesu Christi«20, insofern dieser sich radikal von den anderen her verstehe, ja radikal auf die anderen bezogen sei. Diese Praxis, die – wie beschrieben – schon in der Inkarnation grundgelegt ist,21 werde in der Auferstehung bestätigt und legitimiert. Ein Solidaritätsethos im Sinne Peukerts ist insofern radikal altruistisch, vom anderen – nicht von der wechselseitigen Abhängigkeit unterschiedlicher Individuen – her gedacht.22 Im »Hingehen« zum anderen impliziert Solidarität hier gleichzeitig ein Zugehen auf Gott. Auch Jürgen Werbick sieht einen Ansatz zur Überwindung der Partikularität, die tendenziell mit dem Solidaritätsgefühl verbunden sei, in einer christologisch-soteriologischen, Universalisierung ermöglichenden Dimension.23 So eröffne gerade die neutestamentlich-eschatologische Perspektive der Gottesherrschaft die Möglichkeit, das einfühlend Gewollte mit dem vernünftig Gesollten zu verbinden. Sie lässt einmal mehr deutlich werden, dass Einlassung, Solidari19 Vgl. auch hierzu: Kreutzer 2008, 16–34. 20 Kreutzer 2008, 26. 21 Vgl. auch: Zweites Vatikanisches Konzil, Pastoralkonstitution »Gaudium et spes« über die Kirche in der Welt von heute vom 07.12.1965, Art. 32. Das ganze Kapitel ist überschrieben mit »Das menschgewordene Wort und die menschliche Solidarität«. Kreutzer hebt hervor, Solidarität werde hier »zu einem Interpretament des Christusereignisses« und die Menschwerdung »zum Ausweis der größtmöglichen Solidarität Gottes mit den Menschen« (Kreutzer 2008, 27). 22 Dass das Postulat eines radikalen Altruismus gerade in zwischenmenschlichen Zusammenhängen durchaus infrage zu stellen ist, kann hier nur angedeutet werden. 23 Vgl. hierzu und zum Folgenden: Jürgen Werbick, Solidarität fundamentaltheologisch. Reflexionen zu ihrer theologischen Begründbarkeit, in: Hermann-Josef Große Kracht & Christian Spieß (Hrsg.), Christentum und Solidarität. Bestandsaufnahmen zu Sozialethik und Religionssoziologie, Paderborn – München – Wien – Zürich 2008, 49–66, hier: 62. Der Autor begreift die »Fähigkeit und […] Bereitschaft zur Einfühlung, zur Übernahme der Perspektive des Anderen – und prinzipiell aller Anderen« als den auch »für Solidarität vielleicht grundlegenden emotional-intellektuellen Grundvollzug« (Werbick 2008, 56).

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tät, Empathie mehr sind als Gefühle »vagen Mitleids oder oberflächlicher Rührung wegen der Leiden so vieler Menschen nah oder fern«24: »vom göttlichen Gnadenthron seines [Christi; T. S.] Kreuzes […] geht göttliches Erbarmen aus, will es uns ergreifen, damit wir selbst Mit-Subjekte der Würdigung seien, die aus dem Mitleiden hervorgeht und die deshalb ein Band mitfühlender Solidarität knüpfen kann, das eschatologisch tragfähig bleibt. Der mitleidende ›Hohepriester‹ Jesus Christus bezeugt jene Solidarisierung Gottes mit den Menschen, die seine mitfühlende Gerechtigkeit ausmacht, […] mit dem Blick für das Innerste des Menschen, seine Leiden, seinen Reichtum, seine Sehnsucht, mit dem barmherzig würdigenden Blick, der sich vor niemand verschließt, der sich ihm darbietet«25. Von Jesus Christus her wird der empathische, wertschätzende, von Echtheit getragene »Einstieg ins Leben«, diese im weitesten Sinn inkarnatorische Dimension des leibhaftigen (Mit-)Mensch-Werdens, letztlich als Möglichkeitsbedingung von Solidarität verstehbar. Dies scheint auch Klaus Kießling unter Rekurs auf die Emmauserzählung zu betonen: »Wertschätzung in der Kontaktaufnahme, Empathie im Mitgehen und Echtheit in der Konfrontation mit der Wahrheit leben in der EmmausGeschichte – als Haltungen desjenigen, der als Menschgewordener göttliche Solidarität lebt, Solidarität bis in den Tod und über den Tod hinaus. […] Seine Solidarität verleiht ihnen [den beiden Jüngern; T. S.] die Kraft, selbst zu Zeugen göttlicher Solidarität zu werden – über ihre eigene Beziehung hinaus in die Gesellschaft hinein. […] Als Gastgeber sprengt er [der Auferstandene; T. S.] das Bild des Hauses (Lk 24,30) – und eröffnet einen Himmel, unter dem ein Leben im Geist möglich wird.«26 Oder anders gesagt: Indem der Messias göttlich-»liebe-volle« Solidarität offenbart und die Menschen »mit seiner Botschaft vom Reich Gottes zur Solidarität untereinander«27 befähigt, ermöglicht er nicht nur unsere eigene Menschwerdung, sondern begründet auch »Solidarität unter den Menschen über den Tod hinaus«, ja er eröffnet »die Vision einer Weltgemeinschaft, die auf göttliche Solidarität setzt«. 24 25 26 27

Johannes Paul II., Enzyklika »Sollicitudo Rei Socialis« vom 30.12.1987, Art. 38. Werbick 2008, 63. Kießling 2017, 134. Dieses und die beiden folgenden Zitate aus: Kießling 2017, 125.

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6.3 Das Geschenk wird zur Forderung Aus dem Geschenk der Solidarität erwächst somit eine Solidaritätsforderung. Sie greift, so Werbick, gerade da, wo emotional empfundene Solidarität an ihr Ende kommt: »Im Blick auf die von unserem Solidaritätsgefühl Ausgeschlossenen muss uns aufgehen und müsste beherzigt werden, dass sie zu uns gehören.«28 Damit regt sie an, auch jenseits des spontan Einfühlbaren in Kommunikationszusammenhänge einzutreten. Dies lässt sich einmal mehr auch soziologisch begründen: So beruht die Bildung, Festigung und Modifikation von Werten wie Solidarität nach Hans Joas auf Selbstbildungs- und Selbsttranszendenzerfahrungen, wie sie zum Beispiel im Kontext eines »wirklich gelingende[n; T. S.] Gespräch[s]«29 möglich seien – eben dann, »wenn es nicht nur dem Austausch von Informationen, Besprechungen über etwas oder unverbindlicher Konversation dient, sondern wenn das Gespräch abhebt und man so miteinander redet, dass man das Gefühl hat, jetzt habe ich den anderen verstanden und er mich auch«. Im Blick auf die Coronapandemie könnte dies bedeuten, mit Andersdenken im Gespräch zu bleiben und so zum Beispiel zu realisieren, dass der in der Coronakrise auffallend Ängstliche auch in anderen Kontexten ängstlich ist – und die Handlungsorientierte handlungsorientiert. In diesem Sinn erläutert der Psychologe Franz Neyer: »Auch wenn jeder jetzt mehr Klopapier kauft, mag es besonders sicherheitsund kontrollbedürftige Menschen geben, die mehr Klopapier hamstern als der Durchschnitt. […] Auch gehen stärker handlungsorientierte Personen bedrohliche Situationen offensiver an als Personen, die zurückhaltender sind und lieber abwarten, bis sich alles entspannt. […] Und weiterhin kann die Tendenz, sich nicht an vorgegebene Regeln zu halten, auf ein starkes Autonomiemotiv zurückgehen und das Gegenteil davon auf starke Autoritätshörigkeit. Es macht keinen Sinn, alle Menschen über einen Kamm zu scheren […].«30

28 Werbick 2008, 64. 29 Dieses und das folgende Zitat aus: Hans Joas, Wie entstehen Werte? Wertebildung und Wertevermittlung in pluralistischen Gesellschaften, Vortrag am 15.09.2006, 7 f., online verfügbar unter: https://fsf.de/publikationen/medienarchiv/beitrag/heft/wie-entstehen-werte/ (letzter Zugriff am 25.01.2022). 30 Axel Burchardt, Persönlichkeit in der Krise? Psychologe Prof. Dr. Franz J. Neyer zum Einfluss der Corona-Krise auf die Persönlichkeit, Meldung vom 05.05.2020, online verfügbar unter: https://www.uni-jena.de/200505_Corona_Neyer (letzter Zugriff am 26.01.2022).

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Damit ist der Einfluss von Persönlichkeitseigenschaften angesprochen: von Faktoren, die weder selbstgewählt noch leichthin veränderbar sind und die unter anderem mit lebensgeschichtlichen (Vor-)Erfahrungen in Verbindung stehen. So werden Sätze wie »Du musst dir (in Bezug auf den Virus oder eben auf die Impfung) keine Sorgen machen!« für einen von Natur aus ängstlichen Menschen unter Umständen keine Hilfe sein. Ein Bewusstsein dafür könnte – noch einmal sei an Luise Reddemann erinnert – zu Demut und Vorsicht bei der Bewertung fremden Handelns anregen. Die Frage, wie unterschiedliche Bedürfnisse und damit auch Güter im Rahmen der Pandemie gesellschaftlich zu gewichten sind, ist damit freilich nicht beantwortet. Kommunikationsprozesse sichern jedoch zumindest das Miteinander-in-Kontakt-Bleiben auch im Fall heterogener Positionen, sie können leidempfindlich machen und so Solidarität mit »Bedrängten aller Art« ermöglichen. Auf ein Letztes sei in diesem Zusammenhang hingewiesen: Gerade weil Werte wie Solidarität nicht instrumentalistisch hergestellt werden können, schreibt Joas »intermediären Institutionen« besondere Bedeutung zu: Sie könnten dafür sorgen, dass »einerseits die Wertoptionen der Individuen institutionell verstärkt in den gesellschaftlichen Diskurs einfließen und umgekehrt die Individuen in gesellschaftlich präferierte Werthaltungen (z. B. demokratische Tugenden wie […] Solidarität) hineinsozialisiert werden«31. Es scheint naheliegend, die Kirchen als derartige Institutionen zu begreifen. Wie können sie heute dazu beitragen, dass (auch) kommunikative Netze gespannt werden, aus denen im Idealfall niemand herausfällt, ja die dem Individuum einen Zuwachs an innerer Kongruenz ermöglichen? Inwiefern sind Seelsorgerinnen und Seelsorger, Christinnen und Christen dieser Verantwortung gerade in der Zeit der Pandemie gerecht geworden? Was lässt sich aus den Erfahrungen lernen? Diese Fragen seien hier nur – durchaus kritisch – angedeutet. Unbestritten ist jedenfalls, dass Missverstehen (bzw. die Erfahrung der Unvereinbarkeit unterschiedlicher Positionen) auch im Bemühen um Perspektivenwechsel, Empathie und Solidarität weiter möglich bleibt – und dass es da, wo es eintritt, möglicherweise nur ausgehalten werden kann.32 Trotzdem bieten derartige Haltungen die Chance, gerade in Zeiten physischer Distanz zumindest in ein geistiges, von ehrlichem Interesse getragenes »Einander-Besuchen« hineinzufinden, das Zugang zum Herz des Gastgebers und damit zu dessen Bedürfnissen und Motiven eröffnen kann. 31 Kreutzer 2008, 32. 32 Vgl. Klaus Kießling, Interkulturalität und (Nicht-)Verstehen – Gastfreundschaft als Ermöglichung von Seelsorge, in: Christiane Burbach (Hrsg.), Handbuch Personzentrierte Seelsorge und Beratung, Göttingen 2019, 249–265, hier: 261.

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7 Fazit In dem beschriebenen Sinn des Hingehens und angebotenen Einsteigens ins Leben scheint – so möchte ich abschließend festhalten – eine »inkarnatorische Facette« für zwischenmenschliche, nicht nur psychotherapeutische Zusammenhänge gerade heute und gerade in Zeiten des Social Distancings hoch aktuell. Speziell der Glaube könnte uns dabei erschließen und erfahren lassen, »von welcher Solidarität wir leben und zu welcher Gemeinsamkeit wir berufen sind«33. Zugleich gilt für die theologische Begründung von Solidarität ohne Zweifel das, was schon in Bezug auf das Hingehen, das Sich-Einfühlen und den Perspektivenwechsel zu sagen gewesen ist: Auch die subjektive Plausibilität dieser Begründung »kann nicht argumentativ erzwungen bzw. mehr oder weniger zweifelsfrei aufgewiesen werden. Sie muss uns [oder kann uns nur; T. S.] aufgehen, indem wir uns für sie öffnen«34, ja: indem wir uns einlassen.

33 Werbick 2008, 65. 34 Ebd.

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Nah den zerbrochenen Herzen1 Reflexionen von Erfahrungen in der Psychiatrieseelsorge Beate Glania MMS

1 Zugang und leitendes Interesse Zu Beginn skizziere ich kurz meinen Weg von meiner Aufgabe in Sankt Georgen hin zur Seelsorge in der Psychiatrie und stelle dann das Anliegen des Artikels vor. 1.1 Persönliche Vorgeschichte Im Jahr 2004, als Klaus Kießling an die Philosophisch-Theologische Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt kam, hatte ich gerade das Aufbaustudium der Pastoralpsychologie bei seinem Vorgänger Prof. Dr. Karl Frielingsdorf SJ abgeschlossen. Da ich dann von 2006 bis 2018 in Sankt Georgen als Geistliche Mentorin tätig war – in der geistlichen Begleitung und geistlichen Ausbildung der Männer und Frauen, die Pastoralreferenten und Pastoralreferentinnen werden wollten – konnte ich die Attraktivität und Weiterentwicklung der Pastoralpsychologie an dieser Hochschule aus der Nähe mitverfolgen. Im Jahr 2018 zog ich aufgrund einer Anfrage meiner Ordensgemeinschaft, der Missionsärztlichen Schwestern, in den Berliner Osten nach Marzahn-Hellersdorf. Dies bot die Chance, neu zu schauen, wo und wie ich als Seelsorgerin und Pastoralreferentin pastoralpsychologisch arbeiten will, wie sich das Charisma der Gemeinschaft und die persönliche Berufung, »to be a healing presence at the heart of a wounded world«2 weiter vertiefen wollte. Die Gemeinschaft gab mir Raum neu hinzuhören, welche »Not« mich ruft. In den S- und U-Bahnen in Berlin fielen mir psychisch kranke Menschen auf mit ihrer Verlorenheit, ihrer Eigenartigkeit, ihrem Elend, ihrer Scham, ihrer Ängstlichkeit. Als mir später ein Ordensmann in Berlin auf meine Frage hin, wo er Not in dieser Stadt sähe, sagte, eine konkrete Not sei die mangelnde Begleitung von psychisch kranken Menschen hier, bewegte mich das ebenso. Und tatsäch1 Vgl. Ps 34,19a. 2 Medical Mission Sisters, Constitution, 2007, 1.

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lich öffnete sich dann parallel zu der ›inneren‹ Tür eine äußere berufliche Tür: So arbeite ich nun seit 2019 als Krankenhausseelsorgerin im Alexianerkrankenhaus Hedwigshöhe im Südosten Berlins mit dem Schwerpunkt »Psychiatrieseelsorge«. Nach dem eher »kircheninternen« Arbeitsplatz in Sankt Georgen war ich zwar nun in einem katholischen Krankenhaus, in dem jedoch trotz der etwa 500 Betten nur etwa 5 bis 7 Katholiken in der Woche unter den Patient*innen zu finden sind. Die große Mehrheit, auch des Personals, ist religionslos. Dies sind eine spannende Herausforderung und ein lohnender Hintergrund für die folgenden Reflexionen zum Thema Seelsorge mit psychisch erkrankten Menschen. 1.2 Anliegen Auf den akutpsychiatrischen Stationen gibt es viel psychiatrisch geschultes Personal. Neben den Psychiater*innen und Psychotherapeut*innen, die konsequent und kompetent die Patient*innen begleiten und ihnen helfen, ihre Therapieziele und -vereinbarungen zu verfolgen, unterstützen viele Professionen wie Pflege, Musik-, Ergo-, Physio- und Bewegungstherapeut*innen oder Sozialdienst und Genesungsbegleiterinnen die Arbeit mit den Patient*innen. Durch das Hinzutreten der Seelsorge im Konzert dieser therapeutischen Ansätze »ereignet sich« in gewisser Weise Pastoralpsychologie. Leitendes Interesse dieses kleinen Beitrags ist es, die Perspektive und Herangehensweise der Seelsorge auf akutpsychiatrischen Stationen zu skizzieren3 – und dies auf dem Hintergrund der Reflexion meiner persönlichen Erfahrungen und Herangehensweise im psychiatrischen Kontext und von Spiritualität. Insofern sind diese Ausführungen eher subjektiv, doch individuelle Seelsorge entfaltet sich stets im Rahmen eines persönlichen Beziehungsgeschehens. Nach der Skizze des anthropologisch-theologischen Fundaments, auf das ich mich in meinem Dienst beziehe (2.), sollen Facetten des Menschseins und der heilsamen Beziehung aus der Perspektive der Seelsorge benannt werden (3.). Im folgenden Gliederungspunkt (4.) gehe ich der Frage nach Gott, der Verunsicherung im eigenen Glauben und der Hoffnung nach; ein kurzer Abschluss folgt.

3 Die Begleitung von Angehörigen der Kranken oder des Krankenhauspersonals oder Fragen nach Gottesdiensten in religionslosem Umfeld, die auch zum Seelsorgeauftrag gehören, sollen hier ausgespart werden.

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2 Der heile Kern »Im innersten Kern unseres Wesens gibt es einen Punkt, klein wie ein Nichts, an den Sünde und Illusion nicht zu rühren vermögen. Es ist der Punkt der lauteren Wahrheit, ein Punkt oder Funke, der ganz Gott gehört. Nie können wir über diesen Punkt verfügen, sondern Gott fügt von diesem Punkt aus unser Leben. Er lässt sich nicht von den Phantasien unseres eigenen Geistes erreichen, er lässt sich nicht mit gewalttätigem eigenem Wollen erobern. Dieser kleine Punkt der Nichtigkeit und der absoluten Armut ist der Punkt der reinen Herrlichkeit Gottes in uns. Er ist sozusagen der Name Gottes, der in unser innerstes Wesen geschrieben ist, als unsere Armut, als unsere Bedürftigkeit (…). Er ist wie ein reiner Diamant und funkelt vom unsichtbaren Licht des Himmels. Er steckt in jedem Menschen.«4 Was Thomas Merton (1915–1968), Mystiker und Friedensaktivist, mit diesen Worten formuliert, habe ich mir in der Begegnung mit den Menschen auf den psychiatrischen Stationen zu eigen gemacht. Mir hilft der Glaube an einen heilen Kern im Menschen: einen innersten Punkt, der von Gott ist, der unendlich angewiesen und zugleich heil ist, der auch von der schlimmsten Lebensgeschichte nicht zerstört werden kann. Er ist nicht immer zu fühlen – weder in mir selbst noch bei anderen. Er wirkt manchmal tief verschüttet. Und doch bin ich überzeugt: Es gibt das Heile und Heilige in jedem und jeder, in allen Menschen.

3 Die Horizontale im Seelsorgegeschehen Seelsorge braucht Menschlichkeit und öffnet einen Beziehungsraum, in dem Seelsorger*innen und Patient*innen gemeinsam unterwegs sind. 3.1 Als Mensch spürbar sein Als Seelsorgende sind wir Menschen, ganz gleich, in welchen Rollen wir einander begegnen. Das Menschsein ist uns vor aller Religion gemeinsam. Gerade Patient*innen in Krisen spüren, ob Seelsorgende ihnen menschlich authentisch und »geerdet« begegnen. Wir dürfen sie begleiten hin zu dem, was zum 4 Thomas Merton, Ein Tor zum Himmel ist überall, hrsg. von Bernadin Schellenberger, Freiburg i. Br. 2008, 82.

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Menschlich-sein hilft. Denn oftmals stehen sich Menschen selbst im Weg und vieles erscheint »unmenschlich«. Auf psychiatrischen Stationen begegnen uns Menschen mit Ängsten, in Depressionen, mit Suizidgedanken, in Zwängen, im Wahn, in Psychosen oder anderen schwerwiegenden Krisen. Anflüge solcher Bedrängnisse und Untiefen kenne auch ich. Schmal ist der Grat zwischen Gesundheit und Krankheit. Patient*innen erzählen ihre Geschichten, manchmal erschütternd, manchmal von der Wirklichkeit ver-rückt, manchmal lebensmüde, manchmal hoffnungsvoll. Dabei sind auch Geschichten, die mich stumm und ratlos machen. Was ich anbieten kann, ist das Begleiten: Damit gehe ich ein Stück mit dorthin, wohin die Patient*innen oft ohne ihr Einverständnis vom Leben geführt wurden. Gemeinsam berühren wir im Erzählen Realitäten, die uns beide schrecken und die wir beide nicht mögen: Wunden, Angst, Leid, Todesnot und Einsamkeit. Und wir merken: Es macht einen großen Unterschied, ob jemand allein oder mit einer Person ist, die zuhört und sich zuweilen mit erschüttern lässt – und zugleich psychisch stabil und innerlich auf Hoffnung ausgerichtet bleibt. Mich in das, was das Herz der anderen beschwert, empathisch einzufühlen, ist manchmal unangenehm. Doch werden diese Widerstände überwunden, kann sich ein neuer Raum in uns und zwischen uns öffnen. Angesichts tiefer Verwundung können Mitgefühl und Güte in uns wachsen, die dann oft als Solidarität, als Mitmenschlichkeit oder auch als Trost erfahren werden. Als Seelsorgende dürfen wir Menschen bestärken und ermutigen, tiefer zu fragen und auf den eigenen Herzschlag zu hören, der dahin führt, Sinn-volles für ihr Leben zu finden. Die »Vertikale«, die Botschaft Jesu vom Reich Gottes, schenkt hier Orientierung, auch wenn es oft gar nicht angezeigt ist, darüber zu sprechen. Denn sie spricht bereits zu den Menschen, wenn wir diese absichtslos annehmen. Hierfür bietet Seelsorge einen guten Raum, dass Menschen da sein dürfen, ohne etwas vor-leisten müssen, ohne dass eine Diagnose gestellt oder ein Therapieziel verfolgt wird. Als Seelsorgende haben wir kein Ziel außerhalb der Begegnung, weil wir Gott in ihr glauben. Vielmehr dürfen wir schauen, wohin wir geführt werden. Denn wir können nicht im Vorhinein wissen, was sie zuinnerst in ihrem »Kern« oder »Funken« ausmacht. 3.2 Den Beziehungsraum öffnen Es ist immer ein Risiko, eine neue Welt zu betreten. Das gilt sicher auch für eine geschlossene psychiatrische Station. Denn mich zu nähern, bedeutet das Wagnis, mich einzulassen auf Beziehung; eine Beziehung, die sich vielleicht anders 336

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entwickelt, als ich es sonst kenne. Hier tut sich ein Lernfeld auf, wirklich offen zu sein für das, was geschieht. In den Begegnungen bleibe ich nicht unberührt, sondern komme in Berührung mit meinen eigenen Gefühlen von Entsetzen bis Mitfreude und mit meiner eigenen Sehnsucht nach heilem Leben. Der Respekt vor der Lebensleistung psychisch erkrankter Menschen begleitet und trägt die Beziehung. Psychisch erkrankte Menschen erleben sich oft als ausgegrenzt oder stigmatisiert, von der Gesellschaft nicht als vollwertige oder leistungsfähige Menschen anerkannt. Sie »brauchen« einen Klinikaufenthalt, werden manchmal »eingeschlossen«, erfahren sich als defizitär. Welch Lebensleistung es aber bedeutet, mit einer psychischen Krankheit zu leben, kann nur erkannt werden, wenn wir uns auf eine Beziehung mit ihnen einlassen. Für viele Betroffene ist es eine große Leistung, Ängste bis hin zu Panikattacken, Dunkelheit oder Todessehnsucht auszuhalten und dabei dennoch jeden Tag neu aufzustehen und gegebenenfalls unterstützende Medikamente mit all ihren Nebenwirkungen anzunehmen. Dies alles als Leistung anzuerkennen, wertzuschätzen und zu benennen, tut psychisch kranken Menschen gut und lässt sie in der Selbstachtung wachsen. »Wer die Liebe eines Gegenübers spürt, kann wieder (oder erstmals!) Respekt vor sich selbst und sich selbst liebenswürdig finden.«5 Darüber hinaus wird die andere Person durch mitfühlende und authentische Begegnung gestärkt: »Wer merkt, wie ein Gegenüber empathisch um Verstehen ringt, kann anfangen, die eigene Welt zu erkunden und dafür selbst Verständnis zu entwickeln. Wer Echtheit und Selbstoffenbarung eines Gegenübers erlebt, vermag selbst Mut zu fassen zugunsten von Offenheit und Authentizität der eigenen Person gegenüber.«6 Nur Worte, die wirklich in Beziehung gehen zum anderen Menschen, werden zumindest in ihrer Energie und mit ihrem Wohlwollen bei Menschen in der Krise ankommen. Patient*innen auf psychiatrischen Stationen scheinen besonders sensibel und empfänglich für diese authentische Herzensdimension zu sein. Wer in der Seelsorge arbeitet, auch in der Psychiatrieseelsorge, wird die Menschen, mit denen er oder sie arbeitet, immer mehr lieben lernen. Diese 5 Klaus Kießling, Psychiatrische Notfälle und psychische Krisen in der Seelsorge, in: Jochen Sautermeister & Tobias Skuban (Hrsg.), Handbuch psychiatrisches Grundwissen für die Seelsorge, Freiburg i. Br. 2018, 34–53, hier: 46. 6 Ebd.

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leidenschaftliche Seite ist Potenzial für Heilung. Dass Seelsorge zugleich eine Beziehung auf Zeit ist, ist Ermöglichungsraum, denn zeitliche Begrenzung kann auf die Intensität positiv zurückwirken. Zugleich hat die zeitliche Begrenzung auch eine Schutz- und Entlastungsfunktion. Auf den psychiatrischen Stationen im Team zu denken und zu fühlen erleichtert ebenfalls: Kranke dort haben kompetente Ansprechpersonen in der Pflege und unter dem ärztlichen und therapeutischen Personal, die 24 Stunden dort Dienst tun. Sich in diesen Organismus eingebettet zu wissen, korrigiert, wenn wir uns als Seelsorgende zu sehr verantwortlich fühlen. Weiter kann das Seelsorgeteam im Krankenhaus unterstützen und zugleich Korrektiv sein, dazu die notwendige begleitende Supervision. All das hilft Seelsorgenden, sich mit ihrem spezifischen Beitrag einzureihen. Wenn wir als Seelsorger*innen mit Menschen, die dies wollen, ins Gespräch kommen, bieten wir Beziehung an, Beziehung mit uns und – so unser Auftrag – darüber hinaus. Hier hilft uns die Rolle. Immer wieder erlebe ich, dass ich für eine Beziehung zu Gott oder zum Göttlichen stehe, die für die meisten Patient*innen im Osten Berlins unbekannt, manchmal spannend ist oder die gelegentlich leise als Option für das eigene Leben erwogen wird. Eine religionslose Patientin formulierte überraschend: »Sie sind meine Verbindung zu Gott.« Weiter stehe ich in meiner Rolle als Seelsorgerin für eine Sinngemeinschaft, für Kirche, die ebenfalls kaum bekannt ist und wo es keine oder kaum Berührungspunkte gab und gibt.7 Mein Ansteckschild weist mich als Seelsorgerin aus. Damit gehe ich oft langsam über die Stationen, anderes Personal hat es zumeist eilig. Wer das Schild liest, fragt mich gelegentlich, was Seelsorge eigentlich ist. Und ich sage etwa: »Mit mir sprechen Menschen über ihr Leben, ihre Fragen, vor allem Fragen nach Sinn, manchmal auch nach dem Geheimnis Gott. Oder über Religion, und ich weiß, dass viele hier gar nicht mit Religion aufgewachsen sind. (Meist erfolgt hier ein Nicken.) Mit der Seelsorge sprechen oft Menschen, die suchen nach Halt oder Sinn.« Manche lesen das Schild und sprechen mich an: »Ich interessiere mich auch für die Seele …« oder »Ich habe meine Seele verloren …« oder »Die anderen haben gesagt, dass man mit Ihnen sprechen kann und sein Herz ausschütten kann. Ich glaub, ich brauch das auch mal.« Solche Äußerungen sind vertrauensvolle Vorlagen, um in Beziehung zu kommen. Selbst Blicke oder das Suchen von

7 So stehe ich auch für die dunkle Seite der Geschichte und Gegenwart der Kirche, wie sie uns in den Missbrauchsfällen entgegenkommt, doch das spielt nach meiner Erfahrung hier glücklicherweise eine geringe Rolle.

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Nähe können behutsame Annäherungen sein, aus denen sich eine Begleitung ergeben kann. Dass Menschen sich Seelsorger*innen öffnen, ist nicht selbstverständlich. In diesen Gesprächen kommt Kirche in Berührung mit Menschen in Not – und mit ihrem Auftrag zu verkünden und zu heilen.

4 Die unentbehrliche Vertikale in der Seelsorge Christliche Seelsorge gründet in Gott, in der heilenden Botschaft Jesu, die Hoffnung wecken will. Sie lädt ein zur Suche und erfährt, dass der eigene Glaube das vermeintlich sichere Ufer verlassen muss. 4.1 Die tastende Suche Menschen suchen selten direkt und explizit das Gespräch über Gott oder den Gottesglauben. In vielen Schwingungen darf diese Frage nach Gott, nach dem Absoluten, nach Sinn und Halt aus den Geschichten, die Menschen anbieten, von Seelsorger*innen herausgehört werden. In ihrem Erzählen ist das Geheimnis ihres Lebens verborgen, steckt ihr Glaube und ihre Spiritualität. Die Frage nach dem Absoluten herauszuhören, ist wesentliche Aufgabe für Seelsorgende. Denn das, was für die Menschen bedeutsam ist, kann sie weiterführen hin zu dem, was ihnen zuinnerst wichtig war und ist. Das erfordert Behutsamkeit und Geduld. Die Begegnung mit Menschen in der Psychiatrieseelsorge, die oft Leid erfahren haben oder aktuell erleben, verändert die eigene Gottsuche und den persönlichen Glauben. Das verdichtet sich in der Theodizeefrage in all ihren Facetten: »Wir haben doch nur dieses eine kleine Leben, warum müssen manche hier so viel Leid tragen?« Meine persönliche Antwort an Patient*innen lautet oft: »Ich bin zwar Seelsorgerin und glaube an Gott, doch ich muss Ihnen sagen: Ich weiß es nicht. Es bleibt auch mir ein Geheimnis.« Möglicherweise ist dieses »Ich weiß es nicht« ein religiöser Satz.8 Manchmal zumindest öffnet er einen Raum, in dem Neues entstehen kann, in dem Unerklärliches gehalten scheint. »Krankenhausseelsorge macht bescheiden. Sie kann Gott nicht erklären. Sie lässt sich stattdessen berühren vom Leiden der Menschen, denen sie begegnet, 8 Vgl. Michael Brems, »Wo ist nun dein Gott?«. Krankenhausseelsorge als Ort religiöser Erfahrungen, in: Traugott Roser (Hrsg.), Handbuch der Krankenhausseelsorge, 5. Auflage, Göttingen 2019, 65–77, hier: 70.

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verzichtet auf große Entwürfe, spricht in Hauptsätzen oder schweigt.«9 Was wir als Begleitende und Glaubende wissen, wird konkret erfahrbar: Nicht alles ist lösbar. Das schmerzt. Manches nehmen wir ungelöst mit – bis in den Tod. Und persönlich: Die Frage nach dem »Warum« hallt auch in mir nach. Die konkrete Antwort bleibt aus. Der Glaube in meinem Leben wird weniger sicher, Gott unverfügbarer, vielleicht mehr Gott als unergründliches Geheimnis, und das Gebet ohnmächtiger und zugleich drängender. »Ach Gott! Ich habe getan, was ich konnte. Es sind deine Menschen. Du hast jetzt das Problem.« – Angesichts der geballten Fragen bleibt nur das Loslassen auf eine größere Macht hin, der ich mich versuche anzuvertrauen und all die Menschen mitzunehmen, die sich mir anvertrauen. »Meine engen Grenzen, meine kurze Sicht bringe ich vor Dich […], meine ganze Ohnmacht […], mein verlornes Zutraun […]«10: Das schließt ein, Widersprüche auszuhalten. Wenn ich glaube, was Psalm 34 sagt: »Nah ist der HERR den zerbrochenen Herzen« (Ps 34,19a) – dann kann mir das Trost sein, wo ich mich ohnmächtig fühle; und zugleich könnte dieser Vers für meinen Glauben bedeuten, dass ich Gott finde, wenn ich den zerbrochenen Herzen auf den akutpsychiatrischen Stationen nahe bin. In diesem Sinn bleibe ich auf der Suche. Manchmal wächst dann das Vertrauen, wenn ich erlebe, dass mir im Beten Freiheit zuwachsen kann, »Ja« zu sagen zu dem, was ist – auch zu dem, das ich wie Scheitern oder Ohnmacht erlebe. Ich erfahre schmerzlich und zugleich heilsam: Gott ist immer radikal anders und neu. Gott ist Gott. Beten kann hier heißen, Widersprüche und Schmerz dem gütigen Raum Gottes zu überlassen. Das verwandelt mich und schenkt möglicherweise durch die neu gewonnene Haltung den Patient*innen Halt, Geborgenheit, Wärme oder Hoffnung. »Nur ein Glaube, der den Blick in die Finsternis aushält – den Blick in die dunkle Seite Gottes, vielleicht den Blick in das Nichts –, nur ein Glaube, der sich berühren und in Frage stellen lässt angesichts von Schmerz und Leiden, ist ein Glaube mit Substanz, der zitternd Worte in den Mund nehmen kann von der Barmherzigkeit Gottes, von Gnade, Liebe und Güte.«11 9 Brems 2019, 71 f. 10 Eugen Eckert, Meine engen Grenzen [1981], in: Gotteslob, Katholisches Gebet- und Gesangbuch, Stuttgart 2013, Nr. 437. 11 Michael Brems: »Sie schwiegen. Denn sie sahen, dass der Schmerz sehr groß war.«. Die unerträgliche religiöse Naseweisheit und das fromme Nichtwissen, o. J., 4, online verfügbar unter: https://www.krankenhausseelsorge-nordkirche.de/fileadmin/user_upload/baukaesten/Baukasten_Krankenhausseelsorge_NoKi/Dokumente/Warum_nur_Gott_-_Gedanken_zur_Theodizee-Frage.pdf (letzter Zugriff am 07.09.2021).

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Wir dürfen Anstöße geben durch unser Dasein und indem wir eigene Blickwinkel zum Geheimnis Gott anbieten in Freiheit, ob die anderen sie aufnehmen. Zeit, darüber nachzusinnen, ist für die Patient*innen im Krankenhaus oft reichlich vorhanden. »Krankenhausseelsorge hat den Auftrag, eine Kultur des Unverfügbaren lebendig zu halten.«12 Es liegt dann nicht mehr an uns, was möglicherweise wachsen will. Seelsorge im Feld der Psychiatrie lädt ein, Gott zu suchen und zu finden in allem und allen, den göttlichen Kern in allen und allem zu glauben und damit in Beziehung zu gehen – in mir und in anderen. Und dann sind heilende Worte, die wir sprechen, aus einer Quelle in uns, die uns geschenkt ist, und ebenso ist es Geschenk, wenn sie andere erreichen. 4.2 Die Hoffnung leuchten lassen Menschen suchen Halt und Trost angesichts von Krankheit, seelischer Erschütterung, existenzieller Ungewissheit und Einsamkeit. Sie sehnen sich nach Hoffnung in tiefer Verzweiflung, in suizidalen Krisen und atemstockender Leiderfahrung. Schnelle Lösungen gibt es meist nicht. Unsicherheiten wollen ausgehalten werden. Es bleibt nichts anderes als gemeinsam zu lernen, geduldig nach den kleinen Zeichen der Hoffnung und des Trostes zu suchen. Ein solches kleines und in seiner Wirkung erstaunlich tröstendes und uraltes Zeichen habe ich zusammen mit vielen Patienten und Patientinnen neu entdecken dürfen und will es als praktisches Beispiel anführen, in dem Vieles wie in einem »Brennpunkt« zusammenkommt: ein Kerzenlicht entzünden. In der Krankenhauskapelle in Hedwigshöhe steht vorne ein schlichter Kerzenständer, wo stets ein paar Teelichter bereitliegen. Immer wieder staune ich, wie gut vielen Menschen die einfache Geste tut, ein eigenes Anliegen mit dem Anzünden und Aufstellen einer Kerze zu verbinden: Es steht kritisch um einen Menschen – ein Licht ist wie ein Flehen ohne Worte; da ist jemand gestorben im nahen Umfeld – ein Licht schafft tröstlich Verbindung; da steht eine Entscheidung an – ein Licht möge uns aufgehen; da ist es innerlich dunkel – ein Licht kann erhellen; da ist alles unsicher – ein Lichtschein schenkt Hoffnung.

12 Pastoralkommission, »Ich war krank und ihr habt mich besucht«. Ein Impulspapier zur Sorge der Kirche um die Kranken (Erklärungen der Kommissionen der deutschen Bischöfe; Nr. 46), Bonn 2018, 31.

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Das Entzünden eines Kerzenlichts in guter Atmosphäre erhellt mehr als nur die äußere Dunkelheit. Das Licht sucht sich einen Weg in unser Gefühl, in unser Innerstes. Es kann zum Gebet mit oder ohne Worte werden. So kann ein wenig Anspannung weichen. Und das Licht lädt ein, mich womöglich einer höheren Macht zu überlassen. Seine Ausstrahlung kann die Ahnung entstehen lassen, dass ich gehalten bin. Nicht immer ist dabei ausdrücklich von Gott die Rede. Viele Menschen im Berliner Osten sind ja kaum oder gar nicht kirchlich geprägt oder gar das allererste Mal in einer Kirche. Aber im Entzünden der Kerze leben und erleben sie das Fundament jeder Theologie und den Wurzelgrund jeder Seelsorge: Gott ist da. Die Gründerin der Missionsärztlichen Schwestern sagte oft: »Niemand ist auf der Welt sicher, wir sind nur in Gott sicher. Das Größte ist immer, auf Gottes Hilfe zu vertrauen.« (Anna Dengel) Seelsorge mit psychisch erkrankten Menschen lässt mich diese vertrauensvolle Haltung neu und intensiver ersehnen und leben, diesen Sprung über mich hinaus zu wagen. Denn dann wird immer wieder erfahrbar: Wir haben das Leben nicht im Griff. Über vieles können wir nicht verfügen. Und wir dürfen eine weitere Wahrheit daneben legen: Es gibt es Lichtmomente, die uns ahnen lassen, dass wir an eine Lichtquelle angebunden und dass wir mit dem Licht verbunden sind, dass wir gehalten sind und sogar leise geführt werden, auch in dunklen oder schweren Zeiten. Horizontale und Vertikale verbinden sich für einen Moment. In solchen Augenblicken ist es uns zuweilen gegeben, zu spüren, dass sich um uns ein warmer Mantel von Trost legt, der unser Herz leichter werden lässt.

5 Abschluss Immer wieder einmal spreche ich mit Patient*innen über diese Annahme, dass in jedem Menschen tief drinnen ein heiler Kern ist, an den Verletzung nicht rühren kann. Es scheint ein Bild zu sein, das Menschen annehmen können, wenn ich dazu sage, dass dieser Kern oft verschüttet oder kaum spürbar ist. Doch von diesem Kern, von dem ich als Seelsorgerin glaube, dass Gott ihn in uns hineingeschaffen hat, wächst uns innere Heilung zu. Zum Ende eines Begleitprozesses, der auf den psychiatrischen Stationen oft Wochen oder Monate dauern kann, schenke ich den Patient*innen meist eine Kleinigkeit: Ich habe einen Beutel mit vielen verschiedenfarbigen kleinen Halbedelsteinen, aus dem sie den Stein auswählen, der sie anspricht – als Erinnerung 342

Beate Glania MMS

an diesen heilen Kern in uns. So kann der kleine Stein zum (buchstäblich) handfesten Symbol für das werden, was ich als Seelsorgerin in der Nachfolge Jesu zu tun versuche: bene-dicere, Gutes und Güte zusagen allen und allem, auch dem, was menschlich betrachtet nicht heil(er) werden kann. Schließen will ich diesen kurzen Erfahrungsbericht mit der Fortführung des Zitats von Thomas Merton, der poetisch zu Ausdruck bringt, was meine Arbeit als Seelsorgerin zugleich trägt und zum Ziel hat: Der Seelenfunken »steckt in jedem Menschen, und wären wir imstande, ihn zu sehen, dann würden wir sehen, dass Milliarden solcher Lichtpunkte sich zum Gesicht und zum Strahlen einer Sonne vereinigen, die alle Dunkelheit und alle Grausamkeit des Lebens restlos verscheuchen würde. Ich kenne kein Programm dafür, wie man dahin kommen kann, das zu sehen. Es kann einem nur geschenkt werden. Aber das Tor zum Himmel ist überall.«13

13 Merton 2008, 82.

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WAGNIS MENSCH  WERDEN

Reformen kirchlicher Machtstrukturen Eine Antwort des Synodalen Weges auf die Missbrauchsund Vertrauenskrise der katholischen Kirche Bernhard Emunds

1 Einführung Macht, Sexualität, Geld – drei soziale Phänomene, die in der christlichen Tradition nicht nur mit Tabus belegt sind, sondern auch mit Normen und anderen ethischen Orientierungsmarken, die den Christ*innen sittliche Höchstleistungen abzuverlangen scheinen. Gehorsam, Jungfräulichkeit/Ehelosigkeit, Armut – die drei evangelischen Räte stehen dafür, dass Männer mit kirchlichen Weiheämtern sowie vor allem Frauen und Männer in Ordensgemeinschaften in ihrer persönlichen Lebensführung »nicht von dieser Welt« sind und Distanz halten zu solchen Lebensentwürfen, in denen dem Machtstreben, der erotischen Attraktivität oder der Mehrung des eigenen Wohlstands ein hoher Stellenwert zuzukommen scheint. Dem entsprechen für die Kirche insgesamt: eine Ekklesiologie und eine Amtstheologie, für die es in der Kirche keine Macht gibt, sondern ausschließlich Vollmacht, die den Amtsträgern eigentlich nur besondere Möglichkeiten zu dienen eröffnet; eine Sexuallehre, der zufolge genitale Sexualität nur dann keine Sünde ist, wenn Mann und Frau sie in einer sakramentalen Ehe ›vollziehen‹, um Nachkommen zu zeugen; und schließlich die Spannung zwischen der Kirche als einer in Deutschland sehr großen Arbeitgeberin und der verdrängten Realität des Arbeitens in der Kirche auch für Geld, weil diese dem Ideal einer Kirche widerspricht, das eigentlich nur Menschen im »Volleinsatz« ihres Lebens (Priester, Ordensleute) und Ehrenamtliche kennt.1

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Vgl. die spitzen Bemerkungen zur Negation des Unternehmenscharakters der Kirche in kirchlichen Kreisen in: Pierre Bourdieu, Das Lachen der Bischöfe, in: ders., Religion (Schriften; Bd. 13), Frankfurt a. M. 2011, 231–242; vgl. Bernhard Emunds & Stephan Goertz, Kirchliches Vermögen unter christlichem Anspruch (Katholizismus im Umbruch; Bd. 11), Freiburg i. Br. – Basel – Wien 2020, 10–12.74–105.

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Macht, Sexualität, Geld – sie alle spielen in der Missbrauchskrise der deutschen katholischen Kirche auf verquere Weise eine zentrale Rolle: die sakral überhöhte Macht des Amtes (»sacra potestas«) und der Person des Priesters, dem missbrauchte Kinder und selbst erwachsene Betroffene nicht zu widersprechen wagten, aber eben auch die männerbündischen Seilschaften und die unkontrollierte Herrschaft von Bischöfen, welche die Täter schützten und ihnen immer neu Chancen gaben, die sich stets aufs Neue als weitere Möglichkeiten des Missbrauchs erwiesen; eine rigide Sexualethik, die »vor lauter Fixierung auf Binarität, Komplementarität und Fortpflanzung und vor lauter einseitiger Verdammung von Verhütungsmitteln, Homosexualität, Self Sex usw.«2 den zentralen Wert sexueller Selbstbestimmung verneint sowie den klerikalen Tätern und ihren Vorgesetzten den Blick vernebelte für die Trennlinie zwischen kriminellen Taten einerseits und menschlichen Beziehungsrealitäten, die lebensfernen Idealvorstellungen nie ganz entsprechen können, andererseits; und schließlich das unprofessionelle Hin und Her bei den Anerkennungszahlungen, das viele von kirchlicher sexualisierter Gewalt Betroffene verletzt. Macht, Sexualität, Geld – drängende und anspruchsvolle Themen für eine, auch theologisch argumentierende, Anthropologie und für die Christliche Ethik. Statt ihnen in einer theoretisch anspruchsvollen Reflexion nachzugehen, fragt dieser Beitrag ganz praktisch nach einigen strukturellen Konsequenzen, die der im Herbst 2020 gestartete Synodale Weg der deutschen katholischen Kirche aus der Missbrauchskrise zu ziehen sucht – und zwar ausschließlich nach denjenigen Konsequenzen, die sich auf die Machtordnung der Kirche beziehen. Da die Synodalversammlung bisher noch keine Texte beschlossen hat, werden diese Konsequenzen anhand der Vorlagen dargestellt, die das Synodalforum I »Macht und Gewaltenteilung in der Kirche – Gemeinsame Teilnahme und Teilhabe am Sendungsauftrag« der Synodalversammlung bisher vorgelegt hat. Der Beitrag ist so gegliedert, dass zuerst (2.) das Problem knapp skizziert, dann (3.) die Grundidee des vorgeschlagenen Ansatzes zur Reform der kirchlichen Machtordnung dargestellt und (4.) die Umrisse der vorgeschlagenen Einzelmaßnahmen vorgestellt werden. Der Beitrag endet (5.) mit einer weiterführenden Bemerkung.

2 Johanna Beck, Im Anfang war die Missbrauchskrise, in: Bernhard S. Anuth, Georg Bier & Karsten Kreutzer (Hrsg.), Der Synodale Weg – eine Zwischenbilanz, Freiburg i. Br. – Basel – Wien 2021, 82–90, hier: 85.

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2 Grundlinien des Problems Die Missbrauchskrise ist Teil einer umfassenderen »Glaubwürdigkeitskrise der Kirche«3, die im Übrigen mit einem umfassenden Pluralisierungs- und Säkularisierungstrend der Gesellschaft interferiert. Entsprechend ist auch die Machtdimension der Missbrauchskrise als Teil einer umfassenden Legitimationskrise der kirchlichen Machtordnung zu begreifen. Bei der Machtdimension der Missbrauchskrise geht es neben der Machtkonzentration beim Klerus und der sakralen Überhöhung des Priesteramtes, die den Boden mit bereitete für brutale nackte Gewalt, vor allem um den unprofessionellen innerdiözesanen Absolutismus der Diözesanbischöfe. Letzterer schließt die vom Bischof ernannten und ihm gegenüber verantwortlichen Entscheidungsträger der jeweiligen Bistumsleitung mit ein. Wie der Bischof selbst sind – und noch ausgeprägter: waren – diese zumeist Kleriker, sodass sie sich den klerikalen Tätern gegenüber häufig männerbündisch solidarisch verbunden wussten. Schaut man auf die Missbrauchskrise als eine Problematik, die durch die Vertuschung von Straftaten und die klammheimliche Versetzung der Straftäter in andere Kontexte mit neuen (potenziellen) Opfern ihrer Gewalt zu einer Krise der Institution Kirche wurde, dann deckt sie neben der Solidarität der Kleriker vor allem Schwächen in den überkommenen Entscheidungsstrukturen deutscher Bistümer auf: starke Machtkonzentration bei einer Person oder bei einer sehr kleinen Gruppe leitender Kleriker, die in extremen Maße als sozial homogen (Geschlecht, Ausbildung, Alter, soziale Herkunft) zu kennzeichnen ist, Abschottung der Prozesse der organisationalen Meinungsbildung und Entscheidungsfindung von der Kirchen- und der allgemeinen Öffentlichkeit, völliger Ausfall von Kontrollmechanismen, Unprofessionalität sowie eine – vor allem bei Themen, die für »unangenehm« gehalten werden – erstaunlich hohe Bereitschaft, ohne Einbezug externen Sachverstands weitreichende Entscheidungen zu treffen. Das explosive Gemisch, das aus diesen Ingredienzen entsteht, haben unter anderem die Psychologen Peter Mosser und Gerhard Hackeschmied eindrücklich beschrieben. Sie haben die Art und Weise, wie mächtige Personen in der Hildesheimer Bistumsleitung (Bischof, Weihbischof, Generalvikar, einzelne Domkapitulare) den Fall eines Priesters behandelt haben, der zuerst als Jesuit 3 Synodalforum I, Vorlage zur Zweiten Lesung auf der Dritten Synodalversammlung für den Grundtext »Macht und Gewaltenteilung in der Kirche – Gemeinsame Teilnahme und Teilhabe am Sendungsauftrag«, Bonn 2021a, 3; dieser und die anderen im Folgenden zitierten Texte des Synodalen Weges sind online verfügbar unter: https://www.synodalerweg.de/doku­ mente-reden-und-beitraege (letzter Zugriff am 22.12.2021).

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und dann ausschließlich als Priester im Bistumsdienst jahrzehntelang Kinder und junge Frauen sexuell missbraucht hat, mit den folgenden Sätzen charakterisiert: »Im Umgang mit sexuellem Missbrauch finden wir in diesen Positionen zunächst überraschend anmutende Phänomene der Hilflosigkeit und Überforderung. Bei genauerer Betrachtung erscheint aber diese fachliche und handlungsbezogene Insuffizienz recht eigentlich begründet in der Organisationsstruktur des Systems Kirche: Diejenigen, die im Bistum die höchsten Positionen besetzen, sehen sich zugleich als diejenigen, die das Problem zu lösen haben. Es wird aber deutlich, dass sie das Problem ›sexueller Missbrauch‹ gar nicht lösen können, weil ihnen das fachliche Wissen, der reflexive Austausch, die kommunikative Praxis und die Bereitschaft zur externen Kooperation fehlen. Sie sind gefangen im Anspruch an die eigene Omnipotenz und lösen das Problem der Überforderung nach eigenem Gutdünken, jedoch vor dem Hintergrund der Vorgaben der Kongregation für die Glaubenslehre […]. Es wirkt so, als würde es die Organisationslogik der katholischen Kirche erforderlich machen, Verantwortung dadurch zu übernehmen, indem man Probleme alleine und ›von oben herab‹ löst.«4 Der Umstand, dass Untersuchungen der Finanzskandale in Limburg (2013: Explosion der Kosten und Lügen über deren Ausmaß beim Bau der bischöflichen Residenz) und Eichstätt (2018: problematische Investitionen in eine Reederei und in eine US-amerikanische Projektentwicklungsgesellschaft) ähnliche Schwächen diözesaner Entscheidungsstrukturen offengelegt haben5, verweist auf innerkirchliche Parallelen zwischen Geldfragen und solchen Problemlagen, bei denen es auch um Sexualität geht. In beiden Fällen scheinen die mit Macht ausgestatten Kleriker der Überzeugung zu sein, dass sich irgendjemand nun einmal mit diesen schwierigen – um nicht zu sagen: schmutzigen – Dingen beschäftigen muss und dass sie deshalb der Kirche einen wichtigen Dienst tun, wenn sie im Alleingang dafür sorgen, dass das Problem endlich vom Tisch kommt, sodass sich die anderen – wahlweise die Mitbrüder, die Seelsorger*innen oder alle Kirchenmitglieder – ungestört der Pastoral beziehungsweise der Arbeit am Reich Gottes widmen können. Aber in solchen Verhaltensweisen wird nicht 4

Peter Mosser & Gerhard Hackenschmied, Organisationsspezifische Risiken für sexualisierte Gewalt in der katholischen Kirche am Beispiel des Bistums Hildesheim, in: Julia Gebrande & Claudia Bowe-Traeger (Hrsg.), Machtmissbrauch in der katholischen Kirche. Aufarbeitung und Prävention sexualisierter Gewalt, Hildesheim – Zürich – New York 2019, 101–128, hier: 109. 5 Vgl. zusammenfassend: Emunds & Goertz 2020, 225–235.

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nur ein bei Klerikern an der Bistumsspitze anscheinend verbreiteter kirchenorganisatorischer Manichäismus deutlich. Vielmehr zeichnet sich auch ab, dass in beiden Entwicklungen, in der Missbrauchskrise und in den diözesanen Finanzskandalen der letzten Jahre, eine sehr viel umfassendere Krise der kirchlichen Machtordnung kulminiert, die zur Entfremdung vieler Katholik*innen von ihrer Kirche »bis in die Kreise hoch engagierter Kirchenmitglieder«6 hinein wesentlich beigetragen hat. Diese Entfremdung bezieht sich eben nicht nur auf bestimmte skandalöse Fehlentscheidungen und Fehlentwicklungen der letzten Jahre, sondern setzt breiter, bei den amtsmonistischen Strukturen der katholischen Kirche überhaupt an. Diese werden als autoritär empfunden und als Relikte aus vergangenen Zeiten, die zu den gängigen Standards demokratischer Staaten und heutiger Organisationen in deutlichem Widerspruch stehen.7 Dabei ist der »Frust« gerade der besonders engagierten Gläubigen über die Leitungsstrukturen ihrer Kirche keineswegs nur eine schlechte Stimmung an der Basis, die man mit einer professionellen Kommunikationsstrategie von oben schon wieder in den Griff bekommen könnte. Vielmehr ist dieser »Frust« gedeckt durch langjährige Erfahrungen, denen wiederum sozialwissenschaftliche Einsichten zum Thema Macht entsprechen. Aus sozialwissenschaftlicher Sicht zeigt sich nämlich einerseits »in Systemen, in denen Macht ohne Rechtfertigungsnotwendigkeit und ohne gewaltenteilende Kontrollmechanismen der Rechtsbindung ausgeübt wird, dass die Inhaber der Machtpositionen dazu neigen, sich durch ihr Amt korrumpieren zu lassen und die ihnen gegebene Vollmacht für partikulare Zwecke zu missbrauchen. […] Die Aufrechterhaltung der Machtstruktur ist dann zum wichtigsten Motiv des Handelns geworden«,8 was in der kirchlichen Missbrauchskrise vor allem im Vertuschen krimineller Handlungen greifbar wird. Andererseits kann als gesichertes Ergebnis sozialwissenschaftlicher Untersuchungen von Machtverhältnissen gelten: »Instrumente der Gewaltenteilung, der Rechtsbindung und Kontrolle sowie Verfahren der demokratischen Legitimation und Rechtfertigung gegenüber der Gemeinschaft, die man zu leiten beauftragt ist, beugen nicht nur Machtmissbrauch vor, sondern machen das Regieren auch intelligenter. Gewalten6 Synodalforum I 2021a, 4. 7 Vgl. Synodalforum I 2021a, 4 f.16 f. 8 Tine Stein, Legitimationskrise im Spätkatholizismus, in: Theologie und Glaube 111 (2021) 105–115, hier: 113.

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teilung, bei der funktionale Aufgabenbereiche auf mehrere Institutionen entsprechend der jeweiligen Kompetenzen verteilt werden, ist wie eine Form von moderner Arbeitsteilung, die effiziente Abläufe zulässt und angemessene sachliche Ergebnisse verspricht, als wenn eine Person alles machen können soll.«9 Insofern ist die Diagnose, dass es einer grundlegenden Änderung kirchlicher Machtstrukturen bedarf, überdeutlich. Zugleich jedoch ist ein solcher institutioneller Wandel aus der Perspektive traditioneller Richtungen der katholischen Ekklesiologie nicht möglich; denn im Konzept der »sacra potestas« (z. B. LG 10) verbinden sie die sakramentale Vollmacht (»Weihegewalt«) des Priesters oder Bischofs aufs engste mit einer uneingeschränkten Leitungsmacht (»Leitungs-« bzw. »Jurisdiktionsgewalt«). Im Sinne einer Letztverantwortung, die eine gewisse Delegation von Aufgaben nicht ausschließt, umfasst letztere – vor allem beim Diözesanbischof, weltkirchlich beim Papst – alle Kompetenzen der Legislative, der Exekutive und der Jurisdiktion. Entsprechend dieser Sichtweise kann die Kirche nur im dualen Schema eines aktiven Hirten und einer passiven Herde gedacht werden. Dieses Verständnis von Kirche prägt auch die entsprechenden Kompetenzregelungen des CIC von 1983, für den Sabine Demel festhält: »Auf allen Verfassungsebenen steht die Rechtsstellung des jeweiligen Vorsteheramtes so sehr im Mittelpunkt, dass die Pfarrei wie auch die Diözese und die Gesamtkirche als das ausschließliche Betätigungsfeld des jeweiligen Vorstehers erscheinen, während die anderen Gläubigen lediglich als Empfängerinnen und Empfänger der priesterlichen und bischöflichen Seel- bzw. Hirtensorge wirken.«10 Greifbar wird damit eine grundlegende Legitimationskrise der Kirche und der kirchlichen Machtordnung, die den Priestern, den Diözesanbischöfen und dem Papst jeweils auf ihrer Ebene möglichst umfassende Kompetenzen zu sichern sucht: Der Bedarf eines grundlegenden Wandels, der Einführung von checks and balances, von Foren der Beratung und Mitentscheidung der Gläubigen sowie der verpflichtenden Rechenschaft der Amtsträger vor ihnen, ist objektiv gegeben und wird im kirchlichen Leben von denen, die noch dabei geblieben sind, immer wieder erfahren. Zugleich jedoch schließen die herkömmliche 9 Stein 2021, 113 f. 10 Sabine Demel, Alle können mitwirken, niemand ist ausgeschlossen – nur eine schöne Theorie?, in: Marianne Heimbach-Steins, Gerhard Kruip & Saskia Wendel (Hrsg.), Kirche 2011. Ein notwendiger Aufbruch. Argumente zum Memorandum, Freiburg i. Br. – Basel – Wien 2011, 156–166, hier: 160.

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Amtstheologie und der Rechtsrahmen, den sich die Universalkirche auf deren Grundlage gegeben hat, einen solchen Wandel kategorisch aus. Der verordnete Stillstand angesichts eines enormen institutionellen Reformbedarfs untergräbt die Akzeptanz exakt jener Ämter, denen die überkommene Struktur der katholischen Kirche beinahe die gesamte innerkirchliche Macht zuweist, und damit die Akzeptanz der Kirche insgesamt bei ihren Gläubigen.

3 Die Grundidee des vorgeschlagenen Ansatzes einer Problembearbeitung Die im »Grundtext« ausführlich theologisch begründete11 Grundlinie des Synodalforums I besteht nun darin, die Kopplung von Weihe- und Leitungsgewalt zu lockern, ohne sie vollständig aufzulösen, um Platz zu schaffen für eigenständige Rechte jeweils anderer Personen als des Pfarrers beziehungsweise des Bischofs. Neben Leitungskompetenzen nicht-geweihter Hauptamtlicher geht es dabei vor allem um die Mitentscheidungs- und Kontrollchancen von Vertreter*innen der Gläubigen in der jeweiligen Pfarrei beziehungsweise Diözese. Dabei sollen die angezielten Rechte eigenständig sein, also nicht auf eine ad hoc-Delegation von Kompetenzen durch den jeweiligen Pfarrer oder Bischof zurückgehen, die dieser im Konfliktfall sofort wieder kassieren kann.12

11 Vgl. Synodalforum I 2021a, 6–18. 12 Vgl. Synodalforum I 2021a, u. a.: 12–16.20.22; vgl. auch: Synodalforum III, Vorlage zur Ersten Lesung auf der Zweiten Synodalversammlung für den Handlungstext »Leitung von Pfarreien, Gemeinden und pastoralen Räumen«, Bonn 2021. Zumindest auf der diözesanen Ebene (und auf höheren Ebenen) gibt es für Versuche, den Gläubigen (ohne Weihe) in synodalen Gremien Mitentscheidungsrechte zuzuweisen, enge Grenzen. Möglich ist dies nur durch Selbstbindung des jeweiligen Diözesanbischofs, also durch Entscheidungen des Bischofs, die dieser prinzipiell auch wieder revidieren kann. Abgesehen von der in vielen Fällen wohl eher theoretischen Möglichkeit, dass die Deutsche Bischofskonferenz vom Apostolischen Stuhl eine entsprechende Kompetenzzuweisung (gemäß can. 455 CIC) erhält, kann der Druck auf den einzelnen Diözesanbischof, sich entsprechend selbst zu binden und dies im Konfliktfall nicht in Frage zu stellen, lediglich durch eine einschlägige Musterordnung für den Bereich der Deutschen Bischofskonferenz etwas erhöht werden. Das Problem betrifft auch den Syno­dalen Weg selbst: Bei der Frage, ob den nicht-bischöflichen Mitgliedern der Synodal­ versammlung ein Recht zugestanden wurde, bei den behandelten wichtigen Kirchenfragen mitzuentscheiden, oder ob sie lediglich die Entscheidungen der Bischöfe mit vorbereiten dürfen, gehen die Meinungen weit auseinander: Vgl. auf der einen Seite: Jan-Heiner Tück, Gottes leidige Sekretariate, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12.11.2021, 11, und auf der anderen Seite: Bernhard Sven Arnuth, Ein »Gemeinsamer Weg-Weg«!? Kirchenrechtliche Per­ spektiven eines synodalen Experiments, in: ders., Georg Bier & Karsten Kreutzer (Hrsg.), Der

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Diese Reformlinie rechtfertigt das Synodalforum I vor allem auf zweifache Weise. Zum einen bezieht sie sich darauf, dass der katholischen Kirche neben dem hierarchischen Moment auch ein synodales Moment zu eigen ist, das sich in der Kirchengeschichte unter anderem in Konzilien, in den Entscheidungsstrukturen vieler Orden sowie – mit Blick auf die deutsche Kirche – im Verbandswesen zeigt. Dieses Moment sei zwischenzeitlich zurückgedrängt worden, könne und müsse nun aber wieder stärker gewichtet werden.13 Zum anderen wird auf die Notwendigkeit einer Inkulturation kirchlicher Organisationsstrukturen verwiesen. Katholische Christ*innen, die in Deutschland oder in einer anderen westlichen Gesellschaft leben, engagieren sich in staatlichen Institutionen und in gesellschaftlichen Organisationen und bringen sich dort in partizipative Prozesse ein, die »durch regelmäßige Wahlen und Gewaltenteilung, durch Rechenschaftspflicht, Kontrolle und Amtszeitbegrenzung, durch Beteiligung und Transparenz«14 sowie durch »verbriefte Rechte«15 der NichtAmtsträger gekennzeichnet sind. Mit vielen anderen leben sie zugleich auch Demokratie als Lebensform; in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft kommen die Bürger*innen »als Freie und Gleiche zusammen, lernen voneinander, hören auf die Erfahrungen und Argumente der Anderen und ringen gemeinsam nach guten Lösungen. […] Menschen, die einander so als Gleiche begegnen und in einer vitalen staatlichen Demokratie leben, erwarten dies auch in ihrer Kirche.«16

4 Drei Wege des Teilens und der Kontrolle von Macht Das Ziel der Reformen, für die das Synodalforum I die Zustimmung der Synodalversammlung zu gewinnen sucht, besteht nicht darin, in der Kirche Macht – verstanden als die Chance einer Person, im eigenen Interesse beziehungsweise den eigenen Vorstellungen entsprechend das Handeln anderer Menschen zu beeinflussen – zu verringern oder sogar zu verhindern. Vielmehr geht es darum, Synodale Weg – eine Zwischenbilanz, Freiburg i. Br. – Basel – Wien 2021, 47–66, besonders: 49–53; Norbert Lüdecke, Die Täuschung. Haben Katholiken die Kirche, die sie verdienen, Darmstadt 2021, 165–167. 13 Vgl. Synodalforum I 2021a, 7.16–18.20. 14 Synodalforum I 2021a, 16. 15 Ebd. 16 Synodalforum I 2021a, 17. Zum Leitgedanken einer Inkulturation der organisationalen Strukturen der Kirche vgl. Synodalforum I 2021a, 7 f. (mit Verweis auf GS 44) sowie Emunds & Goertz 2020, 39–45.

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Leitungskompetenzen auf mehrere Positionen zu verteilen und die Praxis der Leitung zu kontrollieren, konkreter: »im Sinne von »checks and balances« die auch bei kirchlichen Leitungsämtern unumgängliche Machtasymmetrie mit Transparenz- und Rechenschaftspflichten sowie mit synodalen Beratungs- und Mitentscheidungsrechten zu verbinden«17. Dabei hat das Synodalforum vor allem drei Wege des Teilens und der Kontrolle von Macht im Blick, die in mehreren Entwürfen für Handlungstexte des Synodalen Weges konkretisiert wurden beziehungsweise werden sollen.18 Erstens geht es um synodale Strukturen, die eine Mitwirkung der Gläubigen an der Leitung von Pfarreien, Diözesen und der deutschen Kirche insgesamt ermöglichen sollen. Ein erster Handlungstext sieht für alle Diözesen und alle Pfarreien die Schaffung synodaler Räte vor, in denen die Gläubigen gemeinsam mit dem Bischof beziehungsweise Pfarrer über Planungsfragen (pastorale Schwerpunkte, grundlegende Finanzfragen, zumindest diözesan auch Personalentwicklung) beraten und entscheiden. Diese synodalen Räte, die aus bestehenden Gremien weiterentwickelt werden können, werden durch den Bischof bzw. den Pfarrer sowie durch eine von den Mitgliedern gewählte Person gemeinsam geleitet.19 Da auch die Finanzskandale deutscher Diözesen in den letzten zehn Jahren der Glaubwürdigkeit der deutschen katholischen Kirche schweren Schaden zugefügt haben und die Transparenzoffensive des Verbands der deutschen Diözesen 2018/19 lediglich zu unverbindlichen Empfehlungen geführt hat,20 schlägt das Synodalforum I auch eine verbindliche Rahmenordnung für die diözesane Finanzverfassung vor.21 Neben der Einführung einer unabhängigen Finanzrevision setzt diese vor allem auf eine Weiterentwicklung des – von den Gläubigen indirekt gewählten – Diözesankirchensteuerrates zu einem Finanzrat, welcher dem synodalen Rat der Diözese zu- beziehungsweise nachgeordnet 17 Synodalforum I 2021a, 16. 18 Die Struktur dieser drei Wege findet sich auch im Grundtext: In Synodalforum I 2021a, 18 f., sind die Ausführungen dadurch gegliedert, dass drei Absätze jeweils mit der Formulierung »Für die katholische Kirche ist es wichtig, dass …« beginnen. Außerhalb dieses Schemas liegt neben dem Grundtext: Synodalforum I, Vorlage zur Ersten Lesung auf der Zweiten Synodalversammlung für den Handlungstext »Predigtordnung«, Bonn 2021b. 19 Synodalforum I, Vorlage zur Ersten Lesung auf der Zweiten Synodalversammlung für den Handlungstext »Gemeinsam beraten und entscheiden«, Bonn 2021c. 20 Ausführlicher dazu vgl. Emunds & Goertz 2020, 237 f. 21 Synodalforum I, Vorlage zur Ersten Lesung auf der Zweiten Synodalversammlung für den Handlungstext »Rahmenordnung für die Diözesanfinanzen«, Bonn 2021d. Aus Zeitgründen kam es bei der Zweiten Synodalversammlung im Herbst 2021 noch nicht zur Ersten Lesung dieses Textes. Die Rahmenordnung soll mithilfe einer zu beantragenden Kompetenzzuweisung gemäß can. 455 CIC verbindlich gemacht werden.

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werden soll. Der Finanzrat soll nicht nur das Budgetrecht für das Bistum, sondern für alle diözesanen Rechtsträger auch die im CIC vorgesehenen Mitentscheidungsrechte der Vermögensverwaltungsräte erhalten. Gegen die starken interdiözesanen Divergenzen bei der Bewertung von Aktiva und Passiva, aber auch zur Sicherung der Professionalität der Entscheidungsträger*innen und Berater*innen sowie zur Förderung des nachhaltig-ethischen Investments soll die Rahmenordnung Mindeststandards enthalten. Ein weiterer Handlungstext sieht zudem einen Synodalen Rat der katholischen Kirche in Deutschland vor, der für die überdiözesane Ebene wichtige Grundsatzentscheidungen über Finanz-, Organisations- und Pastoralfragen debattieren und fällen soll.22 Die Idee dieses Rates, der wohl an die Stelle der heutigen Gemeinsamen Konferenz von Bischofskonferenz und Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) treten, aber wesentlich mehr Kompetenzen erhalten würde, fand bei der Zweiten Synodalversammlung im Herbst 2021 prinzipiell Zustimmung. Auch wegen der genauen Aufgabenverteilung zwischen diesem neuen Rat, der Bischofskonferenz und dem ZdK gibt es hier aber noch viele offen Fragen zu seiner Ausgestaltung. Beim zweiten Weg des Teilens und der Kontrolle von Macht geht es um die Rechtsbindung der Amtsinhaber. Zwar sind unterhalb der Ebene des Papstes alle kirchlichen Entscheidungsträger an das universalkirchliche, vor allem im CIC gebündelte Kirchenrecht gebunden. Aber Diözesanbischöfe sind für ihre Bistümer jeweils auch die zuständigen partikularkirchlichen Gesetzgeber, können also im Konfliktfall die Bestimmungen des universalkirchlichen Rechts so für ihren eigenen Bereich konkretisieren, wie es ihnen zupasskommt.23 Aber nicht nur die Exekutive und die Legislative der Diözese unterstehen dem jeweiligen Bischof, sondern auch noch die Jurisdiktion. Deshalb hat es für Diözesane im Allgemeinen kaum Aussichten, sich vor kirchlichen Gerichten gegen Entscheidungen ihres Bischofs und seiner Verwaltung zu wehren. Prinzipiell haben sie zwar die Möglichkeit, sich beim Apostolischen Stuhl über diözesane Verwaltungsakte zu beschweren, aber aufgrund der aufwändigen, langwierigen Verfahren und durch einen eindeutigen bias pro Ortsbischof in der Rechtsprechung 22 Synodalforum I, Vorlage zur Ersten Lesung auf der Zweiten Synodalversammlung für den Handlungstext »Synodalität nachhaltig stärken: Ein Synodaler Rat für die katholische Kirche in Deutschland«, Bonn 2021e. 23 Verwiesen sei auf den Fall Tebartz-van Elst. Dieser hat einen ihm nicht genehmen Vermögensverwaltungsrat von Kontrollaufgaben bezüglich des Baus der bischöflichen Residenz in Limburg entbunden, in dem er ein neues Gremium schuf – eine Vorgehensweise, die in den kirchlichen Untersuchungen der Causa nicht moniert wurde. Vgl. dazu: Emunds & Goertz 2020, 214, und zum Folgenden: Emunds & Goertz 2020, 216.

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der zuletzt zuständigen Apostolischen Signatur ist dies nur ein ausgesprochen stumpfes Schwert. Last, but not least, die Einheit von Exekutive, Legislative und Jurisdiktion in der Hand des Papstes: Da es in der katholischen Kirche kein – mit den Verfassungen auf Seiten des Staates vergleichbares – grundlegenderes Recht gibt, das das normale Kirchenrecht und den Papst selbst binden könnte, kann der Papst zum Beispiel in Fragen der Ämtertheologie oder der Bioethik an alle Katholik*innen weitreichende Gehorsamsforderungen stellen, ohne dass er dabei an rechtliche Grenzen stoßen würde, mit denen die Freiheit und Partizipationsmöglichkeiten der Gläubigen gesichert würden. Für die Rechtsbindung aller kirchlichen Entscheidungsträger kommt dem Antrag der Deutschen Bischofskonferenz an den Apostolischen Stuhl, in Deutschland eine unabhängige, überdiözesane kirchliche Verwaltungsgerichtsbarkeit zuzulassen, grundlegende Bedeutung zu. Ergänzend schlägt das Synodalforum I vor, in den Bistümern zur Förderung der Rechtskultur weisungsunabhängige Beschwerdestellen und Schiedsstellen einzurichten.24 Außerdem soll zur Prävention von Machtmissbrauch eine Ombudsstelle aufgebaut werden, die für die deutsche Kirche insgesamt zuständig sein soll. Aufgabe dieser Stelle wäre es, den Machtmissbrauch in der Kirche zu erfassen und aufzuarbeiten sowie darüber öffentlich Bericht zu erstatten. Darüber hinaus soll sie Angebote der Beratung und Mediation sowie der Fortbildung entwickeln.25 Es ist davon auszugehen, dass das Synodalforum I noch eine Beschlussvorlage vorbereiten wird, in der für die universalkirchliche Ebene die Erarbeitung einer Lex Ecclesiae Fundamentalis vorgeschlagen wird, welche die grundlegenden Freiheits-, Gleichheits- und Partizipationsrechte der Gläubigen kodifiziert, den anderen Regelungen des kirchlichen Rechts vorordnet und sie damit gegen übergriffige Entscheidungen, Rechtsauslegungen und Gehorsamsforderungen kirchlicher Amtsträger stärken könnte. Mit Blick auf die Reform der kirchlichen Machtordnung geht es drittens um eine verstärkte Rückbindung des Diözesanbischofs an die Interessen und (Glaubens-)Vorstellungen der Gläubigen. Die einschlägigen Reformschritte zielen hier auch eine höhere Akzeptanz – sozialwissenschaftlich: Legitimation – des Bischofsamtes an: Die Macht eines Diözesanbischofs, also seine Chance, das 24 Synodalforum I, Vorlage zur Ersten Lesung auf der Zweiten Synodalversammlung für den Handlungstext »Rechtswegegarantie«, Bonn 2021 f. Aus Zeitgründen kam es bei der Zweiten Synodalversammlung im Herbst 2021 noch nicht zur Ersten Lesung dieses Textes. 25 Synodalforum I, Vorlage zur Ersten Lesung auf der Zweiten Synodalversammlung für den Handlungstext »Ombudsstelle zur Prävention und Aufarbeitung von Machtmissbrauch durch Verantwortliche in der Kirche«, Bonn 2021 g. Aus Zeitgründen kam es bei der Zweiten Synodalversammlung im Herbst 2021 noch nicht zur Ersten Lesung dieses Textes.

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Handeln anderer Menschen zu beeinflussen, würde durch solche Maßnahmen zwar gebunden, aber nicht verringert, sondern im Gegenteil gerade gestärkt. Dabei geht es zum einen darum, die Gläubigen einer Diözese an der Findung eines neuen Bischofs zu beteiligen. Tatsächlich räumt der CIC in can. 377 § 1 die Möglichkeit einer Beteiligung der Ortskirche an der Bischofsbestellung mittels Wahl ein. Im Unterschied zu fast allen anderen Ortskirchen wird diese in Rom offenbar wenig geliebte Möglichkeit in deutschsprachigen Gebieten durch Konkordate abgesichert. Allerdings ist es gemäß Konkordatsrecht jeweils nur das Domkapitel, das Kandidatenlisten an den Apostolischen Stuhl senden und, je nach Konkordat, gegebenenfalls darüber hinaus auch aus einer Dreierliste des Apostolischen Stuhls eine Person auswählen kann. Das Synodalforum I hat deshalb eine Beschlussvorlage erarbeitet, der zufolge die Gläubigen einer Diözese in Zukunft an diesen Entscheidungen des Domkapitels beteiligt werden sollen.26 Die Beteiligung der Gläubigen an der Bestimmung eines neuen Bischofs ist ein wichtiges Symbol dafür, dass Christ*innen ohne Weiheamt autonome Subjekte der Kirche und der kirchlichen Praxis sind und nicht nur unmündige Objekte pastoraler Betreuung. Hinzu kommt der bereits genannte positive Einfluss dieser Beteiligung auf die Akzeptanz des Bischofsamtes. Als Vertreter der Ortskirche würden im Prozess der Bischofsbestellung endlich nicht nur einige wenige Kleriker agieren. Da die aktuellen Chancen der deutschen Ortskirche, Konkordatsrecht in ihrem Sinne positiv zu verändern, als gering eingeschätzt werden, sind die Grenzen des kirchenrechtlich Möglichen allerdings sehr eng. Die Mitwirkung des Gläubigen soll deshalb durch ein vom Synodalen Rat der Diözese gewähltes kleines Gremium vermittelt werden, das bei den Entscheidungen im Findungsprozess mit dem Domkapitel vertraulich zusammenarbeitet. Zum anderen sollen gemäß einer Beschlussvorlage des Synodalforums I für Diözesanbischöfe und für Pfarrer Verfahren der Rechenschaftslegung und der Vertrauensklärung eingeführt werden.27 Hier geht es erst einmal darum, dass der jeweilige Amtsinhaber zu Beginn der Amtsperiode des synodalen Rats (des Bistums bzw. der Pfarrei) mit diesem gemeinsam Schwerpunkte und Strategien der pastoralen Arbeit, die dafür notwendigen organisatorischen Ver26 Synodalforum I, Vorlage zur Zweiten Lesung auf der Dritten Synodalversammlung für den Handlungstext »Einbeziehung der Gläubigen in die Bestellung des Diözesanbischofs«, Bonn 2021h. 27 Synodalforum I, Vorlage zur Ersten Lesung auf der Zweiten Synodalversammlung für den Handlungstext »Rahmenordnung für die Rechenschaftslegung«, Bonn 2021i. Aus Zeitgründen konnte die Erste Lesung dieses Textes bei der Zweiten Synodalversammlung im Herbst 2021 noch nicht abgeschlossen werden.

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änderungen und milestones der Verwirklichung entwickelt und beschließt; über deren Umsetzung soll der Amtsinhaber am Ende der Amtsperiode des Rates dann Rechenschaft ablegen. Vor dem Hintergrund »der grassierenden Vertrauenskrise«28, wie sie sich aktuell im Erzbistum Köln immer weiter zuspitzt, soll zudem ein Verfahren eingeführt werden, in dem geklärt wird, wie stark der Rückhalt des Amtsträgers bei den Gläubigen seines Bistums beziehungsweise seiner Pfarrei gegenwärtig ist. Im Anschluss an einen stark kritisierten Rechenschaftsbericht (Abschluss des bereits skizzierten Verfahrens der Rechenschaftslegung) oder auf Antrag des synodalen Rats beziehungsweise des Amtsinhabers selbst soll ein gegebenenfalls mehrstufiges Verfahren in Gang gesetzt werden, das unter anderem über extern moderierte Sitzungen ein Vertrauensvotum des synodalen Rats als offizieller Vertretung der Gläubigen ermöglichen soll. Gelingt dies nicht, stellt im Gegenteil der Rat mit Zwei-Drittel-Mehrheit auch in einer letzten Stufe fest, dass das Vertrauen nicht wiederhergestellt ist, dann soll dieses Votum »als Aufforderung an den Bischof, dem Papst seinen Rücktritt, resp. an den Pfarrer, dem Bischof seinen Rücktritt anzubieten«29, gelten. Zumindest für den Fall des Bischofs gilt, dass es nach der überkommenen Amtstheologie und gemäß den ihr entsprechenden kirchenrechtlichen Bestimmungen offenbleiben muss, ob er dieser Aufforderung wirklich nachkommt und ob der Papst das entsprechende Rücktrittsgesuch annimmt.

5 Weiterführende Bemerkung Zu einer Überwindung der Vertrauenskrise der katholischen Kirche in Deutschland, welche den gesellschaftlichen Bedeutungsverlust der Kirche allerdings nicht beenden, sondern lediglich verlangsamen könnte, wird es nur kommen: wenn es – wie hier angedeutet – zu einer grundlegenden Reform kirchlicher Machtstrukturen in Deutschland kommt, durch die diese »missbrauchsresistenter«30 werden; wenn diesen veränderten institutionellen Rahmenbedingungen auch eine Änderung der kirchlichen Organisationskultur31 und damit der kirch28 29 30 31

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Synodalforum I 2021i, 1. Synodalforum I 2021i, 3. Beck 2021, 83. Vgl. Ulrich Hemel, Kontroll-Illusion und Verantwortungsflucht oder nachholende Modernisierung? Ein organisationstheoretischer Blick auf die katholische Kirche, in: Bernhard S. Anuth, Georg Bier & Karsten Kreutzer (Hrsg.), Der Synodale Weg – eine Zwischenbilanz, Freiburg i. Br. – Basel – Wien 2021, 130–146.

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lichen Praxis entspricht; und wenn der Synodale Weg schließlich auch deutliche Voten an die Weltkirche für einen geschlechtergerechten Zugang zu den Weiheämtern, für eine Revision der überkommenen Sexuallehre und für eine Beendigung des obligatorischen Zölibats von Priestern beschließt. Gelingt ein solcher grundlegender Wandel, dann wäre dies zugleich auch ein Beitrag dazu, dass die Christ*innen selbst, vor allem aber die Kirche in ihrer offiziellen Lehre sowie die Amtsträger(*innen?) dieser Kirche zu einer veränderten Einstellung zu Macht, Sexualität und Geld finden.

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Zur Spiritualität des synodalen Weges Bernd Jochen Hilberath

»Alle reden vom Heiligen Geist – wir …« Wenn ich höre, wie im Kontext des Synodalen Weges der Heilige Geist beschworen wird, erinnere ich mich an einen Werbeslogan der Deutschen Bahn: »Alle reden vom Wetter – wir fahren.« Erfahren haben wir Bahnreisende, dass dies nicht durchweg zutrifft, zumindest was die Pünktlichkeit angeht. Noch unzuverlässiger scheint das mit dem Heiligen Geist auf dem Synodalen Weg zu sein. Die Fortsetzung des Slogans fällt schon verschieden aus, auch wenn darunter manche ganz entschieden tönen. Freilich: »Alle reden vom Heiligen Geist – wir haben ihn!« wagt dann doch niemand zu sagen, zumindest nicht laut in der Öffentlichkeit. Aber was das Hören auf den Heiligen Geist bedeutet beziehungsweise bedeuten würde, das fließt in manche beschwörende Rede mit ein, zum Beispiel: Krise, aber keine Konflikte; Synodalität, aber keine Demokratisierung und keinen Parlamentarismus; Einheit in der gemeinsamen Ausrichtung auf Gott. Für mich bedeutet die Verheißung in den Abschiedsreden Jesu nach dem Johannesevangelium Freisein von Ängstlichkeit, Offenheit für das Kommende und Vertrauen auf Wegeleitung: »Wenn aber jener kommt, der Geist der Wahrheit, wird er euch in die ganze Wahrheit führen […] und euch verkünden, was kommen wird« (Joh 16,13). Frei und offen zu sein, nicht alles für das Leben Wichtige immer schon zu wissen und allein bestimmen zu können, verlangt etwas, das als Spiritualität einzuüben und auszubilden ist. In der Spiritualität geht es um den Geist, der mein Menschsein bestimmt; insofern ist das Fragen danach, was eine vom Heiligen Geist bestimmte Spiritualität ist, zugleich ein Beitrag zu einer praktischen Anthropologie.

1 Der Heilige Geist und das Lehramt Wer die Anfänge der Kirche betrachtet, macht eine aufschlussreiche Entdeckung: Nachdem Jesus, ihr Meister, am Kreuz hingerichtet wurde, ziehen sich seine Jünger, gerade die, die zum engsten Nachfolgekreis zählten, voller Angst zurück. 360

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Der Auferstandene haucht wieder Leben in sie ein, er belebt sie mit dem Heiligen Geist (vgl. Joh 20,22). Ostern ist zugleich Pfingsten, Neuschöpfung, geistliche Beatmung und Wiederbelebung. Das können selbst die Zwölf und die Urapostel nicht selbst bewerkstelligen oder garantieren. Sie können es auch nicht ihren Gemeinschaften und Gemeinden einhauchen oder garantieren. Vielmehr nehmen sie wahr, wie der Heilige Geist seine Gaben schenkt, wie er seine Charismen an jede und jeden verteilt. Und auch diese sind nicht etwas, was Menschen für sich besitzen und behalten, was sie in einer privaten Frömmigkeit pflegen sollen. Wie Paulus in seinen Briefen an die Gemeinden hervorhebt, dienen die Gaben des Geistes zur Auferbauung der Gemeinschaft/Gemeinde, und dies geschieht nicht triumphalistisch-spektakulär, sondern im Zeichen des Gekreuzigten: »Jedem wird die Offenbarung des Geistes geschenkt, damit sie anderen nützt« (1 Kor 12,7). – »Wer prophetisch redet, baut die Gemeinde auf« (1 Kor 14,4b). Auch in den Gemeinden des Anfangs war nicht alles heile Welt. Es gab Auseinandersetzungen um das rechte Glauben und das geistgemäße ethische Verhalten. Zuständig für Klärungen und gegebenenfalls auch Verurteilungen waren einzelne »Amtsträger«, aber auch die Gemeinde als ganze, wie uns zum Beispiel der Vergleich von Mt 16 und Mt 18 lehrt. Zur Grundhaltung der Getauften als vom Geist Gesalbten gehört die Freiheit: »Denn ihr habt nicht einen Geist empfangen, der euch zu Sklaven macht, so dass ihr euch immer noch fürchten müsstet, sondern ihr habt den Geist empfangen, der euch zu Kindern Gottes macht, den Geist, in dem wir rufen: Abba, Vater!« (Röm 8,15). Zu dieser Freiheit aus heilendem-heiligem Geist gehört es, sich frei-willig in den Dienst zu stellen, sich aus freiem Willen jedem zum Untertanen zu machen, wie Martin Luther in seiner Freiheitsschrift von 1520 schreibt.1 Die Gemeinden wurden größer, die Kirche wuchs, die Auseinandersetzungen im Innern wie die Herausforderungen von außen nahmen zu. Nachdem das Christentum zur Staatsreligion aufgestiegen war, vermehrten sich die Diskussionen darüber, wer denn ein echter, ein vollkommener Christenmensch sei, wer als Pneumatiker ganz aus dem Geist, dem heiligen Pneuma, lebt und handelt. Letzteres spielte vor allem im Mönchtum und von diesem her eine Rolle; für die wahre, die orthodoxe Lehre wurden die Bischöfe und ihre Synoden zuständig. Während im Mönchtum um den Geist gerungen wurde, misstrauten die für die Lehre zuständigen Amtsträger zunehmend den Pneumatikern und 1 Vgl. Martin Luther, Von der Freiheit eines Christenmenschen [1520], in: D. Martin Luthers Werke = Weimarer Ausgabe, Abteilung 4, Teil 1, Bd. 7, Weimar 1897 (Nachdruck Stuttgart 2003), 12–38.

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Charismatikerinnen. Tertullian, der erste uns bekannte lateinische Theologe (aus Nordafrika!) schloss sich Anfang des 3. Jahrhunderts noch der charismatischen Gruppe der Montanisten mit ihren Prophetinnen (!) an und war der Überzeugung, dass der Heilige Geist nicht bei den Bischöfen sein könne, so wie diese lebten und handelten.2 Das änderte sich mit der weiteren Ausprägung und Verfestigung der Amtsstrukturen. Was für eine Kehrtwendung: War einst der Geist geschenkt worden, um die ängstlichen Jesusanhänger wiederzubeleben, so wurde nun das Leben der vom Geist bewegten Personen und Gruppierungen ängstlich beargwöhnt. Gewiss, solche Bewegungen konnten sich elitär verstehen oder Formen der Aszese entwickeln, die nicht mehr als »geistlich« (an-) zu erkennen waren. Insgesamt gesehen entwickelt sich eine Ekklesiologie und Ekklesiopraxis, auf die das Etikett der »Geistvergessenheit« weithin zutrifft, das die orthodoxe Theologie der Westkirche lange Zeit angehängt hat.3 Längst ist auch in der römisch-katholischen Kirche wieder häufiger vom (Heiligen) Geist die Rede, nicht nur in charismatischen Bewegungen und in der Theologie, sondern auch in lehramtlichen Reden und Schreiben. Freilich ist bis heute offen, wie in der offiziellen Lehre und Haltung der Kirche eine Ekklesiologie, die von den Charismen und der Geistbegabung aller Getauften ausgeht, mit der nach wie vor die Strukturen der Kommunikation und Entscheidung dominierenden hierarchischen Ekklesiologie zusammengehen kann. Die Auseinandersetzungen um den theologischen und kirchenrechtlichen Status des Synodalen Weges und um den Geist, der den Weg bestimmen soll, spiegeln die aktuelle gesamtkirchliche Situation, in der die Rezeption des Zweiten Vatikanischen Konzils noch immer nicht abgeschlossen ist beziehungsweise der Kampf der Ekklesiologien weitergeht.

2 Der Heilige Geist und die Demokratie Der mit der Moderation des synodalen Weges der Gesamtkirche beauftragte Kardinal Mario Grech behauptete jüngst in einem Interview (mit Roland Juchem von der KNA) auf die Frage der Unterscheidung der Geister auf dem synodalen Weg: 2 Vgl. Tertullian, De pudicitia, Kap. 21 = Über die Ehrbarkeit, in: ders., Apologetische, Dogmatische und Montanistische Schriften (Bibliothek der Kirchenväter; 1. Reihe, Bd. 24), Kempten – München 1915, 375–471, hier: 461–468. 3 Inzwischen wird auch von einer Geisteuphorie gesprochen; vgl. Christian Danz & Michael Murrmann-Kahl (Hrsg.), Zwischen Geistvergessenheit und Geistversessenheit. Perspektiven der Pneumatologie im 21. Jahrhundert (Dogmatik in der Moderne; Bd. 7), Tübingen 2014.

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»Wir haben es mit Heiligem zu tun, mit dem Heiligen Geist und dem, was er der Kirche heute sagen will. Und dann gibt es in der Kirche Petrus – also das Papstamt. Das kann uns sagen, ob unsere geistliche Unterscheidung richtig liegt oder nicht.«4 Treffender kann das Dilemma angesichts der beiden ekklesiologischen Ansätze nicht ins Wort gebracht werden. Der Papst entscheidet darüber, ob die Kirche den Heiligen Geist richtig verstanden hat. Als Papst Johannes XXIII. das Konzil ankündigte, waren nicht wenige in der Kurie überrascht: Wenn der Papst unfehlbar ist, braucht es doch kein Konzil mehr. Wenn schon, dann lassen wir die Bischöfe über das noch nicht offiziell als Lehre Verabschiedete abstimmen, schicken sie wieder nach Hause und üben unsere Vollmacht quasi in Partizipation am unfehlbaren Lehramt aus. Der Argwohn gegenüber den Laien, also den Nicht-Ordinierten, bestimmt nach wie vor die Haltung vieler, die durch die Weihe (Ordination) Mitglied des hierarchischen Amtssystems geworden sind. In ihm dominiert noch immer die Auffassung, dass die Laien in Gefahr sind, dem Zeitgeist zu verfallen; dass sie theologisch ungebildet sind – was zumeist bedeutet: sie kennen die Lehre der Kirche nicht so, wie wir sie kennen und bewahren müssen; sie lassen sich aufwiegeln gegen Autorität und Obrigkeit; sie verwechseln Kirche und Welt. Dass die Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute ausdrücklich erklärt, dass nicht nur die Welt etwas von der Kirche lernen kann, sondern auch umgekehrt die Kirche von der Welt,5 das scheint in Vergessenheit geraten zu sein oder die Intentionen zu stören. Was Demokratie ist, könnte nämlich von der »Welt« gelernt werden. Das würde freilich zur Folge haben, dass die Vorurteile gegenüber einer Demokratisierung auch in der Kirche korrigiert werden müssten. Diesbezüglich fallen manche Schüler in ihrer theologischen Argumentation hinter ihren Lehrer zurück, konkret: hinter Karl Lehmann und seinen einschlägigen Beitrag, der vor 50 Jahren in der Zeitschrift »Concilium« (7 [1971] 171–181) erschienen ist:

4 Roland Juchem (KNA), Kardinal Grech: Würde zum Synodalen Weg nach Deutschland kommen. Interview mit dem Generalsekretär der Bischofssynode vom 12.03.2021, online verfügbar unter: https://www.katholisch.de/artikel/29052-kardinal-grech-wuerde-zum-synodalenweg-nach-deutschland-kommen (letzter Zugriff am 13.12.2021). 5 Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Pastoralkonstitution »Gaudium et spes« über die Kirche in der Welt von heute vom 07.12.1965, Art. 43 und 44.

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»Zumeist wird das Demokratisierungspostulat durch die Berufung auf grundlegende dogmatische und rechtliche Strukturen der Kirche zurückgewiesen. Im Gegensatz dazu wird in diesem systematischen Beitrag positiv nach den Möglichkeiten und Grenzen dieser Forderung gefragt.«6 Lehmann unterscheidet zwischen formalem und materialem Demokratieverständnis. Das formale reiche zwar nicht aus, aber solle auch nicht voreilig kritisiert werden, denn: »Um keiner partikularer materieller Werte will[en] darf das ›ethische Fundament‹ der Demokratie (z. B. Freiheit, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit, Mehrheitsprinzip) preisgegeben werden. In diesem formalen Ethos liegt im Zeitalter eines unwiderruflichen weltanschaulichen Pluralismus ein unübersehbarer Schutz vor offenen oder versteckten totalitären Ansprüchen.«7 Der Demokratie liegt also ein eigenes Wertefundament zugrunde, über das – um den berühmt gewordenen Satz von Ernst-Wolfgang Böckenförde abermals zu erinnern – eine demokratische Gesellschaft nicht abstimmen kann, ohne sich selbst aufzulösen.8 Lehmann übernimmt die Rede von der Demokratie als Lebensform und Stil und unterstreicht: »In diesem Sinne ist Demokratie als politische Wirklichkeit auf anthropologisch-ethische Voraussetzungen (z. B. Achtung der Menschenwürde, Solidarität, Partnerschaft, Freiheit usw.) angewiesen.«9 Deshalb ergibt sich als selbstverständlich, dass es »im Grundwesen der Kirche tragende Elemente [gibt], die mit dem Ethos der Demokratie als Lebensform Berührungen aufweisen. Die Freiheit der Kinder Gottes, das gemeinsame Priestertum, die Geistverleihung an alle (Charismen), der Glaubenssinn der Gläubigen, die fundamentale Gleichheit der Christen, die gleiche Würde des christlichen Namens und andere Momente begründen diese Grundstruktur«10.

6 Karl Lehmann, Zur dogmatischen Legitimation einer Demokratisierung der Kirche, in: Concilium 7 (1971) 171–181, hier: 171 (Hervorhebung im Original). 7 Ebd. 8 Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: ders., Recht, Staat, Freiheit (suhrkamp taschenbuch wissenschaft; Bd. 914), Frankfurt a. M. 1991, 92–114, hier: 112. 9 Lehmann 1971, 173. 10 Ebd.

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Lehmann stimmt mit Papst Franziskus darin überein, dass dieser Lebensform in der Kirche eine Spiritualität zugrundeliegt, aber er warnt zugleich: »Diese darf beileibe nicht ›spiritualistisch‹ verkürzt« und »nur in eine weltlose ›Gesinnung‹« verlagert werden.11 »Man braucht dies noch nicht einmal in einer falschen, spiritualistischen Innerlichkeit zu tun. Es gibt ja auch einen geistig-seelsorgerlichen Stil von ›Brüderlichkeit‹, der diese Bruderschaft zutiefst verletzt, […]. Hier ist der kritische Punkt: ›Brüderlichkeit‹, die nur moralische Devise und Appell meist nur für den anderen bleibt, aber nicht zu neuen Formen findet, bleibt zutiefst zweideutig.«12 Das sollten die Verantwortlichen schließlich auch bedenken: »Die Weigerung vieler Hierarchen (nicht nur in der Kirche), […] immer wieder nur an die Gesinnung zu appellieren, reizt alle Forderer der »Demokratisierung« dazu, eine solche Aufforderung nur als Beschwörung des Untertanen-»Geistes« zu verstehen«13 und selbst dann das Fundament der Demokratie als Lebensform aus dem Blick zu verlieren. So kommt Lehmann zu dem Schluss: »Durchdenkt man dieses Grundverhältnis [von Gemeinde und Amt], dann kann man sich eigentlich nur wundern, warum es in der Kirche so wenig ›demokratische Strukturen‹ in dem erläuterten Sinn gibt. Warum ist nicht vieles in Stil und Formen der Kirche ganz selbstverständlich ›demokratisch‹? […] Die Schärfe, mit der das Postulat oft eingeklagt wird [vor 50 Jahren wohl mehr als heute], und der Eigensinn, mit dem es nicht selten [und aktuell verstärkt] ebenso pauschal abgelehnt wird, verraten etwas von dem fast schon pathologischen Befund im Blick auf Amtsfragen in der Kirche, und zwar an allen Fronten.«14

3 Der Heilige Geist auf dem synodalen Weg Auf welche Erfahrungen stützen sich Befürworter, auf welche Gegner einer Demokratisierung der Kirche? Die Entwicklungen in den demokratischen Gesellschaften werden doch in der Regel gelobt, ebenso die friedliche Revo11 12 13 14

Lehmann 1971, 173. Lehmann 1971, 174 (Hervorhebung im Original). Lehmann 1971, 174 f. Lehmann 1971, 179.

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lution auf deutschem Boden. Braucht es Erfahrungen »mittendrin«, muss ich also in einer demokratischen Gesellschaft gelebt, gearbeitet, politisch agiert haben, um ein positives, wenn auch kritisches Verständnis von Demokratie zu entwickeln? Muss ich von meiner Persönlichkeitsstruktur her jemand sein, der Mehrheiten nicht fürchtet, weil ich nicht das Gefühl habe, darin nicht zum Zug zu kommen, mich nicht äußern und überzeugen zu können? Das sind für mich offene Fragen, die sich freilich aufdrängen, wenn ich die innerkirchlichen Akteure beobachte – damals wie heute. Im Kontext des Synodalen Weges taucht erneut die grobe Alternative auf, wenn von vatikanischer Seite (und einzelnen Bischöfen hierzulande) Synodalität und Demokratie gegeneinandergestellt werden. In seinem »Brief an das pilgernde Volk Gottes in Deutschland« schreibt Papst Franziskus noch wie selbstverständlich davon, dass »die synodale Sichtweise […] weder Gegensätze oder Verwirrungen auf[hebt], noch werden durch sie Konflikte den Beschlüssen eines ›guten Konsenses‹, die den Glauben kompromittieren, den Ergebnissen von Volkszählungen oder Erhebungen, die sich zu diesem oder jenem Thema ergeben, untergeordnet«.15 In seiner Weihnachtsansprache vor der Römischen Kurie am 21. Dezember 2020 spricht der Papst dann von der Unverträglichkeit, ja geradezu Gegnerschaft von synodalem Weg und demokratischer Versammlung.16 Habe ich zu viel erträumt, als der römische Bischof »vom anderen Ende der Welt« in seiner Rede zum 50-jährigen Bestehen der römischen Bischofssynode (17. Oktober 2015) von der Synonymität von Synode und Kirche sprach?17 Welche Erfahrung hat der Papst aus Buenos Aires mit Demokratie(n)? Oder haben ihn deutsche Mitbrüder um eine klare Abgrenzung und einseitige Gefahrenmeldung gebeten? Oder will er seine Gegner in der Kurie und der Umlaufbahn des Vati15 Papst Franziskus, Schreiben an das pilgernde Volk Gottes in Deutschland vom 29.06.2019, Nr. 11, online verfügbar unter: w2.vatican.va/content/francesco/de/letters/2019/documents/ papa-francesco_20190629_lettera-fedeligermania.html (letzter Zugriff am 13.12.2021). 16 Vgl. Papst Franziskus, Ansprache beim Weihnachtsempfang für die Römische Kurie, 21.12.2020, online verfügbar unter: vaticannews.va/de/papst/news/2020-12/wortlaut-papst-franziskusweihnachtsempfang-roemische-kurie-2020.html (letzter Zugriff am 13.12.2021). 17 Vgl. Papst Franziskus, Discorso alla commemorazione del 50 ° anniversario dell’istituzione del Sinodo dei Vescovi, 17.10.2015, online verfügbar unter: w2.vatican.va/content/francesco/ it/speeches/2015/october/documents/papa-francesco_20151017_50-anniversario-sinodo.html (letzter Zugriff am 13.12.2021), unter Berufung auf Johannes Chrysostomos, Explicatio in Ps. 149 = Patrologiae Cursus Completus, Series Graeca, Bd. 55, Paris 1862, 493.

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kans beruhigen? Dabei finde ich es theologisch zutreffend, den Heiligen Geist als spiritus rector des synodalen Weges herauszustellen. Aber stimmt die folgende Gegenüberstellung: »Schließlich möchte ich euch dringend bitten, eine Krise nicht mit einem Konflikt zu verwechseln. Das sind zwei verschiedene Dinge. Die Krise hat im Allgemeinen einen positiven Ausgang, während ein Konflikt immer Auseinandersetzung, Wettstreit und einen scheinbar unlösbaren Antagonismus hervorbringt, bei dem die Menschen in liebenswerte Freunde und zu bekämpfende Feinde eingeteilt werden, wobei am Schluss nur eine der Parteien als Siegerin hervorgehen kann.«18 Hier stehen sich, so fährt Franziskus fort, zwei Logiken gegenüber: »Interpretiert man die Kirche nach den Kategorien des Konflikts – rechts und links, progressiv und traditionalistisch – fragmentiert, polarisiert, pervertiert und verrät man ihr wahres Wesen.«19 Das sei »so weit von dem Reichtum und der Pluralität entfernt […], die der Geist seiner Kirche geschenkt hat«20. Synodalität sei etwas anderes als Demokratie: »Ohne die Gnade des Heiligen Geistes, selbst wenn man beginnt, die Kirche synodal zu denken, wird sie sich, anstatt sich auf die Gemeinschaft mit der Präsenz des Heiligen Geistes zu beziehen, als eine beliebige demokratische Versammlung verstehen, die sich aus Mehrheiten und Minderheiten zusammensetzt. Wie ein Parlament, beispielsweise: Das ist nicht Synodalität. Allein die Gegenwart des Heiligen Geistes macht den Unterschied.«21 Wird Konflikt hier nicht zu einseitig beschrieben? Konflikte, das Aufeinandertreffen und Miteinanderringen unterschiedlicher Anliegen, Interessen oder Prioritäten, sind nun mal da, wo Menschen zusammenkommen. Es ist die Frage, wie mit diesen umgegangen wird, wie sie bewältigt oder ausgehalten werden. In der Gemeinschaft der Glaubenden sind ernstzunehmende Konflikte Ausdruck eines Ringens um die Deutung der Zeichen der Zeit im Licht des Evangeliums. Unterschiedliche, ja gegensätzliche Positionen sind ernst zu nehmen, aufeinander zu beziehen, auszuhalten auf einem Weg ohne faule Kompromisse und ohne eine realitätsfremde Einheitsideologie. Die gegenwärtige Krise der 18 Papst Franziskus 2020, Nr. 7. 19 Papst Franziskus 2020, Nr. 8. 20 Ebd. 21 Ebd.

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Kirche bringt Konflikte mit sich, ein Miteinanderstreiten (con-fligere) im Engagement für die gemeinsame »Sache« des Evangeliums. Hat eine demokratische Versammlung eine völlig andere Logik? Es wird entscheidend darauf ankommen, den Heiligen Geist nicht nur zu beschwören, sondern zu konkretisieren, wie alle auf dem Weg miteinander auf den Geist hören können. Jede und jeder ist ernst zu nehmen in seinem/ihrem Hören auf den Geist. Freilich: Wie schon Paulus schreibt, dient jede Geistesgabe der Auferbauung der Gemeinde. Dann ist also der pneumato-logisch zweite Schritt das Hören aufeinander, das Sich-Austauschen/Ermuntern/Korrigieren und das gemeinsame Ringen um das, was der Geist sagen will. Ein notwendiger dritter Schritt schließt sich an: Es werden nicht alle sich in einem Konsens, auch nicht in einem differenzierenden Konsens zusammenfinden. Was sagt uns dann der Geist, wie wir Einheit bewahren können, also zusammenbleiben können auch mit unseren unterschiedlichen Diagnosen und Therapien? Den biblischen Erfahrungen des Geistes würde es widersprechen, wenn die Bewahrung der Einheit darin bestehen müsste, dass alle in allem dem Lehramt folgen, auf »Nummer sicher« gehen und die Tradition einfach fortschreiben, warten, bis die ganze Weltkirche dem folgt, was in einer Ortskirche jetzt schon als vom Geist geboten erscheint. Die offizielle Ekklesiologie muss Abschied nehmen von der Gegenüberstellung von hierarchischer Ekklesiologie und der Ekklesiologie der Communio/des Volkes Gottes. Die durch Ordination übertragenen Ämter sind hierarchisch geordnet, aber die Kirche als Ganze ist kein hierarchisches System – theologisch gesehen, wenn auch bis heute de facto. Die Vorgabe des Zweiten Vatikanischen Konzils ist klar: Ekklesiologischer Konstruktionspunkt ist die Volk-Gottes-Theologie des zweiten Kapitels der dogmatischen Konstitution über die Kirche »Lumen gentium«. Die hierarchische Ordnung der Ämter ist darin und nicht darüber zu verorten.22 In unserer Gesellschaft sind Menschen gewohnt, selbst und mit zu entscheiden, Verantwortung zu übernehmen, sich selbst ein Urteil zu bilden, Gehorsam nur als frei gewählten und reziprok geltenden zu kennen. Das sind einige elementare Bestandteile unseres Menschenbildes. Deshalb können immer weniger Zeitgenossen akzeptieren, dass in der (römisch-katholischen) Kirche ein anderes Menschenbild normativ sein soll. Damit stürzt die Kirche nicht ein, schon eher das Welt- und Menschenbild von Mitchristen sowohl an der Basis wie im Klerus. Da treffe ich dann auf das Vorurteil, als wollten die Laien auf dem synoda22 Vgl. meinen jüngsten Beitrag zum Thema: Bernd Jochen Hilberath, Das priesterliche Dienstamt. Eine systematisch-theologische Perspektive, in: Regina Meyer & Bernward Schmidt (Hrsg.), Priesterliche Identität? Erwartungen im Widerstreit, Münster 2021, 57–70.

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len Weg über alles abstimmen. Ich kenne keinen ernstzunehmenden Mitchristen, der über das Glaubensbekenntnis oder gar das Evangelium abstimmen wollte. Wohl aber kenne ich Mitchristen, selbst in hochrangigen Positionen, die dies unterstellen und dabei unter »Glaubensbekenntnis« Lehren subsumieren, die nicht an der Spitze der »Hierarchie der Wahrheiten«23 stehen und die (nicht vor dem Zeitgeist, sondern) angesichts der »Zeichen der Zeit« erneut am Evangelium und am Wandel der kirchlichen Lehre zu überprüfen sind. Nach wie vor vertraue ich darauf, dass Papst Franziskus mit allen auf dem Weg sein will und in diesem »Pilgern« mit allen auf das hören will, »was der Geist den Gemeinden [!] sagt«, wie es in den Sendschreiben der Geheimen Offenbarung (Offb 2 und 3) heißt. In seiner Grußadresse zur Eröffnung der Bischofssynode 2014 spricht Franziskus »Klartext«: »Nach dem letzten Konsistorium (Februar 2014), bei dem über die Familie gesprochen wurde, hat mir ein Kardinal geschrieben: ›Schade, dass einige Kardinäle aus Respekt vor dem Papst nicht den Mut gehabt haben, gewisse Dinge zu sagen, weil sie meinten, dass der Papst vielleicht anders denken könnte.‹ Das ist nicht in Ordnung, das ist keine Synodalität, weil man alles sagen soll, wozu man sich im Herrn zu sprechen gedrängt fühlt: ohne menschliche Rücksichten, ohne Furcht! Und zugleich soll man in Demut zuhören und offenen Herzens annehmen, was die Brüder [und Schwestern] sagen. Mit diesen beiden Geisteshaltungen üben wir die Synodalität aus.«24

23 Zweites Vatikanisches Konzil, Dekret »Unitatis redintegratio« über den Ökumenismus vom 21.11.1964, Art. 11. 24 Papst Franziskus, Grußadresse zur Eröffnung der Bischofssynode, 06.10.2014, online verfügbar unter: https://www.vatican.va/content/francesco/de/speeches/2014/october/documents/ papa-francesco_20141006_padri-sinodali.html, hier zitiert nach: dbk.de/presse/aktuelles/ meldung/grussadresse-von-papst-franziskus-zur-eroeffnung der bischofssynode (online nicht mehr verfügbar; Zusatz in eckigen Klammern von B. J. H., entspricht der anfänglichen Anrede des Papstes »Liebe Brüder und Schwestern« – sollen die »Brüder« besonders ermahnt werden?).

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Mensch werden mit Gott und der Kirche? Godehard König

Menschwerdung: Das ist ein Prozess, den ich an mir selbst, den Kindern und Enkeln, den mir anvertrauten Menschen in der Gemeinde und früher im Beruf auf unterschiedlichste Art erleben durfte. Verschiedenste wissenschaftliche Ansätze aus der Pädagogik, der Theologie, der Psychologie sind mir bekannt und bekannt sind mir auch Menschen, die diesen oft sehr gegensätzlichen Ansätzen folgen. Auch und besonders in der Zusammenarbeit mit Klaus Kießling habe ich neue hilfreiche Antworten darauf erfahren dürfen, wie menschliches Leben gelingen kann. Ganz wesentlich aber hat mich in den letzten Jahren die geistliche Begleitung von Menschen inner- und außerhalb ignatianischer Exerzitien geprägt. Ich erlebte und erlebe Menschen, die an ihrem Menschsein im Verhältnis zu Gott und zur Kirche zweifelten, unglücklich und voller Fragen waren. Schon allein damit konfrontiert zu werden, dass Gott mein Schöpfer sein könnte, überforderte. Wer bin denn dann ich? Wo ist denn Gott? Und dann kommt noch die Kirche ins Spiel und will mir sagen, wer Gott ist, wie ich zu leben habe und wer ich bin? Ich erlebte und erlebe aber ebenso gelungene und unbelastete Wege der Menschwerdung in der Begegnung mit Gott. Menschen, die frei und unbelastet ihren Lebensweg gehen und sich in Exerzitien neue Kraft suchten. Welche Rollen spielen die Gottesbeziehung und dann die Kirche auf dem Weg zur Menschwerdung? Mit dem Blick auf die Kirche und die Bibel werde ich versuchen, dieser Frage nachzugehen.

1 Kirche in der Nachfolge Jesu – und wie ich sie erlebe Was erlebe ich, wie erlebe ich die gegenwärtige Situation in den Gemeinden, bei den Menschen, denen ich begegne? Es sind meine sehr subjektiven Eindrücke aus einem zugegebenermaßen kleinen Ausschnitt von kirchlicher Wirklichkeit. Ich sehe und erlebe in vielen Gesprächen mit Menschen bei Tauf-, Trau- und Trauergesprächen, aber auch am Rande von Sitzungen der Kirchengemeinderäte oder nach Gottesdiensten, dass nicht erst seit der Missbrauchsaffäre die Institu370

Godehard König

tion Kirche, speziell in Deutschland, aber auch weltweit, mit der Frage konfrontiert wird: Was eigentlich ist der Auftrag der Kirche, mit welcher Berechtigung nimmt sie gesellschaftliche (Macht-)Positionen ein? Ich lese in vielen Leserbriefen in unterschiedlichen Zeitungen, dass die Frage nach der Trennung von Kirche und Staat, besonders aus den Reihen der Humanistischen Union, aber nicht nur von dort her vehement artikuliert wird. Dabei wird schnell deutlich, dass es um mehr geht als die Klärung der Skandale und den Umgang mit ihnen. Es geht um die Frage nach der Legitimität eines moralischen, ethischen oder religiösen Machtanspruchs. Ich sehe nicht erst heute die Problembereiche, die immer drängender auftauchen: Zölibat, Ämter, Rolle der Frauen in der Kirche, Rolle der Kirche und der Religion in der Gesellschaft, Strukturen in der Kirche. Ich sehe die rasante Austrittswelle aus den Kirchen in Deutschland. Diese Welle erfasst auch kleinere Gemeinden, in denen ich Diakon bin. Ich erlebe die Resignation der Menschen in vielen Gemeinden. Und erlebe dabei sehr deutlich das Thema Macht, verbunden mit der Frage: »Was können wir denn schon tun?« Das Bewusstsein, Pastoral und Kirche mitgestalten zu können, ist fast gegen Null gesunken. Die Menschen spüren, dass sie zwar auf kleinen Räumen, sozusagen auf »Spielwiesen« tätig sein können, wenn es aber um entscheidende Fragen geht, sind sie nicht unbedingt gefragt. Immer hängt das mögliche Veto eines Pfarrers in der Luft. Man ist gefragt bei Festen, beim Bauen, vielleicht noch bei der Gestaltung von Gottesdiensten, aber nicht wirklich bei der Frage, wie die Pastoral gestaltet werden soll. Ich erlebe, dass drängende Probleme, die die Jugend beim Klimaschutz auf die Straße treiben, im kirchlichen, im gemeindlichen Umfeld mehr oder weniger keine Rolle spielen, obwohl wir schon seit Jahrhunderten zum Beispiel in der Öschprozession eine anschlussfähige Idee für die »Friday for future«-Generation haben. Gleiches gilt für die Flüchtlingsund viele andere Fragen. Ich erlebe damit, zumindest in meinem vielleicht unbedeutendem Umfeld, aber auch bei mir selbst, ein Eingerichtet-Sein im kirchlichen Wohlfühlraum. Ich erlebe und sehe, dass all das sehr wohl auch in »höheren« kirchlichen Gremien wahrgenommen wird. Und ich frage mich, wie wird all das beurteilt, wie sehen mögliche Handlungen aus? Ȥ Burkard Hose, Hochschulpfarrer in Würzburg und Diözesanleiter des Katholischen Bibelwerks, fasst seine Antwort im Artikel »So soll es sein!«, in dem es um den Macht-Anspruch Jesu im Kirche-Sein geht, wie folgt zusammen: »In der Situation, in der der Machtmissbrauch der Kirche öffentlich wird, erscheint eine Rückkehr zu den neutestamentlichen Wurzeln und Rückbesinnung auf die Macht Jesu und der frühen Gemeinden nötig: Jesu Lehre Mensch werden mit Gott und der Kirche?

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in Vollmacht und sein heilendes und befreiendes Handeln fasziniert Menschen und zieht sie an. Die ersten Gemeinden haben nach Jesu Vorbild Statusunterschiede zwischen Menschen nivelliert. Das älteste Lied im Neuen Testament schlägt sogar den Weg des radikalen Machtverzichts vor.«1 Ȥ Heinz Blatz, Neutestamentler an der Theologischen Fakultät Paderborn, wendet sich dem Gegenbild zu, welches die markinische Kirche dem römischen Imperium gegenüber darstellte, und fasst zusammen: »Das Markusevangelium präsentiert ein Gegenbild zur unterdrückenden römischen Macht [… und] zeigt dabei die dienende Macht Jesu. Diese ist lebensfördernd und befreiend, sie wird an die Jesus-Nachfolgenden weitergegeben und soll zu einem gelingenden Leben beitragen.«2 Ȥ Michael Theobald, emeritierter Neutestamentler an der Universität Tübingen, sieht den Konflikt von Apostolizität und Macht, der heute heftig entbrannt ist, aus neutestamentlicher Sicht und fasst zusammen: »Mit dem Konzept der Apostolizität wird noch auf dem 2. Vatikanischen Konzil die rein männliche Amtsnachfolge begründet. Im Neuen Testament wird der Apostelbegriff jedoch sehr breit verwendet: Er wird Männern und Frauen zugedacht […]. Weiterhin geben die Schriften Zeugnis von der Beteiligung von Frauen bei Leitung und Aufbau der Kirche. Selbst die Pastoralbriefe machen weibliche Ämter wie die Gemeindewitwe oder Diakonin sichtbar. Aber ihr Interesse dient vor allem der Anpassung der kirchlichen Strukturen an die umgebende Gesellschaft, um allen Menschen Zugang zur Botschaft zu erlauben.«3 Ȥ Angelika Berlejung, Alttestamentlerin an der Universität Leipzig, sieht »Machtstrukturen im Wandel« und fasst zusammen: »Machtstrukturen ändern sich in Krisen und suchen nach Deutungen für die Vergangenheit und Alternativkonzepten für die Gegenwart und 1 Burkhard Hose, So soll es sein! … Kirche unter dem Machtanspruch Jesu, in: Bibel und Kirche 74 (2019) 69–75, hier: 75. 2 Heinz Blatz, Worte voll Macht gegen die Macht des Imperators. Das Markusevangelium im Kontext des Römischen Reiches in: Bibel und Kirche 74 (2019) 76–83, hier: 81. 3 Michael Theobald, Apostolizität und Macht. Ein Konflikt aus neutestamentlicher Sicht in: Bibel und Kirche 74 (2019) 84–94, hier: 93.

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Zukunft. Dies spiegelt sich insbesondere in den Texten des Alten Testamentes, die nach der Zerstörung des Tempels in Jerusalem verfasst wurden. Es zeigt sich, dass das Alte Testament allzu großer menschlicher Machtfülle skeptisch gegenüber ist und Utopien entwickelt, die anthropologische und theologische Konzepte in den Vordergrund stellen.«4 Ein Blick auf die biblische Botschaft lohnt sich, um neue Wege für den Glauben und ein Leben mit Gott zu entdecken, die weiterführen, die anthropologisch und theologisch der Institution Kirche helfen, innezuhalten und voller Freude nach vorne blicken zu können, denn Gott geht mit. Es gilt, ihn, seine Liebe, zu erkennen, aus ihr heraus zu leben und zu lieben. Für mich sind dabei im Laufe meiner Exerzitienarbeit die folgenden Texte wegweisend geworden.

2 Menschwerdung in Gottes Schöpfung 2.1 Menschwerdung – Schöpfung Menschwerdung – Schöpfung geschieht biblisch betrachtet durch Gott. »Da formte Gott der Herr, den Menschen aus Erde vom Ackerboden und blies in seine Nase den Lebensatem. So wurde der Mensch zu einem lebendigen Wesen. Dann legte Gott der Herr, in Eden, im Osten, einen Garten an und setzte dorthin den Menschen, den er geformt hatte« (Gen 2, 7–8). In diesem Moment geschieht und beginnt Menschwerdung. Von diesem Augenblick an hat der Mensch auch nicht aufgehört, aus diesem göttlichen Atem zu leben. Und seit diesem Moment kann der Mensch wie Hiob sagen: »Gottes Geist hat mich erschaffen, der Atem des Allmächtigen hat mir das Leben gegeben« (Hiob 33,4). Gott formt den Menschen wie ein Künstler aus Ackerboden, aus fruchtbarem Boden. Jeder Mensch wird so ein Unikat Gottes. Wie bei einem Kunstwerk gibt es zwar Stilrichtungen, aber jedes Bild, jeder Mensch ist anders, neu, unverkennbar er, unverkennbar ich. Das Kunstwerk Mensch lebt aus Gott heraus. Göttlicher Atem hat lebendig und auch göttlich gemacht. Gott sorgt sich um sein Geschöpf, er will seine Lebendigkeit und schafft ihm dazu einen Garten. 4 Angelika Berlejung, Machtstrukturen im Wandel. Was sich in Krisensituationen alles verändern kann und muss, in: Bibel und Kirche 74 (2019) 109–116, hier: 115.

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Der Garten, in dem alles wächst, was zum Leben gebraucht wird. Gott schenkt ihn dem Menschen, er schenkt sein Paradies, den Himmel auf Erden. Und er schenkt ihm Freiheit. Neben weiteren biblischen Texten versuchen zahlreiche Bilder, Plastiken und Schriften von diesem Schöpfungsakt auf je eigene Art zu berichten. Eindrucksvoll ist am Nordportal der Kathedrale zu Chartres die Christus-AdamSkulptur zu betrachten. Hier hat der Künstler den Versuch unternommen, aus der Schöpfungsgeschichte herauszuheben, dass Gott jeden einzelnen Menschen schon vor der eigentlichen Schöpfung als Idee hat und Mensch und Gott nahezu auf Augenhöhe sind. Gott steht in Christus schützend vor dem Menschen. In allen Bildern und Schriften wird offensichtlich, wie Gott erfahren und erlebt wurde. Er ist ein Gott, der den Menschen aus unendlicher Liebe erschaffen hat, der ihn hält und ihn birgt. Gott und Mensch sind sich ähnlich, ja der Mensch darf sich göttlich nennen, denn Gott hat sich in ihn eingehaucht, er ist im und mit dem Menschen. Gott, der Schöpfer schuf also aus Liebe heraus jeden Menschen, einzigartig. Jeder Mensch ist vom Schöpfungsakt her göttlich und kann seinen Weg in Freiheit gehen. Er ist für den Menschen da, dem er Freiheit schenkte, auch die Freiheit, Gott zu lieben oder auch nicht. Gott führt den Menschen hinaus ins Weite. 2.2 Weg der Menschwerdung – Lebensweg Menschwerdung und der von Gott ermöglichte Weg ziehen sich durch die ganze Bibel. Hos 11,1–4 schreibt: »Ich war es, der Efraim gehen lehrte«. Eine nicht versiegende Quelle, der Beziehung Schöpfergott und Mensch sind die Psalmen. Ȥ So preist Psalm 8,4 ff. den Schöpfergott und den Menschen: »Seh ich den Himmel, die Werke deiner Finger, Mond und Sterne, die du befestigt: Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst, des Menschen Kind, dass du sich seiner annimmst? Du hast ihn nur wenig geringer gemacht als Gott, du hast ihn gekrönt mit Pracht und Herrlichkeit. Du hast ihn als Herrscher eingesetzt über die Werke deiner Hände, alles hast du gelegt unter seine Füße …«. Ȥ Psalm 18,20 besingt den Weg des Menschen mit Gott: »Er führte mich hinaus ins Weite, er befreite mich, denn er hatte an mir Gefallen«. Ȥ Psalm 23 singt davon, wie Menschsein, Menschwerdung in Gottes Schöpfung gelingen kann. Hier erwähne ich nur Vers 1 »Der Herr ist mein Hirte, nichts wird mir fehlen«, in dem schon das tiefe Vertrauen in Gottes Liebe Ausdruck findet. Am eindrucksvollsten aber beschreibt das Buch Exodus eine Lebensreise. 374

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2.3 Das Buch Exodus als Bild der menschlichen Lebensreise Der Exodus, der Auszug des Volkes Israel aus Ägypten und die folgende Wüstenwanderung, ist ein Bild für die menschliche Lebensreise, für die Glaubensreise. Die Grundaussage dieses biblischen Buches ist: Was dem Volk Gottes widerfahren ist, widerfährt allen, die sich auf den Weg des Glaubens machen, die eine Beziehung zu Gott gefunden haben, dem Gott der Liebe. Der Exodusweg beschreibt zeichenhaft die Befreiung des Menschen durch Gott – Befreiung aus Knechtschaft, Irrwegen, Unglauben. Die Israeliten erkannten und sahen, dass Gott an ihnen liebevoll handelte. Sie dachten über ihre Erfahrung nach und gaben ihr eine Deutung. Die Exodusgeschichten sind in dem Maße einleuchtend, wie der Mensch selbst aufgebrochen ist und sich auf dem Weg des Glaubens befindet. An heutige Menschen tauchen durch diese Erzählungen Fragen auf, wie: Kann ich zulassen, dass Gott mich von der Versklavung in die Freiheit führt, von meinem Ägypten nach meinem Kanaan und kann ich mir bewusst sein, dass dazwischen Wüste liegt? Gott strahlt im Bild des brennenden Dornbusches Energie aus, ist lebendig, ist ein brennendes Feuer, ein Feuer, das niemals erlischt, das brennt und nicht verzehrt. Und dieser Gott sagt dem Menschen zu: »Ich bin bei dir!« Das ist alles. Damit sagt Gott: »Ich werde es tun. Vertrau mir nur!« Dieses Muster gilt auch heute noch für jeden Menschen, der glaubt. Der Mensch des Glaubens ist jemand, der erwartet, dass das Versprechen eingelöst wird. Solch ein Mensch ist im Ganzen abhängig von der Verheißung. Er horcht und wartet, hofft und vertraut – und handelt, vertrauend und offen für Gottes Nähe und Liebe. Wenn der Mensch die Botschaft von Gottes Liebe zum ersten Mal hört, ist er voller Energie und Glauben, nichts kann mehr dazwischenkommen. Aber genau das geschieht immer wieder. Es sei an Verfolgung durch den Pharao oder auch die Plagen erinnert. Doch Israels Glaube, unser Glaube war und ist Glaube an den Herrn. Gott liebt und befreit den Menschen fortwährend. Wir sind dazu berufen, einen Weg des Glaubens zu gehen. Bei jedem neuen Schritt bittet Gott uns, ihm zu vertrauen, ja zu sagen zu ihm, und unser Leben in seine Hände zu legen. 40 Jahre irrten die Israeliten durch die Wüste, immer wieder im Kreis und schienen nirgends anzukommen. Ein Bild für so manchen Lebensweg. Gott aber fordert den Menschen mitten in der Finsternis auf, an das zu denken, was er einmal im lichten Moment gesehen hat. Oft gewährt Gott inmitten menschlicher Wüsten einen Augenblick der Verklärung, einen Sinai-Augenblick, wie er Mose geschenkt wurde. Einen Augenblick der Gnade, eine religiöse Erfahrung, in dem Gott gegen jeden Zweifel gegenwärtig ist. Aber jedes Mal gilt es wieder vom Gipfel herabzusteigen und weiter durch Mensch werden mit Gott und der Kirche?

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die Wüste zu wandern. Fragen tauchen auf: War das nur eine Einbildung? Fragen in Krisen tauchen auf: »Wenn Gott wirklich da ist, warum gibt er uns nichts zu essen? Wenn Gott wirklich da ist, warum lässt er Kriege, Corona, Verbrechen … zu?« Das ist die grundlegende Lektion der Wüste: Gott will, dass der Mensch ihm fortwährend vertraut, Tag für Tag. Er lädt dazu ein, die Sorge, um das Morgen loszulassen, die Kontrolle aufzugeben. Erst dann finden wir heraus, wer wir wirklich sind. Da entdecken wir, wer wir sind und wer Gott für uns ist. Dann können wir zulassen, dass Gott unser Heil ist, nicht unser Werk, sondern seins, von Anfang bis Ende. So konnten die Israeliten Gott loben: »Ich singe dem Herrn ein Lied, denn er ist hoch erhaben. Rosse und Reiter warf er ins Meer. Meine Stärke und mein Lied ist der Herr, er ist für mich zum Retter geworden. Er ist mein Gott, ich will ihn preisen; Den Gott meines Vaters will ich rühmen. Der Herr ist ein Krieger, Jahwe ist sein Name.« (Ex 15,1–3) Ein reiner Lobgesang. Gott zu loben ist nicht deshalb gut, weil Gott es nötig hat, sondern weil es einfach schön ist. Inmitten der Hingabe an Gott ereignet sich so Liebe und geschieht Gnade. Die Israeliten und wir heutigen Menschen können erfahren, dass Gott Leben schenkt, das den Namen verdient. Gott erfüllt das Herz mit Liebe, erzählen die Texte. Selbst die Wüste ist mit einem liebenden Gott nicht immer und überall Wüste. Schon mitten in der Wüste führt der Weg zum Leben. Wenn man es am wenigsten erwartet, kommt eine Oase. 2.4 Weitere biblische Wegweiser – Jesaja, Johannes Weitere wichtige Weggefährten finden sich bei Jesaja und im Evangelium nach Johannes. So heißt es in Jes 55,9–11: »So hoch der Himmel über der Erde ist, so hoch erhaben sind meine Wege über eure Wege und meine Gedanken über eure Gedanken. Denn wie der Regen und der Schnee vom Himmel fällt und nicht dorthin zurückkehrt, sondern die Erde tränkt und sie zum Keimen und Sprossen bringt, wie er dem Sämann Samen gibt und Brot zum Essen, so ist es auch mit dem Wort, das meinen Mund verlässt: Es kehrt nicht leer zu mir zurück, sondern bewirkt, was ich will, und erreicht all das, wozu ich es ausgesandt habe.« 376

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Sein Atem, sein Wort bewirken, wozu sie ausgesandt sind. Mit einem anschaulichen Bild bringt uns Jesaja nahe, wie Gottes Wort für uns da ist und wirkt. Das Wort, das Gott ausspricht und dem Menschen zuspricht, ist wie Regen, der auf das innere Erdreich des Menschen fällt. Das Wort, das einen offenen, weiten Raum findet, wirkt von selbst – wirkt, was es meint; bewirkt, wozu es ausgesandt ist. Das ausgesprochene Wort – das ist auch der Mensch, die Schöpfung. Das Leben aus Gottes Mund kommend, kehrt verwandelt zu ihm zurück. Er hat jeden Menschen mit einer Idee, einer Aufgabe entsandt. Er nimmt jeden Menschen auch wieder in sich auf, das Wort kehrt verwandelt zurück. Es hat die Kraft in sich, das Herz der Menschen wie einen Garten zu bewässern und es fruchtbar werden zu lassen: Es weckt im Menschen eine Suchbewegung nach Gott, »sucht den Herrn«, es lässt vor den Augen des Menschen ein wunderbares Gottesbild aufleuchten, »unser Gott ist groß im Verzeihen und voll Erbarmen«, es lädt den Menschen ein, Gott immer wieder anders sein zu lassen. Er hat andere Maßstäbe. Diese werden in Joh 1,1–4 verdeutlicht: »Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und das Wort war Gott. Dieses war im Anfang bei Gott. Alles ist durch das Wort geworden und ohne es wurde nichts, was geworden ist. In ihm war Leben und das Leben war das Licht der Menschen.« Hier gipfelt Gottes Liebe in der Menschwerdung seiner selbst in Jesus Christus. Das Wort, wie schon in Jesaja beschrieben, haucht Gott aus, er haucht sich selbst aus und wird Mensch und bleibt Gott. Darauf dürfen wir vertrauen, denn »in ihm war das Leben und das Leben war das Licht der Menschen«. Der Blick auf die Bibel zeigt mir: Gott ist der Schöpfer des Alls und des Menschen. Aus seiner göttlichen Liebe ist alles entstanden, er konnte seine Liebe nicht bei sich behalten, sondern entäußerte sich, sein Wort wurde Mensch. Auf dem Weg der Menschwerdung, so zeigen die wenigen ausgewählten Texte, ist Gott Wegbegleiter, Wegbegleiter, dem wir vertrauen können, aus dessen Liebe wir handeln können, dessen Liebe wir weitergeben, nicht bei uns behalten, genau wie es Gott auch tat. Aus dieser Liebe handelnd, ergibt sich alles und so kann Jesus sagen, dass es nur dieses Gebot gibt: Liebe Gott und aus dieser Liebe heraus liebe deinen Nächsten. Das ist das ganze Gebot (vgl. Mk 12,29–31).

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3 Diakonische, missionarische Kirche Aus diesen zusammengefassten biblischen Befunden erkenne ich neue Wege für die Kirche, für die Menschen des Glaubens: Es gilt, gerade in der jetzigen Situation, Machtstrukturen auch in den Gemeinden zum Thema zu machen. Sie dürfen kein Tabu sein, müssen zur Sprache kommen. Es geht um die Botschaft des Reiches Gottes, die die jetzigen kirchlichen Strukturen auf den Kopf stellt. Die einzig gültige Macht findet sich bei Jesus, bei Gott und dem Heiligen Geist, die Leben fördert und Menschen frei macht. Der glaubende Mensch in der Gemeinschaft der Kirche hat die Liebe des Schöpfergottes in seinem Herzen erfahren und will sie weitergeben, weitertragen, sein Licht in die Welt hinaustragen. Es gilt, in allen Lebenssituationen und besonders im gemeindlichen Umfeld und im Auftrag der Kirche als Volk Gottes zu entdecken, was in der Taufe dem Täufling zugesprochen wird: durch die Chrisamsalbung wird symbolisch deutlich, dass wir alle, Mann und Frau, reich oder arm, gesund oder krank, schwarz oder weiß, Anteil an Christus haben, an seinem Priester-, seinem König-, Propheten- und an seinem Lehramt. Durch die Taufe sind wir alle ermächtigt, in Jesu, in Gottes Namen seine Botschaft zu leben, zu lehren und sie weiterzugeben. Der Effata-Ritus in der Taufe unterstreicht das: Gott öffnet dem Menschen die Ohren für seine Botschaft und Gott ermächtigt ihn, seine Botschaft der Liebe weiterzugeben. Die Stärkung dieser Taufgnade liegt in unserer aller Hand. Sie kann bewirken, dass nicht so sehr alles vom sakramentalen Amt abgeleitet und ihm zugeordnet wird. Es ist ein Amt in all seinen drei Stufen, das Gott und den Menschen zu dienen hat, sie zu ermächtigen hat, Gottes Liebe in die Welt hinauszutragen. Tragt sein Oster-Tauflicht hinaus in die Welt. An diesem Taufbeispiel zeigt sich: Frauen und Männer sind in der Nachfolge Jesu bei Leitung und Aufbau der Kirche beteiligt, ob als Diakonin, Presbyterin, Gemeindewitwe. Kirchliche Strukturen haben dazu zu dienen, allen Menschen Zugang zum Evangelium zu gewähren. Das gesellschaftliche Umfeld in den Gemeinden ist heute mehr denn je geprägt und zu prägen von der Gleichberechtigung der Geschlechter. Das ist nicht mehr umkehrbar, es gehört zur Gegenwart. Doch die bestehende Männermacht der Kirchenleitung, die sich ableitet aus staatlichen Vorbildern, vergleichbar mit einer Monarchie, nicht biblischen Ursprungs, ist auch gemeindlich zu spüren.

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4 Neue Wege Es scheint biblisch gesehen alles so klar auf der Hand zu liegen: Jesus zu folgen, das Reich Gottes auf Erden weiter mit seiner Hilfe wachsen zu lassen, ist Auftrag jedes Christen. Nach seinem Plan. Nach seinem Weg. Er hat ihn uns gezeigt, uns auf den Weg gerufen. Diese Sehnsucht war eine Antriebsfeder der Urgemeinde, der ersten Christen. Das Alte, wie auch das Neue Testament, zeigen, dass das Reich Gottes, Gottes Herrschaft, keine Herrschaft im weltlichen Sinn ist und auch nicht weltlich, herrschaftlich hergestellt oder erhalten werden kann. Nur ein geistlicher, ja mystischer, beharrlicher Weg führt in das Reich Gottes. »Wer das Reich Gottes nicht so annimmt, wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen« (Mk 10,13–16). Wir wissen, wie es weiter ging, wie unsere menschlichen Egoismen diesem Weg der Nachfolge immer wieder und immer in neuen Facetten im Weg standen. Die Kirchengeschichte ist voll solcher Episoden. So sind wir, bin ich, immer wieder neu, immer radikal herausgefordert in der Zeit, in der wir leben, Jesus, den Mensch gewordenen Gott, mit Hilfe des göttlichen Geistes hier auf dieser Erde, in diesem Leben Raum und Macht zu geben. Er allein hat die Macht und diese Macht heißt: Liebe. Jesus geht es um die Liebe Gottes, es geht ihm darum, dass diese unter und durch die Menschen sichtbar und erlebbar wird. Es geht ihm um den Menschen. Sein heilendes Handeln ist überdeutlich erlebbar. Meine ganze Haltung, mein Glaube an die göttliche Liebe sollte spürbar sein in meinem Handeln. In der Familie als erstes und dann in meinem Umfeld, in der Gemeinde. Da gibt es keine Unterschiede, wie Jesus sagt, zwischen Mann und Frau, zwischen Knecht und Herr, zwischen Juden und Griechen. Für mich bedeutet das, ganz unten, vor Ort kann ich beginnen und helfen, diese Unterschiede, diese Mauern fallen zu lassen. Ich kann das sehr machtvoll tun, mit seiner Liebesmacht, und dazu brauche ich mich und brauchen wir uns auf 0.0, dem biblischen Ursprung, und nicht auf 1.0 oder 2.0. Nicht mit Macht. Und ein letztes: Diejenigen, die fragen, ob Gott unser Lob braucht, könnten ebenso gut fragen, ob Gott unsere Gottesdienste überhaupt braucht. Gott hat es nicht nötig, dass wir am Sonntagmorgen in der Kirche sind. Gott ist nicht glücklich, wenn wir dort unsere Zeit absitzen. Gottesdienst soll eine Zeit gegenseitiger Hingabe sein, eine Zeit, in der wir schenken und beschenkt werden, eine Zeit, in der wir unsere Sehnsucht miteinander teilen. Im Gegenzug verschenkt sich Gott an uns, schenkt uns heilende Vergebung, die Weisheit seines Wortes, er ist persönlich in Wein und Brot da und befreit uns für das Leben.

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Begleitung in Glaubens- und Welt­deutungs­prozessen aus Sicht einer Seelsorgerin Birgitta Ortmans

1 Wahrnehmungen aus der Praxis als Seelsorgerin Seit 2007 haben mich die gesellschaftliche Entwicklung und der damalige Wellnessboom beschäftigt. Ich habe mich gefragt, was Menschen suchen, wohin ihre Sehnsucht geht und wie Seelsorge so gestaltet sein kann, dass sie auf die Fragen und Sehnsüchte der Menschen eine Antwort geben kann. Diese Überlegungen haben mich zu meiner Dissertation »Sportexerzitien und/oder Wellness«1 geführt. Zehn Jahre später und nach über zwanzig Jahren als Seelsorgerin – als Begleiterin der Menschen in Glaubens- und Weltdeutungsprozessen – werfe ich einen Blick auf meine Situation in Herten im nördlichen Ruhrgebiet, wo ich seit November 2017 als Pastoralreferentin in der Kirchengemeinde St. Antonius, die zum Bistum Münster gehört, tätig bin. Die Situation in Herten ist von einer großen Vielfalt geprägt. In der Stadt leben Menschen verschiedener Religionen und Weltanschauungen, fast ein Drittel ist muslimischen Glaubens. Viele Menschen suchen eine religiöse Orientierung, ohne sich verbindlich festlegen zu wollen. Gleichzeitig gibt es eine zunehmende Zahl an Menschen, in deren Leben eine religiöse oder ausdrückliche weltanschauliche Orientierung keine Bedeutung mehr hat. Die Pfarrei St. Antonius umfasst den Innenstadtbereich. Hier beträgt der Ausländeranteil fast ein Fünftel und viele Wohnungen sind nur mit Wohnberechtigungsschein anzumieten. Die Möglichkeiten zu sozialer und wirtschaftlicher Teilhabe werden für Teile der Gesellschaft in Herten zusehends prekär. Zudem führt die höhere Lebenserwartung der Menschen bei gleichzeitigem Rückgang der Geburtenzahlen zu einer Überalterung in unserer Pfarrei. Meine Aufgabenschwerpunkte liegen im Bereich der Frauenpastoral, der Kitapastoral inklusive Präventionsarbeit und der Erstkommunionkatechese. Auf der einen Seite erlebe ich eine Sehnsucht der Menschen nach Zuspruch und 1

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Vgl. Birgitta Ortmanns, Von der Wellnessbewegung zu Sportexerzitien. Eine empirische Pilotstudie, in: Transformationen. Pastoralpsychologische Werkstattberichte 18 (2012) 3–143.

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Segen. Ihr begegnen wir, indem wir zu Beginn des Lebens zu Segensfeiern für Babys einladen. Andererseits erlebe ich bei Eltern unter anderem Haltungen gegenüber Religion, wie sie Georg Langenhorst benannt hat:2 Ȥ »Mir ist es wichtig, dass meine Kinder [auch] religiös erzogen werden.«  Dies erlebe ich bei zirka 10 % der Menschen, mit denen ich beruflich Kontakt habe; wohl aber bei fast allen Gottesdienstbesuchern und bei Menschen, die an den Angeboten der Pfarrei teilnehmen. Ȥ »Religiöse Erziehung? – Warum nicht, das kann ja nichts schaden.« Dies erlebe ich bei lockeren Angeboten, bei den Segensfeiern, bei Schuleingangs- und Schulabschlussgottesdiensten, aber auch bei mehr als der Hälfte der Eltern im Rahmen der Erstkommunionkatechese. Während meiner ersten Erstkommunionvorbereitung 2019 hier in Herten fragten mich Eltern danach, warum es inhaltlich so viel um den Glauben ginge und warum sie auch immer wieder zu Familiengottesdiensten in die Kirche kommen sollten: Das, was sie sich wirklich wünschen würden, sei eine gute Gemeinschaft für ihr Kind: mal einen Kinonachmittag, mal eine Übernachtung im Pfarrheim, mal einen Ausflug. So etwas würde Spaß machen. Nach meiner Wahrnehmung spielt für einige Eltern die Einführung in den Glauben eine untergeordnete Rolle. Im Vordergrund stehen die Gemeinschaftserfahrung und eine schöne Feier. Einigen Eltern, die alleinerziehend und berufstätig sind, bereitet es trotz guten Willens große Schwierigkeiten, im Rahmen der Erstkommunionvorbereitung abendliche Termine zur Vorbereitung wahrzunehmen. Ich frage mich: Sind für solche Menschen kurze Videos auf Instagram genau das passende Angebot, weil für mehr die Zeit nicht reicht? Andere Eltern erzählen mir, wie angenehm nach einem anstrengenden Arbeitstag Elternabende per Videokonferenz – ursprünglich wegen der Coronapandemie eingeführt – sind. Eine Betreuung für ihre Kinder muss dann nicht organisiert werden. Ein weiterer Aspekt: In unserer Gemeinde ist die Caritasarbeit an den starken Caritasverband mit professionellen fachcaritativen Diensten abgegeben worden. Dies führt meines Erachtens dazu, dass die Pfarrgemeinde und die katholische Kirche selbst nicht mit der »Caritas« in Zusammenhang gebracht werden. Vielleicht ist dies ein Grund, warum wir Familien aus prekären Lebensverhältnissen nicht mehr erreichen und Kinder aus diesen Familien nicht zur Erstkommunionvorbereitung angemeldet werden? 2 Die folgenden Zitate stammen aus: Georg Langenhorst, Kinder brauchen die Religion – jetzt mehr denn je. Handout zum Onlinevortrag im Rahmen des Projektes »Kita – Lebensort des Glaubens«, gehalten am 24.02.2021.

Begleitung in Glaubens- und Welt­deutungs­prozessen aus Sicht einer Seelsorgerin

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Die Spannung zwischen Sehnsucht und Enttäuschung drückt sich für mich in der Äußerung einer Mutter im Rahmen der Erstkommunionvorbereitung aus. Sie sagte: »Mein Mann ist schon aus der Kirche ausgetreten. Ich habe mich bemüht. Unser Sohn B. ist auch getauft. Aber immer, wenn ich mit ihm in die Messe gehe, fragt mein Mann hinterher: ›B., hat es dir gefallen?‹ Die Messfeiern sind ja leider nicht so ansprechend gestaltet. Sie können da nichts für, aber uns ist das alles so fern. Wir können damit nichts anfangen. Ich möchte den Streit zuhause nicht länger, deshalb melde ich B. jetzt wieder ab.« Diese Spannung begegnet mir auch bei Menschen im Rahmen von Trauergesprächen. Viele entsprechen mit einer katholischen Beerdigung den Wünschen der Verstorbenen. Selbst sind sie oft aus der Kirche ausgetreten oder sagen: »Wir sind keine Kirchgänger.« Bei einer Online-Veranstaltung der Katecheseabteilung im Bistum Münster zum Thema »Neue Wege in der Katechese« am 23. Februar 2021 benannten meine Kolleg*innen folgende Assoziationen zur »Katechese der Zukunft«: hybrid, Widerspruch, Qualität der Begegnung, vielseitig, Elementarisierung, Evangelisierung, Gemeinschaft, Multiperspektive, persönlich, generationsverbindend, Signale setzen, neue Wege gehen, neu denken, Herausforderung. Abschließend entstand folgendes Statement: »Die Eucharistie ist nicht mehr Zentrum des Glaubens. Die Glaubensverkündiger*innen der Zukunft sollen einen Prozess begleiten, bei dem Charismen eingebracht und berücksichtigt werden. Während der Katechese sollen positive Erfahrungen im Glauben möglich werden. Es braucht ein neues Ehrenamt und Ehrenamtsmanagement. Katechese ist projektbezogen und Kirche Dienstleister.« Entscheidend sind für mich gute Begegnungen miteinander. Ich nehme eine Ungleichheit der Voraussetzungen bei den Kindern und Familien wahr. Eine Möglichkeit kann daher sein, Katechese zu elementarisieren und unterschiedliche Wege (mit unterschiedlichen Intensitätsstufen zu unterschiedlichen Zeiten und losgelöst vom Jahrgangsverband) zu ermöglichen – teils digital, teils analog. Auch das ehrenamtliche Engagement verändert sich. Punktuell und projektartig lassen sich Menschen heute für das Ehrenamt ansprechen; eine langfristige Bindung in Vereinen und Verbänden nimmt in meiner Wahrnehmung ab. Vor dieser Situation stehen auch die großen Kirchen, was – wie ich meine – 382

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ein Anlass für ökumenische Zusammenarbeit sein kann. Unsere pastorale Teamklausur im November 2020 hatte daher das Thema »Neues Ehrenamtsmanagement«. Dazu später mehr.

2 Seelsorgerin als Begleiterin in Glaubensund Weltdeutungsprozessen Als Seelsorgerin verstehe ich mich als Begleiterin in Glaubens- und Weltdeutungsprozessen, die das ganze Leben vom Anfang bis zum Ende durchziehen. Momentan entwickle ich mit den Erzieher*innen in fünf katholischen Kitas, wie Glaubens- und Weltdeutungsprozesse bei Kindern zwischen zwei und sechs Jahren grundgelegt werden können. Seit 2021 nehmen wir am Projekt »Kita – Lebensort des Glaubens« im Bistum Münster teil: Jeder Ort, gerade auch die Kita, ist ein Ort, wo ich Gott begegnen kann. Entscheidend sind die Offenheit, die Atmosphäre und das wertschätzende Miteinander, damit sich die Kinder trauen, Fragen zu stellen. Ich kann mit den Kindern philosophieren und mit ihnen zusammen nach Ideen zu ihren Fragen suchen.3 Besonders herausfordernd ist, dass zwei Kitas zwar in katholischer Trägerschaft sind, die Mehrheit der Kinder und ihrer Familien aber nicht christlichen Glaubens ist. Hier wollen wir durch eine intensivere Elternarbeit und Möglichkeiten der Begegnung Beziehungen untereinander stärken, Verständnis füreinander aufbauen und nach Wegen gemeinsamen religiösen Handelns suchen. In der Projektgruppe nehmen wir wahr, dass Eltern eine Offenheit für Fragen nach der Plausibilität des Lebens und für Sinnfragen mitbringen. Hier sehen wir eine Chance, im Austausch bedeutsame Antworten anzubieten. Am anderen Ende stehen die Erwachsenen, mit denen ich an Glaubens- und Besinnungstagen und in der Trauerseelsorge ins Gespräch komme. Gerade im Beerdigungsdienst erlebe ich mich als Seelsorgerin. Hier bin ich vor allem Zuhörerin und nehme am Leben der Menschen und ihrer Trauer teil. Im Dasein, Offensein und Ansprechbarsein für die Fragen und Anliegen der Menschen sehe ich meine Aufgabe. Mich selbst stärkt die Hoffnung auf das Leben nach dem Tod. Im Gespräch über den Verstorbenen kommt es manchmal dazu, dass die Angehörigen das eigene Leben reflektieren, auf die Prägungen schauen und den Verstorbenen in einem neuen Licht sehen können. Als Seelsorgerin habe ich 3 Dieser Animationsfilm verdeutlicht mein Verständnis: https://kath-kitas-hochstift.de/glaubenlebengestalten/animationsfilm-das-kind-und-der-innere-funke-religioese-bildung-inkitas.html (letzter Aufruf am 17.03.2021).

Begleitung in Glaubens- und Welt­deutungs­prozessen aus Sicht einer Seelsorgerin

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das intuitive Vertrauen, dass Gott da ist, obwohl wir ihn als endliche Menschen nicht annähernd erfassen können. Manchmal gilt es zu schweigen. Manchmal bekomme ich in der Stille einen spontanen Gedanken, nur ein Wort und es hilft in dieser Situation. Raum und Zeit für Gott und sein Wirken zu lassen, ist mir wichtig, damit sich etwas entwickeln und entfalten kann. Für mich setzt dieses Arbeiten persönliche Präsenz voraus, weshalb mich der Bereich Social Media momentan herausfordert: Ich frage mich, wie viel Präsenz auf Social-Media-Kanälen wichtig und sinnvoll ist. Können wir auf diese Weise heute bestimmte Zielgruppen ansprechen, die ansonsten nicht erreichbar wären?4 Andererseits: Reicht es aus, meine Botschaften, mein Weltverständnis und meinen persönlichen Glauben zu posten? Was bringt es, dass die Besucher meine Stellungnahmen online kommentieren, liken oder abwerten können? Die persönlichen Kontakte in allen Lebenslagen und -zeiten sind für mich ein wichtiger Bestandteil meiner Arbeit, die mich selbst immer wieder bereichern.

3 Praktische Beiträge zu einer theologisch-praktischen Anthropologie Als katholische Theologin glaube ich, dass der Mensch Abbild und Ebenbild Gottes (Gen 1,27) ist. Ich erkenne in jedem Menschen einen göttlichen Kern und das Potenzial, mit Gott in Berührung zu kommen. Das Vertrauen, dass alle Menschen so geliebt sind, wie sie sind – vor jeder Leistung und trotz aller Schuld (Röm 3,23 ff.) –, sehe ich als das große Plus unseres Glaubens. Meinen Auftrag als Seelsorgerin sehe ich darin, dies immer wieder spürbar werden zu lassen und den Menschen dabei zu helfen, ihre persönliche Berufung zu entdecken, zu entfalten und in der Kirche ein Leben gemäß dieser Berufung nach den je eigenen Fähigkeiten zu ermöglichen. In der Ehrenamtskonzeption des Bistums Essen und im Vortrag von Georg Langenhorst finde ich mein Verständnis von theologisch-praktischer Anthropologie passend ausgedrückt: »Das Finden, Erkennen und dann auch Annehmen der eigenen Berufung steht im Mittelpunkt eines christlichen Lebens. Denn Christ-Sein bedeutet nicht in erster Linie die Erfüllung äußerer Vorschriften und Gebote, sondern 4 Der Kompetenzaufbau für eine bessere Glaubenskommunikation ist das Ziel des neuen Studiengangs »Crossmediale Glaubenskommunikation an der Ruhr-Universität Bochum«. Vgl. http://www.kath.ruhr-uni-bochum.de/aktuelles/pastoral/news00990.html.de (letzter Zugriff am 27.07.2021).

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ist ein Weg der Heiligung, ein Weg, sich selbst anzunehmen, wie man bei seiner Berufung ins Leben von Anfang an gemeint und vorgesehen war.«5 Meine persönliche Berufung hat damit zu tun, die Tiefe meiner Person zu finden. Ein Leben in Übereinstimmung mit sich selbst ist eine Grundvoraussetzung dafür, dass es glückt und sinnvoll ist. »Die biblische Zusage eines ›Lebens in Fülle‹ (Joh 10,10) hängt aufs Engste mit der Nähe zu meinem wahren Selbst zusammen.«6 Langenhorst setzt bei den Kindern an: »Kinder haben nicht nur ein Recht auf Religion, sie brauchen sie sogar. Das Religiöse ist wie die Musik eine GrundDimension des Menschen.« »Es geht um das Erahnen von Möglichkeiten, die unsere Erfahrungswelt übersteigen und so Raum geben für Sehnsucht, Hoffnung und Trost.« Wenn die Kinder mit hineingenommen würden in die Möglichkeiten, die Religion biete, dann »geben wir ihnen die Möglichkeit, ihre Umgebung anders wahrzunehmen, anders zu empfinden, sich anders auszudrücken und anders zu gestalten«. In Anlehnung an den israelischen Religionsphilosophen Martin Buber betonte er: »Jeder Mensch hält Ausschau nach einem Menschen, der ihm das Ja des Sein-dürfens zuspricht.« Diese bedingungslose Annahme des Menschen sei die Ur-Aussage über Gott. »Das ist die eigentliche Wärmestrahlung, die Religion auszeichnet, der bedingungslose Zuspruch Gottes. Kinder brauchen das Gefühl, wahrgenommen zu werden, angesehen zu sein.«7 Mir ist es wichtig, diese Erfahrung des bedingungslosen Zuspruchs Gottes weiterzugeben. Immer wieder begegnen mir Menschen, die andere Erfahrungen gemacht haben und kirchliches Handeln mit Ansprüchen und Bevormundung verbinden. Gerade in der Vorbereitung auf das Sakrament der Versöhnung werden solche Erfahrungen sichtbar. Dabei erlebe ich, dass sich Eltern die Grunderfahrung, dass Gott uns immer wieder annimmt und wir nie aus seiner Liebe herausfallen können, unbedingt für ihre Kinder wünschen. Wenn viele Menschen heute lieber zu Psychologe*innen gehen, als Rat und Hilfe im Gespräch mit Seelsorger*innen zu suchen, zeigt dies, wie wenig die Menschen heute die Möglichkeit von Hilfe für ihr Leben mit dem »Seelsorgepersonal« in Verbindung bringen.8 5 Bischöfliches Generalvikariat Essen, Entdecken, Entfalten, Ermöglichen. Ehrenamtliches Engagement im Bistum Essen, Essen o. J., 17, online verfügbar unter: https://ehrenamt.bistumessen.de/fileadmin/redaktion/Download_Center/Konzeption_Ehrenamt_web.pdf (letzter Zugriff am 28.07.2021). 6 Ebd. 7 Langenhorst 2021. 8 Gleichzeitig ist zu beachten: »Eine Beichte ist nicht eine Therapie für eine kranke Seele. Dazu bedarf es noch weiterer Hilfen, die in den ärztlichen Bereich fallen bzw. in den eines Therapeuten. Die Beichte will das Verhältnis eines Menschen zu Gott neu regeln. Dadurch wird der Seelenzustand wohl berührt, es wird ein Defizit in der Einstellung behoben, aber eben

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Gerade mit Blick auf das Thema Schuld und Erlösung kann Seelsorge heilsam sein und den Blick dafür offenhalten, dass wir Menschen uns nicht selbst erlösen können. Wir können selbst an unserem Selbstbild arbeiten. Wir können uns um Vergebung und Versöhnung gegenüber den Menschen bemühen, denen wir Unrecht getan und Leid zugefügt haben. Aber das Getane ist nicht auszulöschen. Wie tröstlich ist es dann, den Zuspruch von Gott geschenkt zu bekommen. Hier sehe ich eine große Herausforderung und eine Schlüsselkompetenz für die Seelsorge der Zukunft. Sabine Demel drückt es so aus: »Daher ist es wichtig, von Zeit zu Zeit innezuhalten und die Ausrichtung seines Lebens zu überprüfen – im Hinblick auf sich selbst, auf Gott und auf seine Mitmenschen. Wenn dabei Belastendes und Beunruhigendes, Unsicherheit oder Unzufriedenheit mit mir selbst oder mit der Umgebung aufkommen, dann bietet das Sakrament der Beichte die Möglichkeit, dass ich aussprechen kann, was mich belastet, beunruhigt, unsicher oder unzufrieden macht, dass ich darin Gehör finde und dass ich Befreiung und neue Stärkung erfahre in meiner Haltung bzw. auf meinem Weg der Umkehr als Hinkehr zu Gott und damit auch als Hinkehr zu mir selbst. Das Sakrament der Beichte ist somit Lebensreflexion, die das, was mich hemmt in meiner Beziehung zu mir selbst, zu Gott und/oder zu den Mitmenschen in die Sprache bringt und dadurch eine doppelte Verwandlung erwirkt: eine menschliche und eine göttliche Verwandlung. Die menschliche Verwandlung besteht darin, dass das, was ausgesprochen wird, allein schon durch das Aussprechen verwandelt wird. Denn was ausgesprochen ist, verliert durch das Aussprechen seine Macht (über mich). Die göttliche Verwandlung ist das Heil und Heilwerden der Person, die ihre Verantwortung vor Gott ausspricht und damit bekennt. Denn im Aussprechen ihrer Verantwortung erfährt sie neu die Gegenwart Gottes in ihrem Leben, die als Geschenk der Gnade erfahren wird.«9

nicht in jenen Ecken der Seele, die bei einem therapiebedürftigen Menschen neurotisch verklemmt oder gar psychotisch erkrankt sind« (Ludwig Mödl, Sackgassen im Leben – Auswege in Hoffnung. Pastoraltheologische Überlegungen zu Buße und Krankensalbung, in: Manfred Weitlauff & Peter Neuner (Hrsg.), Für euch Bischof – mit euch Christ. Festschrift für Friedrich Kardinal Wetter, St. Ottilien 1998, 879–897, hier: 894 f.). 9 Sabine Demel, Die Beichte macht’s möglich: Gott und sich selbst neu vertrauen können, Artikel vom 30.03.2017, https://www.feinschwarz.net/beichte-das-genialste-sakrament/ (letzter Zugriff am 26.04.2022; Hervorhebungen im Original).

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Wie kann dies aber nun praktisch erfahrbar werden? Welche Andockmöglichkeiten gibt es zu den Menschen? Die WeG-Initiative Vallendar benennt folgende Menschen, die sich ansprechen lassen: Ȥ kirchlich Verbundene, die zu neuer Gewissheit und Lebendigkeit finden wollen Ȥ Menschen ohne religiöse Vorgeschichte, die den Glauben ganz neu entdecken wollen Ȥ solche mit eher lockerem Bezug zu Glaube und Kirche, die erstmals wahrnehmen, welche Schätze hier zu heben sind und wie wertvoll geistliche Gemeinschaft sein kann Ȥ solche, deren Verbindung zum Glauben abbrach und die wieder Anschluss finden10 Glaubens- und Weltdeutungsprozesse geschehen geschwisterlich und kooperativ, also in geteilter Macht und Verantwortung und in einer gemeinsamen Suchbewegung, die sich dem Wirken Gottes öffnet (hören, beten, sich gemeinsam an biblischen Texten orientieren, miteinander reden). Grundvoraussetzung ist: Jeder Mensch trägt die Berührung durch Gott in sich, jeder Mensch hat eine einzigartige Berufung, die Gott jedem Menschen bei seinem Eintritt ins Leben schenkt. Das Ehrenamtskonzept des Bistums Essen zitiert den Soziologen Hartmut Rosa: »›Gelingende Weltbeziehungen sind solche, in denen die Welt den handelnden Subjekten als ein antwortendes, atmendes, tragendes, in manchen Momenten sogar wohlwollendes, entgegenkommendes oder ›gütiges Resonanzsystem‹ erscheint.‹ Eine Resonanz entstehe erst dort, wo A und B sich ›berühren‹, ›wo sie in eine Beziehung des wechselseitigen Antwortens eintreten.‹ Eine solche Resonanzerfahrung, so Rosa, lasse sich nicht ›manipulativ sicherstellen, bzw. fixieren‹. Eine solche Erfahrung sei mit anderen Worten nur dort möglich, wo echte Beziehung vorherrscht, die sich durch keine technischen Maßnahmen oder Management-Instrumente herstellen lässt. ›Am Du werde ich!‹ – so hat dieses ›dialogische Prinzip‹ bereits Martin Buber beschrieben.«11 10 Vgl. https://glaube-hat-zukunft.de/perspektiven-und-impulse-fuer-das-eigene-leben/glaubeals-weg-und-prozess/ (letzter Zugriff am 27.07.2021). 11 Bischöfliches Generalvikariat Essen o. J., 26, mit Verweis auf Hartmut Rosa, Weltbeziehungen im Zeitalter der Beschleunigung. Umrisse einer neuen Gesellschaftskritik, Berlin 2012, ohne Seitenangaben.

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Wie kann das heute funktionieren? Ausgangspunkt ist die Perspektive, dass jeder Mensch unabhängig von Studium und Ausbildung Fähigkeiten und Talente mitbringt, die wir für die Arbeit in unserer Pfarrgemeinde angesichts des schwindenden Personals gerne nutzen möchten. Wir haben unser Ehrenamtsengagement deshalb überschrieben mit: »Dich schickt der Himmel«.12 »Es braucht ein großes Vertrauen in die Charismen der Menschen und damit die Bereitschaft, auch Neues und Ungewohntes zuzulassen – und das los zu lassen, wozu sich kein ehrenamtliches Engagement mehr findet. Es braucht die Einsicht, dass die Aktivitäten in der Kirche letztlich vom Geist Gottes inspiriert werden und weniger durch die Wünsche, Forderungen und Aktivierungsversuche von Hauptberuflichen oder langjährigen Ehrenamtlichen angestoßen werden können. Das erfordert eine veränderte Rolle der Hauptberuflichen, die verstärkt Hebammentätigkeiten für die Ehrenamtlichen übernehmen dürfen wie Eli bei der Berufung des Samuel: ›Aber Samuel kannte den Herrn noch nicht, und er wusste nicht, wie es zugeht, wenn einem ein Wort Gottes offenbart wird.‹ (1 Sam 3,7, nach Jörg Zink)«13 Es lassen sich aus unserer Sicht acht Titelwörter für den Umgang des Hauptamtlichen-Teams mit Ehrenamtlichen herauskristallisieren. An diesen »acht Kostbarkeiten« orientieren sich die Hauptamtlichen in unserer Pfarrei und alle Mitwirkenden und lassen sich auch daran messen: Ȥ (1) »Begegnen« –  (2) »Entdecken« Voraussetzung, um die Begabung eines Menschen zu erkennen, ist die Begegnung. Dafür ist ein Rahmen zu schaffen, der es den Personen ermöglicht, niederschwellig mit uns in Beziehung zu treten. Im Austausch miteinander sollen sie immer mehr von ihren vorhandenen Möglichkeiten, Fähigkeiten und Ressourcen entdecken und ermutigt werden, diese zu leben. Wir wollen dabei Ȥ (3) »Ermutigen« – (4) »Ermöglichen« Ȥ (5) »Begleiten« – (6) »Aufbauen« Ȥ (7) »Zusammenarbeiten« – (8) »Vernetzen«. 12 Bei der Erstellung des Ehrenamtskonzepts wurden wir unterstützt von Oliver Reifenhäuser von der Beratergruppe Ehrenamt, Berlin: www.beratergruppe-ehrenamt.de (letzter Zugriff am 06.05.2022). 13 Bischöfliches Generalvikariat Essen o. J., 24.

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Diese »acht Kostbarkeiten« bilden die Grundlagen für neun Themenfelder, in denen es um ihre praktische Umsetzung geht. 1. Gestaltung von Aufgaben  Grundlegend ist, dass weniger die Aufgaben, sondern vielmehr die Begabungen, Berufungen und Charismen der Ehrenamtlichen im Vordergrund stehen. 2. Freiräume zum Experimentieren und Ausprobieren (Visionsarbeit/Zukunftswerkstatt) gewähren 3. Übernahme und Abgabe von Verantwortung  Wofür wird Verantwortung übernommen, wer hat wem Verantwortung übergeben? Die Grundsätze des Datenschutzes und der Verschwiegenheit sind zu beachten. 4. Gegenseitige Wertschätzung und Anerkennung (unter anderem durch Würdigung und Zertifikate) 5. Kommunikation (regelmäßiger Austausch, Planungs-, Auswertungs-, Jahres-, Konfliktgespräche, Mediation) 6. Meinungs- und Entscheidungsprozesse sollen offen und transparent sein. 7. Wertschätzende Fehlerkultur (regelmäßiges kritisches Feedback)  Aus Fehlern können wir lernen und Umwege erhöhen die Ortskenntnis! 8. Vertrauen und Kontrolle  Mechanismen der Rückverfolgbarkeit, Regeln und Rahmenbedingungen werden klar und transparent benannt. 9. Zugriff auf Räume, Mittel, Geld  Wer Verantwortung übernimmt, soll alles Notwendige bekommen, was er/ sie zum Erfüllen des Aufgabenprofils benötigt. Ein Schlüsselwort erscheint mir am Schluss noch interessant, nämlich der Begriff der Ambiguitätstoleranz.14 Gerade in »unsicheren« Zeiten, wo es schwierig ist, etwas zu planen, braucht es diese Kompetenz. In einer Stadt wie Herten mit ihrer weltanschaulichen Vielfalt gilt es in Bezug auf Glaubens- und Weltdeutungsprozesse die Gemeinsamkeiten zu stärken und die Besonderheiten zu verstehen. Herausfordernd ist diesbezüglich das inklusivistische Verständnis

14 Ambiguitätstoleranz meint die Fähigkeit, mit Mehrdeutigkeiten gut umgehen zu können, ohne sich unsicher zu fühlen oder aggressiv zu werden. Diese Mehrdeutigkeiten können sich im Sinne einer Toleranz gegenüber anderen Meinungen und anderen Religionen auf die Glaubens- und Weltdeutung beziehen. Ambiguität bezieht sich aber auch auf Werthaltungen, z. B. auf die Frage: Wie tolerant bin ich gegenüber anderen Lebensentwürfen und Einstellungen?

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der katholischen Kirche.15 Glaube als Versuch, das Transzendente in Begriffe zu fassen, kennt immer einen Rest an Vagheit, Unbestimmtheit und Mehrdeutigkeit und aus dieser Haltung heraus sind offene und wertschätzende Begegnungen möglich.16 Seelsorge in Glaubens- und Weltdeutungsprozessen heißt aus meiner Sicht, den Blick zu weiten auf Menschen in ihrer Lebenswelt und Lebenssituation; Ȥ sich ihrer Fragen und Deutungsversuchen anzunehmen, Ȥ diese ins Wort zu bringen und Ȥ fruchtbar werden zu lassen. Dazu möchte ich gerne ermutigen. »Die wichtigste Stunde ist immer die Gegenwart. Der bedeutendste Mensch ist immer der, der dir gerade gegenübersteht. Das notwendigste Werk ist stets die Liebe« (Meister Eckhart).

4 Persönlicher Rückblick Blicke ich auf meine Begegnung und meinen Weg mit Professor Kießling zurück, erkenne ich diese Aspekte wieder: Ich habe ihn als genauen und präzisen Analysten und Wissenschaftler erlebt, gleichzeitig aber auch durch und durch als Seelsorger. Er fordert zum Denken heraus, wagt sich an Grenzen, hinterfragt, reflektiert und ist darin Vorbild für seine Student*innen. Er sieht nicht schwarz oder weiß, sondern nimmt Nuancen und Facetten sowie Ambivalenzen wahr. Er lebt die Interdisziplinarität zwischen Theologie und Psychologie.

15 Wahrheitsobsession, Geschichtsverneinung und Reinheitsstreben sind laut Bauer die drei Wesenszüge bzw. Grundbegriffe von Ambiguitätsintoleranz! Auf der anderen Seite gilt es, der »Gleichgültigkeit« vorzubeugen. Vgl. Thomas Bauer, Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt, 12. Auflage, Stuttgart 2019, 29. 16 Vgl. Bauer 2019, 34.

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Mehr relational als integral Pastorale Mitarbeiter*innen im Sozialraum Bernd Hillebrand

Die Essener Citypastoral bietet unter dem Titel »Kirche geht Kino« einen Abend an, an dem im städtischen Kino ein aktueller Film geschaut und dann darüber diskutiert wird. Oder bei einem sogenannten »SinnSucherSalon« in einem Restaurant mit mehreren Gängen kann man beispielsweise mit einem Fotografen und zwei Reifenhändlern ins Gespräch kommen. Oder Kar- und Ostertage werden im »Grillotheater« gefeiert. Außerhalb von kirchlichen Räumen sucht die Citypastoral von Essen Orte in der Stadt auf oder kooperiert mit ihnen, an denen sich das Leben oder der Glaube ausdrücken. Kirche ist also an unterschiedlichen Orten zu Gast und bezieht in ihrem pastoralen Ansatz nicht die Welt auf sich, sondern sich auf die Welt. In diesem Beziehungsverhältnis tritt sie in Verbindung mit unterschiedlichen Orten. Außerdem ist sie zu einschneidenden Anlässen in der fluiden Stadt präsent. Am Valentinstag können sich Paare und Gruppen in der Fußgängerzone segnen lassen. Am Aschermittwoch trifft man Kirche mitten in der Stadt mit »ashes to go« und zum Schutzengelfest im Oktober kann man sich mit Engelsflügeln ablichten lassen. Diese kirchliche Präsenz in der Stadt stellt eine passagere Pastoral dar, die Menschen mit Gott neu in Berührung bringen möchte und gleichzeitig in der Art der Präsenz ihre Freiheit ernst nimmt. Citypastoral in Essen ist ein ekklesiologischer Auf- und Ausbruch in den Stadtraum, um mit ihm in Beziehung zu treten. Sie versucht nicht integralistisch1, die Stadt auf sich zu beziehen, sondern bezieht sich selbst auf die Stadt. 1

Integralistisch meint im Rahmen dieses Artikels, die eigenen Strukturen, Formen und Sprachspiele nicht relational mit einer Zeit und den Bedürfnissen und Fragen ihrer Menschen in Verbindung zu bringen, sondern die Menschen primär in das eigene System integrieren zu wollen. Dabei wird nicht nur der Glaube, sondern werden auch Menschen, ohne ihre soziokulturelle Herkunft zu berücksichtigen, in soziopastorale Gegebenheiten übergeführt. Franz Josef Stegmann zufolge resultiert eine solche Haltung daraus, dass die Bemühung abgelehnt wird, den christlichen Glauben mit dem Denken der jeweiligen Zeit zu verbinden (Franz Josef Stegmann, Integralismus, in: Walter Kasper (Hrsg.), Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 10, 3. Auflage, Freiburg i. Br. 2001, 549 f.). Historisch betrachtet kann der Begriff zudem eine Überordnung der kirchlichen über die politische Sphäre beinhalten. Sosehr jegliches

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Mit diesem Perspektivenwechsel beginnt eine Suche nach einem neuen Verhältnis von Kirche und Lebensraum. Das Beziehungsverhältnis gestaltet sich vermutlich mehr relational als integral und sucht nach religiösen Konnotationen des kollektiven Gedächtnisses in Raum und Zeit, das sich in Dingen und Gebäuden, in Städten und ganzen Landschaften wiederfindet.2 Eine solche Beziehung zwischen Kirche und Lebensraum sucht danach, wie Kirche relational im Sozialraum präsent sein kann. Um diesem Beziehungsverhältnis auf die Spur zu kommen, gehe ich im Folgenden in vier Schritten vor. Zunächst geht es um eine Bestimmung der Raumund Zeitfrage im sogenannten »spatial turn«3. Menschen leben in Räumen und produzieren dabei ständig neue Räume in temporalen situativen Ereignissen. Solche Momente und Verortungen können dann theologiegenerativ werden, weil im Beziehungsgeschehen mit dem Gott Jesu Christi relationale und lokale Anknüpfungspunkte entstehen. Sie sind pastorale Orientierungspunkte für die Begegnung im Raum. Darum geht es im zweiten Schritt. Daraus folgt in einem dritten Schritt ein Verständnis von Kirche im Lebensraum, das eine »Kirche unter Menschen« fordert. Sie nimmt Abschied vom integralistischen Ansatz und geht relational in den Sozialraum. Hieraus ergeben sich in einem vierten und letzten Schritt territoriale und kategoriale Handlungsoptionen für pastorale Mitarbeiter*innen.

1 Relationale Wende im Raum-Zeit-Diskurs Auf der Suche nach einer passenden Handlungsorientierung für pastorale Mitarbeiter*innen kann man Räumen, in denen sich Menschen bewegen, nicht ausweichen und ebenso wenig der Zeit, in der und durch die sie gebildet werden. Gerade durch den spatial turn wird der Raum noch bedeutender.4 Der Raum bekommt eine soziale Aufmerksamkeit und Bedeutung, die Menschen als Produzent*innen von Räumen wahrnimmt und entdeckt. Um Räume mit ihrem Verständnis von »Integralismus« abzulehnen ist, so wenig kann die Kirche darauf verzichten, »integrierend« zu wirken, indem sie Menschen miteinander in Beziehung bringt und dabei Vielfalt als unerschöpflichen Reichtum leb- und denkbar macht. 2 Vgl. Klaus Bieberstein, »Zum Raum wird hier die Zeit«. Drei Erinnerungslandschaften in Jerusalem, in: Jahrbuch für Biblische Theologie 22 (2007) 3–39. 3 Vgl. Jörg Döring & Tristan Thielmann (Hrsg.), Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, 2. Auflage, Bielefeld 2009. 4 Im Wesentlichen ist der Raum nicht mehr ein zeitlich festgelegter Raum, auf den sich Menschen beziehen, sondern der Raum konstituiert sich aufgrund der sozialen Konstellation. Vgl. Döring & Thielmann (Hrsg.) 2009.

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Funktionieren und Produzieren zu verstehen, bedarf es zunächst eines Raumdiskurses. Dabei beziehe ich mich mit Fabian Brand auf drei Diskursbegründungen.5 Die erste steht in Verbindung mit Michel de Certeau, der Orte und Räume grundlegend unterscheidet.6 Er konstatiert, dass Orte eine gewisse Stabilität haben und Räume an Orten durch subjektive Handlungspraktiken kreativ gebildet werden. »Räume sind keine bloßen Container, sie unterliegen dem gesellschaftlichen Zusammenleben.«7 Insofern produzieren sie in ihrer sozialen Konstellation Wissen. Die zweite Diskursbegründung führt zu Martina Löw. Sie bringt in ihrer Raumsoziologie die Raumproduktion mit dem sozialen Handeln der Gesellschaft in Verbindung. Im Raum findet nach Löw eine Ordnung oder Neu-Ordnung von Gütern und Menschen (Lebewesen) statt.8 Räume sind also nicht statisch, sondern sind ein Konstrukt, das eine ständige Auseinandersetzung mit dem/der anderen bedeutet und infolgedessen ein stetes Aushandeln im Ringen um Macht darstellt. »Raum ist gemäß der Diktion Martina Löws immer relational begriffen.«9 Der US-amerikanische Geograf Edward Soja ist schließlich mit den von ihm beschriebenen drei Raumdimensionen gleichsam der bekannteste Autor im Raumdiskurs.10 Er bezieht sich dabei auf den Philosophen Henri Lefebvre.11 Als räumliche Praxis versteht Lefebvre den physisch erfahrbaren Raum, den Soja als firstspace bezeichnet. In diesem Raum finden sich durch Aushandlungsprozesse und soziale Interaktion Wissen und Macht. Dadurch entsteht eine gewisse Raumordnung, die Soja als secondspace benennt. Der secondspace hängt unmittelbar vom firstspace ab, da es ihn ohne diesen nicht gibt. Der dritte Raum, der thirdspace, unterscheidet sich von den ersten beiden, da er einen Raum der Repräsentation meint. »Für Lefebvre sind das die unmittelbar gelebten Räume, es sind die Räume des Widerstands, Räume mit einer radikalen Offenheit.«12 Der dritte Raum überschreitet die ersten beiden und bildet in einem abduktiven Geschehen einen gelebten Raum neuer Möglichkeiten. Darin bildet sich das konkrete Zusammenleben der Menschen, das auf völlig neue und unerwartete Art und Weise mit Leben erfüllt wird. 5 Vgl. Fabian Brand, Alles dreht sich um den Raum … Topologische Aspekte der pastoralen Strukturreform, in: Zeitschrift für Pastoraltheologie 39 (2019), Heft 2, 111–124, hier: 114 ff. 6 Vgl. Michel de Certeau, Kunst des Handelns, Berlin 1988, 218. 7 Brand 2019, 114. 8 Vgl. Martina Löw, Raumsoziologie, 8. Auflage, Frankfurt a. M. 2015, 224. 9 Vgl. Brand 2019, 115. 10 Vgl. Edward W. Soja, Thirdspace. Journey to Los Angeles and Other Real-and-Imagined Places, 20. Auflage, London – New York 2017. 11 Vgl. Henri Lefebvre, The Production of Space, 36. Auflage, Melden 2016, 32 f. 12 Brand 2019, 116.

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Durch alle drei Diskursbegründungen zieht sich wie ein roter Faden der relationale Aspekt, durch den ein Raum produziert wird, der menschliches Leben ermöglicht, angeht und bestimmt. Lebensräume lassen sich nicht mehr integral produzieren, Menschen gestalten sie relational. In diesen Räumen ereignet sich auch christliche Lebensgestaltung in ganz neuen und unterschiedlichen Konstellationen. Fluide Formen konstituieren den Raum, der sich auf unvorhersehbare Weise mit Leben füllt. In vergleichbarer Weise hat sich auch die Raum-Zeit-Konstellation umgekehrt. Michael Schüßler beschreibt diese Veränderung als einen Wandel von der Raumwerdung der Zeit zur Temporalisierung von Räumen.13 Wo sich in alten Kirchen und Kathedralen noch ein historisches Verständnis von Glauben als festgelegte und stabile Verräumlichung findet, sind gegenwärtig religiöse Rituale und Zeichen nicht mehr eindeutig, sondern ihre Bedeutung muss sozial und individuell gesucht und gefunden werden. In der Spätmoderne schaffen sich Menschen ihre Gegenwart nicht allein aus der Geschichte, sondern aus der Verschränkung von Zukunft und Vergangenheit. Dabei ist die Zeitorientierung das Ereignis, das sich situativ neu verschränkt und verändert. Die Gegenwart wird zum Moment, der neu beschrieben und definiert werden muss. Die Bedeutung christlicher Hoffnung in der Gegenwart entscheidet sich individuell und relational. Dieser zunächst geführte Raumdiskurs macht deutlich, dass der Raum in der Spätmoderne nicht ein festgelegter ist, an den Menschen integral gebunden werden können. Die Menschen selbst sind Produzierende des Raumes, der sich sozial konstituiert. Der Raum muss im thirdspace mit Leben und Glauben gefüllt werden und bekommt dadurch eine Bedeutung. An diesen Diskurs schließt der Wandel der Zeitdispositive an. Die Kommunikation im Raum geschieht nicht mehr über eine stabilisierende Verräumlichung des Glaubens, sondern die Zeichen des Raumes in der Verzahnung von Vergangenheit und Zukunft werden zum individuellen Ereignis, das Bedeutung erlangt. Weder räumlich noch zeitlich lassen sich Menschen also in einen Glaubensraum integral vereinnahmen. Räumlich konstituiert sich der Raum relational freigebend und im Dispositiv der Zeit individuell und plural im Ereignis. Bevor nun zu schnell handlungsorientierte oder pragmatische Schlüsse gezogen werden, stellt sich vergewissernd die Frage nach dem theologischen Bezug. Wie lassen sich die veränderten Bedingungen von Raum und Zeit theologisch für die Glaubenskommunikation einholen? 13 Vgl. Michael Schüßler, Ereignisse des Evangeliums kuratieren. Über die pastorale Semiotisierung religiöser Räume, in: Jürgen Bründel, Thomas Laubach & Konstantin Lindner (Hrsg.), Zeichenlandschaften. Religiöse Semiotisierungen im interdisziplinären Diskus, Bamberg 2021, 195–212.

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2 Theologische Verortungen zwischen relational und lokal Die dargelegte Raum-Zeit-Konstellation konstituiert sich zum einen relational und zum anderen lokal. An diese beiden Aspekte schließt das Kommunikationsgeschehen des Gottes Jesu Christi mit der Welt und mit den Menschen an, das in eine Wort-Antwort-Beziehung tritt, die zur Begegnung wird.14 In radikaler Weise geschieht dies in der Menschwerdung Jesu. Christentum und christlicher Glaube kann nicht ideologisch allein in dogmatischen Lehrsätzen oder autoritativen Aussagen eingefangen werden, sondern will als Lebensform unter anderen als Begegnungs- und Beziehungsgeschehen in der lokal verorteten Welt verstanden werden.15 Die Offenbarung in Jesus Christus ist also nicht nur eine Mitteilung, sondern gerade das Zusammenfallen von Inhalt und Form, von Wort und Tat. In den unterschiedlichen Begegnungsgeschichten Jesu wird deutlich, dass in der Begegnung mit Menschen ein wechselseitiges Beziehungsverhältnis entsteht. Die Gesprächspartner*innen bleiben dabei in ihrer Autonomie und in ihrer subjektiven Deutungshoheit unangetastet. In Heilungsgeschichten fragt Jesus immer wieder: »Was willst du, dass ich dir tue?« (Mk 10,50). Die Adressat*innen sind Subjekte der Botschaft, ganz besonders die verwundeten Menschen am Rand. Die Begegnungen Jesu sind keine kommunikative Einbahnstraße, sondern tragen eine Lern- und Wandlungsdimension in sich.16 Christliche Begegnung erzählt vom Gott Jesu, wenn sie in der Lage ist, sich von anderen, besonders den Armen und Leidenden, etwas über das Evangelium sagen zu lassen, es von ihnen ebenso zu lernen, wie es ihnen zu lehren.17 Das Begegnungs- und Beziehungsgeschehen zwischen dem Gott Jesu Christi und uns Menschen ist somit ein unverfügbares und gnadenoffenes Ereignis, das individuell und in seiner sozialen Konstellation entschieden wird. Papst Franziskus bezeichnet es als »Instinkt des Glaubens« (EG 119). Inhaltlich ist das Beziehungsgeschehen Jesu durch die Botschaft einer bedingungslosen Anerkennung geprägt, die aus einer kenotischen Haltung heraus geschieht. Keine Vorleistung und keine körperlich-seelischen Voraus14 Vgl. Karl Rahner, Grundkurs des Glaubens. Einführung in den Begriff des Christentums, 7. Auflage, Freiburg i. Br. 1995, 211–225. 15 Christoph Theobald, Christentum als Stil, Freiburg i. Br. – Basel – Wien 2018, 53. 16 Hartmut Rosa spricht in diesem Kontext von »responsiver Unverfügbarkeit«. Vgl. Hartmut Rosa, Unverfügbarkeit, Wien – Salzburg 2020, 119. 17 Vgl. Rainer Bucher & Johann Pock, Entdeckungen wagen. Wie heute von Gott reden?, in: Rainer Bucher (Hrsg.), Die Provokation der Krise. Zwölf Fragen und Antworten zur Lage der Kirche, Würzburg 2004, 177–202, hier: 190.

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setzungen sind Bedingungen für die Beziehung, sondern deren gnadentheologische Irrelevanz wird in der Begegnung mit Jesus sogar performativ erfahrbar. In der gegenseitigen Resonanz der Begegnung als Bedingungslosigkeit steckt ein Wandlungspotenzial, das befreit, heilt und neues Leben ermöglicht. Diese Erfahrung wird zum Auftrag, zur solidarischen Compassio für Leidende, Vergessene und Ausgegrenzte. Ihnen kommt ein Primat der Begegnung und Beziehung zu. Dieses Begegnungs- und Beziehungsgeschehen, das sich relational in der Welt und den Menschen verortet, kann nicht ortlos stattfinden, wie auch das Beziehungsgeschehen der Inkarnation das kleine Dorf Nazareth finden musste. Insofern sucht eine je individuelle Schöpfungsberufung nach einem konkreten locus.18 Solche Berufungs-Orte sind Begegnungs- und Beziehungsorte, die die Erzählgeschichten Jesu erinnernd lebendig halten und so zu Hoffnungsorten der Gegenwart und Zukunft werden können.19 Diese Orte sind geprägt von einem Freiheitsraum. Christoph Theobald charakterisiert ihn als einen Lebensraum, der Menschen erlaubt, »ihre eigene Singularität zu entdecken, die bereits in der Tiefe ihrer Existenz verborgen da ist und sich nun plötzlich, in der Begegnung mit dem Mann aus Nazareth, als ›Glaubensakt‹ artikuliert«20. Der Ort wird zum Lebensraum. Dafür braucht es zuverlässige und stabile (Kirch-)Orte. Gleichzeitig lassen sich diese Begegnungen und Beziehungen nicht auf die stabilen Orte reduzieren, sondern sie müssen ereignisbasiert offen gehalten werden. Ob an stabilen oder ereignisbasierten Orten, der Ort wird zum Zeichen eines Raumes, der ein Beziehungsverhältnis zwischen Paschamysterium und Erfahrung ermöglicht und so zum Hoffnungsort werden kann. Ein inkarnationstheologisches Geschehen basiert zusammenfassend auf Relationalität. Dieses Beziehungsgeschehen braucht allerdings eine lokale schöpfungstheologische Verortung. Die lokale Verortung kann stabil oder situativ integriert im Sinne einer Zugehörigkeit sein, ohne integralistisch zu vereinnahmen. Die jesuanische Grundhaltung im relationalen Verhältnis ist eine kenotisch-freigebende. Insofern ist eine Pastoral, die sich am Beziehungs- und Begegnungsgeschehen Jesu ausrichtet, relational im Kontakt und lokal präsent. 18 Vgl. dazu die klassischen loci theologici von Melchior Cano und daran anschließend die Andersorte bei Michel Foucault, die von Christian Bauer neu in den Diskurs eingebracht wurden: Christian Bauer, Pastorale Andersorte? Eine kleine theologische Sprachkritik, in: Lebendige Seelsorge 66 (2015) 136–141. 19 Vgl. Johann Baptist Metz, Lernorte – Lernzeiten = Gesammelte Schriften, Bd. 6: Lerngemeinschaft Kirche, 2. Teilband, Freiburg i. Br. 2016, 44–46. 20 Theobald 2018, 59.

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Auch wenn sich eine solche Pastoral mehr an der Aufgabe als an der Sozialform orientiert, muss die Sozialform in jedem Fall einen Freiraum für ein Beziehungsund Begegnungsgeschehen offenhalten. Welche Form sich dafür eignet, nehme ich im Folgenden in den Blick.

3 Kirche unter Menschen Kirchenbilder sind diachron und synchron in stetem Wandel. Einerseits nehmen gesellschaftliche Veränderungen Einfluss auf das Kirchenbild, indem sie teilweise übernommen oder bewusst kontrastiert werden. Andererseits spiegeln sich in Kirchenbildern theologische Programmatiken. Nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil formte sich die Gemeindekirche, die sich als Mitmach- und Versorgungskirche profilierte. Daraus entwickelte sich im Zuge der sogenannten Communiotheologie eine Gemeindepastoral, die die Gemeinde als zentralen Ort des ganzen Lebens betrachtete. Die Welt wurde auf die Gemeinde bezogen und das Ziel war, Menschen in die Gemeinde integrierend zu binden. Seit den 1990er Jahren profiliert sich Kirche immer mehr zu einem Organisationsnetzwerk mit dem Ziel einer charismen- und milieuorientierten Pastoral. Die Einzelnen mit ihrem jeweiligen Charisma stehen im Mittelpunkt. Allerdings kommt auch diese Sozialform nicht von einer integralistischen Logik los. Sie agiert zielgruppenspezifisch, will nicht dauerhaft binden, kann aber das integralistische Komm-her-Prinzip einer professionellen Dienstleistung nicht überwinden. Ein offenes Begegnungs- und Beziehungsgeschehen bedarf ein Ausbrechen aus der Routine und den eigenen Räumen. Ein schöpferisches und fluides Netzwerk, das aus stabilen und mobilen Orten besteht, versucht ein Christ- und Kirchesein unter Menschen zu ermöglichen. Dieses Kirchenbild verortet sich im und für den Sozialraum und sogar darüber hinaus. Dort ist Kirche präsent und gleichzeitig mobil über die kirchlichen Grenzen. Ein fluides Netzwerk hat somit zwei Pole: eine organisationale Stabilität, durch die es lokal und relational erreichbar ist, und eine fluide Mobilität, die relational und lokal freigibt. Zusammenfassend zeigen diese Beschreibungen, dass die gängigen Sozialformen von Kirche integral bindend ausgerichtet und nicht in der Lage sind, Räume für ihre relationale und soziale Produktion freizugeben. Eine raumoffene Pastoral hingegen orientiert sich an einer Pastoral der Nähe im und für den Sozialraum. Wenn dabei Relationalität das wesentliche Prinzip ist, stellt sich die Frage, wie die Beziehungsakteur*innen, nämlich pastorale Mitarbeiter*innen, im Sozialraum agieren und dabei einen Perspektivenwechsel vollziehen. Mehr relational als integral

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4 Handlungsorientierung für pastorale Mitarbeiter*innen im Sozialraum Eine Angebotspastoral geht von einem Zentrum, einer Kirche oder einem Gemeindehaus, aus, auf das hin pastorales Leben ausgerichtet ist. Diese Per­ spektive nimmt nicht nur die klassische Gemeindepastoral ein, sondern auch eine organisational angelegte Dienstleistungspastoral. Eine raumorientierte Pastoral verlässt Räume wie auch Zentren und geht bewusst in neue Räume, um lokal präsent und relational im Kontakt zu sein.21 Diese zwei Haltungen sind das Ergebnis aus dem oben geführten Raumdiskurs temporalisierter Räume und den daran anschließenden theologischen Verortungen, die durch ein Begegnungs- und Beziehungsgeschehen zwischen Gott und Mensch christliche Räume als bedingungslos und ereignisoffen qualifizieren. Diese Haltungen fordern einen Perspektivenwechsel von Kirche und pastoralen Mitarbeiter*innen, der sich vom Zentrum hin zu Menschen und an Orte im Sozialraum bewegt. Der Sozialraum ist vor allem in der Sozialen Arbeit die Orientierungsgröße, die im Gemeinwesen und im sogenannten Quartier immer mehr in den Fokus rückt. Daher lohnt ein Blick in die Soziale Arbeit, wie dort der Sozialraum beschrieben und definiert ist. Sozialraumorientierung meint im Kontext Sozialer Arbeit nicht den Großraum einer Pfarrei, sondern das Quartier oder das Gemeinwesen. »Mit Gemeinwesen bezeichnen wir einen sozialen Zusammenhang von Menschen, der über einen territorialen Bezug (Stadtteil, Nachbarschaft), Interessen und funktionale Zugehörigkeit (Geschlecht, Ethnie, Alter) vermittelt ist, bzw. darüber definiert wird.«22 Das Gemeinwesen kann also territorial, im Gemeinwesen, oder kategorial, mit Gemeinwesen als Personalverband, definiert sein. Das Quartier hingegen bedeutet einen gesellschaftlichen Raum, der sowohl von baulichen Strukturen als auch von gesellschaftlichen Handlungsstrukturen beeinflusst und geprägt

21 Vgl. Bernd Hillebrand, Kontakt und Präsenz. Grundhaltungen für pastorale Networker, Ostfildern 2020. 22 Sabine Stövesand & Christoph Stoik, Gemeinwesenarbeit als Konzept Sozialer Arbeit – eine Einleitung, in: Sabine Stövesand, Christoph Stoik & Ueli Troxler (Hrsg.), Handbuch Gemeinwesenarbeit. Traditionen und Positionen, Konzepte und Methoden, Berlin 2013, 14– 36, hier: 16.

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wird. Räumlich und sozial ist das Quartier relativ überschaubar. Das Quartier ist also ein Teil des Gemeinwesens.23 Inhaltlich qualifiziert sich Soziale Arbeit in und mit Gemeinwesen durch Sozialraumorientierung. Sie orientiert sich an verschiedenen Prinzipien. Leitend im Sozialraum sind die Lebensbedingungen sowie die Orientierung an den Interessen und dem Willen der Adressat*innen. Das Ziel des Ansatzes ist es, persönliche und sozialräumliche Ressourcen und Potenziale zu erschließen, zu fördern und auszubauen. Ganz wesentlich ist die Möglichkeit zur Partizipation und zum Engagement. Durch Beteiligung, durch Gelegenheiten zur Begegnung und durch Engagement bringen Bewohner*innen wichtiges Wissen in die Sozialraumentwicklung ein. Außerdem entstehen Verbindungen durch Kooperation und Vernetzung. Die relevanten Akteur*innen sollen miteinander in Kontakt kommen und zusammenarbeiten. Schließlich spielen relevante Themen und Projekte eine zentrale Rolle. Die gesamte sozialraumorientierte Arbeit unterliegt einer ständigen Qualitätsentwicklung und einem Bemühen um Sicherung der Finanzierung.24 Diese Prinzipien einer Sozialraumorientierung in der Sozialen Arbeit sind Anknüpfungspunkte für eine Pastoral der Präsenz und des Kontakts. Der Sozialraum wird zum Wirkungsort und zum ekklesiogenetischen Ort, der nicht mehr in das eigene System exklusiv integriert werden muss, sondern der relational und kooperativ den Kontakt in das sozialräumliche Netz sucht. Diese Vernetzung in den Sozialraum und diese Präsenz im Lebensraum meint jedoch nicht, den eigenen materiellen Kirchraum in seiner Existenz aufzugeben. Die binnenkirchlichen Angebote sind aber nicht mehr exklusiv und als Monopol gedacht, sondern sie ereignen sich im Sozialraum der Menschen. Für pastorale Mitarbeiter*innen bedeutet diese Orientierung einen inneren Haltungswechsel. Der primäre Fokus auf eine Gemeindeversorgung und eine Aufgabenorientierung wird abgelöst von einer Pastoral der Vernetzung und der Präsenz. Sie gibt eine absolute Versorgung und eine exklusive Aufgabenerfüllung frei, um sich zuerst als Dienst am Bedürfnis der Menschen zu orientieren. Dabei verändert sich der Fokus, ohne eine stabile Präsenz von Kirche aufzugeben. Es bleiben zwei Pole, an denen sich Pastoral orientiert: eine feste und stabile Präsenz zum einen und eine mobile Vernetzung im Sozialraum zum anderen. Die pastorale Handlungsorientierung im Sozialraum hat jedoch nicht nur eine territoriale Dimension, sondern auch eine kategoriale. Die kategoriale 23 Vgl. Martin Becker, Sozialraumorientierung im Handlungsfeld der Sozialen Arbeit in und mit Gemeinwesen, in: ders. (Hrsg.), Handbuch Sozialraumorientierung, Stuttgart 2020, 60–100, hier: 68 ff. 24 Vgl. Becker 2020, 85 ff.

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meint eine Vernetzung von Interessen und Zugehörigkeiten. Diese Dimension sprengt eine territoriale Begrenzung und setzt sie gleichzeitig voraus. An diese Verflechtung von kategorialen und territorialen Orten schließt eine aktuelle Theorie und Studie der Urbanisierung, die Studie Futopolis, an und beschreibt die herausfordernde Verbindung zweier Räume: von somewhere und anywhere – dem Lokalen und dem Globalen.25 Auf der einen Seite spricht die Studie von Anywheres (»Irgendwos«). »Die Anywheres sind dadurch gekennzeichnet, dass sie zwar irgendwo wohnen – meist in einer Großstadt –, aber so ortsungebunden sind, dass sie jederzeit umziehen könnten. Und das tun sie auch ziemlich häufig. Die gut bezahlten mobilen Angestellten, die Kosmopoliten und Globetrotter. […] Anywheres sind die Gewinner und Bewohner der globalen Urbanisierung.«26 Auf der anderen Seite gibt es die Somewheres (»Dagebliebenen«). »Die Somewheres sind hingegen diejenigen, die aus vielfältigen Gründen an einem Ort geblieben sind. […] Somewheres, das sind die Bewohner von Hochhaus-Ghettos, in denen der Beton bröckelt. […] Von Kleinstädten, in denen der Zug durchfährt. Oder eben von sozial prekären Großstadtvierteln, in denen der Ausländeranteil enorm hoch ist und Deutsch auf dem Schulhof nur eine von vielen Sprachen.«27 Die Somewheres definieren sich über einen Ort oder über eine Nation, weil ihre berufliche Identität kein Gewinnergefühl hervorbringt. Die Differenz zwischen beiden ist weniger der Wohnort, sondern das Mindset. Die milieuverengte Darstellung der beiden Gruppen ist problematisch. Sowohl Anywheres als auch Somewheres werden von unterschiedlichen Milieus durchsetzt und können in ihrer scharfen Trennung nicht gehalten werden. Zu Recht stellt Korner die Fragen:

25 Vgl. Christoph Korner, Somewheres und Anywheres, in: Zukunftsinstitut GmbH (Hrsg.), Futopolis. Stadt, Land, Zukunft, 2. Auflage, Frankfurt a. M. 2019, 58–61. Der englische Publizist David Goodhart führt auf diese beiden »Kulturen« von Somewheres und Anywheres die gesellschaftlichen Spaltungen zurück, die sich gesellschaftlich und kirchlich ausprägen. Es sind zwei radikal verschiedene Lebens- und Fühlweisen. 26 Korner 2019, 59. 27 Ebd.

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»Existieren die beiden Milieus, die Goodhart beschreibt, wirklich so homogen und so getrennt voneinander? Kennen wir nicht alle Menschen, die in der tiefsten Provinz leben und dennoch kulturell kosmopolitisch denken und fühlen? Haben wir als Menschen, egal ob Land- oder Stadtbewohner, nicht immer beides in uns: den Lokalisten und den Globetrotter, den Heimatsucher und den Veränderer? Die Zukunft gehört den Glokalisten, die beide Elemente auf einer neuen Integrationsstufe in sich vereinigen, Heimat und offener Horizont. Progression und Bewahrung. […] Dörfer mit sozialem Zusammenhalt wachsen in der Stadt. […] Dörfer rekonstruieren sich rund um charismatische Bürgemeister.«28 Ein Glokalist denkt dann nicht mehr ausschließlich lokal, sondern immer auch global, nicht nur territorial, sondern auch kategorial. Territorial lässt sich dann nicht mehr, wie üblicherweise in der Pastoral, von kategorial abgrenzen. Beide Bereiche gibt es nicht ohne den je anderen und sie entgrenzen sich gegenseitig fließend. Pastorale Mitarbeiter*innen der Zukunft müssen also Glokalisten sein. Im Sozialraum der Somewheres gilt es, territorial verortet und kategorial vernetzt zu arbeiten. In diesem territorialen Raum ist Kirche verlässlich erreichbar, stabil, und gleichzeitig im Sozialraum vernetzt, mobil. Die Anywheres sind weit weniger greifbar, wie eben in der Citypastoral in Essen. Auch hier braucht es Orte, wo Kirche territorial, besser gesagt: lokal stabil erreichbar ist, wo man seelsorglich reden kann, wo man Unterstützung erfährt. Die Begegnungsorte sind jedoch mobil, liquid und ereignisbasiert – kategorial. Sie finden in der Fußgängerzone oder im Kino oder im Restaurant statt – vielleicht. Diese hybride Arbeitsweise, territorial und kategorial vernetzt, weitet den Horizont pastoralen Arbeitens und verortet ihn gleichzeitig lokal. Dadurch bleiben pastorale Mitarbeiter*innen mit den Subjektbezügen der unterschiedlichen Sozialräume im Kontakt, ohne sie in den eigenen Sozialraum exklusiv integrieren zu »müssen«. Aus sich heraustreten in andere, vielleicht fremde Räume bedeutet Kenose, die Grundbewegung christlicher Inkarnation. Es geht um Menschwerdung, wenn Pastoral relational mit dem Sozialraum in Kontakt tritt und lokal, manchmal auch nur situativ, präsent ist. Genau um diese Menschwerdung geht es dann an Ostern im »Grillotheater« oder beim »SinnSucherSalon« der Citypastoral in Essen.

28 Korner 2019, 61.

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1 Introduction Pope emeritus Benedict XVI said once in an address to the clergy of Rome, »Only faith in Christ and only sharing the faith of the Church can save the family; and on the other hand, only if the family is saved can the Church survive.«1 The existential need of the family for the Church cannot be overemphasised. The Church lives or dies with the family. Stable families have been the strength and power of the Syro-Malabar Church. I believe that a historical survey would prove that the golden age of the Syro-Malabar Church parallels with the golden age of Syro-Malabar families. The golden age of the family here refers to the period of strong and stable families. Family stability and a »strong sense of family values and tradition[…]«2 have been considered correlational with the boom of religious vocations. On this auspicious occasion of the 60th birthday of Klaus Kießling as we cherish beautiful memories of days spent with him in Sankt Georgen and show our great appreciation for his person, I would like to focus here on pastoral strategies in accompanying couples, especially young couples. In this piece, I present how family cycles must be taken into consideration, how families can be organized as self-help groups through a mystagogical pastoral approach.3 To demonstrate these strategies, I start with an analysis of the present context.

1

Pope Benedict XVI, Address to the Clergy of Rome, 2 March 2006, available online at: https:// www.vatican.va/content/benedict-xvi/en/speeches/2006/march/documents/hf_ben-xvi_ spe_20060302_roman-clergy.html (last accessed: 26th Jan 2022, emphasis by W. P). 2 Cf. Crescenzio Sepe, in a Homily at Marine Drive ground in Ernakulam (India) on 17th November, 2002, available online at: http://www.vatican.va/roman_curia/congregations/cevang/ documents/rc_con_cevang_doc_20021117_sepe-homily-ernakulam_en.html (last accessed: 26th Jan 2022). 3 A modified version of this article was published as: Wilson Parekkattil, Pastoral accompainment of young couples: Prospects and challenges for the Syro-Malabar Church today, in: Encounter. A Journal of Interdisciplinary Reflection of Faith and Life 11 (2020), Issue 2, 85–95.

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2 Context analysis The present-day reality depicts a paradoxical picture of the Syro-Malabar Church. The state of Kerala – the cradle and stronghold of the Syro-Malabar Church – is considered to be at the top of the list of states with higher number of divorces. Hence the state was even named as »the divorce capital of India«4. Among the Christian population there the divorce rate is calculated to be about 17 %. Families with conflicts and marital discord are skyrocketing. Unofficial calculations project that there are about three lakhs of unmarried men who have crossed the age of marriage. The fertility rate of the Christians in Kerala has come down to one. It is proved that for sustaining a culture, fertility rate above two is required. Studies on the population in Kerala show that soon the Syrian Christians in Kerala may reach the stage of Zero Population Growth (ZPG) or Negative Population Growth (NPG).5 These studies show that the Christians in Kerala are in a process of extinction. When families disintegrate, the Church vanishes. Personally, I would add two more aspects which are highly relevant in this context. More than any other community, Christians’ celibate lifestyle and job-oriented migration play a critical role. Religious celibacy is a high ideal among Catholics. This observation needs to be studied against the historical backdrop of Christians in Kerala. One century ago, Christians in Kerala had the highest birth and fertility rate among other co-existing populations. A promising potential area of research in Kerala would be to examine the psychological, moral, and religious consequences of these developments among the younger generation. In my opinion, the previous generations had a higher degree of resilience. Resilience implies the power of resistance or elasticity. It indicates the capacity of the individuals to cope with and overcome difficult and stressful life situations.6

4

Deepa Soman, Kerala turns divorce capital of India. Here’s why!, in: The Times of India, online edition from 4th Jul 2016, available online at: https://timesofindia.indiatimes.com/city/kochi/ kerala-turns-divorce-capital-of-india-heres-why/articleshow/53032107.cms (26th Jan 2022). 5 Cf. Xavier Khan Vattayil, Shekinah Channel Online Conference, available online at: https:// www.youtube.com/watch?v=k8NuqPSbeFo (last accessed: 21th Dec 2021). 6 Cf. Klaus Fröhlich-Gildhoff & Maike Rönnau-Böse, Resilienz, 4th edition, München – Basel 2015, 9.

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3 At war with the past, not rooted in the present The whole Indian society is in a flux of change and transition. Marriage and family are not immune to these changes, quite the opposite, in fact. Understandings and expectations of marriage has changed. Hypothetically speaking, a Keralan woman might consider marriage as a relationship with a man who suits her emotionally and physically. Through this relationship she might expect to receive emotional satisfaction, friendship, and mutual respect. Many don’t feel marriage to be a necessary traditional custom and ritual. Earlier, due to the social importance of marriage, social and religious customs cemented the marital norms. Traditionally, patriarchy in both its extreme and moderate forms remained the foundation for any marriage.7 Emotional satisfaction is a top priority in marriage.8 The average age of marriage in India is 30 for men and 26 for women.9 The responsibility for the marriage relies on the partners. Interference from outside is not welcome. The personality and needs of the partners are respected. Difference of opinions and conflicts are taken for granted. There is no scope of compromise with physical, mental, emotional, or sexual abuse. Parents and children get their respective places, but they are not expected to intervene in the marital partnership. If the partners themselves cannot solve conflicts, outside help can be sought. In case the partnership cannot be continued, separation and divorce are no longer considered taboo.10 My research in the Syro-Malabar Church reiterates a few important facts: (i) »Growing autonomy of women as a result of the socio-economic changes has substantially influenced the marriage and family dynamics.«11 Various factors have contributed to it.12 The women in this study were no longer willing to be dependent handmaids at the mercy of men. Hence the self-understanding about marriage needs to be rewritten as a partnership between equals. (ii) Processes of detraditionalization and deinstitutionalization: The binding force of tradition and external norms diminishes in the decision-making 7 Cf. Wilson Parekkattil, Marriage and Family Today: Challenges and Responses in Search of a Pastoral Concept based on an Empirical Research in the Syro-Malabar Church in Kerala, unpublished doctoral thesis, Frankfurt a. M. 2019. In my thesis I made an empirical research in Kerala and in the light of that I make these observations. 8 Cf. Vijay Nagaswami, Navadambathythinu Nalla Thudakam [Smart Strategies for Good Beginnings], Bharananganam 2015, 17–19. 9 Cf. Nagaswami 2015, 21. 10 Cf. Nagaswami 2015, 21. 11 Parekkattil, 2019, 126 (emphasis original). 12 Cf. Parekkattil 2019, 130.

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process and is replaced by individual decision-making. Individuals themselves occupy the space previously occupied by traditions and norms.13 American Sociologist Andrew J. Cherlin speaks of the process of deinstitutionalization of marriage, by which he means, »the weakening of the social norms that define people’s behaviour in a social institution.«14 (iii) The end-result of these processes are the individualized marriages. Cherlin explains that this occurs when partners »began to think more in terms of the development of their own sense of self and the expression of their feelings, as opposed to the satisfaction they gained through building a family and playing the roles of spouse and parent.«15 Subsequently, »[the] binding force of marriage is no more tradition, economic life, social cohesion, or the children, but the emotional satisfaction of the spouses and their self-identity.«16 (iv) Socially, economically, religiously, and psychologically mismatching partnerships emerge more often than we expect. Though this was more common in the past, the social, traditional, economic, and religious pressure was strong enough to hold them the partners together.17 However, in the wake of growing autonomy of women and other changes along with the processes of deinstitutionalization and detraditionalization, mismatching couples may sooner or later part ways. (v) The after-effect of all these changes on a partnership is unparalleled increase of conflict and diminishing of many conflict-resolving elements like extended family circle or protection and support of healthy religious and socials traditions and norms.

4 New strategies Since a solution strategy for this multifaceted situation is beyond the scope of this article, I instead focus on the accompaniment of young couples. Pope Francis in Amoris Laetitia underlines the marriage preparation (both pre-marital and post-marital) as a pedagogical process.18 In this pedagogical process, one main 13 Cf. Parekkattil 2019, 130 14 Andrew J. Cherlin, Deinstitutionalization of American Marriage, in: Journal of Marriage and Family 66 (2004), 848–861, here: 848. 15 Cherlin 2004, 852. 16 Parekkattil 2019, 142. 17 Cf. Parekkattil 2019, 127. 18 Cf. Pope Francis, Amoris Laetitia – The Joy of Love, Post-Synodal Apostolic Exhortation (19th Mar 2016), Trivandrum 2016, 217–230.

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suggestion is to understand and approach married life as life cycles. Empirical research in Kerala has pointed out that the absence of timely help to the couples can lead to deep wounds which in turn cause rifts between couples and families.19 Close observation of couples’ lives together demonstrates some kind of cyclic development or stages in the marital partnership. It is important to note that we cannot draw clear boundaries between these stages. We can only speak of »a mere approximation of complex processes, and not an affirmation of a ›normal‹ model of fixed stages or ordered progression over the life course.«20 The family can be studied as a system which develops according to stages and where each stage includes specific challenges and tasks. The Hill-Duvall model consists of nine stages in the development of family. I opt for a model of family cycle consisting of six stages.21 4.1 Young adulthood The theme of this period is to separate oneself from the family of origin and strive for economic and emotional independence. Young adults discover vision and ideals for their lives. It is the time of clearly differentiating one’s identity in relation to the family of origin. The great challenge at this point is maintaining a healthy balance between detachment and attachment to the family of origin. In other words, »Only when the generations can shift their hierarchical relations and reconnect in a new way can the family move on developmentally.«22 I have come across many cases in which overdependence of either or both of the couples on the family of their origin turning out to be the biggest hurdle for a happy family. »Prolonged dependency«23 is a very serious modern problem. The young adults need help to »re-evaluate the gender roles of their parents and grandparents, so that they do not replicate previous relationships of inequality or dysfunctions.«24 For example, extreme patriarchal tradition has been the norm among many traditional Christian families in Kerala. That is in the blood of many male adults. Whereas, the female adults today predominantly do not accept it as norm.25 19 Cf. Parekkattil 2019, 239. 20 Monica McGoldrick & Tazuko Shibusawa, Family Life Cycle, in: Froma Walsh (ed.), Normal Family Processes. Growing Diversity and Complexity, New York 2012, 385. 21 Cf. Parekkattil 2019, 240. 22 McGoldrick & Shibusawa 2012, 385. 23 McGoldrick & Shibusawa 2012, 386 24 McGoldrick & Shibusawa 2012, 386. 25 Cf. Parekkattil 2019, 125–127. The empirical study is the basis for these conclusions.

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4.2 Forming a couple Two individuals who were part of different families form a separate family at this stage. This process of establishing the family status involving psycho­logical, social, economic, and religious aspects is an important task. In this process, it has been observed that women tend to turn more towards their parents and men tend to opt for more separation from their family of origin.26 The following situations need to be handled with care. As McGoldrick and Shibusawa write, »In-laws may be too intrusive, and the new couple may be afraid to set limits, or the partners may have difficulty forming adequate connections with the extended systems, cutting themselves off in a tight two-some.«27 In the context of Kerala, it can be said that the couples climb the hill of initial novelty and beauty of marital life inevitably reaching a peak experience somewhere. They must eventually climb down this hill though. 4.3 Families with young children This is a key transition in the family life cycle, since having children has become a key motivating factor for marriage and a potential cementing element of marital bond. It is a great challenge to properly handle the childcare responsibilities. Women are comparatively overloaded during this stage. Researches prove that there is a general decrease in marital satisfaction during this period. Men also need to share the child-rearing responsibility, if needed he has to learn it.28 4.4 Families with adolescents This stage of development is crucial for children along their journey of development, and it is therefore significant for the whole family. Parents are challenged to respond appropriately to the changes in the cognitive, emotional, physical, and social developments of the adolescent. Due to the particularities of adolescents, the relationship between parents and adolescents need to be directed by »trusting bonds and open communication.«29 As far as the spouses are concerned, they might undergo the period of ›midlife crisis‹ at this stage. Parents of adolescents tend to have the lowest level of marital satisfactions.30 26 27 28 29 30

Cf. McGoldrick & Shibusawa 2012, 387. McGoldrick & Shibusawa 2012, 390. Cf. McGoldrick & Shibusawa 2012, 391. McGoldrick & Shibusawa 2012, 390. Cf. McGoldrick & Shibusawa 2012, 391.

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4.5 Families at midlife This stage of family life has become the longest and often the most problematic period due to the higher life expectancy. Couples’ great task of this period is to reorient themselves and redefine their mutual relationship to keep it alive and meaningful. This is the period of most exits and entries, meaning that during this period, sons and daughters get married, grandchildren are born, and parents die. Even when couples lived longer in the past, they were not left alone like in the present. The couples need to redefine their lives, their attachments, and restructure their marital relationship. In order to successfully complete the challenges of this stage, the couples need to find new pathways, which the earlier generations did not experience. 4.6 Families in later life Adjustment to retirement and to the death of one’s spouse are difficult tasks of this life stage. Common difficulties at this time are health issues, financial insecurity, and dependence. It is important to emphasize that parents will always be parents to their children, and they can still serve as role-models. I believe that a pastoral strategy that integrates the dynamics of these cycles, especially the challenges and tasks will assure a contextual response to the present situation.

5 Organizing couples and families as self-help groups The processes of detraditionalization, deinstitutionalization and individualization as described above are clear indications that families need new types of support groups. The plausibility of self-help groups can be deducted from the following statement: »The desire for autonomy and self-fulfilment on the one hand, and the tendency to solve problems through solidarity and social networking on the other end, support the success of self-help groups.«31 Self-help groups can awaken individuals and transform into active protagonists from the role of passive participants.

31 McGoldrick & Shibusawa 2012, 242.

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6 Mystagogical Pastoral Care From antiquity onwards, the term ›Mystagogical‹ referred to an introduction into the holy mysteries. Karl Rahner is a proponent of transcendental mystagogy. His view of mystagogy can be understood as guiding a person to an experience-­ oriented realisation.32 For Rahner, it is the experiential access to the mystery of God.33 Why would this approach be considered relevant within the Indian context? When the external support systems of marriage diminish, like tradition and social support, we need to strengthen the internal support systems. Love is the strongest internal strengthening element of marriage. This love needs to be experienced on deeper levels than on mere emotional and peripheral levels. Love needs to be experienced as an integral aspect of partnership which runs through the different levels of partnership. I suggest cultivating a marital spirituality, through which God of Life is discovered in the day today life and experience of the partners. Love, faithfulness, joy, and suffering can become aspects of a mystagogical spirituality leading the partners to deeper God Experience.

7 Conclusion With the statement, »The Joy of Love experienced by families is also the joy of the Church« (Amoris Laetitia 1) Pope Francis has emphatically reiterated the priority of the Church today. Syro-Malabar Church in Kerala is in a process of concretising this appeal, which involves a process of reflection and development of models of family accompaniment that are to be contextual response to the present time. The Church needs to shift away from what can be called as ›general pastoral care‹ and towards some kind of ›specific pastoral care‹ as far as couples and families are concerned. This pastoral approach must to be built on a twin-tower of a psycho-spiritual approach.

32 Cf. Parekkattil 2019, 245. 33 Cf. Parekkattil 2019, 245.

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Schöpferische Sorge Schöpfungsverantwortung und Schöpfungsspiritualität als kirchlicher Verkündigungsauftrag Christoph Hentschel

In Anbetracht des Klimawandels ein besonderes Augenmerk auf Schöpfungsverantwortung zu legen, scheint ein Gebot der Stunde zu sein. Die Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften berufen sich auf biblisches Erbe, das dem Menschen einen Auftrag im göttlichen Schöpfungswerk zuschreibt. Diesen Auftrag stark zu machen, ist kein unerheblicher Inhalt des kirchlichen Verkündigungsauftrages.

1 Schöpfungstheologie im Buch Genesis Die ersten elf Kapitel des Buches Genesis werden als Urgeschichte bezeichnet, da Geschehnisse dargestellt werden, die vor der Menschheitsgeschichte verortet werden. Schöpfung ist dabei nicht auf die beiden Erzählungen Gen 1,1–2,4a und Gen 2,4b–25 beschränkt, sondern durchzieht die ersten elf Kapitel des Buches Genesis. Und nicht nur diese: Über die gesamte Heilige Schrift verteilt finden sich Schöpfungsaussagen.1 Ich konzentriere mich in diesem Beitrag auf das Buch Genesis mit den beiden Schöpfungserzählungen am Beginn. 1.1 Der Fürsorgeauftrag in der priesterschriftlichen Schöpfungserzählung Die Heilige Schrift beginnt in ihrer kanonischen Endgestalt mit der Erzählung von der Erschaffung des Kosmos in Gen 1,1–2,4a. Diese Perikope stellt die jüngere, priesterschriftliche Überlieferung dar, die wohl auf das 5. Jahrhundert vor Christus zu datieren ist.2 Diese Erzählung findet im priesterschriftlichen Erzählverlauf ihre Fortsetzung in Gen 5,1. Die ersten Verse des fünften Kapitels des Buches Genesis stellen eine Beziehung zur Erschaffung des Menschen im ersten Kapitel her: 1 Vgl. z. B. Ps 8; 104; Spr 8,22–30; Jes 40,12–31.45,9–13. 2 Vgl. Christoph Levin, Das Alte Testament, 5. Auflage, München 2018, 74.

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Christoph Hentschel

»Am Tag, da Gott den Menschen erschuf, machte er ihn Gott ähnlich. Männlich und weiblich erschuf er sie, er segnete sie und gab ihnen den Namen Mensch an dem Tag, da sie erschaffen wurden. Adam war hundertdreißig Jahre alt, da zeugte er einen Sohn, der ihm ähnlich war, wie sein Bild, und gab ihm den Namen Set.«3 Betont wird die Ähnlichkeit zwischen Gott und Mensch mit demselben hebräischen Lexem, das in Gen 1,26 verwendet wird: demut. Das Ähnlichkeitsverhältnis zwischen Gott und Mensch bezieht sich nicht auf die physische Erscheinung, vielmehr setzt es sich in der Zeugung der Nachkommenschaft des ersten Menschen fort. Der Erschaffung des Menschen durch Gott entspricht die Zeugung von Nachkommenschaft durch den Menschen. Doch so wenig der erste Nachkomme eine Kopie des ersten Menschen darstellt, so wenig trifft das auf das Verhältnis zwischen Gott und Mensch zu. In der Zeugung von Nachkommenschaft verwirklicht der Mensch den Schöpfungssegen,4 was umgekehrt bedeutet, dass in der menschlichen Fortpflanzung die göttliche Schöpfermacht in Erscheinung tritt. Der Segen ruht auf dem Menschen als einem Wesen, das sich auf der Erde ausbreitet, was sich literarisch in den Reihen der Geschlechterfolgen manifestiert. Eine weitere Parallele zwischen Gen 1 und Gen 5 besteht in der Erschaffung des Menschen männlich und weiblich.5 Trotz der phänotypischen Verschiedenheit der beiden Geschlechter besteht kein wesenhafter Unterschied. Der Mensch ist in seiner biologischen Geschlechtlichkeit Gottes Ebenbild. Diese Gott­ebenbild­ lichkeit verwirklicht der Mensch in seiner Sorge für die Erde als gemeinsames Lebenshaus aller Geschöpfe. Den Auftrag dazu erhält der Mensch in Gen 1,28: »Gott sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehrt euch, füllt die Erde und unterwerft sie und waltet über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels und über alle Tiere, die auf der Erde kriechen!« Zu Missverständnissen kann dieser Vers der Heiligen Schrift führen, weil die Redeweise von der Unterwerfung der Erde im Sinne einer Ausbeutung gedeutet werden kann und in der Geschichte des Gottesvolkes streckenweise leider auch so interpretiert wurde. Die hebräische Vokabel rdh, die für das Unterwerfen verwendet wird, bedeutet in der Tat »den Fuß auf etwas setzen«, »niedertreten«. Das deutet darauf hin, dass die Anwendung von Gewalt als legitimes Mittel erscheint. Vor dem Hintergrund der Gegebenheiten im 5. Jahrhundert vor Christus wird ein kraftvolles und gewaltsames Vorgehen des Menschen teilweise verständlich, denn einerseits 3 Gen 5,1–3. 4 Vgl. Claus Westermann, Schöpfung. Wie die Naturwissenschaft fragt – was die Bibel antwortet (Themen der Theologie; Bd. 12), Lizenzausgabe, Stuttgart – Berlin 1983, 77. 5 Vgl. Gen 1,27.5,2.

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ergeht mit dem Herrschaftsauftrag auch das Recht zur Bebauung und zur Ernte der Felder. Diese Aufgabe übt der Mensch ohne Gerätschaften aus, was ihn zum Einsatz seiner leiblichen Kräfte zwingt.6 Im Verb rdh klingt jedoch auch das Weiden und Hüten als Aufgabe des weisen Hirten an, die dem König als Hirten des ihm anvertrauten Volkes zukommt. Mit Gen 1,28 wird der Mensch zum Sachwalter Gottes eingesetzt, dem königliche Prädikate zukommen.7 Um dem Missverständnis eines Herrschaftsauftrages vorzubeugen, der aus Gen 1,28 resultiert und die Ausbeutung der Erde als göttlich legitimiert betrachtet, erscheint es mir sinnvoller, von einem Fürsorgeauftrag zu sprechen. Die Sorge für das Lebenshaus Erde ist der Ernstfall der Gottebenbildlichkeit. Wird vom Menschen als Mitschöpfer gesprochen, erhält diese Redeweise nur dann ihren vollen Sinn, wenn sie sich auf jene schöpferische Sorge um den gemeinsamen Lebensraum aller Geschöpfe bezieht. Dieser Fürsorgeauftrag ist auch in der Schöpfungserzählung des Jerusalemer Gesichtswerkes Gen 2,4b–25 verankert. 1.2 Lebensfüllende Gemeinschaft im Jerusalemer Geschichtswerk Die Erschaffung des Menschen steht nach dem Jerusalemer Geschichtswerk in einer engen Verbindung mit dem Garten, in den der aus Lehm gebildete Mensch gesetzt wird. Dieser Lebensraum des Menschen wird in Eden lokalisiert8 und deshalb als Garten Eden bezeichnet9. Diese theologische und nicht geografische Benennung kann von der Wortbedeutung her sowohl ein Wonneland als auch die Steppe bezeichnen.10 Beide Charakteristika treffen auf die Beschreibung des Gartens zu. Zum einen ähnelt die Darstellung der trockenen, pflanzenarmen Landschaft ohne Regen,11 in der Gott den Menschen bildet, dem 6 Vgl. Christoph Uehlinger, Genesis 1–11: Die Urgeschichte, in: Thomas Römer, Jean-Daniel Macchi & Christophe Nihan (Hrsg.), Einleitung in das Alte Testament. Die Bücher der Hebräischen Bibel und die alttestamentlichen Schriften der katholischen, protestantischen und orthodoxen Kirchen, 2. Auflage, Zürich 2009, 176–195, hier: 192 f. 7 Vgl. Jean Prosper Agbagnon, »Die gesamte Schöpfung seufzt bis zum heutigen Tag« (Röm 8,22). Zur Erlösungsbedürftigkeit der Schöpfung, in: Klaus Krämer & Klaus Vellguth (Hrsg.), Schöpfung. Miteinander leben im gemeinsamen Haus (Theologie der Einen Welt; Bd. 11), Freiburg i. Br. 2017, 111–127, hier: 114. 8 Vgl. Gen 2,8. 9 Vgl. Gen 2,15.3,23–24. 10 Vgl. Jorgiano dos Santos da Silva, Füllet die Erde und macht sie euch untertan! (Gen 1,28). Strukturen einer alttestamentlich begründeten Schöpfungstheologie und deren Konsequenzen für eine biblisch orientierte Umweltethik, Münster 2018 (Bibel und Ethik; Bd. 6), 58; Claus Westermann, Genesis, I. Teilband: Genesis 1–11 (Biblischer Kommentar Altes Testament; Bd. I/1), Neukirchen-Vluyn 1974, 285–287. 11 Vgl. Gen 2,5.

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steppengleichen Umland um Jericho. Dort gibt es Oasenlandschaften mit einem Grundwasserstrom, ähnlich wie in Gen 2,6 geschildert.12 Zum anderen findet der Mensch in Eden eine Überfülle des Lebens vor: fruchttragende Bäume13, eine ungestörte Gemeinschaft mit den Tieren14 und einen Ort, der aufgrund seiner Bewässerung Leben spendet15. Der in Eden entspringende Fluss teilt sich in vier weitere Flüsse, deren Namen zur Charakterisierung des Paradiesgartens beitragen: Gihon, der Name des zweiten Flusses, verweist auf die Gihonquelle, die für die Wasserversorgung Jerusalems von großer Bedeutung war.16 Eufrat und Tigris als die beiden Flüsse, die dem Zweistromland den Namen geben, haben laut dieser Schöpfungserzählung ihren eigentlichen Quellort im Paradiesgarten. Pischon, der Name des ersten Flusses, lässt sich nicht näher zuordnen.17 Aufgrund des gemeinsamen Ursprungs von Pischon, Gihon, Eufrat und Tigris wird Eden als der Nabel der Welt gezeichnet, von wo aus der Rest der Welt Wasser und damit Fruchtbarkeit erhält. Mit dem Bild eines lebenspendenden Gartens schlägt das Jerusalemer Geschichtswerk eine Brücke zu Königspalästen mit ausladenden Gartenanlagen, die als Erholungsort für die Könige dienten. Wenn der Lebensraum des Menschen als ein Garten gedacht wird, in dem er Lebenskraft empfängt und für dessen Bestand er zuständig ist, wird auch im Jerusalemer Geschichtswerk der Mensch mit königlichen Prädikaten dargestellt: »Gott, der HERR, nahm den Menschen und gab ihm seinen Wohnsitz im Garten von Eden, damit er ihn bearbeite und hüte.«18 Beide Schöpfungserzählungen des Buches Genesis betrauen den Menschen mit der Fürsorge für den Lebensraum aller Geschöpfe. Der Mensch steht damit seinem Schöpfer gegenüber in der Verantwortung. Eine weitere Gemeinsamkeit zwischen beiden Schöpfungserzählungen zeigt sich in der Bestimmung des Menschen als Gemeinschaftswesen: In der priesterschriftlichen Überlieferung erfolgt dies durch die Erschaffung des Menschen als männlich und weiblich, in der Darstellung des Jerusalemer Geschichtswerks 12 Vgl. Erich Zenger & Christian Frevel, Theorien über die Entstehung des Pentateuch im Wandel der Forschung, in: Erich Zenger, Christian Frevel, Heinz-Josef Fabry, Georg Braulik, Georg Hentschel, Georg Steins, Helmut Engel, Ludger Schwienhorst-Schönberger, Silvia Schroer, Johannes Marböck, Hans-Winfried Jüngling, Franz-Josef Backhaus, Ivo Meyer, Frank-Lothar Hossfeld & Herbert Niehr, Einleitung in das Alte Testament (Kohlhammer Studienbücher Theologie; Bd. 1,1), 9., aktualisierte Auflage, Stuttgart 2016, 87–135, hier: 93. 13 Vgl. Gen 2,16–17. 14 Vgl. Gen 2,19–20. 15 Vgl. Gen 2,10. 16 Vgl. Max Küchler, Jerusalem. Ein Handbuch und Studienreiseführer zur Heiligen Stadt (Orte und Landschaften der Bibel; Bd. IV,2), Göttingen 2007, 46.49.51–52. 17 Vgl. Silva 2018, 59. 18 Gen 2,15.

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lautet ein wichtiger Satz: »Es ist nicht gut, dass der Mensch allein ist.«19 Sowohl die Gemeinschaft mit den Tieren als auch die mit der Frau20 verhindert eine Vereinsamung des Menschen. Der Mensch ist zu einem verantworteten Leben gerufen, das zugleich verschiedene und aufeinander bezogene Dimensionen berührt: Verantwortung gegenüber Gott, gegenüber den Mitgeschöpfen und gegenüber dem Lebensraum Erde. Um dieser dreidimensionalen Verantwortung gerecht zu werden, bedarf es einer Haltung, die sich für den Fürsorgeauftrag sensibel zeigt. Diese Haltung bezeichne ich im Folgenden als »Schöpfungsspiritualität«.

2 Schöpfungsspiritualität – Annäherung an einen brisanten Begriff Ist es schon schwierig, den Begriff »Spiritualität« zu umgrenzen, trifft dies ebenfalls auf den Terminus »Schöpfungsspiritualität« zu. Der Begriff christlicher Spiritualität und das damit verbundene Phänomen eines geistig-geistlichen Lebens haben biblische Wurzeln. 2.1 Biblische Wurzeln Der Terminus »Spiritualität« hat seinen Ursprung in der lateinischen Vokabel spiritualis, die das griechische Lexem pneumatikós wiedergibt. Dieser hauptsächlich im Corpus Paulinum bezeugte Begriff erweitert den Bereich der wahrnehmbaren Wirklichkeit um die geistige Ebene.21 Letztlich verweist das Adjektiv pneumatikós auf das göttliche pneuma, das bei der Grundlegung der Schöpfung über dem Chaoswasser schwebt.22 Dabei handelt es sich um denselben Geist, den Jesus bei seiner Taufe im Jordan empfangen hat23 und der den Aposteln am Pfingsttag24 sowie allen Glaubenden in der Taufe geschenkt wird. Christliches Leben ist durch die Wirksamkeit des Gottesgeistes bestimmt, der das IrdischNaturhafte übersteigt und die sichtbare Lebenswelt mit der unsichtbaren Welt Gottes verbindet. Der Schöpfergott erschafft einen Kosmos, der im ständigen 19 Gen 2,18. 20 Es fällt auf, dass der Mensch erst mit der Erschaffung der Frau als Mann in Erscheinung tritt (vgl. Gen 2,23). 21 Vgl. 1 Kor 2,13–14. 22 Vgl. Gen 1,2. 23 Vgl. Mt 3,13–17; Mk 1,9–11; Lk 3,21–22; Joh 1,32–34. 24 Vgl. Apg 2,1–11.

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Werden begriffen ist. In analoger Weise befindet sich der Mensch in seiner Geschöpflichkeit im Werden, er ist permanent gerufen, Mensch zu werden. 2.2 Menschwerdung als Aufgabe christlicher Spiritualität Christian Schütz sieht die Menschwerdung daher als zentrale Aufgabe christlicher Spiritualität. Es kann in seinen Augen »als eine berechtigte Aussage christlichen Glaubens gelten […], daß der Mensch Mensch ist, indem er es wird, immer mehr wird«25. Mit der Menschwerdung des Menschen als Aufgabe christlicher Spiritualität kommt Jesus Christus, der Menschgewordene, in den Blick. Der christliche Glaube betrachtet die Menschwerdung Jesu Christi nicht als in sich isoliertes Geschehen, sondern feiert das, was durch die Inkarnation des Gottessohnes in Gang kommt, in seiner soteriologischen Ausrichtung. Unter dem Begriff kénosis lässt sich die Selbstentleerung des Logos verstehen, die im Kreuzestod ihren Tiefpunkt erreicht und in der Auferstehung die Erhöhung des Menschen sieht. In seinem Hinübergang zum Vater verwirklicht sich jene neue Schöpfung, die für den Menschen unzerstörbares Leben bedeutet. Der christlich glaubende Mensch ist durch die Taufe in das Christusereignis mit hineingenommen, was zur Folge hat, dass ihn derselbe Geist bestimmt, in dem Jesus Christus seinen Lebensweg von der Menschwerdung über den Kreuzestod bis zur Auferstehung und Erhöhung geht. Für die Spiritualität resultiert daraus, dass sie sich zwischen der wahrnehmbaren Erfahrungswelt und der unsichtbaren Welt Gottes bewegt. Dieser platonisch anmutende Gedanke wird vom Verständnis christlicher Spiritualität überstiegen: Gehen Plato und die auf ihn zurückreichende Tradition von einer Scheidung zwischen unsichtbarer und sichtbarer Welt aus, trennt christliche Spiritualität die immanente nicht von der transzendenten Wirklichkeit. So sehr Gott aufgrund der Menschwerdung seines Sohnes auch in der Immanenz gedacht wird, gibt es doch eine Lebenswelt, die größer ist als die mit den Sinnen wahrnehmbare. Diese beiden Dimensionen der Wirklichkeit nimmt christliche Spiritualität ernst. Ein spiritueller Mensch konstruiert daher keine Gegenwelt zu der Realität, in der er lebt, sondern sieht die Welt von Gottes unsichtbarer Wirklichkeit durchdrungen.

25 Vgl. Christian Schütz, Spiritualität, Christliche Spiritualität, in: ders. (Hrsg.), Praktisches Lexikon der Spiritualität, Sonderausgabe, Freiburg i. Br. 1992, 1170–1180, hier: 1174.

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2.3 Spiritualität und Selbsttranszendenz Der Mensch als Geschöpf im Werden verfügt über die Fähigkeit, mit sich selbst in Beziehung zu treten und damit auch, sich selbst zu transzendieren.26 Aufgrund der Fertigkeit zur Selbsttranszendenz ist der Mensch in der Lage, einen Bezugspunkt außerhalb seiner selbst zu suchen. In der jüdisch-christlichen Tradition findet der Mensch diesen Bezugspunkt im Schöpfergott. Nach dem Zeugnis der priesterschriftlichen Schöpfungserzählung besteht ein enger Zusammenhang zwischen dem göttlichen Schaffen und dem Akt des Sprechens. Schütz bemerkt dazu: »Schöpfung begegnet im Menschen als sprechende, die mit dem An-spruch zugleich die Möglichkeit des Entsprechens wie des Widersprechens enthält.«27 Der Mensch ist daher dazu berufen, dialogisch auf die Schöpfung zu reagieren. Die Schöpfung als göttlicher Sprechakt ist biblisch in Joh 1 und Hebr 1 bezeugt. In beiden Textstellen wird das Sprechen Gottes auf das Christusereignis bezogen. Jesus Christus wird als das Wort Gottes in Person angesehen und daher gerät er als vollkommener Mensch in den Blick. Sein Leben zeugt von der Gegenwart des Gottesgeistes, von dem sich jeder Mensch führen lassen darf, der sein Leben an einer christlichen Geisteshaltung ausrichten möchte. Christliche Spiritualität lässt sich daher als eine Geisteshaltung mit einem doppelten Fundament beschreiben. Sie gründet in dem Verständnis des Werdens der Geschöpflichkeit und sieht im Heiligen Geist die treibende Kraft, die den Menschen bei seiner Menschwerdung leitet. Der Gott des jüdisch-christlichen Bekenntnisses ist zugleich Schöpfer und Erlöser. Über lange Zeit wurde im Christentum die Erlösung unter Vernachlässigung der Schöpfung sehr stark, manchmal wohl auch zu stark betont. Dabei bilden Schöpfung und Erlösung die beiden Brennpunkte der Ellipse, die »Spiritualität« heißt. Wird die gute Schöpfung, die in Gen 1–2 bezeugt wird, ausgeblendet und der Beginn der kanonischen Gestalt der Heiligen Schrift auf Gen 328 und damit auf die Abkehr des Menschen aus ungestörten Beziehungen zu Gott und dem Mitmenschen verlegt, gewinnt die menschliche Schuldbeladenheit ein sehr großes Gewicht, das nach Erlösung schreit. Die einseitige Orientierung an menschlicher Schuld und göttlicher Erlösung geht auf Kosten der

26 Vgl. Hans Waldenfels, Spiritualität, II. Religionswissenschaftlich, in: Walter Kasper (Hrsg.), Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 9, Sonderausgabe, Freiburg i. Br. – Basel – Wien 2006, 853. 27 Schütz 1992, 1175 (sic!). 28 Vgl. Richard Rohr, Der göttliche Tanz. Wie uns ein Leben im Einklang mit dem dreieinigen Gott zutiefst verändern kann, Aßlar 2017, 25.

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Schöpfung.29 Das Ernstnehmen des Schöpfungsgedankens geht einher mit der Wahrnehmung, dass in Gottes guter Schöpfung Leid geschieht, von dem die Schöpfung und die Mitmenschen betroffen sind. Der in Gen 1,28 gründende Fürsorgeauftrag bezieht sich auf die gesamte Schöpfung und damit auch auf die Mitmenschen, besonders auf jene, die Leid zu ertragen haben. Schöpfungsspiritualität als Segment einer christlich-ganzheitlichen Spiritualität ist leidempfindlich. In Bezug auf die Schöpfung wird der spirituelle Mensch zu einer Persönlichkeit, die die Wunden der Schöpfung wahrnimmt und für den Fürsorgeauftrag sensibel wird.

3 Schöpfungsspiritualität verkünden Drei Felder geraten in den Blick, wenn der Frage nachgegangen wird, wie die katholische30 Kirche Schöpfungsspiritualität verkündet: die päpstlichen Enzykliken »Laudato si’« und »Fratelli tutti«, die Predigt und der geistliche Weg der Exerzitien. 3.1 Verbundenheit mit der Schöpfung und untereinander in den Enzykliken »Laudato si’« und »Fratelli tutti« Mit dem Namen »Franziskus«, den sich Jorge Mario Kardinal Bergoglio am 13. März 2013 mit seiner Wahl zum Papst gegeben hat, reiht sich das römische Kirchenoberhaupt in die Spiritualität des Patrons des Umweltschutzes und der Ökologie31 ein. Diese programmatische Deutung der Namensgebung bestätigt sich in der Wahl des Titels seiner Enzyklika »Laudato si’«. Damit knüpft Franziskus von Rom32 bewusst an den von Franziskus von Assisi verfassten Gesang auf Bruder Sonne an. Es stellt ein Novum der Enzyklika »Laudato si’« dar, dass 29 Vgl. Johann Baptist Metz, Gotteskrise. Versuch zur »geistigen Situation der Zeit«, in: ders., Günther Bernd Ginzel, Peter Glotz, Jürgen Habermas & Dorothee Sölle, Diagnosen zur Zeit, Düsseldorf 1994, 76–92, hier: 85–87. 30 Der konfessionsgebundene Sprachgebrauch ist hier gewählt, weil Enzykliken (3.1.) und die Tradition ignatianischer Spiritualität (3.3.) im katholischen Milieu zu verorten sind. Es erscheint wünschenswert, dass Kirchen und kirchliche Gemeinschaften in Fragen der Schöpfungsverantwortung und -spiritualität weiterhin zusammenwirken. 31 Vgl. Justin Lang, Franziskus v. Assisi, in: Walter Kasper (Hrsg.), Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 4, Sonderausgabe, Freiburg i. Br. – Basel – Wien 2006, 44–47, hier: 44. 32 Aus Gründen einer klaren Unterscheidbarkeit zwischen dem Wanderradikalen des 12./13. Jahrhunderts und dem römischen Kirchenoberhaupt des 21. Jahrhunderts wähle ich die Bezeichnung »Franziskus von Rom« bzw. »Franziskus von Assisi«.

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sie Franziskus von Rom nicht nur an Katholikinnen und Katholiken richtet, sondern einen »Dialog mit allen öffnet, um gemeinsame Wege der Befreiung zu suchen«33. Dem Papst geht es um einen vereinten Einsatz von Menschen, die einerseits aufgrund ihrer kirchlichen Herkunft Verantwortung für die Schöpfung wahrnehmen sowie andererseits aufgrund ihres bloßen Menschseins »die Natur […] pflegen«34. Die Lesenden mit christlichem Hintergrund erinnert der Papst an einen kontemplativen Lebensstil, der sich nicht an einem neuzeitlichen Konsumdenken orientiert.35 Franziskus von Rom verbindet die Spiritualität mit dem konkreten Bemühen für die Mitwelt. Diesen Schritt vollzieht er auch in »Fratelli tutti«. Das Kirchenoberhaupt unterzeichnet sie am 3. Oktober 2020, dem Sterbetag des Franziskus von Assisi, in dessen Heimatstadt an seinem Grab.36 Das als Coronaenzyklika bezeichnete Lehrschreiben mit dem Untertitel »Über die Geschwisterlichkeit und die soziale Freundschaft« versteht sich im Grunde als Weckruf und Mahnung. »Ist die Gesundheitskrise einmal überstanden, wäre es die schlimmste Reaktion, noch mehr in einen fieberhaften Konsumismus und in neue Formen der egoistischen Selbsterhaltung zu verfallen.«37 3.2 Schöpfungsspiritualität in der Homiletik – Predigt als Intervention Mit dem Aufruf des Papstes zu einer neuen Ausrichtung des Lebens verbindet sich die von Rolf Zerfaß aufgeführte Predigtform der Intervention.38 Diese Art der Verkündigung knüpft an der Praxis Jesu an, der bisweilen menschliche Lebensgewohnheiten in Frage stellte. Als Beispiel dient Zerfaß die Erzählung von der Begegnung Jesu mit der Sünderin im Haus eines Pharisäers.39 Den Liebesakt der tränenreichen Waschung und Salbung der Füße Jesu durch eine namenlose Frau von schlechtem öffentlichen Ruf40 nutzt Jesus als Gelegenheit der Belehrung seines Gastgebers Simon.41 Damit interveniert Jesus, da er offenbar die Gedanken des Frommen erspüren kann. In analoger Weise kann die 33 Papst Franziskus, Enzyklika »Laudato si’« über die Sorge für das gemeinsame Haus vom 24.05.2015 (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls; Nr. 202), 4. Auflage, Bonn 2018, Art. 64. 34 Enzyklika »Laudato si’«, Art. 64. 35 Vgl. Enzyklika »Laudato si’«, Art. 222. 36 Vgl. Papst Franziskus, Enzyklika »Fratelli tutti« über die Geschwisterlichkeit und die soziale Freundschaft vom 03.10.2020 (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls; Nr. 227), Bonn 2020, Abschluss des Dokuments. 37 Enzyklika »Fratelli tutti«, Art. 35. 38 Vgl. Rolf Zerfaß, Grundkurs Predigt 2. Textpredigt, Düsseldorf 1992, 14–44. 39 Vgl. Lk 7,36–50; Zerfaß 1992, 14–19. 40 Vgl. Lk 7,37–38. 41 Vgl. Lk 7,39–40.

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gegenwärtige ökologische Krise als Gelegenheit zu einer Intervention durch die Predigt genutzt werden. Die überwiegend christlich geprägten Zuhörenden können mit den Konsequenzen eines konsumorientierten Lebensstils konfrontiert und an ihren Fürsorgeauftrag für das gemeinsame Lebenshaus erinnert werden. 3.3 Schöpfungsspiritualität lernen Eine religiöse und geistliche Praxis stellt eine gute Voraussetzung dafür dar, um für die Themen Schöpfungsverantwortung und Schöpfungsspiritualität sensibel zu werden. Einen Ort der Aneignung einer spirituellen Praxis bietet die Geistliche Begleitung, die in christlichen Bildungs- und Exerzitienhäusern, in Klöstern oder durch erfahrene und dafür ausgebildete Einzelpersonen angeboten wird. Auch wenn es in der Geistlichen Begleitung eine Bandbreite von Möglichkeiten gibt, wie ein spirituell sehnsüchtiger Mensch zu einer geistlichen Praxis finden kann, konzentriere ich mich hier auf drei Aspekte, die sich in der ignatianisch geprägten geistlichen Tradition entwickelt haben. 1. Gewissenserforschung42: Es geht darum, den persönlichen Alltag mit dem Blick Gottes wahrzunehmen. Die Auseinandersetzung mit der persönlichen Sündhaftigkeit denkt Ignatius in einem universal-menschlichen Kontext. Es handelt sich um eine Überprüfung der Lebenszeit über einen bestimmten Zeitraum und um die Frage, wie sehr der suchende Mensch die Nähe Gottes wahrnimmt.43 Ein Leben in Verbundenheit mit dem Schöpfer bedeutet auch ein Leben in Verbundenheit mit der Schöpfung. 2. Meditation: Gemäß dem Exerzitienbuch des Ignatius soll sich der geistlich übende Mensch den biblischen Stoff dadurch verlebendigen, dass er sich den Schauplatz gedanklich bereitet.44 Die vielfältigen biblischen Schöpfungserzählungen bieten eine reichhaltige Grundlage, um Schöpfung sehen zu lernen. 3. Kontemplation: Entgegen der Praxis des Ignatius, der den Terminus »Kontemplation« in einem ähnlichen Sinn gebraucht wie »Meditation« oder »Betrachtung«, sei hier auf die Kontemplation im Sinne einer Wende der geistlichen Praxis verwiesen, die vornehmlich dadurch gekennzeichnet ist, dass Gott die Initiative übernimmt.45 Schöpfungstheologisch bedeutsam 42 Vgl. Ignatius von Loyola, Geistliche Übungen, Würzburg 1998, Nr. 24–44.65–70. 43 Vgl. Willi Lambert, Aus Liebe zur Wirklichkeit. Grundworte ignatianischer Spiritualität, 4. Auflage, Mainz 1998, 67 f. 44 Vgl. Ignatius 1998, Nr. 2. 45 Vgl. Franz Jalics, Kontemplative Exerzitien. Eine Einführung in die kontemplative Lebenshaltung und in das Jesusgebet, Würzburg 1994, 13.

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erscheint es, dass sich der geistlich suchende Mensch in die Hände des Schöpfers übergibt, der ihn zu einem mit der Schöpfung verbundenen Lebensstil transformiert. Der Mensch ist nach dem biblischen Zeugnis mit der Fürsorge für den Lebensraum Erde betraut. Dieser Verantwortung wird er gerecht, wenn er den Wert der Fürsorge für die Schöpfung verinnerlicht. Dieser Akt der Verinnerlichung ist ein spirituelles Geschehen. Spiritualität als Grundhaltung aktiviert zu einem verantworteten und sensiblen Handeln dem Schöpfer, den Mitgeschöpfen und der Schöpfung gegenüber.

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Wie die ökologische Krise den Religions­unterricht verändert Lernwege diakonischer Mystagogie Theo Sprenger

1 Wahrnehmung der ökologischen Krise Die ökologische Krise ist eine existenzielle Krise, vor allem für Jugendliche, aber auch für Erwachsene. Sie besteht weltweit, und immer deutlicher schädigt sie Mensch und Natur auch in den Industrienationen. Das Ausmaß der Flutkatastrophe in der Eifel, im Sauerland und im Rhein-Erft-Kreis hat 2021 manche überrascht, nicht aber die Klimawissenschaftler*innen. Genauso vorhersehbar waren die Dürresommer 2018 und 2019 mit drastischen Ernteausfällen und Hitzeschäden. Wir leben mit höheren Risiken für extreme Wetterlagen und damit für Gesundheit und Leben. Schon liegen gerichtliche Klagen von jungen Bürger*innen der EU vor, die ihr Recht auf Leben in Gefahr sehen. Dabei ist nicht allein die Klimakatastrophe zu befürchten. Mit dem Verlust der Artenvielfalt stehe ein mindestens genauso großes Problem für unser aller Überleben auf der Agenda, sagen viele Biologen. Papst Franziskus hat 2015 eine wissenschaftsbasierte, schonungslose Analyse der Lage in seiner Enzyklika »Laudato si’«1 vorgelegt, die vor allem außerhalb der katholischen Kirche viel Lob erhalten hat. Darin fordert er eine »ökologische Umkehr« und stellt fest: »[…] es wird nicht möglich sein, sich für große Dinge zu engagieren allein mit Lehre, ohne eine ›Mystik‹, die uns beseelt […]«2. Er wendet sich damit nicht allein an Katholiken, sondern appelliert an eine »neue universale Solidarität«3.

1 Papst Franziskus, Enzyklika »Laudato si’« über die Sorge für das gemeinsame Haus vom 24.05.2015 (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls; Nr. 202), 4., korrigierte Auflage, Bonn 2018. 2 Papst Franziskus 2018, Abs. 216. 3 Papst Franziskus 2018, Abs. 14.

Wie die ökologische Krise den Religions­unterricht verändert

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2 Was hat die ökologische Krise mit dem Religions­ unterricht an beruflichen Schulen zu tun? Der Blick auf die Lebenswirklichkeit der Schüler*innen ist unter anderem im bundesweit geltenden Grundlagenplan (GLP) für den Religionsunterricht an Berufsschulen fest verankert. »Fragestellungen, die von den Berufsschülerinnen und -schülern für bedeutsam gehalten werden, sollen im Unterricht zur Sprache kommen.«4 Eine begründende Ergänzung lautet: »Der Religionsunterricht wird seitens der Schülerinnen und Schüler in Berufsfachklassen akzeptiert, wenn ihre Lebenssituationen im Unterricht durchscheinen, ihre Lebenseinstellungen und Zukunftsträume zur Sprache kommen.«5 Insofern ist der Religionsunterricht von der Intention her diakonisch, den Bedürfnissen der jungen Menschen dienend. In der didaktischen Struktur nennt der GLP ausdrücklich die Lebenssituationen als didaktische Entscheidungsgröße.6 In den Zielvorstellungen des Religionsunterrichts wird die ökologische Krise unter dem Stichwort »Bewahrung der Schöpfung« subsumiert. Bemerkenswert finde ich, dass ökologische Fragen beispielsweise in NRW nicht allein von Kirchen und Gewerkschaften, sondern auch von Ausbilder*innenseite im Religionsunterricht verortet werden. In »Bildung und Kompetenz mit Religionsunterricht. Gemeinsame Erklärung 2018« heißt es unter Punkt 2.4 dazu: »Getragen von der christlichen Hoffnung ermutigt der Religionsunterricht zu einem Handeln in Solidarität mit den Menschen und in Verantwortung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung. Dies gilt auch für das Handeln im Beruf und für die damit zusammenhängenden ethischen, sozialen, ökonomischen und ökologischen Fragen.«7

4 Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), Grundlagenplan für den Katholischen Religionsunterricht an Berufsschulen, Bonn 2002, 14. 5 Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.) 2002, 15. 6 Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.) 2002, 24. 7 Evangelisches Büro Nordrhein-Westfalen & Katholisches Büro NRW, Vertretung der Bischöfe in Nordrhein-Westfalen (Hrsg.), Bildung und Kompetenz mit Religionsunterricht. Gemeinsame Erklärung 2018 der (Erz-)Bistümer und der evangelischen Landeskirchen in Nordrhein-Westfalen, des DBG Nordrhein-Westfalen, der Vereinigung des Handwerk.NRW, der Landesvereinigung der Unternehmensverbände Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 2019, online verfügbar unter: http://www.ekir.de/url/Z9P (letzter Zugriff am 12.11.2021; Hervorhebung durch T. S.).

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3 Religionslehrer*innen mit eigener Stimme Als mich ein älterer Gymnasiallehrer jovial fragte: »Na, wie schaffst du es, die hehre Theologie von der Universität in die Berufsschule zu transportieren?«, da entfuhr es mir: »Gar nicht. Ich bin dabei, meine Theologie von meinen Schülern zu lernen.« Der Kollege war so verdutzt, dass er zunächst an einen Scherz glaubte. Als er merkte, dass ich es ernst meinte, reagierte er so, wie ich es oft erlebt habe: Er vermutete, ich sei nicht mehr katholisch. Nicht wenige Katholik*innen greifen gelegentlich auf Verdächtigungen zurück, wenn es um die Rettung ihrer eigenen Glaubensvorstellungen geht. Damit kann man sich letztlich jeden Theologiediskurs sparen. Im Religionsunterricht an beruflichen Schulen ist dies allerdings keine Option, die den jungen Erwachsenen gerecht wird. Die Zukunftsfragen der jungen Menschen werden zunehmend überschattet von der Wahrnehmung der ökologischen Krise, auf die die meisten Lehrkräfte im Studium nicht vorbereitet wurden. Die kleine Anekdote ist mir in Erinnerung geblieben, weil sie die grundlegende Schwierigkeit zeigt, meinen eigenen Weg als Religionslehrer zu gehen. Zugleich ist das die Situation vieler Kolleg*innen, wie ich bei Fortbildungen immer wieder erfahren habe. Wie finde ich zwischen den zahlreichen eigenen und fremden Ansprüchen meinen eigenen Weg als Religionslehrer, als Religionslehrerin? Um es mit Klaus Kießlings inspirierender Habilitationsschrift zu formulieren: Es geht darum, zur eigenen Stimme zu finden.8 Dieser Anspruch gilt für Lehrkräfte genau wie für die Lernenden in den beruflichen Schulen. Und er mündet in die umfassend begründete Empfehlung eines Religionsunterrichts mit diakonisch-mystagogischen Lernwegen, die in einer pluralen Gesellschaft zugleich interkulturelle Lernwege sein sollten. Diese Lernwege umfassen auch emotionales Lernen, »zielen auf Solidarität, umfassen also sowohl soziale und politische als auch ethische Qualitäten«9. Interessanterweise sind diese Lernwege aus der Selbstkundgabe der von Klaus Kießling befragten Lehrkräfte abgeleitet worden, wobei die Begrifflichkeit inspiriert war von der Theologie Karl Rahners. Selbstbewusst bemühen sich die befragten Religionslehrer*innen, ihren Unterricht im umfassenden Sinn als Erziehung mit religiöser Perspektive zu gestalten.10

8 Klaus Kießling, Zur eigenen Stimme finden. Religiöses Lernen an berufsbildenden Schulen (Glaubenskommunikation Reihe Zeitzeichen; Bd. 16), Ostfildern 2004. 9 Klaus Kießling, Religion und berufliche Bildung, Teil 4, in: Religionsunterricht an berufsbildenden Schulen 4 (2005) 21–24, hier: 21. 10 Vgl. Kießling 2005, 22.

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Bezogen auf die Herausforderungen einer ökologischen Umkehr sind die Lernwege authentisch und zugleich religiös inspiriert an der Lebenswirklichkeit der Auszubildenden auszurichten.

4 Der mystagogische Aspekt Der mystagogische Aspekt der Lernwege ist in der heutigen Zeit und angesichts der ökologischen Krise eine besondere Herausforderung in der beruflichen Bildung. Konkret handelt es sich um Angebote, die den Lernenden »Räume und Zeiten eröffnen, mit der Wirklichkeit Gottes in Berührung zu kommen und Erfahrungen zu sammeln […]. Meditation und Kontemplation – also Übungen der Achtsamkeit zugunsten eines Gegenübers ebenso wie ungegenständliche Übungen der Achtsamkeit – sorgen für eine Unterbrechung des Üblichen, auch des Schulalltags, und schaffen einen möglichen Rahmen für mystagogisches Lernen.«11 Bezogen auf die ökologische Umkehr als Handlungsoption christlicher Glaubenspraxis geht die Kontemplation zugunsten eines Gegenübers – hier der Mitgeschöpfe oder Naturwesen – einher mit der Erfahrung, dass die Erde mit ihren Geschöpfen eine geistige Qualität hat. Wer sich in der Kontemplation in die Tiefe der eigenen Seele fallen lässt, erfährt sich als Teil der Schöpfung, nicht getrennt von der Natur. Nicht dass diese Erfahrung im Rahmen des Religionsunterrichts vollständig erreichbar wäre, aber eine Konfrontation mit dem inneren Raum der Stille mag den Weg zu einem inneren Erleben mit den Naturwesen offenhalten. Es erfordert schon etwas Mut, in einem auf berufliche Qualifizierung ausgerichteten Schulsystem diese Unterbrechung des Üblichen zu praktizieren: Stille auszuhalten statt Talkshow-Qualitäten aufzuführen, nach innen zu lauschen statt Wissen wortreich zu präsentieren. Mit Widerstand ist zu rechnen, sowohl von Schüler*innenseite als auch von Kolleg*innen oder Ausbilder*innen, die die knappe Unterrichtszeit nicht mit »Herumsitzen« und Sprechpausen gefüllt wissen wollen. Als Lehrkräfte sind wir ja Teil dieser Qualifizierungssysteme, müssen uns selbst befragen und gegebenenfalls überwinden, um uns der Kontemplation zu öffnen. Nur wer sie selbst praktiziert, kann den Wert dieser Stille-Übungen überzeugend darlegen. 11 Kießling 2005, 22.

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Ohne die Achtsamkeit gegenüber der Natur und sich selbst wird die Kraft für die Überwindung der ökologischen Krise möglicherweise nicht reichen. Wenn man wissenschaftliche Untersuchungen zugrunde legt, dann wird eine enkeltaugliche Zukunft nicht ohne Konsumverzicht in erheblichem Umfang zu gewinnen sein. Wie sehr wir auf Achtsamkeit gegenüber der Natur angewiesen sind, um in der Schöpfung unseren Platz zu finden, wird theologisch-philosophisch umfassend dargelegt von Simone Horstmann in ihrem Buch »Was fehlt, wenn uns die Tiere fehlen«12. Unsere aufgeklärte Kultur hat die Tiere zu Dingen herabgewürdigt, die praktisch keine eigenen Rechte besitzen und seit Jahrhunderten rücksichtslos von Menschen ausgebeutet werden. Horstmann zeigt auf, wie sich durch Kontemplation und Empathie das Verhältnis zu unseren tierischen Verwandten wandeln müsste, um sowohl dem Menschen als auch dem Tier gerecht zu werden. Kaum jemand wird im Rahmen des Theologiestudiums damit konfrontiert gewesen sein, umso schockierender ist die Entlarvung des historischen Versagens unserer (christlichen) Naturethik.

5 Der diakonische Aspekt Für den Zusammenhang von Mystagogie und Diakonie wird von Klaus Kießling der Konzilstheologe Karl Rahner zitiert: »Der Mystagoge von morgen wird ein diakonischer sein, einer, der Gott, das beziehungsreiche Geheimnis, in der Not und in den Geringsten erfahren hat, oder er wird nicht mehr sein.«13 In umfassender Weise wird von Papst Franziskus in seiner Enzyklika »Laudato si’. Über die Sorge für das gemeinsame Haus« unter anderem eine Neubestimmung des Verhältnisses von Mensch und Natur gefordert. Es geht darum, mit Hilfe einer spirituell demütigen Haltung egozentrische Denkmuster aufzubrechen. Daraus folgt zugleich eine Haltung der Solidarität mit den Ärmsten der Menschheitsfamilie. Anschaulich aufbereitetes Material dazu kann man auf der Internetseite des bischöflichen Hilfswerkes Misereor finden. Zusätzlich bietet eine Studie der Kommission Weltkirche der Deutschen Bischofskonferenz gute Anregungen, »Laudato si’« in konkretes Handeln der Kirche

12 Simone Horstmann, Was fehlt, wenn uns die Tiere fehlen? Eine theologische Spurensuche, Regensburg 2020. 13 Kießling 2005, 23.

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umzusetzen: »Wie die sozial-ökologische Transformation gelingen kann«14. So kann jede*r eine Fülle von Projektideen beim Blick auf das Umfeld der beruflichen Schule entdecken, wenn sie beziehungsweise er den Blickwinkel des Papstes einnimmt. Zur raschen Orientierung hilft meines Erachtens die Streitschrift des Wirtschaftswissenschaftlers Nico Paech »Befreiung vom Überfluss«15. Er kritisiert darin die irrigen Annahmen eines konsumorientierten Wachstumsmodells und dessen Mechanismen der Kostenverdrängung sowie Ansätze einer Postwachstumsökonomie, die auf das Gemeinwohl ausgerichtet ist. Das Bedürfnis nach Selbstwirksamkeit und persönlicher Freiheit findet sich in seinem Merksatz: »Souverän ist nicht, wer viel hat, sondern wer wenig braucht.«16 Ich halte den Satz für unterrichtstauglich, denn er spricht diejenigen Jugendlichen an, die nach einer ausgeglichenen Work-Life-Balance suchen. So wird der persönliche Lebensstil zu einem sozial-ökologischen Statement mit politischer Wirkung. Und das gilt dann genauso für die Lehrkräfte, die im Religionsunterricht immer wieder persönlich angefragt werden. Daneben sind prophetische Aktionen, wie sie durch »Fridays for Future« weltweit bekannt wurden, auch unter berufsbildenden Lernbedingungen denkbar. Andreas Helgermann vom Institut für Theologie und Politik (ITP) Münster hat zu Recht darauf hingewiesen, dass die Schule darauf vorbereitet, »dass es so weitergeht wie bisher«17. Das aber wäre genau das Falsche angesichts der Krise. Der Religionsunterricht muss die Frage stellen: »Was muss man lernen, wenn man etwas, vieles, ja sehr Grundlegendes ganz anders machen muss? Das ist die Herausforderung für uns. Darauf käme es an. Das wäre Bildung!«18 Diese Frage weist weit über individuelle Handlungsmöglichkeiten in beruflichen Situationen hinaus auf die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, Regeln und Gesetze, die unsere Existenz bedrohen. Bildung, zumal religiöse Bildung, braucht den Blick auf das Ganze der Existenz, empathisch und solidarisch und frei von Egoismen. Auch in diesem Punkt ist mit Widerständen zu rechnen.

14 Kommission Weltkirche der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), Wie die sozial-ökologische Transformation gelingen kann (Studien der Sachverständigengruppe »Weltwirtschaft und Sozialethik«; Bd. 22), Bonn 2021. 15 Niko Paech, Befreiung vom Überfluss. Auf dem Weg in die Postwachstumsökonomie, München 2014. 16 Paech 2014, Cover-Rückseite. 17 Andreas Helgermann, Fridays for future und die Schule. Klima, Krise, Katastrophe, in: Religionsunterricht an berufsbildenden Schulen 1 (2020) 4–6, hier: 5. 18 Ebd.

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Theo Sprenger

6 Der interkulturelle Aspekt Weltanschaulich-kulturell heterogene Lerngruppen im Religionsunterricht sind inzwischen eher der Normalfall, sodass hier auch quer zum gemeinsamen Problem einer drohenden ökologischen Katastrophe verschiedene Wert- und Sinnvorstellungen in den Diskurs eingebracht werden. Kann es sein, dass Gott uns auf die Probe stellen möchte? Könnte er – einmal mehr – tatenlos zusehen, wie die Menschheit in ihr Unglück rennt? Müssen wir uns selbst retten, weil es keinen helfenden Gott gibt? Was sagen die Weltreligionen zur ökologischen Krise, was sagen indigene Völker dazu? Viele weitere Forscherfragen ließen sich aufzählen.

7 Fazit Angesichts der Dramatik der ökologischen Krise, der Todesopfer und der Zerstörungen komme ich zu dem Schluss: Der Religionsunterricht, besonders in der beruflichen Bildung, kann die ökologische Krise als Teil der Lebenswirklichkeit der Beteiligten nicht ausblenden, ohne seinen Auftrag zu verfehlen. Er beinhaltet die ökologische Umkehr als die zentrale Aufgabe aller Gläubigen und aller Menschen guten Willens. Die oben genannten Überlegungen erfordern eine Neubestimmung des Verhältnisses von Mensch und Schöpfung/Natur in der Theorie und Praxis unserer gesamten Kultur, besonders aber im Christentum europäischer Prägung. Der übliche Anthropozentrismus wird uns dem Abgrund näherbringen, Demut und Bescheidenheit können aber das Überleben der Menschheit ermöglichen. Letzteres wird einen Bewusstseinswandel erfordern, der nicht ohne eine Verankerung des Individuums (und der Gemeinschaft) in der Tiefe der Kontemplation möglich ist. Das sind die Eckpunkte einer theologisch-praktischen Anthropologie, die noch didaktisch entfaltet werden müssen.

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Fragile Beziehungen und Indifferenz im Religionsunterricht Zur Erreichbarkeit von Schülerinnen und Schülern heute Matthias Gronover und Reinhold Boschki

1 Hinführung Die Art und Weise, wie wir denken, entscheidet darüber, wie wir die Dinge wahrnehmen, deuten und wie wir am Ende handeln. Aber auch die Art und Weise, wie wir fühlen. Dabei geht es nicht um das tagesaktuelle Denken und Assoziieren oder um die Emotionen, die spontan aufkommen, sondern um tieferliegende und dem Diskurs sowie Handeln vorausliegende Denk- und Fühlformen. In der neueren Religionspädagogik wird zu Recht eine »kritische Überprüfung der in der Religionspädagogik gewählten Denkformen«1 gefordert, da genau diese Arten und Weisen des Denkens die Weichen stellten für Konzeptualisierungen und didaktische Konkretionen bis hin zur Durchführung von Religionsunterricht. Bei dieser kritischen Überprüfung geht es um eine radikale Dekonstruktion: »Eine Wurzelbehandlung ist erforderlich […]«2. Diese gewiss schmerzhafte Wurzelbehandlung darf sich jedoch nicht allein auf die kognitiven Aspekte religionspädagogischer Theoriebildung und Praxiskonzeptionen beziehen, sondern muss auch die emotionale Seite des menschlichen Denkens und Handels berücksichtigen – die »Fühlformen«.3 Mit diesem Beitrag wollen wir Denk- und Fühlformen kritisch reflektieren, die für Religionspädagogik und Praktische Theologie höchst relevant sind: die der Beziehung und der Indifferenz. Motiviert wurden wir bei unseren Überlegungen durch die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den theoretischen, empirischen und praktisch-theologischen Arbeiten von Klaus Kießling und vor allem durch die vielen freundschaftlichen Begegnungen mit ihm. Denn

1

Bernhard Grümme, Religionspädagogische Denkformen. Eine kritische Revision im Kontext von Heterogenität, Freiburg i. Br. – Basel – Wien 2019, 7. 2 Ebd. 3 Vgl. Reinhold Boschki, Religionspädagogische Denkformen und Praktiken. Neue Impulse für Denken und Handeln im Horizont religiöser Bildung, in: Theologische Quartalschrift 200 (2020) 358–374.

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beide Denk- und Fühlformen sind tief in seinen Schriften verwurzelt und liegen ihnen implizit sowie explizit als leitende Kategorien zugrunde.

2 Religionspädagogische Denk- und Fühlformen im Horizont fragiler Beziehungen 2.1 Vulnerabilität Die Coronakrise hat Öffentlichkeit und Politik, aber auch Kirche und Theologie auf ein Thema gelenkt, das wie kaum ein anderes die theologische Anthropologie der biblischen, jüdischen und christlichen Religionsgeschichte prägt: das der Verwundbarkeit und Verletzlichkeit des Menschen. Nicht nur die individuelle Vulnerabilität, bedingt durch ein sich rasant verbreitendes Virus mit der Gefahr, sich an jedem Ort, wo man mit Menschen zusammentrifft, infizieren zu können und schwer krank zu werden, wurde uns neu bewusst, sondern auch die Verletzlichkeit der sozialen Strukturen und Institutionen des Zusammenlebens: Familie, Freundeskreis, Nachbarschaft, Geschäfte, Arbeitsplätze, Kultureinrichtungen, Verkehrsmittel – sie alle waren plötzlich schwer getroffen oder gar lahmgelegt. Als hätten wir es nicht gewusst – und doch haben wir es in der Gesellschaft bis hin zur Wissenschaft, in Kirche und Theologie konsequent verdrängt: Wir sind zutiefst verletzliche Wesen. Menschliche Existenz ist geradezu definiert durch die Verletzlichkeit, die zum Tode führt. Die biblische Urgeschichte der Schöpfung zeigt, wie der »unsterbliche« Mensch – quasi ein paradiesischer Halbgott – verletzlich, schwach und sterblich wird, ein Kennzeichen seiner Existenz auf Erden für alle Zukunft. Diese Verletzlichkeit spiegelt sich in nahezu allen biblischen Erzählungen und Gebeten wider, sei es im Buch Ruth, im Elija-Erzählungsreigen, in Ijob, in den Klagepsalmen, aber auch in den prophetischen Traditionen, ob in Form der Klagelieder oder der Theopoesien vom leidenden Gottesknecht, um nur einige der ersttestamentlichen Bezüge zu erwähnen. Und was wäre die neutestamentliche Geschichte ohne die Aufmerksamkeit Jesu für die Verletzten, Kranken, Marginalisierten und ohne die narrative Theologie vom Leiden und Kreuzestod Jesu? Die neuere theologische Vulnerabilitätsforschung stellt genau diesen theologisch-anthropologischen Aspekt in den Mittelpunkt interdisziplinärer Aufmerksamkeit, wenn sie nämlich Trauma und Resilienz, Migration und Flucht, Terrorangst und Radikalisierung, Zärtlichkeit und Schmerz, homosexuelle Liebe und interkulturelle, interreligiöse Verletzlichkeit bis hin zur Gefangenschaft im »Knast« Fragile Beziehungen und Indifferenz im Religionsunterricht

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und in narzisstischer Spirale zum Thema humanwissenschaftlicher und theologischer Reflexionen macht.4 Genau an diesem Thema arbeitet Kießling seit Jahrzehnten. Unter anderem widmet er seine pastoraltheologische Dissertation der »Seelenfinsternis«, einer der weitverbreiteten menschlichen Verletzlichkeiten, die extrem schwerwiegende Krankheit depressiver Anfechtungen, deren Trägerinnen und Träger oft genug gesellschaftlich verächtlich gemacht und abgetan werden.5 Dass die Betroffenen aber in einer höchst bedrohlichen Situation sind, die einen Teufelskreis bewirken und sich bis zum Suizid steigern kann, wird allzu oft missachtet. Kießling erarbeitet die Geschichte und Gegenwart der Vorstellungen von Melancholie, Schwermut und Depression einschließlich ihrer pathogenetischen, biophysiologischen und psychologischen Konzepte sorgsam auf. Dabei macht er auf einen entscheidenden Aspekt der »Seelenfinsternis« aufmerksam: »Die düstere Weise, Welt zu erschließen, schlägt sich jedoch nicht nur in der Wahrnehmung der eigenen Person, sondern auch in der Wahrnehmung der Beziehungen zu anderen Menschen nieder. Schwermut geht mit Selbstabwertung und Selbstzerstörung – bis hin zum Suizid – einher und taucht auch zwischenmenschliche Beziehungen in ein negatives Licht.«6 An diesem zentralen Punkt arbeitet Kießling weiter – in allen Facetten seines Werks bis heute: Die Frage nach der Struktur menschlicher Beziehungen, die fragil, verletzlich und beeinträchtigt sein können, die aber unter bestimmten Vorzeichen auch zum Schlüssel werden, um Verletzungen zu heilen. 2.2 Fragile und verletzliche Beziehungen in religiöser Bildung Theorie und Praxis religiöser Bildung haben die theologisch-anthropologische Bestimmung der Vulnerabilität bislang zu wenig reflektiert. Sie entspricht einer Denk- und Fühlform, die erst (wieder) neu gesucht und gefunden werden muss. Auch hier können Kießlings Arbeiten wegweisend sein. Denn er zeigt auf, dass die Verletzlichkeit von Erziehungs- und Bildungsprozessen sich im Extrem der 4

Vgl. Hildegund Keul & Thomas Müller (Hrsg.), Verwundbar. Theologische und humanwissenschaftliche Perspektiven zur menschlichen Vulnerabilität, Würzburg 2020; Hildegund Keul (Hrsg.), Theologische Vulnerabilitätsforschung. Gesellschaftsrelevant und interdisziplinär, Stuttgart 2020. 5 Vgl. Klaus Kießling, Seelsorge bei Seelenfinsternis. Depressive Anfechtung als Provokation diakonischer Mystagogie, Freiburg i. Br. – Basel – Wien 2002. 6 Kießling 2002, 30 (Hervorhebung im Original).

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Verbrechen des sexuellen Missbrauchs von Kindern- und Jugendlichen widerspiegelt.7 »Sexueller Missbrauch hinterlässt klaffende Wunden, auch im schulischen Umgang mit diesem Thema, mit Opfern, Tätern, Mitläuferinnen und Mitläufern.«8 Das Verhältnis von Lehrenden und Lernenden ist extrem verletzlich und fragil, da immer ein Machgefälle besteht, wobei alle Rede von »Pädagogik auf gleicher Augenhöhe« und »Subjektorientierung«, so wichtig sie für Theorie und Praxis religiöser Bildung ist, an ihre Grenzen stößt. Ein falsches Wort, eine abfällige Bemerkung, eine Geste der Geringschätzung kann das Lehrer*innenSchüler*innen-Verhältnis zerstören. Ein kleiner Ausdruck der Ausnutzung des Machtgefälles im Sinne einer Vereinnahmung der Schwächeren und Jüngeren wirkt wie ein Tropfen Benzin in einem Fass reinen Wassers. Umso schwerwiegendere Folgen haben geistiger und körperlicher Missbrauch. Sie reißen Wunden auf, die zeitlebens nicht mehr heilen können. Sie bewirken »Seelenmord«9 – eine der schwersten Beeinträchtigungen für junge Menschen, die einen Verlust aller Selbstachtung zur Folge haben kann. Reflexion von solchen und Empathie für solche Extremsituationen können für Akteurinnen und Akteure religiöser Bildung ein Bewusstsein der Fragilität und Vulnerabilität der Beziehungen im Feld religiöser Bildung bewirken. Dabei sind alle Ebenen der Beziehung betroffen: die Beziehung zu sich selbst mit der Frage nach Selbstwahrnehmung, Selbstreflexion, Selbstvertrauen, Selbstachtung und Selbstverwirklichung; die Beziehung zu anderen mit den Herausforderungen der Sensibilität für die andere und den anderen, der Einfühlung, der Achtung, des Respekts, der Anerkennung ihrer und seiner Würde, des gerechten Verhaltens; die Beziehung zur Welt, in der wir leben, mit dem Augenmerk auf die menschengemachte Welt ebenso wie die Natur, die Lebensbedingungen von Pflanzen und Tieren, die klimatischen Veränderungen; die Beziehung zur Zeit mit der biografischen Dimension und dem Bewusstsein der Endlichkeit der eigenen Existenz; und schließlich, nicht zuletzt, die Beziehung zu Gott, die vor dem Hintergrund einer theologischen Anthropologie alle anderen Beziehungsdimensionen durchwirkt und umfasst.10 7 Vgl. Klaus Kießling (Hrsg.), Sexueller Missbrauch. Fakten – Folgen – Fragen, Ostfildern 2011. 8 Ders., Fakten Folgen Fragen: Vorworte, in: ders. (Hrsg.) 2011, 7–11, hier: 8. 9 Ders., Sexueller Missbrauch an Kindern und Jugendlichen – Fakten Folgen Fragen, in: ders. (Hrsg.) 2011, 12–41, hier: 17. 10 Vgl. Reinhold Boschki, Beziehung als Leitbegriff der Religionspädagogik. Grundlegung einer dialogisch-kreativen Religionsdidaktik, Ostfildern 2003; neuerdings für die Didaktik rezipiert: Christina Brügge, Beziehungsorientierte Religionsdidaktik. Von interdisziplinären Einsichten zu Entwürfen eines dialogischen Religionsunterrichts, Ostfildern 2021.

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Fragilität und Verletzlichkeit sind derzeit noch keine Kategorien, schon gar nicht Denkformen religiöser Bildung, es zeigen sich allenfalls Ansätze.11 Es zeichnet sich indes bereits ab, dass Verletzlichkeit keineswegs nur ein Kennzeichen individueller Beziehungen, sondern ein gesellschaftlich hochrelevantes Thema darstellt: Verletzlichkeit aufgrund der Klimakatastrophe, Verletzlichkeit durch zugeschriebene Andersheit (Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, islamfeindliche Haltungen und anderes), Verletzlichkeit durch Diskriminierungs- und Ausgrenzungsprozesse. In diesen Fragen und Problemhorizonten ist religiöse Bildung besonders herausgefordert, einen Beitrag zu leisten, um Inhumanitäten, die durch strukturell und individuell bewirkte Verletzungen entstanden sind, zu begegnen. 2.3 Wertschätzung und Anerkennung Die französische Philosophin Corine Pelluchon, die ihr Denken an den Schriften von Emmanuel Levinas und Bernard von Clairvaux geschult hat, sieht in der Erkenntnis der eigenen Verletzlichkeit die Fähigkeit zur Demut und zur Wertschätzung der anderen. Ehrliche Demut als Grundhaltung ist kein Affekt, sondern entsteht aus der »Anerkennung der Zerbrechlichkeit der körperlichen Verfasstheit und der Opazität, in der wir uns befinden«12. Wenn ich fähig werde, meine eigene Schwäche und Vulnerabilität zu erkennen, also eine Haltung der Demut zu entwickeln, resultiert daraus, so Pelluchon, dass ich die Welt in ihrer ökologischen Zerbrechlichkeit, die Natur, die Pflanzen und insbesondere auch die Tiere nicht gleichgültig betrachte. In der Erkenntnis des eigenen Werts erkenne ich den Wert der anderen Lebewesen und der unbeseelten Welt. WertErkenntnis führt zur Wert-Schätzung. In der Sicht einer solchen »Ethik der Wertschätzung« ist die Beziehung zu sich selbst der »Schlüssel für das Verhältnis zum anderen und zur Natur«.13 Wertschätzung bedeutet Respekt vor der Alterität der anderen, vor ihrer Verletzlichkeit, Unverfügbarkeit und mündet in eine Beziehung, die auf Verantwortung gegründet ist. Wertschätzung ist also weit mehr als eine Denkform, sogar 11 Bert Roebben, Religiöse Bildung und Verletzlichkeit, in: ders., Religionspädagogik der Hoffnung. Grundlinien religiöser Bildung in der Spätmoderne, Berlin 2011, 63–80; Helena Stockinger, Konturen einer verletzlichkeitssensiblen Religionspädagogik. Antrittsvorlesung im Rahmen der feierlichen Eröffnung des akademischen Studienjahres 2021/22 am 27. September 2021 an der Katholischen Privat-Universität Linz, dokumentiert unter: https://www.youtube. com/watch?v=VlW1Px89y5Q (letzter Aufruf am 30.10.2021). 12 Corine Pelluchon, Ethik der Wertschätzung. Tugenden für eine ungewisse Welt, Darmstadt 2019, 37. 13 Pelluchon 2019, 73.

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mehr als eine »Fühlform«, sie ist eine grundlegende »Seinsweise«14 des Menschen, die allerdings nicht vom Himmel fällt, sondern im Laufe eines langen Individuationsprozesses erworben, also erlernt wird. Hier mündet die ethische Reflexion der Wertschätzung in eine bildungstheoretische. Wertschätzung wird zur Basis der pädagogischen Beziehung. Sie wird auch zur Basis der Beziehung zu anderen Religionen, anderen Kulturen, anderen Lebensentwürfen. Wer beispielsweise Muslimen »cum aestimatione«, »mit Hochachtung« begegnet (Erklärung »Nostra aetate« des Zweiten Vatikanischen Konzils, Nr. 3 [1965]), also mit Wertschätzung ihrem Dasein und ihrer religiösen Existenz gegenüber, hat die entscheidende Lektion interreligiöser Bildung schon gelernt. Auch für die religionspädagogische Denkform der Wertschätzung gibt es Ansätze, von denen zu lernen wäre. Die Initiative um Martin Jäggle mit dem eindrücklichen Titel Lebens.werte.Schule hat einen anerkennungstheoretischen Hintergrund,15 andere Ansätze fußen auf Prinzipien der Wertebildung, der ökumenischen und interreligiösen Theologie.16 Indes, das theologisch wichtigste Fundament einer Religionspädagogik der Wertschätzung liegt im Vertrauen auf Gottes unbedingte Wertschätzung jeder Person und allen Lebewesen gegenüber.

3 Indifferenz als Ressource für religiöse Bildung Die oben dargestellten Denk- und Fühlformen einer religionspädagogischen Haltung der Wertschätzung setzen eine offene Haltung der Religionslehrkräfte voraus. Die Bedingungen einer solchen Haltung sollen im Folgenden mit Blick auf religiöse Bildung diskutiert werden. Dabei entscheidet das Ineinander von individuellem Lernen und überindividuellem Gespräch, ob religiöse Bildung verfängt oder nicht. Religiöse Bildung schöpft aus der Vulnerabilität und Fragilität menschlicher Beziehungen und zeigt zugleich als konfessionelle religiöse Bildung eine Binnenperspektive auf religiöse Fragen und Prozesse auf, in die die Unabgeschlossenheit der Frage nach Gott eingeschrieben ist. Die Kontingenz 14 Pelluchon 2019, 249. 15 Vgl. Martin Jäggle, Thomas Krobath, Helena Stockinger & Robert Schelander (Hrsg.), Kultur der Anerkennung. Würde, Gerechtigkeit, Partizipation für Schulkultur, Schulentwicklung und Religion, Baltmannsweiler 2013. 16 Vgl. Elisabeth Naurath, Werte-Bildung durch die Erfahrung von Wertschätzung, Augsburg – Freiburg i. Br. 2014; Reinhold Boschki, Wie ökumenisch kann und soll religiöse Bildung sein? Kleine ›Theologie der Wertschätzung‹ für den ökumenischen Dialog, in: Stefan Altmeyer, Gottfried Bitter & Joachim Theis (Hrsg.), Religiöse Bildung: Diskurse – Optionen – Ziele, Stuttgart 2013, 257–267.

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der Beziehungen und die Unabgeschlossenheit religiöser Fragen werden hier als Indifferenz recodiert (3.1.) und als Ressource beschrieben (3.2.). 3.1 Indifferenz religiöser Bildung Den theoretischen Rahmen für das Verständnis einer Ethik der Wertschätzung in Gesprächssituationen des Religionsunterrichts hat Kießling in seiner Schrift zur Psychotherapie herausgearbeitet. Es komme nicht auf Einwirkungen auf Klient oder Klientin an, sondern auf die vertrauensvolle Verwobenheit von Therapeut oder Therapeutin und Klient oder Klientin in das Gespräch und darauf, sich auf die Offenheit dieses Gesprächs einzulassen. Therapie müsse als »emergente[r] Kommunikationsprozeß«17 begriffen werden. Damit stellt Kießling theoretisch wie praktisch der Option möglicher Wirkungen auf Klienten und Klientinnen durch die Therapie die Option des Gesprächs, das indifferent im Sinne von »gleichmütig« gegenüber den verhandelten Problemen ist und gerade darin die Möglichkeit heilender Prozesse offenhält, gegenüber. Anders gesagt: Die an der Therapie Beteiligten sollten indifferent gegenüber dem werden, was zu Wort kommt, ganz so, wie Ignatius von Loyola die spirituelle Empfehlung gab, »indifferent« gegenüber den »geschaffenen Dingen« zu werden.18 Das ist mehr als die doppelte Kontingenz menschlicher Begegnungen, weil darin die Frage nach Gott in die Kommunikation eingeschrieben wird und sich eine Ethik der Wertschätzung aus dieser Offenheit dem je anderen gegenüber speist. Diese Einsichten lassen sich auf religiöse Bildung im Religionsunterricht übertragen. Die Kommunikationssituation hier ist geprägt von der Anwesenheit von meist zahlreichen Schülerinnen und Schülern und der Kontingenz ihrer Verstehensvoraussetzungen. Im konfessionellen Religionsunterricht wird religiöse Bildung aus einer Binnenperspektive angeboten, die Schülerinnen und Schüler als Geschöpfe Gottes ansieht und die die damit gegebene Offenheit des Menschen thematisch, sozial und persönlich zugänglich macht.

17 Klaus Kießling, Psychotherapie – ein chaotischer Prozeß. Unterwegs zu einer postcartesischen Psychologie, Stuttgart 1998, 354. 18 Ignatius von Loyola, Geistliche Übungen. Nach dem spanischen Autograph übersetzt von Peter Knauer SJ, Regensburg 2008, 38 f.

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3.2 Egalität religiöser Bildung Diese Feststellung steht in eigentümlicher Spannung zur Tatsache, dass religiöse Bildung egalitär ist. Sie verdankt sich gerade nicht einem elitären Verständnis, welches die Zugänglichkeit der Frage nach Gott und den Erwerb religiöser Kompetenz von der Zugehörigkeit zu einer bestimmten religiösen Gruppe abhängig macht. Religiöse Bildung ist nicht exklusiv, sondern geht alle an und versucht, die Subjekte der Bildung in die Mitte zu stellen.19 Der konfessionelle Religionsunterricht kann diesem egalitären Geltungsanspruch nur gerecht werden, wenn er mit religiöser Vielfalt rechnet und diese angemessen reflektiert und handhabt. Was Kießling für den berufsschulischen Religionsunterricht gezeigt hat, nämlich dass es aus der Perspektive der Lernenden vor allem darum geht, im Blick auf Religion »zur eigenen Stimme zu finden«20, kann demnach nur erreicht werden, wenn Vielstimmigkeit im konfessionellen Religionsunterricht nicht als Belastung, sondern als Ressource religiöser Bildung verstanden wird. Der Begriff der Ressource meint dabei eine in sich indifferente Quelle, die zugleich immer wieder neu entdeckt und ausgebeutet werden kann und sich dabei nie erschöpft.21 In diesem Sinne schöpft religiöse Bildung im Religionsunterricht aus der religiösen Vielfalt der Schülerinnen und Schüler, entdeckt dabei stets neue Facetten von Religion und leistet so auch einen Beitrag für ein je neues Selbstverständnis dessen, was wir als »das Christentum« begreifen. Wie leistet er das? In der Religionspädagogik wird religiöse Vielfalt zumeist unter den Aspekten von Pluralitätsfähigkeit und religiöser Heterogenität diskutiert. Dabei spielt ein Konzept religiöser Vielfalt eine Rolle, das zum einen religiöse Positionen und Stile beschreibt und zum anderen religiöse Biografien und Kontexte.22 Katholische Religionslehrkräfte bearbeiten religiöse Vielfalt im Unterricht vor allem anhand von positionellen Aspekten. Für sie stehen religiöse Inhalte, Themensetzungen und die Selbstbeschreibungen von Religionen im Vordergrund. Sie behandeln also den Islam beispielsweise anhand der fünf Säulen des Islams und erst danach anhand von unterschiedlichen Stilen gelebten 19 Vgl. Friedrich Schweitzer, Bildung, Neukirchen-Vluyn 2014, 31. 20 Klaus Kießling, Zur eigenen Stimme finden. Religiöses Lernen an berufsbildenden Schulen, Ostfildern 2004. 21 Vgl. François Jullien, Ressourcen des Christentums. Zugänglich auch ohne Glaubensbekenntnis (aus dem Französischen von Erwin Landrichter), Gütersloh 2019. 22 Vgl. Rudolf Englert, Dimensionen religiöser Pluralität, in: Friedrich Schweitzer, Rudolf Englert, Ulrich Schwab & Hans-Georg Ziebertz (Hrsg.), Entwurf einer pluralitätsfähigen Religionspädagogik, Gütersloh – Freiburg i. Br. 2002, 17–50.

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Glaubens. Biografische oder kontextuelle Differenzen, also Fragen des Großwerdens am und im Glauben und die Bedeutung von Glaubensgemeinschaften, stehen demgegenüber weit dahinter und können selten beobachtet werden.23 Solche Ergebnisse sind vor dem Hintergrund der theologischen Ausbildung von Religionslehrkräften und der Vorgaben des Bildungsplans nachvollziehbar, denn in beiden Fällen wird Wert auf Objektivität gelegt, sodass ein tieferes Verständnis von biografischen und sozialen Umständen gegenüber der Vermittlung von Kenntnissen über andere Religionen zurücktreten muss. Andererseits könnte dieses religiöse Wissen durch die Kenntnis von Biografien und die Begegnung mit Glaubensgemeinschaften komplementiert werden. Die subjektiven Theorien von Religionslehrkräften zu religiöser Vielfalt lassen jedenfalls erkennen, dass die oben genannten Dimensionen durchaus bekannt sind. Gerade hier wird der egalitäre Anspruch religiöser Bildung deutlich, weil Religionslehrkräfte den konfessionellen Religionsunterricht im Blick auf seine Inhalte und Adressaten gerade nicht exklusiv verstehen, sondern die Vielfalt der Religionen und die Vielstimmigkeit der Schülerinnen und Schüler wahrund ernstnehmen.24

4 Fazit – Sich-Aussetzen als Haltung von Religionslehrkräften Die Beziehung zu sich selbst ist der Schlüssel zu einer Ethik der Wertschätzung. Zugleich trifft eine solche Ethik im Religionsunterricht auf die Herausforderung, die vielfältigen religiösen Positionen, Stile, Kontexte und Herkünfte didaktisch zu organisieren. Das Bewusstsein von Verletzlichkeit und eine Haltung der Wertschätzung führen aber nicht in die Resignation, sondern können gerade in ihrer zerbrechlichen Klarheit Ausdruck tiefer Spiritualität sein. Die Indifferenz gegenüber allem, was einem begegnet, wird so zur Ressource religiöser Bildung. Sie zeigt sich nicht nur auf der Ebene des Unterrichtens, sondern kann auch in der Zusammenarbeit und Kooperation zwischen evangelischem, katholischem, jüdischem und muslimischem Religionsunterricht sowie dem Ethikunterricht 23 Ulrich Riegel, Matthias Gronover, David Ambiel, Malte Brügge-Feldhake, Sophia Jumpertz, Maximiliane Krämer & Reinhold Boschki, Die Thematisierung religiöser Vielfalt im katholischen Religionsunterricht. Eine explorative Videostudie, in: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft (im Druck). 24 Vgl. Matthias Gronover, David Ambiel, Ulrich Riegel, Malte Brügge-Feldhake, Sophia Jumpertz, Maximiliane Krämer & Reinhold Boschki, Subjektive Theorien zu religiöser Vielfalt von katholischen Religionslehrkräften. Eine explorative Studie, in: Religionspädagogische Beiträge (im Druck).

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zum Vorschein kommen. Das Bewusstsein der eigenen Spiritualität lässt dabei religiöse Unterschiede nicht verwischen oder gar übergehen, sondern profiliert diese im Sinne der Wertschätzung des anderen.25 Damit einher geht, das Beziehungsgefüge zwischen den Lehrkräften der unterschiedlichen Fächer so zu gestalten, dass Kooperation gelingen kann. Die Forschung hat gezeigt, dass die Anerkennung und Haltung der beteiligten Lehrkräfte entscheidend für das Gelingen solche Kooperationen sind. Deswegen muss den Überzeugungen von Lehrkräften ein besonderes Augenmerk geschenkt werden, wenn von Fachkooperationen gesprochen wird. Religiöse Überzeugungen sind dabei zunächst Überzeugungen, das heißt, sie bezeichnen ein persönliches Fürwahrhalten eines subjektiven Konzepts und beeinflussen damit perspektivisch die Beziehung einer Lehrperson zu ihrer Klasse und zu Bildungsinhalten. Bei Religionslehrkräften schließt das die persönliche Beziehung zu Gott ein, denn auch diese ist nicht frei von subjektiven Einfärbungen. Überzeugungen sind handlungswirksam, insofern Lehrpersonen aus ihren Überzeugungen heraus Unterricht planen und gestalten. Dieselben Charakteristika konnten für die Spiritualität von Religionslehrkräften gezeigt werden.26 Überzeugungen und auch Spiritualität sind dabei aber kein Schicksal, sondern lassen sich schulen und entwickeln. In personzentrierten Gesprächen, so konnte gezeigt werden, lassen sich anhand der Grundhaltungen Wertschätzung, Empathie und einer mit sich selbst kongruenten Einstellung gegenüber Gott und der Welt sowohl die eigene Vorstellung von Spiritualität schärfen als auch deren handlungsrelevante Chancen und Grenzen ausloten. Entscheidend ist dabei, dass die Entwicklung einer solchen Selbstkompetenz mit Demut gegenüber sich selbst und der sozialen und materialen Umwelt einhergehen muss. Bei der Weiterentwicklung von Überzeugungen und Spiritualität spielt die Erfahrung von Ohnmacht und vom Loslassen (beispielsweise von überhöhten Idealen) eine entscheidende Rolle.27 Fasst man religiöse Bildung vor allem als Instruktionsgeschehen, innerhalb dessen Inhalte vermittelt werden, erfasst man die theologische Schärfe solcher Ohnmachtserfahrungen nicht. Sobald religiöse Bildung aus der Perspektive 25 Vgl. Klaus Kießling, Andreas Günter & Stephan Pruchniewicz, Machen Unterschiede Unterschiede? Konfessioneller Religionsunterricht in gemischten Lerngruppen, Göttingen 2018. 26 Vgl. Matthias Gronover, Funktionale Äquivalenz von Spiritualität und Überzeugungen bei Religionslehrer/-innen. Ein Beitrag im Anschluss an die pädagogische Professionsforschung, in: Religionspädagogische Beiträge 44 (2021), Ausgabe 1, 37–45. 27 Vgl. Klaus Kießling, Spiritualität als solidarische Präsenz ins Gespräch bringen. Zur Förderung der Kompetenzen katholischer Religionslehrkräfte an berufsbildenden Schulen, in: Matthias Gronover (Hrsg.), Spirituelle Selbstkompetenz. Eine empirische Untersuchung zur Spiritualität von Berufsschulreligionslehrkräften, Münster – New York 2017, 124–137, hier: 127–130.

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der Kommunikation und als Beziehungsgeschehen reformuliert wird, kommt die Kontingenz und damit auch die Fragilität und Vulnerabilität der beteiligten Menschen zum Vorschein. Oder anders ausgedrückt: Die Kunst, Religion zu unterrichten, liegt dann darin, religiöse Bildung zu verkörpern, ihr also Gestalt zu geben und sie so für Schülerinnen und Schüler relevant zu machen. Das setzt die Offenheit voraus, andere in die eigene Welt vordringen zu lassen und schreibt einer so verstandenen religiösen Bildung das ein, was Kießling die »Exoterik« einer spirituellen Haltung nennt.28 Die Offenheit und Transparenz für die eigenen Überzeugungen macht zwar anfällig für Verletzungen, ist aber zugleich auch Bedingung dafür, den Geschenkcharakter des Lebens wahrzunehmen und annehmen zu können. Religiöse Bildung, die den Menschen betreffen will, wird also nicht im Faktencheck-Modus vermittelbar sein, sondern diese Fragilität und Verletzlichkeit im Beziehungsgeschehen vorkommen lassen.

28 Vgl. Kießling 2017.

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Matthias Gronover und Reinhold Boschki

Praxis und Theorie sind zwei Seiten einer Medaille Das Theorie-Praxis-Problem im Lehramtsstudium Angela Kaupp

»Das Verhältnis von Theorie und Praxis [gehört nicht nur] zum genuinen Grundbestand der Pädagogik, sondern [macht] ihr eigentliches Grundproblem aus«1, denn Pädagogik – und damit auch Religionspädagogik sowie Praktische Theologie insgesamt – ist stets auf Praxis bezogen, aber eben theoriegeleitet. Theorie, die der Praxis nicht dient, ist zumindest in diesem Kontext tendenziell überflüssig. Aber es ist ein Irrtum, dass es Praxis ohne Theorie gäbe. Die Frage ist eher, auf welcher Abstraktionsebene Theorie als solche erkannt wird. Denn die subjektiven Alltagstheorien, die unser Handeln bestimmen, werden meist nicht als theoretische Fundierung von Praxis wahrgenommen. Soll Praxis verändert werden, muss die Reflexion meist über eine alltagstheoretische Fundierung hinausgehen. Eine Praxis, die dem Gegenstand oder den Personen gerecht werden will, kann auf eine theoretische Durchdringung also nicht verzichten. Je mehr Aspekte berücksichtigt werden, umso differenzierter beziehungsweise abstrakter wird zwangsläufig die Theorie. Dieser Beitrag greift das Theorie-Praxis-Problem in der Lehrerbildung auf und versucht anhand eines hochschuldidaktischen Modells einige Stellschrauben aufzuzeigen, die eine Verbindung von Theorie und Praxis an der Hochschule fördern können, wobei eine explizit religionspädagogische Forschung erst am Anfang steht und das Theorie-Praxis-Problem auch in der Erziehungswissenschaft weiterhin »neuralgischer Punkt der Lehrer*innenbildung«2 ist. Da seit 1 Winfried Böhm, Theorie und Praxis. Eine Einführung in das pädagogische Grundproblem, 3., erweiterte Auflage, Würzburg 2011, 9. (Die erste Auflage erschien bereits 1985!) Vgl. auch Dietrich Benner, Das Theorie-Praxisproblem in der Erziehungswissenschaft und die Fragen nach Prinzipien pädagogischen Denkens und Handelns, in: Zeitschrift für Pädagogik 26 (1980), Heft 4, 485–497. 2 Michaela Artmann, »Es ist mir wichtig, dass die Studierenden sehen, dass Reflexion ohne Theorie ja gar nicht funktioniert.« Epistemologische Zugänge von Hochschullehrenden zum Theorie-Praxis-Problem in der Lehrer*innenbildung, in: Forum Qualitative Social Research 20 (2019), Heft 3, Abs. 1 der Online-Ressource: https://www.ssoar.info/ssoar/bitstream/document/65016/1/ssoar-fqs-2019-3-artmann-Es_ist_mir_wichtig_dass.pdf (letzter Zugriff am 20.12.2021).

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mehr als vierzig Jahren in der Fachwelt diskutiert wird, wie dieses Grundproblem gelöst werden könnte, wird auch der vorliegende Beitrag diese Frage nicht lösen; er ist daher im Sinne von work in process zu verstehen.

1 Das Theorie-Praxis-Problem im Lehramtsstudium Trotz der gegenseitigen Verwiesenheit von Theorie und Praxis wird vor allem mehr Praxisbezug im Lehramt gefordert, entsprechend der Devise: weniger learning for work und mehr learning at work, um weniger »träges Wissen« zu produzieren.3 In der Folge haben einige Bundesländer mehrmonatige Praxisphasen eingeführt; in anderen finden regelmäßig im Studium Seminare statt, in denen Unterricht hospitiert und reflektiert wird. Eine Verbindung zu Studieninhalten scheint jedoch selten erarbeitet zu werden, wie an der Haltung von Lehramtsstudierenden – insbesondere des (Grundschul-)Lehramts – abgelesen werden kann: Sie sehen oft wenig Zusammenhang zwischen den Inhalten des Studiums und der Praxis oder der späteren Tätigkeit als Lehrkraft. Da ihnen die Praxis für den späteren Beruf wichtiger erscheint, wenden sie teilweise mehr Zeit für eine Tätigkeit als ErsatzLehrkraft oder in der Ganztagsbetreuung auf als für das Studium und im Studium fragen sie vor allem nach direkt umsetzbaren Unterrichtsmethoden. Dies entspricht möglicherweise einer gesellschaftlichen Realität, die der Praxis meist höhere Dignität zuspricht als der Theorie beziehungsweise die Theorie nur insoweit als sinnvoll erachtet, als sie möglichst direkt auf Praxis bezogen ist.4 Es ist sinnvoll, das Theorie-Praxis-Problem sowohl auf der Ebene der Institutionen als auch auf der Ebene der Personen zu reflektieren. Institutionstheoretisch ist festzustellen, dass Universität und Schule zwei unterschiedliche Systeme sind, die nach verschiedenen Logiken funktionieren. »Diese Trennung folgt aus dem fortschreitenden gesellschaftlichen Differen­ zierungsprozess, in dem die einzelnen Systeme, hier Wissenschaft und Erziehung, ein hohes Maß an operativer Geschlossenheit entwickelt haben. Deshalb lässt sich Schule (Erziehungssystem) in ihrem Selbstverständnis und ihrem Handeln kaum durch Hochschule (Wissenschaftssystem) irritieren.«5 3 Vgl. Artmann 2019, Abs. 2. 4 Vgl. Reinhold Hedtke, Das unstillbare Verlangen nach Praxisbezug, o. O. 2000, 1–17, online verfügbar unter: https://www.sowi-online.de/journal/2000_0/hedtke_unstillbare_verlangen_ nach_praxisbezug_zum_theorie_praxis_problem_lehrerbildung_exempel.html (letzter Zugriff am 21.02.22). 5 Hedtke 2000, 2.

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Zu fragen ist, auf welcher Ebene eine Vermittlung von Theorie und Praxis in der Universität überhaupt möglich ist. Hierzu sind zunächst verschiedene Wissensformen zu unterscheiden: »Rezeptwissen und Routinen als auf eigene Erfahrungen gegründete handlungspraktisch anwendbare Entscheidungsregeln [und] Reflexionswissen als für die Begründung und Reflexion von Handlungen (Sinnstiftung) ex-post verwendetes theoretisches Wissen.«6 Routinen des Unterrichts können im Studium nicht eingeübt werden und Rezeptwissen kann nur in der Unterrichtspraxis überprüft werden. Aber Praxisphasen sind über weite Strecken Unterrichts-Hospitationen, das heißt die Beobachtung von Unterricht einer ausgebildeten Lehrkraft und keine Unterrichtspraxis der Studierenden. Hier kann das Studium ansetzen, indem es Reflexionswissen einträgt und die Reflexionsfähigkeit der Studierenden fördert. Unterstützt wird die Notwendigkeit der Förderung von Reflexionsfähigkeit durch Forschungsergebnisse, die belegen, dass ein Mehr von Praxis allein nicht zu mehr Professionalität führt beziehungsweise nicht notwendig die persönlichen, fachlichen und fachdidaktischen Kompetenzen der Studierenden erweitert.7 Erforderlich ist die Reflexion von Praxis vor dem Hintergrund von Theorie und hier kann das Hochschulsystem seine spezifischen Kompetenzen einbringen. Dies ist umso notwendiger, als die Forschung zeigt, dass die im Studium erworbenen fachdidaktischen Kenntnisse im Unterricht kaum umgesetzt werden.8 Diese Haltung von (angehenden) Lehrkräften läuft Gefahr, dass die Erfahrungen der eigenen Schulzeit zum Maßstab werden und der Unterricht auf der Basis von (bereits vor dem Studium vorhandenen!) subjektiven Alltagstheorien beziehungsweise epistemischen Überzeugungen oder Lehrerkognitionen9 über guten Unterricht stattfindet und damit Rezeptwissen und Routinen festigt, die weder für den Unterricht noch für die Schülerinnen und Schüler immer förderlich sind.

6 Hedtke 2000, 9. 7 Vgl. hierzu den Überblick bei: Artmann 2019. 8 Vgl. Rudolf Englert, Elisabeth Hennecke & Markus Kämmerling, Innenansichten des Religionsunterrichts. Fallbeispiele – Analysen – Konsequenzen, München 2014, 12. 9 In der Forschung werden je nach Forschungszugang unterschiedliche Begriffe verwendet. Zur Differenzierung vgl. Caroline Trautwein, Lehrerbezogene Überzeugungen und Konzeptionen – eine konzeptuelle Landkarte, in: Zeitschrift für Hochschulentwicklung 8 (2013), Heft 3, 1–14. Im Rahmen der folgenden Überlegungen können die jeweiligen Schwerpunktsetzungen nicht differenziert betrachtet werden.

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»Subjektive Theorien haben eine handlungsleitende oder handlungssteuernde Funktion (Dann, 1989). Sie beeinflussen das professionelle Handeln von Lehrpersonen (Baumert & Kunter, 2006) und haben folglich wesentlichen Einfluss auf die Planung und Durchführung von Unterricht.«10 Es zeigt sich, dass besonders unter Handlungsdruck im »Eifer des Gefechts« eher intuitiv als reflektiert gehandelt wird und Lehrkräfte »eher auf episodisch gelagerte Überzeugungen anstatt auf ihr formales Wissen zurückgreifen«11. Aktuelle Forschungen konzentrieren sich daher darauf, welche Bedeutung subjektive Theorien für das Handeln von Lehrkräften haben und wie diese durch Reflexion verändert werden können.12 Im Rahmen des Theologiestudiums fehlt diese Forschung noch weitgehend. Daher versteht sich das folgende Beispiel einer Vermittlung von Theorie und Praxis als ein Beitrag zur weiteren Forschung.

10 Julia Hirsch, Subjektive Theorien zum Lehren und Lernen von Lehramtsstudierenden vor und nach der ersten Fachdidaktik-Lehrveranstaltung, in: die hochschullehre. Interdisziplinäre Zeitschrift für Studium und Lehre 3 (2017) 2, online verfügbar unter: http://www.hochschullehre.org/wp-content/files/diehochschullehre_2017_hirsch.pdf (letzter Zugriff am 15.10.2021); grundlegend zu subjektiven Theorien vgl. Norbert Groeben, Diethelm Wahl, Jörg Schlee & Brigitte Scheele (Hrsg.), Das Forschungsprogramm Subjektive Theorien. Eine Einführung in die Psychologie des reflexiven Subjekts, Tübingen 1988; Hans-Dietrich Dann & Ludwig Haag, Lehrerkognitionen und Handlungsentscheidungen, in: Martin K. W. Schweer (Hrsg.), LehrerSchüler-Interaktion. Inhaltsfelder, Forschungsperspektiven und methodische Zugänge, Wiesbaden 2017, 89–120; zu »epistemischen Überzeugungen« vgl. Andrea Bernholt, Hans Gruber & Barbara Moschner (Hrsg.), Wissen und Lernen. Wie epistemische Überzeugungen Schule, Universität und Arbeitswelt beeinflussen, Münster – New York 2017. 11 Vgl. Caroline Trautwein, Struktur und Entwicklung akademischer Lehrkompetenz, in: Johannes Wildt & Matthias Heiner (Hrsg.), Professionalisierung der Lehre. Perspektiven formeller und informeller Entwicklung von Lehrkompetenz im Kontext der Hochschulbildung, Bielefeld 2013, 83–131, hier: 84. Vgl. auch: Frank M. Pajares, Teachers’ Beliefs and Educational Research: Cleaning up a Messy Construct, in: Review of Educational Research 62 (1992), Heft 3, 307–332, hier: 312; Diethelm Wahl, Handeln unter Druck. Der weite Weg vom Wissen zum Handeln bei Lehrern, Hochschullehrern und Erwachsenenbildnern, Bad Heilbrunn 1991. 12 Vgl. exemplarisch: Carina Caruso & Christian Harteis, Inwiefern können Praxisphasen im Studium zu einer Theorie-Praxis-Relationierung beitragen? Implikationen für die professionelle Entwicklung angehender Lehrkräfte, in: Kathrin Rheinländer & Daniel Scholl (Hrsg.), Verlängerte Praxisphasen in der Lehrer*innenbildung. Konzeptionelle und empirische Aspekte der Relationierung von Theorie und Praxis, Bad Heilbrunn 2020, 58–73.

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2 Das Konzept der religionsdidaktischen Lernwerkstatt im Rahmen der »Qualitätsoffensive Lehrerbildung« Im Unterschied zu anderen Bundesländern ist für Studierende für das Lehramt an der Grundschule in Rheinland-Pfalz (Standort der Universität Koblenz-­ Landau) kein fachspezifisches Praktikum in den Nebenfächern, wie zum Beispiel dem Religionsunterricht, vorgesehen. Das heißt, Studierende können das Studium absolvieren, ohne Hospitations- oder Lehrerfahrungen im Religionsunterricht zu sammeln. Diese Ausgangslage führte in Koblenz dazu, eine Seminarveranstaltung völlig neu zu konzipieren. Im Rahmen der »Qualitätsoffensive Lehrerbildung«13 wurde 2016 eine »Religionsdidaktische Lernwerkstatt«14 eingeführt, die zum Wahlpflichtbereich des Masters Grundschulbildung gehört. Das Seminar wird in Kooperation von der Professorin und der/dem Projektmitarbeiter/in der Qualitätsoffensive Lehrerbildung durchgeführt. Der inhaltliche Schwerpunkt »Weltreligionen« ist einerseits theologisch und fachdidaktisch anschlussfähig an den Lehrplan und bezieht andererseits die im Rahmen der Qualitätsoffensive geforderten Aspekte von Heterogenität und Inklusion mit ein. Ziel ist, die Zuordnung von Theorie und Praxis erfahrbar zu machen, indem die Studierenden Unterricht theoriebezogen vorbereiten, durchführen und reflektieren. Die Begleitforschung will das studentische Verständnis von Theorie und Lehre im Anschluss an die Veranstaltung und die Kompetenzniveaus der Reflexion des eigenen Unterrichts erforschen.

13 Die »Qualitätsoffensive Lehrerbildung« ist eine vom Bundesministerium für Bildung und Forschung im Rahmen des Bund-Länder-Programms geförderte Maßnahme zur Verbesserung der Lehrerbildung. An der Universität Koblenz-Landau läuft diese unter dem Akronym MoSAiK (Modulare Schulpraxiseinbindung als Ausgangspunkt zur individuellen Kompetenzentwicklung) in der Projektlaufzeit von 2016 bis 2023. Informationen online verfügbar unter: https://www.uni-koblenz-landau.de/de/mosaik (letzter Zugriff am 02.05.2022). 14 Die Universität stellt keinen Raum für die Lernwerkstatt zur Verfügung; daher wird mit transportablen Lernkoffern zu den Weltreligionen gearbeitet und weitere Materialien werden online zur Verfügung gestellt.

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2.1 Didaktische Konzeption Das hochschuldidaktische Setting der Lernwerkstatt besteht aus fünf aufeinander aufbauenden Phasen mit Arbeitsgruppen über die Dauer des Semesters:15 1. Theorie- beziehungsweise Inputphase zu fachwissenschaftlichen Inhalten des Themas »Weltreligion« unter besonderer Berücksichtigung von Judentum und Islam, zu dem religionsdidaktischen Konzept des Lernens anhand von Zeugnissen16 und zur Elementarisierung als Weg der Unterrichtsplanung.17 In dieser Phase erarbeiten die Studierenden in Arbeitsgruppen ein fachwissenschaftliches Essay zu einem Zeugnis/Gegenstand einer Religion. Die Zeugnisse/Gegenstände stehen in Lernkoffern zur Verfügung und werden auch im späteren Unterricht eingesetzt. 2. Selbständige Projektphase der Studierenden in Arbeitsgruppen: Erstellung des Unterrichtsmaterials und Ausarbeitung des RUs auf der Basis von Phase 1. 3. Präsentation und Diskussion der Unterrichtsstunde im Plenum der Werkstatt und Überarbeitung des Entwurfs. 4. Erprobungsphase der Unterrichtsstunde mit Schülerinnen und Schülern im Re­ligionsunterricht, der videografiert wird. Der Unterricht wird im Tandem durchgeführt und von den weiteren Studierenden der Arbeitsgruppe beobachtet. 5. Reflexion der Erprobungsphase in den Arbeitsgruppen. 2.2 Ziele des didaktischen Konzepts der Lernwerkstatt Das Konzept verfolgt drei zentrale Ziele: 1. Den Studierenden soll die Zuordnung von Theorie und Praxis anhand einer Lernaufgabe bewusst werden. Mit »Weltreligionen« wird ein Thema gewählt, das für die Studierenden inhaltlich und fachdidaktisch für ihre spätere Berufs15 Im Folgenden wird der Idealfall präsentiert. Aufgrund der Covid-19-Epidemie musste das Modell digital durchgeführt werden, das heißt, Phase 4 konnte nicht stattfinden, sodass nur der Unterrichtsentwurf reflektiert werden konnte. Aufgrund der begrenzten personellen Kapazitäten ist es ebenfalls nicht durchgehend möglich, den Unterricht zu videografieren. Die Forschungsarbeiten basieren jedoch auf den Reflexionen von videografiertem und entsprechend reflektiertem Unterricht. 16 Vgl. John Hull, Die Gabe an das Kind. Ein neuer pädagogischer Ansatz, in: ders. (Hrsg.), Glaube und Bildung, Ausgewählte Schriften, Berg am Irchel 2000, 141–164; Karlo Meyer, Zeugnisse fremder Religionen im Unterricht. Weltreligionen im englischen und deutschen Religionsunterricht, Göttingen 2012; Clauß Peter Sajak, Interreligiöses Lernen an Zeugnissen fremder Religionen, in: Ludwig Rendle (Hrsg.), Ganzheitliche Methoden im Religionsunterricht, München 2011, 342–350; ders., Interreligiöses Lernen, Darmstadt 2018, 61–64. 17 Vgl. Friedrich Schweitzer, Sara Haen & Evelyn Krimmer, Elementarisierung 2.0. Religionsunterricht vorbereiten nach dem Elementarisierungsmodell, Göttingen 2019, 1–20.

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praxis bedeutsam ist. Die Studierenden sind herausgefordert, Fachwissen und Fachdidaktik miteinander zu koppeln, um eine Unterrichtsstunde vorzubereiten und durchzuführen. Hierdurch findet eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Rolle als Lehrkraft statt. Gruppen- und Teamarbeit fördern einen inhaltlichen Austausch. In der Erarbeitung von Lernmaterial verdichtet sich die Verbindung von pädagogischem, fachwissenschaftlichem und fachdidaktischem Wissen. 2. Mit der Schwerpunktsetzung auf »Weltreligionen« sind angehende Lehrkräfte herausgefordert, sich fachwissenschaftlich und fachdidaktisch mit religiöser Pluralität und Heterogenität auseinanderzusetzen und so ihre Kenntnisse über andere Religionen sowie ihre Handlungskompetenz im Umgang mit weltanschaulicher Diversität zu erweitern. Der Ansatz des »Lernens anhand von Zeugnissen« ermöglicht es, die Auseinandersetzung mit anderen Religionen kontextualisiert zu gestalten und über ein religionskundliches learning about hinauszuweisen. 3. Reflexionskompetenz der Studierenden als »Merkmal der Professionalität von Lehrkräften«18 soll gefördert werden. Dies erfordert, dass Studierende die Reflexion der fachlichen, fachdidaktischen und persönlichen Kompetenz anhand des eigenen Unterrichts beziehungsweise der Unterrichtsplanung schon im Studium einüben. Die Lernwerkstatt bietet zahlreiche Reflexionsgelegenheiten: bei der Planung des Unterrichts in Gruppenarbeit, bei der Durchführung im Tandem, durch Rückmeldungen der Seminarleitung, der Studierenden und der Lehrkräfte und durch die Reflexion des Prozesses in der letzten Phase. So können die Studierenden die eigene berufliche Rolle und ihr Verhalten in der Interaktion mit Schülern und Schülerinnen reflektieren lernen. Insbesondere die Verbindung von Theorie und Praxis und deren Reflexion in der Lernwerkstatt können dies fördern.19

18 Vgl. Bianca Roters, Reflexionskompetenz als Merkmal der Professionalität von Lehrkräften, in: Zeitschrift Seminar 1 (2016) 46–57; dies., Professionalisierung durch Reflexion in der Lehrerbildung. Eine empirische Studie an einer deutschen und einer US-amerikanischen Universität, Münster 2012; Oliver Reis, Durch Reflexion zur Kompetenz – Eine Studie zum Verhältnis von Kompetenzentwicklung und reflexivem Lernen an der Hochschule, in: Ralf Schneider, Birgit Szczyrba, Ulrich Welbers & Johannes Wildt (Hrsg.), Wandel der Lehr- und Lernkultur. 40 Jahre Blickpunkt Hochschuldidaktik, Bielefeld 2009, 100–120. 19 Vgl. auch Hans Mendl & Rudolf Sitzberger, Lernwerkstatt Religionsunterricht: Theorie-PraxisVerschränkung konkret, in: Paradigma. Beiträge aus Forschung und Lehre aus dem Zentrum für Lehrerbildung und Fachdidaktik 8 (2016) 163–178, hier: 176, online verfügbar unter: https:// ojs3.uni- passau.de/index.php/paradigma/article/view/65/70 (letzter Zugriff am 15.10.2021).

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3 Erste Forschungsergebnisse Als Material zur Analyse der Lernfortschritte der Studierenden dienten videografierte Unterrichtsstunden und Interviews mit Studierenden. Mithilfe der Methode der Stimulated Recall Interviews beobachteten die Studierenden in den Arbeitsgruppen das Video ihres Unterrichts und stoppten dieses immer, wenn sie den Verlauf kommentieren wollten.20 Diese Gespräche wurden aufgenommen und transkribiert. Die Analyse der Gruppeninterviews fand mithilfe der Methodik der Qualitativen Inhaltsanalyse nach Philipp Mayring21 statt. Ziel war es zu erforschen, inwieweit fachliche, fachdidaktische und persönliche Kompetenzen reflektiert werden. 3.1 Studentische Sichtweisen zum Verhältnis von Theorie und Praxis Svenja Lehmann22 analysierte auf der Basis von vier Interviews das TheoriePraxis-Verständnis der Studierenden anhand der Analysekategorien »Praxis«, »Theorie« und »Theorie-Praxis-Verzahnung«. Sie konnte unterschiedliche Verständnisformen von Theorie und Praxis herausarbeiten. Besonders handlungsund prozessorientierte Elemente des Seminars wurden als »Praxis« empfunden (Beispiel: das Lernen mit religiösen Artefakten). Unter »Theorie« verstanden die Studierenden Wissensorientierung (Beispiel: die Aneignung und Produktion von Texten), weniger die Auseinandersetzung mit den didaktischen Modellen. Obwohl mit Antworten gezielt zwischen Theorie und Praxis unterschieden wurde, gab es Überschneidungen, die das Moment einer Verzahnung markierten (Beispiel: Elementarisierung war sowohl bei den Theorie- als auch bei den Praxisverständnissen zu finden). Besonders positiv wurde der Praxisbezug empfunden (Zitat einer Studentin: »Theorie, die wie Praxis vorkommt«). Damit eine Verzahnung stattfindet, ist ein reflektierter Umgang mit der Unterrichtspraxis unverzichtbar. 20 Vgl. Roland Messmer, Stimulated Recall als fokussierter Zugang zu Handlungs- und Denkprozessen von Lehrpersonen, in: Forum Qualitative Social Research 16 (2015), Heft 1, online verfügbar unter: https://www.qualitative-research.net/index.php/fqs/article/view/2051/3733 (letzter Zugriff am 15.10.2021); zur Umsetzung in der Lernwerkstatt vgl. Julian Miotk, Dimensions of reflection – stimulated recall as a method for teaching training, in: Constanze Juchem-Grundmann & Sarah Wunderlich (Hrsg.), The Interplay of Theory and Practice in Teacher Education, Berlin 2021 (im Druck). 21 Vgl. Philipp Mayring, Qualitative Inhaltsanalyse, 7. Auflage, Weinheim 2000. 22 Vgl. Svenja Lehmann, Studienwerkstatt Religionsdidaktik – Auswertung des Konzeptes der Studienwerkstatt am Beispiel interreligiösen Lernens im Religionsunterricht der Grundschule im Hinblick auf die Verknüpfung von Theorie und Praxis, Koblenz 2018 (unveröffentlichte Masterarbeit).

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Interessanterweise fand bei den Studierenden eine Veränderung statt, denn die Erfahrungen in Lernwerkstatt und Unterricht führten zu einer positiveren Bewertung von »Theorie«. Möglicherweise unterstützt dieses hochschuldidaktische Setting durch die konkrete Umsetzung und die Reflexion eine Veränderung der subjektiven Theorien der Studierenden, die über eine theoretische Auseinandersetzung mit Fachinhalt und Fachdidaktik allein nicht erreicht wird. 3.2 Studentische Einschätzungen der eigenen Person im Blick auf Wissen und Kompetenz Lea Trispel23 untersuchte die Selbstaussagen der Studierenden zu Wissen und Kompetenzen. Die Studierenden formulierten einen Zuwachs an Wissen im Blick auf interreligiöse Fragen und die Gestaltung einer Unterrichtsstunde. Eigene Kompetenzen erlebten die Studierenden in einem inhaltlich und didaktisch angemessenen Umgang mit den Schülerinnen und Schülern. In der selbstkritischen Reflexion wurden Schwächen und Probleme im Zeitmanagement und in der Formulierung von Arbeitsanweisungen an die Schülerinnen und Schüler benannt. Dagegen wurde mangelndes Fachwissen, das in einigen Unterrichtsstunden deutlich wurde, nicht als fehlende Kompetenz gewertet. Dies belegt, dass eine einzelne Seminarveranstaltung nur in Ansätzen zu einem Kompetenzerwerb führt und dass die Studierenden diese im Rahmen der Interviews nur begrenzt zum Thema machen. Es ist zu berücksichtigen, dass es sich bei den Verfasserinnen um Studierende handelt. Daher kann weder ein professioneller Habitus als Lehrkraft noch als Wissenschaftlerin vorausgesetzt werden. Die Arbeiten wurden jedoch mit einem sehr hohen Forschungsengagement durchgeführt, da die Studierenden die Interviews zunächst transkribieren mussten. Sie stellen damit eine wichtige Materialbasis für die weitere Forschung dar. Noch wichtiger scheint, dass sie ein Zeugnis dafür sind, wie anhand von Abschlussarbeiten der Ansatz eines »Forschenden Lernens«24 in der Hochschuldidaktik umgesetzt werden kann. 23 Vgl. Lea Trispel, Wissen und Kompetenzen von Lehramtsstudierenden der Katholischen Theologie. Eine qualitative Inhaltsanalyse der Lernwerkstatt Religionsdidaktik zum Thema Weltreligionen, Koblenz 2018 (unveröffentlichte Masterarbeit). 24 Vgl. Julian Miotk, Forschendes Lernen am Beispiel interreligiöser Projekte in der Religionslehrer*Innenbildung, in: Nils Neuber, Walther Paravicini & Martin Stein (Hrsg.), Forschendes Lernen. The Wider View. Eine Tagung des Zentrums für Lehrerbildung der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster vom 25. bis 27.09.2017, Bd. 3, Münster 2017, 379–382; Oliver Reis, Forschendes Lernen in der Theologie, in: Harald A. Mieg & Judith Lehmann (Hrsg.), Forschendes Lernen. Wie die Lehre in Universität und Fachhochschule erneuert werden kann, Frankfurt a. M. – New York 2017, 377–386.

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3.3 Studentische Denk- und Handlungsstrukturen Julian Miotk untersucht im Rahmen einer Dissertation, welche Wirkungsweisen und Denkstrukturen sich im Kontext des interreligiösen Lernens bei den Studierenden durch die Arbeit in der Lernwerkstatt rekonstruieren lassen.25 Hierbei werden die fachdidaktischen und fachwissenschaftlichen Denkstrukturen der Studierenden rekonstruiert und nach Wechselwirkungen gesucht. Außerdem sollen die Reflexionsniveaus der Studierenden erhoben werden und geprüft werden, inwieweit das Konzept der Lernwerkstatt hier förderlich ist. Erste Ergebnisse belegen Unterschiede in der Qualität der Reflexion, die sich in unterschiedlichen Reflexionsniveaus und unterschiedlichen Dimensionen und Inhaltsbereichen der Reflexion26 zeigen. Dieses Forschungsprojekt ist noch nicht abgeschlossen. 3.4 Fazit – die Lernwerkstatt als ein Modell der Verbindung von Theorie und Praxis Es kann konstatiert werden, dass die Lernwerkstatt sowohl im Blick auf die Verbindung von Theorie und Praxis als auch im Blick auf forschendes Lernen ein Gewinn ist. Positiv zu bewerten ist im Vergleich zu anderen Seminaren ein durchgehend deutlich höheres inhaltliches und zeitliches Engagement der Studierenden. Gründe dafür sind, dass sie das Zueinander von Theorie und Praxis sehen und Gelegenheit haben, sich professionell zu erproben. Die bisherigen Reflexionsergebnisse zeigen jedoch auch, dass unzureichendes fachliches und fachdidaktisches Wissen nicht im Rahmen einer einzigen Seminarveranstaltung geschlossen werden kann. Es ist zu hoffen, dass die Selbstreflexion der Studierenden dazu führt, dass sie Lücken erkennen und sich entsprechendes Wissen aneignen.

25 Julian Miotk, Qualifikationsmöglichkeiten von angehenden Religionslehrer*innen. Eine Studie zur Rekonstruktion von Lernstrukturen in Lernwerkstätten im Kontext von Heterogenität und religiöser Pluralität, in: Religionspädagogische Beiträge 81 (2019) 66–69, hier: 69. 26 Vgl. Jürg Aeppli & Hanni Lötscher, EDAMA – Ein Rahmenmodell für Reflexion, in: Beiträge zur Lehrerinnen- und Lehrerbildung 34 (2016), Heft 1, 78–97, online verfügbar unter: https://www.pedocs.de/volltexte/2017/13921/pdf/BZL_2016_1_78_97.pdf (letzter Zugriff am 15.10.2021).

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4 Ausblick – Theorie und Praxis – Fragen bleiben Auch wenn deutlich wurde, dass Theorie und Praxis in der Lehrkraftbildung notwendig zwei Seiten einer Medaille sind, bleibt das Verhältnis in Spannung. Viele Facetten des Lernerfolgs können (noch) nicht beurteilt werden. Auch im Rahmen des beschriebenen Projekts bleibt offen, ob und wie Praxis letztlich auf das professionelle Selbstverständnis wirkt. Ob und wie sich subjektive Theorien beziehungsweise epistemische Überzeugungen verändern, kann nicht im Rahmen eines Semesters erforscht werden. Hierzu sind Langzeitstudien über die Zeit des Studiums hinweg und idealerweise bis in die Tätigkeit als Lehrkraft nötig. Hier sind auch in der empirischen Schulforschung viele Aspekte noch unerforscht.27 Eine Idee ist, die Studierenden selbst an einer Erforschung schulischer Praxis zu beteiligen,28 wie dies in den vorliegenden Masterarbeiten erprobt wurde. Dies kann dazu beitragen, eine reflexive Distanz zu erwerben, die den Unterricht nicht nur in actu sieht, sondern auch aus einer »Vogelperspektive« reflektiert. Auch so könnte der Erwerb von Reflexionskompetenz gefördert und die Notwendigkeit von Theorie erlebt werden, da Praxis vor dem Hintergrund von fachlichem und fachdidaktischem Wissen analysiert wird.

5 Schlussgedanke »Un jour j’irai vivre en théorie, car en théorie tout se passe bien« (»Eines Tages werde ich in Theorie leben, denn in Theorie läuft alles gut«) – so der Spruch auf einer Postkarte, die ich in einem Urlaub in Frankreich entdeckte. Leben in der Theorie – auch, wenn dann alles funktioniert – kann letztlich nicht das Ziel sein. Denn eines ist sicher: Es ist kein Leben. Und so müssen wir uns wohl auch weiterhin – nicht nur in der Gestaltung des Lehramtsstudiums oder überhaupt im wissenschaftlichen Bereich, sondern auch im alltäglichen Leben – mit dem Spannungsverhältnis von Theorie und Praxis mit allen Ambivalenzen auseinandersetzen. Sie sind eben zwei Seiten einer Medaille.

27 Vgl. Hedtke 2003, Abs. 1. 28 Vgl. Herbert Altrichter, Peter Posch & Harald Spann, Lehrerinnen und Lehrer erforschen ihren Unterricht, 5. Auflage, Bad Heilbrunn 2018, 295–298.

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In der Begegnung mit Zeitzeugen Mensch werden Zu Herkunft, Bedeutung, Formen, Reflexion und Zukunft von Zeitzeugenprojekten Marc Fachinger

1963 fand in Frankfurt am Main der erste große Auschwitz-Prozess statt. Dessen Zustandekommen hatte Fritz Bauer, hessischer Generalstaatsanwalt in den Jahren 1956 bis 1968, maßgeblich vorangetrieben. In diesem Versuch einer juristischen Aufarbeitung der unvorstellbaren Ereignisse, die mit dem Namen Auschwitz verbunden werden, erzählten erstmals in Deutschland Menschen unter anderem aus Polen, der Sowjetunion, der Tschechoslowakei oder Israel1 ihre (Über-)Lebensgeschichten in Konzentrationslagern, Ghettos, Arbeitslagern und Verstecken. Sie erzählten sie im Angesicht von Mördern, derer, die großteils überzeugt waren, dass das, »was damals rechtens war, […] heute nicht Unrecht sein«2 kann. Erstmals traten so in einem organisierten Rahmen Zeitzeuginnen und Zeitzeugen3 der »furchtbaren Jahre 33–45«4 in Deutschland auf, um nur annähernd die Wahrheit begreifbar zu machen, was Menschen Menschen antun können. Wenn die letzten Zeitzeugen der »schwarzen Zeit«5 heute in Deutschland an Schulen, in öffentlichen Räumen, in Kirchengemeinden ihre (Über-)Lebensgeschichten erzählen, dann tun sie das im Angesicht von jungen Menschen, denen sie oft sagen: Ihr habt keine Schuld an dem, was geschehen ist, aber ihr habt die Verantwortung dafür, dass das nie mehr geschehen darf, was ich euch 1 Insgesamt stammten diese aus 19 Ländern. 2 So hat es seinerzeit der baden-württembergische Ministerpräsident Hans Filbinger entlarvend formuliert. Vgl. Der Spiegel, 20/1978, 25. 3 Zur geschlechtergerechten Begrifflichkeit ist anzumerken, dass im wissenschaftlichen Zusammenhang vom »Zeitzeugen« in einem allgemeinen Sinn gesprochen wird. Geht es um konkrete Personen wird geschlechtsspezifisch formuliert. Die polnische NS-Zeit-Überlebende Krystyna Kozak sagte einführend immer über sich »Ich bin der Zeitzeuge!«. 4 Ein Ausdruck von Fritz Bauer, der im laufenden Text mehrfach zitiert wird. Vgl. Fritz Bauer spricht zum Eichmann-Prozess (5'36''), Ausschnitt aus: Erwin Leiser, Eichmann und das Dritte Reich, Dokumentarfilm 1961, 1:30 h, vgl. https://www.imdb.com/title/tt0054844/ (letzter Zugriff am 01.12.2021). 5 Eine Formulierung von Leo Baeck, die im Folgenden ebenso die Jahre 1933 bis 1945 bezeichnet. Vgl. H. G. Adler, Theresienstadt 1941–1945. Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft, 3. Auflage, Göttingen 2018, VII.

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erzählt habe. Sie erzählen ihre (Über-)Lebensgeschichten auch im Angesicht von Erwachsenen, die erfahren wollen, welch unermessliches Leid ihre Vorfahren in die Welt brachten – als Täter, als Mitläufer, als schweigende Mehrheit. Und ganz selten nur hören auch Menschen zu, die zur Tätergeneration gehören, die zum großen Teil aus Mitläufern bestand, wie dies unter anderen Géraldine Schwarz in ihren »Erinnerungen einer Europäerin« skizziert.6 Sie alle hören, dass die Überlebenden nicht zerbrochen sind, sondern am Ende mit ihrem Leben triumphierten über die unbeschreibliche Unmenschlichkeit – weil sie Menschen waren und mit aller Kraft, die dem Menschen innewohnen kann, und durch viele glückliche Zufälle und Entscheidungen am Leben blieben.

1 Worum es in Zeitzeugenbegegnungen geht In Zeitzeugenbegegnungen, so meine Erfahrung, geht es zwar in den Erinnerungen und Erzählungen um schreckliche, furchtbare und traumatische Erlebnisse und auch um die Konkretisierung und Realitätswerdung abstrakter geschichtlicher Daten. Doch letztlich geht es – auch im Blick der Zeitzeugen auf die Schüler*innen und deren Zukunft – um Erinnerung und die Erkenntnis, was es heißt, ein Mensch zu sein, zu bleiben und zu werden. 1.1 Ein Beispiel Krystyna Kozak war ein Mensch. Am 21. Mai 2021 starb sie in einem Pflegeheim in der Nähe der polnischen Stadt Grudziądz7, ungefähr 120 km südlich von Danzig. Anfang 2021 veröffentlichte Klaus Kießling eine Rezension zu ihrem im Jahr 2020 erschienenen Buch »Ein ganz gewöhnliches polnisches Mädchen«.8 Darin schreibt er von ihrer zu erahnenden leibhaftigen Präsenz und Ausstrahlung als Zeitzeugin in der Begegnung mit Schüler*innen.9 Er sieht in ihrer Erzählung von Abgründen, Erlebnissen und Erfahrungen eine persönliche und zugleich politische Botschaft – in ihrem Mut als Zeugin und in ihrer Versöhnungsbereitschaft. 6 Vgl. Géraldine Schwarz, Die Gedächtnislosen. Erinnerungen einer Europäerin, Zürich 2019, 11 ff.134 ff. 7 Polnische Stadt an der Weichsel, die vor 1945 den Namen Graudenz trug. 8 Vgl. Klaus Kießling, Bücherschau, in: Wege zum Menschen 1 (2021) 87 f., auch gekürzt abgedruckt in: RABS. Fachmagazin für den Religionsunterricht an berufsbildenden Schulen 4 (2020) 43. 9 Frau Kozak konnte seit 2015 nicht mehr nach Deutschland reisen aufgrund der in der Lagerhaft erlittenen Versehrtheit.

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Am 31. Dezember 1928 wurde Krystyna Kozak in Grudziądz geboren. Im September 1939 erlebte sie als Kind den Einmarsch der deutschen Wehrmacht und der SS in ihrer Heimatstadt. Bis dahin hatte ihre Familie mit der deutschen Familie Gräber, die im Erdgeschoss unter ihnen wohnte, 19 Jahre lang »in großer Freundschaft«10 zusammengelebt. Doch über Nacht, so sagte sie, waren sie Feinde geworden, wie ihnen am Morgen nach dem Einmarsch Herr Gräber mitteilte. Er warf die siebenköpfige Familie Kozak aus ihrer Wohnung. In der Schule musste Krystyna auf schmerzliche Art Deutsch lernen. Fast alles war nun für Polen verboten. Der Vater Józef Kozak hielt die Familie als Müllmann über Wasser. Als »großer Patriot«11, wie es Krystyna immer betonte, unterschrieb er nicht die sogenannte »Deutsche Volksliste«12. Trotz der Warnung des deutschen Pastors Paul Gürtler blieb er bei seiner Haltung. So kam die ganze Familie im Sommer 1944 in das Arbeitslager Potulice. Dort tat Krystyna alles ihr Mögliche, um ihrem jüngsten Bruder Jan, der 5 Jahre alt war, ein wenig das Leben zu erleichtern. Sie nahm schwerste Arbeit im Steinbruch auf sich, bis ihr das Blut aus der Nase lief, um eine dünne Scheibe Wurst am Ende des Tages zu erhalten. Sie musste mit ansehen, wie ein Vater seinen eigenen Sohn auf Befehl der SS-Lagermannschaft an einem Baum aufhängte, nur weil dieser eine Kartoffel eingesteckt hatte. Auf dem Weg zur Arbeit wurde erschossen, wer nicht mehr konnte. Ihre Mutter gab ihr Kraft mit dem Satz: »Krystyna, der Herrgott lässt nur so viel Schmerz, so viel Leid zu, wie der Mensch aushalten kann. Und wenn er das nicht aushalten kann, dann nimmt der liebe Gott ihn zu sich.«13 Und sie registriert die Angst der deutschen Wachleute voreinander. Die Hoffnung ist es, die die Menschen im Lager ausharren lässt. »Wir haben uns an alles gehalten, was uns Hoffnung geben konnte. Vielleicht werden wir befreit.«14 Im Januar 1945 wurde das Lager Potulice evakuiert. Nach einer zweimonatigen Odyssee durch die Wirren des ans Ende kommenden Krieges erreichte sie mit ihrer Mutter und einem Teil der Geschwister ihre Heimatstadt Grudziądz. In der dortigen Festung hatten sich zuvor noch SS- und Wehrmachtsoldaten verschanzt und sich einen sinnlosen Kampf mit den heranrückenden sowjetischen Soldaten geliefert. Durch die Trümmer der Stadt hindurch findet 10 Krystyna Kozak, Ein ganz gewöhnliches polnisches Mädchen. Erzählungen aus den Jahren 1939–1945. Eine Zeitzeugenrede vom 25. Mai 2010, Norderstedt 2020, 18. Die Zusammenfassung ihrer Lebensgeschichte beruht auf diesem Buch. 11 Kozak 2020, 34. 12 Kozak 2020, 33. 13 Kozak 2020, 52. 14 Kozak 2020, 53

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die Familie Kozak zu ihrer alten Wohnung, die durch eine Bombe teils zerstört war. Aber glücklich waren sie, weil sie frei waren. Mit ihrer ganzen Familie überlebte Krystyna Kozak diese schreckliche Zeit. Ihr war wichtig, wie wohl den meisten Zeitzeugen, dass ihre Geschichte nicht in Vergessenheit geriet, und damit auch die Hoffnung, dass Menschen einander nie mehr das antun, was sie selbst erfahren musste und worunter sie bis ans Ende ihres Lebens nicht nur in Träumen litt. Schwer fiel ihr jener Prozess, den die polnischen und deutschen Bischöfe im Zusammenhang mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil initiierten. »Wir vergeben und bitten um Vergebung«, schrieben die polnischen Bischöfe im November 1965 und forderten ihre Landsleute zu solchem Tun auf.15 Krystyna fiel dies schwer. Wenn sie vor Schmerzen nachts nicht einschlafen konnte, dann war an Vergebung nicht zu denken. Es dauerte lange, bis sie darüber nachdachte, dass sie als Katholikin jeden Tag das Vaterunser betet: »Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern. Wenn mir der liebe Gott meine Schuld vergeben soll, muss ich doch auch den anderen vergeben. Ich habe es getan. Ich habe keinen Hass auf euch Deutsche.«16 Und so konnte sie am Ende ihrer Gespräche mit den Schüler*innen sagen: »Liebt den Freund, aber versuche auch den Feind zu lieben. Das ist schwer, aber versucht es. Habt keinen Hass auf andere Menschen. Seid tolerant. Alles Gute wünsche ich euch. Grüßt eure Eltern und Großeltern. […]«17. Die Geschichte von Krystyna Kozak ist ein Beispiel unter Zehntausenden, welcherart die Erzählungen in Zeitzeugenbegegnungen sein können. 1.2 Ablauf einer Zeitzeugenbegegnung Der konkrete Ablauf einer Zeitzeugenbegegnung mit Schulen kann folgendermaßen aussehen: In den Wochen vor der Begegnung wird anhand erster biografischer Informationen über die Zeitzeugin, mit der eine Begegnung stattfindet, gearbeitet. So können teilnehmende Schulen im Vorfeld beispielsweise Schüler*innen zu Orten wie Theresienstadt, Ravensbrück, Auschwitz-Birkenau oder Buchenwald recherchieren lassen, die im Zusammenhang mit der Geschichte bedeutsam sind. 15 Vgl. zum Wortlaut und zur Rezeptionsgeschichte dieses Briefes und der Antwort der deutschen Bischöfe im Dezember 1965: Basil Kerski, Thomas Kycia & Robert Żurek, »Wir vergeben und bitten um Vergebung«. Der Briefwechsel der polnischen und deutschen Bischöfe von 1965 und seine Wirkung, Osnabrück 2006. 16 Kozak 2020, 58. 17 Kozak 2020, 61.

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Der Ort der konkreten Begegnung kann in den teilnehmenden Schulen sein. Außerschulische Orte wie Tagungshäuser oder Klöster haben sich jedoch in verschiedener Hinsicht bewährt. So müssen die Zeitzeugen in ihrem hohen Alter keine anstrengenden Anfahrtswege auf sich nehmen. Und die Schüler*innen erfahren etwas in einem nicht direkt schulischen Kontext. Am Tag der Begegnung erzählt die Zeitzeugin – oftmals mithilfe einer Dolmetscherin – zunächst ihre Geschichte. Dies kann zwischen einer halben Stunde und bis zu zwei Stunden dauern. Nach einer Pause, in der das Gehörte sich setzen und anders Gehör verschaffen kann, ist Zeit für Fragen seitens der Schüler*innen. Krystyna Kozak hat die Begegnung mit Schüler*innen immer als »Gespräch« gesehen. »Das wird kein Vortrag sein […]«18, sagte sie. 1.3 Heutige und zukünftige Dimensionen von Zeitzeugenbegegnungen Die Geschichten der Zeitzeugen stellen zugleich die Frage, wie ihre Hoffnung, dass ihre Erfahrungen und Erlebnisse nicht vergessen werden, in Zukunft Gestalt annehmen kann, wenn sie selbst nicht mehr in der direkten persönlichen Begegnung erzählen können. Es gibt tausende schriftliche Zeugnisse, Bücher, einige sehr bekannte, viele wenig bekannte. Darunter ist auch das Buch von Krystyna Kozak »Ein ganz gewöhnliches polnisches Mädchen«, das auf Grundlage einer Audioaufnahme in enger Zusammenarbeit und mit ihrem Einverständnis herausgegeben wurde. Das ist eine Gestalt. Es gibt Videografien, unter anderem auch einige kurze von Krystyna Kozak. Steven Spielberg hat bereits in den 1990er Jahren, im Zuge seines Spielfilms »Schindler’s List« begonnen, Testimonials zu filmen, die seit einigen Jahren auch im 3-D-Format als sogenannte Hologramme abgerufen werden können.19 Über 50.000 Zeugnisse von Überlebenden hat die Shoah-Foundation in der Sammlung Holocaust online gestellt.20 Gedenkstätten von ehemaligen Konzentrationslagern stellen zum Teil eigens erstellte Videoaufnahmen Überlebender online.21 Auch diese Formen – Bücher und Videografien – sind auf ihre Art Begegnungen mit Zeitzeugen.

18 Kozak 2020, 13. 19 Das Projekt der USC Shoah Foundation dazu heißt »Dimensions in testimony«. Als erste deutschsprachige Zeitzeugin hat im Jahr 2020 die Shoah-Überlebende Anita Lasker-Wallfisch 1.000 Fragen zur Hologrammerstellung beantwortet. 20 Vgl. https://vhaonline.usc.edu/Search (letzter Zugriff am 01.12.2021; hier ist eine Registrierung erforderlich). 21 So z. B. über 100 Zeugnisse auf https://videoarchiv-ravensbrueck.de (letzter Zugriff am 01.12.2021; auch hier ist eine Registrierung notwendig).

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Seit 2014 greift der gemeinnützige Verein Zweitzeugen e. V.22 die Erzählungen der Erstzeugen auf, um sie mit deren Tod nicht zum Verstummen zu bringen. Auch hierbei spielen schriftliche Zeugnisse, Ton- und Videoaufnahmen eine Rolle. Das Leitmotiv dieses Projekts ist ein Zitat von Elie Wiesel, Shoah-Überlebender und Friedensnobelpreisträger: »Jeder, der einem Zeugen zuhört, wird selbst ein Zeuge werden.«23 Darin steckt auch eine Verantwortung, der sich die bei Zweitzeugen e. V. Beschäftigten bewusst sind. In dem Satz von Elie Wiesel ist jedoch auch eine Richtung vorgegeben, wie eine Zukunft ohne die direkten persönlichen Zeitzeugnisse aussehen kann. Jede Schülerin, jeder, der einem Zeitzeugen zuhörend, lesend, zusehend begegnet, wird selbst zum Zeugen. Die Erfahrung in den verschiedenen Zeitzeugenprojekten in Deutschland ist doch die, dass Schüler*innen davon weitererzählen, was sie in den Begegnungen erfahren haben – unter ihren Freund*innen, in ihren Familien, im Bekanntenkreis. Diese einfache Erkenntnis und Erfahrung verweist zugleich darauf, wie vielschichtig Zeitzeugenbegegnungen heute gesehen werden können. Einen Teil dieser Vielschichtigkeit habe ich anfänglich zu beschreiben versucht: das direkte Zeugnis, die Videografien, schriftliche Zeugnisse, Tonaufnahmen, Zweitzeugenbegegnungen, Weitererzählen.

2 Vom Sinn von Erinnerung und Erinnerungskultur Die all dem zugrunde liegende Frage ist jedoch die nach Bedeutung und Sinn von Erinnerung. Erinnerung ist ein Wagnis. Ein Blick in die Vergangenheit verlangt Mut. Die Zeitzeugen geben da ein wegweisendes Beispiel. Sie schauen in die Abgründe der erlittenen Erfahrungen, mit einer blutenden Wunde24, erleiden immer neu den Schmerz jener Zeit und haben doch auch den Eindruck, dass der Ballast auf der Seele ihnen in der Begegnung mit Schüler*innen ein wenig leichter wird. Das ist das eine. Da gibt es andererseits in einschlägigen Kreisen die Forderung nach einem »Schlussstrich«, es müsse einmal gut sein mit »Schuldkult« im Zusammenhang mit den »furchtbaren Jahren 33–45«. Mir scheint – nach 19 Jahren Erfahrung mit Zeitzeugenprojekten und Erinnerungskultur – ganz im Gegenteil eine ehrliche und wahrhaftige Erinnerung an die »schwarze Zeit« bis heute in Deutschland ein immer noch offenes Desiderat zu sein. Norbert Frei hat sich unter anderem mit 22 Vgl. dazu die Website https://zweitzeugen.de (letzter Zugriff am 01.12.2021). 23 Elie Wiesel, »Schuldig sind nur die Schuldigen«, in: Martin Doerry, »Nirgendwo und überall zu Haus«. Gespräche mit Überlebenden des Holocaust. Fotografien von Monika Zucht, München 2006, 204–211, hier: 211. 24 »Die Wunde blutet noch immer«, hat dies Krystyna Kozak formuliert. Vgl. Kozak 2010, 19.

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den »Bewältigungs«-Defiziten und der Verdrängung der NS-Vergangenheit in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten beschäftigt.25 »Die ganze Geschichte und die ganze Wahrheit zu erfahren«26, wie es Fritz Bauer in den 1960er Jahren sagte, ist und bleibt ein schmerzlicher, aber notwendiger Prozess. 2.1 Was Erinnerung sein kann Erinnerung ist ein Wagnis, weil sie ein schmerzlicher, mit Widerständen behafteter Prozess ist. Aus der Vielfalt der Zeugen, die für sie und diesen Prozess plädieren, wähle ich Omer Bartov. Er schreibt als Erfahrung seiner Arbeit vom »Leben und Sterben einer Stadt namens Buczacz«, dem Heimatort seiner Mutter: »Wir alle sind nur Glieder der zerbrechlichen und doch erstaunlich haltbaren Kette von Generationen, Schicksalen und Kämpfen, in der sich die historischen Ereignisse unablässig entfalten. Wer wir sind und woran wir uns erinnern, wie wir unsere Kinder erziehen, was wir sagen und woran wir glauben, was wir lieben und was wir verachten – all das verdankt sich dem Zusammenspiel willkürlicher Zufälle mit menschlichen Handlungen – unserem eigenen Handeln und dem unserer Vorfahren, aus guten oder schlechten Gründen, bewusst oder gedankenlos. […] Geschichte ist in gewissem Sinn immer auch Familiengeschichte. Wir alle tragen tief in uns ein Bruchstück der Erinnerung an die langen Jahrhunderte, in denen wir, im Guten wie im Schlechten, am Ende der Welt lebten, ek velt, wie meine Mutter auf Jiddisch sagte – die Erinnerung an den Ort unserer Herkunft, die von einer Generation an die nächste weitergegeben wird wie das abklingende Echo einer verlorenen, doch nie ganz vergessenen Kindheit.«27 H. G. Adler hat in »Theresienstadt 1941–1945. Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft« klar, nüchtern und eindringlich die Wahrheit dieses Ghettos belegt. Am Ende fasst er seine Hoffnung zusammen: »Alles, was die Menschheit je gelernt hat, verdankt sie ausschließlich der Geschichte.«28 Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bestimmen das Leben jedes Menschen und das Leben einer (Familien-, Dorf-, Stadt-, Land-)Gemeinschaft. Wenn erinnert wird, wenn wir in die 25 Vgl. Norbert Frei, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1996. 26 Vgl. Bauer 1961. 27 Omer Bartov, Anatomie eines Genozids. Vom Leben und Sterben einer Stadt namens Buczacz, Berlin 2021, 20 f. 28 Adler 2018, 682.

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Vergangenheit schauen, uns von Zeitzeugen erzählen lassen – in ihrer subjektiven Erfahrung29 –, geht es in erster Linie nicht ums Urteilen oder gar Verurteilen, sondern um das Hinschauen, das Sehen und das Verstehen. Dieses Sehen ist eine Annäherung an Wahrheiten, an schmerzende Wahrheiten. In die Vergangenheit schauen heißt, Wunden anzusehen und nicht zu verstecken. Ob sie heilen können, ist schwer zu beurteilen. Ebenso wie das Wort von Versöhnung in diesem Zusammenhang kein leichtfertig gesprochenes Wort sein kann. Für beides steht Krystyna Kozak ein. Sie sprach, wie schon erwähnt, in ihrer Versöhnungsbereitschaft auch von der immer noch blutenden Wunde. Vielleicht kann im Laufe eines Prozesses von Erinnerung so etwas wie Aussöhnung, ein Annehmen dessen, was war, stehen. Nicht nur angesichts von »Schuldkult« und »Schlussstrich« bedeutet In-die-Vergangenheit-Schauen eine Konfrontation mit Widerständen: mit Abwehr, Nicht-Hinsehen-Wollen, Ablehnung, Vorurteilen, Hass. Letztendlich bietet der Blick in die Vergangenheit die Chance, das Geheimnis des Menschseins zu verstehen. 2.2 »Opa war kein Nazi!« Die Ergebnisse der Forschungsgruppe »Tradierung von Geschichtsbewusstsein« stellten nicht nur 2002, im Jahr der Veröffentlichung30, die vielfältigen Bemühungen von Historiker*innen und Pädagog*innen im Bereich Erinnerungskultur scheinbar in Frage. Wie ist das einzuschätzen, dass die Enkelgeneration ihre Großeltern wohlwollender betrachtete als gemeinhin angenommen und in der Zeit des Nationalsozialismus zu den Guten zählten? Knapp 20 Jahre danach tauchen Untersuchungen auf, die attestieren, dass bei über 40 Prozent der Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Deutschland Wissen über Auschwitz und Shoah kaum bis gar nicht vorhanden ist.31 Stellen diese Ergebnisse auch die Bemühungen in Zeitzeugenprojekten und -begegnungen in Frage oder fordern sie eher zur Intensivierung einer breit aufgestellten Erinnerungskultur heraus?32 In der Untersuchung von 2002 wurde zu Recht auf die komplizierten Erinnerungs- und Weitergabe29 Primo Levi meint, die Erinnerung sei ein wunderbares, aber unzuverlässiges Instrument. Vgl. Primo Levi, Die Untergegangenen und die Geretteten, 5. Auflage, München 2021, 19. 30 Vgl. Harald Welzer, »Opa war kein Nazi«. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis, Frankfurt a. M. 2014. 31 Vgl. eine Studie der Körber-Stiftung 2017 zum Unwissen über »Auschwitz«, online verfügbar unter: https://www.koerber-stiftung.de/geschichtswettbewerb/news-detailseite/deutsche-wollen-aus-geschichte-lernen-1143 (letzter Zugriff am 01.12.2021). 32 Diese Fragen stellen sich auch im Zusammenhang mit »einer lebendigen Geschichtskultur«, von der Per Leo in seinem manche scheinbaren Selbstverständlichkeiten aufbrechenden Buch spricht. Vgl. Per Leo, Tränen ohne Trauer. Nach der Erinnerungskultur, Stuttgart 2021, 97.

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prozesse in Familien rekurriert sowie auf die Ambivalenz der Pole Familiengeschichte und große Geschichte. Heute lässt sich auch sehen, dass in immer weniger Bundesländern in der Mittelstufe Geschichte als eigenständiges Fach existiert.33 Die Einschätzungen »Opa war kein Nazi!« oder auch »Opa war Nazi!«34 führten das Projekt »Zeitzeugen« im Bistum Limburg im Frühjahr 2021 dazu, eine nichtrepräsentative Umfrage zum Erinnern durchzuführen. 37 Schüler*innen, davon ein Sechstel von einer Beruflichen Schule, nahmen teil, alle mindestens in der 9. Jahrgangsstufe. Was die Körber-Stiftung 2017 schon attestierte, wird auch hier deutlich: Lernen aus der Vergangenheit für Gegenwart und Zukunft ist über 90 Prozent der Schüler*innen wichtig bis sehr wichtig. Ebenso stimmten über 90 Prozent der Aussage zu: »Erinnern und Erinnerung sind wichtig für unsere Demokratie in Deutschland.« Das Interesse an dem Zeitabschnitt 1933–1945 in Deutschland wird vor allem durch Dokumentarfilme, Schule und Familie geweckt und unterstützt. In 70 Prozent der Familien wird offen über das gesprochen, was in den Jahren 1933–1945 in Deutschland geschah. Die dann speziell auf die »Opa war kein Nazi!«-Aussage zugeschnittene Einschätzungsumfrage hebt jedoch die Schwierigkeit hervor, die Pole Familiengeschichte und große Geschichte in eine Beziehung zu setzen und ein objektives Bild der (Ur-)Großeltern in dieser Zeit zu entwickeln.

Abb. 1: Auswertungsdiagramm zu Frage 11 der nicht-repräsentativen Umfrage via LamaPoll »Erinnerung an 1933–1945« des Projekts »Zeitzeugen« im Bistum Limburg35 33 Vgl. die Studie der Körber-Stiftung 2017. 34 Aleida Assmann meinte auf einer Tagung zu »Erinnerungskultur« in Frankfurt am Main am 20.10.2020 hier aktuell eine Trendwende zu sehen, dass junge Deutsche heute kritischer als noch 2002 auf ihre Familiengeschichte schauten. Dazu erschien im März 2022 eine Broschüre, die von der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit Frankfurt herausgegeben wird. 35 Vgl. https://zeitzeugen.bistumlimburg.de/beitrag/erinnerung-an-1933-1945/ (letzter Zugriff am 01.12.2021).

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Macht es angesichts solcher Ergebnisse und der erwähnten Forschungsergebnisse Sinn, in Zeitzeugenbegegnungen – soweit dies noch möglich ist – auch Zeugen der Täterseite zu Wort kommen zu lassen, um dem entgegenzuwirken? Wer sich lokaler Geschichte der »schwarzen Zeit« annähert, wird dabei nur wenige Menschen mit Rückgrat, Zivilcourage und Mut entdecken. Yad Vashem zählt 638 Deutsche unter die »Gerechten der Völker« – angesichts von knapp 80 Millionen Deutschen im Jahr 1939 sind das 0,008 Promille. Es ist schwer, in Diktaturen und unmenschlichen Systemen Mut und Menschlichkeit zu zeigen. Und es sind wohl bei weitem mehr als 0,008 Promille in Deutschland gewesen (wenn man die verschiedenen Formen des Widerstands in Nazideutschland anschaut). Doch hier wird auch ein entscheidender Faktor von Erinnerungskultur deutlich: Wie kann diese ins Herz dringen, sodass sich daraus eine Haltung mit Konsequenzen entwickelt, die über emotionale Betroffenheit angesichts leidvoller Schicksale hinausgeht – im Sinne einer Erkenntnis, was Menschsein in der Tat bedeutet?36

3 Das Projekt »Zeitzeugen« im Bistum Limburg Auch diese Fragen beschäftigen das schon erwähnte und im Januar 2021 gegründete Projekt »Zeitzeugen« im Bistum Limburg. Ihm geht es vornehmlich um die Ermöglichung von Begegnungen mit Zeitzeugen der »furchtbaren Jahre 33–45« aus Polen, Tschechien oder Belgien. In der Vorbereitung dazu werden auf einer eigenen Website37 auch verschiedene (didaktische) Materialien angeboten. Dass es bei den Zeitzeugen vor allem um Menschen geht, die Zeugnis ablegen von der »dunklen Zeit«, liegt diesbezüglich auch in einer besonderen Verantwortung der katholischen Kirche. Vielfach hat diese damals versagt und geschwiegen. Erinnerung gehört demgegenüber konstitutiv zum Wesen der katholischen Kirche. Eine Kirche ohne ein verantwortungs- und zukunftsorientiertes Erinnern ist keine Kirche.

36 Die 1998 gegründete Task Force for International Cooperation on Holocaust Education, Remembrance and Research schreibt in ihrer Präambel von der Notwendigkeit, »to teach our children that moral choice exist« (zitiert bei: Christiane Bertram, Lebendige Erinnerung oder Erinnerungskonserven und ihre Wirksamkeit im Hinblick auf historisches Lernen, in: BIOS. Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen 1/2 [2015] 178–199, hier: 182). 37 Vgl. https://zeitzeugen.bistumlimburg.de (letzter Zugriff am 01.12.2021).

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Das hängt unmittelbar mit dem Wert der Erinnerung in der Bibel zusammen. Erinnern ist ein biblisches Gebot.38 Das hängt aber auch an der Bedeutung von Tradition für das kirchliche Selbstverständnis. Die Anamnese, das Gedenken und Erinnern (»Tut dies zu meinem Gedächtnis!«), ist »konstitutives Moment in Selbstvollzug und Selbstverständnis des Christentums als geschichtlich begründeter Offenbarungsreligion«39. Eine Erinnerungskultur im kirchlichen Raum zu fördern und zu unterstützen ist auch mit dem Talmud-Wort »Vergessen verlängert das Exil, in der Erinnerung liegt das Geheimnis der Erlösung« zu begründen.

4 Weitere Träger von Zeitzeugenbegegnungen Das Projekt »Zeitzeugen« ist Teil der AG Zeitzeugenbegegnungen und Erinnerungsarbeit Limburg-Mainz. Die AG wurde 2019 gegründet und dient dem »Austausch und der Zusammenarbeit zur Erinnerungs- und Zeitzeugenarbeit in den Bistümern Limburg und Mainz«.40 Versucht wird auch, gemeinsam Formen des Erinnerns zu finden, die zuverlässig in die Zukunft wirken. Als Kooperationspartner sind hier das Maximilian-Kolbe-Werk in Freiburg  i. Br. und Pax Christi Rhein-Main zu nennen. Beide haben ihre Wurzeln in der Geschichte der deutsch-polnischen Aussöhnung, welche – wie schon erwähnt – in den 1960er Jahren begann. Sie verweisen auch darauf, dass es in Deutschland sehr viele Initiativen im Bereich von Zeitzeugenbegegnungen gibt.41 Diese haben animiert durch die Zeiten des Lockdowns während der Covid-19-Pandemie auch die Möglichkeiten von Online-Begegnungen entdeckt.

38 Vgl. dazu auch Andreas Nachama, Erinnern  – ein biblisches Gebot, in: Deutscher Koordinierungsrat der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit e. V. (Hrsg.), … zu eurem Gedächtnis: Visual History. Das DRK-Jahresthema 2021 in Gesellschaft, Schule und Gemeinde, Bad Nauheim 2021, 6–9. 39 Arno Schilson, Anamnese. IV. Theologisch, in: Walter Kasper (Hrsg.), Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 1, durchgesehene Ausgabe, Freiburg i. Br. 2006, 591 f., hier: 591. 40 Profil der AG, online verfügbar unter: https://zeitzeugen.bistumlimburg.de/fileadmin/redaktion/Bereiche/Zeitzeugen/PDF/AG_Zeitzeugenbegegnungen_und_Erinnerungsarbeit_Limburg-Mainz_Vorstellung_final.pdf (letzter Zugriff am 01.12.2021). 41 Exemplarisch für Deutschland die Zeitzeugenbörse Berlin oder auch der schon genannte Zweitzeugen e. V. oder online z. B. https://www.zeitzeugen-portal.de/ (letzter Zugriff am 01.12.2021).

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5 Schlussbetrachtung Natürlich ist der Begriff des Zeitzeugen nicht auf die »schwarze Zeit« oder die »furchtbaren Jahre 33–45« beschränkt. Nach dem Fall der Mauer begannen zum Beispiel ehemalige Häftlinge des Stasi-Gefängnisses von Berlin-Hohenschönhausen in der gleichnamigen Gedenkstätte ihre schlimmen Erfahrungen mit Schüler*innen zu teilen. Sie tun dies auch beim Besuch von Schulen. Auch Zeugen der Apartheid in Südafrika, der Genozide in Ruanda oder Srebrenica treten in deutschen Schulen auf, ebenso Zeugen bestimmter historischer Zeitabschnitte wie den 1968er Jahren. Ebenso ist klar, dass es in diesem Beitrag nicht um einen erschöpfenden Überblick zu Zeitzeugenbegegnungen und deren Rolle im Erziehungsauftrag von Schulen gehen konnte. Die Thematik von Holocaust-Education und weiterer Studien zur Wirksamkeit von lebendigen Zeugen im Vergleich zu ZeitzeugenKonserven hatte hier ebenso keinen Platz wie auch die Abwägung – vor allem im Geschichtsunterricht – zwischen Emotionalität und objektiver Geschichtsvermittlung oder oral und visual history. Durs Grünbein meinte in einem Blick auf die historischen Daten des 27. Januar 1945 (Befreiung von Auschwitz) und des 13. Februar 1945 (Bombardierung Dresdens): »Wenn der letzte Augenzeuge mörderischer Ereignisse verstummt ist, betreten die Nachlebenden die Zone des Zwielichts, der moralischen Indifferenz. Dann schlägt die Stunde des Revisionismus.«42 Ich sehe die Nachlebenden ein anderes Land voller Erinnerung, Hoffnung und Zukunft betreten, weil sie Augenzeugen begegnet sind und in ihnen sahen, was Menschen in jeder Hinsicht möglich ist.

42 Durs Grünbein, Deutsche Erinnerung: Für Shlomo Venezia, in: Süddeutsche Zeitung Digital vom 12.02.2021. In der Begegnung mit Zeitzeugen Mensch werden

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Ein Wagnis des Menschen – Religiös werden Hermann-Josef Wagener

In vielen seiner Schriften ist sich Klaus Kießling bewusst, dass der Mensch sich entwickelt und dabei vielfältige menschliche Dispositionen entfaltet, wozu auch die Religiosität zählt. Ihm liegt es am Herzen, sich mit dem religiösen Werden des Menschen zu befassen. Er selbst ist unter anderem Mitherausgeber der Studienreihe Kinder erleben Theologie (KET). In vielen wissenschaftlichen Forschungen und Diskussionen zum Thema Religiosität und deren Werden wirkte und wirkt er mit. Ihm ist die Entwicklung von Religiosität und Spiritualität, das religiöse Erleben, Handeln und Denken des Menschen unter religionspädagogischen und pastoralpsychologischen Perspektiven ein Hauptanliegen. Aus diesem Grunde widmet sich dieser Artikel den fundamentalen Fragen für die Theologie und deren Praxis. Denn was wäre eine Theologie ohne lebensrelevanten und anthropologischen Bezug?

1 Einleitung Unter Religiostät verstehe ich ein Gotteskonzept, das eine kognitive Qualität – das Gottesverständnis – und eine emotionale beziehungsweise motivationale Qualität – die Gottesbeziehung – beinhaltet. Die Religiosität stellt heute nicht so sehr eine Lehre von Gott oder eine Welterklärung aus göttlicher Perspektive dar, sondern vielmehr – wie Ludger Verst es formuliert – einen Versuch, sich als Mensch zu verstehen und vor dem Transzendenten oder dem Absoluten sich selbst zu bestimmen.1

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Vgl. Ludger Verst, Protest gegen Gott. Zum entwicklungspsychologischen Programm des Hiobbuches, in: RU heute 48 (2020), Heft 2, 56–58.

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2 Religiöse Entwicklung Kleinkinder und Kinder gestalten anfangs ihr Gotteskonzept aus der Intuition heraus, ohne es verbalisieren zu können. Anna Katharina Szagun hat in entwicklungspsychologischer Forschung zeigen können, dass die Produktion von Gottesbildern und Gottesmetaphern offensichtlich nicht an die kognitive Reife gebunden ist, »wohl aber die (oft erst Jahre später mögliche) Verbalisierung des Sinngehaltes«2. Dabei verläuft die Entwicklung durch Assimilation und Akkommodation.3 Religiöse Begriffe und Erlebnisse werden ins bestehende Gotteskonzept aufgenommen und entsprechend angepasst (assimiliert), oder es erfolgt eine Akkommodation: Das bestehende Gotteskonzept wird so erweitert, dass die neue Erfahrung in die Struktur des Gotteskonzeptes »passt«. Gotteskonzepte von (Klein-)Kindern beginnen meistens mit fragmentierten Begriffen, die ergänzt, korrigiert und zu einem immer differenzierteren Muster vernetzt werden. Zudem kann nur diejenige Person eine religiöse Erfahrung machen, die einen religiösen Deutungsrahmen (mindestens latent) zur Verfügung hat.4 Meine Forschung hat dagegen eher das religiöse und spirituelle Erleben von Jugendlichen und Erwachsenen, bei denen ich affektlogische Denkmuster – sogenannte religiöse Formenkreise – aufdeckte, zum Gegenstand. Unter einem Formenkreis verstehe ich einen Zusammenschluss von mehreren homogenen religiösen Mustern, die Formenkreise unter sich sind dagegen heterogen. Der Formenkreis (1) zeichnet sich durch Heteronomie und Reziprozität im Gottesbezug aus. Ein weiterer Formenkreis (2) gestaltet sich durch Autonomie und (gesunden) Narzissmus des Glaubenden und enthält zwei unterschiedliche Niveaus: die Fragmentierung beziehungsweise die Bruchstückhaftigkeit von Glaubensinhalten und die Metakognition. Der dritte Formenkreis (3) vollzieht sich in einem symmetrischen Gottesbezug (Homonomie) und in der apriorischen Vorstellung, dass Gott die Welt und den Menschen unbedingt angenommen hat und liebend umfängt. (1) Ist die Religiosität mehr traditionell, also mehr kirchlich sozialisiert als existenziell geprägt, bilden die Jugendlichen oft einen heteronomen Glauben aus, von dem sie sich im Laufe ihrer Biografie entfernen. (2) Danach formen sie ihre eigene Spiritualität, indem sie ihre Beziehung zu einem Absoluten fragmentiert oder selbstreflexiv gestalten: Sie ziehen sich dabei narzisstisch vom tradi2 Anna-Katharina Szagun, Glaubenswege begleiten. Neue Praxis religiösen Lernens, Hannover 2013, 98. 3 Vgl. Jean Piaget, Der Aufbau der Wirklichkeit beim Kinde, Stuttgart 1974, 338–341; ders., Die Äquilibration der kognitiven Strukturen, Stuttgart 1976, 11–47. 4 Vgl. Szagun 2013, 25.

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tionell-religiösen Objekt, von bestimmten Glaubensvorstellungen und -inhalten zurück und wenden sich intensiver ihrem eigenen Selbst und ihrem eigenen Glaubenskonzept zu. Dabei steuern sie ihre Gottesbeziehung sichtlich selbstständig, nach eigenem Willen, den sie mit dem »Willen Gottes« koordinieren.5 Glaubensinhalte, die die Selbstentfaltung nicht bestätigen und fördern, werden aus dem Gottesbezug ausgeschieden oder separiert. So entsteht ein fragmentarisierter Glaube der Indifferenz (Niveau I) und des Zweifels bis hin zu kompletter Ablehnung oder eine bewusste Abgrenzung zum bisher erlernten Glauben im Sinne einer emanzipatorischen Neugestaltung (Niveau II). Oft entspricht Gott dann den eigenen Bedürfnissen. Entfalten Menschen außerhalb kirchlicher Sozialisation ihre Spiritualität, dann bauen sie ihr Gotteskonzept mit Bruchstücken, die sie ihrer Umwelt entnehmen, zusammen (Niveau I). Eventuelle Widersprüche werden toleriert und als nicht problematisch wahrgenommen. Im weiteren Verlauf der Entwicklung (Niveau II) erlangen sie auch hier eine Selbstreflexivität in ihrem Glauben, der unterschiedlich ausgeprägt sein kann: Sie nehmen eine Transzendenzgestalt an oder verwerfen sie oder benutzen Gott als selbstbestätigendes Gegenüber für eigene Größe und Selbstsicherheit. (3) Andere Personen fühlen sich in einer göttlichen Wirklichkeit geborgen und erfahren sie als den Grund ihrer Lebensbedingungen und in der Solidarität und Gemeinschaft. Hier und in der Spiritualität taucht Gott oft in der eigenen Biografie auf, von der die Religiosität nun abhängt. Damit verändert sich die Bedeutung von Religion. Nicht die Religion prägt die Biografie, sondern die Biografie gestaltet die Religiosität.

5 Vgl. dazu und zum Folgenden: Jakob Mertesacker & Hermann-Josef Wagener, Struktur der Beziehung zu Gott oder dem Göttlichen, in: Transformationen. Pastoralpsychologische Werkstattberichte 33 (2021) 54–100.

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Tab. 1: Modell der religiösen Formenkreise

Glaubensgestalt

Hauptmerkmale

Akzentuierung

Intuitiver Glaube

Die Intuition bringt Gottesbilder unabhängig von der kognitiven Reife hervor.

(Klein-)Kinder können intuitiv in Form von Handlungen die für ihr Gotteskonzept wichtigen Elemente sortieren, ehe sie Korrelationen bewusst wahrnehmen und sie benennen können. Sie nehmen handelnd etwas vorweg, was erst viel später dem Bewusstsein zugänglich und verbalisierbar ist.

Heteronom-­ reziproker Formenkreis

Heteronomie und Reziprozität prägen das Gotteskonzept.

Traditionskomponente

Autonom-­ narzisstischer Formenkreis

Autonomie und Narzissmus gestalten die Gottesbeziehung und das -verständnis.

Existenzielle Komponente

Homonom-­ apriorischer Formenkreis

Symmetrische Beziehung zwischen Gott und Mensch (Homonomie) und die apriorische Vorstellung sind die wesentlichen Strukturprinzipien, die das Gotteskonzept ausbilden.

Erfahrungskomponente

Religiöse Sozialisation

Religiöse Entwicklung

Jeder religiöse Entwicklungs- und Lernprozess enthält drei Komponenten als Dimensionen, die aufeinander bezogen sind, aber in den jeweiligen Formenkreisen unterschiedlich stark akzentuiert werden: Die Traditionskomponente, die mit überlieferten Deutungen, Symbolen und Bekenntnissen zu tun hat, spielt im heteronom-reziproken Formenkreis (1) eine dominante Rolle, während der autonom-narzisstische Formenkreis (2) wesentlich durch die existenzielle Komponente geprägt wird.6 Hierbei geht es um Konsequenzen für die Gestaltung des eigenen Lebens. Aus der existenziellen Komponente erwächst religiöse Lebenspraxis, in der ich mein Leben gemäß den erworbenen religiösen Deutungsmustern gestalte. Die Traditionskomponente enthält Traditionsbegegnungen, um sich mit bestimmten Deutungsmustern vertraut zu machen. Im homonom6 Vgl. dazu und zum Folgenden: Szagun 2013, 24 f.; Rudolf Englert, »Schwer zu sagen …«: Was ist ein religiöser Lernprozeß?, in: Der evangelische Erzieher 49 (1997) 135–150, besonders: 137.

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apriorischen Formenkreis (3) scheint die Erfahrungskomponente, die etwas mit spezifischer Sensibilität und bewusstem Erleben zu tun hat, vorherrschend zu sein. Die Erfahrungskomponente beinhaltet religiöse Erfahrungen, die Begegnungen in der Realität von etwas, das die Realität umgreift und transzendiert, ausdrücken. Diese religiöse Entwicklung ist eingebettet in die religiöse Sozialisation, mit der sich Michael Fiedler, ein Mitarbeiter bei der Rostocker Langzeitstudie von Szagun, beschäftigt.

3 Religiöse Sozialisation Fiedler entwarf unabhängig von meiner Theorie der religiösen Entwicklung ein religiöses Sozialisationsmodell, das er soziologisches Grundmodell von Struktur und Freiheit nennt und das sich mit meiner Theorie religiöser Entwicklung als kompatibel erweist.7 Fiedler geht davon aus, dass sich die Religiosität eines Menschen aus seinem sozialen Umfeld speist und dessen Einfluss unterschiedlich stark sein kann. Besteht in der religiösen Sozialisation ein schwacher Einfluss von außen, dann spricht Fiedler von einer Unterstrukturierung in der Sozialisation. Dominiert ein starker Einfluss, dann liegt nach ihm eine Überstrukturierung vor. Unteroder Überstrukturierung ergeben sich, wenn der religiöse Mensch zwischen vorgegebener Struktur (Fremdbestimmung) und Freiheit (Selbstbestimmung) pendelt. Eine ideale Sozialisation liegt vor, wenn sich beide, Struktur und Freiheit, im Gleichgewicht befinden. Unter Struktur versteht Fiedler die heteronomen Elemente wie jegliche existenzialen, individuellen und sozialen Vorgegebenheiten und Grenzen, die die konkrete Lebensweise der Person bestimmen und ihre Biografie prägen. Wird der Pol Struktur überbesetzt, dann besteht nach Fiedler die Gefahr einer Überstrukturierung. Der Pol Freiheit besagt in seinem Grundmodell die Selbstbestimmung und umfasst autonome Elemente wie individuelle Möglichkeiten und Kompetenzen, selbstreflexive Entscheidungen und religiöses Lernen, das durch eigenes Erleben und Handeln sowie durch eigene Einsicht immer wieder die kirchlichen und dogmatischen Vorgaben aufbricht und die ihm gesetzten Grenzen auf die je eigene Lebenssituation abändert. Wird der Pol Freiheit übermächtig, so entsteht die Tendenz zur Unterstrukturierung. 7 Vgl. dazu und zum Folgenden: Michael Fiedler, Strukturen und Freiräume religiöser Sozialisation. Religiöse Sozialisation und Entwicklung von Gotteskonzepten bei Kindern aus Familien im konfessionslosen Kontext Ostdeutschlands (Kinder Erleben Theologie; Bd. 4), Jena 2010a, 165–199.826–828.

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Eine Überstrukturierung bildet sich, wenn die eigene Kreativität und die eigenen Freiräume eingeengt oder unterbunden werden, sodass sich die Person von verunsichernden Ideen und Menschen abkapselt und sich auf Gleichgesinnte und Autoritäten fixiert. Ferner kann es zur Überstrukturierung kommen, wenn Kinder nur gegen ihren Willen und unter Zwang unterwiesen oder mit bestimmten Erwartungen überlastet werden. Sie kann sich dort einstellen, wo keine alternativen Denk- und Handlungsweisen ins Spiel kommen, wo erlernte Religiosität abgeschottet wird und es zur unreflektierten Übernahme von Glaubensaussagen und religiös anmutenden Verhaltensweisen kommt, die als nicht lebensrelevant und lebensbehindernd empfunden werden. Zur Unterstrukturierung kommt es nach Fiedler, wenn der Pol Freiheit – wie bereits gesagt – überbesetzt wird, wenn kaum religiöse Vorgaben oder Grundinformationen vorhanden sind, oder wenn aus den wenigen Vorgaben keine eigenen Anschauungen hervorgehen, wenn religiöse Regungen keine Worte finden, wenn sich Freiheit – bildlich gesprochen – in ein Ödland oder eine Leere verwandelt. Religiöse Indifferenz, Orientierungslosigkeit, grenzenlos individualistische Einstellung, fehlende Standortbestimmung und Positionierungen sind die Folgen. Fallen alternative Vorgaben (Wissen, Erfahrungsräume, Gesprächsmöglichkeiten und Vorbilder) weg und bestehen kaum eigene Entscheidungskompetenzen, die alternative Strukturen zur Sprache bringen, kann sich die Gefahr der Unterstrukturierung realisieren. Sie kann sich nur vollziehen, wenn alternative Inhalte, Vorgaben und Strukturierungen verringert, minimiert oder sogar radikal abgelehnt werden. Dies treffe ich häufig dort an, wo traditionelle Elemente ohne Ersatz wegfallen. Hier zeigt sich meines Erachtens oft, dass viele ältere Gläubige überhaupt nicht in der Lage sind, alternative religiöse Verhaltensweisen und Liturgieformen anzunehmen und zu entwickeln, weil sie nichts anderes kennengelernt haben und keinen entsprechenden Input vermittelt bekamen. Andere Gläubige möchten die Unterstrukturierung durch eine Überstrukturierung ersetzen, indem sie sich nach alten traditionellen Formen sehnen und sich darauf fokussieren und keine alternative lebensbezogene Praxis entwickeln. Meiner Einschätzung nach wird deutlich, dass alternative Vorgaben und Förderung der Eigenkompetenzen zeitgleich vermittelt werden müssen, wenn traditionelle Praxis abgelehnt wird. Nur so wird eine Unterstrukturierung vermieden und eine ausgewogene Balance zwischen Struktur und Freiheit ermöglicht. Umgekehrt betrachtet, bewirkt ein bestimmtes Konzept, das kritik- und alternativlos bleibt, eine Überstrukturierung, weil sich auf der Seite der Freiheit weder ein anderes Wissen, noch Erfahrungen und Gesprächspartner bieten, und somit die Freiheit unterstrukturiert ist. Ein Wagnis des Menschen – Religiös werden

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Doch wie hängen Unter- und Überstrukturierung mit den religiösen Formenkreisen zusammen? Der heteronom-reziproke Formenkreis passt sich in die Struktur ein, wenn sie als Fremdsozialisation ein Übergewicht gegenüber dem Pol Freiheit einnimmt. Nach Fiedler entspricht der heteronome Typus am ehesten dem Sozialisationsmuster, das seinen Schwerpunkt auf der strukturbetonten Seite des Modells findet (mit dem Extremfall der Überstrukturierung).8 Der autonom-narzisstische Formenkreis bildet sich aus meiner Sicht, wenn in seinem Grundmodell ein Übergewicht der Freiheit gegenüber der Struktur besteht. Der Extremfall tritt Fiedler zufolge ein, wenn der Pol Freiheit dominiert. Der autonome Typus, um in der Sprache von Fiedler zu bleiben, entspricht dann Sozialisationsmustern, die ihren Akzent auf der Seite des Modells finden, die die Autonomie betont. Der homonom-apriorische Formenkreis besteht in der Terminologie Fiedlers in dem ausgewogenen Gleichgewicht von Struktur und Freiheit, wobei beide Pole als gleichgewichtig angesehen werden. Die Homonomie, so könnte mit Fiedler formuliert werden, bildet gleichsam den Idealtypus religiöser Sozialisation. Fiedler geht es um die Frage nach dem Verhältnis dieser Momente von heteronomer Strukturierung und autonomer Gestaltungsfreiheit, in der sich die jeweilige Individualität des Einzelnen gegenüber der Gesellschaft entfalten kann. So geht es ihm also um eine subjektorientierte Sozialisationstheorie, in die sich die religiösen Formenkreise gut einordnen lassen.

4 Konsequenzen für die religionspädagogische und pastoralpsychologische Praxis Da meine Theorie der religiösen Entwicklung aus der Praxis erwuchs und für die Praxis bestimmt ist, möchte ich religionspädagogische und pastoralpsychologische Konsequenzen aufzeigen. Die Theorie der religiösen Entwicklung kann als Reflexionskriterium für das religionspädagogische und pastoralpsychologische Handeln dienen. Methodisch bieten sich die Formenkreise als ein diagnostisches Instrumentarium an, um die Religiosität beziehungsweise Spiritualität von Personen zu erfassen und im religionspädagogischen oder pastoralpsychologischen Gespräch adäquat zu intervenieren und zu begleiten. Beispielsweise kann eine Vermischung bestimmter religiöser Muster zu einer Einschränkung oder sogar Verleugnung des religiösen Selbststandes oder der Autonomie des Menschen 8 Vgl. dazu und zum Folgenden: Fiedler 2010a, 827 f.; Michael Fiedler, Kinder neben den Stufen, in: Wege zum Menschen 62 (2010b) 261–273.

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führen. 92 Christ*innen aus drei Freien evangelischen Gemeinden (FeG) beispielsweise zeigen in einer von mir durchgeführten empirischen Studie, dass sie ihren religiösen Selbststand (ihre Autonomie) in ihrem Gottesbezug marginalisieren.9 Sie fühlen sich einerseits von einem überlegenen Gott, dem sie gehorchen müssen, sehr abhängig. Andererseits erleben sie sich von ihm in dem, was sie wollen, unterstützt und bestätigt.10 Hier sind der göttliche und menschliche Wille untrennbar miteinander verbunden: Der Wille Gottes hängt vom Willen des Menschen ab, und der menschliche Wille von Gottes Willen, wobei die religiöse Autonomie (Item: »Gott ist autonom, und auch ich bin von ihm unabhängig.«) abgelehnt wird. 90,2 % der 92 Befragten stimmen dieser autonomen Vorstellung einer Gottesbeziehung nicht zu. Dies verwundert nicht, da die Heteronomie anwächst, wenn der narzisstische Aspekt von Unterstützung und Bestätigung steigt. Umgekehrt gilt: Wenn der narzisstische Aspekt betont wird, wächst auch die Heteronomie, sodass die Autonomie und Selbstbestimmung gegenüber Gott nicht mehr mitgedacht werden. In dieser Konstellation der Gottesbeziehung finden die Befragten Gott als überlegene Macht gut. Offensichtlich dient Gott ihnen zu ihrer eigenen narzisstischen Bestätigung und dazu, eine asymmetrische Beziehung zu pflegen. Doch genau darin zeigt sich die Abhängigkeit des Menschen von Gott und die marginale Bedeutung des religiösen Selbststandes. Vielleicht entspricht Gott der eigenen Bedürfnisstruktur der Befragten, die ihren eigenen Willen darin sehen, in der Abhängigkeit von Gott zu bleiben und ihren eigenen religiösen Selbststand auszuschließen. In der Konsequenz finden wir hier religiös unfreie Menschen vor, die sich nicht selbst steuern, sondern stets geführt werden wollen. Ein weiteres Anwendungsbeispiel findet sich im Sachverhalt des komplexen Lernprozesses. Oberflächlich betrachtet lässt sich über religiöses Lernen leicht reden, doch bei genauerem Hinsehen sind die Lernvorgänge komplex. Religionslehrkräfte wissen aus Erfahrung, dass manches Religiöse, das Menschen erlernen, ins Innere eingeht, uns prägt, während anderes bloß äußerlich bleibt. Manches Lernen durch religiöse Erfahrung ist unwiderruflich in uns eingedrungen. Anderes dagegen dringt nicht ein, wird vergessen und motiviert uns nicht. In vielen Fällen reicht es aus, neue Informationen in der einmal gelernten Weise religiös zu interpretieren. Dann sind die Informationen neu, aber die 9 Vgl. Hermann-Josef Wagener, Die Funktionsweise der religiösen Konstrukte und die Formenkreise, in: Transformationen. Pastoralpsychologische Werkstattberichte 28 (2018) 71–111. 10 Vgl. dazu und zum Folgenden: Wagener 2018, 92–95. Das Item der Heteronomie lautet: »Gott ist für mich eine überlegene Macht, der ich gehorchen muss.« Das Item des narzisstischen Aspektes heißt: »Gott, der mich unterstützt und bestätigt, in dem, was ich will: Ich finde Gott gut, weil er mich gut findet.« Beide Items hängen stark zusammen. Sie korrelieren zu r = 0.749.

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religiösen Argumentationsmuster bleiben die gleichen. Wir assimilieren im Sinne Piagets. Oft ist es aber notwendig, das ganze Muster der religiösen Argumentation zu ändern, also im Sinne Piagets zu akkommodieren, weil es nicht mehr realitätsgerecht ist und an der Wirklichkeit vorbeizielt. In der Religiosität finde ich solche auffälligen Beispiele nicht selten: Da denkt ein Erwachsener, dass Gott den Tsunami und den Klimawandel verursacht (macht), weil er die ums Leben gekommenen Menschen für ihr unzüchtiges Leben bestrafen will. Da meint eine Jugendliche, dass sie Gott »bearbeiten« kann und deshalb nicht an ihrem Problem selbst arbeiten muss. Alle Verantwortung trägt Gott allein. Damit solche Beispiele durch Lernen verändert werden, müssen die Schüler*innen Erfahrungen machen, weil sich dadurch die religiösen Muster verändern können. Doch Lernende und auch Lehrende wissen um die Schwierigkeit, neue Erfahrungen zu verarbeiten und in das Selbstbild zu integrieren. Menschen neigen eher dazu, ihre alten Argumentationsmuster durch neue Informationen zu bestätigen und nach Möglichkeit kognitive Dissonanzen zu vermeiden, also Widersprüche konsonant zu machen. Das heißt, sie verstehen neue Informationen so, dass sie in ihr altes Muster hineinpassen: Eine Veränderung des Musters wird vermieden. Eine neue Erfahrung zu machen, kann eine Person seelisch destabilisieren, ängstigen und verunsichern. Dieses seelische Befinden kann unter Umständen mit der sozialen Funktion religiöser Formenkreise zusammenhängen, denn deren Muster funktionieren auch unter sozialen Bedingungen und können beispielsweise stagnieren, wenn die soziale Verbundenheit aufrechterhalten werden soll oder wenn bei deren Veränderungen eine soziale Entfremdung droht. Muster können sich verändern, wenn sie uns von liebgewonnenen Menschen und religiösen Gemeinschaften zu trennen oder abzusondern vermögen. Ähnlich sieht es auch Hermann Giesecke, emeritierter Professor für Pädagogik und Sozialpädagogik, wenn er die soziale Funktion der »Lern-Muster« thematisiert: »Ob wir mit anderen Menschen gemeinsame Interpretationen einer Sache oder Situation haben, sagt im allgemeinen auch etwas aus über das Maß unserer sozialen Verbundenheit mit ihnen; ändern wir unsere Deutungen, droht die Gefahr, daß wir uns unseren Mitmenschen entfremden. […] Andererseits sind Menschen dann in besonderem Maße zu neuen Interpretationen bereit, wenn sie sozial desintegriert werden, zum Beispiel von sozialem Abstieg bedroht sind oder wenn sie etwa vor einer neuen Situation stehen, in der ihnen die alten Deutungen nicht mehr helfen […].«11 11 Hermann Giesecke, Einführung in die Pädagogik, 7. Auflage, Weinheim 2004, 58.

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Wenn Menschen neue religiöse Erfahrungen machen, dann geht es wenigstens partiell um neue religiöse Selbstdefinitionen. Das Verständnis der eigenen Religiosität, die Argumentationsweise oder die religiöse Vorstellung, die der Mensch vorher von sich selbst hatte, ändert sich ganz oder teilweise. Es verändert sich auch die religiöse Fremddefinition, die Sichtweise über die Religiosität anderer Menschen, ihres religiösen Verhaltens und ihrer religiösen Motive. Schließlich verändert sich auch die Interpretation von bestimmten religiösen Sachverhalten. Dabei zeigt gerade die soziale Funktion der Muster, »daß unsere Lernreichweite, unsere Fähigkeit, Erfahrungen zu machen, begrenzt sein muß, wenn das Neue mit unserem bisherigen Verständnis integriert bleiben, also unsere Identität nicht zerstören, sondern auf einer neuen Ebene stärken soll. Wir benötigen offenbar, um unsere Identität durchhalten zu können, eine Lebensgeschichte, die – trotz ihrer Fehler und Schwierigkeiten – sinnvoll bleibt, so daß nicht ganze Teile einfach gestrichen oder verdrängt werden müssen. Insofern sind allzu radikalen pädagogischen Bemühungen, unsere Einstellungen und Verhaltensweisen umzukrempeln, notwendigerweise Grenzen gesetzt.«12 Je nachdem, wie die soziale Funktion geprägt ist, kann es zu einer Marginalisierung oder zu einer starken Aktivierung und Ausprägung der Formenkreise kommen. In diesem Zusammenhang sei noch einmal darauf hingewiesen, dass der autonome Formenkreis in Fiedlers Terminologie, also soziologisch gesehen, unterstrukturiert ist und dementsprechend strukturelle und inhaltliche Elemente benötigt.13 Hier sind kaum religiöse Vorgaben oder Grundinformationen vorhanden, andererseits gehen auch aus den wenigen Vorgaben keine eigenen Anschauungen hervor. Hier finden religiöse Regungen oft keine Sprache. Hier verkehrt sich die Freiheit oft in ein Ödland und in eine Leere. Religiöse Indifferenz, Orientierungslosigkeit, grenzenlos individualistische Einstellung, fehlende Standortbestimmung und Positionierung sind die Folgen. Fallen alternative Vorgaben wie Wissen, Erfahrungsräume, Gesprächsmöglichkeiten und Modellfiguren als Vorbilder weg oder bestehen kaum eigene Entscheidungskompetenzen, die alternative Strukturen zur Sprache bringen, bleibt die Unterstrukturierung bestehen. Der heteronome Formenkreis ist dagegen über12 Giesecke 2004, 58. 13 Vgl. dazu und zum Folgenden: Fiedler 2010a; vgl. Hermann-Josef Wagener, Das Gebetsverständnis junger Menschen und die religiöse Entwicklung (Kinder Erleben Theologie; Bd. 5), Jena 2013, 169–176.

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strukturiert und bedarf der Autonomie, Selbststeuerung und -strukturierung, also des Freiheitspols. Eine Überstrukturierung bildet sich, wenn Strukturvorgaben kritik- und alternativlos sind und der Person die notwendige Kreativität oder den notwendigen Freiraum nehmen, welche zur aktiven Deutung und Konstruktion religiöser Wirklichkeit notwendig erscheinen. Religiöse Sozialisation kann in diesen Fällen eine fundamentalistische Einstellung oder sogar einen rigiden, geschlossenen Dogmatismus zur Folge haben. Zur Überstrukturierung kann es kommen, wenn Kinder nur mit Widerwillen und unter Zwang unterwiesen oder mit bestimmten Erwartungen überlastet werden. Dagegen verkörpert der homonome Formenkreis ein Gleichgewicht von Struktur und Freiheit. Es bestehen keine Über- oder Unterstrukturierungen, sondern die kreative Selbststeuerung und die existenziellen, individuellen und sozialen Vorgaben und Grenzen, die in irgendeiner Weise die konkrete Lebenswelt bestimmen und die Biografie gezeichnet haben, halten sich die Waage und bringen sich ins Gleichgewicht.

5 Zusammenfassung In diesem Artikel sollte deutlich werden, dass der Mensch eine religiöse Bereitschaft und Disposition besitzt, die sich im Laufe des Lebens entwickeln kann. Dabei gilt es zu bedenken, dass Religiosität einen unterschiedlich gearteten Glauben, der sich wesentlich in den drei Formenkreisen darstellen lässt, hervorbringen kann. Kleinkinder besitzen einen intuitiven Glauben (eine Domäne), der Gottesbilder unabhängig von der kognitiven Reife hervorbringt.

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Verzeichnis der Autor*innen

Albert Biesinger, *1948, em. Prof. Dr. theol., Studium der Theologie und Erziehungswissenschaften in Tübingen und Freiburg, Promotion 1976, Habilitation 1982, Diakonenweihe 1983, 1982–1991 Professor für Religionspädagogik in Salzburg, 1991–2013 Professor für Religionspädagogik, Kerygmatik und kirchliche Erwachsenenbildung an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen, Emeritierung 2013. Gründer des Instituts für Berufsorientierte Religionspädagogik (KIBOR) 2002, 1993–2004 Vizepräsident des Internationalen Diakonatszentrums. Reinhold Boschki, *1961, Prof. Dr. theol., Leiter der Abteilung Religionspädagogik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen sowie Leiter der Forschungsstelle Elie Wiesel und Mitleiter des KIBOR. In der gemeinsamen Assistenzzeit bei Albert Biesinger Anfang der 2000er Jahre entstanden mit Klaus Kießling wissenschaftliche und freundschaftliche Bande, die bis heute und gewiss weiter in die Zukunft tragen. Rainer Bucher, *1956, Prof. Dr. theol., Leiter des Instituts für Pastoraltheologie und Pastoralpsychologie der Universität Graz. Ulrike Elsdörfer, *1953, Dr. theol., PhD, evangelische Theologin und Pastoralpsychologin, ehemalige Mitarbeiterin der Goethe-Universität Frankfurt am Main und Associate Professor der North West University in Potchefstroem, Südafrika. Nach der Tätigkeit als Geschäftsführerin des Beratungsnetzwerkes ICPCC (International Council on Pastoral Care and Counselling) und nach einem Ethnologie-Zusatzstudium 2018 weitere Promotion bei Klaus Kießling über Spiritual Care and Counselling in Südostasien. Bernhard Emunds, *1962, Prof. Dr. rer. pol., seit 2006 Professor für Chris­tliche Gesellschaftsethik und Sozialphilosophie an der PTH Sankt Georgen und Leiter Verzeichnis der Autor*innen

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des dortigen Oswald von Nell-Breuning-Instituts für Wirtschafts- und Gesell­ schaftsethik. Claudia Enders, *1965, Theologin, Arbeitswissenschaftlerin, freiberufliche Supervisorin und Organisationsberaterin in Dortmund. Geschäftsführerin der DGfP. Lehrsupervisorin DGfP, Sektion GOS. Zu Klaus Kießling besteht eine herzliche Verbundenheit und Kollegialität durch die gemeinsame Arbeit in der DGfP. Marc Fachinger, *1964, Dr. theol., Leiter des Projekts »Zeitzeugen« und Referent für Berufliche Schulen im Bistum Limburg. 2015 Promotion bei Klaus Kießling an der PTH Sankt Georgen zur Bedeutung von Berufsschulreligionslehrer*innen für die katholische Kirche. Zusammenarbeit mit Klaus Kießling im Bereich berufsorientierter Religionspädagogik. Christian Fröhling, *1979, Prof. Dr. theol., Professor für Religionspädagogik an der Katholischen Hochschule Mainz. 14 Jahre wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Klaus Kießling. Ottmar Fuchs, *1945, em. Prof. Dr. theol., Philosophie- und Theologiestudium in Bamberg und Würzburg, 1972 Priesterweihe, Kaplan in Nürnberg (bis 1977), Studentenpfarrer in Bamberg (bis 1981). Promotion (1977) und Habilitation (1981) bei Rolf Zerfaß in Würzburg. Ab Wintersemester 1981/82 Lehrstuhl für Pastoraltheologie und Kerygmatik an der Universität Bamberg, ab Wintersemester 1998/99 o. Prof. für Praktische Theologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen. Emeritierung Juli 2014. Daniel Gerte, *1985, Dr. phil. (Theologie), Dr. phil. (Philosophie), abgeschlossene Studien in Religionspädagogik (Dipl.), Theologie (Dipl.), Philosophie im europäischen Kontext (M.A.) und Geschichte Europas (M.A.), Studienrat für die Fächer Philosophie/praktische Philosophie und Geschichte an einem Gymnasium in Nordrhein-Westfalen. Berufsbegleitende Promotion bei Klaus Kießling in Kooperation mit der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Beate Glania MMS, *1966, Dr. theol., Mitglied der Gemeinschaft der Missionsärztlichen Schwestern, Pastoralreferentin, Geistliche Begleiterin und Supervisorin. 2004 Abschluss der Dissertation in Pastoralpsychologie bei Prof. Dr. Karl Frielingsdorf SJ, dem Vorgänger von Klaus Kießling, der das Zweitgutachten der Arbeit verfasst hat; von 2006–2018 Geistliche Mentorin an der PTH Sankt 474

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Georgen; seit 2019 Krankenhausseelsorgerin mit dem Schwerpunkt Psychiatrieseelsorge im Alexianerkrankenhaus Hedwigshöhe im Südosten Berlins. Matthias Gronover, *1973, Prof. Dr. theol., Professor für Religionspädagogik am Katholischen Institut für berufsorientierte Religionspädagogik an der Universität Tübingen (KIBOR) mit Schwerpunkt auf dem Religionsunterricht an beruflichen Schulen, seiner empirischen Erforschung und auf der Spiritualität in religiösen Bildungsprozessen. Zusammenarbeit mit Klaus Kießling im Projekt zur »spirituellen Selbstkompetenz von Religionslehrkräften«. Skaidrīte Gūtmane, *1941, Prof. Dr., Rektorin der Christlichen Hochschule Lettland (Latvijas Kristīgā akadēmija), die 2014 die Ehrendoktorwürde an Klaus Kießling verlieh. Norbert Hark, *1958, Dr. theol., Dipl.-Soz. Arb., Diakon, Gemeindeseelsorger und Bezirksreferent im Bistum Limburg. 2012 Promotion bei Klaus Kießling über hermeneutische Maßstäbe für eine exegetisch verantwortete Pastoraltheologie. Zurzeit Fertigstellung einer Studie über Selbstkonzepte von Ständigen Diakonen im Zivilberuf im deutschsprachigen Raum. Christoph Hentschel, *1982, Dr. theol., Dr. phil., Spiritual am Campus St. Michael und Priester für bibelpastorale Arbeit am Bildungs- und Exerzitienhaus St. Rupert in Traunstein. Klaus Kießling betreute das 2017 abgeschlossene Promotionsvorhaben an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Bernd Jochen Hilberath, *1948, em. Prof. Dr. theol., Professor für Dogmatik und Dogmengeschichte, em. Direktor des Instituts für Ökumenische und Interreligiöse Forschung an der Katholisch-Theologischen Fakultät Tübingen; Mit Klaus Kießling seit seiner Assistentenzeit in Tübingen bekannt, gemeinsame Herausgeberschaft der Reihe »Diakonie und Ökumene« (LIT-Verlag seit 2006). Bernd Hillebrand, *1970, Dr. theol. habil., Professor für Praktische Theologie mit dem Schwerpunkt Pastoraltheologie an der Katholischen Hochschule Freiburg im Breisgau. 2020 Habilitation an der PTH Sankt Georgen. Georg Hummler, *1960, Dr. theol., Klinikseelsorger, Psychotherapeutischer Heilpraktiker mit Ausbildung in Personzentrierter Psychotherapie (AKT), Provokativer Therapie (DIP) und Psychotraumatologie (ZPTN). 2019 Promotion bei Klaus Kießling an der PTH Sankt Georgen. Verzeichnis der Autor*innen

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Peter Hundertmark, *1963, Dr. phil., Dipl.-Theol., Pastoralreferent im Bistum Speyer, Referent für spirituelle Bildung, Geistlicher Begleiter und Exerzitienbegleiter. Mehrfach Lehraufträge am Institut für Pastoralpsychologie und Spiritualität an der PTH Sankt Georgen. Beate Josten-Sell, *1964, Dr. phil., hauptamtliche Tätigkeit in der Gefängnisseelsorge im Bergischen Land, 2021 Promotion bei Klaus Kießling an der GoetheUniversität Frankfurt am Main. Angela Kaupp, *1960, Prof. Dr., seit 2012 Professorin für Praktische Theologie, Religionspädagogik und Fachdidaktik/Bibeldidaktik, Universität KoblenzLandau, Campus Koblenz. Zusammenarbeit mit Klaus Kießling im Akademischen Mittelbau an der Universität Freiburg und in theologisch-psychologischen Arbeitsgruppen. Martin Kempen, *1982, Dr. theol., Dipl.-Päd., selbstständiger Coach und Supervisor (DGSv), Lehrbeauftragter und Pastoralpsychologe der Diözese Würzburg, 2016 Promotion am Institut für Pastoralpsychologie und Spiritualität der PTH Sankt Georgen bei Klaus Kießling. Helga Kohler-Spiegel, *1962, Prof. Dr., Professorin für Human- und Bildungswissenschaften an der Pädagogischen Hochschule Vorarlberg in Feldkirch. Psychotherapeutin, Psychoanalytikerin und (Lehr-)Supervisorin. Zusammenarbeit mit Klaus Kießling im Bereich der Religionspädagogik. Godehard König, *1947, unter anderem Studium der Theologie und der Sozialwissenschaften in Bochum und Duisburg. 1981 Weihe zum Diakon in Essen. 1983 persönlicher Referent im Bischöflichen Ordinariat Rottenburg-Stuttgart, dort Bischöflicher Beauftragter für den Diakonat und mitverantwortlich für das Internationale Diakonatszentrum, dessen Vorsitzender Klaus Kießling lange Jahre war. Heute als Diakon in einer Seelsorgeeinheit und als Exerzitienbegleiter tätig. Christoph Lubberich, *1981, Dr. theol., Dekanatsreferent im Dekanat Bremen. Mitarbeiter bei Klaus Kießling im Projekt »Weltkirchliche Arbeit heute für morgen – Wissenschaftliche Studie in Gemeinden deutscher Diözesen« 2008–2009. 2014 Promotion im Fach Pastoralpsychologie unter Begleitung von Klaus Kießling.

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Jakob Mertesacker, *1989, Dipl.-Theol., M.-Sc. Psychologe, seit 2016 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Pastoralpsychologie und Spiritualität der PTH Sankt Georgen in wechselnden Projekten. Promovend seit 2018. Psychoanalytiker in Ausbildung (DPV). Norbert Mette, *1946, Dr. theol., Dr. theol. h. c., Professor für Praktische Theologie (Pastoraltheologie und Religionspädagogik) i. R. Zusammenarbeit mit Klaus Kießling in der Forschungsgruppe »Religion und Gesellschaft« bei der Evaluationsstudie zur Erstkommunionkatechese. Doris Nauer, *1962, Prof. Dr. theol., Dr. med., Professorin für Pastoraltheologie/ Diakonische Theologie an der Vinzenz Pallotti University, Vallendar. Schriftleiterin der Zeitschrift »Diakonia«. Birgitta Ortmans, *1974, Dr. theol., Pastoralreferentin im Bistum Münster. Aufbaustudium und Promotion an der PTH Sankt Georgen bei Klaus Kießling 2007–2012. Wilson Parekkattil ISch, *1971, Dr. theol., MA Soziologie, Mitglied des Säkularinstituts der Schönstatt-Patres. 2019 Promotion an der PTH Sankt Georgen bei Klaus Kießling. Derzeit tätig als Provinzialrat der indischen Provinz, Koordinator des Apostolats und Deutschlehrer am Language Institute at Sion Centre, Kuttur, Kerala, Indien. Viera Pirker, *1977, Dr. theol., Professorin für Religionspädagogik und Mediendidaktik an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. 2004–2013 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Seminar für Religionspädagogik, Katechetik und Didaktik der PTH Sankt Georgen sowie in Forschungsprojekten bei Klaus Kießling, Promotion (Institut für Pastoralpsychologie und Spiritualität) 2012. Terttu Pohjolainen, *1951, Diakonisse in der Ev. Luth. Kirche von Finnland seit 1975, Mag. der Gesundheitswissenschaften; Mag. der Theologie, Lehrerin. Zusammenarbeit mit Klaus Kießling im Lehren, in Forschungsprojekten und in Professionalisierung in Lahti Fachhochschule und im Lahti Diakonischen Institut 1994–2017; Zusammenarbeit in DIAKONIA Weltbund und IDZ. Stephan Pruchniewicz, *1966, Prof. Dr. theol., Professor für Katholische Religionspädagogik, Kirchliche Pädagogische Hochschule Wien/Krems. Promotion an der PTH Sankt Georgen bei Klaus Kießling 2016. Verzeichnis der Autor*innen

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Matthias Scharer, *1946, em. o. Univ.-Prof. Dr. theol., bis 2014 Professor für Katechetik und Religionspädagogik der Universität Innsbruck; graduierter Lehrbeauftragter des Ruth C. Cohn Institute for TCI-international; Supervision. Joachim Schlör, *1964, Dr. phil., Theologe, Pädagoge, Dozent für Pastoralpsychologie am Priesterseminar und in der Ausbildungsleitung der Pastoralassistent*innen in der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Lehrsupervisor DGfP, Sektion PPS. Mit Klaus Kießling seit Studienzeiten in unterschiedlichen mehr und weniger beruflichen Kontexten insbesondere in der DGfP herzlich verbunden. Theo Sprenger, *1956, Tischler-Ausbildung, Studium in Bonn und Köln, 1985– 2019 Religionslehrer am Berufskolleg Berliner Platz in Arnsberg, 2001–2007 Vorsitzender des Verbands Katholischer Religionslehrerinnen und Religionslehrer an Berufsbildenden Schulen (VKR), seit 2003 Redakteur des Fachmagazins Religionsunterricht an Berufsbildenden Schulen (rabs). Zusammenarbeit mit Klaus Kießling seit seiner Tätigkeit als stellvertretender Leiter des Katholischen Instituts für berufsorientierte Religionspädagogik der Universität Tübingen (KIBOR). Anne M. Steinmeier, *1957, Prof. Dr. theol., Professorin für Praktische Theologie an der Theologischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Institut für Systematische Theologie, Praktische Theologie und Religionswissenschaft. Geschäftsführende Herausgeberin der Zeitschrift »Wege zum Menschen«. Lisa Straßberger, *1965, Dr. theol., Studienleiterin für Literatur in der Katholischen Akademie Rabanus Maurus im Haus am Dom, Frankfurt am Main. 2015 Promotion an der PTH Sankt Georgen bei Klaus Kießling. Aktuell Zusammenarbeit mit Klaus Kießling im Projekt »Erneuerte Theologie angesichts des Missbrauchs«. Theresia Strunk, *1985, Dipl.-Theol., Dipl.-Psych., seit 2011 in unterschiedlichen Funktionen am Institut für Pastoralpsychologie und Spiritualität präsent. Seit 2015 Psychologin in der Kinder- und Jugendpsychiatrie; in Ausbildung zur Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin (VT). Ludger Verst, *1959, Ständiger Diakon, seit 2016 Lehrbeauftragter und Projektmitarbeiter im Institut für Pastoralpsychologie und Spiritualität an der PTH Sankt Georgen. Gründungsinitiator und Vorsitzender der dort ansässigen C. G. Jung-Gesellschaft Frankfurt am Main e. V., Beauftragter für Lehrkräftefortbildung im Bistum Mainz sowie Berater (GwG) und Supervisor an Schulen. 478

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Hermann-Josef Wagener, *1957, Dr. theol. habil., Dr. phil., neben seiner Tätigkeit als Pfarrkooperator wissenschaftlicher Mitarbeiter und bis März 2022 Lehrbeauftragter am Institut für Pastoralpsychologie und Spiritualität sowie am Seminar für Religionspädagogik, Katechetik und Didaktik der PTH Sankt Georgen. Heribert Wahl, *1945, em. Prof. Dr. theol., Dipl.-Psych., nach dem Studium der Theologie (Tübingen, Paris) und Psychologie (München) und Ausbildung zum Psychoanalytiker von 1997–2010 Lehrstuhlinhaber für Pastoraltheologie in Trier. Schwerpunkte: Pastoralpsychologie, Religionspsychologie, Symboltheorie. Mit Klaus Kießling über die langjährige Zusammenarbeit im Redaktionskreis der »Wege zum Menschen«, über die DGfP und universitäre Kooperationen (z. B. Gutachten) freundschaftlich verbunden. Ansgar Wucherpfennig SJ, *1965, Prof. Dr. theol. habil., Lic. in re bibl., Mitglied der Gesellschaft Jesu, seit 2008 Professor für Exegese des Neuen Testaments an der PTH Sankt Georgen. 2014–2020 Hochschulrektor.

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