Vorsorge und Verhältnismäßigkeit: Die kriminalpräventive Informationserhebung im Polizeirecht [1 ed.] 9783428479665, 9783428079667


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German Pages 241 Year 1994

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Vorsorge und Verhältnismäßigkeit: Die kriminalpräventive Informationserhebung im Polizeirecht [1 ed.]
 9783428479665, 9783428079667

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DIETER NEUMANN

Vorsorge und Verhältnismäßigkeit Die kriminalpräventive Informationserhebung im Polizeirecht

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 650

Vorsorge und Verhältnismäßigkeit Die kriminalpräventive Informationserhebung im Polizeirecht

Von

Dr. Dieter Neumann

Duncker & Humblot * Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Neumann, Dieter: Vorsorge und Verhältnismässigkeit : die kriminalpräventive Informationserhebung im Polizeirecht / von Dieter Neumann. — Berlin : Duncker und Humblot, 1994 (Schriften zum öffentlichen Recht ; Bd. 650) Zugl.: Bielefeld, Univ., Diss., 1993 ISBN 3-428-07966-3 NE: GT

Alle Rechte vorbehalten © 1994 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Werner Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 3-428-07966-3

Vorwort Die nachfolgende Untersuchung ist unter dem Titel "Vorsorge und Verhältnismäßigkeit im kriminalpräventiven Polizeirecht" im Sommersemester 1993 von der Fakultät für Rechtswissenschaft der Universität Bielefeld als Dissertation angenommen worden. Sie wurde im September 1992 abgeschlossen, später erschienene Literatur ist nur gelegentlich berücksichtigt worden. Die Gesetzgebung befindet sich auf dem Stand vom August 1993. M i t der leichten Veränderung des in dieser Publikation verwendeten Titels soll deutlicher hervorgehoben werden, daß das Anliegen dieser Untersuchung vor allem darin besteht, die Struktur präventiver Rechtsnormen aufzuhellen und deren Auswirkungen auf die Rechtsanwendungssicherheit und den Grundrechtsschutz zu beschreiben. Das Exempel der neuen Eingriffsbefiignisse zur Informationsbeschaflung in den Polizeigesetzen der Bundesländer dient der Erörterung der Probleme präventiver Staatseingriffe auf der Ebene konkreter Rechtsanwendungslagen. Darüber hinaus aber soll deutlich werden, daß die angewachsende Menge präventiver Rechtsnormen auf vielen Rechtsgebieten nicht nur die Suche nach neuen Lösungen fur die Sicherheit der Rechtsanwendung und den Rechtsschutz der Bürger erforderlich werden läßt, sondern insgesamt das historisch so überaus erfolgreiche Modell des liberalen Verfassungsstaates gefährdet und die Funktionsweise des Rechtssystems zu beeinträchtigen droht. Die der Steuerung von Risiken statt der Abwehr von Gefahren dienenden Präventionsregelungen lassen die Befürchtung entstehen, daß das Recht die Bildung von Erwartungssicherheit nicht mehr in dem gewohnten Maße zu garantieren vermag: das Recht selbst wird in der Gestalt präventiver Rechtsnormen riskant. Das Thema dieser Untersuchung ist durch Herrn Prof. Dr. Otto Backes angeregt und die Fertigstellung von ihm mit großem Einfallsreichtum gefordert worden. Zugleich hat er im Promotionsverfahren als Zweitgutachter mitgewirkt. Herr Bundesverfassungsrichter Prof. Dr. Dieter Grimm hat als Erstgutachter mit zahlreichen Einwänden und Hinweisen die endgültige Fassung der Arbeit beeinflußt. Beide haben ein unbegreifliches Maß an Geduld aufgewendet. Neben ihnen gilt mein besonderer Dank Frau Margot Matz in Bielefeld, die viel Mühe auf die Herstellung der Arbeit verwendet hat,

Vorwort

6

ebenso wie Frau Petra Datschew in Berlin, die daneben Sorge für die Anfertigung der Druckvorlage getragen hat. Berlin, im September 1993 Dieter Neumann

Inhaltsverzeichnis Α. Einleitung

13

I. Polizeiliches Informationsrecht

14

Π. Risikogesellschaft

18

ΠΙ. Prävention

23

IV. Ziel, Gegenstand und Gang der Untersuchung

31

B. Das neue Polizeirecht zur verdeckten Informationserhebung

35

I. Aufgabe und Befugnisse 1. Die Aufgabe der Vorbeugenden Verbrechensbekämpfung 2. Befugnisse (1) Datenerhebung zur vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten nach § 8a Abs. 2 VE ME PolG (2) Datenerhebung bei öffentlichen Veranstaltungen, Ansammlungen und Versammlungen nach § 8b VE ME PolG (3) Besondere Formen der Datenerhebungs nach § 8c VE ME PolG (4) Polizeiliche Beobachtung nach § 8d VE ME PolG

35 36 39

41 42 43

Π. Ziele und Befürchtungen

46

ΙΠ. Die neuen informationellen Eingriffsbefugnisse im Vergleich 1. Konkrete Gefahr, Anscheinsgefahr, Gefahrenverdacht 2. Der Tatverdacht nach dem Strafprozeßrecht

52 52 61

40

IV. Verdeckte Informationserhebungen nach dem "Gesetz zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses" (G10) 67 V. Gefahr und Risiko 1. Die rechtliche Erfassung politischer Risiken 2. Die rechtliche Behandlung von Umweltrisiken

74 75 80

8

Inhaltsverzeichnis

3. Die rechtliche Bewältigung sozialer Risiken 4. Resümee: Die rechtliche Unterscheidung von Gefahr und Risiko

83 88

C. Die Verhältnismäßigkeitskontrolle staatlicher Informationserhebungen

95

I. Die verhältnismäßige Informationserhebung nach Strafprozeßrecht Π. Die Verhältnismäßigkeit verdeckter Informationserhebungen nach G10

97 104

ΙΠ. Die Verhältnismäßigkeitskontrolle des Vorsorgegrundsatzes im Immissionsschutzrecht 110 IV. Die Verhältnismäßigkeit verdeckter Ermittlungen nach dem neuen Polizeirecht 1. Das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung 2. Die Erforderlichkeit verdeckter Ermittlungen im Polizeirecht 3. Datenschutzrechtliche Kontrolle

115 116 130 139

D. Verfassungsrechtliche Bedingungen verdeckter polizeilicher Ermittlungen zur Kriminalprävention

143

I. Gesetzesvorbehalt und Parlamentsvorbehalt 1. Die Bestimmtheit von Eingriffstatbeständen 2. Der Parlamentsvorbehalt 3. Effektiver Grundrechtsschutz

144 145 149 158

Π. Die wesentlichen Regelungsaufgaben des Gesetzgebers 1. Materielle Regelungsaufgaben (1) Umfang der vorbeugenden Verbrechensbekämpfung (2) Abstufung von Eingriffsintensitäten (3) Umfang der Erhebungsdaten (4) Legaldefinition

167 167 173 175 178 179

2. Organisation und Verfahren (1) Die Funktion von Verfahrensregeln (2) Das verfahrensrechtliche Minimum

180 182 184

3. Rechtspolitische Alternativen (1) Kontrolle durch Justizorgane (2) Verwaltungsentscheidungen (3) Mischlösungen

187 187 189 190

Inhaltsverzeichnis

E. Risikovorsorge und Recht

193

I. Zusammenfassung: Präventives Informationsrecht der Polizei

194

Π. Risikogesellschaft und Rechtssystem

198

1. Risiko und Vorsorge 2. Die Funktion des Rechts 3. Die Steuerungskapazität des Rechts ΙΠ. Die Gefährdung des Rechtsstates Literaturverzeichnis

198 202 206 212 218

Abkürzungen AÖR ARSP BB CILIP CR DÖV DRiZ DRZ DuD DVB1 EGMR EuGRZ GA JR JURA JuS JZ KJ KrimJ KritV MDR ME NJW NStZ NuR NWVB1 ÖVD PFA StrafV UPR VE ME PolG

Archiv des öffentlichen Rechts Archiv Rechts- und Sozialphilosophie Betriebs-Berater civil liberties and police; Informationsdienst: Bürgerrechte und Polizei Computer und Recht Die Öffentliche Verwaltung Deutsche Richterzeitung Deutsche Rechts-Zeitschrift Datenverarbeitung und Datenschutz Deutsches Verwaltungsblatt Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Europäische Grundrechte-Zeitschrift Goltdammer's Archiv für Strafrecht Juristische Rundschau Juristische Ausbildung Jurischtische Schulung Juristenzeitung Kritische Justiz Kriminologisches Journal Kritsiche Vierteljahresschrift fìir Gesetzgebung und Rechtswissenschaft Monatsschrift für Deutsches Recht Musterentwurf Neue Juristische Wochenschrift Neue Zeitschrift für Strafrecht Natur und Recht Nordrhein-Westfälische Verwaltungsblätter Öffentliche Verwaltung und Datenverarbeitung Polizeiftlhrungsakademie Strafverteidiger Umwelt- und Planungsrecht Vorentwurf fur den Musterentwurf für ein einheitliches Polizeirecht des Bundes und der Länder 1986

Abkürzungen

VerwArch VVDStRL Wistra ZNR ZRP ZStW

Verwaltiuigsarchiv Veröffentlichungen des Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Zeitschrift fur Wirtschaftsstrafrecht Zeitschrift ftlr neuere Rechtsgeschichte Zeitschrift für Rechtspolitik Zeitschrift ftlr die gesamte Strafrechtwissenschaft

Α. Einleitung Das Sicherheitsrecht in der Bundesrepublik Deutschland steht vor dem Abschluß einer grundlegenden und umfassenden Neustrukturierung. Auf den Gebieten des Strafprozeßrechts 1, des Verfassungsschutzrechts 2, des Rechts der Nachrichtendienste 3 und der Militärischen Abschirmung 4 sind Gesetzentwürfe vorgelegt und Gesetze verabschiedet worden, mit denen diese wesentlichen Bereiche des Sicherheitsrechts neu geregelt wurden oder dies beabsichtigt ist. Weitere Gesetzentwürfe und Gesetze in deren Umfeld runden das Bild der gesetzgeberischen Aktivitäten im Bereich des Sicherheitsrechts ab 5 . Allen diesen Gesetzen und Gesetzesvorschlägen ist gemeinsam, daß darin die informationellen Aufgaben und Befugnisse der jeweiligen Sicherheitsbehörden in grundlegender Weise bearbeitet werden und ihre informationelle Zusammenarbeit neu koordiniert wird. Die wesentlichen Impulse für die Gesetzgebungsarbeit sind von dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Volkszählungsgesetz

1 Vgl. Entwurf eines "Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des Strafverfahrensrechts - Strafverfahrensänderungsgesetz 1989 (StVÄG 1989)", Stand 26.6.1989, StV 1989, 172 ff. Vgl. dazu Überblick und Kommentierung bei Hilgendorf-Schmidt, Wistra 1989, 208 ff. und Kühl, CILIP 32 (Nr. 1/1989), 108 ff., dort unter Titel "Verpolizeilichung der Strafprozeßordnung" sowie Wolter, StV 1989, 358 ff. Einige Vorschläge daraus sind in das "Gesetz zur Bekämpfung des illegalen Rauschgifthandels und anderer Erscheinungen der Organisierten Kriminalität (OrgKG)" vom 4.6.1992 (BGBl. I S. 1302) aufgenommen worden (Verdeckte Ermittler, Beobachtung, optische und akustische Überwachung). 2 Vgl. "Gesetz über die Zusammenarbeit des Bundes und der Länder in den Angelegenheiten des Verfassungsschutzes und über das Bundesamt ftlr Verfassungsschutz (Bundesverfassungsschutzgesetz - BVerfSchG)" vom 20.12.1990 (BGBl. I S. 2970), (=Art. 2 des "Gesetzes zur Fortentwicklung der Datenverarbeitung und des Datenschutzes" vom 20.12.1990, BGBl. I S. 2954). 3 Vgl. "Gesetz über den Bundesnachrichtendienst (BND-Gesetz - BNDG)" vom 20.12.1990 (BGBl. I S. 2979) (=Art. 4 des "Gesetzes zur Fortentwicklung der Datenverarbeitung und des Datenschutzes" vom 20.12.1990, BGBl. I S. 2954). 4 Vgl. "Gesetz über den Militärischen Abschirmdienst (MADGesetz - MADG)" vom 20.12.1990 (BGBl. I S. 2977) (=Art. 3 des "Gesetzes zur Fortentwicklung der Datenverarbeitung und des Datenschutzes" vom 20.12.1990, BGBl. IS. 2954). 5 Vgl. "Gesetz zur Neustrukturierung des Post und Fernmeldewesens und der Deutschen Bundespost (PostStrukG)" vom 20.4.1988, BGBl. I S. 1026 (mit Ergänzungen zum G10-Gesetz und §§ 100a und b StPO).

14

Α. Einleitung

1983 6 ausgegangen. Das darin konturierte Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung hat in der juristischen und politischen Diskussion sehr rasch zu intensiven Überlegungen gefuhrt, wie für die unterschiedlichen Bereiche des Sicherheitsrechts die verfassungsgerichtlich entwickelten Anforderungen an den rechtmäßigen Umgang mit personenbezogenen Daten erfüllt werden können. Die Feststellungen des Bundesverfassungsgerichts zu den verfassungsrechtlichen Mängeln des Volkszählungsgesetzes 1983 haben maßgeblich auch die Vorschläge zur Novellierung des Polizeirechts des Bundes7 und der Länder beeinflußt.

L Polizeiliches Informationsrecht Die Grundlage aller gesetzgeberischen Tätigkeiten in den Bundesländern zur Neuregelung der polizeilichen Informationsbefugnisse ist der "Vorentwurf zur Änderung des Musterentwurfs eines einheitlichen Polizeigesetzes des Bundes und der Länder" gemäß dem Beschluß der Innenministerkonferenz vom 25. November 1977 (ME 1977) mit letztem Stand vom 12. März 1986 (VE M E PolG) 8 . Im Anschluß an das Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts hatte die Konferenz der Innenminister von Bund und Ländern den für "Öffentliche Sicherheit und Ordnung" zuständigen Arbeitskreis I I mit Änderungsarbeiten zum M E 19769 beauftragt. Der von dem Arbeitskreis I I eingesetzte ad hoc-Ausschuß "Recht der Polizei" legte dann im Oktober 1984 einen ersten "Entwurf zur Änderung des Musterentwurfs eines einheitlichen Polizeigesetzes des Bundes und der Länder" (Stand 31. Oktober 1984) 10 vor, dem eine zweite Fassung mit Stand vom 8. Februar 1985 11 folgte. In der letzten Fassung vom 12. März 1986 bildete dieser " Vorentwurf ' dann den Ausgangspunkt für die Beratungen und die Gesetzgebungsvorschläge in den Bundesländern zu der angestrebten Novellierung ihrer Polizeigesetze. Eine 6

Vgl. BVerfGE 65, 1 ff Zu den alsbald daraus erhobenen Forderungen des Datenschutzes für das Sicherheitsrecht vgl. im Überblick Riegel, DVB1. 1987, 325ff und Bäumler, JR 1984, 361 ff ; speziell für das Verfassungsschutzrecht vgl. ders., AÖR 1985, 30 ff 7 Für das Bundespolizeirecht vgl. Entwurf zu einem "Gesetz über das Bundeskriminalamt und die Zusammenarbeit des Bundes und der Länder in kriminalpolizeilichen Angelegenheiten (BKAG)", Stand: 1.8.1988, Abdruck in CILIP Nr. 31 (Nr. 3/1988), 28 ff. Ein Bundesgrenzschutzgesetz ist in Vorbereitung. 8 Abdruck und Kommentierung bei Kniesel/Vahle, Polizeiliche Informationsverarbeitung und Datenschutz im künftigen Polizeirecht, 1990. 9 Text und Begründung in: Heise/Riegel, Musterentwurf eines einheitlichen Polizeigesetzes, 2. Aufl. 1978. 10 Text und Begründung in: CILIP Nr. 19 (Nr. 3/1984), 79 ff. 11 Text und Begründung in: CILIP Nr. 21 (Nr. 3/1985), 21 ff

I. Polizeiliches Informationsrecht

15

Ausnahme stellte insoweit nur das Bundesland Bremen dar, das bereits zuvor neue Regelungen zur Datenerhebung und -Verarbeitung in das bestehende Polizeigesetz eingearbeitet hatte 12 . Im Bundesland Rheinland-Pfalz wurde unmittelbar im Anschluß an VE M E PolG das dortige Polizeiverwaltungsgesetz geändert 13 . Inzwischen sind in den Bundesländern Baden-Württemberg 14, Bayern 15 , Berlin 1 6 , Hamburg 17 , Hessen 18 , Nordrhein-Westfalen 19 , Saarland 20 , und Schleswig-Holstein2 überarbeitete Polizeigesetze verabschiedet worden. In Niedersachsen 22 liegt ein Gesetzentwurf vor. Bis zu der Verabschiedung eigener Landespolizeigesetze galt vorläufig in den 5 neuen Bundesländern Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen noch das bereits den Vorschlägen des VE ME PolG angepaßte Polizeigesetz der D D R 2 3 gemäß Art. 9 Abs. 3 "Einigungsvertrag" vom 31. August 1990 als Landesrecht fort. 12

Vgl. PolG Bremen vom 21.3.1983 (GBL S. 141), zuletzt geändert durch Art. 2 des "Gesetzes zur Änderung des Bremischen Datenschutzgesetzes" vom 8.9.1987 (GBl. S. 235). 13 Vgl. Polizeiverwaltungsgesetz Rheinland-Pfalz i.d.F. des Änderungsgesetzes vom 28.11.1986 (GVB1. S. 353). 14 Vgl. Polizeigesetz für das Land Baden-Württemberg (PolG BW) i.d.F. vom 13.1.1992 (GBl. IS. 1). 15 Gesetz über die Aufgaben und Befugnisse der Bayerischen Staatlichen Polizei (Polizeiaufgabengesetz PAG) i. d. F. der Bekanntmachung vom 14.9.1992 (GVB1. S. 329). 16 Vgl. Allgemeines Gesetz zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in Berlin (ASOG Bin) vom 14.4.1992 (GVB1.1S. 119). 17 Vgl. "Gesetz zur Änderung des Gesetzes zum Schutz der Öffentlichen Sicherheit und Ordnung und zur Sicherung des Datenschutzes bei der Polizei" vom 2.5.1991 (GVB1. S. 187). 18 Vgl. Hessisches Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung i.d. F. des Änderungsgesetzes vom 18.12.1989 (GVB1. S. 469, ber. GVB1.1 1990 S. 36). 19 Vgl. PolG NW i.d.F. des "Gesetzes zur Fortentwicklung des Datenschutzes im Bereich der Polizei und der Ordnungsbehörden" (GFDPol) vom 7.2.1990 (GVB1. S.) 20 Vgl. Saarländisches Polizeigesetz (SaarlPG), das durch Gesetz Nr. 1251 zur "Neuordnung des Saarländischen Polizeirechts" vom 8.11.1989 (Abi. S. 1750) mit Inkrafttreten zum 1.1.1990 zugleich erstmals das bislang verstreute Landespolizeirecht systematisiert. 21 Vgl. Neufassung des Landes Verwaltungsgesetzes für das Land Schleswig-Holstein (LVuG) vom 2.6.1992 (GVO Bl. I S. 244 Zweiter Teil Abschnitt ΠΙ: Öffentliche Sicherheit und Ordnung). 22 Vgl. "Gesetzentwurf zur Änderung des Niedersächsischen Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung" vom 20.6.1988, LTDrs. 11/2710 23 Vgl. "Gesetz über die Aufgaben und Befugnisse der Polizei" vom 13. Januar 1990 (GBl. DDR I S. 1489). Zur früheren Rechtslage vgl. Lüers, Das Polizeirecht in der DDR. Aufgaben, Befugnisse und Organisation der Deutschen Volkspolizei, Köln 1974. Inzwischen sind mit Ausnahme von Brandenburg in den neuen Bundesländern eigene Landespolizeigesetze in Kraft getreten: Mecklenburg-Vorpommern: Sicherheits- und

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Α. Einleitung

Mit diesen Gesetzen und Gesetzentwürfen wird fur das Informationsrecht der Polizei in den Bundesländern ein grundlegender Strukturwandel vollzogen. Die in ihnen enthaltenen Grundsätze eines neuen Rechts der Polizei zur Erhebung und Verarbeitung personenbezogener Informationen sind deshalb Gegenstand ausgedehnter Kontroversen über die verfassungsrechtlichen Bedingungen und Grenzen informationeller Aufgaben und Befugnisse im Polizeirecht 24 . Im Mittelpunkt dieser Auseinandersetzungen stehen die neuen Regelungen zu den Aufgaben und Befugnissen der Polizei für den Zweck vorbeugender Verbrechensbekämpfung. Nach der in § la VE ME PolG vorgeschlagenen und seitdem in die meisten Landespolizeigesetze übernommenen Legaldefinition ist mit dem neu eingeführten Begriff der vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten gemeint, daß die Polizei künftig auch für Verfolgung von Straftaten vorzusorgen und Straftaten zu verhüten hat. Neben den klassischen Aufgaben der Gefahrenabwehr soll das Polizeirecht dadurch um einen Bereich erweitert werden, in dem bislang ausdrücklich zugewiesene Aufgaben und Befugnisse für die Polizeibehörden nicht bestanden. Auch ohne eine explizite Aufgabenbestimmung war die Polizei natürlich auch im Rahmen der Gefahrenabwehr gehalten, zur Verhütung von Straftaten beizutragen. Die Neuerung, die in der ausdrücklichen gesetzlichen Neudefinition der polizeilichen Aufgaben liegt, erschließt sich erst durch den Blick auf die zur Erfüllung dieser Aufgaben dem Polizeirecht hinzugefügten neuen Befugnisse für die Sammlung, Speicherung, Verarbeitung und Weitergabe von personenbezogenen Informationen. Die in den §§ 8a-d VE M E PolG vorgeschlagenen Einzelbefugnisse sehen vor, daß künftig personenbezogene Daten nicht nur von Störern und Notstandspflichtigen erhoben werden können, sondern auch von anderen und unbeteiligten Personen, wenn dies zur vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten erforderlich ist. Die nähere Beschreibung des Personenkreises zeigt dann, daß es sich nahezu um jedermann handeln kann, z.B. um Kontakt- oder Begleitpersonen anderer Personen, bei denen Anhaltspunkte dafür bestehen, daß sie in der Zukunft Straftaten begehen könnten. Dafür ist zwar grundsätzlich die offene Da-

Ordnungsgesetz des Landes Mecklenburg-Vorpommern (MeckVSOG) vom 4.8.1992 (GVB1. S. 498); Sachsen: Polizeigesetz des Freistaates Sachsen (Sächs.PolG) vom 30.7.1991 (Sächs. GVB1. S. 291); Sachsen-Anhalt: Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung (SOG LSA) vom 19.12.1991 (GVB1.S. 538); Thüringen: Gesetz über die Aufgaben und Befugnisse der Polizei vom 20.5.1992 (GVB1. S. 665). 24 Vgl. hier nur Riegel, DÖV 1990, 651 ff, der für die Neuregelung des Informationsrechts im PolG NW den "endgültigen Abschied vom klassischen Polizeirecht" kritisch feststellt (S. 654); umgekehrt hält Götz, NVwZ 1990, 725 ff. die neuen gesetzlichen Regelungen trotz ihrer im Detail unnötigen Kompliziertheit für seit langem notwendig und im ganzen gelungen.

I. Polizeiliches Informationsrecht

17

tenerhebung gewünscht, diese kann aber vermieden werden, wenn die Erhebung bei den Betroffenen nicht oder nur mit unverhältnismäßig hohem Aufwand möglich ist oder sonst die Erfüllung der polizeilichen Aufgaben erheblich erschwert oder gefährdet würde. Tatsächliche Anhaltspunkte für die Annahme, daß bestimmte Straftaten begangen werden sollen, können insbesondere den Einsatz "besonderer Formen der Datenerhebung" rechtfertigen. Dafür kann schon die Prognose genügen, daß irgendeine Straftat gewerbsmäßig, gewohnheitsmäßig oder von Banden begangen werden soll. Dann kann die längerfristige Observation, der verdeckte Einsatz technischer Mittel (Bild- und Tonaufnahmen), der Einsatz von V-Leuten (Personen, deren Zusammenarbeit mit der Polizei Dritten nicht bekannt ist) und Verdeckten Ermittlern (Polizeibeamte, die unter einer ihnen verliehenen, auf Dauer angelegten Legende im Milieu eingesetzt werden) gerechtfertigt sein, vorausgesetzt, daß dies zur vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten erforderlich ist. Unter näher bestimmten Voraussetzungen soll der Einsatz dieser besonderen Mittel auch zur Datenerhebung in oder aus Wohnungen zulässig sein. Ergänzt werden die Vorschläge aus VE M E PolG durch Regelungen zur Polizeilichen Beobachtung (früher: Beobachtende Fahndung), zur Datenspeicherung, Datenveränderung und Datennutzung sowie zur Datenübermittlung, zum automatisierten AbrufVerfahren, zu einfachen und besonderen Formen des Datenabgleichs und zur Berichtigung, Löschung und Sperrung von Daten. Die vorgeschlagenen Eingriffsbefugnisse zur Erhebung und Nutzung von personenbezogenen Daten für die präventive Kriminalitätsbekämpfüng sind offenkundig ganz auf den Bereich von Vorbeugung und Vorsorge zugeschnitten. Die Polizeibehörden sollen so in die Lage versetzt werden, personenbezogene Informationen auch dann zu erheben und zu nutzen, wenn noch keine Gefahr fur die öffentliche Sicherheit und Ordnung eingetreten ist und auch noch kein Verdacht einer Straftat besteht. Mit den neuen Befugnissen werden der Polizei rechtliche Instrumente gegeben, durch die sie sich unabhängig von konkreten Gefahrenlagen und bereits begangenen Straftaten ein Bild darüber machen kann, was an kriminogenen Entwicklungen zu erwarten ist. Verdichtet sich das beobachtete Geschehen entweder zu Gefahren oder zum Straftatverdacht, soll für rasche Aufklärung gesorgt werden können. Aus der Sicht der Verfasser des VE M E PolG sind die dort vorgeschlagenen Regelungen vor allem von der Überzeugung getragen, daß den neuen Formen krimineller Verhaltensweisen und Handlungszusammenhänge, namentlich der Organisierten Kriminalität, nur dann wirksam entgegengewirkt werden kann, wenn der Polizei Befugnisse zur Informationsbeschaflung und -Verwertung übertragen werden, mit denen die bisher geltenden Grenzen für die Rechtmäßigkeit polizeilicher Handlungen überschritten werden. Nur mit einem Höchstmaß an Informationsvorsorge ließen sich die Arbeitsweisen und Strukturen 2 Neumann

18

Α. Einleitung

hochorganisierter Kriminalitätsformen erkennen und durchleuchten, relevante Gefahrenherde entdecken und vorbeugend bekämpfen 25 . Das mit den Änderungen des polizeilichen Informationserhebungs- und Verarbeitungsrechts verfolgte Grundanliegen erscheint verständlich. Wer wollte bestreiten, daß die vorbeugende Unterdrückung kriminellen Handelns besser ist, als Straftaten geschehen zu lassen, Schäden und Opfer zu beklagen, die Täter erst anschließend zu verfolgen und ihrer Bestrafung zuzuführen falls man ihrer habhaft wird? Kann man die Notwendigkeit oder doch Nützlichkeit vorsorglicher Bekämpfung von Kriminalität in Abrede stellen, der Polizei die zu diesem Zweck benötigten Informationen vorenthalten oder aber ihre Beschaffung, Speicherung und Auswertung erschweren? Muß nicht sogar zwangsläufig die polizeiliche Aufklärung den Methoden und Strategien moderner Kriminalitätsformen angepaßt, also konspirativ, auf hohem technischen Niveau und mit allen verfügbaren Mitteln betrieben werden? Ist nicht die Nutzung moderner Informationstechniken und invasiver Methoden gerade geboten, um gut organisierte Kriminalität aus der Zusammenführung und Auswertung vieler einzelner Informationen zu identifizieren und möglichen Schaden noch abzuwenden? Besteht in Anbetracht hoher Kriminalitätsraten und hochgefahrlicher Kriminalitätsformen überhaupt ein vernünftiger Zweifel daran, daß der Polizei zu deren vorbeugenden Bekämpfung Befugnisse zu verleihen sind, die es ihr unabhängig von konkreten Gefahren und begangenen Straftaten ermöglichen, präventiv und kraftvoll zu handeln? Ist es also nicht schlechthin unabweisbar, die polizeiliche Informationsbeschaffung und -Verarbeitung bereits bei den Risikopotentialen für künftige Kriminalität beginnen zu lassen?

Π. Risikogesellschaft

M i t diesen Fragen ist bereits die Antwort nahegelegt, daß mehr polizeiliche Vorbeugung und Vorsorge gerechtfertigt ist. Solche Strategien signalisieren mehr Sicherheit vor den individuellen und sozialen Folgen kriminellen Handelns, als das in den traditionellen Systemen von Gefahrenabwehr und Straftatverfolgung versprochen werden kann. Man findet sogar Veranlassung zu der Frage, wie überhaupt sich die Gesellschaft und ihr Rechtssystem auf ein solch riskantes Projekt von schadensnaher Gefahrenabwehr und bloß nachträglicher Straftatverfolgung einlassen konnte. 25

Repräsentativ dazu schon frühzeitig Kniesel, ZRP 1987, 377 ff.

II. Risikogesellschaft

19

Die klassische liberal-rechtsstaatliche Antwort auf solche Fragen besteht in der Betonung von Freiheit. Um der Freiheit Aller willen werden seit dem Ende des 18. Jahrhunderts im bürgerlichen Rechtsmodell die alten Institutionen von Vorsorge und Fürsorge zugunsten der freien Entfaltungschancen aller Individuen aufgegeben, Staat und Recht auf bloße Garantiefunktionen für freies gesellschaftliches Handeln zurückgenommen 26 . Die bürgerliche Gesellschaft konstituierte sich als die prinzipiell autonome Gesellschaft der Privateigentümer, die Funktion des Staates wurde auf die des Garanten einer von ihm unabhängigen und gleichsam natürlichen Ordnung reduziert. Die Aufgabe der Staatsgewalt bestand darin, die Privatrechtsgesellschaft gegen Angriffe von Außen und Störungen im Inneren abzuschirmen oder eingetretene Störungen zu beseitigen. Erst wenn etwas als Störung, also als Gefahr oder als Straftat, wahrgenommen wird, ist es rechtlich beachtlich. Der Eintritt von Schadensfallen wird hingenommen, und es wird nur vorgegeben, wie sie behandelt werden sollen, wenn sie sich ereignen. Obrigkeitliche Überwachung und staatliche Präventivprogramme sind dadurch insgesamt diskreditiert, wenn auch keineswegs sofort abgeschafft worden. Dadurch entstand eine sehr tiefliegende Beziehung des Rechts zur Freiheit. Der in dem bürgerlichen Rechtsmodell theoretisch strikt durchgeführten Trennung von Staat und Gesellschaft war die freie individuelle Selbstbestimmung aller Einzelnen als wichtigster Ausgangspunkt zugrundegelegt. Im Gegensatz zum vorausgehenden ständisch-feudalen Sozialsystem, das auf einem materiell definierten Gemeinwohlideal beruhte und in dem die Handlungsmöglichkeiten der Einzelnen durch Standeszugehörigkeit bestimmt und begrenzt waren, wurde für die bürgerliche Gesellschaftsordnung angenommen, daß alle Individuen zu freier Selbstbestimmung befähigt und berufen seien. Die Erwartung richtete sich darauf, daß durch die Ermöglichung freier individueller Verhaltensweisen jedem Einzelnen ein gerechter Anteil an den gesellschaftlich verfügbaren Vorteilen zufließen würde. Folgerichtig konnte die Ausübung staatlicher Gewalt für die Gewährleistung der äußeren und inneren Bedingungen individueller Willensentscheidungen und gesellschaftlicher Autonomie reserviert werden. Die Grenzen für individuelles Handeln konnten zudem zwanglos mit dem theoretischen Ausgangspunkt begründet werden. In die individuelle Entscheidungsfreiheit der Einzelnen darf nur dann eingegriffen werden, wenn dem ein Verhalten vorausgeht, das als Verstoß gegen die gleiche Freiheit der anderen

26

Vgl. dazu Grimm, Bürgerlichkeit im Recht, in: ders., Recht und Staat der bürgerlichen Gesellschaft, 1987, S. 11 ff.

20

Α. Einleitung

identifiziert werden kann. Dann darf, muß der Staat aber auch eingreifen, um nicht nur für einzelne, sondern für alle die erwarteten Vorteile freien Handelns zu sichern. Das Problem, wie diese Grenze erkannt und für alle anderen erkennbar gemacht werden kann, wurde durch das wichtigste Verbindungsstück zwischen Staat und Gesellschaft gelöst: durch Gesetz. Die Beteiligung von Bürgern an der Gesetzgebung ließ erwarten, daß nur solche Rechtsregeln beschlossen werden, die den Interessen freier Selbstbestimmung nicht zuwiderlaufen. In den Ergebnissen, den Gesetzen, wurde dann der Umfang dessen festgelegt, was noch individuelle Freiheit oder was Störung derselben ist. In die alsbald mit diesen Vorstellungen ausgearbeiteten Verfassungen wurden die Bereiche individueller Willensentscheidungen und gesellschaftliche Autonomie durch die Grundrechte markiert. Eingriffe in die Freiheitssphäre von Einzelnen bedurften der gesetzlichen Grundlage und waren nur gerechtfertigt, wenn anders die Freiheit aller anderen nicht geschützt werden konnte. Jede Handlung des Staates konnte auf diese Weise zum Eingriff in die Freiheitssphäre von Einzelnen und die gesellschaftliche Autonomie werden. Um diese Grenze zu ziehen, drängte sich die Anwendung des Rechts geradezu auf. Wenn es um die Identifizierung von Grenzüberschreitungen und deren Abwehr geht, lassen sich die dafür wesentlichen Überlegungen in die Form eines Konditionalprogramms bringen. Die Grenzüberschreitung erscheint dann als FreiheitseingrifF, dieser kann sicher erkannt und mit Hilfe von Rechtsschutzeinrichtungen überprüft und gegebenenfalls abgewehrt werden. Daraus erklärt sich, warum am Ende des 18. Jahrhunderts geschrieben werden kann, daß Recht Freiheit sei 2 7 . Diese Ausgangspunkte des bürgerlichen Rechtsmodells scheinen indessen heute für viele Problembereiche moderner Gesellschaften nicht oder kaum noch zu überzeugen. Für das Grundkonzept selbst läßt sich heute auch besser als je zuvor erkennen, daß es auf einem ethischen Vorurteil beruht, nämlich darauf, daß durch die Gewährleistung freier Entfaltungsbedingungen für alle Individuen Wohlstand und Gerechtigkeit gleichmäßig ansteigen und deshalb ein überschießender staatlicher Handlungsbedarf nicht entstehen kann. Soweit die Ideale dieses Modells praktisch dementiert wurden, setzte die Entwicklung zum Sozialstaat ein. M i t ihm werden auch die Grundannahmen des Modells im Kern berührt. Weder in dem kategorischen Imperativ Kants noch in anderen ethischen Empfehlungen ist ausreichend bedacht worden, daß es vorteilhaft sein kann, sich anders zu verhalten, und daß deshalb mehr Freiheit zugleich auch mehr Freiheit zu abweichendem Verhalten bedeutet. Auch ist die Möglichkeit unterschätzt worden, daß es nur der Vermehrung von Gelegenheiten bedarf, um attraktive Anreize für ethisch verwerfliches Handeln zu schaf27

Kant, Metaphysik der Sitten, Neudruck 1956, S. 337.

II. Risikogesellschait

21

fen. Daß außerdem Menge und Qualität abweichender Verhaltensweisen gefördert werden, wenn die Institutionen sozialer Kontrolle geschwächt sind, wird vielleich erst heute hinreichend deutlich. Mehr noch: Freiheit insgesamt wird auf dem Bildschirm der Gesellschaft dann als Risiko wahrgenommen und damit als ein Sachverhalt, der weitestmöglich zu vermeiden ist. M i t hoher Plausibilität, jedenfalls plastischer und instruktiver als in den sonst angebotenen (postmodern, postindustriell) Kompaktbegriffen läßt sich die moderne Gesellschaft als Risikogesellschaft 28 beschreiben. Der Weg zu ihr fuhrt von der liberalen Gesellschaftsverfassung über den Sozialstaat zu der ungeheuren Vermehrung des gesellschaftlich verfugbaren Wissens bis zur Entstehung neuartiger Fundamentalprobleme und die drastisch gesteigerte Aufmerksamkeit für neue und alte Problemlagen. Nicht, daß nicht schon (fast) immer riskant gelebt wurde. Nicht auch, daß moderne Gesellschaften ohne Risiko überhaupt vorstellbar wären, aber die beispiellose Entwicklung von Technik und Wissenschaft, die Auflockerung und sogar Auflösung traditioneller Sozialbindungen und die Wahrnehmung der dadurch geschaffenen Gefahrdungslagen produzieren einen ständigen und wahrscheinlich wachsenden Überschuß an Unsicherheiten und Unübersichtlichkeiten, die heute in hohem Maße das Bild der Gesellschaft von sich selbst prägen 29 . Nach einer in den Sozialwissenschaften gebräuchlichen Unterscheidung sind Risiken im Unterschied zu Gefahren solche möglichen Nachteile, die eigenem Verhalten zugerechnet oder doch als Gegenstand einer absichtlichen Unternehmung angesehen werden 30 . Riskantes Verhalten entsteht also dann, wenn man nach dem verfügbaren Wissen auch nachteilsarm handeln könnte, sich aber dennoch für gefahrliche Unternehmungen entscheidet. Individuelle Risikobereitschaft und Risikowahrnehmung variieren beträchtlich und führen dadurch zu einer hohen Asymmetrie in der Koordination von riskanten Verhaltensweisen 31 . Die Einschätzung von Risiken hängt in einem wesentlichen Maße davon ab, ob sie von anderen zugemutet werden oder ob man sie sich 28

Vgl. Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, 1986, S. 25 ff.; ders., Gegengifte. Die organisierte Unveranwortlichkeit, 1988, S. 96 ff. Zur soziologischen Risikoforschung vgl. auch: Heelftmann/Japp (Hrsg.), Riskante Entscheidungen und Katastrophenpotentiale, 1990. 29 Zur Wahrnehmung von Risiken und Präventionsstrategien in der Sozialarbeit, der Psychiatrie, in Arbeitsverhältnissen und Lebensstilen vgl. die Beiträge in: Wambach (Hrsg.), Der Mensch als Risiko, 1983. 30 Vgl. Luhmann, Ökologische Kommunikation, 1986, S. 135 ff. und ders., Risiko und Gefahr, in: ders., Soziologische Aufklärung, Bd. 5, 1990, S. 131 ff.; ders., Soziologie des Risikos, 1991, S. 9 ff. 31 Grundlegend dazu Wildavsky, Searching for Safety, 1988, S. 24 ff.

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Α. Einleitung

selbst zumutet. Risiken können geschätzt und gesucht (Bergsteigen) oder als unvermeidlich hingenommen werden (Straßenverkehr). In jedem Fall ruinieren die unterschiedliche Verteilung von Risikoverhalten und Risikobereitschaft die wohl abgewogenen Formulierungen eines kategorischen Imperativs: Man kann nicht gut empfehlen, dem anderen nur die Risiken zuzumuten, die man selbst einzugehen bereit ist, wenn Risikobereitschaft und Risikowahrnehmung beträchtlich auseinanderfallen können. Auch dürfte dann das Gebot, seinen Nächsten wie sich selbst zu lieben, für alle viel zu riskant sein 32 . Die Probleme und Folgen risikoreichen Verhaltens häufen sich schon auf der Ebene individueller Handlungen 33 . Nicht anders steht es für die großen wirtschaftlichen, wissenschaftlichen, technischen und politischen Entscheidungen in modernen Gesellschaften. Keine dieser Entscheidungen produziert nur Risiken, kaum eine ist ohne Nutzen. Man weiß, daß schon im Normalbetrieb von Kernkraftwerken gesundheitsschädliche Strahlendosen erzeugt werden, daß durch die gezielte Manipulation an dem genetischen Material von Pflanzen, Tieren und Menschen ungewisse Gefahrdungen produziert werden können und daß der Aufbau großer und breit vernetzter Informationssysteme schwere wirtschaftliche und soziale Probleme hervorzurufen geeignet ist 3 4 . Man weiß, daß Gefahrdungslagen mit hohen Schadenspotentialen geschaffen werden - und geht das Risiko trotzdem ein. Wenn die Entscheidungen aber nicht nur Risiken produzieren, sondern auch Nutzen mit sich bringen, worin besteht dann das gesellschaftlich zuträgliche Maß an riskanten Entscheidungen? Wie soll entschieden werden, wenn das Risiko - auch das noch unbekannte und möglicherweise hoch bedrohliche Risiko - zugleich konkreten oder baldigen und dann wichtigen Nutzen verspricht? Soll man der Sicherheit wegen auf die Entwicklung riskanter Techniken ganz und von vornherein verzichten, etwa auf Kernkraftwerke, auf gentechnische Experimente und moderne Kommunikationstechniken? Soll etwa die Produktion und Verwendung giftiger Stoffe gänzlich untersagt werden, auch dann, wenn ihre kausale Schädlichkeit wissenschaftlich noch nicht ausreichend bewiesen ist? Und viel fundamentaler: Wie soll entschieden werden,

32 So pointiert Luhmann, Die Welt als Wille ohne Vorstellung, in: Die politische Meinung, 1986, S. 216. 33 Vgl. dazu die Einzelstudien in: Bechmann (Hrsg.), Risiko und Gesellschaft, 1989. 34 Zu den angesprochenen Problembereichen jeweils aus juristischer Sicht: Roßnagel (Hrsg.), Recht und Technik im Spannungsfeld der Kernenergiekontroverse, 1984; der s. / Weddel HammerlPordesch, Die Verletzlichkeit der Informationsgesellschafl', 1989 (Kommunikationstechniken). Winter; Gentechnik als Rechtsproblem, DVB1. 1986, 585 ff.

III. Prävention

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wenn selbst die wissenschaftliche Forschung nur widersprüchliches, also wiederum unsicheres Wissen produziert? 35 Auf diese Fragen hin läßt sich zunächst nur beobachten, daß das Rechtssystem auf die adäquate Behandlung von Risiken bislang nicht ausreichend eingestellt ist 3 6 . In interdisziplinären Forschungszusammenhängen zu dem Problem, wie die gesellschaftlichen und rechtlichen Möglichkeiten des Umgangs mit unzulänglichem Wissen beschaffen sind, variieren die Einschätzungen zu den juristischen Steuerungspotentialen erheblich. Sie reichen von einer strikt systemtheoretisch fundierten Annahme prinzipieller Unfähigkeit des Rechts zur Steuerung der gesellschaftlichen Subsysteme37 über die Entwicklung spezifischer Strukturmerkmale eines Rechts für die Entscheidung von Ungewißheiten 38 , das Plädoyer für eine generelle Dominanz ökologischer Rücksichten in allen Rechtsbereichen 39 bis zu eher traditionellen verfassungs- und verwaltungsrechtlichen Konzepten. Wie insoweit die Möglichkeiten des Rechts zur Kontrolle von Risiken beschaffen sind und welcher Veränderungen in der Rechtswissenschaft und -praxis es dazu bedarf, das läßt sich gegenwärtig noch nicht verbindlich feststellen. Nur der Begriff der Gegenstrategie steht fest: Prävention.

HI. Prävention Präventives staatliches Handeln ist als solches keine exklusive Errungenschaft des modernen Wohlfahrtsstaates. Schon der liberale Staat traf Vorsorge in der Gestalt technischer Normen, bediente sich eines differenzierten rechtlichen In35

Vgl. dazu die Beiträge in Conrad (Hrsg.), Gesellschaft, Technik und Risikopolitik, 1983 und Winter (Hrsg.), Grenzwerte, 1986. 36 Vgl. Wolff. \ Zur Antiquiertheit des Rechts in der Risikogesellschaft, Leviathan 15 (1987), 357 ff. 37 So Luhmann, Ökologische Kommunikation, 1986, S. 124 ff., 133 ff., der den Willkürpegel im Recht ansteigen sieht, und Willke, Staatliche Steuerung als Kontextsteuerung, KritV 1988, 214 ff. 38 Vgl. vor allem Ladeur, Jenseits von Regulierung und Ökonomisierung der Umwelt: Bearbeitung von Ungewißheit durch (selbst-)organisierte Lernfähigkeit - eine Skizze, ZfU 1987, 1 ff. Dazu die Anwendung des Konzepts ftlr die Entsorgung von radioaktivem Material; ders., Die Entsorgung der Kernenergie als Regelungsproblem Zu den Anforderungen an die Gesetzgebung unter Ungewißheitsbedingungen -, UPR 1989, 241 ff. mit dem Vorschlag, aus den Grundrechten und der Lehre vom Gesetzesvorbehalt stärkere Anforderungen an die Informationsgewinnung für komplexe Entscheidungszusammenhänge zu entwickeln. Die theoretischen Grundlagen sind dargestellt bei Teubner, Recht als autopoietisches System, 1989, bes. S. 81 ff. 39 Vgl. Winter, Perspektiven des Umweltrechts, DVB1. 1988, 659 ff.

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Α. Einleitung

strumentariums für die Erlaubnis oder das Verbot gefährlicher Anlagen und Handlungen und sorgte für behördliche Überwachung. In dem Modell des liberalen Verfassungsstaates ist staatliches Handeln aber konzentriert auf die Vermeidung oder Beseitigung der im Grundsatz generell und abstrakt definierten Störung der Gesellschaft freier Individuen. Erst wenn im Einzelfall diese Störung der freien inneren Ordnung unmittelbar bevorstand oder eingetreten war, durfte der staatliche Eingriff zum Schutz oder zur Wiederherstellung der Ordnung gegen den Störer stattfinden. Staatliches Handeln wirkte deshalb reaktiv, punktuell und bipolar 4 0 . Darüber hinaus erschöpfte sich Prävention in der bloßen Existenz eines Repressionsapparates. Im Unterschied zu dieser liberalen Ausgangslage ist die moderne präventive Staatstätigkeit generell auf die Vermeidung unerwünschter Entwicklungen und Ereignisse und die Erreichung erwünschter Wirkungen aller Art ausgerichtet, sie wirkt deshalb prospektiv, flächendeckend und gruppenrelevant 41. Diese Entwicklung ist das Ergebnis eines grundsätzlichen Wandels in dem Ausmaß und der Art moderner Staatstätigkeit 42 . Im Gegensatz zu dem Staat des liberalen Ordnungsmodells ist der moderne Staat westlichen Typs heute dadurch ausgezeichnet, daß er nahezu globale Verantwortung für die Voraussetzung des Gelingens fast aller sozialen Beziehungen, für die Wohlfahrt der Bürger und sogar der gesamten Gesellschaft übernommen hat. Zu den damit politisch wie verfassungsrechtlich ausgelösten Problemlagen gehört, daß dem Staat in gleichem Maße Fehlleistungen zugerechnet werden, und demokratische Legitimation politischen Handelns mit hoher Unsicherheit ausgestattet w i r d 4 3 . Wenn das politische Handeln von der Garantie bloßer Rahmenbedingungen auf die Bewirkung ökonomischer und sozialer Realsicherheit umgestellt wird, dann kann in einer pluralisierten Gesellschaft nicht erwartet werden, daß alle angemeldeten Ansprüche in dem gewünschten Ausmaße befriedigt werden können, schon deshalb nicht, weil die Mittel knapp und subjektiv empfundene Ungerechtigkeiten nicht zu vermeiden sind. Die Folge ist, daß die Legitimation staatlichen Handelns in hohem Maße von der Erfüllung 40

Vgl. Grimm, Verfassungsrechtliche Anmerkungen zum Thema Prävention, KritV 1986, 38 ff., 39 f.; ders., Der Wandel der Staatsaufgaben und die Krise des Rechtsstaates, in: ders. (Hrsg.), Wachsende Staatsaufgaben - sinkende Steuerungsfähigkeit des Rechts, 1990,291 ff, 295 f. 41 Vgl. ebenda. 42 Vgl. Flora, State, Economy and Society in Western Europe 1815-1975, 2 Bde. 1986; Grimm, Die sozialgeschichtliche und verfassungsrechtliche Entwicklung zum Sozialstaat, in: Grimm, Recht und Staat der bürgerlichen Gesellschaft, 1987, S. 138 ff ; Stolleis, Die Entstehung des Interventionsstaates und das öffentliche Recht, ZNR 1989, 129 ff. 43 Vgl. dazu die Beiträge in: Legitimation des modernen Staates, ARSP Beiheft 15 (1981).

III. Prävention

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angemeldeter oder politisch antizipierter Bedürfnisse abhängig wird. Wahrscheinlich ist, daß diese im Begriff des Wohlfahrtsstaates zusammengefaßte Entwicklung unter demokratischen Voraussetzungen zwangsläufig eintreten mußte, deshalb unumkehrbar ist und daß das politische System der Gesellschaft dadurch strukturell überfordert wird 4 4 . Sicher festgestellt werden kann hingegen schon jetzt, daß dadurch politisches Handeln und dessen rechtliche Formen einem bedeutsamen Wandel unterliegen. Viele für das Verfassungsrecht daran anschliessende Probleme sind bereits erörtert worden 4 5 - bis hin zu der These, daß die das staatliche Handeln bändigenden Regeln des Verfassungsrechts mit der Entwicklung zu globaler staatlicher Verantwortung an Wirkungskraft verlieren, daß mithin die normative Kraft der Verfassung spürbar schwindet 46 . Die Eigenlogik dieser Entwicklung in Richtung auf die staatliche Gewährleistung von Sicherheit, Fürsorge und Vorsorge erfahrt durch den Übergang zur Risikogesellschaft nochmals eine Steigerung. Die Schaffung und Wahrnehmung von mehr und qualitativ veränderten Risiken produzieren zwangsläufig auch ihr Gegenteil, nämlich Erwartungen auf mehr Sicherheit. Das ist die Ausgangskonstellation für weitreichende staatliche Präventionsprogramme. Ob dadurch Sicherheit, zumal soziale Sicherheit, gesteigert werden kann, ist fraglich 4 7 . Aber wenn über den Bereich sozialer Sicherheit hinaus Prävention zur dominanten staatlichen Handlungsstrategie wird, mißt sich ihr Erfolg an der effektiven Vermeidung nachteiliger Wirkungen der jeweils definierten Art. Solche Erfolge werden am ehesten zu erwarten sein, wenn schon der Entstehung von Gefahrdungslagen vorgebeugt wird und gleichzeitig die störenden Wirkungen individueller Willkür, also Freiheit, minimiert werden können. 44

Vgl. dazu die Beiträge in: Hennis u.a. (Hrsg.), Regierbarkeit Bd. 1, 1977; Jänicke, Staatsversagen, 2. Aufl. 1987, S. 136 ff. Vgl. auch Luhmann, Politische Theorie im Wohlfahrtsstaat, 1981, der dagegen die "harte Pädagogik der Kausalität" empfiehlt. In dieser Richtung für die Kontrolle leistungsstaatlicher Rechtsnormen auch Haverkate, Rechtsfragen des Leistungsstaates, 1983, S. 25 ff. 45 Vgl. dazu im Überblick Denninger, Der Präventions-Staat, KJ 1988, 1 ff. Klassisch: Forsthoff,\ Der Staat der Industriegesellschaft, 1971. 46 Vgl. Grimm, Die Zukunft der Verfassung, in: StaatsWissenschaft und Staatspraxis, 1990, 5 ff.; Günther, Der Wandel der Staatsaufgaben und die Krise des regulativen Rechts, in: Grimm (Hrsg.), Wachsende Staatsaufgaben - sinkende Steuerungsfähigkeit des Rechts, 1990, S. 51 ff. 47 Vgl. dazu Preuß, Sicherheit durch Recht?, KritV 1989, 3 ff., der das "Sicherheitsparadoxon" moderner Gesellschaften in einer inneren Logik des Sicherheitsbegriffs identifiziert, "... indem Sicherheit die Grundlage neuer Handlungsmöglichkeiten - und damit neuer Risiken - schafft, ist sie paradoxerweise ein Element gesellschaftlicher Dynamik und ein starker Impuls zu permanenter Selbstveränderung" (S. 4).

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Α. Einleitung

Durch gesteigerte Sicherheitsansprüche entsteht deswegen ein wirksamer Zwang zu erhöhter staatlicher Aufmerksamkeit für sozial abweichendes Verhalten. Durch die desintegrierenden Wirkungen der modernen Gesellschaft, die nicht mehr in dem alten Umfang durch selbstverständliche Institutionen und Prozesse der Integration aufgefangen werden, wird zusätzlich nahegelegt, auch den sozialen Gefahren deliquenten Verhaltens bereits dort zu begegnen, wo diese sich zwar noch nicht aktualisiert haben, wo sie aber doch jederzeit entstehen könnten. Die im Modell des liberalen Verfassungsstaates als Ausnahme konzipierte Prävention wird dadurch einerseits zeitlich vorverlagert und andererseits von Sachrisiken auf Humanrisiken erweitert und umorientiert 4 8 . Diese Entwicklungsrichtung ist unvermeidbar, wenn ganz generell von dem liberalen Konzept der Rechtssicherheit auf das der Rechtsgütersicherheit umgestellt w i r d 4 9 . In dem liberalen Modell des Verfassungsstaates ist Rechtssicherheit die prinzipielle Garantie des gesetzten Rechts. Gewährleistet wird, daß nicht willkürlich, von Fall zu Fall, so oder anders entschieden wird. Nicht, daß nicht grundsätzlich fast alles auch anders entschieden werden könnte, doch bedarf es dafür der vorrangigen Änderung des gesetzten Rechts. Die im Gesetz definierte Störung der Gesellschaft und die Aufzählung der Eingriffsmöglichkeiten zur Verhinderung oder Beseitigung der Störung läßt sich in juristischen Tatbeständen vergleichsweise sicher nach dem Konditionalschema von Wenn-Dann-Sätzen konstruieren 50 . So kann ein hoher Grad an Justitiabilität in den Rechtsnormen erreicht und können relativ stabile rechtliche Erwartungen gebildet werden. Was hingegen weder bezweckt noch direkt bewirkt werden kann und soll, ist die Garantie maximaler Rechtsgütersicherheit. Die Sicherheit der Rechtsgüter selbst wird prinzipiell nur dann zum Gegenstand legitimer staatlicher Tätigkeit, wenn ihr eine Störung zugrundeliegt. Durch präventives staatliches Handeln werden die rechtlichen Ausgangsbedingungen grundsätzlich anders definiert. Prävention ist ein Konzept, das mögliche Gefahren bereits an der Quelle beseitigen oder doch die Wahrscheinlichkeit ihres Eintretens mindern will. Deshalb werden Bestimmungen zur Arbeitssicherheit, zur Kontrolle von Inhaltsstoffen in Lebensmitteln, für die Wirksamkeit oder doch Unschädlichkeit von Medikamenten und für die soziale Betreuung gefährdeter Personen erlassen. Der Schutz vor schädlichen Wirkungen wird möglichst früh angesetzt, und das Ziel ist die Garantie von Rechtsgütersicherheit. Vorsorge als Rechtsprinzip ist zugleich ein Unterneh-

48 49 50

Vgl. Grimm, Prävention, 43 f. Vgl. dazu Denninger, Der Präventions-Staat, KJ 1988, 1ff., 8 f. Vgl. Luhmann, Zweckbegriff und Systemrationalität, 1973, S. 101 ff

III. Prävention

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men ohne eigenständiges inneres Grenzprinzip, fast immer läßt sich der vorbeugende Schutz vor möglichen Gefahren noch verbessern oder früher ansetzen. Die staatliche Tätigkeit zur Risikovorsorge wird dadurch und durch die erhöhten Sicherheitserwartungen des politischen Publikums motiviert, den Schutz vor unerfreulichen Ereignissen in der Zukunft schon vor dem Auftreten manifester Gefahren beginnen zu lassen. Auf diese Weise wird staatliche Verantwortung für die Gewährleistung von Zukunftssicherheit übernommen. Damit ist eine bedeutende Verschiebung in dem Verhältnis zwischen staatlichem Handeln und individueller Freiheit verbunden. Nicht mehr die Bewahrung oder Wiederherstellung eines störungsfreien Zustandes wird angestrebt, sondern die möglichst effektive Gestaltung künftiger Sicherheit. In der auf Vorsorge und Zukunftsgestaltung angelegten Tätigkeit legitimiert sich das staatliche Handeln nicht mehr durch Schutz der individuellen Freiheit, sondern durch erfolgreiches Eingreifen zum Schutz vor künftigen Gefahrdungen und durch die Beseitigung und Entschärfung von Gefahrenquellen. Auf diesen veränderten Grundlagen lassen sich sogar die Erwartungen auf gegenwärtige und zukünftige Sicherheit zu einem subjektiven Anspruch auf staatliches Tätigwerden in die Gestalt eines Menschenrechts bringen 51 . Wenn aber nicht mehr der Schutz der individuellen Freiheit, sondern die effektive Vorsorge gegen mögliche künftige Gefahrdungen Maßstab der staatlichen Tätigkeit ist, dann berührt präventives staatliches Handeln sogar die Geltungsbedingungen des rechtsstaatlichen Verteilungsprinzips. Dessen Gehalt besteht in einer Ungleichverteilung der Argumentationslasten bei freiheitsbeschränkendem Staatshandeln. Rechtfertigungsbedürftig ist das staatliche Handeln, nicht der Freiheitsgebrauch; und staatliches Handeln ist nur gerechtfertigt, wenn der Freiheitsgebrauch nicht unverhältnismäßig beschränkt wird. Prävention dagegen kehrt die Begründungslasten um. Gerechtfertigt werden muß nicht mehr das staatliche Handeln, sondern der mögliche künftige Gefährdungen begünstigende Freiheitsgebrauch; und der Freiheitsgebrauch ist nur gerechtfertigt, wenn er staatliche Vorsorge nicht übermäßig behindert. Diese Umkehrung der Begründungslasten macht es schwierig, die durch präventive staatliche Tätigkeit gleichzeitig entstehenden Nachteile für den Gebrauch der Freiheit in die Form eines rationalen Kalküls zu bringen. Das ist auch der Grund für die offenkundigen Anwendungsprobleme des zwischenzeitlich in fast alle Umweltgesetze aufgenommenen Vorsorgegrundsatzes.

51

Vgl. Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, 1983; Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, 1987.

28

Α. Einleitung

Für die Struktur von Rechtsnormen ist damit eine Umstellung von Konditional· auf Finalprogramme 52 , auf die Bewirkung von Wirkungen, auf die Erreichung von Zielen verbunden. Die Kosten dieser Entwicklung bestehen in dem Verlust oder doch der drastischen Verringerung justitiabler Normen und der korrespondierenden Abschwächung rechtlicher Kontrollmöglichkeiten. Zukunftsgestaltende Gesetze, die wenig mehr als das Handlungsziel beschreiben, können die Rechtsanwender in der Interpretation und Anwendung der Gesetze nicht binden. Weil es sich um einen Mangel der Rechtsnormen selbst handelt, setzt sich dies im Bereich der Rechtskontrolle fort. Als Ergebnis läßt sich feststellen, daß Verwaltung und Rechtsprechung Verantwortung für sozialgestaltende Tätigkeiten aufgedrängt und von ihnen übernommen werden müssen. Gegenüber diesen Ansprüchen tritt der Freiheitsschutz in den Hintergrund. Andererseits steht fest, daß die Prävention der Quelle nicht zu nahe treten darf. Denn dann könnten bereits beliebige Zweifel über vermutlich Schädliches dazu führen, daß Verbote für die Verwendung von Produktionsstoffen, von Techniken, von riskanten Lebensstilen oder auch nur Bequemlichkeiten (Teilnahme am Kraftfahrzeug- oder Luftverkehr) angeordnet werden. Reale Sicherheit wird zwar als ein Höchstwert geschätzt, ist aber korruptionsfahig. Vorsorge kann auch gar kein Prinzip maximaler, sondern allenfalls optimierter Sicherheit sein. Man kann die Sicherheit zwar erhöhen, aber nicht perfektionieren. Nicht nur, daß es häufig an genügendem Wissen fehlt, Sicherheit konkurriert darüber hinaus mit vielen anderen Optionen, die als gleich wichtig oder wichtiger gelten (Wirtschaftswachstum, Mobilität, wissenschaftliche Erkenntnis u.v.m.). Es zeigt sich sogar, daß Prävention die Wahrscheinlichkeit unwahrscheinlicher Reaktionen erhöhen kann, weil z.B. die Fehleranfalligkeit von technischen Anlagen und Verfahrensabläufen mit ihrer Komplexität steigt. Jede weitere Sicherung eines komplexen Systems schafft dann eine weitere Möglichkeit für Zufalle und Unerwartetes, also gerade für das, was vermieden werden sollte 53 . Die auf technische und soziale Sicherheit gerichteten präventiven Strategien können so ein hohes Maß an Ambivalenz erreichen und sogar das Ziel verfehlen 54 . Das Recht selbst kann ein weiteres Risiko, nämlich die permanente Gefahrdung von Freiheitsrechten, und sogar ein Risiko für das Konzept der liberal-staatlichen Rechtssicherheit entstehen lassen. Man mag dann zwar die Hoffnung hegen, daß diese Entwicklungsrichtung 52

Vgl. Luhmann, Zweckbegriff und Systemrationalität 1973, S. 257 ff. Vgl. dazu eindrucksvoll Perrow, Normale Katastrophen. Die unvermeidbaren Risiken der Großtechnik, 1987. 54 Grundlegend fur die sozialwissenschaftliche Analyse von Sicherheit: Kaufmann, Sicherheit als soziologisches und sozialpolitisches Problem, 2. Aufl. 1973, insb. S.43ff. und Eversi Nowotny, Über den Umgang mit Unsicherheit. Die Entdeckung der Gestaltbarkeit von Gesellschaft, 1987, insb. S. 59 ff. 53

III. Prävention

29

durch selbst erzeugte Gegenmachtpositionen gebrochen, gestoppt oder doch gemildert werden könne 5 5 . Einstweilen läßt sich aber für die meisten Erscheinungsformen nur feststellen, daß die präventive Staatstätigkeit quantitativ ausgeweitet und qualitativ verfeinert wird. Von dem Trend zur Risikovorsorge ist auch der Bereich der Kriminalprävention nicht ausgenommen. Diejenigen Formen abweichenden Verhaltens, die zugleich als strafwürdiges Unrecht qualifiziert sind, gehören ohnehin zu den traditionellen Risiken für die Sicherheit in der Gesellschaft. Schon die Existenz von Strafrechtsnormen, erst recht die general- oder spezialpräventiv motivierte Verurteilung von Straftätern, soll weiteren Straftaten vorbeugen. Die Verminderung der Leistungskraft sozialer Integrationsformen führt aber offenbar zwangsläufig zu mehr strafbarem Unrecht, wie an Kriminalitätsstatistiken und umgekehrt an der Vermehrung von Strafrechtsnormen abgelesen werden kann 5 6 . Mit den in modernen Gesellschaften breit eröffneten Möglichkeiten zu abweichendem Verhalten werden zugleich auch die Gelegenheiten zu strafbaren Handlungen vermehrt und ändern sich deren Erscheinungsformen. Es ist deshalb kein Zufall, daß die gesetzgeberischen, staatsanwaltschaftlichen und polizeilichen Strategien zur Bekämpfung neuer oder doch jetzt vermehrt auftretender Formen der Kriminalität überarbeitet, die operativen Konzepte präzisiert werden und schließlich auch neue rechtliche Kategorien im Polizei- und Strafprozeßrecht auftreten 57 . Sie sind deshalb nicht bloß von prominenten anderen Beispielen abgesehen58 - Ausdruck momentaner

55

So die Erwartung bei Beck, Gegengifte. Die organisierte Un Verantwortlichkeit, 1988, S. 183 ff. 56 Die Polizeiliche Kriminalstatistik weist für 1988 erstmals einen Rückgang der erfaßten Straftaten um 2 % aus. Skeptisch gegen die Annahme einer Trendwende Dörrmann, Die Polizeiliche Kriminalstatistik 1988. Kriminalistik 1989, 322 ff. mit spezifischen Auswertungen nach Straftätergruppen und Straftaten. Zur "Hypertrophie" des Strafrechts vgl. Lüderssen, Neue Tendenzen in der deutschen Kriminalpolitik, in: Eser/Cornils (Hrsg.), Neue Tendenzen in der Kriminalpolitik. Beiträge zu einem Deutsch-Skandinavischen Strafrechtscolloquium, Freiburg 1987, S. 161 ff. 57 Vgl. dazu Albrecht, Prävention als problematische Zielbestimmung im Kriminaljustizsystem, KritV 1986, 55 ff. mit Beispielen zur Ambivalenz präventiver Strategien in der Polizeiarbeit, in der Strafjustiz und im Strafvollzug. Vgl. auch Kreisel, Die präventive Polizei, KJ 1981, 128 ff. 58 So die Strafbestimmungen zur Bildung von kriminellen und terroristischen Vereinigungen, §§ 129, 129a StGB, deren Bedeutung nicht in dem Schutz wichtiger Rechtsgüter liegt, sondern in den dadurch prozessual eröffneten Möglichkeiten zur Überwachung verdächtiger Personen. Vgl. dazu Backes, Kriminalitätsbekämpfung im Spannungsfeld von Prävention und Repression, in: Polizei-Führungsakademie (Hrsg.), Verhältnis Staatsanwaltschaft: Polizei bei der vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten und im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren, 1989, 27 ff., 34, wo die

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Α. Einleitung

Launen des Gesetzgebers oder Demonstration politischer und behördlicher Handlungsfähigkeit, sondern in den jetzt vorgeschlagenen und übernommenen Grundzügen zugleich die Reaktion auf veränderte gesellschaftliche Problemlagen. Die Kriminalprävention gegen strafrechtlich definierte Humanrisiken, ohnehin ein klassisches Gebiet der staatlichen Vorsorge gegen gesellschaftlich unerwünschte Handlungen oder Haltungen, soll deswegen tief in den Bereich vorbeugender Verbrechensbekämpfung verlagert werden. Für das Gebiet der polizeilichen Kriminalprävention werden die Hoffnungen insbesondere auf mehr und zuverlässige Informationen im Vorfeld von Gefahren und Straftatverdacht gesetzt. Gemessen an dem herkömmlichen Sprachgebrauch des Polizeirechts, das bereits die präventive Abwehr von Gefahren zum Gegenstand hat, müßte man sogar von einer Verlagerung informationellen Handelns der Polizei in den Bereich der Prä-Prävention sprechen. Es ist offenbar die Entwicklung der Gesellschaft in Richtung auf deutlich verminderte soziale Integrationskraft und auf die Vermehrung der Möglichkeiten zu sozial riskantem Verhalten, die ein gleichsam natürliches polizeiliches Bedürfnis entstehen läßt, diese Risiken dort zu kontrollieren, wo sie entstehen oder ihre Entstehung vermutet wird, nämlich bei den Unzulänglichkeiten des Individuums. Die Erwartungen, die mit einem neuen Polizeirecht verbunden werden, richten sich insbesondere auf die effektive Bekämpfung der Organisierten Kriminalität 5 9 . Gemeint ist damit die von hierarchisch aufgebauten Gruppen berufsmäßig, planvoll und arbeitsteilig durchgeführte Kriminalität im großen, nationalen und internationalen Maßstab mit ausgeprägter krimineller Wertorientierung ihrer Mitglieder und beachtlichen Neutralisierungsleistungen gegenüber staatlichen Strafverfolgungsbehörden 60. Für die wichtigsten ihrer Erscheinungsformen gehört die durch Anhäufung und Verwertung großer Geldmengen in illegalen wie legalen Investitionsbereichen erreichte große Finanzkraft, und damit ein hohes Maß an Regenerationsfähigkeit zu den Charakteristika der Organisierten Kriminalität 6 1 . Es ist dadurch plausibel

Auswertung der Polizeilichen Kriminalstatistik 1985 eine Zahl von 300 einschlägigen Ermittlungsverfahren, aber nur 4 Verurteilungen, also 1,3 % ergibt. 59 Aus der umfangreichen Literatur vgl. hier nur Rebscher/Vahlenkamp, Organisierte Kriminalität in der Bundesrepublik Deutschland. Bestandsaufnahme, Entwicklungstendenzen und Bekämpfung aus der Sicht der Polizeipraxis, 1988. Neuerdings Beck, Die Bekämpfung der organisierten Kriminalität, 1990. 60 So begrifflich zusammengefaßt z.B. bei Schneider; Das organisierte Verbrechen im Vergleich zwischen Europa und USA, JURA 1984,169 ff., 171. 61 Vgl. Waechter, Das Sicherheitsrecht in der Krise, Der Staat 1988, 393 ff., 409 f.

IV. Ziel, Gegenstand und Gang der Untersuchung

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dargelegt - und hier nicht weiter aufzuklären 62 -, daß es fur die Verbesserung von Aufklärungschancen wirksamer polizeilicher Methoden und entsprechender gesetzlicher Ermächtigungen bedarf. Überhaupt besteht das grundsätzliche Dilemma aller Überlegungen zu den Möglichkeiten einer rechtsstaatlichen Kontrolle polizeilicher Kriminalprävention darin, daß es durchaus gute Gründe gibt, der Polizei wirksame Handlungsvollmachten zu verleihen, andererseits aber die unkontrollierte Registrierung, Überwachung sowie Informationssammlung und -Verarbeitung aus Gründen eines effektiven Grundrechtsschutzes nicht grenzenlos hingenommen werden kann. Wenn es danach gleichzeitig sowohl für mehr polizeiliche Befugnis als auch für deren wirksame Begrenzung überzeugende Gründe gibt, liegen die Möglichkeiten der rechtlichen Kontrolle in dem, was als kontrollfahiges rechtliches Substrat den Gesetzen und Gesetzgebungsvorschlägen für ein neues informationelles Polizeirecht entnommen werden kann.

IV. Ziel, Gegenstand und Gang der Untersuchung

Die Ziele dieser Untersuchung bestehen deswegen darin, die Eigenart der neuen Eingriffsbefügnisse im Zusammenhang mit ähnlichen, auf die Steuerung von Risiken zugeschnittenen Rechtsnormen in anderen Bereichen des Sicherheits- und Ordnungsrechts herauszuarbeiten und anschließend die Kontrollmöglichkeiten zu identifizieren, die verfassungsrechtlich geboten sind, wenn die klassischen Instrumente der rechtsstaatlichen Kontrolle an Effektivität verlieren, weil die Justitiabilität dieser Rechtsnormen entscheidend eingeschränkt ist. Im ersten Teil der Arbeit werden die Grundzüge und Strukturen des neuen Informationserhebungsrechts der Polizei vorgestellt, zunächst die ausdrücklich formulierte Aufgabenstellung zur Kriminalprävention und dann die neuen polizeilichen Eingriffsbefugnisse sowie die sie ergänzenden datenschutzrechtlichen Regelungen. Damit wird zugleich der Gegenstand dieser Untersuchung in zweifacher Hinsicht begrenzt: erstens dadurch, daß für alle anschließenden Überlegungen nur diejenigen Informationsbefügnisse ausgewählt werden, die in der Form einer Direkterhebung bei oder im Umfeld von Betroffenen erfolgen. Ausgespart werden hingegen diejenigen Ermächtigungen, die eine in diesem Sinne indirekte Erhebung darstellen: automatisierte AbrufVerfahren, Datenabgleich und andere Formen der Generierung neuer Informationen durch die Kombination vorhandener Daten. Nicht, daß nicht 62

Näheres dazu unter Β Π.

32

Α. Einleitung

auch durch diese Formen der Informationsgewinnung freiheitsgefahrdende Wirkungen erwartet werden müßten. Ganz im Gegenteil entfalten sich darin gerade die spezifischen Gefahren elektronischer Verarbeitung von personenbezogenen Daten. M i t den fortgeschrittenen Möglichkeiten elektronischer Datenverarbeitung können auch aus harmlosen Einzelinformationen durch deren Zusammenfiihrung mit weiteren Daten ganz neue Personenbilder entstehen, die zudem den Einflußmöglichkeiten der Betroffenen entzogen sind. Auch diese "Datenerhebung" vollzieht sich ohne Wissen der Betroffenen, auch sie bedarf der wirksamen Kontrolle. Die indirekten Erhebungsformen sind jedoch Gegenstand spezifisch datenschutzrechtlicher Konzepte, die hier nicht weiter behandelt werden 63 . Der Grund dieser Beschränkung liegt in den Möglichkeiten einer genaueren Analyse derjenigen Befugnisse, mit denen das polizeiliche Handeln auf der operativen Ebene neu ausgestattet werden soll. Zweitens wird die Untersuchung nochmals begrenzt auf die Befugnisse zur heimlichen oder verdeckten "Direkterhebung" für den Zweck vorbeugender Verbrechensbekämpfung. Außer Betracht bleiben deshalb die Möglichkeiten zur offenen Datenerhebung und zur Datenerhebung für die Fälle der Gefahrenabwehr 64 . Der Sinn dieser Einschränkung liegt auch hier in der dadurch möglichen, isolierenden Hervorhebung der operativen Erhebungsphase und den in diesem Stadium polizeilichen Handelns bestehenden rechtlichen Kontrollmöglichkeiten. Insofern ist damit auch eine Vorentscheidung für den Zusammenhang von Informationserhebung und (weiterer) Datenerhebung getroffen. Anders als in der Mehrzahl der bisherigen Untersuchungen und Darstellungen zu dem neuen Informationsrecht der Polizei wird hier nicht davon ausgegangen, daß eine Kompensation für weitreichende Befugnisse zui Datenerhebung durch betroffenenfreundliche Datenschutzrechte am Ende der Datenverarbeitungsphasen stattfinden kann. Dieser Grundsatz muß gerade dort an Effektivität verlieren, wo die Informationsbeschaflung in verdeckter Form geschieht und der Natur der Sache nach auch später nach Möglichkeit geheimgehalten werden muß. Wenn das die neue operative Grundlage der polizeilichen Informationsbeschaflung ist, dann kann ein auch nur annähernd äquivalenter Ausgleich für schwere Grundrechtseingriffe nach Erhebung, Speicherung und Verarbeitung gar nicht zugelassen werden. Mitteilungspflichten oder Auskunftsansprüche müssen dann davon abhängig gemacht werden, daß eine Gefahrdung der polizeilichen Informationsarbeit nicht (mehr) befürchtet werden darf. Dieser Grundsachverhalt verdeckter Informationserhebungen zwingt zu der umgekehrten Perspektive, daß nur möglichst restriktive Erhebungsbe63

Vgl. dazu aber Denninger, Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, in: Hohmann (Hrsg.), Freiheitssicherung durch Datenschutz, 1987, S. 127 ff. Vgl. auch schon Schling Die Amtshilfe, 1982, S. 45 ff 64 Vgl. dazu Kowalczyk, Datenschutz im Polizeirecht, 1989, S. 78 ff.

IV. Ziel, Gegenstand und Gang der Untersuchung

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fugnisse verliehen werden - und erst dann die ohnehin vermindert leistungsfähigen Datenschutzrechte auf Auskunft, Sperrung und Löschung gespeicherter Daten eingesetzt werden. Im Anschluß an die Darstellung der Aufgaben und Befugnisse sowie der Ziele und Befürchtungen, die sich mit dem neuen Informationsrecht für die Polizei verbinden, werden die vorgeschlagenen Eingriffsbefugnisse mit den Begriffen des Gefahrenrechts, des strafprozessualen Tatverdachts und den Eingriffsvoraussetzungen nach dem "Gesetz zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses" (G10) verglichen. Unterschiede und Parallelen legen den Verdacht nahe, daß im Polizeirecht nun von der klassischen Gefahrendogmatik umgestellt wird auf die rechtliche Erfassung von sozialen Risiken. Im Vergleich mit verwandten Regelungen aus dem Geheimdienstund Verfassungsschutzrecht, dem Umwelt- und dem technischen Sicherheitsrecht sowie den bereits vorhandenen Ansätzen im Polizeirecht werden die Versuche ausgewertet, die Begriffe von Gefahr und Risiko deutlicher zu trennen. Die vergleichende Übersicht zeigt, daß die Entwicklung zu Risiko und Vorsorge in ganz unterschiedlichen rechtlichen Regelungsbereichen ähnlich verläuft und vergleichbare Probleme aufwirft. Die neu entstehenden Probleme sind die der angemessenen Kontrolle von Vorsorgenormen. Die neuen Formulierungen zu den Eingrififsschwellen des informationellen Polizeirechts scheinen das zentrale Kernstück rechtsstaatlicher Kontrolle, den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, als Einzelfallkorrektiv systematisch zu ruinieren. Es ergibt sich jedenfalls die manifeste Tendenz, daß durch die Verwendung von Vorsorgenormen weniger Einzelfallkontrolle bewirkt wird, im Gegenzug aber mehr (verwaltungs-)politische Risikobeurteilungen verlangt werden. Für die Verhältnismäßigkeit verdeckter Ermittlungen nach den neuen Eingriflfsbefügnissen wird diese Entwicklungsrichtung im Zusammenhang mit dem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung näher dargestellt und werden die datenschutzrechtlichen Kontrollchancen bewertet. Im vierten Teil der Arbeit schließen sich Überlegungen zu den gesetzgeberischen Verpflichtungen bei der Normierung gefahrenunabhängiger Eingriffsbefugnisse für die Polizei an. Die Grundüberlegung besteht darin, daß vorverlagerte polizeiliche Datenerhebungsbefugnisse wegen der geringen materiellen Kontrollfähigkeit im Einzelfall verfassungsrechtlich nur dann hingenommen werden können, wenn es bereits auf der Ebene des Gesetzes zu ausreichend deutlichen Regelungen für die materiellen und verfahrensrechtlichen Bedingungen verdeckter Informationserhebungen kommt. Der maßgebliche Ansatzpunkt dafür ergibt sich aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 3 Neumann

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Α. Einleitung

zu der Verpflichtung des Gesetzgebers, das Wesentliche einer Regelungsmaterie selbst festzulegen. Inhalt und Umfang des Parlamentsvorbehalts werden dargestellt und daraus Gesichtspunkte für die wesentlichen und verhältnismässigen Darlegungen des Gesetzgebers im Gesetz selbst gewonnen. Eine wichtige Erkenntnis ist, daß die gesetzliche Regelung materiell soweit wie möglich verhindern muß, der Verwaltung und also auch der Polizei eine kaum noch kontrollfähige Entscheidungsbefugnis über den Einsatz polizeilicher Mittel zur heimlichen Informationsbeschaflüng zu übertragen. Wenn die im Rahmen gesetzgeberischer Verhältnismäßigkeitsüberlegungen materiell definierten Grenzen gleichwohl keine ausreichenden Kontrollmöglichkeiten sichern, dann ist durch verfahrensrechtliche Lösungen sicherzustellen, daß die bewirkten Grundrechtseingriffe maßvoll ausfallen. Wird allerdings das Maß des Eingriffs nicht nur materiell, sondern durch Verfahrensregeln definiert, dann ergibt sich daraus die Schlußfolgerung, daß die Entscheidung über den Einsatz präventiver polizeilicher Erkenntnismittel nicht allein durch die Polizeibehörden selbst getroffen werden darf. Man hat dann davon auszugehen, daß die - nach Eingriffsintensitäten abgestuften - Entscheidungen so angelegt werden müssen, daß in irgendeiner Form auch das Vermeidungsinteresse von Betroffenen repräsentiert ist. Für die Lösung dieser Probleme ist der Gesetzgeber nicht auf die klassische Figur des Richtervorbehalts festgelegt, sondern hat die rechtspolitische Wahl unter mehreren Möglichkeiten.

Β. Das neue Polizeirecht zur verdeckten Informationserhebung Die Darstellung, Analyse und Beurteilung der neuen Regelungen fiir das Informationsrecht der Polizei soll wegen dessen Mustercharakters den Vorschlägen des VE ME PolG folgen. Die neuen Polizeigesetze und die Gesetzgebungsvorschläge in den Bundesländern orientieren sich an dessen Regelungen. Soweit zwischen den Vorschlägen aus dem VE ME PolG und einzelnen Landespolizeigesetzen deutliche Abweichungen bestehen, werden sie an den geeigneten Stellen besonders erwähnt.

I. Aufgabe und Befugnisse Die Motive der Verfasser des VE ME PolG sind bereits in dem ersten Entwurf vom 31. Oktober 1984 ausfuhrlich mitgeteilt und danach nur noch leicht verändert worden. Der Ausgangspunkt aller Überlegungen ist, daß nach den durch das verfassungsgerichtliche Urteil zum Volkszählungsgesetz 1983 gesteigerten Voraussetzungen an die verfassungsrechtliche Zulässigkeit gesetzlicher Regelungen für staatliche Datenerhebung und -Verarbeitung die bisher überwiegende Berufung auf die polizeiliche Generalklausel für die kriminalpräventive Informationssammlung der Polizei nicht mehr ausreiche und daher nunmehr soweit wie möglich eine konkrete Aufzählung und präzise Fassung der wichtigsten Eingriffstatbestände in einer gesetzlichen Regelung herbeizuführen sei. Für den Inhalt der materiellen Regelungen stelle der Entwurf darauf ab, "daß die Datenerhebung und -Verarbeitung der Polizei, die bislang von wenigen gesetzlichen Bestimmungen und einer Vielzahl von Verwaltungsvorschriften geregelt war, im bisherigen Umfang zur Erfüllung von polizeilichen Aufgaben erforderlich ist und deshalb auch in Zukunft in diesem Ausmaß zulässig sein muß". Und zusammenfassend heißt es: "Alle vorgesehenen Regelungen laufen daher im Prinzip auf eine gesetzliche Fixierung des 'Ist-Zustandes' hinaus" 65 . Die Autoren des VE ME PolG gehen also davon aus, daß für die schon bislang von der Polizei im Vollzugsalltag wahrgenommenen Aufga65

Vgl. Entwurf 1984 (FN 10), Begründung 3.1, S. 86.

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Β. Das neue Polizeirecht zur verdeckten Informationserhebung

ben und Tätigkeiten nur die jetzt erforderlichen ausdrücklichen gesetzlichen Formulierungen nachgereicht werden sollen.

1. Die Aufgabe der Vorbeugenden Verbrechensbekämpfung Folgerichtig wird zunächst eine erweiterte Aufgabenbeschreibung für die Polizei als notwendig erachtet. In der Ergänzung des klassischen materiellen Polizeibegriffs aus § 1 Abs. 1 M E PolG 6 6 wird für die Aufgabenstellung der Polizei bestimmt: "Sie hat im Rahmen dieser Aufgabe auch für die Verfolgung von Straftaten vorzusorgen und Straftaten zu verhindern (vorbeugende Bekämpfung von Straftaten) sowie Vorbereitungen zu treffen, um künftige Gefahren abwehren zu können (Vorbereitung auf die Gefahrenabwehr)" 67. In der Begründung zu dieser nun ausdrücklich erweiterten Aufgabenbestimmung wird eingeräumt, daß der Bereich "Vorbeugende Bekämpfung von Straftaten" besondere Darlegungsschwierigkeiten bereitet: "Er wird traditionsgemäß als Unterfall der Gefahrenabwehr angesehen, aber die klassischen Begriffe wie 'konkrete Gefahr' und 'Störer' sind hierauf kaum anwendbar." Außerdem wird in der Begründung zu den einzelnen Eingriffsbefugnissen für die vorbeugende Bekämpfung von Straftaten darauf hingewiesen, daß "nicht an die Störereigenschaft anzuknüpfen (war), sondern an den Verdacht, daß zukünftig - erneut - Straftaten begangen werden. Die Wiederholungsgefahr muß nicht so zeitnah sein, daß man hier bereits von einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit i.S.d. § 8 M E PolG sprechen kann" 6 8 . Bei genauer Betrachtung werden zwei miteinander unvereinbare Begründungen für die neue Aufgabenbestimmung gegeben. Wenn es zutrifft, daß durch die Regelungen des Entwurfs bloß eine gesetzliche Fixierung des Ist-Zustandes der polizeilichen Arbeit beabsichtigt ist, dann müßten sich die Befugnisse in dem erlaubten Umfang bereits aus der polizeilichen Generalklausel und deren Bindung an die Grundbegriffe Gefahr und Störer ergeben haben. Dann aber ist es nicht nachvollziehbar, wie die "Vorbeugende Bekämpfung von Straftaten" "traditionsgemäß als Unterfall der Gefahrenabwehr angesehen" werden kann. Wenn man nun gleichwohl eine gesicherte Tradition solcher polizeilicher Aufgaben und Befugnisse begründen will, hätte die Polizei bislang auf der Grundlage der polizeilichen Generalklausel Tätigkeiten ausgeübt, die mit deren limitierenden Aufgabenzuweisungen (und in der Vergan66

Vgl. Heise/Riegel, S. 26: "Die Polizei hat die Aufgabe, Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung abzuwehren". 67 Vgl. KnieseUVahle (FN 8), Rdnr. 7. 68 Vgl. Entwurf 1984 (FN 10), Begründung 3.1, S. 86/87.

I. Aufgabe und Befugnisse

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genheit auch: Befugnisquelle) nicht verträglich waren. Die Widersprüchlichkeit der Begründung könnte nur durch die Behauptung aufgelöst werden, daß der Polizei schon nach der polizeilichen Generalklausel kriminalpräventive Tätigkeiten erlaubt waren, die nicht auf deren allgemeine Voraussetzungen, nämlich das Vorliegen einer Gefahr und die Inanspruchnahme von Störern begrenzt sein mußten. Gegenüber dieser deutlichen Begründungsunsicherheit wird im Entwurf von 1985 ohne spürbares Problembewußtsein behauptet: "Obwohl die bisherige polizeiliche Praxis nicht ohne gesetzliche Grundlage war, erscheint für Einzelfragen eine Klarstellung der Rechtslage erforderlich, um Unsicherheiten auszuräumen, die durch die Diskussion der durch das Volkszählungsurteil gebotenen Konsequenzen auch im Polizeibereich eingetreten sind" 6 9 . Auch in der Formulierung der neuen Aufgabenbeschreibung selbst läßt sich die eigenartige Undeutlichkeit in der Begründung präventiver Kriminalitätsbekämpfüng als originäre Polizeiaufgabe wiedererkennen. Im Zusammenhang gelesen wird der Polizei durch § 1 Abs. 1 ME PolG in der Fassung des VE ME PolG die Aufgabe zugewiesen, im Rahmen der Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung auch für die Verfolgung von Straftaten vorzusorgen und Straftaten zu verhüten (vorbeugende Bekämpfung von Straftaten). Anders als diese zusammenfassende Formulierung nahelegt, sollen die dann folgenden, noch besonders geregelten Eingriffsbefügnisse aber gerade nicht an die klassische Gefahrenlage gebunden sein. Nach der Begründung des Entwurfs ist die Lösung der Eingriffsbefugnisse vom Gefahrenbegriff umgekehrt gerade die betonte Absicht der Verfasser. Auch hier legt die auffällig unpräzise Formulierung der Aufgabenbeschreibung die Vermutung nahe, daß die neu geregelten Polizeibefügnisse - namentlich für verdeckte Informationserhebungen - als zwangloser Ausdruck der schon bislang von der Polizei in der präventiven Kriminalitätsbekämpfüng wahrgenommenen Aufgaben erscheinen sollen. Was die bemerkenswert unschlüssige Begründung im VE ME PolG zur neuen Aufgabenbeschreibung vermissen läßt, wird an anderer Stelle 70 aber nachgeholt. Es kann darauf verwiesen werden, daß schon in einzelnen Regelungen des M E PolG 7 1 und ausdrücklich in der Aufgabenzuweisung des dort

69

Vgl. Entwurf 1985 (FN 11 ), Begründung 3.1, S. 50. Vgl. z.B. Kniesel, ZRP 1987, 377, 380 f.; ders.IVahle, DÖV 1987, 953, 955; Knemeyer, Polizei- und Ordnungsrecht, 3. Aufl. 1989, Rdnr. 63 f. 71 Vgl. § 10 Abs. 1 Nr. 2 ME PolG 1977, wonach die Polizei erkennungsdienstliche Maßnahmen auch dami vornehmen kann, wenn "dies zur vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten erforderlich ist, weil der Betroffene verdächtig ist, eine Tat begangen zu 70

38

Β. Das neue Polizeirecht zur verdeckten Informationserhebung

ausgearbeiteten Alternativentwurfs 72 die vorbeugende Bekämpfung von Straftaten als eine mit der Gefahrenabwehr verbundene polizeiliche Aufgabe betrachtet wird und auch sonst generelle Bedenken nicht erhoben werden 73 . Diese Übereinstimmung wird sodann mit der dogmatischen Überlegung abgestützt, daß dem Polizei- und Ordnungsrecht überhaupt ein Begriff allgemeiner Gefahr zugrundeliege, auf den ehedem polizeiliche Informationseingriffe im kriminalpräventiven Bereich sich hätten stützen lassen 74 . Schließlich wird insoweit auch auf einschlägige Rechtsprechung 75 hingewiesen. Der Streit, ob nun generell eine neue Aufgabenbestimmung fur die Polizei eingeführt wird oder nicht, muß an dieser Stelle nicht weiter verfolgt werden 7 6 . Es braucht hier nur festgehalten zu werden, daß es sich um eine Aufgabenzuweisung handelt, die sich ganz an die schon im ME PolG systematisch durchgeführte Trennung von Aufgabenbeschreibung und Befugnisnormen hält. Sie soll und kann also keine zusätzlichen Eingriffsbefugnisse einräumen, die als Eingriffe in die rechtlich geschützte Sphäre von Betroffenen gewertet werden müssen. Das schließt nach gefestigtem Verständnis nicht aus, daß der Aufgabenbeschreibung eine grundsätzliche Legitimation für schlicht-hoheitliche Handlungen der Polizei entnommen werden kann. Soweit überhaupt erforderlich, kann damit die reine Aufgabenzuweisung, z.B. der tägliche Streifendienst, überhaupt Präsenz, Beratungsprogramme und erzieherische Veranstaltungen gerechtfertigt werden. Erst wenn die Schwelle zum "Eingriff" überschritten wird, bedarf es der ausdrücklichen gesetzlichen Ermächtigung in ei-

haben, die mit Strafe bedroht ist und wegen der Art und Ausführung die Gefahr der Wiederholung besteht", vgl. dazu auch die Begründung bei Heise/Riegel, S. 52 f. 72 Besonders deutlich: § 11 Abs. 1 Nr. 2 AE PolG, wonach die Polizei personenbezogene Informationen erheben und Personen befragen darf "zur vorbeugenden Bekämpfung der in § 100a StPO sowie der in §§ 243, 260, 263 bis 266 StPO genannten Straftaten, wenn dies aufgrund tatsächlicher Anhaltspunkte erforderlich ist"; vgl. Arbeitskreis Polizeirecht (Hrsg.), Alternativentwurf einheitlicher Polizeigesetze des Bundes und der Länder, 1979, S. 53 (mit Begründung S. 53 ff.). Vgl. dort auch §§ 12 Abs. 2 (Erstellen von Persönlichkeitsprofilen), 16 Abs. 2 (Erkennungsdienstliche Maßnahmen), jeweils zur vorbeugenden Verbrechensbekämpfung. 73 Vgl. Denninger, KJ 1985, 234; Riegel, Polizei- und Ordnungsrecht in der Bundesrepublik Deutschland, 1981, S. 5; Simitis, NJW 1986, 2798; Wellbrock, CR 1986, 153 ff. 74 So die von den anderen Autoren nicht geteilte Ansicht von Kniesel, der zusätzlich die Figur des Gefahrensverdachts heranzieht; dazu näher unten S. 48 tf. Vgl. dazu auch die Unterscheidung zwischen allgemeiner, abstrakter und konkreter Gefahr bei Kowalczyk, Datenschutz im Polizeirecht, 1989, S. 93 ff. 75 So auch BVertOE 26, 169 ff.; BayVerfGH, NJW 1984, 2235 tf.; OVG Berlin, NJW 1986, 2004; OVG, NW, DVR 1984, 373 ff. 76 Vgl. hier nur Peitsch, Die Polizei 1990, 213 ff. und Ring, StrafV 1990, 372 ff.

I. Aufgabe und Befugnisse

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ner speziellen Beftignisnorm 77 . Eine ganz andere Frage ist es, ob die Polizei schon nach bisherigem Gefahrenabwehrrecht Befugnisse zur verdeckten Informationserhebung in dem jetzt vorgesehenen Umfang besaß. Die Antwort darauf kann aber erst nach einer gründlichen Untersuchung der vorgeschlagenen Befugnisnormen gegeben werden 78 . In der Zuständigkeitsregelung fur die Aufgabe "Vorbeugende Bekämpfung von Straftaten" geht die Regelung in § la VE ME PolG schließlich noch einen ungewöhnlichen Weg. Diese Regelung modifiziert das klassische polizeirechtliche Subsidiaritätsprinzip, wonach die fachlich differenzierten Ordnungsbehörden grundsätzlich für die Gefahrenabwehr in ihrem Bereich zuständig sind, die Polizei dagegen nur in den Fällen besonderer Eilbedürftigkeit. Nunmehr soll dieses Subsidiaritätsprinzip für die Gelegenheiten zur vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten entfallen, "obwohl es sich regelmäßig nicht um Eilfalle handelt, in denen sie tätig w i r d " 7 9 . Die danach vorgesehene Allzuständigkeit der Polizei für präventive Kriminalitätsbekämpfung wird mit der durch ihre Aufgabenstellung im repressiven Bereich erworbenen besseren Sachkunde und operativen Erfahrung begründet 80 . Diese Begründung ist auch offenkundig ebenso plausibel wie konsequent. Wenn schon die "Vorbeugende Bekämpfung von Straftaten" als genuine Polizeiaufgabe qualifiziert wird, dann liegt der Verzicht auf die bloß subsidiäre Zuständigkeit nahe, um diesen Operationsbereich vollständig bei den sachnahen Polizeibehörden zu konzentrieren.

2. Befugnisse Die in den §§ 8a-d VE ME PolG aufgeführten neuen Eingriffsbefugnisse entsprechen generell der neugefaßten und expandierenden Aufgabenzuweisung für die Polizei. Die bereits festgestellte Inkongruenz zwischen der klassischen Aufgabe Gefahrenabwehr und der "Vorbeugenden Verbrechensbekämpfung" erhält sogar durch die Neufassung von § 8 Abs. 1 ME PolG zusätzlichen Ausdruck. Nach dieser Regelung kann die Polizei die notwendigen Maßnahmen treffen, "um eine im einzelnen Falle bestehende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung (Gefahr) abzuwehren, soweit nicht die §§ 8a bis 24 die Befugnisse der Polizei besonders regeln". Diese Formulierung dient zunächst der systematischen Trennung zwischen einer allgemeinen Gefahrenabwehrbefugnis und den speziellen Befugnisnormen. Im Licht der neuen Aufgabenzuweisung betrachtet, wird durch die Formulierung aber auch zusätzlich 77 78 79 80

Vgl. Kneymeyer (FN 63), Rdnr. 61 ff. 101 ff. Vgl. dazu unten S. 55 ff Entwurf 1985 (FN 11), Begründung zu § la, S. 52. Ebenda.

40

Β. Das neue Polizeirecht zur verdeckten Informationserhebung

die Möglichkeit offengehalten, daß die polizeiliche Tätigkeit nicht an den Gefahrenbegriff gebunden ist. Denn diese Bindung besteht eben nur soweit; als nicht die nachfolgend aufgeführten Einzelbefugnisse etwas anderes ergeben. Die Lösung der polizeilichen Datenerhebung von dem Prinzip der Gefahrenabwehr läßt sich in den Einzelvorschlägen zu den informationellen Eingriffsbefügnissen dann auch deutlich erkennen.

(1) Datenerhebung zur vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten nach § 8a Abs. 2 VE ME PolG Die Regelung in § 8a Abs. 2 VE M E PolG ist die informationsrechtliche Grundnorm zur vorbeugenden Bekämpfüng von Straftaten. Nach § 8a Abs. 2 Nr. 1 VE M E PolG kann die Polizei personenbezogene Daten von Personen erheben, bei denen Anhaltspunkte bestehen, daß sie künftig (irgendwelche) Straftaten begehen. Nach Nr. 2 dieser Vorschrift besteht diese Befugnis auch bei Kontakt- und Begleitpersonen der in Nr. 1 genannten Personen, nach Nr. 3 der Regelung schließlich können Datenerhebungen auch bei Personen erfolgen, bei denen Anhaltspunkte bestehen, daß sie Opfer von Straftaten werden, und endlich ist die Datenerhebung nach Nr. 4 der Regelung zugelassen bei Zeugen, Hinweisgebern oder sonstigen Auskunftspersonen - jeweils unter der zusätzlichen Voraussetzung, "soweit dies aufgrund tatsächlicher Anhaltspunkte erfahrungsgemäß zur vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten erforderlich ist." In den dazu (im A-Vorschlag der SPD-regierten Bundesländer) formulierten Alternativen wird der Kreis der Straftaten, zu deren vorbeugender Bekämpfüng die Datenerhebung erforderlich sein kann, durch eine katalogformige Aufzählung der in Betracht kommenden Straftaten begrenzt. Die Zählung ergibt, daß danach insgesamt 123 Straftatbestände die Datenerhebung rechtfertigen können 8 1 . Neben schweren Straftaten, namentlich denen nach dem Katalog in § 100a StPO, werden dadurch auch einfache Vermögensdelikte (einschließlich Scheckbetrug und Schwarzfahren) und die einfache Körperverletzung (§ 223 StGB), der einfache Diebstahl (§ 242 StGB) und etwa die Erregung öffentlichen Ärgernisses (§ 183a StGB) erfaßt, "wenn zu erwarten ist, daß diese Straftaten in erheblichem Umfang begangen werden". Nach dieser informationsrechtlichen Grundnorm ist der Kreis von Straftaten, zu deren vorbeugender Bekämpfüng die Erhebung personenbezogener Daten erlaubt sein kann, zwar gegenüber dem B-Vorschlag der CDU-regierten Bundesländer (wonach es jede Straftat sein kann) eingegrenzt, aber immer noch außerordentlich weit gezogen. Als Ausgleich dafür enthält die Regelung 81

Vgl. Weßlau

y

CILIP Nr. 24 (2/1986), S. 65.

I. Aufgabe und Befugnisse

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in § 8a Abs. 4 VE M E PolG den Grundsatz, daß die personenbezogenen Daten offen und beim Betroffenen zu erheben sind. Dieser Grundsatz gilt jedoch nur beschränkt. Bei anderen Behörden, bei Dritten oder verdeckt können die personenbezogenen Daten dann erhoben werden, "wenn die Erhebung bei einem Betroffenen nicht oder nur mit unverhältnismäßig hohem Aufwand möglich ist oder sonst die Erfüllung der polizeilichen Aufgabe erheblich erschwert oder gefährdet würde". Ob diese Formulierung eines Erforderlichkeitsgrundsatzes als Regel-Ausnahme-Verhältnis zwischen offener und verdeckter Erhebung allerdings einen praktikablen Regelungsinhalt hat, ob also der Grundsatz offener Erhebung im Polizeialltag durchgehalten werden kann und kontrollfähig ist, läßt sich nicht ohne weitere Untersuchung beantworten. Schon die prinzipienhafte Durchführung des Regel-Ausnahme-Verhältnisses ist in den nachfolgenden Datenerhebungsregelungen, namentlich in § 8c VE M E PolG, jedenfalls nicht hinreichend erkennbar.

(2) Datenerhebung bei öffentlichen Veranstaltungen, Ansammlungen und Versammlungen nach § 8b VE ME PolG Die im Anschluß an die informationsrechtliche Grundnorm vorgeschlagene Regelung in § 8b VE M E PolG befaßt sich mit der Zulässigkeit polizeilicher Datenerhebung bei öffentlichen Veranstaltungen, Ansammlungen und Versammlungen. Nach dessen Absatz 1 ist zunächst nur eine gefahrennahe Regelung beabsichtigt. Die Erhebung personenbezogener Daten ist bei oder im Zusammenhang mit öffentlichen Veranstaltungen und Versammlungen (soweit sie nicht dem Versammlungsgesetz unterliegen) zulässig, "soweit tatsächliche Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen, daß Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung entstehen". Die danach angesammelten Informationen sind spätestens zwei Monate nach Ablauf der Veranstaltung oder Ansammlung grundsätzlich zu vernichten, es sei denn, daß sie im Einzelfall zur vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten mit erheblicher Bedeutung (nach dem A-Vorschlag: Straftaten unter den Voraussetzungen des § 8a Abs. 2) erforderlich sind. Die Regelung kombiniert danach gefahrenvorsorgende Datenerhebung und vorbeugende Bekämpfung von Straftaten mit dem Ergebnis, daß die ursprünglich zur Gefahrenvorsorge erhobenen Daten zu Kriminalpräventionsdaten werden, wenn sie zur vorbeugenden Bekämpfüng von Straftaten mit erheblicher Bedeutung (oder nach dem Katalog des § 8a Abs. 2) erforderlich sind. Für die öffentlichen Versammlungen im Sinne des Versammlungsgesetzes soll die Polizei nach § 8b Abs. 2 VE ME PolG personenbezogene Daten bei oder im Zusammenhang mit öffentlichen Versammlungen erheben können,

42

Β. Das neue Polizeirecht zur verdeckten Informationserhebung

wenn tatsächliche Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen, daß erhebliche Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung entstehen. Gegenüber dieser generell auf Gefahrenvorsorge zielenden Regelung wird im A-Vorschlag einschränkend auf tatsächliche Anhaltspunkte dafür abgestellt, ob bei oder im Zusammenhang mit der öffentlichen Versammlung Straftaten begangen werden. Speziell die Anfertigung von Bild- oder Tonaufzeichnungen soll nur zulässig sein, wenn tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, daß die Begehung einer Straftat unmittelbar bevorsteht. Ist die erwartete Qualifizierung (Störung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung im B-Vorschlag, Straftat nach dem A-Vorschlag), ausgeblieben, sind die Unterlagen jeweils nach Beendigung der Versammlung unverzüglich zu vernichten.

(3) Besondere Formen der Datenerhebung nach § 8c VE ME PolG Das eigentliche Zentralstück der neuen polizeilichen Eingriffsbefugnisse ist die Vorschrift des § 8c VE M E PolG mit den dort geregelten "besonderen Formen der Datenerhebung". Die in § 8c Abs. 2 genannten "besonderen Mittel" umfassen die längerfristige Observation, den verdeckten Einsatz technischer Mittel (vor allem von Bild- und Tonaufzeichnungsgeräten) sowie den Einsatz verdeckter Ermittler (d.h. den unter einer Legende im kriminellen Milieu eingesetzten Polizeibeamten) und sog. V-Personen (Personen, deren Zusammenarbeit mit der Polizei Dritten nicht bekannt ist). Die Anlaßdelikte für den Einsatz der "besonderen Mittel" zur vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten werden (ohne Differenz zwischen A- und B-Vorschlag) in § 8c Abs. 1 Nr. 2a und b katalogformig und in zwei Abstufungen aufgeführt. Nach Nr. 2a berechtigen die in § 100a StPO sowie die in den §§ 176 bis 181a, 243, 244, 260, 263 bis 265, 266 und 324 bis 330a StGB genannten Straftaten zur Erhebung der Informationen, wenn tatsächliche Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen, daß eine dieser Straftaten begangen werden soll. Nach Nr. 2b können es dann aber auch alle anderen Straftaten sein, wenn nur tatsächliche Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen, daß die Straftat gewerbsmäßig, gewohnheitsmäßig oder von Banden begangen werden soll. Wenn danach die Datenerhebung erforderlich und ohne Gefährdung der Aufgabenerfüllung auf andere Weise nicht möglich ist und schließlich die Maßnahme auch nicht außer Verhältnis zu der Bedeutung des aufzuklärenden Sachverhalts steht, erfolgt die Anordnung der Maßnahme entweder durch den Behördenleiter, den Leiter der Dienststelle oder einen von ihm beauftragten Beamten (bei Gefahr im Verzug durch jeden Beamten).

I. Aufgabe und Befugnisse

43

Eine spezielle Regelung für die polizeiliche Datenerhebung mit besonderen Mitteln in oder aus Wohnungen enthält § 8c Abs. 3. Personenbezogene Daten dürfen (nach dem B-Vorschlag) nur erhoben werden, wenn dies zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr für Leib und Leben oder Freiheit einer Person oder erhebliche Sach- und Vermögenswerte unerläßlich ist. Der A-Vorschlag beschränkt diesen Eileinsatz auf die gegenwärtige Gefahr für Leib oder Leben einer Person. Der verdeckte Einsatz technischer Mittel darf außer bei Gefahr im Verzug nur durch den Richter angeordnet werden,es sei denn, daß der Einsatz ausschließlich zur Abwehr einer Gefahr für Leib oder Leben der bei einem polizeilichen Einsatz in der Wohnung tätigen Personen erfolgt, ohne daß technische Aufzeichnungen angefertigt werden. Die Eingriffsvoraussetzung "gegenwärtige Gefahr" soll insoweit ausschließen, daß die Erhebung personenbezogener Daten mit besonderen Mitteln in oder aus Wohnungen auch für kriminalpräventive Zwecke erfolgen darf. Freilich bleibt es bei der Möglichkeit verdeckter Erhebung ohne besondere Mittel nach der Grundregelung in § 8a Abs. 4. Die nach § 8c Abs. 3 gesammelten Informationen können im Rahmen des Datenabgleichs nach § 10e (Abgleich mit dem Inhalt anderer polizeilicher Dateien) zu Kriminalpräventionsdaten werden.

(4) Polizeiliche Beobachtung nach § 8d VE ME PolG Die Reihe der neuen polizeilichen Informationserhebungsbefugnisse endet mit der Regelung in § 8d VE M E PolG über die Zulässigkeit der Polizeilichen Beobachtung. Damit soll die ursprünglich bloß in einer Polizeidienstvorschrift (PDV 384.2) geregelte früher sogenannte Beobachtende Fahndung gesetzlich abgesichert werden. Zur vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten kann danach die Polizei die Personalien oder das amtliche Kennzeichen des benutzten oder eingesetzten Kraftfahrzeugs von Personen nach § 8a Abs. 2 Nr. 1 (Personen, bei denen Anhaltspunkte bestehen, daß sie künftig Straftaten begehen) in einer Datei speichern, damit andere Polizeidienststellen das Antreffen der Person oder ihres Fahrzeugs bei der Gelegenheit einer Überprüfung aus anderem Anlaß melden können. Mitgeführte Sachen, Begleitpersonen und andere relevante Umstände werden von dieser Meldung erfaßt. Bei entsprechender Kontrollhäufigkeit werden Bewegungs- und Kontaktbilder über die Zielpersonen erwartet. Die Anordnung der Maßnahme durch entweder den Behördenleiter, den Leiter der Dienststelle oder einen Beamten des höheren Dienstes (nach dem A-Vorschlag: durch den Richter) ist zulässig, soweit entweder die Gesamtwürdigung der Person und ihre bisherigen Straftaten erwarten lassen, daß sie auch künftig Straftaten von erheblicher Bedeutung begehen wird, oder tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, daß die Person in nicht unerhebli-

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Β. Das neue Polizeirecht zur verdeckten Informationserhebung

chem Umfang Straftaten aus dem Katalog in § 8c Abs. 2 Satz 1 Nr. 2a oder nach § 47a AuslG begehen wird. Im Anschluß an diese informationellen Eingriffsbefugnisse der Polizei für den Bereich der vorbeugenden Verbrechensbekämpfung werden insgesamt acht datenschutzrechtliche Regelungen vorgeschlagen, die hier wegen der Konzentration auf die Erhebungsphase nur im Überblick wiedergegeben werden: - Datenspeicherung, -Veränderung, -nutzung sowie Vorgangsverwaltung und Dokumentation (§§ 10a, 10b); - Datenübermittlung, automatisiertes Abrufverfahren und Datenabgleich (§§ lOc-f); - Berichtigung, Löschung und Sperrung von Daten (§ 10g); - Voraussetzungen für die Errichtungsanordnung zu einer automatisierten Datei des Polizeivollzugsdienstes (§ 10h). Der Überblick zu den vorgeschlagenen Neuregelungen ergibt trotz einer im Detail umständlichen oder doch unübersichtlichen Verweisungstechnik einen festen Kern der tatbestandlichen Struktur in den informationsrechtlichen Eingriffsbefugnissen. Nach dem Ausgangstatbestand der informationsrechtlichen Grundnorm für präventive Kriminalitätsbekämpfung in § 8a Abs. 2 Nr. 1 können personenbezogene Daten unter zwei Grundvoraussetzungen erhoben werden. Es muß sich erstens um Personen handeln, bei denen Anhaltspunkte bestehen, daß sie künftig (beliebige oder in einem Katalog aufgezählte) Straftaten begehen, und die Erhebung muß zweitens "aufgrund tatsächlicher Anhaltspunkte erfahrungsgemäß zur vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten erforderlich" sein. Für die Befugnis zur verdeckten Informationserhebung kommt hinzu, daß diese zulässig ist, wenn ansonsten unverhältnismäßig hoher Aufwand oder die erhebliche Erschwerung oder Gefahrdung der Erfüllung polizeilicher Aufgaben zu besorgen ist. Dieselbe Tatbestandsstruktur begegnet dann auch bei den besonderen Formen der Datenerhebung nach § 8c Nr. 2. Wiederum ist danach die (jetzt von vornherein verdeckte) Datenerhebung erlaubt, wenn es sich einerseits um Personen handelt, bei denen Anhaltspunkte bestehen, daß sie künftig Straftaten begehen, und andererseits für dort aufgezählte Katalogtaten, wenn tatsächliche Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen, daß eine dieser Straftaten begangen werden soll; bei allen anderen Straftaten, wenn tatsächliche Anhalts-

I. Aufgabe und Befugnisse

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punkte die Annahme rechtfertigen, daß die Straftat gewerbsmäßig, gewohnheitsmäßig oder von Banden begangen werden soll und die Erhebung zur vorbeugenden Verbrechensbekämpfung erforderlich ist. Auf den kürzest möglichen Ausdruck zusammengezogen lautet demnach die tatbestandliche Grundstruktur der neuen polizeilichen Befugnisse zur verdeckten Informationserhebung: Die verdeckte polizeiliche Erhebung personenbezogener Daten ist zulässig, wenn tatsächliche Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen, daß künftig Straftaten bestimmter oder unbestimmter Art begangen werden. Zur tatbestandlichen Grundstruktur gehört demgegenüber nicht die Einschränkung der Informationserhebung auf Personen, bei denen Anhaltspunkte für die künftige Begehung von Straftaten bestehen, weil der Informationseingriff sich stets auch gegen deren Kontakt- oder Begleitpersonen richten kann. Auffallig ist auch, daß mit Ausnahme der Regelung in § 8c Abs. 1 Nr. 1 (Polizeiliche Beobachtung) für die Zulässigkeit polizeilicher Datenerhebung zu kriminalpräventiven Zwecken nicht vorausgesetzt wird, daß die betroffenen Personen bereits Straftaten begangen haben und auf diese Weise das Gefahrlichkeitsurteil im Hinblick auf künftige weitere Straftaten mit Erfahrungswissen aus der Vergangenheit abgestützt würde. Für den Umfang der polizeilichen Eingriffsbefiignisse zur verdeckten Informationserhebung ist schließlich festzustellen, daß alle Eingriffsbefugnisse ihrem Wortlaut nach als Ermessensvorschriften ausgestaltet sind und demnach erwartet werden kann, daß die herkömmlichen Grundsätze zur richtigen Ermessensausübung im Polizeirecht 82 für den Einzelfall heranzuziehen sind. Ob sich aus dieser Maßgabe greifbare Kriterien für die Entscheidung über die Rechtmäßigkeit verdeckter polizeilicher Informationserhebungen entwickeln lassen, bleibt der weiteren Untersuchung vorbehalten. Immerhin dürfte bereits durch den Überblick zu den neuen informationellen Eingriffsbefugnissen der Polizei deutlich geworden sein, daß im Vergleich zur traditionellen Eingriffsstruktur im Polizeirecht erhebliche Änderungen beabsichtigt oder bereits in die novellierten Landespolizeigesetze aufgenommen worden sind. Vor einer genaueren Analyse der veränderten tatbestandlichen Eingriffsstruktur im informationellen Polizeirecht soll nun zunächst ein Blick auf die generellen Zielsetzungen, aber auch auf die bisher geäußerten Bedenken geworfen werden.

82

Vgl. dazu nur Drews! Wackel Vogel/Martens, S. 370 ff.

Gefahrenabwehr, 9. Aufl. 1986,

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Β. Das neue Polizeirecht zur verdeckten Informationserhebung

II. Ziele und Befürchtungen Die dargestellten Neuregelungen dienen aus der Sicht der Verfasser des VE M E PolG lediglich der erforderlichen ausdrücklichen gesetzlichen Regelung des Ist-Zustandes der Polizeiarbeit. Darüber hinaus werden von den Befürwortern der neuen Eingriffsbefugnisse wichtige Gründe auch für die Notwendigkeit der bisherigen informationellen Polizeitätigkeit zur präventiven Kriminalitätsbekämpfung geltend gemacht. An erster Stelle steht die Annahme, daß eine in ihrer Infrastruktur veränderte Kriminalität "letztlich weder repressiv noch präventiv hinreichend bekämpft werden (kann). Sie muß vielmehr operativ angegangen werden. Oberstes Ziel der Sicherheitsbehörden ist es, schon die Ausgangsbasis und die Logistik entsprechender organisierter Kriminalität aufzuspüren und entweder im ersten Entstehungsstadium sehr rasch zu zerschlagen oder aber bei einer schon fortgeschrittenen, weitreichenden Verwurzelung erst nach sorgfaltiger Abklärung aller Verflechtungen und Beziehungen dann mit ihren Wurzeln auszuheben. Alle anderen Zielsetzungen, sowohl die Ermittlung einer einzelnen Tat als auch die Verhinderung einer einzelnen Tat, mußten im Prinzip demgegenüber zurücktreten". Und schließlich: "Diese Kriminalität läßt sich auch nicht mit den herkömmlichen Methoden kriminalpolizeilichen Arbeitens allein wirksam bekämpfen. Die Polizei muß selbst in den Untergrund gehen - sei es mit eigenen Leuten, sei es durch den Einsatz oder durch das 'Aufbohren' zuverlässiger und ergiebiger personeller Quellen sowie durch umfassende Ausschöpfung technischer Mittel" 8 3 . Im Mittelpunkt eines solchen kriminalpolitischen Präventionskonzepts für die Polizei steht das Phänomen der Organisierten Kriminalität 8 4 . Als diese Kriminalitätsform auszeichnende Merkmale gelten, daß Hintermänner nicht nach außen in Erscheinung treten, Mitwisser durch Drohungen eingeschüchtert werden, auf polizeiliche Überwachung flexibel reagiert, moderne Infrastrukturen genutzt und schließlich sogar Verteidigerkosten wie Kautionen für gefaßte Gruppenmitglieder und der Unterhalt für deren Familien übernommen werden 85 . Charakteristisch ist auch, daß es sich häufig, besonders bei der Waffen- und Drogenkriminalität, um Straftaten ohne privates Opfer, jedenfalls ohne Vorhandensein von Anzeigeerstattern handelt 86 und deshalb zwar der Verdacht auf eine Straftat, nicht aber auf einen Straftäter besteht 87 . Als bemerkenswert gilt auch, 83

So Stiimper, Organisierte Kriminalität - ein ernst zu nehmendes Problem, in: Lüderssen (Hrsg.), V-Leute. Die Falle im Rechtsstaat, 1985, S. 67 84 Für einen Überlick zu dieser Kriminalitätsform vgl. Schneider, JURA 1984, 169ff. Vgl. dazu auch die schon in FN 59 aufgeführten Arbeiten. 85 Vgl. dazu die Beiträge in: Schwind/Steinhilper (Hrsg.), Organisierte Kriminalität, 1987; Rebmann, NJW 1985, 2 ff.; Rogali , JZ 1987, 852 ff. 86 Vgl. Blum, DRiZ 1987, 87. 87 Vgl. Walder, ZStW 1983, 868.

II. Ziele und Befürchtungen

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daß die Form Organisierter Kriminalität nicht auf wenige typische Deliktarten beschränkt ist. In polizeilichen Auswertungen des Phänomens tauchen neben dem Drogenhandel und dem Waffengeschäft auch Falschgeldherstellung und vertrieb, Kraftfahrzeugkriminalität, Subventionsbetrug, Kapitalanlagebetrug, Produktpiraterie, Scheckdiebstahl und -hehlerei und vieles andere auf 8 8 . Der hohe Organisationsgrad dieser Kriminalitätsform fuhrt dann zu dem Schluß, daß deren Bekämpfung nur Aussicht auf Erfolg besitzt, wenn die operativen Konzepte der Polizei umgestellt oder doch erheblich erweitert werden auf den Einsatz von V-Personen, verdeckte Ermittler, besonderes technisches Gerät, auf langfristige Observation und computergestützte systematische Sammlung und Auswertung relevanter Informationen. Nach diesen Erkenntnissen wird die zentrale Zielsetzung der neuen polizeilichen Erhebungsbefugnisse formuliert. Den hohen Gefahren Organisierter Kriminalität könne nicht mehr bloß durch repressive Strafverfolgung angemessen begegnet werden: "Die Polizei ist vielmehr darauf angewiesen, unterhalb der Schwelle des konkreten Tatverdachts gegen eine bestimmte Person erkannte kriminelle 'Szenen', in denen sich potentielle Straftäter tummeln, zu beobachten, um eine sich einnistende Kriminalität in ihren Strukturen zu erkennen, übergreifende Zusammenhänge zu erfassen und durch schrittweises Sammeln von Informationen in die Lage versetzt zu werden, einen Tatverdacht zu konkretisieren" 89 . Es müsse deshalb genügen, "daß konkrete Anhaltspunkte für die Verwicklung einer Person in eine bestimmte von der Polizei erkannte kriminelle Szene vorliegen" 90 . Überhaupt könne die kriminalstrategische Dimension der exekutiven Kriminalitätsbekämpfung nur in der operativen Vorbeugung (Durchleuchtung krimineller Szenen, Erkennen von verbrechensbegünstigenden Strukturen, Feststellen von sich einnistender Verbrechenslogistik) und operativem Vorgehen durch Austrocknen krimineller Strukturen (Beseitigen von Tatgelegenheiten, Ausheben der Logistik, Abschöpfen der Gewinne) bestehen91. Um Hintermänner identifizieren zu können, dürfe der staatliche Strafanspnich zurückgestellt oder sogar ganz vernachlässigt werden, z.B. könne auf die Festnahme eines Rauschgifttransporteurs verzichtet werden, um die Strukturen der Verbrechenslogistik, insbesondere die Hintermänner zu erkennen 92 . Zur Erreichung dieser Ziele müsse auf die klassische Bindung polizeilichen Handelns an den Begriff der konkreten 88

Vgl. Sielaff.\ in: Verhältnis Staatsanwaltschaft: Polizei bei der vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten und im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (Polizeiftihrungsakademie Münster), 1989, S. 84. 89 Knie sei! Vali le, DÖV 1987, 955. 90 Kniesel, in: Bull (Hrsg.), Sicherheit durch Gesetze?, 1987, S. 105 ff., 117. 91 Vgl. ders., ebenda, S. 199. 92 Vgl. ebenda.

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Β. Das neue Polizeirecht zur verdeckten Informationserhebung

Gefahr verzichtet werden, weil in diesen Fällen regelmäßig nur eine abstrakte Gefahr bestehe. Die polizeiliche Informationssammlung müsse aber schon dann zulässig sein, wenn "tatsächliche, aus einem konkreten Lebenssachverhalt gewonnene Erkenntnisse für die Verwicklung des Betroffenen in eine bestimmte kriminelle Szene bzw. einen Gefahrensachverhalt" vorliegen 93 . Das Grundkonzept der vorgeschlagenen Erhebungsbefiignisse für die Polizei läßt sich nach den Zielvorstellungen seiner Befürworter in seinen wesentlichen Gesichtspunkten wie folgt zusammenfassen. Die veränderten Formen der Kriminalität, namentlich das Phänomen Organisierte Kriminalität, erforderten im Gegenzug polizeiliche Befugnisse zur möglichst breiten Sammlung personenbezogener Informationen bereits im Vorfeld sowohl der traditionellen polizeilichen Gefahrenabwehr wie des strafprozessualen Tatverdachts. Die erfolgreiche Bekämpfung neuer Kriminalitätsformen hänge entscheidend davon ab, daß die Polizei in die Lage versetzt wird, vorhandene kriminelle Strukturen zu durchleuchten und die Entwicklung und Verfestigung krimineller Zusammenhänge frühzeitig zu erkennen. Diesem Anliegen präventiver Kriminalitätsbekämpfung wird durch die Überlegung Ausdruck gegeben, daß die (im A-Vorschlag befürwortete) Verwendung eines Straftatenkatalogs in dem Grundtatbestand des § 8 Absatz 2 Nr. 1 VE ME PolG nicht zweckmäßig sei und sogar die Effizienz der neuen Bestimmungen gefährde 94 . Tatsächlich scheint eine Begrenzung der Befugnisse mittels eines Straftatenkatalogs nicht zweckmäßig zu sein, wenn die überwiegend vertretene Annahme zutrifft, daß Organisierte Kriminalität sich in nahezu allen Straftaten ausdrücken kann. Die Ausarbeitung und Präzisierung der neuen Regelungsvorschläge war von Anfang an allerdings auch der, teils heftigen, Kritik ausgesetzt. Diese richtet sich gegen die Formulierung und Verwendung der ausdrücklich neu aufgenommenen Aufgabenbestimmung, gegen das neue kriminalpolitische Konzept, gegen die Formulierung einzelner Befugnisnormen und gegen unzureichende Datenschutzregelungen. Obgleich die ausdrückliche Aufnahme der Aufgabenbestimmung "Vorbeugende Bekämpfung von Straftaten" selbst überwiegend akzeptiert w i r d 9 5 , hat sie doch unmittelbar einen breit geführten Streit über das Zugriffsrecht der Staatsanwaltschaften auf polizeiliche Datensammlungen 93 Kniesel/TegtmeyerlVahle, Handbuch des Datenschutzes für Sicherheitsbehörden, 1986, Rdnr. 35. 94 So Kniesel/Vahle, I)ÖV 1987, 953, 957, mit der Zusatzvermutung, daß eine Begrenzung mittels Straftatenkatalog entweder in der Praxis überhaupt nicht angenommen werde oder dann "mit dem Praxisunterschleif nachgeschobener konstruierter Begründungen gearbeitet wird". 95 Vgl. Demiinger, KJ 1985, 234; Similis, NJW 1986, 2798; Honnacker, CR 1986, 288 ff.; Bull, in: ders. (Hrsg.), S. 29.

II. Ziele und Befürchtungen

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ausgelöst 96 . Wenn die polizeilichen Datensammlungen auf einer genuin polizeilichen Befugnis zur vorbeugenden Kriminalitätsbekämpfung beruhen, dann kann die Staatsanwaltschaft einen Anspruch auf Zugang zu diesen Informationssammlungen nicht begründen. Infolgedessen ist in diesem Streit von Vertretern der Justiz darauf hingewiesen worden, daß die im Begriff der vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten zusammengefaßte Strafverfolgungsvorsorge und Straftatverhütung in einem materiellen Sinne Strafverfolgung sei, weil jedenfalls die Straftatverfolgungsvorsorge nicht auf die Verhütung von Straftaten, sondern auf deren Verfolgung ziele 97 . Dieser - bislang unerledigte Streit hat zu einem präziseren Verständnis der vorbeugenden Verbrechensbekämpfung gefuhrt. Es ist dadurch deutlich geworden, daß nicht eigentlich die Verhütung von Straftaten gemeint sein kann, sondern die vorsorgende Beschaffung von Informationen, damit künftig Straftaten effektiv verfolgt und aufgeklärt werden können. Die Verhütung zukünftiger Straftaten kann hingegen, ähnlich wie bei der Aufbewahrung erkennungsdienstlicher Unterlagen, nur insoweit erwartet werden, als registrierte Personen von Straftaten absehen, weil sie in wesentlich erhöhtem Maße mit schneller Identifizierung und Festnahme rechnen müssen. Nur anders als bei der Aufbewahrung erkennungsdienstlicher Unterlagen kann die jetzt neu geregelte Informationserhebung verdeckt erfolgen, so daß Betroffene von den über sie gespeicherten Daten grundsätzlich keine Kenntnis haben - und folglich auch eine Abschreckungswirkung nicht eintreten kann. Man müßte sonst schon annehmen, daß die Präventivwirkung bereits von der Existenz entsprechender Befugnisnormen ausgehen könne. Insoweit kann aber nicht mehr vorbeugende Wirkung erwartet werden, als diese auch sonst durch die Existenz von gesetzlichen Eingriffsermächtigungen ausgelöst wird. Das dominierende Prinzip der vorbeugenden Verbrechensbekämpfung ist demnach das der Vorsorge für die künftige Straftatverfolgung. Eindringliche Warnungen richten sich gegen die Preisgabe der Kategorien Gefahr und Störer in dem neuen Polizeirecht 98 . Befürchtet wird die Beseiti96

Vgl. dazu hier nur Schoreic DRiZ 1986, 54 ff. und Uhlig, DRiZ 1986, 247 ff. einerseits, Kniesel/Tegtmeyer, DriZ 1986, 251 tf. andererseits. 97 Vgl. Schoreit, NJW 1985, 169 ff.; Derminger, CR 1988, 51, 54; bereits zuvor Schwan, VerwArch 1979, 109, 121. 98 Vgl. Schwan, in: Hohmann (Hrsg.), Freiheitssicherung durch Datenschutz, 1987, S. 276 ff.; Seifer, in: Hohmann (Hrsg.), S. 261 tf.; Riehle, Gefahr, Verdacht und Risiko. Der V-Mann: ein weiterer Schritt auf dem Weg zu einer neuen Polizei?, KrimJ 1985, 44 ff., 52 ff; ders., in: Appel/Hummel/Hippe (Hrsg.), Die neue Sicherheit, 1988, S. 129 ff.; Behrens, Von der Eilzuständigkeit zur Allzuständigkeit, Die Polizei 1988, 220 ff.; Denninger, Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, in: Hohmann (Hrsg.), S. 127 ff.; ders., CR 1988, 51 ff.; Backes, KritV 1986, 315 ff. 4 Neumann

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Β. Das neue Polizeirecht zur verdeckten Informationserhebung

gung der aus dem Menschenwürdegrundsatz aus Art. 1 Abs. 1 GG entwickelten Unschuldvermutung, wenn beliebige Mutmaßungen außerhalb des Verdachts einer Straftat oder des Vorliegens einer Gefahr zum Anlaß für Informationserhebungen durch die Polizei werden können". Durch die Entfernung von den klassischen Eingriffsvoraussetzungen bewege sich das Polizeirecht im ganzen auf dem Weg in die Kontrolle des bloßen Risikos, weil nicht mehr an unmittelbar gefahrliche Verhaltensweisen einer individuellen Person angeknüpft werden müsse, sondern bereits depersonalisierte Risikofaktoren wie Nationalität, Beruf, Wohnort usw. ausreichen könnten: "Würde sich eine solche Entwicklung durchsetzen, wäre eine legale Lebensweise nicht länger der Garant dafür, zum Adressaten des V-Mannes - und damit der Instanzen der Kriminalitätskontrolle - zu werden" 1 0 0 . So könnten einzelne Risikofaktoren (Student, Wohnviertel, Fahrten nach Holland), die auch in ihrer Kumulation auf viele Personen zutreffen können, die bislang an die Begehung von (Rauschgift-)Straftaten nicht gedacht haben, zur Erfassung dieser-Personen führen und weitere Maßnahmen der Beobachtung auslösen 101 . Durch die Orientierung an Risikopotentialen und -faktoren sowie den daraus aggregierten Risikopersonen emanzipiere sich die Polizei im Bereich der Kriminalitätsbekämpfung von den rechtsstaatlich legitimierten Fesseln des Straftatverdachts und der Aufsicht durch die Staatsanwaltschaft zur selbständigen und dominanten Strafverfolgungsbehörde. Dazu trage im besondere Maße bei, daß die Polizei in den meisten Fällen selbst und nach dem Grundsatz der Opportunität über den Einsatz von Erkenntnisquellen disponieren könne 1 0 2 . Bemängelt wird auch, daß wegen der Unbestimmtheit in den Befügnisnormen ein Verstoß gegen das aus dem Grundrecht der informationellen Selbstbestimmung entwickelte Verbot zur Sammlung personenbezogener Daten auf Vorrat bestehe. Die Datensammlung im Vorfeld der Entstehung konkreter Gefahren zum Zwecke der vorbeugenden Verbrechensbekämpfüng sei nichts anderes als Datenvorratswirtschaft zu noch nicht bestimmbaren Zwecken und deshalb verfassungsrechtlich unzulässig 103 . Daneben werden spezifisch datenschutzrechtliche Bedenken geäußert. Zu den Regeln über die Speicherung und die Verarbeitung von personenbezogenen Daten wird befürchtet, daß dadurch die Anfertigung von vollständigen 99

Vgl. Schwan, S. 279 f. Richie, KrimJ 1985,44 ff., 53. 101 Dieses Beispiel bei Backes, in: Polizeiführungsakademie Münster (Hrsg.), S.27ff, 39. 102 ders., KritV 1986, S. 337 f.; zu den Grenzen, die das Strafrecht für die Kriminalisierung im Vorfeld einer Rechtsgutverletzung zieht, vgl. Jakobs, ZStW 1985, 751 ff, 761. 103 Vgl. Schwan, S. 297. 100

II. Ziele und Befürchtungen

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oder fast vollständigen Persönlichkeitsprofilen möglich wird, so, wenn die wesentlichen Daten einer beruflichen Karriere mit Daten über Krankheiten, politisches Engagement, Freizeitverhalten, persönliche Beziehungen, religiöses Empfinden und kulturelle Aktivitäten zusammengeführt würden 1 0 4 . Festgestellt wird auch, daß in den Regelungen des VE M E PolG ein Auskunftsanspruch der Betroffenen über die zu der eigenen Person gespeicherten Daten nicht vorgesehen i s t 1 0 5 . Als zu weitgehend werden schließlich auch die Regelungen zur Übermittlung der gespeicherten Daten empfunden, insbesondere wird die Überwindung der bisherigen verfassungsrechtlichen Grenzen zwischen dem Verfassungsschutz und der Polizei kritisch beleuchtet 106 . In einer zusammenfassenden Betrachtung wird schließlich der Versuch unternommen, die heimlichen und automatisierten Informationseingriffe der Polizei nach Eingriffsintensitäten abzustufen und differenzierte Befugnisse zu entwikk e l n 1 0 7 . Aus der Fülle von diskussionswürdigen Einzelregelungen des neuen Informationsrechts für die Polizei ist der Gegenstand dieser Untersuchung begrenzt auf die Regelungen zur verdeckten Erhebung von personenbezogenen Daten. Für die Feststellungen, unter welchen Voraussetzungen und mit welchen verfassungsrechtlichen Beschränkungen die verdeckte Erhebung von Informationen bei ungefährlichen und unverdächtigen Personen zulässig sein kann, kommt es hier zunächst darauf an, die Eingriffsbefugnisse in ihren tatbestandlichen Voraussetzungen genauer zu untersuchen. Zwar ist zur rechtlichen Qualität der informationellen Eingriffsbefugnisse schon mehrfach die Ansicht vertreten worden, daß diese jenseits der beiden systembildenden Schwellenbegriffe von Gefahr (für das Polizeirecht) und Straftatverdacht (für das Strafprozeßrecht) angesiedelt seien. Die Polizei könne deshalb ihre geheimen Informationserhebungen für präventive Kriminalitätsbekämpfung nicht auf die beiden Grundkategorien der typischen polizeilichen Doppelzuständigkeit stützen. Aber trifft das auch bei genauer Betrachtung zu, und wenn ja, worin genau bestehen die Unterschiede?

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Vgl. z.B. Demütiger, in: Hohmann (Hrsg.), S. 127 ff., 155. Vgl. Schwan, S. 296; anders teilweise in den Gesetzgebungsvorschlägen auf Länderebene, z.B. im Hessischen Entwurf, § 440, wo ein (eingeschränkter) Auskunftsanspruch ausdrücklich geregelt wird. Vgl. grundsätzlich Ehmann, CR 1988, 491 ff.; Vahle, DIJD 1987, 434 ff; OVG Bremen, NJW 1987, 2393 ff. (Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über Auskunftsbegehren). 106 Vgl. Kutscha, ZRP 1986, 194 ff. 107 Vgl. Wolter, GA 1988, 49 ff., 129 ff. mit der zusätzlichen Intention, die polizeirechtlichen Befugnisse mit denen nach Strafprozeßrecht und den dazu vorliegenden RefonnVorschlägen (vgl. "Arbeitsentwurf eines Gesetzes zur Regelung der rechtlichen Grundlagen für Fahndungsmaßnahmen, Fahndungshilfsmittel und für die Akteneinsicht im Strafverfahren", Abdruck in: CILIP Nr. 1/1988, S. 68 ff.) zu harmonisieren. Der "Arbeitsentwurf ' ist inzwischen überholt durch das StVÄG (FN 1 ). 105

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Β. Das neue Polizeirecht zur verdeckten Informationserhebung

III. Die neuen informationellen Eingriffsbefugnisse im Vergleich Die neuen Eingriffsbeftignisse zur verdeckten Informationserhebung durch die Polizei erlauben nach ihrer Grundstruktur die polizeiliche Datenerhebung bereits dann, wenn tatsächliche (oder nicht näher qualifizierte) Anhaltspunkte für den Verdacht bestehen, daß eine Person künftig Straftaten begehen wird und - kumulativ - soweit dies aufgrund tatsächlicher Anhaltspunkte erfahrungsgemäß zur vorbeugenden Bekämpfung von (allen oder näher bezeichneten) Straftaten erforderlich ist. Wenn das die neue Grundformel für die Zulässigkeit verdeckter polizeilicher Informationserhebungen ist, worin genau unterscheidet sie sich von den bislang der Polizei fur diese Zwecke zugänglichen Kategorien der Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung einerseits (1), des strafprozessualen Tatverdachts andererseits (2)? Und wie stellt sich ihre rechtliche Qualität im Vergleich zu Eingriffsbefugnissen aus dem Recht zur heimlichen Informationserhebung nach dem "Gesetz zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses" (G10) dar?

1. Konkrete Gefahr, Anscheinsgefahr, Gefahrenverdacht Nach der Grundstruktur des modernen, mit dem berühmten Kreuzberg-Urt e i l 1 0 8 des Preußischen Oberverwaltungsgerichts beginnenden Polizeirechts 109 ist das ordnungsrechtliche Handeln der Polizei an das Vorliegen einer konkreten Gefahr gebunden. Nach der seitdem überlieferten Begriffsbildung meint der polizeirechtliche Begriff von Gefahr "die bei üblichem Ablauf der Geschehnisse bekundete Befürchtung, daß ein schädigendes Ereignis ohne Dazwischentreten der Polizei sich verwirklichen werde" 1 1 0 , oder auch: die eine erkennbare objektive Möglichkeit eines Schadens enthaltende Sachlage 111 . Gebräuchlich ist heute die Formulierung, daß die polizeirechtliche Gefahr eine Lage ist, in der bei ungehindertem Geschehensablauf ein Zustand oder ein Verhalten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu einem Schaden fur eines

108 Ygj Provo 9, 353 ff. (Gerichtliche Aufhebung eines durch "PolizeiVerordnung zum Schutze des auf dem Kreuzberg bei Berlin zur Erinnerung an die Siege der Freiheitskriege errichteten, im Jahre 1878 erhöhten Nationaldenkmals" aufgestellten Verbots zur Errichtung von Bauwerken über eine bestimmte Höhe). 109 Zur Vorgeschichte und Entwicklung des modernen Polizeibegriffs insgesamt vgl. Heuer, Die Generalklausel des preußischen Polizeirechts von 1875 bis zum Polizeiverwaltungsgesetz von 1931, 1988, S. 12 ff; zum Grundkonzept vgl. Preu y Polizeibesriff und Staatsrechtslehre, 1983, S. 26 ff 110 P r O V G 77, 341,345. 111 Vgl. PrOVG 77, 333,338.

III. Die neuen informationellen Eingrifsbefgnisse im Vergleich

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der polizeilichen Schutzgüter der öffentlichen Sicherheit und Ordnung fuhren würde 1 1 2 . Der polizeirechtliche Gefahrenbegriff besteht demnach wesentlich aus den beiden Komponenten "Schaden" und "Wahrscheinlichkeit" seines Eintritts. Dem Begriff des Schadens kommt dabei die Aufgabe zu, bloße Belästigungen, Unannehmlichkeiten und Überempfindlichkeiten von Personen oder Rechtsgütern auszufiltern 113 . Das Kernstück der polizeilichen Gefahr aber ist die Prognose zur "Wahrscheinlichkeit" des Schadenseintritts. Erst ein begründetes Urteil über die Wahrscheinlichkeit einer zunächst bloß möglichen Schadensverwirklichung kann demnach das polizeiliche Handeln nach dem materiellen Polizeibegriff legitimieren. Die "Wahrscheinlichkeit" selbst definiert das Maß für den Grad der Möglichkeit noch unverwirklichter Ereignisse, also für den Grad der Sicherheit, mit dem ein mögliches Ereignis eintreten wird. Damit ist zunächst eine Differenz zwischen der (bloßen) Möglichkeit und der (weitergehenden) Wahrscheinlichkeit eines künftigen Schadens bezeichnet 114 . Für diesen Unterschied ist schon frühzeitig formuliert worden, daß nicht bereits jede bloß entfernte Möglichkeit die Befürchtung eines Schadenseintritts begründe 115 . Andererseits muß, nach einer ebenso frühzeitigen Definition, der Schaden auch nicht unmittelbar bevorstehen 116 . Weder reicht also die bloße Möglichkeit eines Schadenseintritts aus, noch bedarf es der Gewißheit, um aus dem beobachteten Geschehen den Schluß auf das Vorliegen einer polizeirechtlichen Gefahr zu ziehen 1 1 7 . Mit dieser Unterscheidung wird zunächst ausgeschlossen, daß die sog. latente oder potentielle Gefahr schon als eine polizeirechtlich relevante Gefahr gilt. Die latente oder potentielle Gefahr bezeichnet eine Lage, die nicht für sich allein, sondern erst durch das spätere Hinzutreten neuer Umstände den Eintritt eines Schadens ernsthaft besorgen lassen könnte 1 1 8 . Eine polizeirechtliche Gefahrenlage kann danach durch reine Spekulationen oder bloß hypothetische Erwägungen zu nur gedachten Geschehnissen nicht begründet werden. Überhaupt soll die rein theoretische Möglichkeit eines Schadenseintritts ohne einen hinreichend engen Bezug zum Schadenszeitpunkt die Befürchtung seines Ein112

Vgl. z.B. Drews! Wacke/Vogel/Martens , S. 220 m.w.N. aus der Rechtsprechung. Vgl. z.B. PrOVG 88, 212, "durchschnittliche Empfindlichkeit als Maßstab für Schaden"; vgl. dazu im ganzen: WolfflBachof Bd. DI, § 125 Rdnr. 20 m.w.N.; Drews! Wacke!Vogel/Martens, S. 221 ff. 114 Vgl. dazu schon Scholz, Die polizeirechtliche Gefahr, VerwArch 27 (1919), 1 ff. 115 Vgl. z.B. PrOVG 77, 341, 345. 116 So PrOVG 98,81,86. 117 Ausführlich dazu jeweils OVG Lüneburg, OVGE 15, 383; 24, 413. 118 Vgl. OVG NW, OVGE 11, 250. 113

Β. Das neue Polizeirecht zur verdeckten Informationserhebung

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tritts nicht stützen können. Für die erforderliche Vermittlung zwischen Möglichkeit und Gewißheit im Urteil über die Schadenswahrscheinlichkeit ist die Schulformel entwickelt worden, daß der Eintritt eines Schadens dann hinreichend wahrscheinlich ist, wenn es eine nach der Lebenserfahrung begründete Befürchtung der Gefahrenverwirklichung g i b t 1 1 9 . Für das Urteil über die Schadensneigung des mutmaßlichen Geschehensablaufs wird also ein Mindestmaß an Realitätsbezug verlangt, der durch Lebenserfahrung abgesichert sein muß. Wie auch sonst, wenn dogmatische Abgrenzungsformeln in abstrakter Form verwendet werden, muß für die Anwendung des Wahrscheinlichkeitsmaßstabes nach unterschiedlich gefahrlichen Situationen differenziert werden. Der Sicherheitsgrad des Wahrscheinlichkeitsurteils differiert mit dem Rang des gefährdeten Rechtsgutes. Geht es um den Schutz besonders hochwertiger Rechtsgüter oder die Abwehr besonders großer Gefahren, kann auch schon die entferntere Möglichkeit eines Schadens die begründete Befürchtung seines Eintritts auslösen, so z.B. dann, wenn die Vorbereitung terroristischer Anschläge 120 oder wenn durch einen umgestürzten Tanklastzug die Möglichkeit der Grundwasserverunreinigung befürchtet werden muß 1 2 1 . Der Wert des geschützten Rechtsgutes und das Ausmaß des möglichen Schadens nehmen also Einfluß auf den verlangten Sicherheitsgrad des Wahrscheinlichkeitsurteils. Umgekehrt können aber auch die Anforderungen an die Begründung des Wahrscheinlichkeitsurteils gesteigert sein, wenn in ein besonders wertvolles Rechtsgut eingegriffen werden soll. So kann das Verbot politischer Aktivitäten eines Ausländers nur begründet werden mit einer besonders hohen Gewißheit über den künftigen Schadenseintritt (Störung der zwischenstaatlichen Beziehungen) 1 2 2 . Bei aller Abhängigkeit des Wahrscheinlichkeitsurteils von dem Wert des Schutzgutes, dem Ausmaß des ihm drohenden Schadens und dem Wert des Eingriffsgutes 123 läßt sich dennoch ein Kerngehalt des polizeirechtlichen Gefahrenbegriffs identifizieren. Das polizeiliche Handeln ist dann und nur dann gerechtfertigt, wenn der Handlungszeitpunkt so gewählt wird, daß er (nach allen Abwägungen) so nahe wie möglich an dem voraussichtlichen Schadens119

Vgl. allgemein dazu Drews! Wacke!Vogel/Martens, S. 223 ff., 224. BVerWGE 62, 36, 39. 121 BVerwG, DÖV 1974, 207, 209. 122 Vgl. VGH BW, NJW 1969, 2109 ff. (Schah-Besuch). Zur differenzierten Anwendung der Wahrscheinlichkeitsmaßstäbe im Asyl verfahren vgl. Bertrams , Die Prognoseentscheidung im Asylverfahren, 1989, S. 42 ff 123 Vgl. dazu Hansen-Di:c, Die Gefahr im Polizeirecht, im Ordnungsrecht und im technischen Sicherheitsrecht, 1982, S. 35 ff. 120

III. Die neuen informationellen Eingriffsbefgnisse im Vergleich

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Zeitpunkt liegt. Nur dann, wenn zu einem Zeitpunkt t l ein späterer, möglicherweise noch relevante Zusatzinformationen ermöglichender Zeitpunkt t2 nicht mehr abgewartet werden kann, ohne daß eine überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür entstünde, daß in den Schadensablauf dann nicht mehr rechtzeitig und wirksam eingegriffen werden kann, entsteht eine konkrete Gef a h r 1 2 4 . Die rechtsstaatliche Basis des polizeirechtlichen Gefahrenbegriffs liegt demnach in der Anordnung einer zeitlichen Sperre für rechtmäßiges polizeiliches Handeln. Nicht der frühestmögliche, auch nicht jeder beliebige spätere, sondern erst der letztmögliche Zeitpunkt zur Verhinderung eines Schadenseintritts ist der rechtmäßige Handlungszeitpunkt. Das gilt deshalb, weil erst zu diesem Zeitpunkt feststeht, daß nicht noch durch die Vermehrung des Wissens eine andere Beurteilung der Sachlage entstehen und der polizeiliche Eingriff in die Rechtsgüter von Betroffenen entbehrlich werden könnte. Auf dieser Grundlage ist es ausgeschlossen, die vorgeschlagenen Eingriffsbefugnisse der Polizei zur verdeckten Informationserhebung mit dem Begriff der konkreten Gefahr zu verbinden oder in ihnen nur Anwendungsbeispiele konkreter Gefahrenlagen zu erkennen. Dafür setzen die neuen Informationsbefugnisse zu deutlich vor dem Zeitpunkt an, von dem aus mit hinreichender Wahrscheinlichkeit der Eintritt eines nahen Schadens prognostiziert werden könnte. Wenn nach den Zielvorstellungen der Entwurfsverfasser zunächst nur Informationen gesammelt werden, aus denen die künftigen Möglichkeiten von Straftaten hochgerechnet werden sollen, dann lassen sich zwischen dem Eingriffszeitpunkt, der Datenerhebung und dem möglichen Schaden für eines der polizeilichen Schutzgüter, die Straftat, viele weitere Zeitpunkte denken, von denen alle dem möglichen Schadenszeitpunkt weit näher stehen und bei denen die Verhinderung des Schadenseintritts immer noch möglich ist. Es fehlt diesen informationellen Eingriffen also an der nach dem polizeirechtlichen Gefahrenbegriff notwendigen engen Beziehung zum Schadenszeitpunkt. Allerdings ist der polizeirechtliche Begriff der Gefahr an seinen Rändern durchaus anfallig für die Aufnahme von Sachverhalten ohne reale Schadensneigung. Namentlich sind mit den Begriffen der Scheingefahr, der Anscheinsgefahr und des Gefahrenverdachts dogmatische Hilfskonstruktionen entwickelt worden, die polizeiliches Einschreiten auch gegen objektiv (noch) gefahrlose Sachverhalte rechtfertigen können. Die Scheingefahr, die Anscheinsgefahr und der Gefahrenverdacht bezeichnen in unterschiedlicher Intensität Sachverhalte, denen eine objektive Schadensneigung fehlt oder diese doch nicht sicher prognostiziert werden kann. Bei der Scheingefahr wird der Schadenseintritt nur subjektiv für wahrscheinlich gehalten, ohne daß sich diese Annahme auf 124 Ygj Gamstädt, Gefahrenabwehr und Gefahrenvorsorge, 1983, S. 80 f.

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Β. Das neue Polizeirecht zur verdeckten Informationserhebung

hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte zu stützen vermag. Die Handelnden irren sich pflichtwidrig, wenn sie in vorwerfbarer Weise entweder die Sachlage falsch diagnostiziert oder aber den möglichen Geschehensablauf fehlerhaft prognostiziert haben. Eine polizeiliche Gefahr liegt in solchen Fällen nicht vor, die ergriffenen Maßnahmen sind rechtswidrig und können zu Entschädigungsansprüchen fuhren 1 2 5 . Im Gegensatz zur (reinen) Scheingefahr hätte bei der Anscheinsgefahr hingegen nicht nur der handelnde Beamte, sondern jeder fähige, besonnene und sachkundige Amtswalter die Situation als gefahrliche Lage eingeschätzt. Wohl fehlt auch hier der Sachlage und dem angenommenen Geschehensablauf die objektive Schadensneigung, aber zu dem relevanten Zeitpunkt der behördlichen Entscheidung stand bei hinreichender Sachverhaltsaufklärung und verständiger Würdigung die Ungefahrlichkeit der Sachlage noch nicht fest. In solchen Fällen besteht also eine Gefahr im polizeirechtlichen Sinne (obgleich ein Schaden nie eintritt), weil erst aufgrund nachträglich gewonnener Erkenntnisse die Ungefahrlichkeit der Situation erkannt werden kann, andererseits aber ein weiteres Zuwarten nicht vertretbar war. Die Anordnung der Räumung eines Ortes wegen akuter Lawinengefahr bleibt auch dann rechtmäßig, wenn die Lawine auf der anderen Seite des Berges niedergeht. Würde sich dagegen der handelnde Beamte darüber irren, daß überhaupt Lawinengefahr besteht oder daß dieser Ort von einer Lawine erreicht werden k a n n 1 2 6 , wäre die Anordnung rechtswidrig, weil dann wieder nur eine Scheingefahr bestanden hätte. Die dogmatischen Figuren der Schein- und Anscheinsgefahr dienen also der Unterscheidung von Rechtmäßigkeit und Rechtswidrigkeit polizeilichen Handelns für die Fälle ungewisser Geschehnisabläufe; im Falle der Scheingefahr fehlt die reale Schadensneigung, im Falle der Anscheinsgefahr auch, nur konnte das zum Zeitpunkt der Entscheidung nach der möglichen Sachverhaltsaufklärung und nach verständiger Würdigung noch nicht sicher festgestellt werden. Deshalb hätte auch jeder andere verständige Amtswalter die Anordnung getroffen. Mit diesen Begriffsbildungen läßt sich sofort erkennen, daß die Figur der Scheingefahr verdeckte polizeiliche Datenerhebung zum Zweck präventiver Kriminalitätsbekämpfung schon deshalb nicht rechtfertigen kann, weil in den Tatbeständen eine reale Schadensneigung des beobachteten Geschehens gar nicht verlangt wird. Aber auch die Konstruktion ei125

Z.B., wenn der Polizeibeamte das Fenster einer verschlossenen Wohnung einschlägt, weil er den Klagelaut einer Katze für das Stöhnen eines Verletzten hält, ohne zuvor einen Blick auf das Tier geworfen zu haben, vgl. Knemeyer, Rdnr. 71, der diese Sachlage Putativgefahr nennt. Vgl. im übrigen schon PrOVG, PrVBL 38; Schneider, DVB1 1980, 406 ff, 408; Götz, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, 9. Aufl. 1988, Rdnr. 125 ff ; Hansen-Dix, S. 58 f. 126 Nach Götz, Rdnr. 127.

III. Die neuen informationellen Eingriffsbefgnisse im Vergleich

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ner Anscheinsgefahr reicht zur Rechtfertigung der polizeilichen Informationserhebung nicht aus. Auch jeder fähige, besonnene und sachkundige Amtswalter kann erkennen, daß es für die beabsichtigten Informationserhebungen an der erforderlichen Gefahrennähe fehlt. Im Gegenteil soll mit der polizeilichen Datenerhebung überhaupt erst aufgeklärt werden, ob sich künftig eine Gefahr entwickeln kann. Aus der Reihe der differenzierten Gefahrentypen wird deshalb auch der Gefahrenverdacht herausgegriffen, um mit seiner Hilfe zu begründen, daß einerseits schon bislang die nun zur ausdrücklichen Regelung vorgeschlagenen Eingriffsbefugnisse bestanden und andererseits, daß das involvierte Gesetzgebungskompetenzproblem zugunsten der Länder zu entscheiden sei 1 2 7 . Für die nähere Begründung wird allerdings in einer sehr unspezifischen Form die Figur des Gefahrenverdachts 128 als die Möglichkeit einer Gefahr (zeitlich vor dem Tatverdacht) beschrieben 129 . Richtig ist, daß der polizeirechtliche Gefahrenverdacht nicht die Stärke eines strafprozessualen Tatverdachts nach § 150 Abs. 2 StPO erreichen muß und insoweit zeitlich vor diesem konkreten Anfangsverdacht einer Straftat liegt 1 3 0 . Gleichzeitig wird aber die Funktion und die rechtliche Gestalt dieses Gefahrentyps überinterpretiert, wenn man ihn als bloße Möglichkeit einer Gefahr definiert. Nach dem in der polizeirechtlichen Dogmatik entwickelten Begriffsverständnis bezeichnet der Gefahrenverdacht zunächst grundsätzlich eine fur den maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt unklare Sachlage, und die Funktion des Begriffs liegt in der Ermöglichung dennoch rechtmäßigen Handelns. Im Unterschied zur Anscheinsgefahr sind dem Handelnden die Unsicherheiten in der Diagnose des Sachverhalts oder der Prognose des Kausalverlaufs bewußt, die Sachlage kann ebensogut gefahrlich wie ungefährlich sein. Mit der dogmatischen Konstruktion des Gefahrenverdachts soll nun diese bewußte Unsicherheit gleichwohl zugunsten einer rechtmäßigen Eingriffshandlung entschieden werden, wenn und soweit bei hinreichender Sachverhaltsaufklärung und verständiger Würdigung gewichtige tatsächliche Anhaltspunkte fur die Wahrscheinlichkeit eines künftigen Schadens bestehen bleiben 1 3 1 . Demnach werden in einer Situation des Gefahrenverdachts die Anforderungen an die Stärke des Wahrscheinlichkeitsurteils in den Fällen abgesenkt, in denen der Eintritt des Schadens auf der Grundlage des zum Handlungszeitpunkt erreichbaren Wis127

So insbesondere Kniesel, ZRP 1987, 380 f. Vgl. dazu im Oberbilk Kickartz, Ermittlungsmaßnahmen zur Gefallrerforschung und einstweilige polizeiliche Anordnungen, 1984, S. 117 ff. 129 Vgl. Kniesel, ZRP, 1987, 380. 130 Vgl. Schäfer, GA 1986, 66; Baumann, JuS 1987, 684. 131 Vgl. Hansen-Dix, S. 67 f. (Anm. 224); Götz, Rdnr. 128 ff. 128

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Β. Das neue Polizeirecht zur verdeckten Informationserhebung

sens ebenso wahrscheinlich wie unwahrscheinlich ist. Wenn dann gleichwohl ein (vorläufiges) Eingreifen gerechtfertigt werden kann, dann deshalb, weil weiteres Abwarten bis zur Erlangung zusätzlicher Informationen zu riskant wäre 1 3 2 . Eine ausführliche Begründung für diese Handlungslage, ihrer Einschätzungsunsicherheiten und der maßgeblichen Entscheidungsregel ist bereits in der frühen Rechtsprechung zum modernen Polizeibegriff gegeben worden: "Es kann sehr wohl der Fall eintreten, daß diese Ermittlungen, ob eine polizeiliche Gefahr vorliegt, nicht so rechtzeitig abgeschlossen werden können, daß, wenn die Gefahr sich als tatsächlich bestehend erweist, die polizeiliche Abwehr noch rechtzeitig erfolgen kann. Die öffentliche Ordnung und Sicherheit verlangen aber, daß eine als möglich erkannte polizeiliche Gefahr unter allen Umständen noch rechtzeitig muß beseitigt werden können. Die Möglichkeit der rechtzeitigen Beseitigung darf aber nicht dadurch ausgeschlossen werden, daß die Prüfung, ob die möglich erscheinende Gefahr auch tatsächlich vorliegt, nicht mehr rechtzeitig vorgenommen oder abgeschlossen werden könne" 1 3 3 . Auf diesen Grundlagen läßt sich zeigen, daß der Gefahrenverdacht in seiner rechtsstaatlich vertretbaren Grundstruktur nichts anderes ist als ein anderes Wahrscheinlichkeitsurteil über einen voraussichtlich gefahrlichen Geschehensablauf. Die Befürchtung, daß eine Gefahr vorliegen könnte, wird ohnehin immer auf der Grundlage des aktuell zur Verfügung stehenden Wissens getroffen. Die Kategorie der Gefahr bezeichnet auch insgesamt keinen Zustand, sondern eine Schlußfolgerung von Wissen auf die Besorgnis eines Schadenseintritts und im Falle des Gefahrenverdachts eben die "Befürchtung der Befürchtung eines Schadens aufgrund des vorhandenen Wissens" - also wiederum nur die Befürchtung eines Schadens aufgrund des aktuell verfügbaren Wissens 1 3 4 . Auch bei dem Gefahrenverdacht wird also ein Wahrscheinlichkeitsurteil getroffen, nur, daß die Wahrscheinlichkeit der Schlußfolgerung regelmässig geringer sein wird als die Wahrscheinlichkeit, die bei weiterem Zuwarten mit Anhäufung weiteren Wissens entstehen würde 1 3 5 .

132

So ausdrücklich z.B. OVG NW, DVB1. 1982, 653. PrOVG 77, 333, 338. 134 Das Wortspiel, das die Identität (und Abstufung) des Wahrscheinlichkeitsurteils beim Gefahrenverdacht deutlich macht, stammt von Darnstädt, S. 95 135 Vgl. dazu auch Darnstädt, S. 94 ff; so wohl auch Hansen-Di χ, S. 67; vgl. auch Lukes , Gefahren und Gefahrenbeurteilungen in der Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland, in: ders. (Hrsg.), Gefahren und Gefahrenbeurteilungen im Recht, Teil 1, RTWbd. 21, 1980, S. 27. 133

III. Die neuen informationellen Eingriffsbefgnisse im Vergleich

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Daraus ergibt sich fur den vorliegenden Zusammenhang eine bemerkenswerte Schlußfolgerung. Es folgt daraus nämlich, daß auch in der für den Gefahrenverdacht typischen Situation von Einschätzungsunsicherheiten die dann zulässigen Maßnahmen zur Erweiterung des aktuellen Handlungswissens an die klassische Gefahrenlage gebunden bleiben. Unsicher ist zwar, ob das (zunächst) erreichbare Wissen ausreicht, um die Schadensentwicklung genau prognostizieren zu können, aber der gleichsam dringende Verdacht der Gefahr ist doch vorhanden und deshalb können die Anforderungen an den Grad des Wahrscheinlichkeitsurteils gemindert werden. Im Gegensatz zu den neuen informationellen Eingriffsbefugnissen bleibt stets die Verbindung zur konkreten Gefahr erhalten, denn es geht auch beim Gefahrenverdacht noch immer um die Abwendung einer nicht bloß abstrakt möglichen, sondern weiterhin wahrscheinlichen Gefahr. Die Schwelle zur bloß theoretischen Möglichkeit einer Gefahr wird nicht unterschritten. Nicht dagegen handelt es sich um die Sammlung von möglichst vielen Informationen aus einem generell als gefahrgeneigt eingeschätzten sozialen Zusammenhang. Nicht auch kann die Figur des Gefahrenverdachts dafür benutzt werden, mehr oder weniger eingehende Ausforschungen von Lebenszusammenhängen durchzuführen, wenn bloß tatsächliche Anhaltspunkte für den Verdacht bestehen, daß möglicherweise zu irgendeinem späteren Zeitpunkt Straftaten begangen werden könnten. Der Gefahrenverdacht liefert keine tragfahige Grundlage dafür, die Schwelle für den polizeilichen Eingriff auf die bloße Möglichkeit späterer Schadensentwicklungen abzusenken. Eine weitere Überlegung kommt hinzu. Der Gefahrenverdacht als Eingriffsgrundlage für polizeiliches Handeln ist damit begründet, daß ein weiteres Zuwarten bis zur Erreichung weiterer Informationen zu gefahrlich wäre. Deshalb sollen zur Beschaffung weiterer Informationen vorläufige Maßnahmen erlaubt sein, endgültige Maßnahmen aber nur dann, wenn besonders wichtige Rechtsgüter (namentlich Leben und Gesundheit) auf dem Spiel stehen und die Eingriffe nicht über das Erforderliche hinausgehen 136 . Die bewußten Unsicherheiten in der Diagnose des Sachverhalts oder der Prognose des Kausalverlaufs werden für den Gefahrerforschungseingriff nur hingenommen, weil und soweit ansonsten eine übermäßig gefahrträchtige Lage sich realisieren würde, z.B. bei einer anonymen Bombendrohung, bei einem Befall importierter Lebensmittel mit Seuchenerregern oder bei den möglichen Nebenwirkungen eines Medikaments 1 3 7 . Im Grundsatz handelt es sich also um einen Anwendungsfall der bereits beschriebenen Abwägung zwischen der Intensität des Eingriffs und dem geschützten Rechtsgut. 136 137

Vgl. dazu Drews! Wache!Vogel/Martens, Vgl. Darnstädt, S. 225 f.

S. 225 f.

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Β. Das neue Polizeirecht zur verdeckten Informationserhebung

Ganz anders aber die Ausgangslage für die verdeckte Informationserhebung der Polizei nach den vorgeschlagenen Neuregelungen. Dort liegt schon kein relevanter Gefahrenverdacht vor, der durch Sammlung weiterer Informationen erhärtet werden nnißte. Man weiß im Gegenteil, daß der Verdacht einer Gefahr noch nicht besteht und will nur für den Fall, daß künftige Gefahren entstehen könnten, bereits über genügend Informationen verfügen, um den dann auftretenden Aufklärungsbedarf zu befriedigen. Vor allem aber wird gar nicht angenommen, daß weiteres Zuwarten bereits jetzt zu riskant wäre, weil mit genügender Wahrscheinlichkeit angenommen werden könne, daß die Schadensentwicklung sich kontinuierlich durchsetzen werde. Es soll mit anderen Worten nicht Gefahrenabwehr betrieben werden, sondern Vorsorge. Nach dieser Übersicht zu den möglichen Legitimationsformeln für verdeckte Informationseingriffe der Polizei in der bislang geltenden Gefahrendogmat i k 1 3 8 zeigt sich, daß damit die neuen Informationseingriffe der Polizei zur vorbeugenden Verbrechensbekämpfung nicht gerechtfertigt werden können 1 3 9 . Das Ziel der Neuregelungen ist nicht Gefahrenabwehr, sondern Vorsorge, und dafür reichen die bisherigen dogmatischen Grundlagen des Polizeirechts nicht aus 1 4 0 . Der für dieses Urteil entscheidende Grund ist, daß der Gefahrenbegriff nach allen Varianten in zeitlicher Hinsicht als echtes Grenzprinzip für den polizeilichen Eingriff formuliert ist und daß diese Grenze durch Vorsorgenormen systematisch überschritten werden muß. Auf die damit verbundenen Konsequenzen wird nach dem Vergleich der neuen Eingriffsbefugnisse mit dem Prinzip des Tatverdachts und den Eingriffsvoraussetzungen nach G10 zurückzukommen sein.

138 Außer Betracht muß die "abstrakte Gefahr" bleiben, weil darauf ohnehin nur Polizeiverordnungen gestützt werden können, vgl. Götz, S. 120, und überhaupt ein ganz anderes, nämlich statistisches Wahrscheinlichkeitsurteil Verwendung findet. Allerdings nähern sich die neuen Informationsbefugnisse solchen Wahrscheinlichkeitsaussagen deutlich an. 139 Zu Konsequenzen für die Gesetzgebungskompetenz vgl. Schoreit, CR 1986, 224 f.; Schweckendieck, ZRP 1989, 125 ff. 140 Es ist deswegen auch zumindest mißverständlich, wenn Schütz, PVG R-P § 25b, Anm. 1.1, meint, die besonderen Datenerhebungsbefugnisse der Polizei zur vorbeugenden Verbrechensbekämpfung könnten nur Anwendung finden, wenn eine konkrete Gefahr vorliegt. Nun ist die Einführung dieser Vorschrift aber gerade damit begründet worden, daß konkrete Gefahren in diesen Fällen nicht existieren und gleichwohl ein Informationsbedarf besteht. Auch übersieht er, daß zwar die polizeiliche Generalklausel den Gefahrenbegriff verwendet, aber in der allgemeinen Befugnisvorschrift des § 9 PVG R-P die übliche Formulierung gewählt ist, wonach die Gefahrenabwehrbefugnis besteht, "soweit nicht die §§ 10-25 die Befugnisse der Polizei besonders regeln".

III. Die neuen informationellen Eingriffsbefgnisse im Vergleich

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2. Der Tatverdacht nach dem Strafprozeßrecht Die bisherigen Überlegungen haben gezeigt, daß die neuen Informationsbefugnisse der Polizei von der traditionellen Bindung an den polizeirechtlichen Gefahrenbegriff abgelöst und stattdessen auf einen Begriff von "Vorgefahr" formuliert worden sind. Weil diese Befugnisse dem ausdrücklich beigegebenen Zweck vorbeugender Verbrechensbekämpfung dienlich sein sollen, müßte zusätzlich auch der Vergleich mit dem strafprozessualen Begriff des Tatverdachts instruktiv sein. Dies nicht wegen eines möglichen Nachweises veränderter Grundlagen im Polizeirecht, denn nach Meinung aller steht ohnehin fest, daß die neuen Informationsbefugnisse der Polizei Handlungsspielräume vor dem Bestehen eines strafprozessualen Tatverdachts schaffen sollen. Der Vergleich könnte aber zeigen, wie genau, in welchem Umfang und mit welchen dogmatischen Konsequenzen die Eingriffsbefugnisse von denen der Polizei nach dem Strafprozeßrecht zugänglichen Handlungsmöglichkeiten und namentlich deren rechtlichen Bindungen abgesetzt sind. Neben der Abwehr von Gefahren fur die öffentliche Sicherheit und Ordnung besteht das zweite Element der polizeilichen Doppelzuständigkeit in der Kompetenz zur Straftatverfolgung im "ersten Zugriff 1 ' oder nach Weisung der Staatsanwaltschaft. Nach § 163 Abs. 1 StPO haben Behörden und Beamte des Polizeidienstes Straftaten zu erforschen und alle keinen Aufschub gestattenden Anordnungen zu treffen, um die Verdunkelung der Sache zu verhüten. Im Rahmen dieses gesetzlichen Mandats ist die Polizei wegen des in § 125 Abs. 2 StPO niedergelegten Legalitätsprinzips verpflichtet, selbständig tätig zu werden, ohne Aufträge der Staatsanwaltschaft abzuwarten. Diese ist nach § 160 Abs. 1 StPO zur Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gezwungen, sobald sie durch eine Anzeige oder auf anderem Wege von dem Verdacht einer Straftat Kenntnis erhält. Voraussetzung fur den sog. ersten Zugriff der Polizei ebenso wie fur die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens durch die Staatsanwaltschaft ist nach § 152 Abs. 2 StPO, daß "zureichende tatsächliche Anhaltspunkte" bestehen, die den Verdacht einer Straftat begründen. Der durch zureichende tatsächliche Anhaltspunkte gesetzlich definierte Verdachtsbegriff in der Strafprozeßordnung ist das zeitlich wie materiell primäre Kriterium für die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens. Gleichzeitig werden dadurch die Befugnisse von Staatsanwaltschaft und Polizei für den Bereich der Straftatverfolgung synchronisiert. Nach der allgemeinen Verdachtsbestimmung in § 152 Abs. 2 StPO (Anfangsverdacht) enthält die Strafprozeßordnung für die Zulässigkeit einzelner Zwangsmaßnahmen darüber hinaus eine beachtliche sprachliche Variationsbreite in der Formulierung von Verdachtsarten. Für die Schlußentschei-

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Β. Das neue Polizeirecht zur verdeckten Informationserhebung

dung der Staatsanwaltschaft zur Erhebung der öffentlichen Klage nach § 170 Abs. 1 StPO und die Entscheidung des Gerichts zur Eröffnung des Hauptverfahrens nach § 203 StPO wird ein "hinreichender" Tatverdacht verlangt. Die Überwachung des Fernmeldeverkehrs nach § 100a StPO ist nur zulässig, wenn ein auf "bestimmte Tatsachen" gestützter Verdacht vorliegt; die Anordnung der Untersuchungshaft nach § 112 Abs. 1 StPO fordert einen "dringenden" Tatverdacht. Nach überwiegender Auffassung lassen sich den differenzierenden gesetzlichen Formulierungen auch unterschiedliche Verdachtsintensitäten entnehmen 141 . Für die genauere Beschreibung des sog. Anfangsverdachts wird festgehalten, daß dieser auf konkrete Tatsachen gestützt sein muß, oder auch, daß es nach den kriminalistischen Erfahrungen als möglich erscheinen muß, daß eine verfolgbare Straftat vorliegt. Umgekehrt reichen danach bloße Vermutungen ohne konkrete Tatsachenbasis nicht aus, um einen Tatverdacht zu begründen und darauf die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens zu stützen* 42 . Der Anfangsverdacht soll auch nicht die Qualität eines "hinreichenden" Tatverdachts erreichen müssen. Erst bei der Entscheidung der Staatsanwaltschaft über die Erhebung der Anklage (§ 170 Abs. 1 StPO) und dann wieder bei der Entscheidung des Gerichts über die Eröffnung des Hauptverfahrens (§ 203 StPO) wird dieser intensivere Verdacht verlangt. In der gebräuchlichen Beschreibung heißt es, daß nach dem gesamten Akteninhalt bei vorläufiger Tatbewertung die Verurteilung des Beschuldigten mit Wahrscheinlichkeit zu erwarten sein m u ß 1 4 3 . Die Staatsanwaltschaft soll danach ihr eigenes späteres Verhalten prognostizieren, nämlich abschätzen, ob sie selbst nach der Sach- und Rechtslage am Ende einer Hauptverhandlung wahrscheinlich zu einem Antrag auf Verurteilung gelangen würde. Bei verbleibenden Zweifeln kann die Staatsanwaltschaft das Ermittlungsverfahren ganz oder teilweise, mit oder ohne Geldbuße, vorläufig oder endgültig einstellen (§§ 153 ff. StPO). Für die Zulässigkeit der Überwachung des Fernmeldeverkehrs nach § 100a StPO läßt sich aus der gesetzlichen Formulierung ein besonderer Intensitätsgrad des Verdachts nicht erkennen. Die richterliche Anordnung ist vielmehr bereits dann zulässig, "wenn bestimmte Tatsachen den Verdacht begründen". Damit wird jedoch nur die auch schon für den Anfangsverdacht und stets geforderte Voraussetzung einer konkreten Tatsachenbasis wiederholt. Fest steht danach nur, daß bloße Vermutungen nicht ausreichen. Andererseits wird aber auch ein "dringender" Tatverdacht nicht für erforderlich gehalten. Allgemein wird angenommen, daß aus dem Merkmal "bestimmte Tatsachen" auf eine gewisse 141

Vgl. im Überblick Fuss, in: Festschrift für Wacke, S. 305 ff., 306 f., der selbst nach den Stellungen als Verdächtige, Beschuldigte und Verurteilte differenziert. 142 Vg. dazu nur Kleinknecht/Meyer, StPO, § 152 Rdnr. 4. 143 Vgl. z.B. BGHSt 23, 304, 306.

III. Die neuen informationellen Eingriffsbefiignisse im Vergleich

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Erheblichkeit des Verdachts zu schließen sei und daher lediglich tatsächliche Anhaltspunkte den Eingriff nicht rechtfertigen können 1 4 4 . Der für die Inhaftnahme von Beschuldigten gemäß § 112 Abs. 1 StPO geforderte "dringende" Tatverdacht soll bestehen, wenn nach dem gegenwärtigen Stand der Ermittlungen die Wahrscheinlichkeit groß ist, daß der Verfolgte schuldiger Täter oder Teilnehmer einer Straftat ist. Hingegen wird nicht die Prognose verlangt, daß auch eine spätere Verurteilung wahrscheinlich i s t 1 4 5 . Andererseits müsse dieser Tatverdacht aber auch intensiver sein als der nach § 203 StPO für die gerichtliche Zulassung der Anklage vorausgesetzte "hinreichende" Tatverdacht. Danach ist die wohl stärkste Beeinträchtigung der persönlichen Freiheit durch strafprozessuale Zwangsmaßnahmen auch dann möglich, wenn die Prognose auf eine spätere Verurteilung mit Zweifeln belastet ist oder sogar negativ ausfallt. Diese eigenartige Konsequenz wird aber dadurch entschlüsselt, daß beide Verdachtsintensitäten auf verschiedene Zeitpunkte des Ermittlungsverfahrens bezogen werden. Die Prüfung des hinreichenden Tatverdachts geht vom Ergebnis der abgeschlossenen Ermittlungen aus und kann sich daher auf eine breite Beurteilungsbasis stützen. Demgegenüber entscheidet sich die Beurteilung des dringenden Tatverdachts nach dem jeweiligen Stand der - häufig noch unvollständigen - Ermittlungen zum Zeitpunkt des Haftbefehlsantrages, der Vorführung oder der Haftbeschwerde 146 . Ein zu Beginn des Ermittlungsverfahrens vorliegender dringender Tatverdacht kann sich im Laufe der weiteren Ermittlungen abschwächen oder ganz entfallen. Soll umgekehrt noch zum Zeitpunkt der Anklageerhebung die Inhaftnahme des Angeschuldigten zulässig sein, müssen an den dringenden Tatverdacht höhere Anforderungen gestellt werden als an den (dann bloß) hinreichenden Tatverdacht. Trotz dieser gesetzlich formulierten Unterschiede in den Verdachtsgraden und den Versuchen ihrer Aufschlüsselung ist es nicht gelungen, verschiedene Intensitäten des Tatverdachts so dicht zu beschreiben, daß eine annähernde Gewißheit über deren unterschiedliche Elemente bestünde. Das ist einerseits verwunderlich, weil dieser oder jener Verdachtsgrad darüber entscheiden soll, wie weit gegebenenfalls in die Rechte des Verdächtigten eingegriffen werden darf. Andererseits bietet diese Erkenntnis aber letzthin doch keine nennenswerte Überraschung, weil sowohl der auf "bestimmte Tatsachen" gestützte wie der "hinreichende" und auch der "dringende" Tatverdacht einheitlich die

144

Vgl. dazu Schuhmacher, Die Überwachung des Fernmeldeverkehrs, 1976, S.132ff m.w.N. 145 Vgl. BGH bei Pfeiffer, NStZ 1981, 94. 146 Vgl. OLG Celle, Str.V 1986, 392.

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Β. Das neue Polizeirecht zur verdeckten Informationserhebung

Struktur eines Wahrscheinlichkeitsurteils 147 besitzen. Die Überzeugung von dem Bestehen eines Verdachts ist die Annahme, daß eines oder mehrere Ereignisse in der Vergangenheit wahrscheinlich stattgefunden haben und diese dem (soweit vorhanden) Verdächtigen in strafrechtlich relevanter Hinsicht zugerechnet werden können. Es handelt sich also um die gleiche Wissenssituation wie bei einer Prognose, wenn hier auch in der umgekehrten Zeitrichtung, nämlich retrospektiv. Von bekannten Tatsachen oder in Verbindung mit bekannten Gleichförmigkeiten (logische Verknüpfung) wird auf eine unbekannte Tatsache, nämlich die Zurechnung der Straftat, geschlossen. Wahrscheinlichkeitsurteile unterliegen aber zwei typischen Unsicherheiten: Ihre Konsistenz hängt von dem Ausmaß und der Richtigkeit der bekannten Tatsachen und der verwendeten Verknüpfungsgesetze ab. Die Problemlage ist also nicht anders als bei der Sachverhaltswürdigung des Gerichts zum Zwecke der Urteilsfindung nach § 261 StPO 1 4 8 . Dort muß die Frage beantwortet werden, ob der Beschuldigte die ihm vorgeworfene Straftat nach dem Ergebnis der Hauptverhandlung wirklich begangen hat. Das Reichsgericht hat dazu bereits klargestellt, daß nicht eine jede andere Möglichkeit denknotwendig ausschließende Sicherheit gefordert werden könne, sondern eine "an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit" 149 ausreiche, also bereits eine Wahrscheinlichkeitsannahme, die auch in Anbetracht der angeschlossenen Konsequenzen mit einem Rest von Unsicherheit verträglich i s t 1 5 0 . Welches Maß diese Rechtsunsicherheit noch erreichen darf, bleibt aber offen. Für die präzise Abgrenzung zwischen Wahrscheinlichkeit und Unwahrscheinlichkeit in dem Schluß von bekannten Tatsachen auf vergangene Handlungszusammenhänge wird (für den im Zivilprozeß wichtigen Anscheinsbeweis) versucht, Grade von Wahrscheinlichkeiten nach der Qualität von Erfahrungssätzen abzustufen: so etwa zwischen einfachen Erfahrungssätzen, die wenig prägnant und nur einfach überzufallig sind, absoluten Erfahrungssätzen, deren Richtigkeit nach menschlichem Ermessen nicht widerlegt werden kann, und schließlich solchen Erfahrungssätzen, die in der Wahrscheinlichkeit ihrer

147

Grundsätzlich dazu Neil, Wahrscheinlichkeitsurteile in juristischen Entscheidungen, 1983, S. 91 ff. Vgl. außerdem Berg, Die verwaltungsgerichtliche Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980; Greger, Beweis und Wahrscheinlichkeit, 1978. 148 Ygj dazu v. Hippel; Gefahrurteil und Prognoseentscheidungen in der Strafrechtspraxis, 1972, S. 30 ff., der namentlich das strafgerichtliche Urteil als Entscheidung unter Ungewißheit bezeichnet. 149 RGStE 15, 115, 153. 150 Vgl. weiterhin RGStE 51, 127; 58, 130, 131 u.ö.; BGH, VRS 24, 207; BGH bei Daliinger, MDR 1972, 388.

III. Die neuen informationellen Eingriffsbefgnisse im Vergleich

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Richtigkeit zwischen den beiden Hauptkategorien stehen 151 . Aber auch dann gelingt es nicht, die an sich erforderliche Verteilung der relativen Häufigkeit gleichmäßiger Wiederholungen in den differenzierten Kategorien zu bezeichnen 1 5 2 . Immerhin läßt sich darauf die Folgerung stützen, daß die Regeln, mit deren Hilfe aus den unvollständigen Tatsachen auf die Wahrscheinlichkeit eines Tatverdachts geschlossen werden soll, mindestens als Erfahrungssätze ausgewiesen sein müßten und daß eine solche Qualität nur erreicht wird, wenn eine "überzufällige Wahrscheinlichkeit der angewandten Erfahrungssätze" besteht 153 . In gleicher Weise wird fur den Tatverdacht nach § 100a StPO betont, daß der danach erforderliche, auf "bestimmte Tatsachen" gestützte Verdacht im Kerngehalt eine dem Beweis zugängliche Sachlage beschreibt, also nicht den Verdachtsgrad verschärft 154 , wohl aber die Prüfung der Voraussetzungen objektiviert und die Nachprüfbarkeit der Entscheidung erleichtert. Darauf kann die Behauptung gestützt werden, daß der strafprozessuale Eingriff in den Fernmeldeverkehr nicht auf unsicheren Grundlagen, auf Vermutungen, bloßen Schlußfolgerungen, Annahmen, Befürchtungen oder auf allgemeinem Gerede beruhen darf 1 5 5 . Es wird vielmehr verlangt, daß die den Verdacht tragenden Tatsachen so deutlich wie möglich zu benennen sind und das Wahrscheinlichkeitsurteil ausreichend begründet werden muß. Die entscheidende Grundlage jedweden Tatverdachts besteht dann darin, daß ohne überprüfbare (äußere oder innere) Tatsachen keine richterliche Überwachungsanordnung erfolgen darf und daß die Zurechnung von den Tatsachen auf die wahrscheinliche Täterschaft mit Gesichtspunkten begründet werden muß, die mehr als einen nur zufalligen Zusammenhang herstellen 156 . Wenn danach große Präzision im Begriff des Tatverdachts nicht erreicht werden kann, worin sonst liegt die Funktion dieser strafprozessual zentral gelagerten Kategorie? Die jetzt deutliche Schlußfolgerung ist, daß mit dem Begriff des Tatverdachts (lediglich) ein an Plausibilitätsannahmen orientierter

151

Vgl. Hainmüller, Der Anscheinsbeweis und die Fahrlässigkeitstat im heutigen deutschen Schadensersatzprozeß, 1966, S. 28 ff. 152 Zur Kritik dieser und ähnlicher Unterscheidungen vgl. Neil, S. 93 tf. 153 Kühne, NJW 1979, 617, 621, der daim fur die genauen Anforderungen an den Nachweis von überzufalligen Erfahrungssätzen auf die höchstrichterliche Kontrolle vertraut. 154 a.A. Kruckels, Der Eingriff in das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis des Beschuldigten des § 100a StPO und des Verdächtigen des Artikels 1 § 2 G10, 1974, S.22 m.w.N. 155 So bereits im Gesetzgebungsverfahren zu § 100a StPO betont, vgl. BTDrs. V/1880, S. 11. 156 So auch Kühne, 617, 621 f. und Schumacher, S. 144 tf. S Neumann

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Β. Das neue Polizeirecht zur verdeckten Informationserhebung

Begründungszwang für strafprozessuale Eingriffshandlungen eingeführt i s t 1 5 7 . M i t dem Begriff des Tatverdachts ist entgegen erstem Anschein also kein scharf konturiertes, eigenständiges Grenzprinzip für die Ermittlungstätigkeit der Strafverfolgungsbehörden formuliert. Weil größere begriffliche Schärfe nicht erreicht werden kann, wird er in der strafprozessualen Praxis deswegen auch gar nicht als eigenständiges Grenzprinzip verwendet. Für die Durchführung von strafprozessualen Zwangsmaßnahmen fungiert der Tatverdacht vielmehr nur als einer von mehreren Anhaltspunkten, unter denen entschieden wird, ob im Hinblick auf die beabsichtigte Maßnahme der Eingriff mit vernünftigen Erwägungen gerechtfertigt werden k a n n 1 5 8 . Der Tatverdacht und seine Intensität ist neben der Tatschwere, der Bedeutung der Sache, der zu erwartenden Strafe, dem voraussichtlichen Erfolg der Maßnahme und der nach Umfang, Ausmaß und zeitlicher Dauer differenzierten Beeinträchtigung des Beschuldigten ein Element in einem pragmatischen Abwägungsvorgang 159 . Das Urteil über die Wahrscheinlichkeit der Schlußfolgerung von bekannten Tatsachen auf vergangene Handlungszusammenhänge ist dann grundsätzlich das Produkt eines komplexeren Abwägungsvorgangs 160 . Entgegen allgemeiner Überzeugung wird es weder gelingen noch ist es erforderlich, Intensitätsgrade im Tatverdacht begrifflich zu präzisieren. Erst im Abwägungszusammenhang mit weiteren Kriterien wird gleichsam in einer Gesamtschau die Zulässigkeit der beabsichtigten Zwangsmaßnahmen beurteilt. Wenn nun schon der strafprozessuale Tatverdacht ein begrifflich unsicheres Dasein führt, worin liegen dann noch Unterschiede zu den jetzt für das Polizeirecht vorgeschlagenen Voraussetzungen für verdeckte Informationseingriffe? Eine Differenz liegt zunächst darin, daß die Prognose von der Vergangenheit auf die Zukunft umgestellt wird. Der polizeiliche Eingriff soll zulässig sein, wenn tatsächliche Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen, daß jemand künftig Straftaten begehen wird. Die darin verlangte Folgerung von tatsächlichen Anhaltspunkten auf eine künftige Ausführung von Straftaten zwingt zu dem Schluß von unsicherem Wissen auf eine Vermutung, während beim strafprozessualen Tatverdacht von sicherem Wissen auf ein (wahrscheinliches) Ereignis in der Vergangenheit geschlossen wird. Beide Bestandteile des Wahrscheinlichkeitsurteils nach neuem Polizeirecht formulieren also Ungewißheit. Dadurch aber wird erkennbar nicht die Wahrscheinlichkeit der fertigen Schlußfolgerung gesteigert, sondern im Gegenteil drastisch verringert. Hinzu 157 Vgl. auch Finche , ZStW 1983, 918, 934 f., der auf die "Normalerfahrung" eines "Normalbeamten" abstellt. 158 Vgl. die Übersicht bei Schumacher, S. 144 ff. 159 Y g j a u c h Degener, Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und strafprozessuale Zwangsmaßnahmen, 1985, S. 54 ff. 160 Vgl. Nell, S. 163 ff.

IV. Verdeckte Informationserhebungen

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kommt, daß die "tatsächlichen Anhaltspunkte" auch in dem Rückgriff auf kriminalistische Erfahrungen bestehen, darin sogar aufgehen können 1 6 1 . Dadurch wird das Wahrscheinlichkeitsurteil darüber, ob in der Zukunft Personen Straftaten begehen werden, einerseits maximal subjektiviert und andererseits in eine Form gebracht, die den interpretatorischen Zugriff auf eine größtmögliche Zahl von Anhaltspunkten erlaubt. Damit wird systematisch die Möglichkeit geschaffen, daß die sonst im strafprozessualen Begriff des Tatverdachts geforderte Überzufalligkeit der Schlußfolgerung von Tatsachen auf bestimmte Personen entfallen darf. Im strengen Umkehrschluß ergibt sich die Folgerung, daß bereits mit einem bloß zufalligen Zusammenhang zwischen "tatsächlichen Anhaltspunkten" der Schluß auf die künftige Begehung von Straftaten begründet werden darf. M i t nur mäßiger Überspitzung kann man darauf das Urteil stützen, daß der Zufall zur Ermächtigungsgrundlage für den polizeilichen Informationseingriff wird. Übersetzt in die gebräuchliche Terminologie zum Begriff des strafprozessualen Tatverdachts, wonach jedenfalls durch die Tatsachenklausel subjektive Befürchtungen und Vermutungen ausgeschlossen sein sollen 1 6 2 bleibt als Ergebnis, daß nunmehr solche subjektiven Befürchtungen und Vermutungen den polizeilichen Eingriff rechtfertigen können.

IV· Verdeckte Informationserhebungen nach dem "Gesetz zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheìmnisses" (G10) Ein unmittelbares Vorbild für die Regelung stark herabgesetzter Eingriffsvoraussetzungen für verdeckte Informationserhebungen von Sicherheitsbehörden findet sich in Art. 1 § 2 Abs. 1 G 1 0 1 6 3 für die Anordnung der zuständigen obersten Landesbehörde oder des beauftragten Bundesministers zur Beschränkung des grundrechtlich in Art. 10 Abs. 1 GG gewährleisteten Brief-, Postund Fernmeldegeheimnisses. Nach dieser Vorschrift können Einschränkungen (Öffnen und Einsehen von Brief-, Post- oder Fernmeldesendungen, Mitlesen des Fernschreibverkehrs, Abhören des Fernmeldeverkehrs und Aufnahme auf Tonträger) angeordnet werden, "wenn tatsächliche Anhaltspunkte für den Verdacht bestehen", daß jemand die in den Nummern 1 bis 7 der Vorschrift aufgeführten Straftaten "plant, begeht oder begangen hat". Daneben können im Rahmen der sog. strategischen Überwachung nach Art. 1 § 3 Abs. 1 G10 weitere Beschränkungen angeordnet werden "zur Sammlung von Nachrichten über Sachverhalte, deren Kenntnis notwendig ist, um die Gefahr eines bewaffneten Angriffs auf die Bundesrepublik Deutschland rechtzeitig zu erkennen 161

Dazu näher sogleich unter IV. Vgl. nochmals Kleinknecht, MDR 1965, 781. 163 Vgl. dazu BVerfG, NJW 1989, 1075 ("Dritte Abhörentscheidung"); kritisch dazu Schlink, NJW 1989, 11 ff. 162

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Β. Das neue Polizeirecht zur verdeckten Informationserhebung

und einer solchen Gefahr zu begegnen". Die im Rahmen der strategischen Überwachung erlangten Kenntnisse und Unterlagen dürfen gemäß Art. 1 § 3 Abs. 2 G10 allerdings nicht zum Nachteil von Personen verwendet werden, es sei denn, daß gegen die Person eine Beschränkung nach § 2 angeordnet ist oder tatsächliche Anhaltspunkte fur den Verdacht bestehen, daß jemand eine der in § 2 G10 oder eine der in § 138 StGB aufgeführten Straftaten plant, begeht oder begangen hat. Auf dem Umweg über diese "Zufallsfunde" können also auch die anläßlich einer bloß strategischen Überwachung angefallenen Erkenntnisse zur Anordnung von Beschränkungsmaßnahmen nach Art. 1 § 2 G10 führen. In den Eingriffsvoraussetzungen für Beschränkungen nach Art. 1 § 2 Abs. 1 G10 findet sich nahezu wortgleich diejenige Formulierung, die nun auch für das polizeiliche Informationsrecht Verwendung finden soll. Hier wie dort sollen tatsächliche Anhaltspunkte für den Verdacht entweder auf die Begehung von Straftaten generell (Polizeirecht) oder auf den Verdacht der Planung, Begehung oder Vollendung der im Gesetz aufgeführten Straftaten (G10) ausreichen. Auf den ersten Blick scheint in der Formulierung der Eingriffsvoraussetzungen nach Art. 1 § 2 Abs. 1 G10 sogar mehr Präzision enthalten zu sein, denn dort wird die Verdachtsrichtung in Bezug auf Planung, Begehung oder Vollendung der Straftaten noch besonders aufgeführt, während in den Eingriffsbefiignissen nach dem neuen Polizeirecht nähere Angaben zum (prognostizierten) Ausführungsstadium der Tat nicht enthalten sind. Stattdessen wird dort nur generell auf künftig mögliche Straftaten Bezug genommen. Allerdings enthält das in Art. 1 § 2 Abs. 1 G10 enthaltene Merkmal "Planung" die systematische Möglichkeit, auch schon vor einem strafrechtlich relevanten Ausführungsstadium einer Straftat die Beschränkungen anzuordnen - und stellt dadurch einen dem neuen Polizeirecht vergleichbar weiten Anwendungsbereich für verdeckte Informationserhebungen h e r 1 6 4 . Wie genau ist nun die rechtliche Qualität der Eingriffsvoraussetzungen nach Art. 1 § 2 Abs. 1 G10 beschaffen, wenn bereits "tatsächliche Anhaltspunkte" für den Verdacht der Planung, Begehung oder Vollendung der einzeln aufgeführten Straftaten genügen sollen? Für das Überwachungsrecht nach G10 muß das schon deshalb ein klärungsbedürftiges Problem sein, weil die Überwachung des Fernmeldeverkehrs auch nach § 100a StPO zulässig ist für die Straftaten, die ebenso in Art. 1 § 2 Abs. 1 G10 enthalten sind. In § 100a StPO allerdings werden "bestimmte Tatsachen" für den entsprechenden Verdacht verlangt. Bereits aus der gesetzlich formulierten Differenz zwischen "tatsächlichen Anhaltspunkten" nach G10 und "bestimmten Tatsachen" nach StPO 164

Dazu gleich näher unter S.68ff.

IV. Verdeckte Informationserhebungen

69

muß sich ergeben, daß der Gesetzgeber an die Substantiierung des Verdachts bei Maßnahmen nach Art. 1 § 2 Abs. 1 G10 geringere Anforderungen als an den Verdacht nach § 100a StPO stellen wollte und daß deswegen die Auslegung der Eingriffsvoraussetzung "tatsächliche Anhaltspunkte" an der im Wortlaut zum Ausdruck kommenden Absicht des Gesetzgebers orientiert werden m u ß 1 6 5 . Wie ein Blick in die Gesetzesmaterialien zeigt, ist die Wahl der Eingriffsschwelle "tatsächliche Anhaltspunkte" für einen Verdacht vom Gesetzgeber auch bewußt in Abgrenzung zu den "bestimmten Tatsachen" nach § 100a StPO getroffen worden. Die Mehrheit des Rechtsausschusses hatte im Gesetzgebungsverfahren die Aufnahme des Merkmals "bestimmte Tatsachen" gegen den Antrag der Minderheit ausdrücklich verworfen, "weil hier (beim Verfassungsschutz) die Anordnung von Überwachungsmaßnahmen weit in das Vorfeld der Straftat vorverlegt sein müsse und hier schon tatsächliche Anhaltspunkte für den Verdacht genügen sollen" 1 6 6 . Allgemein wird deswegen angenommen, daß "tatsächliche Anhaltspunkte" für einen Verdacht deutlich leichter darzulegen seien als die in § 100a StPO verlangten "bestimmten Tatsachen" für den dortigen Verdacht 1 6 7 und sogar, daß im Vergleich zu den "bestimmten Tatsachen" die Eingriffsschwelle drastisch herabgesetzt i s t 1 6 8 . Die Schlußfolgerung auf den Verdacht muß danach in den Tatsachen bloß noch einen gewissen Anhalt finden. Es soll ausreichen, wenn die Verknüpfung der Tatsache mit einer Katalogstraftat eine von mehreren Denkhypothesen bildet 1 6 9 . Minimalvoraussetzung soll sein, daß "irgendeine Tatsache auch nur vage daraufhin(-deutet), daß jemand eine Katalogtat p l a n t " 1 7 0 . Umgekehrt sollen zwar auch hier bloße Vermutungen und Spekulationen ohne verdachtsauslösende Tatsachen nicht genügen, doch wird gleichzeitig betont, daß das faktische Substrat in aller Regel erst in Verbindung mit

165

Allgemeine Ansicht, vgl. Borgs!Ebert, Das Recht der Geheimdienste, 1986, S. 168; Roewer, Nachrichtendienstrecht der Bundesrepublik Deutschland, 1987, S. 227f., jeweils m.w.N. 166 Ygj BT-Drs. V/2930, S. 2 - Bericht des Rechtsausschusses; ganz ähnlich schon BT-Drs. V/1980, S. 6 - Begründung zum Gesetzentwurf G10. 167 Vgl. nur BorgslEbert, S. 167. 168 So OVG NW, VB1. 1983, 1019; ebenso in der Vorinstanz, vgl. VG Köln, NJW 1981, 1630 (Wallraft); vgl. jetzt auch BVerwG, JZ 1991, 511 ff. mit Anm. Gusy. 169 Vgl. Borgs/Eberty S. 168. 170 Krückeis, S. 74, der damit auf einen starken Verdacht verzichten und die Bedeutung nachrichtendienstlicher Erfahrung stärken will; vgl. im Gegensatz dazu seine operationalisierte Fassung des Begritfs "bestimmte Tatsachen", ebenda.

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Β. Das neue Polizeirecht zur verdeckten Informationserhebung

nachrichtendienstlichen Erfahrungen und Bewertungen zu einem relevanten Anhaltspunkt werde 1 7 1 . Nach diesem Verständnis bilden die "tatsächlichen Anhaltspunkte" für den relevanten Verdacht eine sehr spezifische und unzerlegbare Kombination von faktischen Informationen und kriminologischen bzw. nachrichtendienstlichen Bewertungen, deren Mischungsverhältnis nahezu beliebig so gewählt werden kann, daß die Anordnung der Maßnahme stets ihre ausreichende Begründung finden kann. Jede denkbare Kombination aus Fakten und Wertungen kann die Anordnung von Beschränkungen nach G10 auslösen, insbesondere wird nicht gefordert, daß die belastende Version der Bewertung von Informationen wahrscheinlicher sein muß als eine unverfängliche Deutung desselben Sachverhalts 1 7 2 . Also kann auch die - notwendig subjektive - geheimdienstliche Bewertung unverdächtiger Tatsachen den tatsächlichen Anhaltspunkt für den Verdacht einer Straftat im Einzelfall allein begründen. Auf die Terminologie des polizeirechtlichen Gefahrenbegriffs übertragen, zeigt sich, daß die Unterscheidung von Wahrscheinlichkeit und Unwahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts durch einen voraussichtlichen Geschehensablauf systematisch aufgegeben wird. Das genau war bereits die Schlußfolgerung, die sich für die neuen Informationsbefugnisse der Polizei im Vergleich mit dem klassischen Gefahrenbegriff nach einer ersten Durchsicht ergeben hatte 1 7 3 . Dieses Ergebnis wird noch erhärtet durch eine genauere Betrachtung zu der am deutlichsten abgesenkten Eingriffsschwelle für G 10-Maßnahmen. Diese sind bereits zulässig, wenn tatsächliche Anhaltspunkte für den Verdacht bestehen, daß der Verdächtige eine Katalogtat plant. Im Vergleich mit den Regeln des materiellen Strafrechts zur Abgrenzung zwischen straffreiem Vorverhalten und erster Ausführungsphase einer Straftat ist die Planung einer Straftat ein besonders weit vorgeschobener Eingriffsgrund. Er ermöglicht nämlich Überwachungsmaßnahmen im straffreien Vorfeld. Für das Straf- wie das Strafprozeßrecht ist grundsätzlich die Planungsphase eines strafrechtlichen Delikts nicht von Belang. Deswegen bedürfen Überwachungsmaßnahmen nach § 100a StPO mindestens einer strafbaren Vorbereitungshandlung. In dem bewußt dazu gewählten terminologischen Unterschied bezeichnet Planung die der Vorbereitung einer Straftat vorausgehende Phase der Tatbestandsverwirk171

Vgl. Borgs/Ebert, S. 171, wo daraus zusätzlich die Forderung erhoben wird, daß der Behörde ein gerichtlich nicht voll nachprüfbarer Beurteilungsspielraum für die Bewertung, ob geeignete andere nachrichtendienstliche Mittel zur Verfügung stehen, eingeräumt werden muß. A.A. OVG NW, DVB1. 1983, 1019 (1020) (unbestimmter Rechtsbegriff ohne Beurteilungsspielraum). Ebenso BVerwG, JZ 1991, 511 f. 172 So Borgs/Ebert, S. 169. 173 Vgl. oben Β ΠΙ 1.

IV. Verdeckte Informationserhebungen

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lichung 1 7 4 . Im wiederum direkten Vergleich mit § 100a StPO setzen strafprozessuale Überwachungsmaßnahmen die Erreichung der materiellen Strafbarkeitsgrenze voraus, während den Nachrichtendiensten der Eingriff in das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis bereits bei bloßer Planung einer Katalogstraftat gestattet werden kann. Ausdrücklich wird in der gesetzgeberischen Begründung zu Art. 1 § 2 G10 hervorgehoben, daß mit Hilfe des Begriffs "Planung" klargestellt werden soll, "daß schon bei vorbereitenden Handlungen, nicht erst im Stadium des Versuchs der Tat" Abhörmaßnahmen zulässig sein sollen 1 7 5 . Daneben war es für die Entscheidung des Rechtsausschusses, anstelle einer bloßen Generalklausel an konkreten Straftatbeständen im Gesetz festzuhalten, maßgebend, "daß § 2 die Möglichkeit der Anwendung von Überwachungsmaßnahmen (...) weit in das Vorfeld der Straftat vorverlegt, in dem er Planung und Vorbereitungshandlung der Tat einbezieht" 176 . Neben diesen Begründungen in der Gesetzgebungsphase läßt sich auch systematisch zeigen, daß ein relevanter Unterschied zwischen der Planung und der Vorbereitung einer Straftat besteht. Bei einer Vorbereitungshandlung muß die zunächst bloß gedankliche Richtung auf eine Rechtsgutverletzung in beobachtbaren Handlungen zum Ausdruck kommen: "Die Frage nach den Interna ist nur zur Interpretation sowieso schon störender Externa erlaubt" 1 7 7 . Für die Planung einer Straftat genügt hingegen ein "systematisches gedankliches Konzept künftigen Handelns" 1 7 8 . Planung ist danach also die gedankliche Vorstufe zur Vorbereitung einer Straftat. Wenn nach dem Willen des Gesetzgebers die Verfassungsbehörden mit dieser tatbestandlichen Fassung auch in die Lage versetzt werden sollen, im Vorfeld straffreien Handelns zu ermitteln, muß die "Planung" auch zwangsläufig als eine Vorstufe zur Vorbereitung der Straftat gewertet werden, weil anders den Sicherheitsbehörden die Aufklärung im Bereich vor dem Tatverdacht bei allen Straftatbeständen verwehrt wäre, die eine Vorbereitung nicht als selbständige Straftat aufführen 179 .

174

Vgl. Wagner, NJW 1980, 918; Krückeis, S. 78. BT-Drs. V/1880, S. 9 - Begründung zum Gesetzentwurf G10. 176 BT-Drs. V/2930, S. 2 - Bericht des Rechtsausschusses. Vgl. auch Krückeis, S.76f.; Wagner, NJW 1980, 918. 177 Jakobs, ZStW 1985, 751 tf., 761. 178 Welp DÖV 1970, 267 ff., 268. 179 Schließlich ergibt sich aus dem Vergleich von Art. 1 § 2 Abs. 1 G10 und § 100a StPO, daß der terminologische Unterschied nach Planung und Vorbereitung nicht zufallig ist, weil sonst die Fassung des § 100a StPO hätte übernommen werden können, wenn in beiden Vorschriften nur derselbe Gedanke zum Ausdruck gebracht werden sollte, so auch Kruckels, S. 77 f. 175

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Β. Das neue Polizeirecht zur verdeckten Informationserhebung

Im Unterschied zu der Vorbereitung einer Straftat genügt fur deren Planung also ein "systematisches gedankliches Konzept künftigen Handelns". Natürlich müssen auch diese bloßen Gedankengänge erkannt werden können. Dafür reicht es aber aus, daß sie in irgendeiner Weise nach außen in Erscheinung treten, daß der Verdächtige gegenüber anderen seine Pläne erwähnt oder daß schriftliche Unterlagen gefunden werden, aus denen die Planung zumindest in Umrissen erkennbar ist und daraus deutlich wird, daß sich diese Planung auf eine Katalogtat bezieht 1 8 0 . Es bedarf im Gegensatz zur Vorbereitung einer Straftat keiner relevanten Anfangshandlung, es reicht vielmehr das auf irgendeine Weise manifestierte gedankliche Handlungskonzept aus - und darauf ist das Eingriffsmerkmal "tatsächliche Anhaltspunkte" passend zugeschnitten. Nicht gefordert wird eine strafrechtliche Anfangshandlung in der Form "bestimmter Tatsachen", der Schlußfolgerungszusammenhang auf den Verdacht soll davon gerade entlastet sein. Wenn dann die Schlußfolgerung selbst auch allein durch nachrichtendienstliche Erfahrungen gestützt werden kann, dann wirkt die Beteuerung, daß bloße Gesinnungen und Gedankenspielereien gleichwohl nicht ausreichen sollen, wenig überzeugend. Denn auch diese können im Zusammenhang mit geheimdienstlichen Erfahrungen und Theorien solche genügenden tatsächlichen Anhaltspunkte für die Planung einer Straftat bieten. Zusammengefaßt sind die Beschränkungsmaßnahmen nach Art. 1 § 2 Abs. 1 G10 bereits dann zulässig, wenn die in irgendeiner Form manifestierten gedanklichen Handlungskonzepte nach geheimdienstlichen Erfahrungen die künftige Begehung einer Katalogstraftat möglich erscheinen lassen. Damit ist die Frage aufgeworfen, wie sich die dadurch systematisch eröffneten Möglichkeiten des Zugriffs auch auf sehr private Kommunikationsbeziehungen verfassungsrechtlich rechtfertigen lassen. Folgt man dem in Art. 1 § 1 Abs. 1 G10 niedergelegten Gesetzeszweck, dann sollen die Beschränkungen des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses zulässig sein "zur Abwehr von drohenden Gefahren für die freiheitliche demokratische Grundordnung oder den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes einschließlich der Sicherheit der in der Bundesrepublik Deutschland stationierten Truppen der nichtdeutschen Vertragsstaaten des Nordatlantik-Vertrages oder der im Land Berlin anwesenden Truppen einer der Drei Mächte (...)". Nun hat sich gezeigt, daß der dort verwendete Begriff "drohende Gefahren" seinen Niederschlag in den Eingriffsvoraussetzungen nach Art. 1 § 2 Abs. 1 G10 nicht gefunden hat, daß er entgegen dem ersten Anschein keinerlei Ähnlichkeit mit dem klassischen Gefahrenbegriff des Polizeirechts zeigt. Die Eingriffsvoraussetzungen 180

Vgl. Schroecier, NJW 1980, 920, 921; Borgs/Eberl, (Wahlfeststellung genügt).

S. 170 f.; Krückeis, S. 88 f.

IV. Verdeckte Informationserhebungen

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orientieren sich vielmehr an dem Vorfeld von polizeirechtlichen Gefahren und strafrechtlichen Verdachtsmomenten. Aktualität, Nähe eines möglichen Schadens und sogar eine unmittelbar drohende Gefahr werden gerade nicht verlangt. Die Rechtfertigung der stark herabgesetzten Eingriffsschwelle kann folglich in der besonders akuten Bedrohung für die im einzelnen geschützten Rechtsgüter gefunden werden. Die dann naheliegende Antwort ist, daß solche Informationseingriffe nur wegen Hochrangigkeit der dadurch geschützten Rechtsgüter hinzunehmen sind, letzthin deshalb, weil sie ihrer Bedeutung wegen eines weit vorverlegten Schutzes bedürfen. In dem Strafiatenkatalog des Art. 1 § 2 Abs. 1 G10 werden denn auch bedeutende Straftaten mit hochrangigen Rechtsgütern aufgeführt: In den Nummern 1 - 5 Straftaten des Friedensverrats oder des Hochverrats, die Gefahrdung des demokratischen Rechtsstaats, des Landesverrats und der Gefährdung der äußeren Sicherheit, Straftaten gegen die Landesverteidigung und Straftaten gegen die Sicherheit ausländischer Streitkräfte in der Bundesrepublik Deutschland; in den Nummern 6 und 7 zusätzlich die Straftaten nach § 129a StGB (Bildung terroristischer Vereinigungen) und § 47 Abs. 1 Nr. 7 AuslG (Geheime Verbindungen von Ausländern). Die Grundüberlegung für die Aufnahme bestimmter Straftaten in den Katalog ist, daß "deren Planung, Vorbereitung und Begehung gefahrlich genug sind, um den Gebrauch eines derartigen Mittels durch die staatlichen Behörden zu rechtfertigen" 181 . In dem Strafiatenkatalog sind auch und abschließend solche Straftaten aufgezählt, die ihrer Zielrichtung nach den Schutz von Gefahrdungen der staatlichen und demokratischen Institutionen bezwecken. Die Hochrangigkeit der geschützten Rechtsgüter folgt aus dem beabsichtigten Schutz schon der Grundlagen staatlicher Ordnung: "Der Bestand der Bundesrepublik Deutschland und ihre freiheitliche Verfassungsordnung sind ein überragendes Rechtsgut, zu dessen wirksamem Schutz Grundrechte, soweit unbedingt erforderlich, eingeschränkt werden können" 1 8 2 . Noch umfassender wird in dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zum G10 ausgeführt: "Die demokratische Gesellschaft wird heutzutage von sehr verfeinerten Formen der Spionage und vom Terrorismus bedroht. Daraus folgt, daß der Staat, um diesen Drohungen wirksam zu begegnen, in der Lage sein muß, in seinem Bereich subversiv operierende Personen heimlich zu überwachen. Der Gerichtshof muß daher einräumen, daß das Bestehen von gesetzlichen Bestimmungen, die zur geheimen Überwachung des Briefsverkehrs, der Postsendungen und des Telefonverkehrs ermächtigen, in einer demokratischen Gesellschaft bei einer außergewöhnlichen Situation zum Schutze der nationalen Sicherheit und/oder zur Si181 182

BT-Drs. V/1880 - Begründung zum Gesetzentwurf G10. BVerfGE 30, 1, 18 (Erstes Abhörurteil).

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Β. Das neue Polizeirecht zur verdeckten Informationserhebung

cherung der Ordnung sowie zur Verhütung von strafbaren Handlungen notwendig i s t 1 8 3 . Nach diesen Begründungen ergibt sich keine strikte Regel für die Aufnahme nur bestimmter Straftaten in den Katalog. Vielmehr könnten weitere Straftaten aufgenommen werden, wenn die Verhinderung ihrer Begehung dem Bestand der Bundesrepublik Deutschland und ihrer freiheitlichen Verfassungsordnung dienen und von ähnlicher Schwere und Bedeutung wie die im Katalog aufgeführten Straftaten sind. So könnte sicher ein größerer Teil der in § 100a StPO aufgeführten Straftaten ebensogut Platz finden in dem Straftatenkatalog des A r t . l § 2 Abs. 1 G10. Es ist insoweit die Aufgabe des demokratischen Gesetzgebers, im Rahmen seines Beurteilungsspielraums eine wohlüberlegte Auswahl zu treffen. Wenn auch eine verfassungsrechtlich hinreichend deutliche Grenze für die Aufnahmefähigkeit von Anlaßtaten für geheime Überwachungsmaßnahmen nach G10 nicht eindeutig gezogen werden kann, so müssen sich weitere Straftaten doch durch eine Gefahrdungswirkung für den Bestand der Bundesrepublik Deutschland und ihrer Verfassungsordnung auszeichnen. Dann allerdings darf sich die geheime Überwachungstätigkeit auch auf das Vorfeld konkreter Gefahren und strafprozessualer Verdachtsmomente erstrecken - und sich dadurch bereits an dem Risiko politischer Gefahren orientieren 184 .

V. Gefahr und Risiko Der Blick auf die im Überwachungsrecht nach G10 rechtlich stark aufgeweichten Eingriffsvoraussetzungen für die verdeckte Informationsbeschaffüng hat eine sehr deutliche Distanz zu dem klassischen Gefahrenbegriflf des Polizeirechts, aber auch zu dem des strafprozessualen Tatverdachts erkennen lassen. Der Bezugspunkt der Informationsbefugnisse nach G10 ist der vorbeugende Schutz gegen bloß mögliche Gefahrdungen der staatlichen Ordnung. Es soll schon nicht das Risiko eingegangen werden, daß wichtige Institutionen 183

EGMR, NJW 1979, 1757. Zur allgemeinen Rechtfertigung kommt stets hinzu, daß nach bisheriger Rechtslage die dann erlaubten Eingriffe sich auf die Befugnis zur Informationssammlung beschränken und sie nicht mit weiteren Eingriffsermächtigungen verbunden sind. Der allgemeine Sinn des Trennungsgebotes lag für den Verfassungsschutz (als einer der nach G10 berechtigten Behörden) in dem Ausschluß von den klassischen polizeilichen Zwangsbefugnissen. Ob umgekehrt mit dem Trennungsgebot auch der Ausschluß der Polizei von typischen nachrichtendienstlichen Mitteln beabsichtigt war, ist umstritten, vgl. Kutscha, Die Aktualität des Trennungsgebotes für Polizei und Verfassungsschutz, ZRP 1986, 194 ff; Roewer, Die Trennung von Polizei und Verfassungsschutzbehörden, DVB1. 1986, 205; Schlink, Datenschutz und Amtshilfe, NVwZ 1986, 249 ff. 184

V. Gefar und Risiko

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des Staates und der demokratischen Ordnung einer später aktuellen Gefahr ausgesetzt sein könnten. Daß zur Vermeidung dieses Risikos möglichst frühzeitig und möglichst umfangreich Informationen beschafft werden müssen, ist plausibel. Aber das Recht orientiert sich nicht nur in dem Bereich politisch gefahrlicher Handlungen bereits an dem jeweils auftretenden Risiko statt an der Gefahr (1), sondern in auffalligen Neuentwicklungen auch bei umweltgefährdenden Vorhaben (2), und nunmehr auch für die sozial gefährlichen Handlungen und Verhaltensweisen im Bereich der Kriminalpolitik (3). Die Entwicklungslinien lassen sich nachzeichnen und versprechen mehr Aufschluß über das, was erwartet werden kann, wenn sich auch das Informationsbeschaffüngsrecht der Polizei vom Gefahrenbegriff löst und sich auf das Risiko einläßt. Die Ergebnisse werden unter dem Gesichtspunkt einer begrifflichen Trennung von Gefahr und Risiko ausgewertet (4).

1. Die rechtliche Erfassung politischer Risiken Die Beobachtung der für den demokratischen Rechtsstaat gefährlichen politischen Entwicklungen ist die klassische Aufgabe des Verfassungsrechts. Die für die Regelung dieses Rechtsgebiets wichtige Grundüberlegung besteht darin, die politisch gefahrlichen Entwicklungen durch Sammlung vieler Informationen zu erkennen und in ihrer Gefährdungswirkung einzuschätzen. Nach der gesetzlichen Zuweisung in § 3 Abs. 1 BVerfSchG besteht die Aufgabe des Bundesamtes für Verfassungsschutz in der Sammlung und Auswertung von Auskünften, Nachrichten und sonstigen Unterlagen über "Bestrebungen" gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung, den Bestand und die Sicherheit des Bundes oder eines Landes, gegen eine ungesetzliche Beeinträchtigung der Amtsführung von Mitgliedern verfassungsmäßiger Organe des Bundes oder eines Landes oder über sicherheitsgefährdende oder geheimdienstliche Tätigkeiten und gewalttätige "Bestrebungen" mit Gefährdungswirkung für auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland 185 . In einer vorgelegten Novelle zum Bundesverfassungsschutzgesetz 186 wird durch die Einführung einer tatbestandlichen Fassung der Eingriffsvoraussetzungen präziser als in der bislang geltenden Fassung des Gesetzes die Zulässigkeit der Erhebung personenbezogener Informationen durch die Behörden des Verfassungsschutzes festgelegt. Danach bedarf es "tatsächlicher Anhaltspunkte" für freiheitsgefahrdende "Bestrebungen", damit die spezifischen Erkenntnismittel des Verfassungschutzes eingesetzt werden dürfen. Außerdem wird vorausgesetzt, daß 185

"Gesetz über die Zusammenarbeit des Bundes und der Länder in Angelegenheiten des Verfassungsschutzes" vom 27.9.1950 (BGBl. I, S. 1382), 186 Ygi BT-Drs. 10/5343. Zur Neufassung des Bundesverfassungsschutzgesetzes vgl. oben FN 2.

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Β. Das neue Polizeirecht zur verdeckten Informationserhebung

auf andere Weise die Erforschung des Sachverhalts nicht möglich ist oder den Betroffenen stärker beeinträchtigen würde und daß die Anwendung des nachrichtendienstlichen Mittels nicht außer Verhältnis zur Bedeutung des aufzuklärenden Sachverhalts stehen darf 1 8 7 . Auch hier läßt sich schon die für das Recht der verdeckten Informationserhebung nach G10 sichtbar gewordene typische Aufweichung der rechtlichen Eingriffsvoraussetzungen feststellen. Zur Sammlung aller Arten von Informationen ist die Behörde berechtigt, nachrichtendienstliche Mittel anzuwenden (§ 3 Abs. 3 BVerfSchG), ohne daß die in Betracht kommenden Mittel näher bezeichnet werden. Es besteht aber weithin Übereinstimmung darin, daß es diejenigen Mittel sind, die nach den Vorschlägen aus VE M E PolG nun auch für die verdeckte Informationserhebung der polizeilichen Tätigkeit zugänglich gemacht werden sollen: Vertrauenspersonen, verdeckt arbeitende Ermittler (in der nachrichtendienstlichen Terminologie: Under Cover Agent), planmäßige und längerfristige Beobachtung, verdeckte fotografische Aufnahmen, Abhören und Aufzeichnung des nicht öffentlich gesprochenen Wortes durch Einsatz technischer Hilfsmittel, in besonderen Fällen auch durch Einbau von geeignetem technischem Gerät in Wohnungen oder dessen Anwendung von außen 188 . Diese Rechtsgrundlagen haben im Zusammenhang mit einigen der in der Öffentlichkeit bekanntgewordenen Überwachungstätigkeiten des Verfassungsschutzes kritische Betrachter zu der These vom "Überwachungsstaat" gef ü h r t 1 8 9 . Aufmerksamen Beobachtern ist freilich nicht entgangen, daß die rechtlich weit gefaßten Befugnisse des Verfassungsschutzes zur verdeckten Informationserhebung zu einem großen Teil der Entgrenzung des Begriffs und der Praxis des Politischen selbst geschuldet sind 1 9 0 . Das ist in einer fundamentalen Entwicklung zunächst die Folge der wachsende Aufgabenfülle des modernen Wohlfahrtsstaates selbst. Die ihm in hohem Maße übertragenen oder von ihm angezogenen Aufgaben der Herstellung von sozialer und individueller Sicherheit und der Gestaltung von Ausübungschancen freien Handelns geben jeder Entscheidung, namentlich unter demokratischen Voraussetzungen, eine unmittelbar politische Bedeutung. Jede politische Entscheidung oder Nichtentscheidung generiert unaufhörlich politische Zustimmung oder Ablehnung. Die Möglichkeiten und Reizpunkte für politisch oppositionelles Verhalten sind da187

Vgl. § 6 Abs. 2 E-BVerfSchG, ebenda. Vgl. die Übersicht bei Borgs/Ebert y S. 115 ff. m.w.N.; Schatzschneider, Ermittlungstätigkeit der Ämter für Verfassungsschutz und Grundrechte, 1979, S. 202ff. mit gründlicher Untersuchung der rechtlichen Beziehungen zwischen den einzelnen nachrichtendienstlichen Mitteln und den jeweils betroffenen Grundrechten. 189 Vgl. z.B. Kutscha/Paech, Im Staat der "Inneren Sicherheit", 1981, S. 7 ff. 190 Vgl. dazu Waechter, Der Staat 1988, 393 ff., 401 ff. 188

V. Gefar und Risiko

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durch enorm vermehrt. Von den Darstellungsmöglichkeiten, ihrem Organisationsgrad, ihren Verbindungen und zunehmend ihren Aktionsformen hängt es ab, welche Aufmerksamkeit die unterschiedlichen Protestpotentiale erreichen und wie hoch ihre Erfolgschancen sind. Gleichzeitig erweitern sich durch die Auflösung traditioneller sozialer Bindungen und durch die Erosion sozialer Integrationsformen die Möglichkeiten der selbst gewählten Lebensführung, der Selbstdarstellung, der inviduellen und sozialen Kommunikation. Mit offenbar innerer Dynamik führt das aus der Sicht von Behörden dazu, daß der Alltag selbst eine politische Dimension gewinnt und sich der Bereich dessen, was politisch relevant sein kann, erheblich ausdehnt. Bürgerinitiativen, Aktionsformen und öffentliche Selbstdarstellungen, aber auch neue oder ungewöhnliche Lebensformen können aus der Beobachtungsperspektive staatlicher Behörden einen Aufklärungsbedarf auslösen. Schon die Lebensform selbst (z.B. Wohngemeinschaften) kann zum Indiz für politisch unerwünschte Bestrebungen werden, zumal dann, wenn die Kombination auffalliger Lebensformen vermutet wird. Verfassungsschutzbehörden geraten dadurch in die Versuchung, legale Lebens- und Organisationsformen und selbst die Bereiche privater Lebensgestaltung in die amtliche Beobachtung einzubeziehen. Die charakteristischen Elemente der Risikogesellschaft verstärken nochmals diesen Trend. Politisiert werden nun auch Technik und Wissenschaft 191 . Die Errichtung technischer Großanlagen mit ständigem und hohem Gefahrdungspotential wird als politische Entscheidung mit großen Risikozumutungen wahrgenommen und löst dadurch politische Opposition mit teilweise hoher Handlungsenergie aus. Durch die Vermehrung des Wissens über physikalische, chemische und biologische Zusammenhänge können die zirkulierenden Befürchtungen nicht ausgeräumt werden, weil die Erweiterung wissenschaftlicher Erkenntnisse eine maßgebliche Quelle für die Beunruhigungen sind und deswegen durch Ansammlung und Verbreitung von mehr Wissen zugleich auch mehr Unsicherheit entsteht 192 . Gleichzeitig werden dadurch die Entscheidungsspielräume vergrößert, wenn auch unter Verlust oder doch Abschwächung herkömmlicher Rationalitätsvorstellungen 193 . Gesellschaftsweit

191

Zu den Änderungen im Verständnis von Technik vgl. Ullrich, Technik und Herrschaft, 1979 192 Vgl. dazu Douglas! Wildavsky, Risk and Culture; An Essay on the Selection of Technical and Environmental Dangers, 1982, insb. S. 32 if.; Mazur , The Dynamics of Technical Controversy, 1981, S. 57 ff. Vgl. auch Winter (Hrsg.), Grenzwerte. Interdisziplinäre Untersuchungen zu einer Rechtsfigur des Umwelt-, Arbeits- und Lebensmittelschutzes, 1986. 193 Vgl. dazu die Einzel Studien in: Arkes/Hammond (Hrsg.), Judgement and Decision Making, 1986, die übereinstimmend eine neue Freiheit zur willkürlichen Entscheidung beobachten.

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wird dadurch der Bereich zugemuteter Risiken stark vergrößert 194 . Bei großen Risikozumutungen muß man damit rechnen, daß sich oppositionelles Handeln radikalisiert. In der politischen Kontroverse über die Errichtung von Kernkraftwerken werden die möglichen hohen Schadenswirkungen solcher Einrichtungen fur die politische und moralische Legitimität privater Sabotageaktionen in Anspruch genommen, und ähnliches darf man auch für andere Entscheidungslagen, z.B. für Einrichtungen der Gentechnik oder große Chemieanlagen, erwarten. Die Sicherheitsbehörden müssen folglich mit Anschlägen auf technische Großeinrichtungen rechnen, die im Erfolgsfall hohe und höchste Schadenspotentiale freisetzen können. Die Technik selbst wird dadurch zu einer eigenen und stets präsenten Gefahr, sie wird aus ihrer ursprünglichen Position politischer Neutralität herausgelöst, sie wird selbst politisiert. Im Gegenzug führt das für Sicherheitsbehörden zu dem Bedürfnis nach mehr Informationen, das sich jetzt auch in den Bereich des politisierten Privaten erstreckt und auch vor dem Zugriff auf legale Lebensformen nicht halt macht. Für das Verfassungsschutzrecht ist diese veränderte Ausgangslage auch ausdrücklich zur Kenntnis genommen worden. Die Unterscheidung zwischen Legalität und Illegalität des politischen Verhaltens ist im Verfassungsschutzrecht ohnehin das zentral bedeutsame Problem. Bereits zu der Neufassung des Bestrebungstatbestandes in § 3 Nr. 2 BVerfSchG ("Bestrebungen, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung, den Bestand und die Sicherheit eines Bundes oder eines Landes gerichtet sind...") 1 9 5 , Schloß sich sofort die Frage an, ob organisiertes Zusammenwirken vorausgesetzt werde oder ob auch Einzelpersonen gemeint sein könnten 1 9 6 . Auch besteht seit langem Streit darüber, ob die "Bestrebungen" auf einer "aggressiv-umstürzlerischen Grundhaltung" beruhen und in dieser Form objektiv erkennbar sein müssen 197 . Neben diesen Einzelheiten - und dann zugespitzt - taucht die Unterscheidung zwischen Legalität und Illegalität im Verfassungsschutzrecht dort auf, wo ausdrücklich die Frage beantwortet werden muß, ob die tatbestandsmäßige "Bestrebung" auch in legalem Handeln bestehen kann. Es muß dann das Problem reflektiert werden, ob sich verfassungsfeindliche Bestrebungen ohne Berührung mit Straftatbeständen oder anderen Verbotsnormen äußern und dann der Beobachtung unterliegen können. Der darüber geführte Streit 1 9 8 ist zugun194 Zum sozial wissenschaftlichen Unterschied von Gefahr und Risiko vgl. nochmals Luhmami, Gefahr und Risiko, in: ders., Soziologische Aufklärung Bd. 5, 1990, S. 131 ff.: mehr Wissen, mehr Entscheidungsmöglichkeiten, mehr Risiken. 195 Durch Änderungsgesetz vom 7.8.1972, BGBl. I S. 1392. 196 Ygj Schwagerl, Verfassungsschutz in der Bundesrepublik Deutschland, 1985, S. 15 einerseits und Βorgs/Ebert, S. 74 f. andererseits. 197 Für diese Voraussetzung Schwagerl, S. 61; dagegen Borgs/Ebert, S. 77. 198 Nachweise bei Borgs/Ebert, S. 77.

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sten der Annahme entschieden, daß für die Beobachtung von "Bestrebungen" auf die manifeste Iiiegalität der Verhaltensweisen verzichtet werden kann, weil regelmäßig eine gleichsam latente Illegalität wegen der durch Art. 9 Abs. 2, 18, 21 Abs. 2 GG vorgesehenen Illegalisierungsmöglichkeiten bestehe 199 . Wenn deswegen das Informationsbedürfnis der Verfassungschutzbehörden in der Legalität des Verhaltens von Personen keine Grenze findet und zugleich beobachtungswürdiges Verhalten sich auch in privaten Kommunikationsbeziehungen finden läßt, dann entfällt überhaupt die Möglichkeit, präzise Eingriffsvoraussetzungen für die Informationsbeschafüing zu formulieren. Zwangsläufig muß dann auch der informationelle Zugriff auf die Privatsphäre grundsätzlich erlaubt werden. Konsequent ist es dann auch, daß für die Eingriffsvoraussetzungen auf das Kriterium der "letzten Möglichkeit", das für den polizeirechtlichen Gefahrenbegriff so bedeutsam ist, verzichtet wird. Umgekehrt muß die Bindung des informationellen Eingriffs an einen spätestmöglichen Zeitpunkt aufgegeben werden. Dies wird erreicht, indem als Voraussetzung für den Informationszugriff lediglich tatsächliche Anhaltspunkte für den Verdacht von verfassungsfeindlichen Bestrebungen gefordert sind. Die im Verfassungsschutzrecht formulierten Voraussetzungen für den informationellen Eingriff orientieren sich also nicht an Gefahren, sondern an möglicherweise in der Zukunft gefahrträchtigen Situationen, an Komplexen von Handlungen und Tatsachen mit abstrakter Schadensneigung. Sie orientieren sich mit anderen Worten am Risiko. Für den Bereich des Verfassungsschutzrechts wird diese Festlegung auf das politische Risiko verfassungsrechtlich durch Art. 9 Abs. 3, Art. 21 Abs. 2 GG mit dem dort niedergelegten Verbot von Bestrebungen gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung inhaltlich gekennzeichnet. Gleichzeitig ist darin eine materielle Grenze mitgedacht, vor deren Erreichen das Geschehen auch für den Verfassungschutz nicht relevant sein soll, nämlich im unpolitischen, privaten Bereich. Mit dem hier beschriebenen Verlust in der Unterscheidung zwischen politischem und privatem Verhalten wird allerdings auch diese Grenzlinie merkwürdig verschwommen und dadurch die für das Verfassungsschutzrecht ohnehin konstitutive Orientierung am Risiko nochmals gesteigert.

199

Vgl. Borgs/Ebert, S. 49 f. unter Bezugnahme auf die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung zur streitbaren Demokratie, vgl. z.B. BVerfGE 28, 36,48.

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2. Die rechtliche Behandlung von Umweltrisiken Zu den erstaunlichsten Veränderungen in der Entwicklung von Gesetzestexten und der juristischen Dogmatik im Umweltschutzrecht gehört die neu aufgetretene und viel diskutierte Unterscheidung zwischen Gefahrenabwehr und Vorsorge. Wichtige Regelungsbereiche, namentlich das Atomrecht und das Immissionsschutzrecht, haben sich gerade mit dieser Differenz aus dem Zusammenhang des überlieferten Gewerbe- und Ordnungsrechts gelöst und eine neue Struktur erhalten 2 0 0 . Dies gilt vor allem für das umweltrechtlich bedeutsame Immissionsschutzrecht mit der dort besonders deutlich durchgeführten Differenzierung zwischen den Tatbeständen in § 5 Abs. 1 Nr. 1 (Gefahrenabwehr) und Nr. 2 BImSchG (Vorsorgegrundsatz). Die Diskussion um Inhalt und Reichweite dieser Unterscheidung ist heute noch wesentlich durch diese ausdrückliche gesetzliche Differenzierung im Bundesimmissionsschutzgesetz bestimmt 2 0 1 . Zunächst hatte sich die Erörterung an dem in § 7 Abs. 2 Nr. 3 AtomG verwendeten Begriff der Schadensvorsorge entzündet. Danach darf die Genehmigung zur Errichtung, zum Betrieb, zur sonstigen Innehabung oder Veränderung einer kerntechnischen Anlage nur erteilt werden, wenn "die nach dem Stand von Wissenschaft und Technik erforderliche Vorsorge gegen Schäden durch die Errichtung und den Betrieb der Anlage getroffen ist". Zu der Frage, wie der Umfang der danach erforderlichen Schutzmaßnahmen beschaffen sein muß, hatte sich alsbald gezeigt, daß spezifische Probleme der Gefahrenbeurteilung auftauchen, die mit dem klassischen Gefahrenabwehrmodell des Polizeirechts nicht angemessen zu behandeln sind 2 0 2 . Das eine Problem besteht darin, zu ermitteln, was an Schutzmaßnahmen gefordert werden kann, wenn zwar die möglichen Schäden katastrophale Ausmaße erreichen können, andererseits die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts aber als vergleichsweise gering eingeschätzt wird. Obgleich sich auch sonst im Gefahrenabwehrrecht jener Sonderfall findet, bei dem die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts 200 Zwischenzeitlich sind weitere Regelungsbereiche des Umweltrechts auf diese Differenz umgestellt worden, vgl. als Übersicht: Kloepfer; Umweltrecht, 1989, S. 7Iff; Ossenbiihl, NVwZ 1986, 161 ff Wo das noch nicht geschehen ist, wird vehement dafür Stellung genommen, vgl. Rid/Hammatm, UPR 1990, 281 ff, 285. Zum Abfallrecht, in das ein ausdrücklicher allgemeiner Vorsorgegrundsatz nicht aufgenommen wurde, vgl. Atzpodien, NVwZ 1989,415 ff 201 Vgl. hier nur Reich, Gefahr - Risiko - Rechtsrisiko. Das Vorsorgeprinzip am Beispiel des Immissionsschutzrechts, 1989, mit umfangreichen Nachweisen aus Literatur und Rechtsprechung. 202 Vgl. Marburger, Atomrechtliche Schadensvorsorge, 1983, S. 63 ff m.w.N. vgl. auch Lukes und Birhofer, in: Lukes (Hrsg.), Gefahren und Gefahrbeurteilungen im Recht, Band 1, 1980, S. 17 ff, 65 ff

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gegen Null geht, der Schaden im Eintrittsfall aber höchste Ausmaße annehmen kann (z.B. die voraussichtlich unernsthafte Bombendrohung) ist er dort doch als Ausnahmefall angesiedelt. Bei den denkbaren Störfällen im Atomrecht bildet er dagegen den Regeltyp. Wenn sich für diesen atomrechtlichen Normalfall schwerlich noch die nach herkömmlichen Grundsätzen erforderliche Nähe zum Schadensfall herstellen läßt, dann können darauf jedenfalls die technisch und wirtschaftlich maximal realisierbaren Schutzvorkehrungen "unterhalb der Schwelle praktischer Vorstellbarkeit eines theoretisch möglichen Schadenseintritts 203 nicht gestützt werden. Die andere Abweichung vom Gefahrenabwehrmodell des Polizeirechts besteht in dem Mangel an Erfahrungswissen. Der polizeirechtliche Gefahrenbegrifif geht davon aus, daß die Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts anhand der Lebenserfahrung beurteilt werden kann. Für die Errichtung und den Betrieb von kerntechnischen Anlagen besteht die Ausgangssituation aber darin, daß auf Erfahrung weithin nicht, auf Lebenserfahrung im Sinne eines sofort zugänglichen Alltagswissens erst recht nicht abgestellt werden kann. Schon nach der gesetzlichen Formulierung kommt es auf die nach dem Stand von Wissenschaft und Technik erforderliche Schadensvorsorge an, die Beurteilung zur Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts muß demnach wissenschaftlichen Risikoanalysen überlassen bleiben, die anhand der Lebenserfahrung aber nicht mehr kontrolliert werden können. Wie aber kann dann, wenn der klassische Gefahrenbegriff (auch der Gefahrenverdacht 204 ) keine zuverlässigen Maßstäbe für den erforderlichen Umfang von Schutzmaßnahmen gegen wenig wahrscheinliche, dann aber katastrophale Schäden liefert, noch mit rechtlichen Kategorien erfaßt und diszipliniert werden? Die Antwort war und ist, daß nach überwiegender Ansicht in Rechtsprechung und Literatur in dem Begriff der Schadensvorsorge des § 7 Abs. 2 Nr. 3 AtomG eine gefahrunabhängige Risikovorsorge etabliert i s t 2 0 5 . Dieser ist in der für das Atomrecht spezifischen Form auf den (nach den Maßstäben des klassischen Gefahrenabwehrrechts) nicht wahrscheinlichen, aber dennoch möglichen Schaden mit großem und größten Ausmaßen bei gleichzeitig unsicherem Wissen konzentriert. Die Einzelheiten der Grenzziehung zwischen Gefahrenabwehr und Schadensvorsorge im Atomrecht sind umstritten. Ob man die atomrechtliche Schadensvorsorge nur als die dem Gesetzgeber überantwor203

Vgl. Breuer, DVB1. 1978, 829 ff., 836. Anders Hansen-Dix, S. 216 ff., dem vielleicht noch für den Normalbetrieb eines KKW hinsichtlich kleiner und kleinster Strahlenmengen und ihren Dosis-WirkungsBeziehungen zugestimmt werden könnte, nicht aber für das Unfallrisiko; überzeugend dagegen Marburger, S. 64 f. 205 Ygj nur Marburger, S. 60 mit zahlreichen Nachweisen. 204

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tete Ermessensentscheidung zur Bestimmung einer zulässigen Grenzzahl für die Eintrittswahrscheinlichkeit des Schadens betrachtet 206 oder daraus die Forderung nach Redundanz mehrfacher zuverlässiger und voneinander unabhängiger Schutzvorkehrungen ableitet 2 0 7 oder sogar erst dann die Risikovorsorge beginnen lassen w i l l 2 0 8 , immer ist die Perfektionierung des Schutzes gegen nur mögliche Gefahren, beabsichtigt, soll maximale Risikominderung stattfinden 209 . Durch den hochdynamischen Maßstab für Schadensvorsorge in dem Begriffspaar "Wissenschaft und Technik" wird das auf konservierende Bestandserhaltung (Schadensabwehr) ausgerichtete Gefahrenabwehrmodell des Polizeirechts vollends verlassen. Ganz ähnlich entwickelte sich die Diskussion zur Differenzierung zwischen Gefahrenabwehr und gefahrenunabhängiger Vorsorge im Immissionsschutzrecht. Obgleich sich der gesetzlichen Regelung wenig mehr als die Differenz selbst, dagegen keine eindeutige Aussage über einen nachvollziehbaren positiven Gehalt des Vorsorgegebotes entnehmen läßt 2 1 0 , steht doch fest, daß auch hier Defizite an gesichertem Erfahrungswissen über zahlreiche Geschehensabläufe, Wirkungszusammenhänge und Eigenschaften von Stoffen eine konkrete Gefahrenprognose und häufig schon eine Gefahrendiagnose unmöglich machen. Auch fehlt es meist an einem identifizierbaren Urheber, einem Störer 211 . Schließlich muß die herkömmliche Gefahrendogmatik auch deshalb versagen, weil es - wie bei der Schadensvorsorge im Atomrecht - bei der gefahrenunabhängigen Vorsorge nicht um die Wiederherstellung einer ursprünglichen Normallage geht, sondern um die Maximierung des nach dem "Stand der Technik" erreichbaren Schutzes gegen mögliche künftige Schäden und darüber hinaus um Freiraumvorsorge. Das Vorsorgerecht wird dadurch dynamisiert und auf die Zukunft gerichtet. Ob man nun den Zweck des Vorsorgegebotes darin sieht, unabhängig vom Gefahrenschutz nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 BImSchG Freiräume für Industrieanlagen einerseits 212 und Lebensräume andererseits 213 zu schaffen und zu erhalten, oder ihm allgemein die Funktion 206

So z.B. Lukes , BB 1978, 317 ff., 321. z.B. OVG NW, ET 1975, 220, 230 f. 208 So Breuer, DVB1. 1978, 829 ff., 836: Risiko Vorsorge unterhalb der Schwelle praktischer Vorstellbarkeit eines theoretisch möglichen Schadenseintritts. 209 So ausdrücklich BVerfGE 49, 89, 134 ff., 140 ff. (Kalkar): "Hinzunehmendes Restrisiko erst jenseits der Schwelle praktischer Vernunft". 210 Vgl. Darnstädt, S. 123 f., der die "Tatbestandslosigkeit" des Vorsorgegrundsatzes rügt. 211 Vgl. dazu Spießhof er, Der Störer im allgemeinen und im Sonderpolizeirecht, 1989, S. 56 ff., 120 ff., die deshalb ftlr einen auf MitwirkungsVerantwortung, nicht Venirsacherhaftung erweiterten Störerbegriff plädiert. 212 Vgl. Feldhaus, DVB1. 1980, 133. 213 Vgl. Seltner, NJW 1980, 1255. 207

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zuweist, konkrete Schutzmaßnahmen unterhalb der Gefahrenschwelle zu ermöglichen 2 1 4 oder schließlich beide Funktionen miteinander verbunden wissen w i l l 2 1 5 , immer ist auch hier die dynamisierte Gefahrenvorbeugung gemeint. Schon gegen die Entstehung bloß möglicher späterer Gefahren soll Vorsorge getroffen, schon das Risiko soll unterdrückt werden 2 1 6 . 3. Die rechtliche Bewältigung sozialer Risiken Unter den vielen sozialen Risiken gehören jene Formen abweichenden Verhaltens, die zugleich als strafwürdiges Unrecht qualifiziert sind, zu den traditionellen Gefährdungen der Gesellschaft. Keine Gesellschaft, jedenfalls keine moderne Gesellschaft, kann darauf verzichten, ihren Mitgliedern durch die Schaffung und Anwendung von Strafrechtsnormen zu signalisieren, wo die Grenzen der Toleranz für abweichendes Verhalten beginnen und was passiert, wenn gegen diese Regeln verstoßen wird. Das Strafrecht und das für seine Anwendung geltende Verfahrensrecht sind ein gleichsam klassisches Beispiel für staatliche Vorsorge gegen gesellschaftlich unerwünschte Handlungen (manchmal auch: Haltungen). Die strafrechtlich definierten Humanrisiken müssen geradezu zwangsläufig größere Aufmerksamkeit verursachen und erhöhte Bedeutung gewinnen, wenn die bisher bewährten Formen sozialer Integration nicht mehr in dem alten Ausmaß wirksam und dadurch die Möglichkeiten sozial gefahrlicher oder doch unerwünschter Verhaltensweisen vermehrt sind. Nach dem überlieferten Verständnis des Polizei- und Strafprozeßrechts werden die strafrechtlich unerwünschten Verhaltensweisen aber nicht als Risiken, sondern entweder als Gefahren (Polizeirecht) oder als Verdacht auf Straftaten (Strafprozeßrecht) wahrgenommen. Allerdings ist schon das bislang geltende Polizeirecht wie das Strafprozeßrecht von der generellen Lösung des Rechts aus dem Gefahrenabwehrmodell und dessen Neuorientierung auf das Risiko sowie komplementär zur Vorsorge nicht unberührt geblieben. Ein deutlicher erster Schritt in diese Richtung ergab sich bereits mit dem Vorschlag aus M E PolG 1976 zu den dort aufgenommenen Voraussetzungen 214

So z.B. Papier, DVB1. 1979, 162. So Sendler, UPR 1983, 43 und BVerwG, IJPR 1984, 202. 216 Breuer, NVwZ 1990, 211 ff, 219, will allerdings dem Vorsorgegrundsatz des BImSCHG im Gegensatz zum Prinzip der Schadensvorsorge im AtomG keine Verpflichtung zur "superlativistischen Risikominimierung" für Störtalle und Anlagensicherheit entnehmen, sondern insoweit nur ein Gebot der "vorbeugenden, sachangemessenen erweiterten Gefahrenabwehr". Dagegen vgl. Kloepfer/Kröger, NuR 1990, 8 ff 215

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für polizeiliche Identitätsfeststellungen. Nach der Formulierung in § 9 Abs. 1 Nr. 2 M E P o l G 2 1 7 kann die Polizei (neben dem in Nr. 1 genannten Zweck der klassischen Gefahrenabwehr) auch dann die Identität einer Person feststellen, wenn diese sich an Orten aufhält, von denen "aufgrund tatsächlicher Anhaltspunkte erfahrungsgemäß anzunehmen ist", daß dort entweder Personen Straftaten verabreden, vorbereiten oder verüben, sich Personen ohne erforderliche Aufenthaltserlaubnis treffen, sich Straftäter verbergen oder an denen Personen der Prostitution nachgehen. Ergänzt wird diese Regelung zu den sogenannten verrufenen Orten durch die zu gefährdeten Objekten (§ 9 Abs. 1 Nr. 3) und schließlich auch durch die zur Identitätskontrolle bei der Errichtung von Kontrollstellen (§ 9 Abs. 2 Nr. 5). Allen diesen Regelungen ist gemeinsam, daß für die Identitätsfeststellungen das Vorliegen einer polizeirechtlichen Gefahr nicht erforderlich ist und daß es deshalb auch nicht um die Inanspruchnahme von Störern oder Notstandspflichtigen geht. Auffallig ist auch, daß zu den materiell-rechtlichen Eingriffsvoraussetzungen sich genau die Formulierung findet, die jetzt in den Vorschlägen des VE M E PolG zum neuen Informationseingriffsrecht der Polizei die hauptsächlich benutzte Bezeichnung der Eingriffsvoraussetzungen darstellt: "die Annahme, daß aufgrund tatsächlicher Anhaltspunkte künftig Straftaten besorgt werden müssen." Für die damit verbundenen polizeilichen Befugnisse (Personalienbefragung, Prüfung der Ausweispapiere, Festhalten, Durchsuchung) muß ein konkreter Verdacht gegen die an verrufenen Orten angetroffenen Personen nicht vorliegen. Die Regelung zur Identitätsfeststellung knüpft erstem Anschein nach an einen Begriff von dispositioneller Gefahr 2 1 8 an, nämlich an eine generelle Vermutung über gefahrengeneigte Orte. Bei genauer Betrachtung muß dieser Versuch aber als mißlungen angesehen werden, weil nicht die verrufenen Orte bereits die Gefahren produzieren, sondern die gesetzliche Regelung lediglich an die erhöhten Erfolgschancen für relevante Identitätsfeststellungen anknüpft, also gerade nicht an eine dispositionelle Gefahr. Daß dieser Bezugspunkt der gesetzlichen Regelung rechtsstaatlich bedenklich ist, ergibt sich daraus, daß diese Art der Begründung aus sich heraus keine natürliche Grenze findet 219. Für das Strafprozeßrecht läßt sich ebenfalls ein aufschlußreiches Beispiel für den Übergang zu einem anderen Eingriffsmodell finden. Abweichend von der üblichen Systematik können nach § 111 Abs. 1 StPO Kontrollstellen eingerichtet werden, wenn bestimmte Tatsachen den Verdacht einer Straftat nach § 129a StGB oder eine der darin bezeichneten Straftaten oder eine solche nach 217 Vgl.. Heise/Riegel, S. 46 ff. Der Vorschlag ist weithin in das Polizeirecht der Länder übernommen worden. Ähnlich der entsprechende Alternativvorschlag in § 15 AE PolG, vgl. Arbeitskreis Polizeirecht (Hrsg.), S. 60 ff. 218 Zu diesem Begriff vgl. Darnstädt, S. 67 f. 219 Vgl. Waechter, Der Staat 1988, 393,419.

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§ 250 Abs. 1 Nr. StGB begründen und "wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen, daß diese Maßnahme zur Ergreifung des Täters oder zur Sicherstellung von Beweismitteln fuhren kann, die der Aufklärung der Straftat dienen können". Zulässige Maßnahmen sind dann die Identitätsfeststellung, die Durchsuchung mitgefühlter Sachen und deren Sicherstellung. Für den durch "bestimmte Tatsachen" begründeten Verdacht auf die in der Vorschrift abschließend aufgezählten Straftaten einerseits und für die zur Erfolgserwartung notwendigen Tatsachen andererseits wird ausdrücklich hervorgehoben, daß dadurch ein besonders qualifizierter Verdacht nicht gefordert wird; es reichten vielmehr auch die aus kriminalistischer Erfahrung gewonnenen Erkenntnisse typischer Geschehensabläufe aus 2 2 0 . Unter diesen Voraussetzungen bereitet es erkennbare Schwierigkeiten, die Grenzen der Anordnungsbefugnis für Kontrollstellen nach Orten und Zeiten zu präzisieren. So dürfen dann Kontrollstellen errichtet werden im "Umkreis von 30 Kilometern um Haftanstalten mit einsitzenden Terroristen" bzw. im gesamten Gebiet des Landes Berlin 2 2 1 . Die Möglichkeit zur Kontrolle dieser schwachen Eingriffsvoraussetzungen fur die Überprüfung einer großen Zahl von Personen, deren Durchsuchung und die Möglichkeit zur Sicherstellung mitgeführter Sachen wird dann auch nicht in den Eingrififsvoraussetzungen, sondern in dem Richtervorbehalt des § 111 Abs. 1 StPO gesehen. Von dem (außer bei Gefahr im Verzug, dann die Staatsanwaltschaft und ihre Hilfsbeamten) zuständigen Richter wird verlangt, daß er Lage und Dauer der aus seiner Sicht erfolgsgeeigneten Kontrollstellen selbst präzisiert, und erwartet wird, daß dies in aller Regel zu einem lokal und zeitlich engen Bezug zu den in § 111 StPO vorausgesetzten Anlaßtaten führen w i r d 2 2 2 . Nach Ansicht des BGH ist es mit der für den Regelfall vorgesehenen Anordnungskompetenz des Richters (!) unvereinbar, wenn sich die Polizei durch richterlichen Beschluß ermächtigen läßt, "für einen längeren Zeitraum nach ihrem eigenen Ermessen zu jeder Tages- und Nachtzeit an jedem öffentlich zugänglichen Ort der Bundesrepublik Kontrollstellen einzurichten" 223 . Eine vorherige wirksame Prüfling der Eingriffsvoraussetzungen wird also davon erwartet, daß das zuständige Gericht nach eigener kriminalistischer Erfahrung entscheidet, also Entscheidungsgrundlagen benutzt, die dem richterlichen Selbstverständnis fremd sein müßten. Das allerdings klassische Beispiel für die Etablierung von Vorsorge im Strafverfolgungsrecht findet sich ausgerechnet in einer auf der Grenze von Polizei- und Strafprozeßrecht angesiedelten Vorschrift, nämlich in § 81b 220

Vgl. Kleinknecht/Meyer, StPO, § 111 Rdnr. 4; Kuhlmann, DRiZ 1978, 238 f. Vgl. dazu Kauß/Werkentin, KJ 1978, 300, 306; vgl. auch BGH (Ermittlungsrichter), StV 1981, 63 (Kontrollstellen unbegrenzt auf das Land Berlin). 222 Vgl. Steinke, Die Polizei 1979,41 ff.; Achenbach, NStZ 1989, 82. 223 BGH, NStZ 1989,81,82. 221

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StPO. Danach dürfen alternativ für Zwecke der Durchführung des Strafverfahrens oder für die Zwecke des Erkennungsdienstes die notwendigen erkennungsdienstlichen Maßnahmen gegen den Willen des Beschuldigten an ihm vorgenommen werden. Den Beschuldigtenstatus im Strafverfahren vorausgesetzt, ist die Anfertigung und weitere Aufbewahrung erkennungsdienstlicher Unterlagen auch zur Vorsorge für die Aufklärung später möglicher weiterer Straffalligkeit des Beschuldigten erlaubt. Die Anfertigung, Aufbewahrung und systematische Zusammenstellung in kriminalpolizeilichen Sammlungen dient nach der gesetzlichen Zweckbestimmung der vorsorgenden Bereitstellung von sächlichen Hilfsmitteln für die Erforschung und Aufklärung von (anderen) Straftaten. Ist deshalb die Anfertigung selbst rechtmäßig gewesen, dann führt selbst der spätere Wegfall der Beschuldigteneigenschaft durch Beendigung des Strafverfahrens auch dann nicht zu einem Anspruch auf Vernichtung der erkennungsdienstlichen Unterlagen, wenn das Strafverfahren durch Einstellung oder Freispruch beendet w i r d 2 2 4 . Die weitere Aufbewahrung erkennungsdienstlicher Unterlagen "bemißt sich danach, ob der anläßlich des gegen den Beschuldigten gerichteten Strafverfahrens festgestellte Sachverhalt nach kriminalistischer Erfahrung (...) Anhaltspunkte für die Annahme bietet, daß der Betroffene künftig oder anderwärts gegenwärtig mit guten Gründen als Verdächtiger in den Kreis potentieller Beteiligter an einer noch aufzuklärenden strafbaren Handlung einbezogen werden könnte und daß die erkennungsdienstlichen Unterlagen die dann zu führenden Ermittlungen (...) fordern könnten" 2 2 5 . Auch wird nicht gefordert, daß sich der ursprüngliche, durch den Freispruch beseitigte Tatverdacht auf eine Straftat mit hoher Gemeinschädlichkeit bezieht. Die Beendigung eines Strafverfahrens durch Freispnich soll nur im Einzelfall Auswirkungen auf die Zulässigkeit der weiteren Aufbewahrung erkennungsdienstlicher Unterlagen besitzen 226 - und eben dadurch möglichst perfekte StrafVerfolgungsvorsorge gewährleisten. Die nach VE ME PolG vorgeschlagenen neuen Informationsbefügnisse für die Polizei orientieren sich an diesem Vorsorgebeispiel und generalisieren es im Hinblick auf die Bekämpfung von Kriminalität überhaupt. Namentlich bezieht sich die Begründung dafür auf die sozialen Risiken der Organisierten Kriminalität. Wenn man diesem Begriff eine Kernbeschreibung des gemeinten Phänomens entnehmen kann, dann liegt das Neuartige und besonders Gefahrliche dieser Kriminalitätsform nicht in der Begehung von Straftaten durch mehrere Personen; Banden hat es schon immer gegeben. Die besondere Gefährlichkeit Organisierter Kriminalität besteht vielmehr in ihrer drastisch erhöhten Regenerationsfahigkeit. In den meisten ihrer wichtigsten Erscheinungsformen (Drogen- und Waf-

224 225 226

Ständige Rechtsprechung, vgl. BVerwGE 66, 192, 196; BVerfO, CR 1989,416 f. BVerfO, CR 1989,417. Vgl. ebenda.

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fenhandel, Geldfälschung und illegales Glücksspiel, Prostitution, Wirtschaftskriminalität) bewegen sie sich zunächst im Bereich unverdächtiger Wirtschaftsvorgänge, und diese Möglichkeit des Rückgriffs auf legale Formen und legales Kapital gestatten den raschen Rückzug in einen rechtlich unangreifbaren Status 2 2 7 . Die im Gegenzug angestrebte Austrocknung des Finanzpools 228 will auf diese Grundlagen zugreifen - und ist dadurch auf Eingriffe in die legale und private Sphäre der Eigentümer angewiesen. Aber auch darüber hinaus folgt das informationelle Bedürfnis der Sicherheitsbehörden dem Grundmuster Organisierter Kriminalität. Wenn deren Gravitationspunkt in den durch Bildung und Anhäufung legalen Kapitals bekundeten Reproduktionsmöglichkeiten liegt, dann läßt sich zwar an den Endpunkten der Kriminalität noch strafbestandsmäßiges Unrecht feststellen, nur bedeutet dessen Erfassung dann nicht das Ende dieser Kriminalitätsform. Ihr organisatorischer Effekt, d.h. der Rückzug und der Rückgriff auf legal gebildete große Kapitalmengen, kann jederzeit wieder für die Mobilisierung krimineller Bestrebungen eingesetzt werden, und die vielen Möglichkeiten des Übergangs vom legalen zum illegalen Handeln machen verständlich, daß erst durch zusätzliche Informationen beide Bereiche mit größerer Trennschärfe differenziert werden können. Auch für die Bekämpfung des politischen Risikos läßt sich also eine ganz ähnliche Entwicklung wie im Verfassungsschutzrecht beobachten. Auch wenn man den neuen Formen oder auch nur dem vermehrten Auftreten von Kriminalität mit einem auf Risikovorsorge umgestellten Eingriffsschema begegnen will, dann müßten - wie schon der Seitenblick auf § 81b StPO gezeigt haben müßte - die Hoffnungen auf eine rechtsstaatliche Kontrolle des neu strukturierten Polizeirechts stark zurückgeschraubt werden. Die Etablierung des Risikos im Polizeirecht müßte zwangsläufig zu dem Verzicht auf den letztmöglichen Zeitpunkt für den informationellen Eingriff führen. Man würde stattdessen auf eine generelle Gefahrneigung von Menschen oder Sachverhalten abstellen, die in äußerlich unverdächtigen Formen keine Grenze finden kann. Nach dem klassischen Gefahrenabwehrmodell würden unverdächtige Tatsachen und die Form äußerlicher Normalität die Wahrscheinlichkeit erhöhen, daß deren prognostizierte Gefährlichkeit durch ein späteres Geschehen mit Zusatzinformationen für die Handelnden verringert oder sogar beseitigt wird. Mit der Umstellung auf Risiko und Vorsorge müßten diese zusätzlichen Erkenntnisse für den informationellen Eingriff aber nicht mehr berücksichtigt werden. Auch war man bislang der Ansicht, daß der Verzicht auf die 227 228

Vgl. dazu Waechter, Der Staat 1988, 393 ff., 409 f. Vgl. dazu Händel, NJW 1987,424.

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Feststellung der Rechtswidrigkeit einer Störung und des Verschuldens einer Person nur deshalb durchzuhalten sei, weil der polizeiliche Eingriff zu eben dem letztmöglichen Zeitpunkt stattfindet. Gibt man diese zeitliche Bindung auf, dann entfallt nach dem bisherigen Gefahrenabwehrmodell die Rechtfertigung für den Verzicht auf die Feststellung von Rechtswidrigkeit und Verschulden einer gefährlichen Handlung. Der Polizei wird dadurch die Möglichkeit gegeben, in legale gesellschaftliche Handlungszusammenhänge einzugreifen - und nach den Vorschlägen aus VE ME PolG sogar die sehr weit gefaßte Befugnis eingeräumt, wichtige Entscheidungen selbst zu treffen. In dieser Entwicklung liegt ein grundsätzlicher Abschied von dem klassischen Gefahrenabwehrmodell und zugleich auch von dem Konzept des Straftatverdachts. 4. Resümee: Die rechtliche Unterscheidung von Gefahr und Risiko Nach den bisherigen Feststellungen zu der rechtlichen Wahrnehmung von Risiken in der Politik, der Umwelt und dem Sozialen kann die Vermutung ausgeschlossen werden, daß der Begriff der Gefahr wie der des Risikos (Vorsorge) gleichermaßen ganz allgemein als Produkt aus dem Schaden und der Wahrscheinlichkeit seines Eintretens aufgrund gefahrträchtiger Handlungen oder Zustände bestimmt werden könnte 2 2 9 . Namentlich lassen sich Risiken rechtlich nicht als bloß geringere Grade von Schadenswahrscheinlichkeiten erfassen. Das Risiko und der juristisch darauf konzentrierte Komplementärbegriff, die Vorsorge, sind vielmehr zunächst nur als Verlegenheitsformeln für die juristische Erfassung von Unwissenheit, Unübersichtlichkeit und Unsicherheit entwickelt worden, die erst noch eigenständige dogmatische Gestalt gewinnen müßten 2 3 0 . Die Entwicklung des Ordnungsrechts von der Gefahr zum Risiko und zur Vorsorge ist auch alles andere als bloß zufallig entstanden. Obgleich im Verfassungsschutzrecht für das politische Risiko der Sache nach längst etabliert, findet sich die explizite Begrifflichkeit von Risiko und Vorsorge zunächst im technischen Sicherheitsrecht und bezieht sich dort auf die Eigenarten der aus technischen Anlagen und Abläufen sowie aus chemischen Stoffen resultierenden Schadensmöglichkeiten. Im Verwendungszusammenhang des Umweltrechts wird dadurch der Sachverhalt reflektiert, daß einerseits durch technische Anlagen und andererseits durch das Zusammenwirken einer Vielzahl von - je für sich unschädlichen - Anlagen Schadensmöglichkeiten geschaffen wer229

Daran hält aber z.B. fest: Hansen-Dix, S. 44 m.w.N. 230 vgl. dazu Τ rute, Vorsorgestrukturen und Luftreinlialteplanung im Bundesimmissionsschutzgesetz, 1989, S. 29 tf., 52 tf., der Vorsorge ganz allgemein als Balancierung von Risiken begreift und darauf ein nach neuer Risikovorsorge und Raumvorsorge differenziertes Konzept der Luftreinhaltung nach dem BImSchG stützt.

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den, deren Eintrittswahrscheinlichkeiten nicht mehr anhand der sonst herangezogenen Lebenserfahrung, sondern nur noch mit statistisch-probabilistischen Methoden festgestellt werden kann und deren Zurechnung zu einem identifizierbaren Urheber wegen der komplexen Wirkungszusammenhänge in aller Regel nicht mehr gelingen kann. Das Charakteristische des Risikos im Unterschied zur Gefahr liegt in der Ungewißheit über sowohl die Eintrittswahrscheinlichkeit, den Schadensumfang und die Verursachungszusammenhänge - also über alle relevanten Entscheidungsgrundlagen in dem Gefahrenabwehrmodell des Polizeirechts. Die Etablierung des Vorsorgeprinzips im technischen Sicherheitsrecht und Umweltrecht beruht auf einer systematischen Abwehr von Alltagserfahrung und -wissen. Nach der klassischen Formel des Polizeirechts liegt der Maßstab für die hinreichende Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts in der "nach der Lebenserfahrung begründeten Befürchtung der Gefahrenverwirklichung" 231 . Die sprachlichen Äquivalente für diesen Beurteilungsmaßstab 232 zeigen, daß die Lebenserfahrung aus allgemeinen Erfahrungssätzen, Denkgesetzen und verständiger Bewertungen von Sachverhalten des Alltags besteht. Damit ist aber nicht bloß eine dogmatische Formel geprägt, sondern zugleich ein allgemeines Rechtsmodell für den praktischen Entscheidungsbedarf konkretisiert. Die Zukunft ist darin als die antizipierte Wiederholung der Vergangenheit interpretiert 233 . Das in der Vergangenheit durch Lebenserfahrung angesammelte Wissen wird in die Zukunft projiziert und daraus das Urteil über den Grad der Wahrscheinlichkeit eines schädigenden Ereignisses abgeleitet. Zukunft ist dann nicht mehr als die ständige Reproduktion der Vergangenheit, weil nach der Lebenserfahrung stets nur das in der Zukunft erkannt werden kann, was in der Vergangenheit bereits gewußt wurde. Die Zielperspektive der polizeirechtlichen Gefahr, nämlich die Sicherheit, erschöpft sich deshalb in der Gefahrenabwehr, d.h. in der Verhinderung und Beseitigung von Störungen der vorhandenen Rechtsgüter - und sie unterstellt gleichzeitig, daß die Unverletztheit des bestehenden Zustandes der Inbegriff öffentlicher Sicherheit sei. Die Lebenserfahrung des polizeirechtlichen Wahrscheinlichkeitsurteils läßt deswegen keinen Raum für die zielgerichtete Umgestaltung des status quo in Richtung auf die zukünftige Wohlfahrt und deren Sicherheit. Sie ist auf der Operationsebene des Polizeirechts der genaue Ausdruck für das liberale Staats- und Verfas231

Vgl. nochmals Drews/Wacke/Vogel/Kiartens, S. 224. Vgl. PrOVG 39, 410 ("die tägliche Erfahrung"); PrOVG 87, 311 ("Erfahrungen des praktischen Lebens" und "verständiges Ermessen"); BVerwG, DVB1. 1972, 501 ("Denkgesetze und/oder allgemeine Erfahrungssätze"); VGH BW, VerwRspre. 4, 444 ("nach den Erfahrungen des praktischen Lebens"). 233 Ygj z u d i e s e m Gedankengang Preuß, Vorsicht Sicherheit, in: Merkur Nr. 484 (Juni 1989), S. 487 tf. 232

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sungsverständnis, wonach schon die Gewährleistung von gleicher Freiheit allgemeine Wohlfahrt bewirkt und die Funktion des Staates deshalb auf die Abwehr von Störungen dieser Ordnung begrenzt werden k a n n 2 3 4 . Ganz anders liegt die Ausgangslage im Bereich von Risiko und Vorsorge. Risiken sind typischerweise Schadensmöglichkeiten unterhalb einer ordnungsrechtlich operationalisierten Gefahrenschwelle, die mit den Mitteln der Lebenserfahrung nicht erfaßt werden können. Die Lebenserfahrung ist überfordert, wenn sie das Gefährdungspotential technischer Anlagen, gefährlicher Stoffe und deren Kombinationswirkungen beurteilen soll, sie muß sich vielmehr darauf verlassen, daß geeignete Feststellungen anderswo getroffen werden oder bereits getroffen worden sind. Sie muß dabei aber die Erfahrung machen, daß auch in der Wissenschaft nicht einheitliche Ergebnisse produziert werden, und sogar, daß durch mehr Forschung mehr Unsicherheit entsteht 235 . Bei dieser Ausgangslage muß der Beurteilungsmaßstab Lebenserfahrung versagen, und es kann dann nur darauf vertraut werden, daß die geltenden technischen Regeln und Grenzwerte ausreichend verantwortet sind, d.h. namentlich politisch ausreichend verantwortet sind. Dem Verlust des Maßstabs Lebenserfahrung entspricht umgekehrt die erhöhte Bedeutung des wissenschaftlich und politisch vertretbaren Risikos und bedeutet deswegen politische Planung und Gestaltung. Bei der Risikovorsorge handelt es sich also nicht mehr um die Wiederherstellung einer Normalgegenwart, sondern um den politisch und rechtlich gestaltenden Zugriff auf eine mögliche zukünftige Entwicklung. Die rechtlichen Formen der Risikovorsorge dirigieren nicht mehr in Richtung auf Rückkehr zu einem fixierten Zustand der Verhältnisse, sondern beschreiben den Prozeß ihrer Änderung, so z.B. mit den Anpassungspflichten für bestehende Anlagen an den jeweiligen Stand der Technik (BImSchG) bzw. an den Stand von Wissenschaft und Technik (AtomG). Risikovorsorge zielt auf Zukunftsgestaltung und ist deshalb der für die Entwicklung vom liberalen Verfassungsstaat zum sozialen Rechtsstaat angemessene Begriff. Präzise, d.h. dogmatisch hinreichend sicher verwendbare Abgrenzungen zwischen Gefahr und Risiko (Vorsorge) sind bislang allerdings noch nicht gelungen. Man kann freilich auf die bereits ältere Unterscheidung zwischen Wahrscheinlichkeit und (bloßer) Möglichkeit des Schadenseintritts zurückgreifen 2 3 6 . Danach ist mit der Möglichkeit von Schadenseintritten das "Vorliegen von Tatumständen, welche in Verbindung mit anderen die Bedingungen zum Eintritt eines Schadens erfüllen können", gemeint. Demgegenüber ist 234

Vgl. dazu nochmals Grimm, Bürgerlichkeit im Recht,, S. 11 ff. Z.B. in der erbbiologischen Forschung, aber auch sonst, vgl. Beck, Risikogesellschaft, 1986, S. 45 ff. 236 Vgl. Scholz, S. 1 ff. 235

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Wahrscheinlichkeit etwas, was über "die abstrakte Möglichkeit hinaus" eine Besorgnis begründet. In dieser Abgrenzung wird differenziert zwischen allgemeinen Bedingungen (Möglichkeit) und hinzutretenden konkreten Ursachen (Wahrscheinlichkeit) fur den Schadenseintritt. In einer wissenschaftstheoretisch präzisierten Terminologie kann das als die Unterscheidung zwischen Disposition und induktiver Wahrscheinlichkeit von gefahrlichen Handlungen, Situationen oder Zuständen beschrieben werden 2 3 7 . Mit der für das Gefahrenurteil maßgeblichen induktiven Wahrscheinlichkeit (Gegenbegriff: statistische Wahrscheinlichkeit) ist eine Bestätigungsbeziehung zwischen Aussagen gemeint, die das Maß der korrekten Stützung von Tatsachenbehauptungen durch Erfahrungen über die Häufigkeit dieser Tatsachen bestimmt oder vereinfacht: wahrscheinlich heißt für eine Aussage, sie sei "relativ zu meinem derzeitigen Erfahrungswissen rational annehmbar" 238 . Der Unterschied zur Vorsorge liegt im Begriff einer dispositionellen Gefährlichkeit. Diese besteht bereits dann, wenn der Gegenstand unter (noch nicht vorliegenden) weiteren Randbedingungen später zu der Besorgnis von Schadenseintritten beitragen kann. Vorsorge ist dann geboten, wenn in der Zukunft geeignete Bedingungen existieren, die zusammen mit z.B. einer technischen Anlage eine Situation begründen, in der eine Gefahrenprognose begründet ist. Der Bezugspunkt der Vorsorge ist also die Orientierung an möglichen Änderungen der Situation. Mit dieser pedantisch wirkenden Unterscheidung sind die dogmatischen Probleme der Differenzierung zwischen Gefahr und Vorsorge aber noch keineswegs hinreichend gelöst 2 3 9 . Immerhin aber lassen sich Gefahren- von Risikotatbeständen dadurch vergleichsweise gut unterscheiden. Der für das Umweltrecht insgesamt repräsentative Vorsorgegrundsatz in § 5 Abs. 1 Nr. 2 BImSchG ist danach als spezifisches "Anlagen-Risiko" zu verstehen, also als allgemeine Disposition einer Anlage, unter bereits vorliegenden oder möglicherweise noch auftretenden Randbedingungen schädliche Umwelteinwirkungen auszulösen. Die atomrechtliche Schadensvorsorge in § 7 Abs. 2 Nr. 3 AtomG läßt sich als Gebot maximierter Risikounterdrückung interpretieren. Es sind alle wahrscheinlichen Umstände zu ermitteln, die Ursache einer Schadensreaktion der Anlage sein könnten. Die dispositionelle Gefährlichkeit einer Anlage entfallt erst dann, wenn keine nicht völlig unwahrscheinliche Scha237

Vgl. dazu Darnstädt, Gefahrenabwehr und Gefahrenvorsorge, 1983, S. 53 f., S. 130 ff. unter Berufung auf Stegmüller, Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie, Bd. 1, 6. Aufl. 1978, S. 467 ff. (induktive Wahrscheinlichkeit). 238 Darnstädt, S. 53. 239 Kritisch dazu Trnte, S. 9 tf, der zutreffend das in Anbetracht unklarer Wirkungsverhältnisse zu hohe Vertrauen in wissenschaftliche Kausalaussagen und den konkreten Anlagenbezug des Konzepts für das Immissionsschutzrecht bemängelt.

92

Β. Das neue Polizeirecht zur verdeckten Informationserhebung

densbedingung einer schädlichen Anlagendisposition bekannt i s t 2 4 0 . Mit der Differenz zwischen bloß möglichen und schon wahrscheinlichen Schadensentwicklungen läßt sich auch erkennen, wo im Strafverfolgungsrecht der Schritt von der Gefahr zum Risiko vollzogen wird. Er wird immer dann ausgeführt, wenn in den polizeirechtlichen oder strafprozessualen Tatbeständen die Eingriffsbefügnisse nicht an eine konkrete Wahrscheinlichkeit von schadensstiftenden Verläufen oder Sachverhalten, sondern an die allgemeine Disposition von Orten oder Individuen zur späteren Erzeugung von Gefahren angeknüpft werden. Der Vollzug dieses Übergangs konnte bereits für die Regelung zur Identitätsfeststellung aus § 9 Abs. 2a ME PolG 1976, für die Kontrollstellenregelung in § 111 StPO und für die Voraussetzungen zur Anfertigung und Aufbewahrung erkennungsdienstlicher Unterlagen in § 81b StPO gezeigt werden. Mit der hier dargestellten Unterscheidung zwischen konkreter Gefahr und dispositioneller Gefährlichkeit läßt sich die Razzien-Regelung des § 9 Nr. 2a M E PolG so rekonstruieren, daß Maßnahmen nicht schon dann zulässig sind, wenn allgemein die Eignung z.B. einer Gaststätte angenommen wird, Treffpunkt von Ausländern ohne Aufenthaltsrecht zu sein. Denn dann wäre die Razzia auch zulässig, wenn man weiß, daß sich zu einem bestimmten Zeitpunkt ausschließlich eine ehrenwerte Gesellschaft von Deutschen in der Gaststätte befindet. Hinzu kommen muß deshalb die Bedingung, daß eine Wahrscheinlichkeit für den Aufenthalt von Ausländern ohne Aufenthaltsrecht besteht. Es handelt sich also um einen allgemeinen Verdacht gegen alle Personen, die sich an einem konkret verdächtigen Ort aufhalten 241 . Mit der Unterscheidung zwischen konkreter Gefahr und dispositioneller Gefährlichkeit läßt sich aber schon der "Vorsorgegrundsatz" aus § 81b StPO nicht mehr angemessen systematisieren. Allein die Tatsache, daß von einem Verdächtigen ini Rahmen eines Strafverfahrens erkennungsdienstliche Unterlagen angefertigt und anschließend aufbewahrt worden sind, kann ihn bereits zu einer dispositionellen Gefahr selbst dann machen, wenn er im Strafverfahren freigesprochen wurde. Anders ließe sich schlüssig nur behaupten, daß die möglichen Randbedingungen für eine künftige Straftat in einem Höchstmaß Berücksichtigung finden dürften. Denn dann müßten alle möglichen Bedingungen hinzugerechnet werden, die überhaupt jemanden veranlassen, eine Straftat zu begehen, müßten also alle möglichen Lebensrisiken Berücksichtigung finden dürfen. Damit aber wäre die angestrebte Begrenzung des Vorsorgeprinzip unterlaufen 242 . Die Neuregelungen zur Informationserhebung der Polizei knüpfen an dieses kriminalpolitische Vorsorgemodell aber an und stei240

VgLDarnstädt^S. 188 ff. Vgl. ders., S. 208. 242 Kaum zufällig, daß Damstädt diese klassische Vorsorgeregelung nicht erwähnt. Seiner Systematisiening läßt sich dafür keine brauchbare Begrenzung entnehmen. 241

V. Gefar und Risiko

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gern dessen Intensität nochmals. Mit der Hilfe von rechtlich schwach strukturierten Erwartungen über die künftige kriminelle Gefährlichkeit von Individuen oder Gruppen sollen namentlich die verdeckten informationellen Eingriffe der Polizei ermöglicht werden. Die künftige kriminelle Entwicklung von Individuen oder Gruppen muß also nicht wahrscheinlich, sondern braucht bloß möglich, d.h. irgendwie denkbar zu sein. Und im Gegensatz zu dem Vorbild der Regelung in § 9 Nr. 2a ME PolG 1976 ist die Gefahrlichkeitsvermutung nicht örtlich begrenzt, sondern wegen ihrer Anknüpfung an Individuen oder Gruppen schlechthin entgrenzt. Diese sachliche Ausdehnung der Gefährlichkeitsvermutung trifft sich durch den Verzicht auf den letztmöglichen Zeitpunkt des Eingriffs auch mit der Entfernung der zeitlichen Eingriffsschwelle. Im Vorsorgemodell werden die Kompetenzen zum Verwaltungshandeln sachlich und zeitlich entgrenzt. Es ist auch nicht deutlich zu erkennen, wie die zum Eingriff berechtigenden Risiken präziser beschrieben werden könnten. Es müßte sich um Schwellenbezeichnungen handeln, die sowohl sachlich wie zeitlich mehr Präzision erlauben. Die Zahl und Gestaltung möglicherweise gefahrlicher Konstellationen im Vorfeld einer konkreten Gefahr oder eines konkreten Tatverdachts sind aber im Bereich strafrechtlich sanktionierter Verhaltensweisen grundsätzlich unabsehbar. Es wäre dann nicht ausgeschlossen, die informationelle Aufbereitung von Personen im frühesten Kindesalter beginnen zu lassen, weil schon dort günstige Bedingungen fur eine spätere kriminelle Entwicklung von Erwachsenen gesetzt sein könnten. Dabei wäre aber doch stets zu beachten, daß es sich jeweils um gefahrengeneigte Sachverhalte handeln kann, deren spätere Auflösung als unverdächtige Normalkonstellationen nicht unwahrscheinlich ist. Andererseits konnte bereits für die relevanten Bereiche der Organisierten Kriminalität gezeigt werden, daß erst ein hohes Maß an Informationen das Illegale im Legalen identifizieren helfen könnte. Wenn es außerdem die Maxime der Vorsorge ist, daß auch die noch nicht wahrscheinlichen, aber dennoch möglichen Quellen von Gefahren eingegrenzt und zum Gegenstand gesonderter Regelungen gemacht werden, dann schließt dies größere tatbestandliche Präzision nahezu zwangsläufig aus. Eine andere, ganz generelle Schlußfolgerung, drängt sich aber bereits an dieser Stelle auf. Losgelöst von den dogmatischen Problemen einer Differenz zwischen Gefahr und Risiko und den Versuchen einer präziseren Deutung des Vorsorgegrundsatzes kann in einer verallgemeinernden Betrachtung die Unterscheidung dahin getroffen werden, daß mit dem Gefahrenbegriff des Polizeirechts konkreter Schadensschutz fiir Personen und Sachen bezeichnet ist, demgegenüber das Risiko und die Vorsorge als Kategorien mit deutlich größerer Distanz zum konkreten Schadensschutz ausgestattet und deshalb für gesellschaftliche und politische Bewertungen der noch hinzunehmenden Unsicherheit (oder der gewünschten Sicherheit) unter

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Β. Das neue Polizeirecht zur verdeckten Informationserhebung

dem Gesichtspunkt von gesellschaftlicher Akzeptanz geöffnet sind 2 4 3 . Diese Dimension des Risikos ist unvermeidlich,wenn mit ihm von der Vergangenheit auf die Gestaltung der Zukunft umgestellt wird. Wenn außerdem der Grund für die gestiegene Bedeutung von Risikovorsorge in der für komplexe Zusammenhänge unsicher gewordenen Überzeugungskraft des Kausalschemas liegt, dann ist zu erwarten, daß die rechtlichen Steuerungsinstrumente nicht mehr auf Individuen oder konkrete Gegenstände, z.B. emissionsträchtige Anlagen, beschränkt werden können. Das alles spricht dafür, daß die rechtliche Kontrolle von Risikotatbeständen auch im Polizeirecht nicht mehr oder kaum noch mit materiellen Kriterien erreicht werden kann, sondern im Gegenteil mit mehr politischer Verantwortung und rechtlich geregelten Verfahren verbunden werden m u ß 2 4 4 . Mehr als nur eine Vermutung ist, daß mit der Herabstufung des Kausalschemas im Vorsorgerecht der darauf beruhende Verhält* nismäßigkeitsgrundsatz als wichtigstes rechtliches Kontrollinstrument ebenfalls an Bedeutung verlieren muß. Es ist deswegen nützlich, zunächst einen Überblick zu den Ergebnissen zu gewinnen, die mit der Kontrolle von risikoorientierten Eingriffstatbeständen durch die Verwendung des Verhältnismässigkeitsgrundsatzes erreicht werden können.

243

Übereinstimmendes Urteil vieler Beobachter, vgl. z.B. Reich, S. 166 ff; Τ rute, S. 53 f. Aus sozialwissenschaftlicher Sicht vgl. Lau, Gesellschaftliche Auseinandersetzungen um die Definition von Risiken, Soziale Welt 1990,418 ff. 244 Zu der durch Risiken gesteigerten Bedeutung von politischen Entscheidungen, der Politikberatung und des Verfahrensrechts vgl. hier nur Denninger, Verfassungsrechtliche Anforderungen an die Normsetzung im Umwelt- und Technikrecht, 1990, S.37 ff.

C. Die Verhältnismäßigkeitskontrolle staatlicher Informationserhebungen Das juristische Kernstück für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit polizeilichen Handelns zur Gefahrenabwehr wie auch das aller StrafVerfolgungsbehörden in der repressiven Verbrechensbekämpfung ist der verfassungsrechtlich aus den Grundrechten selbst oder dem Rechtsstaatsprinzip in Art. 20 Abs. 2 GG begründete Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 245 . Nach dessen allgemeiner Fassung soll der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz die möglichst schonende Behandlung der von staatlichen Handlungen betroffenen Rechte garantieren, die von staatlichen Maßnahmen Betroffenen sollen durch die Eingriffe nicht mehr als unbedingt erforderlich nachteilig berührt werden. Der gegenüber einem weiten Verhältnismäßigkeitsprinzip 246 enger gefaßte juristische Begriff der Verhältnismäßigkeit meint also, daß ein bestimmtes Mittel - zur Erreichung eines bestimmten Zwecks eingesetzt - diesem gegenüber in einer angemessenen Relation stehen muß. Staatliche Maßnahmen zur Erreichung eines bestimmten Zwecks dürfen nur angewendet werden, wenn sie kumulativ geeignet, erforderlich und zumutbar sind. Dadurch ist der Inhalt des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in seiner Warn- und Korrekturanweisung für die richtige staatliche Handlung im Einzelfall zusammenfassend beschrieben. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz besteht aus einer Kombination von faktischen und normativen Bestandteilen. Die Eignung einer staatlichen Maßnahme für die Erreichung des gesetzlich definierten Zwecks beurteilt sich nach Maßgabe der faktisch erzielbaren Wirkungen, enthält also, abgesehen von dem normativ gesetzten Zweck, selbst keine normativen Kriterien. Auf dieser Prü245 y g] a u s der Literatur hier nur Lerche, Übermaß und Verfassutigsrecht, 1961, insbesondere S. 98 ff; Hirschberg, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, 1981, S.43ff; Wittig, DÖV 1968, S. 817. 246 Nach einem voijuristischen, begriffslogischen Inhalt besteht das Prinzip der Verhältnismäßigkeit aus vier Einzelaussagen: (1) Eine Aussage über die Beziehung zwischen zwei oder mehr Elementen, die zumindest in einer Hinsicht miteinander vergleichbar sein müssen; (2) Vergleichbarkeit mit Hilfe eines bestimmten Maßstabes; (3) es muß die Möglichkeit bestehen, daß jedes der beiden (oder mehr) Elemente das jeweils andere überwiegen kann, und schließlich (4) die Relation muß in jedem Fall eindeutig beurteilbar sein; vgl. dazu Lücke 1973, S. 58; v. Krauss 1955, S. 14; Hotz 1977, S. 11; Oberle 1952, S. 24; Übersicht bei Jakobs, DVB1. 1985, 97.

96

C. Verältnismäßigkeitskontrolle staatlicher Informationserhebung

fiingsebene kann deshalb (ausnahmsweise) ein staatlicher Akt nur scheitern, wenn das zum Einsatz vorgesehene Mittel den Zweck faktisch nicht erreichen kann. Anders verhält es sich mit den beiden weiteren Elementen des Prüfungsschemas. Der Grundsatz der Erforderlichkeit meint, daß eine staatliche Handlung nur dann gerechtfertigt ist, wenn zur Erreichung des Ziels eine andere wirksame, aber weniger beeinträchtigende Handlungsvariante nicht zur Verfugung steht. Gesetzt ist auch hier der Zweck, der mit einem wirksamen Mittel erreicht werden soll. Im Unterschied zur Eignungsprüfung kommt aber eine wertende Beurteilung hinzu, ausgedrückt in der Frage, ob das Ziel in gleich wirksamer Weise erreicht werden kann, wenn eine Handlungsalternative gewählt wird, die weniger tief in die Belange und Interessen des Betroffenen eingreift. M i t dem dritten Element, dem Kriterium der Zumutbarkeit oder Angemessenheit des Eingriffs, auch Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne genannt, wird die Prüfung des einzelnen Eingriffs nochmals intensiviert. Verlangt wird dadurch, daß der Eingriff oder die Beeinträchtigung, die der Eingriff für den Einzelnen bedeutet, und der mit dem Eingriff verfolgte Zweck in einem recht gewichteten und wohl abgewogenen Verhältnis zueinander stehen247. M i t diesen Inhalten scheint der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nachgerade ideal geeignet fur die Kontrolle auch des polizeilichen Handelns im Bereich der verdeckten Informationserhebung. Kann danach z.B. die akustische Ausforschung von Fahrzeugen erlaubt sein, wenn ein relevanter Verdacht auf begangene Straftaten, etwa auf die gemeinschaftliche Benutzung von Drogen, noch nicht vorliegt? Oder ist der Einsatz von V-Personen und verdeckten Ermittlern in Wohnungen, Haftzellen oder Hotelzimmern rechtmäßg, wenn bloß tatsächliche Anhaltspunkte fur den Verdacht bestehen, daß künftig gemeinschaftlich Autoradios oder Fahrräder gestohlen und verkauft werden sollen? Man wird für diese Beispiele intuitiv versucht sein, die verdeckte Informationserhebung für unverhältnismäßig zu halten. Andererseits soll doch der gesetzlich definierte Zweck der Informationsbeschaffung darin liegen, die mögliche Verstrickung von Personen in kriminogene Verhältnisse aufzuklären. Kann dieser Zweck die Maßnahmen nicht dennoch rechtfertigen, wenn nur die prognostisch ermittelten Straftaten einen erheblichen Umfang annehmen? Und wie steht es in den Bereichen schwerer Drogenkriminalität, des international organisierten Waffenhandels und des Fahrzeugdiebstahls, der Geld- und Wertpapiertfalschung oder des Menschenhandels mit Prostituierten? Ist die möglichst umfassende Sammlung von Informationen in solchen Fällen dann

247

Vgl. dazu Ossenbühl, Festgabe Gesellschaft fur Rechtspolitik, 1984, S. 316; kritisch dazu Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, 1976, der durch diese Zusatzprüfung die Gefahr subjektiver Urteile und Vorurteile ausgelöst sieht.

I. Verhältnismäßige Informationserhebung nach Strafprozeßrecht

97

nicht doch und gleichsam unbezweifelbar zur vorbeugenden Verbrechensbekämpfung erforderlich? Um diesen Fragen nachzugehen, soll zunächst die bisherige Verwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu dem Umfang strafprozessual zulässiger Informationsbeschaffung nachgezeichnet werden (I). Lehrreich müßte auch ein Blick auf die Wirkung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in der verdeckten Informationsbeschaflung nach G10 sein (II). Für einen Grundsatzvergleich bietet es sich auch an, die Anwendungsprobleme des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes auf Vorsorgetatbestände im Umweltrecht zu untersuchen (III). Schließlich wird für die neuen Informationsregelungen des Polizeirechts aufzuklären sein, wie sich die Verhältnismäßigkeit verdeckter Ermittlungen im Einzelfall operationalisieren ließe. Das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG wird dafür exemplarisch herangezogen (IV).

L Die verhältnismäßige Informationserhebung nach Strafprozeßrecht In ständiger Rechtsprechung geht das Bundesverfassungsgericht davon aus, daß der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz die durch das Strafprozeßrecht eingeräumten Eingriffsbefugnisse in ihrer Anordnung und ihrem Vollzug rechtsstaatlich kontrollieren s o l l 2 4 8 . Durch die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes stellt sich die Inanspruchnahme des jeweiligen Zwangsmittels im Einzelfall trotz gesetzlicher Legitimation als unzulässig dar, wenn die mit dem Eingriff verbundenen individuellen Nachteile zu den im Gesetz niedergelegten öffentlichen StrafVerfolgungsinteressen außer Verhältnis stehen. Diese Rechtsprechung hat den Gesetzgeber sogar in drei Fällen strafprozessualer Eingriffsermächtigung veranlaßt, den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als Einzelfallkorrektiv ausdrücklich im Gesetz zu formulieren 249 , im übrigen gilt nach allgemeiner Überzeugung der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als Prozeßprinzip der Strafprozeßordnung bei grundrechtsrelevanten Eingriffstatbeständen auch ohne ausdrückliche Erwähnung im Gesetz 250 . Damit wird die 248

BVerfGE 16, 194, 198, 200 f.; 17, 108, 117; 19, 342, 347; 20, 45, 49; 20, 144, 147; 20, 162, 198; 27, 211, 219 f.; 28, 264, 280; 30, 1, 20 ff; 32, 87, 93 f.; 32, 373, 381; 34, 369, 380; 34, 26, 31; 42, 211, 219 f.; 44, 383, 363 f.; 47, 239, 248 u.ö. 249 So in § 112, Abs. 1 Satz 2 (Art. 1 StPÄG vom 19.12.1964, BGBl. I 1067), in § 81 Abs. 2 Satz 2 (2. StrRG vom 30.7.1973, BGBl. 1 909) und in § 163b Abs. 2 Satz 2 (StrVerfÄndG vom 14.4.1978, BGBl. 1497). 250 Vgl. nur Roxin, Strafverfahrensrecht, 1987, S. 179 ff. 7 Neumann

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C. Verältnismäßigkeitskontrolle staatlicher Informationserhebung

weithin geteilte Ansicht über die effektiven rechtsstaatlichen Kontrollwirkungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Strafprozeßrecht verbunden 251 . Für die Überprüfung dieser Bewertung werden hier zunächst einige wichtige Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur Kontrolle von Informationseingriffen nach Strafprozeßrecht herangezogen und ausgewertet. Eine Reihe von verfassungsgerichtlichen Entscheidungen betrifft die Zulässigkeit körperlicher Untersuchungen nach § 81a StPO. Das Gericht hielt die Entnahme von Gehirn- und Rückenmarkflüssigkeit (Pneumoenzephalographie) zur Aufklärung der Schuldfähigkeit des Angeklagten für unverhältnismäßig, weil die Anlaßtat des Beschuldigten, eine Organuntreue nach § 81a GmbHG, eine Bagatellsache darstelle, derentwegen lediglich eine geringe Strafe zu erwarten s e i 2 5 2 . Unverhältnismäßig ist die mit erheblichen Gesundheitsgefahrdungen verbundene Hirnkammerluftfüllung, wenn der Tatvorwurf lediglich zwei weitere Fälle des Betruges mit einem Gesamtschaden von 700,-- D M enthält und wenn außerdem der Tatverdacht mangels Durchführung einer Beweisaufnahme noch nicht genügend erhärtet i s t 2 5 3 . Demgegenüber ist eine unter anderem röntgenologische Untersuchung auch dann verhältnismäßig, wenn wegen seines fortgeschrittenen Alters und seines labilen Gesundheitszustandes das Interesse des Beschuldigten, von einer zwangsweisen Untersuchung verschont zu bleiben, hoch anzusetzen ist. Wegen des vergleichsweise harmlosen Eingriffs einerseits und des gewichtigen Interesses an der Strafverfolgung (für die vorgeworfenen Delikte der Beleidigung und der üblen Nachrede gegenüber einem hohen Landesbeamten) andererseits ist die angeordnete Untersuchung dennoch nicht unverhältnismäßig 254 . Verhältnismäßig ist auch die Anordnung und deren Vollzug zur Veränderung der Haar- und Barttracht des Beschuldigten zum Zweck der Gegenüberstellung mit Zeugen. Hier liegt nur ein geringfügiger, nicht übermäßig belastender Eingriff vor, der zudem die nach § 81a StPO eröffneten Möglichkeiten zu wesentlich einschneidenderen Maßnahmen nicht ausschöpft. Für den Eingriff nach § 81a StPO wird danach auch keine das Maß der §§170 Abs. 1, 203 StPO übersteigende Verdachtsintensität gefordert. Die Verändening der Haar- und Barttracht ist deshalb auch bei Straftaten geringerer Schwere regelmäßig zulässig, jedenfalls rechtfertigt das eröffnete Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, des schweren Raubes, des Diebstahls, eines Vergehens gegen das Waffengesetz und anderer Delikte den Einsatz dieses Zwangsmittels 2 5 5 . Verhältnismäßig ist schließlich die körperliche Untersuchung eines Rechtsanwalts der Baader-Meinhoff-Gruppe vor dem Besuch eines Mandanten 251 252 253 254 255

Vgl. z.B. Pfeiffer, BVerfGE 16, 194. BVerfGE 17, 108. BVerfGE 27,211. BVerfGE 47, 239.

in: KK, Einl. Rdnr. 30 f. m.w.N.

I. Verhältnismäßige Informationserhebung nach Strafprozeßrecht

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in der Haftanstalt. Das erhebliche öffentliche Interesse an der Sicherung des Haftzwecks sei gefährdet, weil andere Gruppenmitglieder versuchen könnten, den Untersuchungshäftling zu befreien und zu diesem Zweck dritte Personen als gutgläubige Übermittler von Nachrichten und Überbringer von Gegenständen zu mißbrauchen 256 . Auch in den verfassungsgerichtlichen Entscheidungen zur Durchsuchung von Wohnungen nach § 102 StPO und Beschlagnahme von Gegenständen nach § 84 StPO variieren die jeweils entscheidungserheblichen Gesichtspunkte in beträchtlichem Umfang. Nach der die Entscheidung tragenden Senatsauffassung in BVerfGE 20, 162 - Spiegel - rechtfertigt die Beschuldigung des Landesverrats (§ 100 Abs. 1 i.V.m. § 99 a.F. StGB) auch die Durchsuchung und Beschlagnahme in einem Presseunternehmen. Das mit der Qualität des StrafVorwurfs entstandene, extrem hohe StrafVerfolgungsinteresse, die hohe Verdachtsintensität und die voraussichtlich hohe Ergiebigkeit der Maßnahmen lassen sie trotz des damit verbundenen Eingriffs in das Grundrecht der Pressefreiheit als erforderlich und zumutbar erscheinen. Die abweichende Senatsmeinung stuft hingegen den Tatverdacht und den voraussichtlichen Ertrag der Maßnahme gering ein, betont hingegen den erheblichen Rang des Grundrechts der Pressefreiheit und gelangt deshalb zur Unverhältnismäßigkeit der Durchsuchung und der Beschlagnahme. Anders votiert das Gericht bei der Durchsuchung eines Presseunternehmens wegen des Verdachts des Verwahrungsbruchs sowie der aktiven und passiven Bestechung (§§ 133, 332, 334 StGB). Die Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes allein bedeute noch keinen ausreichenden Schutz des Beschuldigten vor Grundrechtsverletzungen bei Durchsuchungen. Auch wenn die Anordnung der Durchsuchung den Erfolg sachdienlicher Beweismittel verspräche, das geringst eingreifende Mittel zur Verfolgung der Straftat darstelle und schließlich die Maßnahme auch zur Schwere der Straftat und zur Intensität des Tatverdachts nicht außer Verhältnis stehe, müsse sie darüber hinaus noch meßbar und kontrollierbar bleiben. Unter diesem Gesichtspunkt hielt das Gericht die Mängel des amtsgerichtlichen Durchsuchungsbefehls, der keine ausreichenden Angaben über den Inhalt des Tatvorwurfs und der voraussichtlich aufzufindenden Beweismittel enthielt, wegen eines Mangels an Formstrenge für ausschlaggebend und gelangte zu dessen Aufhebung 2 5 7 . Unter den Judikaten des Bundesverfassungsgerichts zu den Zwangsbefugnissen des Strafprozeßrechts ragt das zur Anordnung der Beschlagnahme von

256 257

BVerfGE 38, 26. BVerfGE 42,212.

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C. Verliältnismäßigkeitskontrolle staatlicher Informationserhebung

Klientenakten einer öffentlich anerkannten Suchtberatungstelle 258 wegen seiner Präzision und Ausführlichkeit heraus. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsabwägungen 259 betont das Gericht den hohen Wert des Grundrechts der Beschwerdeführer auf Achtung ihrer Privat- und Intimsphäre aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG und zieht auch die korrespondierenden, verfassungsrechtlich im Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 Satz 2 GG) verankerten Belange der Gesundheitsfürsorge heran. Im Bereich der öffentlichen Gesundheitsfürsorge konkretisierten sich diese fur den Bereich der Betreuung Suchtkranker oder suchtgefahrdeter Personen zu dem Interesse an der Einrichtung von Drogenberatungstellen und der Anbahnung von Vertrauensverhältnissen zwischen Beratern und Klienten. Mit der Beschlagnahme von Klientenakten durch Strafverfolgungsorgane werde dieses Vertrauensverhältnis aber in der Regel zerstört. Andererseits bilde auch das aus dem Rechtsstaatsprinzip in Art. 20 Abs. 3 GG folgende öffentliche Interesse an einer effektiven StraÇustiztätigkeit einen bedeutenden Abwägungsfaktor. Die Bekämpfung, des Drogenkonsums und dessen Folgeerscheinungen als bedeutende Aufgabe des Strafrechts werde auch durch die Verhängung strafrechtlicher Sanktionen nach dem Betäubungsmittelgesetz erfüllt, das strafprozessuale Mittel der Beschlagnahme sei daher unentbehrlich. Allerdings verspreche die Beschlagnahme von Klientenakten kaum die Beschaffung wichtiger Beweismittel gerade für die Verfolgung illegaler Rauschgifthändler. Es entspräche der Erfahrung, daß Drogenkonsumenten Informationen über ihre Lieferanten oder Bezugsquellen auch den Mitarbeitern einer Beratungsstelle nicht zukommen ließen. Wegen des voraussichtlich geringen Aufklärungserfolges folgt daraus für das Gericht die UnVerhältnismäßigkeit der Beschlagnahme. - Für die Aufklärung von Straftaten der Klienten selbst könne allerdings die Beschlagnahme dieser Unterlagen regelmäßig dienlich sein, nur seien schon wegen der strafrechtlichen Differenzierung zwischen Drogenverbrauchern und Drogenhändlern die StrafVerfolgungsinteressen nicht stets besonders hoch zu bewerten. Außerdem habe der Beschlagnahmeanordnung kein intensiver Tatverdacht zugrundegelegen, sondern lediglich ein Drogenberatungstellen allgemein anhaftender Betriebsverdacht. Das aber rechtfertige nicht den schwerwiegenden Eingriff in das Vertrauensverhältnis zwischen Drogenberatungsstelle und Klienten. Auch daraus ergibt sich für das Gericht die Unverhältnismäßigkeit der Beschlagnahme. An der ,,Drogenkartei"-Entscheidung fallt im Vergleich mit anderen Urteilen zur Zulässigkeit strafprozessualer Informationseingriffe auf, daß das Strafjustizinteresse erkennbar niedrig eingeschätzt wird. Vor allem die Indikatoren 258 259

BVerfGE 44, 353. BVErfGE 44, 373 ff.

I. Verhältnismäßige Informationserhebung nach Strafprozeßrecht

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"Ergiebigkeit der Maßnahme" und "Tatverdachtsintensität" werden aus ihrer sonst hoch angesiedelten Bedeutung deutlich herabgestuft. Umgekehrt werden die Rechtsgüter aus Art. 2 Abs. 1 i. V.m. Art. 1 Abs. 1 GG und die korrespondierenden öffentlichen Interessen vergleichsweise hoch bewertet. Die daran angeschlossenen Proportionalitätsüberlegungen führen dann fast zwangsläufig zur Unverhältnismäßigkeit der angeordneten Beschlagnahme von Klientenakten. In der "Tagebuch"-Entscheidung 260 hat das Bundesverfassungsgericht die Verwertbarkeit tagebuchartiger Aufzeichnungen des Beschuldigten in einem gegen ihn geführten Strafverfahren wegen Mordverdachts bejaht. Nach der die Entscheidung tragenden Senatsmeinung gehören selbst tagebuchartige Aufzeichnungen mit sehr persönlichen und intimen Gedankengängen nicht dem absolut geschützten Bereich persönlicher Lebensgestaltung, der jedem staatlichen Eingriff entzogen ist, an: "Eine Verletzung der Menschenwürde kommt (...) nicht in Betracht, wenn die Auswertung privater Schriftstücke des hier in Frage stehenden Inhalts Aufschluß über Ursachen und Hintergründe der Straftat geben kann, also die fiir ein rechtsstaatliches Strafverfahren unerläßlichen Untersuchungen in dem Umfang ermöglicht, daß die Grundlagen für eine gerechte Bewertung des Tatgeschehens geschaffen werden, wie sie durch das nicht zuletzt in Art. 1 Abs. 1 GG wurzelnde materielle Schuldprinzip gefordert w i r d " 2 6 1 . Der gleichwohl verbleibende Eingriff in das Grundrecht auf freie Entfaltung der Person aus Art. 2 Abs. 1 und Art. 1 Abs. 1 GG genügt dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, weil in der Abwägung zwischen dem Grundrechtseingriff und den "Erfordernissen einer wirksamen Rechtspflege" das Geheimhaltungsinteresse des Einzelnen bei Fällen schwerer Kriminalität generell hinter überwiegenden Belangen des Gemeinwohls zurücktreten muß. Nach der abweichenden Auffassung gehören tagebuchartige Aufzeichnungen mit höchstpersönlichem Charakter in den absolut geschützten Bereich privater Lebensgestaltung und sind deshalb dem staatlichen Zugriff entzogen, soweit dieser über die - für ihre persönlichkeitsrechtliche Qualifizierung erforderliche - erste Sichtung der Notizen hinausgeht 262 . Für diese Auffassung sind deswegen weitere Verhältnismäßigkeitsüberlegungen nicht angebracht.

260 BVerfGE 80, 367 ff. (Stimmengleichheit im Senat). Kritisch dazu Wolter, StrafV 1990, 175 ff. 261 BVerfGE 80, 379. 262 BVerfGE 80,381.

102

C. Verältnismäßigkeitskontrolle staatlicher Informationserhebung

Insgesamt zeigt ein Überblick zu der einschlägigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 263, daß das Urteil über die Verhältnismäßigkeit eines strafprozessualen Informationseingriffs bereits bei der Bewertung des maßgeblichen Strafjustizinteresses fällt. Für das Strafprozeßrecht schlüsselt sich das Strafjustizinteresse in die Topoi Verfahrenssicherung, Wahrheitsfindung, Rechtsgüterschutz und Rechtsfrieden auf. Nochmals differenziert lassen sich diese Elemente in den überwiegend auftretenden Merkmalen Rechtsfolgenerwartung, Bedeutung der Sache, Schwere der Beschuldigung, Intensität des Tatverdachts und Ergiebigkeit der Maßnahmen erläutern 264 . Diesen öffentlichen StrafVerfolgungsinteressen stehen dann die individuellen Rechtspositionen von Betroffenen, namentlich deren Grundrechte gegenüber. Die Betroffenen haben regelmäßig ein Interesse daran, soweit wie möglicht von den mit der Maßnahmen primär, typischerweise oder als Nebenfolge verbundenen Beeinträchtigungen verschont zu bleiben. Die Indikatoren dieses Freiheitsinteresses sind Umfang, Ausmaß und zeitliche Dauer des strafprozessualen Eingriffs. Mit der Einstufung der einzelnen Faktoren des Strafjustizinteresses variiert die Möglichkeit eines unverhältnismäßigen Grundrechtseingriffs 265 . Eine unverhältnismäßige Maßname besteht dann, wenn einerseits ein oder mehrere Verhältnisfaktoren ein geringeres Gewicht an StrafVerfolgungsinteressen indizieren und andererseits die Anordnung des Eingriffs eine erhebliche Verletzung der individuellen Interessen von Betroffenen erwarten läßt. Der entscheidende Faktor des Verhältnismäßigkeitsprinzips ist letzthin immer der mit dem Eingriff verfolgte Zweck, nämlich das StrafVerfolgungsinteresse. Diese Feststellung entspricht genau der systematischen Struktur des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Wenn nach dessen allgemeiner Fassung die Mittel im Verhältnis zu dem Zweck der Maßnahme stehen sollen, dann liegt unvermeidlich der Schwerpunkt der Abwägung mit gegenläufigen Interessen auf dem mit der strafprozessualen Maßnahme verfolgten Zweck. Der Zweck ist Ausgangspunkt 263 Y g j d a z u Oegener, Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und strafprozessuale Zwangsmaßnahmen, 1985, S. 111 ff. Neuerdings BVerfGE 77, 65 ff. (Beschlagnahme von recherchiertem Material einer Fernsehanstalt). 264 Vgl. Degener, S. 111 ff. 265 Zur Kontrolle dieses Fazits könnte man sich fiir den Fall der Beschlagnahme von Klientenakten einer Suchtberatungsstelle vorstellen, daß diese Maßnahme durch einen dringenden Tatverdacht veranlaßt worden wäre und außerdem eine hohe Ergiebigkeit versprochen hätte. Dann würde wohl kein Zweifel daran bestehen, daß das Bundesverfassungsgericht dem öffentlichen Strafverfolgungsinteresse den Vorrang eingeräumt und die Zwangsmaßnahme fiir verhältnismäßig gehalten hätte. Die anderen Elemente der Abwägung, die betroffenen Grundrechtspositionen und die öffentlichrechtlich ausgestaltete Drogenberatungsstelle hätten in dieser Konstellation wohl zurückstehen müssen.

I. Verhältnismäßige Informationserhebung nach Strafprozeßrecht

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aller Proportionalitätserwägungen, und mit seiner - den gesetzliehen Bestimmungen entnommenen - Fassung variieren die zulässigen Möglichkeiten des Mitteleinsatzes. Aus der Zweck-Mittel-Relation des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes folgt auch die fundamentale Überlegenheit des in die verschiedenen Einzelindikatoren zerlegten öffentlichen Strafverfolgungsinteresses. Die individuellen Freiheitsinteressen kommen dagegen nur in einer vermittelten Form in die Abwägung hinein. Die klassische Formulierung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes besagt nur, daß das gewählte Mittel im Verhältnis zu dem Zweck der Maßnahme stehen soll, die Durchsuchung zur Auffindung von Beweismitteln fuhren, die Blutentnahme Beweise sichern, die Beschlagnahme Beweismittel erreichbar machen soll. Diesen Zwecken aber sind diese Mittel fast immer angemessen, weil damit letzthin kein individuelles Schutzprinzip, sondern zunächst nur ein Effektivitätsgrundsatz festgelegt wird. Erst in einem zweiten Schritt wird dann noch geprüft, ob der gesetzlich definierte Zweck mit dem gesetzlich zugelassenen Mittel im Einzelfall auch erreicht werden darf. Obgleich wegen der notwendigen Abwägung dadurch der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in eine Vielzahl von abwägungserheblichen Gesichtspunktes aufgefächert wird, bleiben diese doch durch den Zweck der Maßnahme dominiert. Auch zeigt sich bei näherer Betrachtung, daß die Vielzahl der Indikatoren fiir ein öffentliches StrafVerfolgungsinteresse eine Komplexität des Proportionalitätstests suggerieren, die in diesem Umfang nicht besteht. Es überschneiden sich vielmehr die einzelnen Kriterien, so das der "Bedeutung der Sache", das der "voraussichtlichen Strafe" und der "Schwere der Tat", soweit sie in ihren Bedeutungsinhalten nicht sogar völlig identisch sind 2 6 6 . Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist als individuelles Schutzprinzip im Einzelfall wirksam nur bei einem sehr auffälligen Mißverhältnis zwischen der Intensität des Eingriffs und dem öffentlichen StrafVerfolgungsinteresse, also nur im Bereich oder knapp oberhalb der Schwelle der Menschenwürde. Daraus kann der Schluß gezogen werden, daß er als Einzelfallkorrektiv für den Verfahrensgesetzgeber der StPO eine hohe Alibifünktion einnimmt. Das Bundesverfassungsgericht hat einzelne bedenklich weit gefaßte Eingriffstatbestände des Strafprozeßrechts als verfassungsrechtlich unbedenklich gerade mit dem Hinweis passieren lassen, daß auf der Ebene des Einzelfalls ein rechtsstaatlich gebotener Abwägungsvorgang unnötige Härten mildere 2 6 7 . Nun läßt sich die verbreitete, manchmal optimistische oder bloß gedankenlose 266

Vgl. dazu näher Degener, S. 83 ff., 87 ff., 153. So ausdrücklich für § 112a StPO (Haftgrund der Wiederholungsgefahr), BVerfGE 35, 185 ff. Vgl. auch z.B. BVerfGE 34, 249 ff. (Verwertung heimlicher Tonbandaufnahmen zur Aufklärung schwerer Kriminalität). 267

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C. Verältnismäßigkeitskontrolle staatlicher Informationserhebung

Bewunderung für die Kraft des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes als wirksames Einzelfallkorrektiv im Bereich strafprozessualer Zwangsmaßnahmen aber nicht schlüssig begründen. Stattdessen ist er einerseits die formelhafte Entlastung des Gesetzgebers von eigenen Abwägungsprozessen und andererseits die wenig kontrollierbare Befugnis zur richterlichen Einzelfallbewertung. Auf dieser Ebene werden aber nur die besonders auffälligen Disproportionen zwischen dem angewandten Mittel und den dadurch beeinträchtigten Rechtsgütern abgefangen. Darin immerhin liegt die harte dogmatische Bedeutung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes als Einzelfallkorrektiv. An dessen Schwächen hingegen wird die Forderung angeschlossen, daß der Verfahrensgesetzgeber selbst die Verhältnismäßigkeitsabwägungen in dem erforderlichen und möglichen Umfang zu treffen habe 2 6 8 . Regelungen en detail für alle möglichen Fallkonstellationen werden (natürlich) nicht verlangt, wohl aber wird an die verfassungsrechtlich aus Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG folgende Pflicht des Verfahrensgesetzgebers zur vorrangigen Bewertung des kriminalpolitisch hinzunehmenden Ausmaßes an Freiheitsbeeinträchtigung erinnert. Gedacht wird an materielle Eingrififsverbote, Beschränkungen in der Dauer von Eingriffen und erhöhte Begründungszwänge 269 . Als Leitlinien dienen insoweit die Wertordnung der Grundrechte, namentlich die . Unschuldsvermutung. Daraus wird die Pflicht des Verfahrensgesetzgebers begründet, insgesamt die Eingriffsbefugnisse nach der allgemeinen Bedeutung der typischerweise oder in den Konsequenzen betroffenen Grundrechte sowie nach Intensität, Dauer und Streubreite der Beeinträchtigung abzustufen. Außerdem sollen die zu weit gefaßten Eingriffstatbestände stärkeren Notwendigkeitstests unterzogen werden, das Arsenal strafprozessualer Zwangsmittel dürfe lediglich behutsam ausgedehnt und darauf dürften nur empirisch exakt belegte kriminalpolitische Bedürfnisse Einfluß besitzen 270 .

Π . Die Verhältnismäßigkeit verdeckter Informationserhebungen nach G10 Aus der Übersicht zur Kontrollwirkung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Strafprozeßrecht folgt, daß der in eine Reihe von einzelnen Kriterien zerlegte Zweck der Maßnahme die rechtliche Kontrolle in erheblichem Umfang präformiert. Wenn man die Leitfünktion des Zwecks nun in den Bereich 268

Vgl. Degener, S. 204 ff. m.w.N. Vgl. ders., S. 222 ff. 270 Für die Reform des Haftrechts vgl. Kerner, Untersuchungshaft und Strafurteil, in: Denkschrift für H. Schröder, 1978, S. 549 f.; Müller, Rechtsstaat und Strafverfahren, 1980, S. 127 ff. 269

II. Die Verhältnismäßigkeit verdeckter Informationserhebungen

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der Prävention und darauf zugeschnittener Rechtsnormen ausdehnt, dann wird man erwarten müssen, daß die Kontroilfähigkeit des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in gleichem Umfang nachläßt. Dann nämlich wird in die Rechtsnorm selbst das Prinzip größter Sicherheit eingebaut - und für die Informationserhebung bedeutet das dann: Erreichung des größtmöglichen Maßes an Informationen und Einräumung umfassender Möglichkeiten zur Informationsbeschaffüng. Was unter diesen Voraussetzungen an Kontrollsubstanz des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes übrigbleibt, müßte sich anhand der an eine solche Ausgangssituation angepaßten Überwachungsvorschrift in Art. 1 §§ 1,2 G10 abschätzen lassen. Zu der tatbestandlichen Fassung des Art. 1 § 2 Abs. 1 G10 konnte bereits gezeigt werden, daß die Eingriffsvoraussetzungen für die Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses so abgesenkt sind, daß auch hier tatsächliche Anhaltspunkte für den Verdacht ausreichen, daß jemand die aufgeführten Katalogstraftaten plant, begeht oder begangen hat. Nach der dazu vorliegenden Rechtsprechung sind die Eingriffsvoraussetzungen: "tatsächliche Anhaltspunkte" und der in Art. 1 § 2 Abs. 2 G10 formulierte Erforderlichkeitsgrundsatz unbestimmte Rechtsbegriffe, die in vollem Umfang der gerichtlichen Kontrolle unterliegen 271 . Für die Annahme "tatsächlicher Anhaltspunkte" reichen bereits vage Vermutungen, unter Umständen bloß subjektive kriminalistische Erfahrungen aus. Erforderlich ist namentlich nicht ein nach § 100a StPO erforderlicher Verdachtsgrad: "Daß einzelnen 'tatsächlichen Anhaltspunkten' i.S.d. Art. 1 § 2 Abs. 1 G10 kein 'Beweis'-wert im strafrechtlichen Sinne zukommt, hat der Gesetzgeber bei der Absenkung der Verdachtsschwelle und der Ermöglichung einer präventiven Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses nach dem G10 gerade vorausgesetzt" 272 . Eine effektive Verhältnismäßigkeitskontrolle kann auf der Grundlage einer so bestimmten Eingriffsvoraussetzung kaum erwartet werden. Es entfallt nämlich systematisch die mögliche Korrekturwirkung der Verdachtsintensität als eines der Elemente in dem umfassenden Abwägungsprozeß, wie er für das Strafprozeßrecht gezeigt werden konnte. Wenn bereits Vermutungen über die innere Disposition von Personen ausreichen, ohne daß diese in äußeren Handlungen zum Ausdruck kommen, und daran die Vermutungen geprüft werden könnten, dann wird die Möglichkeit zur Differenzierung von Intensitäten des Verdachts grundsätzlich vereitelt. Die Grenze zu einem bloßen "Anhaltsverdacht" läßt sich nicht mehr erkennen. 271

Vgl. OVG NW, DVB1. 1983, 1017 ff; offengelassen noch im erstinstanzlichen Urteil VG Köln, NJW 1981, 1630 ff; a.A. Borgs/Ebert, Art. 1 § 2 G10, Rdnr. 14, der eine Ermessensentscheidung annimmt. 272 OVG NW, DVB1. 1983, 1020.

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C. Verältnismäßigkeitskontrolle staatlicher Informationserhebung

Disziplinierende Wirkung könnte dann noch aus dem Grundsatz der Erforderlichkeit in Art. 1 § 2 Abs. 1 G10, wonach die Anordnung einer Beschränkung nur zulässig ist, wenn die Erforschung des Sachverhalts auf andere Weise aussichtslos oder wesentlich erschwert wäre, erwartet werden. Übereinstimmend wird in dem Erforderlichkeitsgrundsatz ein ultima-ratio-Prinzip gesehen, nach dem der Einsatz anderer nachrichtendienstlicher Mittel regelmäßig vorrangig i s t 2 7 3 . Auf andere Weise ist die Erforschung des Sachverhalts dann ausgeschlossen, wenn mit keinem anderen rechtmäßig zur Verfugung stehenden Mittel die benötigte Information erlangt werden kann; wesentlich erschwert ist sie, wenn der Einsatz eines anderen Mittels die Aufklärung ernsthaft in Frage stellen würde, weil etwa die Gefahr der Aufdeckung besteht, weil rascher Handlungsbedarf zum Schutz eines bestimmten Rechtsguts nur auf diese Weise befriedigt werden kann oder weil die Gefahrdung von Mitarbeitern wahrscheinlich i s t 2 7 4 . Auch der Erforderlichkeitsgrundsatz ist ein unbestimmter Rechtsbegrifif ohne Beurteilungsspielraum mit der Folge, daß diese Eingriffsvoraussetzung gerichtlich in vollem Umfang nachgeprüft werden kann. Nach der Systematik in Art. 1 § 2 G10 entsteht ein Beurteilungsspielraum des zuständigen Ministers erst bei der Entscheidung über die Antragstellung bzw. über die Herbeiführung einer eigenen Anordnung bei Gefahr im Verzug. Der begründete Antrag ist zwar Voraussetzung für die Anordnung, doch muß diese selbst auf den Antrag hin nicht ergehen und schon die Antragstellung kann unterbleiben. Wird der Antrag gestellt, dann müssen in ihm die verdachtsauslösenden Anhaltspunkte konkret dargelegt und zusätzlich begründet werden, weshalb auf andere Weise die Erforschung des Sachverhalts aussichtslos oder wesentlich erschwert wäre. Ein Verstoß gegen diese Begründungspflicht kann zur Rechtswidrigkeit der Anordnung führen 2 7 5 . Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist in der Gestalt einer eigenständigen Erforderlichkeitsvoraussetzung in das Überwachungsrecht nach G10 aufgenommen worden. Gleichwohl sind die Möglichkeiten einer effektiven Rechtskontrolle auch insoweit begrenzt. Ohnehin beschränkt sie sich darauf allein. In der Kontrolle ist überdies nur mit der möglichen Effektivität anderer nachrichtendienstlicher Mittel (also auch anderer verdeckter Ermittlungshandlungen) abzuwägen. Immerhin könnte in der Verhältnismäßigkeitsprüfung festgestellt werden, ob ausreichende Gründe für den angemeldeten Handlungsbedarf, für die Gefahrdung von Mitarbeitern oder den ungefährdeten Einsatz weniger be273

Vgl. schon BVerfGE 30, 1, 22; Roewer, Art. 1 § 2 Rdnr. 12 f. Vgl. Roewer, Art.l §2 Rdnr. 12 f. 275 Vgl. OVG NW, DVB1 1983, 1921; die Vorinstanz VG Köln, NJW 1981, 1633, hatte einen Irrtum des für die Anordnung zuständigen Bundesministers über den relevanten Sachverhalt angenommen und diesen zur Rechtswidrigkeit der Anordnung fuhren lassen. 274

II. Die Verhältnismäßigkeit verdeckter Informationserhebungen

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einträchtigender Mittel angeführt werden können. Eine weitere rechtlich relevante Kontrolle kann auch im Rahmen der anschließenden Ermessensentscheidung zur Anordnung der Maßnahmen erfolgen. Solange auch nur vage tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen und mindestens die Erforschung des Sachverhalts auf andere Weise erschwert wird, ist allerdings die rechtliche Kontrolle der richtigen Ermessensausübung beschränkt auf die Beantwortung der Frage, ob ein richtiger und vollständiger Sachverhalt für die Entscheidung zugrundegelegt wurde 2 7 6 . Die Bedeutung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ist dadurch erheblich herabgestuft, der Abwägungsvorgang rechtlich ausgedünnt. Dieses Defizit ist auch im Gesetzgebungsverfahren nicht unbemerkt geblieben. So wurde es für richtig gehalten, "diese jetzt gewählte politische Lösung, nämlich die Kontrolle durch einen Verantwortlichen Minister und durch die beiden vorgesehenen politischen Gremien, einer Prüfung durch den Richter vorzuziehen"; es handele sich um eine politische und nicht um eine richterliche Entscheidung 277 . Erklärt wurde auch, daß der angesteuerte Ersatzrechtsweg der "Weg zu einem politischen Organ" sein müsse, "weil es sich um politische Fragen handelt" 2 7 8 . Die Kompensation des dadurch entstehenden Defizits an rechtlicher Kontrollsubstanz soll im G10 durch politiknahe Verfahrensregelungen erreicht werden. Nach Art. 1 § 9 Abs. 1 G10 hat der für die Anordnung zuständige Bundesminister in Abständen von höchstens 6 Monaten ein Abgeordnetengremium über die Durchführung des Gesetzes zu unterrichten und ist damit einer parlamentarischen Nachkontrolle unterworfen. Als maßgeblicher Rechtsschutzersatz soll aber die von diesem Abgeordnetengremium gewählte unabhängige Kommission nach Art. 1 § 9 Abs. 2 G10 dienen. Dieser Kommission muß der zuständige Minister monatlich über die von ihm angeordneten Beschränkungsmaßnahmen vor deren Vollzug Bericht erstatten. Nur bei Gefahr im Verzug kann der Minister den Vollzug der Beschränkungsmaßnahmen auch bereits vor der Unterrichtung der Kommission anordnen. Die Kommission entscheidet von Amts wegen oder aufgrund von Beschwerden über die Zulässigkeit und Notwendigkeit von Beschränkungsmaßnahmen. Anordnungen, welche die Kommission für unzulässig oder nicht notwendig erachtet, hat der zuständige Bundesminister unverzüglich aufzuheben.

276

Vgl. ebenda. So der Abgeordnete Hirsch, StenBer. über die 117. Sitzung des Deutschen Bundestages vom 29.6.1967, S. 5862 und 5882 D. 278 So der Berichterstatter des Rechtsausschusses, S., 9322 B. Ebenso der Vorsitzende des Rechtsausschusses, Dr. Wilhelmi, S. 9320 C. 277

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C. Verältnismäßigkeitskontrolle staatlicher Informationserhebung

Die Stellung der Kommission ist als Gerichtsersatz gedacht und gerichtsähnlich ausgestaltet. Die Mitglieder der Kommission sind in ihrer Amtsführung unabhängig und Weisungen nicht unterworfen. Die Befugnis der Kommission geht aber über reine Rechtskontrolle hinaus und erfaßt selbst die "Notwendigkeit" einer Beschränkungsmaßnahme. Es ist deswegen aber noch nicht überzeugend, die Kommission zum Funktionsbereich der Exekutive zu zählen 2 7 9 , weil das klassische Merkmal aller Exekutive, die Weisungsgebundenheit, f e h l t 2 8 0 . Ob man nun die Kommission als echtes richterliches Organ, als unabhängige Verwaltungsinstanz oder als Organ sui generis ansieht, ihre Stellung ist in besonderer Weise hervorgehoben. Sie kann von dem zuständigen Minister weitere Aufklärung verlangen oder diese Aufklärung selbst herbeiführen. Sie kann auch die in Frage kommenden Einrichtungen der Bundespost und der Nachrichtendienste jederzeit inspizieren, laufende Anordnungen aufheben und verlangte Anordnungen unter dem Gesichtspunkt ihrer Zweckwidrigkeit zurückweisen. Dieser Kompetenzumfang entspricht der verfassungsgerichtlich geforderten Ausstattung: Zur Effektivität der Kontrolle muß das Kontrollorgan "kompetent sein, alle Organe, die mit der Vorbereitung, Entscheidung, Durchführung und Überwachung des Eingriffs in das Brief-, Post- und Fernemeldegeheimnis befaßt sind, und alle Maßnahmen dieser Organe zu überwachen. Diese Kontrolle muß laufend ausgeübt werden können. Zu diesem Zweck müssen dem Kontrollorgan alle für die Entscheidung erheblichen Unterlagen des Falles zugänglich gemacht werden" 2 8 1 . Nicht unumstritten ist freilich, ob die Kommission auch und allein unter Opportunitätsgesichtspunkten entscheiden darf. Aus dem Begriffspaar "Zulässigkeit und Notwendigkeit" in Art. 1 § 9 Abs. 2 Satz 2 G10 wird gefolgert, daß die Zustimmung zu einer Anordnung oder Nicht-Mitteilung im Ermessen der Kommission stehe 2 8 2 . Auch hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, daß Art. 10 Abs. 2 GG grundsätzlich eine Rechtskontrolle verlange, andererseits aber auch eine Regelung zulassen "nach der das Kontrollorgan aus Gründen der Opportunität auch in einem Fall, in dem die gesetzlichen Voraussetzungen für die Überwachung vorliegen, die Unterlassung oder Aufhebung der Überwachung fordern, also die Zahl der Überwachungsfälle weiter einschränken d a r f ' 2 8 3 . Im Gesetzgebungsverfahren ist an entscheidender Stelle hervorgehoben worden, daß die Kommission "nicht nur die rechtliche 279

Vgl. BVerfGE 30,28. So der Einwand von Arndt, Festschrift für Schäfer, 1980, S. 157, der freilich übersieht, daß z.B. durch die besonderen Ausschüsse nach § 88 VwVfG dieses Prinzip auch sonst nicht lückenlos besteht; vgl. dazu Borgs/Ebert, art. 1 § 9 G10, Rdnr. 5 ff. 281 BVerfGE 30, 1,23 f. 282 So Arndt, S. 157. 283 BVerfGE 30, 1, 23 f. 280

II. Die Verhältnismäßigkeit verdeckter Informationserhebungen

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Zulässigkeit der Maßnahme, sondern auch die Ausübung des pflichtgemäßen Ermessens durch den zuständigen Bundesminister hinsichtlich der Notwendigkeit der Maßnahmen nachzuprüfen h a t 2 8 4 . Der dagegen erhobene Einwand, auch die Nachprüfung einer vorangegangenen Ermessensentscheidung sei ihrerseits rechtliche Kontrolle, wie sie etwa im Rahmen des § 114 VwGO durch die Verwaltungsgerichte ausgeübt werde, kann nicht überzeugen. Ausdrücklich wurde im Gesetzgebungsverfahren zwischen der rechtlichen, alle tatbestandlichen Voraussetzungen ergreifenden Überprüfung einerseits und der Nachprüfung des vom Bundesminister ausgeübten pflichtgemäßen Ermessens andererseits differenziert. Diese Unterscheidung läßt sich nur erklären, wenn neben der ohnehin bestehenden Möglichkeit zur Überprüfung der rechtlichen Grenzen des Ermessens auch noch Zweckmäßigkeitserwägungen, also eigenes Ermessen der Kommission, gewollt w a r 2 8 5 . Die besseren Gründe sprechen demnach fur die Befugnis der Kommission zur Einfuhrung eigener Opportunitätsgesichtspunkte - und das entspricht genau dem Ziel der Kombination von rechtlicher und politischer Kontrolle von politischen Entscheidungen. Für den Zweck dieser Untersuchung soll hier festgehalten werden, daß sich in den Regelungen des G10 eine gut durchdachte und sinnvoll strukturierte Lösimg für die Probleme verdeckter Informationserhebungen im Vorfeld polizeirechtlicher Gefahren und strafprozessualer Verdächtigungen findet. Sie besteht darin, daß als Kompensation für die unvermeidlich schwache Kontrollsubstanz der Eingriffsnormen eine politiknahe, aber unabhängige, besonders von Weisungen freie Kommission eingerichtet wird, die auch unter Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten entscheiden darf. Diese Kommission ist zugleich ein Lösungsmodell für den Sachverhalt, daß ein präventiver Rechtsschutz mit Beteiligung von Betroffenen nicht stattfinden kann aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit und des Grundrechtsschutzes, die vorausgehende rechtliche Kontrolle aber stattzufinden hat.

284

Bericht des Rechtsausschusses zum Entwurf G10, BT-Drs. V/2930, S. 3. Die Regelungen des G10 und das Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist seinerzeit allerdings auf erhebliche Kritik gestoßen. Im Minderheitsvotum (BVerfGE 30, 1, 33ff.) wurde vor allem eine gesetzliche Regelung zur nachträglichen Benachrichtigung von Betroffenen vermißt und der Ausschluß des individuellen Rechtsschutzes gerügt. Die nachträgliche Benachrichtigungspflicht - die auch von der Senatsmehrheit gefordert wurde - und der - darauf bezogene - Ausschuß gerichtlicher Kontrolle ist durch das Gesetz vom 13.9.1978 (BGBl. I, S. 1546) geregelt bzw. zurückgenommen worden. Zu anhaltenden kritischen Überlegungen vgl. Gusy, NJW 1981, 1581 ff., der weiterhin eine vorherige gerichtliche Kontrolle fordert; ebenso AKGG-Schuppert, Art. 10 Rdnr. 51 f. 285

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C. Verältnismäßigkeitskontrolle staatlicher Informationserhebung

ΠΙ, Die Verhältnismäßigkeitskontrolle des Vorsorgegrundsatzes im Immissionsschutzrecht Zu den rechtsdogmatischen Herausforderungen, die mit der im Bundesimmissionsschutzgesetz vollzogenen Unterscheidung zwischen Gefahrenabwehr und Vorsorgegrundsatz aufgetreten sind, gehört auch der neue Zusammenhang von Risiko-, Vorsorge- und Verhältnismäßigkeitskontrolle 286 . Auf eine handliche Formel gebracht, umfaßt die Gefahrenabwehr aus § 5 Abs. 1 Nr. 1 den Immissionsschutz, die Vorsorge gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 2 den Emmissionsschutz. Gefahrenabwehr erfaßt also den Einwirkungsbereich, während die Vorsorge gegen schädliche Umwelteinwirkungen Emissionen generell, also (zumindest auch) unabhängig vom örtlichen Einwirkungsbereich der Anlage, auf das nach dem Stand der Technik mögliche Niveau vermindern s o l l 2 8 7 . Wegen der bereits gezeigten Ähnlichkeiten zwischen den Strukturen des neuen Polizeirechts zur verdeckten Informationserhebung und den ebenso generell formulierten Vorsorgenormen im Umweltrecht läßt sich die Erwartung begründen, daß die Verwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bei der Durchsetzung des Vorsorgegebots im Immissionsschutzrecht weiteren Aufchluß über die Kontrollmöglichkeiten des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes gibt. Daß der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auch im Umweltschutzrecht Anwendung findet, ist unbestritten 288 . Für das Immissionsschutzrecht hat das Bundesverwaltungsgericht festgestellt, daß Vorsorge nach Umfang und Ausmaß dem Risikopotential, dem sie begegnen soll, proportional sein m u ß 2 8 9 . Aber welche Funktion kann der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz besitzen, wenn schon in dem Vorsorgegrundsatz selbst das Prinzip maximal möglicher Risikounterdrückung aufgenommen ist? Wieviel weniger an Schutz wäre gleichwohl noch ausreichende Vorsorge, wie läßt sich insgesamt das Risikopotential einschätzen? Wann sind Schutzvorkehrungen, technische Regeln und Schädlichkeitsschwellen für gefahrliche Stoffe angemessen? Aus der Fülle einzelner 286

Zu anderen, mit der gesetzlichen Fassung des Vorsorgegrundsatzes verbundenen Problemen, vgl. Ossenbühl, NVwZ 1986, 161 ff; Salzwedel, NVwZ 1987, 276 ff. und für einen Überblick Hoppe/Beckmann, Umweltrecht, 1989, S. 189 ff. 287 Vgl. nur Ossenbühl, NVwZ 1986, 169, der allerdings den Risikozuschnitt des Vorsorgegebots durch die Hinzufügung eines "vernünftigen Gefahrenbezugs" begrenzen will (S. 166 f.). Das schließt nicht aus, daß der Vorsorgegrundsatz auch im Nachbarschaftsbereich rechtliche Weisungen besitzen kann; es müßte dann aber erneut differenziert werden (etwa nach Luftreinhaltung und Lärmschutz), ohne daß die dann erforderlichen Maßstäbe schon feststünden, vgl. dazu Jarras, DVB1. 1986, 314, 317. Hier soll aber nur das Grundkonzept des Vorsorgegebots erörtert werden. 288 Ygj dazu Marburger, Atomrechtliche Schadensvorsorge, 1983, S. 52 mit zahlreichen Nachweisen. 289 Vgl. BVerwG, UPR 1984, 202, 204 = BVerwGE 69, 37.

III. Die Verhältnismäßigkeitskontrolle des Vorsorgegrundsatzes

111

Anwendungsprobleme 290 soll hier wegen der Konzentration auf den Vergleich mit Vorsorgenormen des Polizeirechts nur das Grundkonzept verhältnismäßiger Vorsorge gegen Luftverschmutzungen bei der Genehmigung von technischen Anlagen erörtert werden. Wie unter welchen Konditionen die Verhältnismäßigkeit von Vorsorgemaßnahmen zur Luftreinhaltung beurteilt werden kann und soll, ist umstritten 291 . Der Ausgangspunkt dieses Streits ist die Frage, ob bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit von Vorsorgeregelungen nur die engeren Immissionsverhältnisse im Umkreis der Anlage oder darüber hinaus weitere, möglicherweise sogar die ganze Immissionslage im Geltungsbereich des Gesetzes Berücksichtigung finden können. Nach der sog. kleinen Verhältnismäßigkeitsprüfung kann der zulässige Umfang der Vorsorge nur aufgrund einer einzelfallbezogenen Verhältnismäßigkeitsprüfung ermittelt werden 2 9 2 . Sie orientiert sich an den Immissionsverhältnissen im Umkreis der konkret betroffenen Anlage und gewinnt daraus die einzelnen Elemente des Abwägungsvorganges: Ausmaß der Vorbelastung im Einwirkungsbereich der Anlage, die durch Immissionsprognose erwartete Veränderung dieser Belastungssituation, das nach wissenschaftlichen Methoden ermittelte Reduzierungspotential zusätzlicher emissionsmindernder oder die Immissionen mindernde Maßnahmen (z.B. hohe Schornsteine) Umfang der erforderlichen Investitionen, besondere Standortnachteile bzw. -vorteile 2 9 3 . Ist nach Abwägung dieser Gesichtspunkte deutlich, daß ein Auftreten schädlicher Umwelteinwirkungen im relevanten Einwirkungsbereich selbst bei Berücksichtigung von Veränderungen des Emissionspotentials nicht zu erwarten ist, soll kein Raum für zusätzliche Auflagen zur Emissionsbegrenzung bleiben, weil diese dann nicht erforderlich seien 2 9 4 . Dagegen bezieht die sogenannte große Verhältnismäßigkeitsprüfung ihre Abwägungsmaßstäbe nicht aus der Immissionssituation und den Kosten der Emissionsvermeidung einer einzelnen Anlage, sondern aus dem bundesweiten Immissionsausstoß und der Höhe der volkswirtschaftlichen Gesamtkosten einer Emissionsminderung 295 . Die Größen, die unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit zueinander in Beziehung gesetzt werden, sind hier nicht die Immission des einzelnen Betriebes und ihr Beitrag zur Umweltgefahrdung, 290

Für die besonders problemträchtige Anwendung eines verhältnismäßigen Vorsorgegebots vgl. Dolde, NVwZ 1986, 873 ff. und Jarras, DVB1. 1986, 314 ff. 291 Für einen Überblick vgl. Reich, S. 204 m.w.N. 292 Vgl. Feldhaus, BImSchR I, § 3 Arnn. 19; ders., DVB1. 1979, 306; Sellner, NJW 1980, 1259 f. 293 Vgl. Sellner, NJW 1980, 1259 f. 294 ders., 1259. 295 Vgl. Ossenbühl, NVwZ 1986, 167 f.; Dolde, NVwZ 1986, 878; Jarras, DVB1. 1986,317.

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C. Verältnismäßigkeitskontrolle staatlicher Informationserhebung

sondern der Emissionsausstoß aller Anlagen im Jahresquantum insgesamt und die Höhe der volkswirtschaftlichen Gesamtkosten einer Emissionsminderung. I m Grundsatz hat sich heute die sogenannte große Verhältnismäßigkeitprüfung durchgesetzt. Nur sie entspricht auch der mit dem Vorsorgegrundsatz verfolgten gesetzgeberischen Zielsetzung. M i t der Differenzierung zwischen Gefahrenabwehr und Vorsorge wird zugleich die Perspektive von der Vorsorge am Standort zur Vorsorge an der Quelle erweitert und müssen sich deshalb die abwägungserheblichen Gesichtspunkte grundlegend verändern. Quellenbezogene Vorsorge erfordert Generalisierung in der Beurteilung der verhältnismäßigen Immissionsminderung, sie kann auf den Schadensbeitrag einzelner Anlagen nicht mehr abstellen. Vielmehr müssen dann alle Emittenten ohne Rücksicht auf ihren individuellen Immissionsbeitrag als Gemeinschaft der Verursacher gleichmäßig in Anspruch genommen werden. Wenn es nicht mehr um konkreten Schadensschutz, sondern um die Realisierung des nach dem Stand der Technik möglichen Risikoschutzes geht, dann kann es nicht mehr auf die konkrete Immissionssituation ankommen. Mit diesem generalisierten und quellenbezogenen Charakter von Vorsorge ist die sogenannte kleine Verhältnismäßigkeitsprüfung aber unverträglich. Wegen der Eigenart von Vorsorgenormen muß zwangsläufig die Verhältnismäßigkeitsprüfung als Einzelfallabwägung grundsätzlich 296 aufgegeben werden 2 9 7 . Die mögliche Vorsorge muß von der Bindung an einzelne Immissionssituationen gelöst und auf größere Zusammenhänge bezogen werden. Diese Konsequenz wird in der großen Verhältnismäßigkeitsprüfung gezogen. Ihr Ziel ist es, eine an gesamtwirtschaftlichen Gesichtspunkten orientierte Abwägung über die erforderliche Vorsorge durchzuführen, sie ist also ein Mittel zur Steuerung der durchschnittlichen Immissionsbelastung und bedeutet einen Schritt in Richtung auf eine bundesweite Immissionsplanung. Wie aber können die dann erforderlichen Abwägungsgesichtspunkte operationalisiert werden, was bereits ist der jeweilige "Stand der Technik", worin bestehen die zumutbaren Kosten? Und wie kann über diese Gesichtspunkte entschieden werden, wenn doch noch nicht wahrscheinliche, sondern bloß mögliche Gefahren abgewendet werden sollen, wenn doch die für Risikosituationen typischen Defizite an gesichertem Erfahrungswissen über Geschehensabläufe, Wirkungszusammenhänge und Eigenschaften von Stoffen bestehen? Und schließlich, wer soll das entscheiden? 296

Daß gleichwohl noch eine klassische Einzelfallprüfung im Anschluß an den großen Verhältnismäßigkeitstest bei ganz besonderen Bedingungen möglich bleibt, wird von dieser Feststellung nicht berührt, vgl. dazu Salzwedel, S. 34 f. 297 Mit der Folge, daß dann auch ein Beurteilungsspielraum für die Verwaltungsentscheidung nicht mehr begründet werden kann, vgl. Jarras y NJW 1987, 1228.

III. Die Verhältnismäßigkeitskontrolle des Vorsorgegrundsatzes

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Von den Überlegungen zu einer großen Verhältnismäßigkeitsprüfung ausgehend, hat das Bundesverwaltungsgericht dafür ein schlüssiges Konzept entwickelt. Für den Ferntransport von Luftschadstoffen hat es ausdrücklich ausgeschlossen, daß die erforderliche Vorsorge unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten mit betriebswirtschaftlichen, auf einzelne Anlagen bezogenen Kategorien zu messen sei. Die erforderliche Vorsorge könne nur in volkswirtschaftlichen Größenordnungen erfaßt werden. Es handele sich bei Vorsorge auch nicht um eine sich in strenger rechtlicher Gebundenheit vollziehende Anordnung des technisch Machbaren, sondern um eine komplexe Neubewertung der Frage, welche Emissionsbegrenzung künftig von allen Anlagen über einen beträchtlichen Zeitraum hinweg als angemessene Vorsorge verlangt wird. Das aber ließe sich wegen der Natur der zugrundeliegenden Probleme nicht in unmittelbarer Anwendung des Vorsorgegrundsatzes auf den jeweiligen Einzelfall entscheiden, sondern setze eine vorausgehende Konkretisierung der darauf bezogenen Betreiberpflichten durch eine Verordnung nach § 7 BImSchG oder eine Verwaltungsvorschrift nach § 48 BImSchG voraus, denn nur so könne dem Risiko, dem entgegengewirkt werden soll, mit einem langfristigen, auf eine einheitliche und gleichmäßige Durchführung angelegten Konzept begegnet werden 2 9 8 . Aus der Zielsetzung des Vorsorgegebots und der drastisch erhöhten Komplexität des Abwägungsvorganges schließt das Bundesverwaltungsgericht auf die Erforderlichkeit eines langfristigen und auf einheitliche und gleichmäßige Durchführung angelegten Konzepts in der Form rechtlich verbindlicher (in diesem Fall: untergesetzlicher) Normen. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz dient deshalb im Rahmen der Vorsorge nicht zur Konkretisierung von Maßstäben, sondern wird vielmehr zu ihrer Konstituierung benutzt. Das ist konsequent, wenn man unvermeidlich einen großen Ausgleich der im Rahmen von Vorsorge gegen Luftschadstoffe heranzuziehenden Gesichtspunkte herbeiführen muß, wenn man so heterogene Ziele wie die Schafliing oder Aufrechterhaltung von Freiräumen für künftige Industrieanlagen, den Schutz von Waldbeständen und insgesamt die Erhaltung elementarer Lebensbedingungen verfolgt. In rechtlich befriedigender Weise kann das nur gelingen, wenn in generalisierter Form die einheitliche und gleichmäßige Durchführung angemessener Standards gewährleistet ist. Zwar wird man dann mit plausiblen Gründen darauf hinweisen können, daß der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz durch "Inkorporierung" in untergesetzliches Recht von einer Vorsorge beschränkenden zu einer Vorsorge konstituierenden Größe verwandelt werde und dadurch die Grenzen der Rechtsauslegung überschritten

298

Vgl. BVerwGE 69, 37, 45; diesen Ausführungen folgen die oben in FN 295 aufgeführten Autoren. Zuvor schon entwickelt in: Sondergutachten "Waldschäden und Luftverunreinigungen" des Rates von Sachverständigen für Umweltfragen (1983), BTDrs. 10/113, Nr. 525, S. 125. 8 Neumann

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C. Verältnismäßigkeitskontrolle staatlicher Informationserhebung

seien 2 9 9 . Wenn aber eine generalisierte Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes unvermeidbar ist, dann kann, ja dann muß der Ausgleich berücksichtigungswürdiger Gesichtspunkte im Rahmen der Herstellung von technischen Regelwerken mit rechtlicher Verbindlichkeit bewirkt werden. Die Frage ist dann nicht mehr, ob überhaupt so verfahren werden darf, sondern, wer die Entscheidungen trifft und wie, d.h. in welchen Verfahren, sie getroffen werden. Zwangsläufig konzentriert sich dadurch das Interesse auf Kompetenzen und Verfahren. Als Problem ergibt sich dann, ob die durch große Verhältnismässigkeitsprüfungen in Anspruch genommene politische Dimension ausreichend bei der Verwaltung angesiedelt ist und wie die Festlegung der Standards ihrerseits kontrolliert werden k a n n 3 0 0 . Wenn selbst Grenzwerte fur schädliche Stoffe in der Wissenschaft unterschiedlich beurteilt werden, Dosis-Wirkungs-Beziehungen noch nicht erforscht und Wirkungszusammenhänge zwischen vielen einzelnen Stoffen nicht sicher beurteilt werden können, dann entsteht die Aufgabe, durch geeignete Verfahren Sachverstand zu mobilisieren und entscheidungsfahig zu konzentrieren 301 . Anstelle einer Erörterung weiterer Einzelheiten wird hier nur festgehalten, daß sich dann vieles, wenn nicht alles mit der richtigen Wahrnehmung der politischen Verantwortung durch den Gesetzgeber entscheidet. Durch ihn müssen die wesentlichen Vorgaben gesetzlich festgelegt und muß durch Bereitstellung ausreichender verfahrensrechtlicher Vorschriften sichergestellt werden, daß alle Gesichtspunkte in die Abwägung einfließen und zwischen ihnen ein angemessener Ausgleich stattfindet 302 . Die Risikoorientierung des Vorsorgegrundsatzes zwingt zu einer politischen Definition dessen, was in der Gesellschaft als tolerables Risiko unter Abwägung mit vielen anderen Forderungen noch hingenommen werden soll. Diese Verantwortung muß in erster Linie durch den demokratisch legitimierten Gesetzgeber wahrgenommen werden. Die politische Verantwortung kann unter den Voraussetzungen gesetzlich unbestimmter Zielvorgaben (Vorsorge) und den damit verbundenen Konkretisierungs- und Standardisierungsspielräumen der Verwaltung in einem wesentlichen Umfang aber nur noch gleichsam indirekt durch die Gestaltung von Verfahren und die Verteilung von Kompetenzen wahrgenommen werden. 299

So Reich, S. 218. 300 Ygj d a z u a u s neuerer Zeit Demütiger, Verfassungsrechtliche Anforderungen an die Nonnsetzung im Umwelt- und Technikrecht, 1990, S. 117 ff, und von Lersner, Nr. 1990, 193 ff. 301 Zu den Problemen aus sozialwissenschaftlicher Sicht vgl. Mayntz, Die Verwaltung 1990, 137 ff. 302 ygj c j a z u neben den in FN 295 genannten Autoren auch Jar ras, NJW 1987, 1225 ff. und Salzwedel, NVwZ 1987, 276, 278 f.

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An der Entwicklung des Vorsorgegrundsatzes im Immissionsschutzrecht läßt sich erkennen, daß die Funktion des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes durch zukunftsgerichtete Vorsorgenormen eine nachhaltige Veränderung erfährt. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wandelt sich von einem Begrenzungsprinzip für die Rechtmäßigkeit staatlichen Handelns zu einer Ermächtigungsgrundlage für norminterpretierende oder normkonkretisierende Akte der Verwaltung. Damit ist die manifeste Tendenz zur Prädominanz der Verwaltung verbunden und in gleichem Maße die gerichtliche Kontrolldichte abgeschwächt 303 . Mit geringer Überspitzung formuliert: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verliert seine Bedeutung als Kontrollprinzip für staatliche Eingriffshandlungen, er wird zum Legitimationsprinzip für die Selbststeuerung der Verwaltung und zum Instrument politischer Planung. Ob diesem Wandel durch die kompensatorische Schaffung und Differenzierung von Kompetenzen und Verfahren wirksam begegnet werden kann, läßt sich gegenwärtig noch nicht abschließend beurteilen 304 . Die Entwicklungsrichtung selbst ist unvermeidlich und nicht mehr auf das Niveau einer klassischen Verhältnismäßigkeitsprüfüng zurückzuführen.

IV· Die Verhältnismäßigkeit verdeckter Ermittlungen nach neuem Polizeirecht Der Überblick zu der Funktion des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Überwachungsrecht nach G10 und in der Interpretation des immissionsschutzrechtlichen Vorsorgegrundsatzes hat eine bemerkenswerte Übereinstimmung erkennbar werden lassen. Hier wie dort führt die geringe Kontrollfahigkeit der Eingriffsnormen zu einer bedeutenden Aufwertung von verfahrensrechtlichen Regeln und überdies zu politiknahen Entscheidungsprozessen. Im Überwachungsrecht nach G10 wird deshalb die gerichtliche Kontrolle von Überwachungsmaßnahmen ersetzt durch eine mit gerichtsähnlichen Befugnissen ausgestattete Kommission, die zugleich unter Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten entscheiden darf. Diese präventive Kontrolle wird ergänzt durch die nachträgliche Unterrichtung des Abgeordnetengremiums nach § 9 Abs. 1 G10, dassich dann nicht mehr mit der Korrektur von Einzelmaßnahmen befaßt, aber nicht gehindert ist, auch vollzogene Einzelanordnungen kritisch zu bewerten und die Kritik an den Bundesminister zu adressieren 305 Daraus ergibt sich ein Konzept abgestufter Rechts-, Zweckmäßigkeits- und politischer Kontrolle. Bei dem Vorsorgegrundsatz des Immissionsschutzrechts zwingt die Anwendung 303 304 305

Vgl. dazu hier nur Brohm, NVwZ 1988, 794 ff. Vgl. dazu jetzt die Vorschläge von Derminger, S. 166 ff. Vgl. Borgs/Ebert, S. 203 f.

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des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu einer generalisierenden Bewertung des hinzunehmenden Risikos und dadurch zu gesteigerter parlamentarischer, also wiederum politischer Verantwortung. Dem Gesetzgeber fällt dadurch die Aufgabe zu, die Kompetenzen und die Entscheidungsprozesse selbst zu gestalten, und zwar so, daß alle Belange in die Abwägung einfließen können und daß der Abwägungsprozeß selbst einen angemessenen Ausgleich zwischen allen Beteiligten erreichbar macht. Wenn nun auch das Informationsrecht der Polizei auf Risiko und Vorsorge umgestellt wird, müßte man erwarten, daß auch hier der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz seine klassische Funktion als Einzelfallkorrektiv nicht mehr in dem ursprünglichen Umfang sicher erfüllen kann, sondern ebenfalls und i m Gegenzug verfahrensrechtliche Kompensationen erforderlich werden läßt. Für die Erhebung personenbezogener Daten und für den Umgang mit ihnen ist diese Erwartung nicht überraschend, weil schon bislang im Datenschutzrecht die Kontroll- und Verfahrensregeln einen hohen Stellenwert besitzen. Indessen ist es zweifelhaft, ob mit den bekannten Instrumenten des Datenschutzrechts die neuen Gefahrdungslagen angemessen erfaßt werden können. Zur näheren Aufklärung wird zunächst eine exemplarische Übersicht zu dem für Informationseingriffe zentralen Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung, seinem Schutzbereich und den relevanten Eingriffshandlungen gegeben (1). Anschließend kann die Kontrollwirkung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im neuen Informationsrecht der Polizei genauer qualifiziert werden (2). Daraufhin läßt sich ein Urteil über die Leistungskraft des bisherigen datenschutzrechtlichen Konzepts bilden (3).

1. Das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung Mit dem Urteil zum Volkszählungsgesetz 1983 3 0 6 hat das Bundesverfassungsgericht in konkretisierender Grundrechtsinterpretation aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht in Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG ein spezifisches Gnindrecht auf informationelle Selbstbestimmung eigenständig konturiert und damit die schon bisdahin differenzierte Rechtsprechung zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht mit Blick auf die durch die neue Informationstechnik entstandenen neuen Gefahrdungslagen präzisiert 307 . Das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung ist zugleich die Antwort des Bundes-

306

BVerfGE 65, 1 ff. 307 ygj d ^ u Simitis, NJW 1984, 398 ff. Zu weiteren Kommentierungen des Urteils vgl. Hufen, Das Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts, JZ 1984, 1072 ff; Schlink, Das Recht der informationellen Selbstbestimmung, Der Staat 1986, 233 ff.

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Verfassungsgerichts auf die Frage nach der verfassungsrechtlichen Grundlage des gesamten Datenschutzrechts. (1) Die verfassungsrechtliche Grundlage des Datenschutzes findet sich in dem umfassend formulierten Schutzbereich des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung. Danach umfaßt das allgemeine Persönlichkeitsrecht die "aus dem Gedanken der Selbstbestimmung folgende Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst zu entscheiden, wann und innerhalb welcher Grenzen persönliche Lebenssachverhalte offenbart werden" 3 0 8 . Das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung soll eine allgemeine Entscheidungsfreiheit des Einzelnen über die Erhebung und Verwendung personenbezogener Informationen vermitteln - einschließlich der Möglichkeit, sich den eigenen Entscheidungen gemäß tatsächlich verhalten zu können. Mit diesem Grundsatz ist es nach verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung unvereinbar, wenn der Bürger nicht mehr wissen kann, wer was wann und bei welcher Gelegenheit über ihn weiß. Ein undurchschaubarer Datenverkehr würde dann nicht nur die individuellen Entfaltungschancen der Einzelnen beeinträchtigen, sondern zugleich das Gemeinwohl, weil Selbstbestimmung eine elementare Funktionsbedingung des auf Handlungs- und Mitwirkungsfähigkeit seiner Bürger begründeten freiheitlich demokratischen Gemeinwesens ist. Wer unsicher ist, ob abweichende Verhaltensweisen jederzeit notiert, als Information dauerhaft gespeichert, verwendet oder weitergegeben werden, wird versuchen, nicht durch solche Verhaltensweisen aufzufallen. Wer damit rechnen muß, daß er für die Teilnahme an einer Demonstration, Versammlung oder an einer Bürgerinitiative behördlich registriert wird und ihm dadurch Nachteile entstehen können, wird möglicherweise auf die Ausübung seiner entsprechenden Grundrechte (Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit) verzichten 309 . Vor allem in dieser umfassenden Bestimmung des Schutzbereichs eines Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung liegt die verfassungsgerichtliche Innovation. Schon bislang, spätestens seit dem Mikrozensusbeschluß 3 1 0 und der (ersten) Scheidungsaktenentscheidung311 des Bundesverfassungsgerichts konnte man davon ausgehen, daß der Umgang mit personenbezogenen Daten den betroffenen Bürgern gegenüber ein grundrechtserheblicher Vorgang ist. Diese Rechtsprechung ist allmählich ausgebaut und bereits in Richtung auf eine grundsätzliche Selbstentscheidungsbefügnis für die Ver-

308 309 310 311

BVerfGE 65, 1,42. Vgl. BVerfGE 65, 1,42 f. BVerfGE 27, 1 ff. BVerfGE 27, 344 ff.

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wendung eigener Daten generalisiert worden 3 1 2 . Nunmehr ist diese Rechtsprechung zu einem Grundrecht mit eigenem Schutzbereich verallgemeinert und dabei klargestellt worden, daß jede Form der Erhebung, Speicherung, Verarbeitung und Übermittlung von personenbezogenen Daten rechtfertigungsbedürftig ist, unabhängig von der Qualität oder dem Ausmaß der erhobenen oder benutzten personenbezogenen Daten. Entscheidend sind vielmehr die Nutzbarkeit und die Verwendungsmöglichkeiten der Daten. Nicht nur - dort aber besonders auffallig - für den Bereich automatisierter Datenverarbeitung ist dadurch eine prinzipielle Unterscheidung zwischen sensiblen und unsensiblen Daten undurchführbar geworden. Auch zunächst unverfängliche Daten können vielmehr ein hohes Gefahrdungspotential für das Grundrecht enthalten, sobald entweder durch eigene weitere Verarbeitung (Kombination von Datenbeständen) oder durch Übermittlung an die Verwalter weiterer Datenbestände Teil- oder Gesamtbilder einer Persönlichkeit zusammengesetzt werden können. Der Schutzbereich des informationellen Selbstbestimmungsrechts tritt dadurch die Nachfolge der Sphärentheorie an, mit der das Bundesverfassungsgericht dem Informations- und Datenschutzrecht bis dahin eine eigene Prüfüngsstruktur vorgezeichnet hatte 3 1 3 . Stattdessen sind damit jetzt die Überlegungen aufgegriffen worden, die bereits in der Diskussion zu einem künftigen Datenschutzrecht in der Vergangenheit besonders hervorgehoben worden waren314. Eine für den Zusammenhang mit verdeckten Ermittlungen der Polizei wichtige Überlegung des Bundesverfassungsgerichts ergibt sich aus den im Volkszählungsurteil geschilderten Gefahren einer undurchschaubaren Datenverarbeitung für die freien staatsbürgerlichen Handlungsmöglichkeiten. Unüberschaubare und unkontrollierte Datenerhebungen und -Verwendungen können nach der Ansicht des Verfassungsgerichts einen faktischen Zwang zum Verzicht auf die Wahrnehmung von Grundrechten auslösen 315 . Diese Darstellung legt den Eindruck nahe, daß sich die Garantiefunktion des Schutzbereichs auch auf das Vorfeld von Schutzbereichen anderer Grundrechte ausdehnt, also auch noch die Gefahrdungen für die freien Wahrnehmungsmöglichkeiten an312

BVerfGE 32, 373 ff. (Arztkartei); 35, 202 ff. (Lebach); 44, 353 ff. (Suchtberatungsstelle); 56, 37 ff. (Selbstbezichtigung); 63, 131 ff. (Gegendarstellung). Neuerdings BVerfGE 79, 256 ff. (Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung). 313 So ausdrücklich Benda, DuD 1984, 86 ff: "Für das Verständnis des Volkszählungsurteils ist wichtig, daß an dieser Unterscheidung (der drei Sphären des Intimen, Privaten und Sozialen; Anm.d.Verf.) nicht mehr festgehalten wird" (S. 88). Vgl. auch Podlech, Leviathan 12 (1984), 85 ff., 91 f. Dagegen meint Krause, JuS 1984, 268 ff., 271, zu Unrecht, der Ansatz der Sphärentheorie sei nur modifiziert worden. 314 Vgl. Steinmüller u.a., Grundfragen des Datenschutzes, Gutachten im Auftrag des Bundesministers des Innenn, BT-Drs. VI/3826 Anlage 1 (1972). 315 V g l BVerfGE 65, 1,42 f.

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derer Grundrechte in den Schutzbereich des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung aufnimmt. Das Ergebnis fur ein Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung wäre dann die Struktur eines "Supergrundrechts". Ob freilich diese Überlegung fortgeführt und ausgebaut werden kann, ist nicht sicher vorauszusagen. Der Grundgedanke selbst, nämlich die Einbeziehung von faktischen Zwangswirkungen gegen die Wahrnehmung von Grundrechten, ist später für das Versammlungsrecht immerhin aufgegriffen worden. Das Verfassungsgericht hat mit seiner Hilfe vorbeugende Kontrollen, welche die Teilnahme an einer Demonstration erschweren oder ihren staatsfreien, unreglementierten Charakter durch exzessive Observationen und Registrierungen verändern, für unvereinbar mit dem Grundrecht der Versammlungsfreiheit gehalten 3 1 6 . Für den Schutzbereich des Versammlungsgrundrechts aus Art. 8 Abs. 1 GG folgen daraus spezifische Kooperationspflichten zwischen Versammlungsteilnehmern und Ordnungskräften sowie erhöhte Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit in der Gefahrenprognose für befürchtete Störungen. Es bleibt abzuwarten, in welcher Weise sich künftig eine präzise Grenzziehung zwischen dem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung und anderen Grundrechten erreichen läßt. Erkennbar wird aber bereits jetzt, daß das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung durch die weite Definition des Schutzbereichs in eine grundrechtliche Zentralposition dirigiert wird, und immer dann die Prüfung der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit von Staatsakten beeinflußt, wenn informationelles Staatshandeln involviert ist. Diese Zusatzfunktion der gleichsam vorbeugenden Einbeziehung von Gefährdungen für die freie Wahrnehmung anderer Grundrechte enthält außerdem durch die Art der Begründung des Grundrechts noch einen beträchtlichen Bedeutungsgewinn. Nicht nur sind durch exzessive und unüberschaubare Informationssammlungen des Staates die individuellen Entfaltungschancen des Einzelnen beeinträchtigt, "sondern auch das Gemeinwohl, weil Selbstbestimmung eine elementare Funktionsbedingung eines auf Handlungs- und Mitwirkungsfahigkeit seiner Bürger begründeten freiheitlichen demokratischen Gemeinwesens i s t " 3 1 7 Das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung erfährt dadurch diejenige grundrechtstheoretische Doppelbegründung, wie sie auch für andere Grundrechte entwickelt worden ist. In der subjektiv-rechtlichen Dimension dient das Grundrecht den individuellen Entfaltungschancen, den freien Selbstdarstellungsmöglichkeiten des Individuums; in der objektivrechtlichen Dimension sollen die elementaren Funktionsbedingungen des Gemeinwesens, sogar des Gemeinwohls abgestützt werden. Hierauf wird im Zu316

Vgl. BVerfGE 69, 315 ff., 349 (Brokdorf); zurückhaltender jetzt BVerfG; NStZ 1990,487 f. (Startbalm West). 317 BVerfGE 65, 1 ff, 43.

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sammenhang mit gesetzgeberischen Regelungspflichten noch zurückzukommen sein. Festzuhalten ist: Der Schutzbereich des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung erfaßt jede Erhebung und weitere Verwendung personenbezogener Daten ohne Rücksicht auf die Qualität oder Menge dieser Informationen. (2) Die Schutzbereichsbestimmung des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung bleibt nicht ohne Folgen für den Umfang staatlicher Handlungen, die dadurch als Grundrechtseingriffe bezeichnet sind. Im Recht der verdeckten Informationserhebungen hatte allerdings die heimliche Beschaffung von Informationen durch staatliches Handeln keineswegs stets als Grundrechtseingriff gegolten 3 1 8 . Es versteht sich auch nicht von selbst, daß heimliche Informationserhebungen der Polizei oder anderer damit befaßter Behörden Eingriffe in den Schutzbereich von Grundrechten sind. Dem Betroffenen wird nämlich durch die heimliche Beobachtung weder ein Handeln noch ein Dulden abverlangt, darauf gerichtete Tätigkeiten der Polizei sind staatliche Handlungen ohne Befehl und Zwang. Die zurückhaltende Bewertung solcher Informationserhebungen als Grundrechtseingriffe wird verständlich, wenn die heimlichen Informatipnsmaßnahmen an den klassischen Elementen des Grundrechtseingriffs gemessen werden. Für den Grundrechtseingriff war danach verlangt, daß er (1) final und nicht bloß die unbeabsichtigte Folge eines auf ganz andere Ziele gerichteten sowie (2) unmittelbar und nicht lediglich eine zwar beabsichtigte, aber lediglich mittelbare Folge des Staatshandelns, (3) ein Rechtsakt mit rechtlicher, nicht bloß faktischer Wirkung war und (4) durch Befehl angeordnet oder mit Zwang durchgesetzt wurde. Nun steht außer Zweifel, daß auch die heimliche Informationserhebung durch polizeiliche Dienststellen gezieltes staatliches Handeln ist, das sich auch unmittelbar gegen den Betroffenen richtet. Polizeiliche Observation mit oder ohne technisches Gerät, der Einsatz von V-Person e n 3 1 9 und verdeckten Ermittlern sind zielgerichtete staatliche Tätigkeiten, die direkt gegen die gemeinten Personen ausgeführt werden. Gemessen an der herkömmlichen Begriffsbildung fehlt der heimlichen Informationserhebung hingegen der Rechtsakt mit rechtlicher Wirkung und dessen Anordnung durch Befehl oder Durchsetzung mit Zwang. Es liegt gerade in der gewünschten Eigenart dieser polizeilichen Maßnahmen, daß weder eine mündliche oder schriftliche Nachricht an die Betroffenen ergeht noch mit Befehl oder Zwang gehandelt wird. Ein auf das aktuelle Verhalten der beobachteten Personen 318

Vgl. für eine Übersicht Schatzschneider, S. 136 ff. sowie Vahle, Polizeiliche Autklärungs- und Observationsmaßnahmen, 1983, S. 11 ff. 319 Speziell dazu Friedrichs, Der Einsatz von "V-Leuten" durch die Ämter für Verfassungsschutz, 1981, S. 91 ff.

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wirkender Zwang wird nicht ausgeübt. Die Personen sollen vielmehr unbefangen von der Kenntnis der gegen sie gerichteten Maßnahmen sich so verhalten, wie es ihnen beliebt; dann erst sind sie überhaupt geeignete Quellen von Informationen. Der Mangel an den begrifflichen Elementen Rechtsakt und Befehl/Zwang hat zu der kompensatorischen Überlegung angeregt, daß bei solchen "Verwaltungshandlungen tatsächlicher Natur" stets "der Befehl enthalten (sei), den tatsächlichen Eingriff zu dulden" 3 2 0 . Die Konstruktion eines Duldungsbefehls an den Betroffenen der Maßnahme beseitigt aber nicht die Differenz zu dem im Begriff des Eingriffs enthaltenen Element Rechtsakt, für dessen Existenz stets die Kenntnis der durch staatliches Handeln in Anspruch genommenen Personen vorausgesetzt wird. Präzisiert durch das Verwaltungsverfahrensrecht erlangen staatliche Rechtsakte erst dann Wirksamkeit, wenn sie dem Empfanger zugestellt werden (§ 43 VwVfG). Für heimliche Informationserhebungen müßte man sich also mit der wenig plausiblen Ansicht behelfen, daß auch Formen der fiktiven Zustellung von Rechtsakten zulässig sind, daß also die Zustellung von Rechtsakten auch dann stattfindet, wenn die Kenntnis derselben durch die Adressaten und andere Personen gerade vermieden werden s o l l 3 2 1 . Die Kurzfassung dieser Fiktion würde lauten: eine Zustellung gilt auch dann als bewirkt, wenn sie (gezielt) nicht stattfindet. Wenig überzeugend ist andererseits auch die bis in die jüngste Zeit hinein vertretene Ansicht, daß die polizeiliche Aufklärungs- und Observationstätigkeit mangels "Außenwirkung" die klassischen Merkmale des Grundrechtseingriffs nicht erfülle. Die Begründung dafür lautet, daß grundrechtlich geschützte Positionen erst nach dem Abschluß eines internen Verwaltungsverfahrens durch einen belastenden Verwaltungsakt tangiert werden könnten 3 2 2 . M i t dieser Begründung freilich könnte auch nicht die Aufbewahrung von erkennungsdienstlichen Unterlagen als Grundrechtseingriff bewertet werden 3 2 3 . Bereits in einer generellen Betrachtung aber erschöpfen sich die Aufklärungsund Observationsmaßnahmen der Polizei oder anderer staatlicher Behörden 320 So Evers, Privatsphäre und Ämter fiir Verfassungsschutz, 1960, S. 258 unter Bezugnahme auf frühere Überlegungen zum Duldungsbefehl bei Walter Jellinek. Vgl. auch Arndt, NJW 1961,901 321 Hier liegt auch der Unterschied ziun Duldungsbefehl bei Walter Jellinek, der damit lediglich das Problem der gleichzeitigen Anordnung und Durchführung einer Maßnahme gegen den informierten Adressaten lösen wollte, vgl. W . Jellinek, Gesetz, Gesetzesanwendung und Zweckmäßigkeitserwägung, 1913, S. 206 322 So noch Steinke, MDR 1980,457. 323 ygj a b e r schon BVerwGE 26, 169, 170 f. (Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht).

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schon ihrer Intention nach nicht in der Wahrnehmung staatlicher Funktionen im verwaltungsinternen Binnenbereich, sie sind vielmehr darauf gerichtet, Erkenntnisse über Personen und Zustände zu erlangen und gegebenenfalls auf die erhaltenen Informationen hin weitere Maßnahmen zu treffen. Auch wenn der heimliche polizeiliche Erhebungsakt ohne eine sofort einsetzende Wirkung gegen den Betroffenen bleibt, begibt sich diese Auffassung doch ohne zwingende Veranlassung zurück in die längst gefallenen Grenzen eines Verwaltungsverfahrensrechts, das sich auf die Maßgeblichkeit der Außenwirkung durch verbindlichen Rechtsakt festgelegt hatte. Sie übersieht vor allem, daß in weiten Bereichen der Sicherheits- und anderen behördlichen Tätigkeiten die Formen des schlicht-hoheitlichen Handelns stark verbreitet sind. Diese können aber gerade nicht mit der klassischen Dogmatik des Verwaltungsaktes diszipliniert werden. Ohnehin ist inzwischen die Grundrechtsdogmatik fortgeschritten und hat dabei auch zu Erweiterungen in dem Begriff des Grundrechtseingriffs geführt. Als Eingriff in den Schutzbereich eines Grundrechts gilt heute jedes Ereignis, das dem Einzelnen ein Verhalten, das in den Schutzbereich eines Grundrechts fällt, unmöglich macht oder wesentlich erschwert, gleichviel ob diese Wirkung final oder unbeabsichtigt, unmittelbar oder mittelbar, rechtlich oder tatsächlich und mit oder ohne Befehl und Zwang durch ein ursächliches oder zurechenbares Verhalten der öffentlichen Gewalt herbeigeführt w i r d 3 2 4 . Diese Begriffsumbildung ist eine verfassungsrechtlich prominente Folge der veränderten Realisierungsbedingungen von individueller Freiheit im sozialen Rechtsstaat. Durch die erreichte Differenzierung sozialer Strukturen sowie die quantitative und qualitative Ausdehnung der staatlichen Tätigkeit und die dadurch enorm angewachsene Zahl von Berührungspunkten zwischen individuellem und staatlichem Handeln ist der Bereich, in dem die Nutzung rechtlicher Freiheiten von gesellschaftlichen und staatlichen Vorleistungen materieller oder organisatorischer Art abhängt, stark angewachsen. Grundrechtsdogmatisch ist deswegen der subjektiv-rechtlich konzipierte Schutzbereich der Grundrechte um jeweils einen objektiv-rechtlichen Gewährleistungsinhalt erweitert worden. In dem Maße, in dem die Grundrechte auch für Organisation, Verfahren, Teilhabe und Leistung Bedeutung gewonnen haben, drängte sich die Frage nach der Eingriffsqualität von Organisationsakten, Verfahrensgestaltungen sowie Teilhabe- und Leistungsregelungen auf. Die wesentliche Veränderung, fast die Auflösung begrifflicher Grenzen des Grundrechtseingriffs, tragen dieser Entwicklung Rechnung. Auch die nicht beabsichtigte und nur mittelbarfaktisch eintretende Wirkung einer staatlichen Maßnahme kann jetzt ein Grundrechtseingriff sein. Auch diejenigen, die nicht Adressaten einer Maß324

Vgl. dazu Bleckmawi/Eckhoff,

DVB1. 1988, 373 ff.; Lübbe-Wolff,

S. 32 ff.

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nähme sind, können von einem Grundrechtseingriff betroffen sein. Daraus ist allerdings das Problem entstanden, eine dogmatisch handhabbare Unterscheidung zwischen solchen staatlichen Handlungen zu treffen, die lediglich den Grundrechtsgebrauch erschweren, und solchen, die den Grundrechtsgebrauch unmöglich machen. Die Markierung einer Grenze zwischen dem grundrechtsrelevanten Eingriff und der bloßen Belästigung wird infolgedessen erforderlich, ist aber noch nicht mit hinreichender Sicherheit vollzogen worden. Die bislang dargestellten Ansichten fur oder gegen einen Grundrechtseingriff durch eine heimliche Informationserhebung der Polizei sind unbefriedigend ausgefallen. Deutlich ist nur geworden, daß es fur die Begründung eines Grundrechtseingriffs nicht darauf ankommt, ob die staatliche Maßnahme unmittelbaren Zwangscharakter besitzt oder die Belastung durch einen gezielten Rechtsakt herbeigeführt wird. Auch für den Schutzbereich des informationellen Selbstbestimmungsrechts hat sich die ältere Diskussion über die notwendigen rechtlichen Bestandteile eines Grundrechtseingriffs überlebt. Ein gezielter, dem Betroffenen bekanntgegebener Rechtsakt ist nicht erforderlich, auch faktische Grundrechtsbeeinträchtigungen liegen im Schutzbereich dieses Grundrechts. Es bleibt aber dabei, daß durch heimliche Informationserhebungen der Polizei dem Betroffenen kein Handeln aufgegeben oder ein Dulden abverlangt wird, also keine faktische Beeinträchtigung entsteht. Diese Art staatlicher Tätigkeiten entzieht sich offenbar sogar dem Anwendungsbereich des nahezu grenzenlos erweiterten Eingriffsschemas. Begründungsbedürftig bleibt daher, daß selbst dann ein Eingriff in den Schutzbereich des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung vorliegt, wenn durch heimliche Beobachtung weder eine mittelbare noch eine faktische Wirkung bei dem Betroffenen erzielt wird. Einer Lösung dieses Problems kann man nur durch die genauere Analyse des grundrechtlichen Schutzbereichs näherkommen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gewährleistet das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung dem Einzelnen die Befugnis, "selbst über die Preisgabe und Verwendung persönlicher Daten zu bestimmen" 325 . Geschützt wird die "Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst zu entscheiden, wann und innerhalb welcher Grenzen persönliche Lebenssachverhalte offenbart werd e n 3 2 6 . Der Schutzbereich des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung ist auf diese Entscheidungsfreiheit des Einzelnen konzentriert, und der Schutzbereich ist deswegen stets berührt, wenn diese Entscheidungsfreiheit durch staatliches Handeln ganz oder teilweise genommen wird. Die Erhebung 325 326

BVerfGE 65, 1 43. Vgl. auch BVerfGE 78, 77/84. BVerfGE 65, 1,41 ff; 80, 367/373.

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personenbezogener Informationen durch heimliches Beobachten und Belauschen kann der Natur der Sache nach nicht auf ein vorausgehend mitgeteiltes rechtliches Gebot an den Betroffenen gestützt werden. Durch die fehlende Kenntnis von der staatlichen Maßnahme ist die Freiheit des Betroffenen, selbst darüber zu entscheiden, ob er Informationen über sich selbst staatlichen Behörden preisgeben oder ihnen vorenthalten will, nicht nur beeinträchtigt, sondern vereitelt. Für den Eingriff in den Schutzbereich des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung macht es aber keinen Unterschied, ob diese Entscheidungsfreiheit durch ausdrücklichen staatlichen Befehl oder Zwang oder dadurch unterbunden wird, daß die Entscheidungsmöglichkeit selbst für den Betroffenen nicht erkennbar, sondern sogar gezielt unkenntlich gemacht wird. Zu diesem Ergebnis gelangt man auch durch die Überlegung, daß die heimliche Informationserhebung den Charakter einer Ersatzvornahme für die eigentlich gebotene Anordnung und notfalls zwangsweise durchgesetzte Datenerhebung beim betroffenen Bürger besitzt 3 2 7 . Das Prinzip staatlicher Informationserhebung liegt in einem vorausgehenden rechtlichen Auflforderungsakt, der unter gewöhnlichen Umständen die Kenntnis des Adressaten von der Maßnahme bewirkt. Die heimliche Informationserhebung ersetzt die sonst erforderliche Aufforderung an den Adressaten, übt dadurch zwar keinen unmittelbaren Zwang auf den Betroffenen aus, ist aber gleichwohl mangels Kenntnis und Freiwilligkeit der Informationspreisgabe ein Grundrechtseingriff. Der Begründung eines Eingriffs in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung durch heimliche Informationserhebungsakte des Staates kann jedoch noch darüber hinausgehendes grundrechtliches Gewicht verliehen werden. Der Schutzbereich des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung ist nicht durch die Gewährleistung von Entscheidungsfreiheit von Betroffenen für die Preisgabe von Informationen über sich selbst erschöpft, sondern erfaßt auch die vorausliegende Sphäre der Bedingungen zur Herbeiführung einer Entscheidung, so wie auch bei anderen Grundrechten, deren Gewährleistungsinhalt nicht bloß die fertige Handlung, sondern die wesentlichen Bedingungen seiner Konstitution schützt. Das Grundrecht der Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 GG soll nicht nur garantieren, daß eine Meinung frei geäußert werden kann, der Schutzbereich erfaßt vielmehr auch die maßgeblichen Elemente der Möglichkeiten, sich eine Meinung bilden zu können, also die Meinungsbildungsfreiheit 328 . 327 328

So Schlink, S. 234 ff. 248 Zu diesem Beispiel vgl. Rossen, Freie Meinungsbildung durch den Rundfunk, 1988, S. 112 ff., 120 ff.

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M i t dieser Präzisierung fließt in den Schutzbereich des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung auch die Entscheidungsbildungsfreiheit als wesentlicher Gewährleistungsinhalt des Grundrechts ein. Diese Freiheit zur Entscheidungsbildung ist erkennbar durch heimliche Informationserhebungen des Staates nicht nur beeinträchtigt, sie wird sogar vereitelt. Darin liegt der Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung. Dieses Ergebnis wird durch eine wesentliche Überlegung aus dem Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts gestützt. Mit dem Grundsatz, daß es der Befugnis des Einzelnen unterliegt, selbst darüber zu entscheiden, wann und innerhalb welcher Grenzen persönliche Lebenssachverhalte offenbart werden sollen, ist es unvereinbar, wenn Bürger nicht mehr wissen können, wer was wann und bei welcher Gelegenheit über sie weiß. Eine allgemeine Unsicherheit darüber, ob die eigenen Verhaltensweisen staatlich beobachtet, notiert und in unterschiedlichen Zusammenhängen verwendet werden, ist mit dem Selbstbestimmungsgrundsatz, der selbst zu den wesentlichen Grundlagen einer freiheitlichen Staatsordnung gehört, nicht in Übereinstimmung zu bringen 3 2 9 . Deshalb muß im Schutzbereich des Grundrechts auch erfaßt werden, daß jeder Einzelne erwarten darf, nicht zum bloßen Objekt heimlicher Beobachtungstätigkeit des Staates zu werden. Diesem Erwartungsschutz kann grundrechtsdogmatisch durch die Komponente der Entscheidungsbildungsfreiheit besonderer Ausdruck und eigenständige Bedeutung gegeben werden. Die Gewährleistung von Entscheidungsbildungsfreiheit ist dann Teil des subjektiv-rechtlichen Abwehranspruchs aus dem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung 3 3 0 . Mit diesen Begründungen steht fest, daß auch die heimliche Beobachtungstätigkeit des Staates grundsätzlich Eingriffe in den Schutzbereich des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung herbeifuhrt. Es bleibt aber die besonders in der polizeirechtlichen Diskussion behandelte Frage offen, ob die ohne Wissen der Betroffenen stattfindenden informationellen Handlungen des Staates nicht doch ein Mindestmaß an Intensität erreichen müssen, um auch als Eingriff in das Grundrecht gelten zu können 3 3 1 . Die Antwort darauf fallt deswegen nicht leicht, weil man wegen des weiten Schutzbereichs des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung zwar jede staatliche Kenntnisnahme personenbezogener Informationen als Grundrechtseingriff qualifizieren

329

Vgl. nochmals BVerfGE 65, 1, 41 ff. Im einzelnen bedürften diese Überlegungen einer genaueren Ausarbeitung, auf die im Rahmen dieser Untersuchung jedoch verzichtet werden kann, weil sie für das Ergebnis nicht ausschlaggebend sind. 331 Vgl. z.B. Kniesel, Zur EingrifTsqualität sicherheitsbehördlicher Datenerhebung, Die Polizei, 1983, 374, 383 f. 330

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C. Verältnismäßigkeitskontrolle staatlicher Informationserhebung

kann, dadurch aber eine große Zahl von staatlichen Handlungen erfassen würde, bei denen die grundrechtliche Relevanz zumindest nicht offenkundig ist. Soll auch der "scharfe Blick" des Polizeibeamten auf den mutmaßlichen Dieb im Gedränge des Kaufhauses oder die Benutzung öffentlicher Fernsprechbücher durch die Polizei ein Grundrechtseingriff sein? Ist die Beobachtung einer Menschenmenge, eines bestimmten Objektes oder eines räumlichen Bereiches auch dann ein Grundrechtseingriff, wenn sich der Zweck der Überprüfung in der Erfassung der polizeilichen "Lage" erschöpft, bei der einzelne Personen (zunächst) nur zufälliges Beiwerk sind 3 3 2 ? Liegt auch in der länger andauernden (verdeckten oder offenen) Beobachtung des Verkehrsgeschehens durch Polizeibeamte ein Grundrechtseingriff? Tatsächlich mutet es seltsam an, solche Handlungen der Polizei als Grundrechtseingriffe zu bezeichnen und ihnen dadurch die Qualität eines grundrechtlich relevanten Geschehens zu verleihen. Es liegt deswegen .nahe, nur solche polizeilichen Beobachtungen als Grundrechtseingriffe zu behandeln, die ein Mindestmaß an Erheblichkeit erreichen 333 . Für die Abgrenzung ist zu beachten, daß der Normzweck des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung in dem Schutz der selbst und freiwillig gewählten Eigendarstellung des Individuums liegt. Damit ist die Rückkehr zu der durch das Bundesverfassungsgericht inzwischen aufgegebenen Sphärentheorie ausgeschlossen. Deren Bedeutung lag in den dadurch eröffneten Möglichkeiten zur Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen in unterschiedlich schutzwürdigen Lebenszusammenhängen, hier sollen grundrechtliche Bagatellhandlungen identifiziert werden. Ob allerdings der Grundrechtseingriflf erst bei einer "exzessiven" Observation und Registrierung beginnen soll, wie es das Bundesverfassungsgericht im Versammlungsrecht fiir richtig h ä l t 3 3 4 , erscheint bedenklich. Als alleiniges Differenzierungskriterium bleibt das zu vage. Wie für den Schutzbereich anderer Grundrechte, namentlich den des allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus Art. 2 Abs. 1 GG, kann die Unterscheidung zwischen Eingriff und Nichteingriff nur mit der Hilfe mehrerer Kriterien für die Erheblichkeit einer staatlichen Maßnahme durchgeführt werden. Als Einzelkriterium kommt zunächst der Zweck einer behördlichen Maßnahme in Betracht. Darüber hinaus kann die Intensität der Beobachtung als das Ausmaß 332

Beispiel bei Vahle, S. 44. In diesem Sinne schon Ahlf, Der Begriff des "Eingriffes" insbesondere bei kriminalpolizeilicher Tätigkeit und die sog. "Schwellentheorie" zu § 163 Abs. 1 StPO, Die Polizei 1983, 44 ff; vgl. auch Gusy, NVwZ 1991, 614 ff. für die Differenzierung zwischen "polizeilicher Befragung" (Grundrechtseingriff) und "informatorischer Befragung" (kein Grundrechtseingriff). 3 4 * Vgl. BVerfGE 69, 315, 346. 333

IV. Verhältnismäßigkeit verdeckter Ermittlungen

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dessen beschrieben werden, was an technischem und organisatorischem Aufwand betrieben werden muß und in welchem zeitlichen Umfang die Maßnahme andauert. Für den Bereich der öffentlichen Kommunikation, für die sich das Abgrenzungsproblem in besonderer Weise stellt, ist für die Anwendung dieser Kriterien generell zu bedenken, daß ein Grundrechtseingriff erst dann bewirkt wird, wenn sich die polizeiliche Informationssammlung außerhalb der Bedingungen bewegt, die jede Form der öffentlichen Kommunikation auszeichnet: Zufälligkeit, Flüchtigkeit, Punktualität. Wird dieses Normalmaß der öffentlichen Kommunikation durch zweckgerichtetes und mit besonderem Aufwand verbundenes polizeiliches Handeln intensiviert, entsteht der Grundrechtseingriff. Die Anwendung dieser Unterscheidungskriterien führt auch zu konsistenten Ergebnissen. Der "scharfe Blick" des Polizeibeamten allein ist kein Grundrechtseingriff. Daran anschließende längerfristige Beobachtungen oder gezieltes Mithören öffentlich geführter Gespräche hingegen greifen in den Schutzbereich des Grundrechts ein. Die längerfristige Verkehrsbeobachtung durch die Polizei ist kein Grundrechtseingriff, wenn und solange der Zweck dieser Maßnahme in der Kontrolle des Verkehrsgeschehens liegt. Auch der Blick des Polizeibeamten in das öffentliche Telefonbuch erreicht nicht die erforderliche Intensität, um bereits die Erhebung dieser Information als Grundrechtseingriff zu qualifizieren. Die in einem Telefonbuch enthaltenen Angaben sind freiwillig einer unbegrenzten Öffentlichkeit preisgegeben worden und ohne hohen Aufwand verfügbar. Daraus, und nicht aus einer bezweifelbaren Unempfindlichkeit der Angaben selbst, folgt die grundrechtlich neutrale Erhebungshandlung. Anders liegt es bei der längerfristig angelegten Beobachtung einer Menschenmenge. Hier dürfte regelmäßig die zielgerichtete und längerfristige Observation mit oder ohne technischen Aufwand zum Grundrechtseingriff führen, allerdings vorrangig in das Grundrecht der Versammlungsfreiheit nach Art. 8 Abs. 1 GG. Zu diesen Ergebnissen gelangt man auch durch die Betonung des im Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung enthaltenen Schutzes der Erwartung jedes Einzelnen, von gezielter staatlicher Registrierung der eigenen Verhaltensweisen verschont zu bleiben. Für die Kommunikation im "öffentlichen Raum" darf erwartet werden, daß deren normale Bedingungen nicht durch zweckgerichtetes und aufwendiges Beobachten oder Belauschen überschritten werden. Dann aber fallt es schwer, den lediglich "scharfen Blick" des Polizeibeamten als Frustration einer durch das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung geschützten Erwartung zu bestimmen. Etwas anderes gilt dann, wenn sich die polizeiliche Beobachtung nicht mehr an die Bedingungen der Kommunikation im "öffentlichen Raum" hält, wenn also die Beobachtung

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C. Verhältnismäßigkeitskontrolle staatlicher Informationserhebung

gezielt auf eine flächendeckende Informationserhebung, auf Lückenlosigkeit und auf zeitliche Dauer gerichtet ist. Dann liegt ein Grundrechtseingriff vor, das brauchen die Bürger auch im Rahmen der öffentlichen Kommunikation nicht zu erwarten. Die Erhebung einer Information aus einem öffentlichen Fernsprechbuch ist grundrechtsneutral, wenn sie sich auf ein aktuelles und punktuelles Ereignis bezieht. Werden solche Informationen hingegen in großem Umfang und mit hohem technischen Aufwand ermittelt (z.B. Rasterfahndung), wird in den Schutzbereich des Grundrechts eingegriffen 335 . Es läßt sich nach diesen Überlegungen erkennen, daß trotz des weiten Schutzbereichs nicht jede Form polizeilicher Informationssammlung ohne Kenntnis des Betroffenen zum Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung führt. Im Einzelfall ist vielmehr unter den Gesichtspunkten des Zwecks, des Aufwandes und der Zeitdauer die Eingriffsqualität polizeilicher Handlungen erst festzustellen. Für die in den neuen Polizeigesetzen dem Grundtyp nach geregelten Handlungsbefügnisse (längerfristige Beobachtung von Personen, Veranstaltungen oder Versammlungen, Einsatz von V-Personen und verdeckten Ermittlern, Einsatz technischer Mittel in Wohnungen) gilt allerdings, daß mit ihrer Inanspruchnahme regelmäßig Eingriffe in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung oder in spezielle Freiheitsgrundrechte verbunden sind. (3) Weil der Schutzbereich des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung und mit ihm die Eingriffsmöglichkeiten in dem beschriebenen Sinne weit gefaßt sind, kommt es für die juristische Verwendbarkeit vor allem darauf an, in welcher Weise und in welchem Umfang das Grundrecht eingeschränkt werden kann. Der Ausgangspunkt des Bundesverfassungsgerichts besteht darin, daß wie bei allen anderen Grundrechten auch das der informationellen Selbstbestimmung nicht grenzenlos gewährleistet ist und deswegen keine unbeschränkte Datenherrschaft des Einzelnen gegenüber dem Staat vermittelt. Informationen, auch soweit sie personenbezogen sind, stellen immer zugleich auch ein Abbild sozialer Realität dar, das nicht ausschließlich den Betroffenen zugeordnet werden kann. In diesem Sinne gibt es kein Recht einer absoluten, uneingeschränkten Herrschaft über die Daten, die die eigene Person betreffen 336 .

335

Zu ähnlichen Ergebnissen gelangt auch Weßlau, Vorfeldermittlungen, 1989, S.192 ff.. Hingegen scheint Lammer, Verdeckte Ermittlungen im Strafprozeß, 1992, S.25 ff. jede Form der Beobachtung und Befragung als Grundrechtseingriff bewerten zu wollen. 336 BVerfGE 65, 1 ff, 43 ff.

Verhältnismäßigkeit verdeckter Ermittlungen

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Die Einschränkungen des Grundrechts müssen nach der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung dann hingenommen werden, wenn sie im überwiegenden Allgemeininteresse erforderlich sind und auf einer hinreichend bestimmten gesetzlichen Grundlage beruhen. Die Voraussetzung einer gesetzlichen Regelung soll dazu zwingen, die Ziele und den Umfang der Datenerhebung und Verarbeitung offenzulegen, und dadurch den Betroffenen die Möglichkeit verschaffen, die Tragweite der Einschränkung ihres Entscheidungsrechts rechtzeitig und korrekt einzuschätzen. Nicht nur freilich soll überhaupt eine gesetzliche Grundlage für die Informationsverarbeitung bestehen, sondern sie soll zugleich den Zweck der Datenerhebung, den Erhebungsakt, die Verarbeitungsregeln und die Weitergabemöglichkeiten ausreichend präzise beschreiben. Die gesetzliche Regelung soll mit anderen Worten dem Gebot der Normenklarheit Rechnung tragen 3 3 7 . Die Beschränkungen in der gesetzlichen Anordnung staatlicher Informationsverarbeitung ergeben sich aus einem spezifisch informationsrechtlich formulierten Übermaßverbot. Die Elemente des Übermaßverbotes sind die Grundsätze der Zweckbestimmtheit, der Geeignetheit und der Erforderlichkeit 338 . Aus dem Grundsatz bereichsspezifischer und präziser Zweckbestimmung staatlicher Informationsverarbeitung lassen sich Schlußfolgerungen für den Umfang des zulässigen Informationsaustausches zwischen verschiedenen Verwaltungsträgern ableiten 339 , die hier jedoch nicht primär interessieren. Bedeutend ist aber, daß im Zusammenhang mit der Durchführung statistischer Erhebungen die gesetzliche Grundlage auch ausreichende organisations- und verfahrensrechtliche Vorkehrungen zur Grundrechtssicherung enthalten muß. Auch dann also, wenn im übrigen die materiellen Voraussetzungen für staatliche Informationssammlungen vorliegen, müssen zusätzliche Regelungen über die Organisation und das Verfahren der Datenerhebung und -Verarbeitung in Betracht gezogen werden. Solche ergänzenden Regelungen (eindeutige sachliche und personelle Zuständigkeiten, Abschottung von Datenbeständen, interne und externe Kontrolle) dienen wiederum der Einhaltung des Grundsatzes der Zweckbindung 340 . Zu Recht ist aus diesen Erkenntnissen des Bundesverfassungsgerichts überwiegend der Schluß gezogen worden, daß alle Bereiche staatlicher Informationserhebung und -Verarbeitung daraufhin zu untersuchen sind, ob die bestehenden oder bislang in Anspruch genommenen gesetzlichen Grundlagen diesen Anforderungen genügen. Die Vorschläge aus VE ME PolG sind die direkte Folge dieser Rechtsprechung. Für die Ausgangspunkte eines Grundrechts 337

BVerfGE 65, 1 ff., 45 f. 338 BVerfGE 65, 1 ff., 46. Vgl. dazu näher Derminger, in: Hohmann (Hrsg.), S. 137ÎT. 339 Vgl. Denninger, ebenda, S. 161 ff; Riegel, DVBL. 1987, 325 ff. 340 BVerfGE 65, 1 ff., 49 tf. 9 Neumann

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C. Verhältnismäßigkeiskontrolle staatlicher Informationserhebung

auf informationelle Selbstbestimmung läßt sich zusammenfassen, daß die staatliche Erhebung und Verarbeitung personenbezogener Daten nur bei überwiegenden Allgemeininteressen und nur auf gesetzlicher Grundlage erlaubt ist und sich dann gleichwohl noch an dem spezifischen informationsrechtlichen Übermaß verbot messen lassen muß. Außerdem sind Organisations- und Verfahrensregelungen gesetzlich zu schaffen, soweit und solange die gesammelten Datenbestände Personenbezüge noch aufweisen oder deren Erschließung zulassen. Ob mit diesen Voraussetzungen auch ausreichende Bedingungen staatlicher Einrichtungen bezeichnet sind, bedarf allerdings noch näherer Betrachtung. Dafür folgen hier zunächst Überlegungen zur Kontrolle heimlicher polizeilicher Informationserhebungen durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz.

2. Die Erforüerlichkeit verdeckter Ermittlungen im Polizeirecht Es konnte festgestellt werden, daß die in dem VE ME PolG vorgeschlagenen Regelungen zur Durchführung verdeckter Ermittlungen mindestens subsidiär Eingriffe in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung hervorrufen können. Andererseits ist aber unbestritten, daß sich die denkbaren polizeilichen Handlungen an dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit orientieren müssen, daß sie geeignet, erforderlich und zumutbar sein müssen. Es ist aber unklar, wie man sich die Verhältnismäßigkeitskontrolle vorstellen kann, wenn nach den vorgesehenen Regelungen die Zwecksetzung in den Eingriffstatbeständen unscharf formuliert und dadurch die Handlungsmöglichkeiten enorm ausgeweitet werden. Ob die verdeckte Informationstätigkeit der Polizei mit den Mitteln des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ausreichend kontrolliert werden kann, daran bestehen schon wegen der Parallelität zu den Eingriffsvoraussetzungen nach Art. 1 § 2 Abs. 1 G10 und aus der Untersuchung zur Funktion des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Vorsorgeprinzip des Immissionsschutzrechts beachtliche Zweifel. Über einen allgemeinen Verdacht auf die verminderten Kontrollmöglichkeiten des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in der Informationsvorsorge der Polizei hinaus lassen sich einige genauere Feststellungen treffen. In den Eingriffsermächtigungen zur verdeckten Informationserhebung selbst findet sich bereits ein gesetzlich formuliertes Prinzip der Erforderlichkeit. Sämtliche Eingriffsermächtigungen stehen unter der Voraussetzung, daß die Maßnahmen erforderlich sein müssen zur vorbeugenden Bekämpfüng von (allen oder näher bezeichneten) Straftaten. Erforderlichkeit im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfiing meint, daß die verdeckten Informationserhebun-

IV. Verhältnismäßigkeit verdeckter Ermittlungen

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gen dann nicht zulässig sind, wenn und solange die gewünschten Informationen auf andere Weise beschafft werden können. Nach der Zielrichtung der Eingriffsbefugnisse - der vorbeugenden Durchleuchtung kriminogener oder so eingeschätzter Kommunikationszusammenhänge - wird das freilich der Ausnahmefall sein. Die offene Beschaffung von Informationen wird gerade dort regelmäßig unmöglich sein, wo durch die Form der Organisierten Kriminalität das Verhalten der Mitglieder auf Geheimhaltung ihrer Tätigkeiten ausgerichtet wird. Überhaupt wird man für vorbeugende Verbrechensbekämpfung annehmen müssen, daß sie nur dann wirksam wird, wenn die Betroffenen von der Erhebung der relevanten Informationen keine Kenntnis erhalten, denn nur dann wird man unverfälschte Informationen erwarten dürfen. Für die rechtliche Qualifizierung des Erforderlichkeitsgrundsatzes hat man davon auszugehen, daß - ebenso wie im Überwachungsrecht nach G10 - der Polizeibehörde dadurch ein Ermessensspielraum nicht eingeräumt ist. Die rechtliche Kontrolle der Entscheidungen über den verdeckten Einsatz von Informationsmitteln ist danach zunächst in großer Dichte angelegt, die Erforderlichkeit solcher Maßnahmen könnte im Rahmen der Rechtskontrolle in vollem Umfang überprüft werden. Damit scheint im Grundsatz eine effektive Rechtskontrolle möglich zu sein. Bei genauer Betrachtung beginnen aber erst dort die Probleme. Wie soll genau bestimmt und überprüft werden, wann, in welchem Ausmaß, mit welchen Maßnahmen und wegen welcher Straftaten die vorbeugende Bekämpfung erforderlich ist? Soll es für die Entscheidung auf die Menge der einschlägigen Straftaten im Polizeibezirk oder in einer größeren Region ankommen? Oder sollen beide Gesichtspunkte Berücksichtigung finden, und wie sind sie dann zu gewichten? Ab wann ist die Grenze für häufiges Vorkommen von bestimmten Straftaten erreicht, so daß daraufhin ihre vorbeugende Bekämpfung erforderlich wird? Und wie genau wäre die Schwere von Straftaten zu bestimmen? Müßte auf die hohe Strafandrohung im Gesetz abgestellt werden oder soll man auf der konkreten Tatebene ansetzen und etwa die besonders gefahrlichen Tatausführungen für die Beurteilung heranziehen? Oder soll man entscheidend ins Gewicht fallen lassen, wieviel Straftäter künftig voraussichtlich mit den erlangten Informationen überfuhrt werden können? Diese Fragen lassen sich nur dann einfach beantworten, wenn alle diese Gesichtspunkte in die Abwägung einfließen können, von Fall zu Fall herangezogen werden und unterschiedliche Gewichtungen erhalten können. Eine restriktive Wirkung wird man aus einem so breit angelegten Abwägungsvorgang aber nicht erwarten können, weil - anders als nach den Eingriffsbefugnissen der Strafprozeßordnung, aber ähnlich wie im Überwachungsrecht nach G10 der Abwägungsfaktor der Verdachtsintensität systematisch ausfällt. Nach den neuen Eingriffsbefiignissen reichen auch hier "tatsächliche Anhaltspunkte" für

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C. Verhältnismäßigkeitskontrolle staatlicher Informationserhebung

den Verdacht auf künftige Straftaten aus, und diese dürfen - wie der Vergleich mit den Eingriffsbefugnissen nach G10 ergeben hat - auch in rein kriminalistischen Erfahrungen und Vermutungen über die innere Disposition von Betroffenen zu kriminellen Handlungen bestehen. Weitergehend können aber schon Vermutungen über kriminogene Potentiale zu der Entscheidung für informationelle Eingriffsmaßnahmen führen. So kann man sich für den Bereich der Drogenkriminalität vorstellen, daß unmittelbar einschlägige Veranstaltungen, aber auch etwa Jugendzentren oder Gaststätten von V-Personen oder verdeckten Ermittlern durchleuchtet werden. Auch ließe sich danach die optische und akustische Überwachung öffentlicher Plätze rechtfertigen, wo sich nach kriminalistischer Erfahrung Drogenabhängige und Drogenhändler zu treffen pflegen. Und ließe sich danach nicht auch die längerfristige Beobachtung von Geschäftsleuten und Betriebsangehörigen rechtfertigen, wenn "tatsächliche Anhaltspunkte" für die Möglichkeit künftiger Begehung von Vermögensdelikten aus dem Wirtschaftsstrafrecht (z.B. Subventionsbetrug) sprechen? Müßte man nicht auch Spielotheken oder andere Einrichtungen systematisch, also unter Verwendung akustischer und optischer Hilfsmittel überwachen, wenn anzunehmen ist, daß dort in größerem Umfang Diebesgut (z.B. Autoradios) umgesetzt wird? In solchen Fällen liegt der Vermutung nahe, daß der Einsatz dieser Mittel unverhältnismäßig sei, weil zugleich eine große Zahl von Personen der Überwachung unterliegen, die bislang noch nicht einmal daran gedacht hatten, eine Straftat zu begehen. Eines Tatverdachts oder einer konkreten Gefahr bedarf es aber gerade nicht, um die polizeiliche Informationserhebung zu rechtfertigen. Die bereits dargestellte Folge ist, daß die Unterscheidung zwischen legalem und illegalem Handeln aufgehoben ist, eine Unterscheidung, die im Strafprozeßrecht durch den Begriff des Tatverdachts markiert wird. Wenn nun die diskriminierende Funktion des Tatverdachts in die "tatsächlichen Anhaltspunkte" aufgelöst wird, dann fehlt jene systematische Sperre, die für eine nachvollziehbare und nachprüfbare Entscheidung zur Straftatverfolgung ausschlaggebend ist. Dieser Vorgang läßt sich am Beispiel des Einsatzes von Polizeibeamten unter einer Legende (verdeckte Ermittler) genauer beschreiben. Die Zulässigkeit des Einsatzes verdeckter Ermittler zur Bekämpfüng schwerer Kriminalität ist in der Rechtsprechung anerkannt 341 . Im Bereich der Straftatverfolgung nach dem Strafprozeßrecht bedarf es dafür aber eines bereits vorliegenden Tatverdachts. Der Einsatz von verdeckten Ermittlern dient dann dem Ziel, den bereits ausreichend verdächtigen Straftäter durch die

341

Vgl. dazu Krumsiek, Verdeckte Ermittler in der Polizei der Bundesrepublik Deutschland, 1988, S. 33 IT., dort auch zu den Problemen, die bei einer Einführung von so gewonnenen Erkenntnissen in den Strafprozeß entstehen.

IV. Verhältnismäßigkeit verdeckter Ermittlungen

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Sammlung weiterer Beweise zu überfuhren. Eine andere Ausgangslage besteht nach dem Vorschlag aus § 8c VE M E PolG. Dort bedarf es eines solchen konkreten Tatverdachts gerade nicht, es reichen Vermutungen darüber aus, daß künftig Straftaten begangen werden könnten, daß also nur ein noch nicht konkretisiertes Risiko vorliegt: "Bei der Beobachtung einer für die Polizei greifbaren kriminellen Szene (...) fehlt es oft am durch tatsächliche Anhaltspunkte belegbaren konkreten Anfangsverdacht. In der jeweiligen Szene sind fraglos 'potentielle Straftäter' zu Hause, die bereits begangene Straftat fehlt indes solange, als nicht die Schwelle zum strafbaren Versuch überschritten w i r d " 3 4 2 . Der polizeiliche Informationseinsatz knüpft also nicht an manifestierte illegale Handlungen an, sondern an eine vermutlich kriminelle Disposition von Individuen und Orten 3 4 3 . Unter solchen Voraussetzungen wird es unmöglich, die Verhältnismäßigkeit des Einsatzes verdeckter Ermittler darzutun, aber auch die Unverhältnismäßigkeit der Maßnahme zu begründen. In der Abwägung müßten immer noch die mit dem Einsatz des verdeckten Ermittlers verbundenen Eingriffe in (zumindest) das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung berücksichtigt werden. Aber wiederum, wenn es nicht auf einen konkreten Verdacht ankommt, sondern bereits Vermutungen über kriminelle Dispositionen von Orten und Individuen ausreichen, entfallt das maßgebliche Abwägungselement, das konkrete Individuen vor unkontrollierten Ermittlungen schützt. Diese Feststellungen geben Anlaß für eine allgemeine Betrachtung über das Verhältnis von Vorsorge und Verhältnismäßigkeit. Bereits für die Kontrollfahigkeit von Vorsorgenormen mit Hilfe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Immissionsschutzrecht hat sich gezeigt, daß der Zusammenhang zwischen Eingriffsnorm und Verhältnismäßigkeitskontrolle mehr als sonst üblich problembeladen ist. Vorsorgenormen sind grundsätzlich in ihren strukturellen Ausgestaltungen schwach und zumeist auf Zielvorgaben beschränkt. Sie nähern sich dadurch dem Typ von Finalprogrammen und teilen dann deren Mangel an rechtlich strukturierten Anwendungsbedingungen. Im Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist aber nur die Regel einer richtigen Entscheidung formuliert, für seine Anwendung ist er auf die Bereitstellung ausreichend genauer Entscheidungsgrundlagen angewiesen. Als solcher ist der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz "leer". Was geliefert werden muß, sind (möglichst konkrete) Zwecke und Mittel im Medium der Rechtsnorm. Dabei gilt: Je weiter der

342

Kniesei ZRP 1987, 377, 380. Zu den speziellen Problemen von sog. Lockspitzeln, die nach neuem Polizeirecht dann nicht mehr nur einen bereits vorhandenen Tatentschluß "konkretisieren", sondern nur noch den "Grad des Nonngehorsams" eines Unverdächtigen prüfen, vgl. Riehle, KrimJ 1985,44 tf, 53 ff. 343

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C. Verhältnismäßigkeitskontrolle staatlicher Informationserhebung

Zweck, desto mehr Mittel kann er heiligen 3 4 4 . Entscheidend fur die Kontrollfähigkeit von Vorsorgenormen ist dann, ob sie dem prinzipiell "leeren" Schema des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes eine genügende Zahl von Abwägungsgesichtspunkten liefern, die selbst eine ausreichend kompakte Gestalt besitzen müssen. An erster Stelle ist maßgebend, worin der Zweck von Vorsorge bestehen soll. Die Prominenz des Zwecks erklärt sich zwanglos aus dem zugrundeliegenden Zweck-Mittel-Schema des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Diese Ausgangslage ist auch keineswegs kritikbedürftig 345 . Das Kontrollschema des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ist allerdings auf möglichst exakte Vorgaben angewiesen. Vieles entscheidet sich dann bereits bei der Zweckbestimmung selbst. Je stärker die Zwecke spezifiziert sind, desto deutlicher fällt die Beziehung zu den Mitteln aus - und umgekehrt 346 . Die Vorteile der Abwägung sind dort am größten, wo konkrete Zwecke konkrete Mittel erfordern, wo also die Operationalisierung von Problemen auf kleiner Stufe gelingt. Das ist jedoch für weite Problembereiche komplexer Gesellschaften unerreichbar und auf der Ebene von Gesetzen schwer zu formulieren. Der Ausweg besteht in der Setzung von mittleren oder großen Zwecken, in der Freigabe der Mittel und in dem Vertrauen, daß im Einzelfall die richtige, d.h. die angemessene Entscheidung getroffen werden kann. Wenn so verfahren wird, muß man erwarten, daß die Rechtskontrolle in dem Maße an Effektivität verliert, wie Zwecke generalisiert werden und die Wahl der Mittel freigegeben w i r d 3 4 7 .

344

S.166ff

Grundsätzlich dazu Luhmann\ Zweckbegriff und Systemrationalität, 1968,

345 So aber Jakobs, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, 1985, S. 16 ff., der die Relativität von Zweck-Mittel-Festlegungen, ihre Austauschbarkeit beklagt und offenbar meint, daß Zwecke "an sich" nicht existieren. Dieses alte Problem ist schon immer gesehen worden, ist aber fiir das juristische Verständnis des Schemas ohne Belang. Die Beliebigkeit von Zwecksetzungen ist gerade eine der freiheitsfördernden Wirkungen eines positivierten Rechts. Die Funktion des Zweck-Mittel-Schemas liegt auch nicht in der Vermeidung von Relativitäten, sondern darin, die notwendigen Entscheidungen zu zerlegen, kleinzuarbeiten, überhaupt Ziele, Zwecke und Mittel in eine entscheidungsfahige Fonn zu bringen - und sie in dieser Form dann kontrollieren zu können. Unvermeidlich deshalb, daß Jakobs selbst im Rahmen der Geeignetheit und Erforderlichkeit von Mitteln die Zwecke als Bezugspunkt fiir seine Überlegungen heranziehen muß, vgl. S. 59 ff., 66 ff Grundlegend zum Zweck-Mittel-Prinzip und seiner Funktion Luhmann, S. 266 ff, dort auch zur Selektivität und Folgenneutralisierung des Prinzips. 346 Vgl. Luhmann, S. 311 ff: Operationalisierung von Problemen. 347 Ygj c j a z u fü r d e n Leistungsbereich Haverkate, Rechtsfragen des Leistungsstaates, 1983, S. 25 ff

Verhältnismäßigkeit verdeckter Ermittlungen

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A m Beispiel des Immissionsschutzrechts läßt sich dieser Effekt präziser beschreiben. Wenn man den Vorsorgegrundsatz auf künftige Gefahren, also Risiken, ansetzt, dann ist die Kontrolle der Einzelfallentscheidung nahezu ergebnislos. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz erzwingt globale Abschätzungen, die nicht mehr in der einzelnen Genehmigung oder Auflage wiederholt werden können. Es entsteht dadurch ein Konzept der Verhaltenssteuerung, mit dem in Ansehung unbekannter und großräumiger Wirkungszusammenhänge die gleichmäßige Reduktion von Schadstoffen bezweckt wird. Der gesetzliche Maßstab "Stand der Technik" definiert dafür allgemeine, abstrakt-generelle Anforderungen, für den die Immissionsverhältnisse des Einwirkungsbereichs einer einzelnen Anlage keine Rolle spielen. Differenziert man in dem immissionsschutzrechtlichen Vorsorgegrundsatz zusätzlich zwischen der Risikovorsorge einerseits und der Freiraumvorsorge (Schaffung oder Erhaltung von Freiräumen für zukünftige gewerbliche oder nichtgewerbliche Nutzungen) andererseits, dann stößt die Verhältnismäßigkeitskontrolle im Bereich von Freiraumvorsorge auf genauere Anwendungsbedingungen und läßt präzisere Ergebnisse erwarten 3 4 8 . Nochmals und deutlicher kann die Abwägung im Hinblick auf Lärmvorsorge ausfallen. Auch hier läßt sich zwischen Risikominimierung und Freiraumschutz unterscheiden, aber der Anwendungsbereich des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ist von vornherein sowohl für die Ausbreitungsbedingungen wie die Summierungseffekte begrenzt. Lärm breitet sich in dem prinzipiell erfaßbaren Umkreis von Anlagen aus, Luftschadstoffe dagegen können auch an sehr weiter entfernten Orten Gefahren oder die Besorgnis ihres Entstehens hervorrufen. Der Summeneffekt von Lärmquellen ist bestimmb a r 3 4 9 . Gegenüber den generellen Festlegungen in der TA-Lärm kann deshalb eine vorhaben- und umgebungsspezifische Verhältnismäßigkeitsprüfung hinzutreten 3 5 0 . Wo demnach greifbare oder doch wissenschaftlich breit konsentierte Kausalbeziehungen erkennbar sind, läßt sich der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auch vergleichsweise präzise anwenden. Nochmals sieht man daran die Bedeutung der Zwecksetzung. Je konkreter der Zweck, desto deutlicher die Kausalbeziehungen zu den Mitteln - und desto deutlicher auch die berücksichti348

Zu dieser Differenz vgl. Τ rute, S. 54 ff.: Risikovorsorge, S. 112 ff.: Freiraum Vorsorge; der Raumbezug der Freiraumvorsorge führt hier zur Präzisierung der Anwendunesbedingungen. 349 Erst die zehnfache Schallintensität führt zur Verdoppelung der Lautstärke; zwei gleichstarke Schallquellen von 50 db(A) addieren sich nur zu 53 db(A); umgekehrt liegt bereits die Verdeckung einer Geräuschquelle vor, wenn der Fremdgeräuschpegel mindestens 3 db(A) über dem der Anlage liegt und Zusammensetzung und zeitlicher Verlauf ähnlich sind. 350 Vgl. Kratsch, DÖV 1989, 628, 631 f.; RidfHammann, NVwZ 1989, 200 ff.

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C. Verhältnismäßigkeitskontrolle staatlicher Informationserhebung

gungswürdigen Rechte von Betroffenen. An solchen deutlichen Kausalbeziehungen fehlt es aber im Bereich der informationellen Kriminalvorsorge. Mit der Umstellung von der polizeirechtlichen Gefahr auf das kriminalpolitische Risiko ist zugleich auf das Kriterium der Wahrscheinlichkeit von kausalen Zusammenhängen verzichtet worden. Mit der Hilfe einer einfachen Umformulierung in dem Konditionalschema von Rechtsnormen läßt sich der Unterschied auch zu den strafprozessualen Eingriffsnormen präzisieren. Nach der WennDann-Struktur von konditional programmierten Rechtsnormen lautet die Programmanweisung etwa fiir die körperliche Untersuchung von Beschuldigten nach § 81a StPO: "Wenn die körperliche Untersuchung fiir die Feststellung von verfahrensbedeutenden Tatsachen erforderlich ist, dann darf sie in dem notwendigen Umfang angeordnet werden". Für das Beispiel kriminalpräventiver Informationsvorsorge muß formuliert werden: "Wenn die vorbeugende Bekämpfung von Straftaten erforderlich ist, dann darf die verdeckte Erhebung von personenbezogenen Daten angeordnet werden". In der gestrafften Formulierung läßt sich erkennen, daß in dem kriminalpräventiven Beispiel keine konditionale, sondern eine finale Programmierung stattgefunden hat. Der große Unterschied liegt in einem kleinen Detail, nämlich in der uniimitierten Wenn-Komponente. Ihre Aufgabe besteht darin, die relevanten Merkmale einer Situation zu beschreiben, die dann eine Rechtmäßigkeitsentscheidung steuern sollen. Wenn aber die relevanten Merkmale der Situation nicht begrenzt, sondern zeitlich und sachlich geöffnet werden, dann bleibt letzthin nur eine Zielvorstellung, die den Anwendungsbereich der Rechtsnorm gerade nicht limitiert. In dem Beispiel nach der StPO dagegen bezeichnet das Verfahren eindeutige Anfangs- und Endbedingungen, die Anwendungssituation ist also restriktiv definiert 3 5 1 . Mit diesen Überlegungen ist nicht einfach nur das Problem der Unbestimmtheit in Rechtsnormen bezeichnet. Generalklauseln und unbestimmte Rechtsbegriffe, diese wiederum mit oder ohne Beurteilungsspielraum, werden verbreitet benutzt, sind unvermeidlich und gleichwohl konkretisierungs- und disziplinierungsfahig, solange deutliche Zeit- oder Sachgrenzen erkennbar sind oder interpretatorisch erschlossen werden können. Für den Gefahrenbegriff, der immer schon dem Verdacht der Unbestimmtheit ausgesetzt war, ist dies bereits dargestellt worden 3 5 2 . Anders verhält es sich allerdings, wenn die Konditionalform einer Rechtsnorm nur simuliert, stattdessen aber in das 351

Je weiter das "Wenn" als semantische Extension der sozialen Situation, desto schwieriger die Rechtskontrolle; vgl. zu einem darauf abgestimmten Rechtskonzept Günther, Der Sinn fiir Angemessenheit, 1988, S. 336 ff., der darin Vorteile erkennt, hauptsächlich den Zwang zur angemessenen Rechtsentscheidung. 3Î 2 Vgl. oben S. 52 ff. Zu der Generalklausel in § 242 BGB vgl. Teubner, AKBGB, §242.

IV. Verhältnismäßigkeit verdeckter Ermittlungen

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Schlußschema eine reine Zielvorgabe eingebaut wird, dann nämlich kann der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz keine ausreichende Kontrolle entfalten, denn er ist auf die Strukturierung der Anwendungsbedingungen in der Rechtsnorm angewiesen, also auf die Bereitstellung genügend abwägungsfahiger Elemente. Fehlen diese, dann muß der Zweck der Norm die Zielvorgabe ins Unbestimmbare hypertrophieren lassen. Der Konsequenz irrationaler Abwägungen kann dann kaum noch ausgewichen werden. Der Zweck trifft ohne Vermittlung durch Abwägungselemente auf die entgegenstehenden Bedingungen, die Rechtspositionen von Betroffenen, und was dann zur Erreichung dieses Zwecks noch an Rechtsverletzungen hingenommen werden kann, ist schwer abzuschätzen, jedenfalls nicht mehr ausreichend in dem herkömmlichen Sinne rational abzuwägen. Auf die Probleme kriminalpräventiver Informationserhebungen bezogen, liegt der Zweck der Rechtsnormen in der Vorsorge für die Aufklärung künftiger Straftaten, und in der gesetzlichen Regelung werden die dafür zur Verfügung stehenden Mittel beschrieben. Mit dem Prinzip der Kriminalvorsorge wird demgemäß ein globaler gesetzlicher Zweck bestimmt, zu dessen Erreichung die zulässigen Mittel aufgezählt werden. Der polizeirechtliche Vorsorgegrundsatz scheint danach eine Art mittlere Stellung zwischen reiner Zielvorstellung und einer konkreten Mittel-Zweck-Festlegung einzunehmen. Dieser Eindnick täuscht jedoch. Im kriminalpräventiven Vorsorgekonzept sind nämlich weder sachliche noch zeitliche Grenzen gezeichnet, bleibt also der Anwendungsbereich der Rechtsnormen in einem Höchstmaß unstrukturiert. Das Fehlen von Strukturelementen (=Abwägungselementen) zwingt deshalb im Rahmen der Erforderlichkeits- und Zumutbarkeitserwägungen dazu, kriminalpolitische Erwägungen an die Stelle von präzise beschriebenen Abwägungselementen zu setzen. Daraus muß der Schluß gezogen werden, daß auf der Ebene des Einzelfalls die Kontrolle von Einsatzentscheidungen lediglich darin besteht, kriminalpolitische Zielsetzungen nachzuvollziehen oder abzulehnen. In jedem Fall wird eine im klassischen Sinne strukturierte Abwägungsentscheidung für einen konkreten Einzelfall nicht mehr getroffen. Dieses Ergebnis entspricht genau der Zielsetzung kriminalpräventiver Vorsorge. Daraus läßt sich erkennen, daß mit den Entscheidungen über den verdeckten Einsatz von Informationsmitteln rechtlich nur sehr schwach kontrollierbare Befugnisse eingeräumt werden. Der Grund dafür ist, daß die Orientierung am Risiko und der Vorsorge Entscheidungen erzwingt, die eine systematische Eingriffsgrenze nicht mehr enthalten - und deshalb im Kern auf kriminalpolitische Entscheidungen zulaufen. Mit der Konzentration auf die vorbeugende Bekämpfung von Straftaten wird der polizeiliche Auftrag um Handlungsmöglichkeiten erweitert, die bislang aus guten Gründen in der Zuständigkeit des

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C. Verhältnismäßigkeitskontrolle staatlicher Informationserhebung

demokratisch legitimierten Gesetzgebers lagen. Das System strafrechtlicher Kontrolle besteht nach seiner bisherigen Form in der Schaffung von Straftatbeständen mit der generellen Anweisung, daß bei dem Auftreten eines Verdachts zu ermitteln ist (Verfolgungszwang). Die Ausgestaltung dieses Systems durch Schaffung, Änderung und Aufhebung von Straftatbeständen ist dem Gesetzgeber überlassen, weil nur er aus der demokratischen Legitimation befugt ist, die dafür erforderlichen kriminalpolitischen Einschätzungen in rechtliche Vorgaben für die Verwaltung und die Justiz zu verdichten. Wenn nun die Anwendung von Informationstatbeständen im Polizeirecht auch unter der Voraussetzung steht, daß diese Eingriffe zur vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten erforderlich sein müssen, dann wird im Grundsatz die kriminalpolitische Einschätzung von dem Gesetzgeber auf die polizeiliche Exekutive verlagert. Das bislang geltende System der Straftatverfolgung vertraute außerdem darauf, daß die in den Straftatbeständen niedergelegten kriminalpolitischen Zielsetzungen des Gesetzgebers gleichmäßig verwirklicht werden. Gegen die Aufweichung dieses Prinzips im Alltag der Polizei und der Staatsanwaltschaft ist es durch den Grundsatz des Verfolgungszwangs in § 152 Abs. 2 StPO rechtlich abgesichert. Nun lassen sich zwar für Teilbereiche des Strafrechts deutliche Tendenzen erkennen, den strikten Verfolgungszwang des Legalitätsprinzips zum Opportunitätsgrundsatz herabzustufen. Das Hauptbeispiel dafür ist die durch eigene Vorschriftensammlungen gesteuerte Einstellungspraxis der Staatsanwaltschaften 353 . Was dort mit der Wirkung faktischer Entkriminalisierung von Bagatellstraftaten geschieht, wird nun mit umgekehrter Zwecksetzung für den Bereich verdeckter Informationsbeschaffung der Polizei eingesetzt. Die kriminalpolitische Entscheidung, wann und mit welchen Schwerpunkten Informationen über kriminogene oder so eingeschätzte Sachverhalte gesammelt werden sollen, wird grundsätzlich in die Entscheidungssphäre der Polizei verlagert. Damit wird jenes Problem institutionalisiert, welches ursprünglich gerade vermieden werden sollte, nämlich kriminalpolitische Entscheidungen über die Schwerpunkte und das Ausmaß der Verbrechensbekämpfung nicht in die Ebene der Exekutive zu verlagern, sondern dort zu konzentrieren, wo die demokratische Legitimation hinreichend hoch ist - beim Gesetzgeber.

353

Vgl. Backes, KritV 1986, 315 ff.

IV. Verhältnismäßigkeit verdeckter Ermittlungen

139

3. Datenschutzrechtliche Kontrolle Was ist unter der Voraussetzung schwacher Kontrollfähigkeit der Eingriffsnormen an Schutzmöglichkeiten für die Betroffenen zu erwarten? Nach verbreiteter A n s i c h t 3 5 4 soll die Unbestimmtheit in den Befugnisnormen bei intensiven Eingriffen durch Richtervorbehalte 355 , im übrigen durch zusätzlichen prozeduralen Grundrechtsschutz in der Form datenschutzrechtlicher Regelungen, kompensiert werden. Gedacht wird an nachträgliche Benachrichtigungspflichten nach den Vorbildern in Art. 1 § 5 Abs. 5 G10 und § 101 StPO ("sobald eine Gefahrdung des Zwecks der Maßnahme ausgeschlossen werden kann"), an die nachträgliche Kontrolltätigkeit unabhängiger Datenschutzbeauftragter und an Restriktionen in der Informationsübermittlung 356 . Diese Anregungen sind insoweit aufgegriffen worden, als in § 8c Abs. 5 VE ME PolG für die besonderen Formen der Datenerhebung vorgesehen ist, daß nach Abschluß der Maßnahmen die Betroffenen zu unterrichten sind, sobald dies ohne Gefahrdung des Zwecks der Maßnahme geschehen kann. Allerdings ist die Unterrichtung dann nicht geboten, wenn keine Aufzeichnungen mit personenbezogenen Daten erstellt oder diese unverzüglich nach Beendigung der Maßnahme vernichtet worden sind. Eine Unterrichtung unterbleibt auch dann, "wenn sich an den auslösenden Sachverhalt ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren gegen den Betroffenen anschließt". Konkretisieren sich mit anderen Worten (zunächst) bloße Vermutungen zu einem konkreten Tatverdacht, dann unterbleibt die Benachrichtigung der Betroffenen, sofern nur ein vager Zusammenhang mit dem "auslösenden Sachverhalt" besteht. Die Einzelheiten sollen hier nicht näher erörtert werden. Es bestehen schon ganz erhebliche Zweifel, ob den aus den neuen Befugnissen der Polizei möglichen Eingriffen in die Grundrechte der informationellen Selbstbestimmung, der Versammlungsfreiheit und der Unverletzlichkeit der Wohnung mit dem klassischen datenschutzrechtlichen Konzept überhaupt wirksam begegnet werden kann. Die Grundüberlegung des Datenschutzkonzepts ist es, Datenerhebung und Datenverarbeitung möglichst eng an die gesetzliche Aufgabenstellung der Erhebungsbehörde zu binden und zugleich den Betroffenen Rechtsansprüche auf Auskunft, Berichtigung, Sperrung und Löschung einzuräumen. Abgerundet wird das Datenschutzkonzept durch die Übertragung der einzelfallunabhängigen Kontrolle von Datenbeständen an unabhängige Datenschutzbeauftragte 357 .

354

Vgl. Bull, in: ders. (Hrsg.), , S. 29 f.; Kniesel, ebenda, S. 116 ff; ders., ZRP 1987, 377, 381 f. 355 Dazu näher S. unter D. 11.3.(1). 356 ygj z β Denninger, in: Hohmann (Hrsg.), S. 156 ff.

140

C. Verhältnismäßigkeitskontrolle staatlicher Informationserhebung

Die datenschutzrechtliche Grundvorstellung leidet jedoch an zwei komplementären Schwächen, die sie für eine wirksame Kontrolle polizeilicher Vorsorgetatbestände unbrauchbar werden läßt. Sie beruht zunächst auf der Annahme, der (gegebenenfalls auch schwerwiegende) Grundrechtseingriff sei im Umfang der gesetzlichen Zweckbestimmung grundsätzlich erlaubt, und erst nachträglich könnten dem Betroffenen Ausgleichsansprüche in der Form von Auskunfts-, Berichtigungs-, Sperrungs- und Löschungsrechten zugestanden werden. Für die datenschutzrechtliche Normallage ist das auch eine rechtsstaatliche wie grundrechtlich gerechtfertigte Ausgangsüberlegung, denn in diesen Fällen wird die Informationserhebung entweder generell offen oder doch ohne besondere Maßnahmen zur Vermeidung der Kenntnis solcher Informationserhebungen durch die Betroffenen vollzogen. Die neuen informationellen Befugnisse der Polizei sollen demgegenüber gerade die heimliche Informationserhebung ermöglichen und damit von vornherein die Kenntnis von Betroffenen verhindern. Regelmäßig werden die Betroffenen keine Kenntnis ihrer heimlichen Beobachtung erhalten und können deshalb von ihren Rechten auf Auskunft, Berichtigung, Sperrung und Löschung der Daten keinen Gebrauch machen. Abhilfe könnte hier nur eine generelle Benachrichtigungspflicht durch die Polizei schaffen, doch würde eine solche Pflicht in generalisierter Form den Zweck der polizeilichen Informationserhebungen ebenso regelmäßig vereiteln. Ausgeschlossen ist unter solchen Voraussetzungen auch, daß den Betroffenen ein genereller Auskunftsanspruch eingeräumt werden kann. Nach dem Zweck der Informationserhebungen ist deshalb die Lösung in § 8c Abs. 5 VE M E PolG, wonach eine Benachrichtigung an die Betroffenen nur dann stattfindet, wenn dies ohne Gefahrdung des Zwecks der Maßnahme geschehen kann, konsequent. Nur wird es dann im Regelfall zu einer Benachrichtigung an den Betroffenen nicht kommen können. Mit Hilfe der klassischen Datenschutzkonzeption ergeben sich auch keine Kriterien für die Beschränkung der polizeilichen Kriminalprävention. Im Zusammenhang der neuen Regelungen werden die Informationsbefugnisse der Polizei vielmehr umgekehrt den Umfang der gesetzlich abgedeckten Informationssammlungen erweitern, sie fuhren im System des Datenschutzrechts also dazu, daß die Erhebung, Speicherung, Verarbeitung und Übermittlung von personenbezogenen Daten normativ und ausdrücklich erheblich mehr Spielraum erhält. Entsprechend werden in § 10 a Abs. 1 VE M E PolG die Voraussetzungen fur die Datenspeicherung, -Veränderung und -nutzung in der Form einer Generalklausel zur Regelung vorgeschlagen. Danach kann die Polizei personenbezogene Daten in Akten oder Dateien speichern, verändern sowie in 357 Zum Grundkonzept des bisherigen Datenschutzrechts vgl. Schwan, in: Burhenne/ Perband, BDSG, § 1, Rdnr. 9 ff.

IV. Verhältnismäßigkeit verdeckter Ermittlungen

141

sonstiger Weise nutzen, soweit dies zur Erfüllung ihrer (jetzt erweiterten) Aufgaben erforderlich ist. Gemäß § 10 b VE M E PolG kann die Polizei personenbezogene Daten auch zur Vorgangsverwaltung oder zur befristeten Dokumentation polizeilichen Handelns speichern und ausschließlich zu diesem Zweck nutzen. Die neuartigen Befugnisse der Polizei rechtfertigen also die Erhebung und Verarbeitung personenbezogener Daten in größerem Umfang als bisher und produzieren gleichzeitig ein erhebliches Kontrolldefizit. Unter den Voraussetzungen einer expandierenden Aufgabenzuweisung einerseits und kontrollschwacher Befugnisnormen andererseits hilft dann die Forderung nach bereichsspezifischen Beschränkungen nicht weiter. Damit ließen sich zwar die Verarbeitungs- und Weitergabemöglichkeiten begrenzen 358 , nicht jedoch die Erhebungsbefugnisse der Polizei selbst kontrollieren. Bliebe immerhin die einzelfallunabhängige, also auch systematisch und längerfristig mögliche Kontrolle durch unabhängige Datenschutzbeauftragte. Aber auch die Kontrolltätigkeit von Datenschutzbeauftragten kann die materiellen Schwächen des neuen Polizeirechts nicht kompensieren. Sie wäre darauf beschränkt festzustellen, ob die Informationssammlungen, gemessen an den gesetzlichen Zweckbestimmungen, rechtmäßig sind. Deren Rechtmäßigkeit könnten sie bezweifeln und beanstanden, doch müßten sie sich dafür an den Eingriffstatbeständen, für die mangelhafte materielle Kontrollfähigkeit festgestellt werden mußte, orientieren. An den deutlichen Schwächen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bei der Anwendung auf polizeirechtliche Vorsorgetatbestände müßte also auch die Prüfung durch Datenschutzbeauftragte teilhaben, ohne daß die Kontrolle dadurch effektiviert werden könnte. Aus diesen Überlegungen folgt: Das Konzept des Datenschutzes garantiert selbst dann keinen effektiven Grundrechtsschutz, wenn über die bisherigen Vorschläge hinaus Benachrichtigungspflichten, Löschungs- und Sperrungsbestimmungen eingeführt und allgemeine Auskunftsansprüche garantiert würden. Abgesehen davon, daß solche Erweiterungen der Rechtsstellung von Betroffenen wegen der prinzipiell geheimhaltungsbedürftigen Vorgänge kaum eingeräumt werden könnten, kann doch der verdeckten Informationserhebung selbst keine wirksame Grenze gesetzt werden. Das reine Datenschutzkonzept muß dort an Effektivität drastisch verlieren, wo durch verdeckte Informationserhebungen umfangreiche und schwerwiegende Grundrechtseingriffe bereits in der Erhebungsphase entstehen. Dann aber kann wirksamer Rechtsschutz für die Betroffenen nur erwartet werden, wenn die Datenerhebung so frühzeitig wie möglich rechtlich diszipliniert wird, also die Kontrolle bereits dort ansetzt, wo 358

Unter dem Titel "Besondere Formen des Datenabgleichs" in § 10 f. VE 1986 wird aber selbst die Forderung nach engen Grenzen des Datenvergleichs nicht erfüllt. Im Gegenteil wird die sog. Rasterfahndung - die bislang auf der Grundlage richterlicher Beschlagnahme-Beschlüsse gemäß §§ 94 ff. StPO durchgeführt wurde - einer gesetzlichen Lösung mit Wirkung in den Vorfeldbereich zugeführt.

142

C. Verhältnismäßigkeitskontrolle staatlicher Infomationserhebung

es auch die polizeiliche Tätigkeit tut, nämlich präventiv. Dies ist aber eine Aufgabe für Regelungen zum Organisations- und Verfahrensrecht, das von dem klassischen Datenschutzkonzept (zunächst) unabhängig ist.

D. Verfassungsrechtliche Bedingungen verdeckter polizeilicher Ermittlungen zur Kriminalprävention Nach den bisherigen Feststellungen hat sich ergeben, daß die in VE M E PolG vorgeschlagenen Eingriffsbefugnisse für die verdeckte Informationserhebung der Polizei strukturell so schwach ausgestaltet sind, daß im Rahmen einer Rechtskontrolle den möglichen Kontrollinstanzen die Aufgabe zufallt, kriminalpolitische Entscheidungen über die Schwerpunkte und den Umfang verdeckter polizeilicher Ermittlungen für kriminalpräventive Zwecke zu treffen. Außerdem hat sich gezeigt, daß die klassische Konzeption datenschutzrechtlicher Kontrolle von staatlichen Informationssammlungen für den Bereich verdeckter Ermittlungen weitgehend leerlaufen muß, weil es sich um ein gezielt auf die Probleme der Datenspeicherung, Datenverarbeitung und Übermittlung zugeschnittenes Schutzkonzept handelt, das aber für die Datenerhebung, zumal die verdeckte Erhebung von personenbezogenen Daten keine spezifischen Schutzmöglichkeiten bereithält. Deswegen bedarf es zusätzlicher Überlegungen zu den Bedingungen, unter denen verdeckte Informationserhebungen der Polizei zur Vorsorge für künftige Straftatverfolgung verfassungsrechtlich hingenommen werden können. Die Ausgangssituation besteht darin, daß die für das Erkennen von Kriminalitätsrisiken und zur Vorsorge für künftige Straftatverfolgung gedachten Rechtsnormen unvermeidlich tatbestandliche Fassungen erzwingen, die materiell mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als Einzelfallkorrektiv nicht oder nicht ausreichend kontrolliert werden können und die deshalb ergänzende oder sogar substituierende Regelungen zum Rechtsschutz der Betroffenen und zur Organisation und zum Verfahren der Entscheidung benötigen. Für ähnliche Sachverhalte im Überwachungsrecht nach G10 und für den immissionsschutzrechtlichen Vorsorgegrundsatz sind unterschiedliche Lösungsmodelle entwickelt worden, die differenzierende Antworten auf die eine Frage enthalten, wie noch wirksame Kontrolle staatlichen Handelns stattfinden kann, wenn die materielle Rechtskontrolle drastisch abgeschwächt ist, die Eingriffe in Grundrechte von Betroffenen aber gleichwohl Ausgleich und Überprüfung verlangen. Die aus diesen Modellen deutliche Schlußfolgerung ist, daß sich dann zwangsläufig (fast) alle Aufmerksamkeit auf die Frage konzentriert: Wer soll welche Entscheidungen treffen und in welchem Verfahren?

144

D. Verfassungsrechtliche Bedingungen

Für die generelle Fassung dieser Frage hält das Verfassungsrecht die ebenso globale Antwort bereit, daß der Gesetzgeber selbst entscheiden soll. Der Gesetzgeber soll sogar alle wesentlichen Grundentscheidungen in einer gesetzlichen Regelung selbst treffen, und er hat durch und in der gesetzlichen Regelung in sowohl materieller wie verfahrensrechtlicher Hinsicht sicherzustellen, daß die betroffenen Grundrechte so schonend wie möglich behandelt werden, und daß effektiver Rechtsschutz gewährleistet ist (I). Wenn die rechtsstaatliche Kontrolle mit Hilfe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes auf der Ebene von Einzelfallentscheidungen an materieller Substanz zwangsläufig verliert, dann ist es zunächst die Aufgabe des Gesetzgebers, die materiellen Abwägungen in das Gesetz selbst aufzunehmen. Der Gesetzgeber muß mit anderen Worten die kriminalpolitischen Entscheidungen über die Sachbereiche und den Umfang verdeckter polizeilicher Ermittlungen möglichst deutlich bereits auf der Ebene des Gesetzes treffen, die Handlungsmöglichkeiten der Polizei ausreichend abstufen und nach Eingriffsintensitäten differenzieren (II. 1). Ergänzend muß sich die gesetzliche Regelung auch zu dem verfassungsrechtlich geforderten effektiven Rechtsschutz verhalten (II.2), und schließlich müssen in der gesetzlichen Regelung selbst die Organisation und das Verfahren bestimmt werden, mit denen unter den Bedingungen von Vorsorgenormen effektiver Grundrechtsschutz hergestellt werden kann (II.3).

L Gesetzesvorbehalt und Parlamentsvorbehalt Nach dem Prinzip des Gesetzesvorbehalts erfordert jeder Grundrechtseingriff der Verwaltung eine gesetzliche Ermächtigung. In der Form des parlamentarischen Gesetzes wird so festgelegt, worin die zulässigen Handlungsmöglichkeiten der Exekutive liegen. Dem einfachen Gesetzesvorbehalt freilich läßt sich keine Antwort auf die Frage entnehmen, wie die gesetzliche Ermächtigung auszugestalten ist. Nach dem einfachen Gesetzesvorbehalt ist es sowohl möglich, daß der Gesetzgeber das grundrechtseingreifende Verwaitungshandeln detailliert regelt, als auch, daß er die Verwaltung in großem Umfang zu eigenen Regelungen ermächtigt. Antworten auf die Frage nach den verfassungsrechtlich erforderlichen Bestandteilen einer gesetzlichen Regelung enthält aber die vom Bundesverfassungsgericht entwickelte Wesentlichkeitstheorie, die den einfachen Gesetzesvorbehalt zum Parlamentsvorbehalt ausweitet (2). Zu den verfassungsrechtlich wichtigen Fragen einer ausreichenden Kontrolle verdeckter Informationssammlung gehört auch, wie unter ungünstigen Bedingungen effektiver Rechtsschutz gewährleistet werden kann (3). Zuvor jedoch wird zu berücksichtigen sein, daß in den bereits vorliegenden kritischen Betrachtungen zu den neuen Eingriffsbefugnissen der Polizei der Hinweis auf die Unbestimmtheit in der Formulierung der Eingriffsvoraussetzungen einen

I. Gesetzesvorbehalt und Parlamentsvorbehalt

145

wichtigen Platz einnimmt 3 5 9 . Deswegen ist es erforderlich, die Funktion des Bestimmtheitsgebots für Rechtsnormen darzulegen, um die Verwendungsfähigkeit dieses Grundsatzes für die Präzisierung polizeilicher Eingriffstatbestände feststellen zu können (1).

1. Die Bestimmtheit von Eingriffstatbeständen Zu den rechtsstaatlichen Schwächen in den neuen Eingriffsbefiignissen zur verdeckten Informationserhebung der Polizei gehören einerseits die rechtlich konturlose Formel von den "tatsächlichen Anhaltspunkten für die künftige Begehung von Straftaten" und andererseits der Mangel an materieller Kontrollfähigkeit im Grundsatz der "Erforderlichkeit" für vorbeugende Verbrechensbekämpfung. Es liegt deswegen die Vermutung nahe, daß die vorgeschlagenen Formulierungen für die Eingriffsvoraussetzungen nicht hinreichend bestimmt sind und dadurch ein Verstoß gegen das verfassungsrechtlich im Rechtsstaätsprinzip angesiedelte Bestimmtheitsgebot hervorgerufen wird. Allerdings hilft der Hinweis auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum informationellen Selbstbestimmungsrecht nicht weiter. Dort ist zwar hinreichend deutlich festgestellt worden, daß es einen spezifisch informationsrechtlichen Grundsatz der Zweckbestimmung von Datensammlungen gibt und mit diesem "die Sammlung nicht anonymisierter Daten auf Vorrat zu unbestimmten oder noch nicht bestimmbaren Zwecken" unvereinbar i s t 3 6 0 . Daraus muß auch der Schluß gezogen werden, daß der Gesetzgeber mit hinreichender Deutlichkeit den Zweck der Datensammlung, den betroffenen Personenkreis, die Art der zu speichernden Daten, die Voraussetzungen der Informationsübermittlung, die Dauer der Aufbewahrung und die Auskunftspflichten festlegen m u ß 3 6 1 . Nach der hier gewählten Untersuchungsperspektive kann daraus aber kein Gewinn gezogen werden, weil in einer gleichsam klassischen Perspektive nicht die Zweckbestimmung der Informationssammlungen und die daran angeschlossenen Regelungen das Problem sind, sondern bereits die Erhebung der Daten selbst. In der Erhebungsphase bereits liegen die relevanten Grundrechtsbeeinträchtigungen, und schon hier haben deshalb Überlegungen zu dem Schutz der betroffenen Grundrechte anzusetzen. Aber sind nicht gleichwohl die formulierten Eingriffsvoraussetzungen zu undeutlich, zu vage, zu unbestimmt?

359 360 361

Vgl. Demütiger, in: Hohmann (Hrsg.), S. 154 ff; Schwan, ebenda, S. 296 ff. BVerfGE 65, 1,46. Vgl. Demunger, ebenda, S. 154.

10 Neumann

146

D. Verfassungsrechtliche Bedingungen

Ob diese Frage bejaht werden kann, hängt davon ab, wie die Funktion und wie die Wirkungen des Bestimmtheitsgrundsatzes beschaffen sind und ob sich aus ihm unmittelbar praktikable Maßstäbe fur die Prüfung von Eingriffstatbeständen entnehmen lassen. Nach weithin übereinstimmender Ansicht verlangt der überwiegend dem Rechtsstaatsprinzip aus Art. 20 GG entnommene verfassungsrechtliche Bestimmtheitsgrundsatz 362 , daß die dem Staat zugerechneten Eingriffe in die Grundrechtssphäre von Bürgern an ausreichend deutlich formulierte Voraussetzungen gebunden sein sollen. Die generelle Funktion des Bestimmtheitsgrundsatzes wird überwiegend darin gesehen, daß die Rechtsunterworfenen bereits aus der gesetzlichen Regelung mit größtmöglicher Genauigkeit sollen voraussehen können, wann und in welchem Umfang sie mit staatlichen Eingriffen zu rechnen haben 3 6 3 . Selbst für die staatliche Leistungstätigkeit wird formuliert, daß Gesetze für den Bürger hinreichend Klarheit bieten und ihm deutlich machen müssen, unter welchen Voraussetzungen er bestimmte Rechte erwerben k a n n 3 6 4 . Unklare und unbestimmte Gesetze können in Einzelfallen wegen eines Verstoßes gegen den Bestimmtheitsgrundsatz nichtig sein 3 6 5 . Übertriebene Erwartungen zur Leistungskraft dieses Grundsatzes sind jedoch nicht angebracht. Dem Bestimmtheitsgrundsatz ist keineswegs die feste generelle Regel eines "so bestimmt wie irgend möglich" zu entnehmen, dem Gesetzgeber ist dadurch namentlich die Verwendung von unbestimmten Rechtsbegriffen und Generalklauseln nicht untersagt 366 . Auch für die grundrechtlich wie rechtsstaatlich besonders empfindlichen Gebiete des Strafrechts 367 und des Steuerrechts 368 sind diese Regelungsformen nicht grundsätzlich ausgeschlossen. Entgegen einem verbreiteten Verständnis enthält der Bestimmtheitsgrundsatz deshalb kein Prinzip maximaler gesetzlicher Regelungspräzision. Die Annahme einer solch strikten Zielsetzung würde auch nur zu der unrealistischen, jedenfalls aber Unübersichtlichkeit provozierenden Forderung nach umfassend kasuistischer Formulierung von Gesetzen führen, und dann müßte man jedenfalls für den Rechtsalltag Zweifel haben, ob die in alle Einzelheiten getriebene Formulierung gesetzlicher Bestimmungen das Problem der Voraussehbarkeit 362 Zu den Einzelheiten, den Elementen, der Herleitung und Präzisierung des Rechtsstaatsprinzips vgl. v. Münch (Hrsg.), GG, Art. 20 Rdnr. 21 ff. 363 Vgl. dazu nur Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 20, VII Rdnr. 62 ff. mit zahlreichen Nachweisen aus Literatur und Rechtsprechung. 364 Vgl. BVerfGE 52, 1,42. 365 Vgl. BVerfGE 1, 14,45; 17, 67, 82; 25, 216, 227. 366 Vgl. nur (mit Beispielen aus der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung) Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Rdnr. 62. 367 Vgl. BVerfGE 4, 352, 357 f.; 11, 234, 237; 28, 175, 183; 32, 346, 364. 368 Z.B. BVerfGE 13, 153, 160 f.

I. Gesetzesvorbehalt und Parlamentsvorbehalt

147

staatlichen Handelns lösen könnte. Der Bestimmtheitsgrundsatz gewinnt deshalb erst auf der Ebene der Verwaltungsentscheidung Präzision. Für die verfassungsrechtliche Prüfung der polizeilichen Generalklausel ist denn auch vom Bundesverfassungsgericht die Unbedenklichkeit der denkbar unpräzisen Formulierungen in der (ursprünglichen) Eingriffsformel attestiert worden 3 6 9 . Zwar verlange auch hier der Bestimmtheitsgrundsatz, daß Voraussetzungen und Inhalt einer Rechtsnorm so formuliert werden, daß die Betroffenen die Rechtslage erkennen und ihr Verhalten danach einrichten können 3 7 0 , doch sei die Verwendung der polizeilichen Generalklausel als Eingriffsnorm nicht zu beanstanden, "weil sie in jahrzehntelanger Entwicklung durch Rechtsprechung und Lehre nach Inhalt, Zweck und Ausmaß hinreichend präzisiert, in ihrer Bedeutung geklärt und im juristischen Sprachgebrauch verfestigt i s t " 3 7 1 . Im übrigen ist die Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe auch unvermeidlich, weil anders die vielfaltigen Formen gefahrträchtiger oder sozialschädlicher Handlungen nicht erfaßt werden könnten und schon deshalb der Bestimmtheitsgrundsatz nicht in einer reinen und strengen Form durchgeführt werden k a n n 3 7 2 . Welche Funktion aber kann der Bestimmtheitsgrundsatz besitzen, wenn seine reine und strenge Durchführung unmöglich und deshalb seine Korruption unvermeidbar ist, er also nur als Grundsatz Geltung beanspruchen kann? Offenbar liegt seine Funktion nicht, jedenfalls nicht in erster Linie darin, die schnelle und unmißverständliche Information über die Voraussetzungen staatlicher Eingriffe in die Grundrechte von Betroffenen zu garantieren. Diese Bedeutung besitzt der Bestimmtheitsgrundsatz selbst für das Strafrecht nicht, auch wenn dies nur in einer etwas verdeckten Form und ohne offenes Zugeständnis eingeräumt wird. Die in diesem Zusammenhang gebräuchlichen Formulierungen des Bundesverfassungsgerichts stellen zwar einerseits darauf ab, daß aus Art. 103 Abs. 2 GG die Verpflichtung des Gesetzgebers folge, "die Voraussetzungen der Strafbarkeit so konkret zu umschreiben, daß Tragweite und Anwendungsbereich der Straftatbestände zu erkennen sind", läßt es aber auch ausreichen, daß diese Voraussetzungen "sich durch Auslegung ermitteln

369

Vgl. BVerfGE 14, 245, 253; 54, 143, 144 f.; 63, 312, 323. BVerfGE 21, 73, 79. 371 BVerfGE 54, 143, 145. 372 Ygj z u r Rechtsprechung fiir den speziell zum Strafrecht formulierten Bestimmtheitsgrundsatz nach Art. 103 Abs. 2 GG die Obersicht bei Krahl, Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesgerichtshofes zum Bestimmtheitsgrundsatz im Strafrecht, 1986, S. 78 ff. 370

148

D. Verfassungsrechtliche Bedingungen

lassen" 373 . Wenn aber zur Erfüllung des Bestimmtheitsgebots auch die juristische Interpretierbarkeit von Rechtsnormen ausreicht, muß in Kauf genommen werden, daß der Informationswert von Eingriffsnormen für die potentiell Betroffenen höchst ungenügend, im Einzelfall sogar ganz unzureichend sein kann. Damit aber wäre die behauptete generelle Schutzfunktion des Bestimmtheitsgrundsatzes unterlaufen. Wenn man sich mit diesen Überlegungen von der Fiktion größtmöglicher Präzision in Eingriffsnormen löst, läßt sich erkennen, daß der Bestimmtheitsgrundsatz allererst die Funktion einer verfassungsrechtlichen Verteilungsregel besitzt. Der Eingriff in die grundrechtlich geschützte Sphäre von Betroffenen soll gesetzlich bestimmt sein. Für den Bestimmtheitsgrundsatz des Art. 103 Abs. 2 GG ergibt sich dann, daß dessen Aufgabe in der Funktionsaufteilung zwischen Parlament, Verwaltung und Rechtsprechung besteht, während die Voraussehbarkeit staatlichen (Straf-) Verhaltens das davon getrennte Problem, nämlich die Vorwerfbarkeit delinquenten Verhaltens, betrifft 3 7 4 . Aus dem Bestimmtheitsgrundsatz ist dann der Gesetzgeber grundsätzlich nur verpflichtet, die Grundzüge der kriminalpolitischen Entscheidungen zur Strafbarkeit zu treffen, also geschütztes Rechtsgut und pönalisierte Verletzungshandlungen zu bezeichnen. Der Bestimmtheitsgrundsatz soll und kann dagegen nicht das Problem lösen, daß bereits aus gesetzlich fixierten Eingriffstatbeständen das Ausmaß der konkreten Inanspruchnahme von Betroffenen im Höchstmaß soll herausgelesen werden können. Er legt den demokratischen Gesetzgeber in erster Linie darauf fest, selbst die wichtigen Entscheidungen zu treffen und dadurch den Verteilungscharakter der gesetzlichen Festlegung zu aktualisier e n 3 7 5 . Damit ist dann auch erkennbar, daß sich die Kritik des neuen Informationsrechts der Polizei nicht unnötig bei der Weite und Vagheit in den Formulierungen der Eingriffsvoraussetzungen aufhalten kann, weil diese Probleme mit dem Bestimmtheitsgrundsatz nicht angemessen behandelt werden können. Die Ausgangsfrage besteht deshalb nicht darin, ob sich in den Eingriffsvoraussetzungen mehr begriffliche Präzision erreichen ließe, sondern darin, ob der Gesetzgeber seiner Verpflichtung nachgekommen ist, die wesentlichen

373 Vgl. zuletzt BVerfGE 78, 374., 381 f.: seltener Fall einer erfolgreichen Bestimmtheitsrüge, hier zu § 15 Π lit. a FAG (Betrieb einer Fernmeldeanlage). 374 Ygj dazu Ransiek, Gesetz und Lebenswirklichkeit - Das strafrechtliche Bestimmtheitsgebot, 1989. 375 Dessen ungeachtet werden Voraussehbarkeit und gesetzliche Festlegung der maßgeblichen Voraussetzungen bei der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als gleichwertige Zwecke des Bestimmtheitsgebotes behandelt, vgl. nochmals BVerfGE 78, 374 ff., 384 f. Bezeichnend aber, daß die Verfassungsbeschwerden nur wegen Fehlens der straftatbestandsmäßigen Gnindzüge in dem förmlichen Gesetz erfolgreich waren.

I. Gesetzesvorbehalt und Parlamentsvorbehalt

149

Eingriffsentscheidungen selbst zu treffen, diese also nicht den Anwendungsinstanzen frei zu überlassen. Die verfassungsrechtlich maßgeblichen Grundsätze für Antworten auf diese Frage aber lassen sich nicht einem allgemeinen Bestimmtheitsgrundsatz entnehmen, sondern müssen sich aus dem parallel dazu entwickelten, zum Parlamentsvorbehalt gesteigerten allgemeinen Rechtssatzvorbehalt ergeben. Für den Bereich "grundrechtswesentlicher" Eingriffsnormen ist der Parlamentsvorbehalt gerade der Ersatz für ein zu unspezifisches, aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitetes Bestimmtheitsgebot 376 .

2. Der Parlamentsvorbehalt Jeder staatliche Eingriff in die Grundrechte der Staatsbürger bedarf einer gesetzlichen Ermächtigung. Das ist der allgemeinste Inhalt eines Prinzips des Gesetzesvorbehalts. Die historische Funktion dieses Grundsatzes im 19. Jahrhundert lag darin, den relevanten Kräften der bürgerlichen Gesellschaft einen Anteil an der Gesetzgebung zu sichern und dadurch die monarchische Exekutivgewalt zurückzudrängen 377 . Nach der traditionellen Theorie und Dogmatik des Gesetzesvorbehalts war der staatliche Eingriff in die Grundrechte bereits dann gerechtfertigt, wenn sich der Grundrechtseingriff auf ein parlamentarisch beschlossenes und ordnungsgemäß verkündetes Gesetz zurückführen ließ, ohne daß an den Inhalt eines Parlamentsgesetzes besondere Anforderungen gestellt wurden. Namentlich zeichnete sich der als Rechtssatzvorbehalt verstandene traditionelle Vorbehalt des Gesetzes in seiner ursprünglichen Form durch eine schrankenlose Delegationsbefugnis des Gesetzgebers aus 3 7 8 . Nach der auf diesen Grundlagen entwickelten Theorie des Gesetzesvorbehalts genügte dem Vorbehalt des Gesetzes jede staatliche Regelungsentscheidung, die sich ihrem Inhalt nach als Rechtsnorm, d.h. als materielles Gesetz, darstellte, und dieses liegt nach herkömmlichem Verständnis dann vor, wenn eine staatliche Regelungsentscheidung mit Außenverbindlichkeit für unbestimmt viele Fälle und für unbestimmt viele Personen, d.h. abstrakt und generell, gilt. Diesen Voraussetzungen genügten grundsätzlich auch untergesetzliche Rechtsnormen wie die Rechtsverordnungen der Exekutive oder Satzungen der autonomen Körperschaften, deren Verbindung zum Parlamentsgesetz durch 37 6 Staupe, Parlamentsvorbehalt und Delegationsbefugnis, 1986, S. 140 ff. differenziert zwischen dem allgemeinen rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgebot, dem des Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG und dem neuen "vorbehaltsrechtlichen" Bestimmtheitsgrundsatz. Ähnlich zuvor schon Kloepfer, Der Vorbehalt des Gesetzes im Wandel, JZ 1984, 685 ff., 691. Gemeint ist damit offenbar eine Tendenzaussage: Je wesentlicher die (Grundrechts-)Betroffenheit, desto bestimmter muß die Regelung sein. 377 Vgl. dazu Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, 2. Aufl. 1981, S.71ff. 378 Vgl. dazu Staupe, S. 42 ff.

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D. Verfassungsrechtliche Bedingungen

Art. 80 Abs. 1 GG aufrechterhalten wurde: Die Rechtsverordnungen bedürfen der Ermächtigung durch Parlamentsgesetze, Satzungen bedürfen ihrer jedenfalls insofern, als die Gründung einer autonomen Körperschaft und die Übertragung von Satzungsgewalt stattfinden soll. Der vom (einfachen oder qualifizierten) Gesetzesvorbehalt für Grundrechtseingriffe zum Parlamentsvorbehalt ausgebaute Rechtssatzvorbehalt ist demgegenüber dadurch ausgezeichnet, daß der Gesetzgeber für wesentliche Problemlagen die Voraussetzungen für die Tätigkeit der Verwaltung gesetzlich zu regeln hat und zugleich das Wesentliche einer Regelungsmaterie im Gesetz selbst entscheiden m u ß 3 7 9 . Im Unterschied zum traditionellen Gesetzesvorbehalt wird im sogenannten Parlamentsvorbehalt der Einfluß des parlamentarischen Gesetzes auf die Verwaltung in zweifacher Hinsicht ausgedehnt: erstens in Richtung auf die nach einem herkömmlichen Verständnis "eingriffslosen" Sachverhalte und zweitens durch Begründung von Voraussetzungen für den notwendigen Inhalt des Parlamentsgesetzes. Die ebenso bündige wie noch ungeklärte Grundformel ist: Der parlamentarische Gesetzgeber soll bei wesentlichen Problemlagen alle wesentlichen Entscheidungen selbst treffen. Mit der ersten Erweiterung des traditionellen Gesetzesvorbehalts wurde auf diejenigen Probleme reagiert, die mit der Auflösung der traditionellen Figur des Grundrechtseingriffs entstanden sind. Besonders für die Ausgestaltung von Sonderrechtsbeziehungen, für den Bereich staatlicher Leistungen und für die Realisierung der objektiven Schutzpflichten des Staates hatte sich gezeigt, daß der Eingriffsbegriff und eine damit operierende Vorbehaltsdogmatik nicht geeignet sind, Erfordernis und Umfang gesetzlicher Regelungen hinreichend zu begründen 380 . So wurden etwa die gesetzgeberischen Entscheidungen zur Einfuhrung der Sexualkunde im Schulunterricht 381 , über die Zulässigkeit der zivilen Nutzung von Kernenergie 382 oder über die Einführung und strukturelle Ausgestaltung des Privatrundfiinks 383 für wesentliche, dem Gesetzgeber zur Grundsatzentscheidung reservierte Problemlagen gehalten, obgleich nach traditionellem Verständnis ein Eingriff in die Grundrechtssphäre von Betroffenen nicht begründet werden konnte. Derartige Leit- und Gestaltungsentscheidun379

Vgl. dazu aus der Literatur: Kloepfer, JZ 1984, 685 ff.; Kisker, NJW 1977, 1313ff.; Krebs, JURA 1979, 304 ff.; Eberle , DÖV 1984, 485 ff.; Rottmarin, EuGRZ 1985, 277 ff; Limbach, Das Wesentliche an der Wesentlichkeitstheorie, in: Festschrift für Faller, 1984, S. 111 ff; v. Arnim, DVB1 1987, 1241 ff. 380 So schon die Erkenntnis in BVerfGE 33, 125, 158 - Facharzt; 33, 303, 346 - numerus clausus; 40, 237, 248 f. - Strafvollzug. 381 BVerfGE 47,46, 78. 382 BVerfGE 49, 89, 126 f. - Kalkar; 53, 30, 56 - Mülheim-Kärlich. 383 BVerfGE 57, 295, 320 ff. - Drittes Rundfunkurteil.

I. Gesetzesvorbehalt und Parlamentsvorbehalt

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gen des Gesetzgebers in diesen Sachbereichen können nun zwar mit der traditionellen Eingriffsdogmatik nicht ausreichend erfaßt werden, sie verändern andererseits das faktische Umfeld von Grundrechten und anderen subjektiven Rechten und besitzen deshalb erhebliche mittelbare Auswirkungen auf die Grundrechtswirklichkeit und -Wahrnehmung. Sie sind keine klassischen Grundrechtseingriffe, aber grundrechtsrelevant und deshalb der parlamentarischen Gesetzesregelung bedürftig. Die zweite Erweiterung des traditionellen Gesetzesvorbehalts betrifft dann nicht mehr nur das bloße Ob des gesetzgeberischen Handelns, sondern die Entscheidung über das Wie. Wesentliche Problemlagen erfordern nicht bloß eine gesetzliche Bestimmung, sondern zwingen zu einer qualifizierten Regelung in dem Sinne, daß zugleich alle wesentlichen Entscheidungen im Gesetz enthalten sein müssen. Das Wesentlichkeitskriterium fordert also eine hinreichende Regelungsdichte im parlamentarischen Gesetz und kann sogar die Verwendung von unbestimmten Rechtsbegriffen und Ermessensvorschriften limitieren 3 8 4 . Diese zweifache Verwendung des Wesentlichkeitskriteriums ist auch erkennbar folgerichtig, weil nur dann, wenn in wesentlichen Problemlagen zugleich deren wesentliche normative Vorgaben gesetzlich bestimmt werden, die angestrebte Steuerungs- und Verteilungswirkung des Gesetzesvorbehalts gewährleistet werden kann. In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts findet sich inzwischen eine Fülle von Anwendungsbeispielen für den Parlamentsvorbehalt 385 . Nicht zufallig ist die Neuorientierung der Rechtssatzlehre mit einem Beispiel aus dem Bereich staatlicher Leistungen eingeleitet worden. In der numerusclausus-Entscheidung 386 wird das Grundrecht auf Berufs- und Ausbildungsfreiheit in Art. 12 Abs. 1 GG als eingeschränktes Leistungsrecht interpretiert und eine gesetzliche Regelung des Auswahlverfahrens und der Ermittlung von Kapazitätsgrenzen der Ausbildungsstätten gefordert. Durch parlamentarisches Gesetz müßten ferner die Zulassungs- und Auswahlkriterien bei der Verteilung knapper Studienplätze festgelegt werden, weil der grundrechtliche Gesetzesvorbehalt in einer parlamentarisch-rechtsstaatlichen Demokratie seine Funktion nur erhalten könne, wenn der Gesetzgeber die grundlegenden Entscheidungen selbst verantwortet. Seine Rechtsetzungsbefügnisse darf er nach Maßgabe von Art. 80 Abs. 1 GG nur dann delegieren, wenn durch Rechtsver384

Vgl. BVertGE 33, 303, 345 f.; 57, 295, 327; 64, 261, 268. Lerche, Bayerisches Schulrecht und Gesetzesvorbehalt, 1981, S. 59, 71 nennt das die Tatbestands- und Rechtsfolgenwirkung des Wesentlichkeitskriteriums. 385 Genaue Übersichten liefern Rottmann, EuGRZ 1985, 277 ff., 286 f., 291 f. und Staupe, S. 130 ff. 3 6 * BVerfGE 33, 303.

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Ordnung nur noch Fragen von untergeordneter Bedeutung geregelt werden sollen. Der klassische Eingriffsvorbehalt des Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG mutiert auf diese Weise zu einem Parlamentsvorbehalt, der in wesentlichen Fragen sogar eine Delegationssperre errichtet. Erzwungen wird diese Ablösung von der herkömmlichen Eingriffsdogmatik, weil die grundrechtlichen Probleme der Aufnahme einer Person in ein Sonderrechtsverhältnis (Hochschule) mit den Kriterien des Eingriffsmodells nicht oder allenfalls nur sehr begrenzt erfaßt werden könne 3 8 7 . Anders die Ausgangslage im Speyer-Kolleg-Beschluß 388 . Dort läßt sich die zwangsweise Beendigung der sonderrechtlichen Bindung noch mit der traditionellen Eingriffsfigur erfassen 389 , die dadurch erforderliche gesetzliche Grundlage verlangt aber eine ausreichende Differenzierung der schulrechtlichen Ordnungsmaßnahmen nach dem Grundsatz des Übermaßverbots. Ebenso wird in der Schulausschluß-Entscheidung390 auf das Modell eines Vorbehalts des verhältnismäßigen Gesetzes zurückgegriffen. Der Umfang des Parlamentsvorbehalts wird aus der Intensität der Grundrechtsberührung festgelegt ebenso wie der erforderliche Grad an Bestimmtheit in der gesetzlichen Regelung. Das Bestimmtheitsgebot selbst wird als notwendige Ergänzung und Konkretisierung des im Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip niedergelegten Gesetzesvorbehaltes interpretiert 391 . In den Entscheidungen zur Ausgestaltung von Sonderrechtsverhältnissen 392 wird der Umfang des Vorbehaltsbereichs der Gesetzgebung überwiegend aus dem Rechtsstaats- und Demokratieprinzip entwickelt, und daraus werden zugleich umfassende Regelungsaufgaben des Gesetzgebers abgeleitet. Insgesamt finden sich in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung für die Mitgliedschaft und die Ausgestaltung von Sonderrechtsbeziehungen wechselnde Begründungen für den Parlamentsvorbehalt. Für den Eintritt in die Sonderrechtsverhältnisse Schule und Hochschule wird die leistungsrechtliche Dimension der Grundrechte fruchtbar gemacht. Für die Überlegungen zum erzwungenen Austritt aus Sonderrechtsbeziehungen oder den disziplinarischen Fol387

Demgegenüber kritisch Schlink, Die Amtshilfe, 1982, S. 136 f., der für die Beibehaltung des Eingriffsmodells über das zusätzliche Kriterium der Knappheit und dadurch Ausweitung auf Konkurrenzsituationen plädiert. 388 BVerfGE 41,251,264 ff. 389 Wenn auch nur in der vermittelten Form, daß der Eingriff in der zwangsweisen Beendigung einer einmal gewährten Teilhabe besteht. 390 BVerfGE 58,257,272 ff. 391 BVerfGE 58, 257, 277 f. Zur Kritik daran vgl. Wilke, JZ 1982, 759 f., der durch dieses Verständnis des Bestimmtheitsgebotes die Bedeutung von Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG relativiert sieht. 392 BVerfGE 34, 165, 192 f. - Hess. Förderstufe; 47, 46, 48 ff - Sexualkunde; 45, 400, 405 ff. - Hess. Oberstufenreform; 40, 237, 248 ff. - Beschwerdeausschluß im Strafvollzug.

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gen von Fehlverhalten dominiert dagegen das traditionelle Modell des Eingriffsvorbehalts und wird zum Vorbehalt des verhältnismäßigen Gesetzes ausgedehnt. Es ist vor allem das Kriterium der Eingriffsintensität, mit dem der Umfang der Regelungspflicht des Gesetzgebers und der Grad der Bestimmtheit in den Regelungen festgelegt werden. Für die Ausgestaltung der Sonderrechtsverhältnisse reichen die Begründungen vom traditionellen Eingriffs- und Schrankenmodell über die Öffnung des grundrechtlichen Freiheitsbegriffs in Richtung auf ein grundrechtliches Verwirklichungsrecht bis zu rechtsstaatlichen Überlegungen für hinreichende Bestimmtheit und Normenklarheit von Gesetzen. In diesem Zusammenhang werden dann auch demokratietheoretische Argumente fruchtbar gemacht. Unterschiedliche Begründungen finden auch in der Rechtsprechung zum allgemeinen Staat-Bürger-Verhältnis Verwendung. In den Entscheidungen zur Nutzung der Atomenergie wird die Lösung von dem traditionellen Vorbehaltsverständnis erzwungen, weil nicht die staatliche Gewalt selbst unmittelbar durch das Betreiben von Atomanlagen grundrechtliche Gefahrdungswirkungen auslöst, sondern durch die gesetzliche Zulassung und Regelung friedlicher Nutzung von Atomenergie (nur) Mitverantwortung für das damit geschaffene Gefahren- und Risikopotential übernimmt 3 9 3 . Die notwendigen Regelungsaufgaben des Gesetzgebers ergeben sich dann aus der staatlichen Schutzverpflichtung für Leben und Gesundheit der Grundrechtsträger. Kann ein wirksamer Schutz von Grundrechten nicht allein durch materielle Regelung hergestellt werden, ergibt sich daraus für den Gesetzgeber die Verpflichtung, durch entsprechende Verfahrensgestaltung den Grundrechten Wirksamkeit zu verschaff e n 3 9 4 . Eine besonders deutliche Lösung von der traditionellen Dogmatik des Eingriffsvorbehalts läßt sich schließlich im Dritten Rundfunkurteil 395 erkennen. Die medienspezifische Konstellation kollidierender Grundrechte in einer institutionell gebündelten Form läßt sich mit den Kategorien von negatorischer Freiheit und staatlichem Eingriff nur höchst unzureichend erfassen. Der Anspruch auf umfassende und wahrheitsgemäße Information 3 9 6 fügt sich keinem bloß negatorischen Freiheitsverständnis. Außerdem besteht auch keine Grundrechtskollision im traditionellen Sinne, wonach der Freiheitsgebrauch des einen dem des anderen linear widerspricht. Die Konfliktlösung führt zu einem institutionell-rechtlichen Verständnis der Rundfünkfreiheit, wonach der Gesetzgeber die Grundlinien der Rundfünkordnung so festzulegen hat, daß der Rundfunk nicht einer oder einzelnen gesellschaftlichen Gruppen ausgeliefert

393 394 395 396

BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE

49, 89 ff. - Kalkar; 53, 30 ff. - Mülheim-Kärlich. 49, 89, 237; 53, 30, 65 f., 71 f. - abweichende Meinung. 57, 295, 319 ff. 57, 295, 321.

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wird und ein Mindestmaß an inhaltlicher Ausgewogenheit, Sachlichkeit und gegenseitiger Achtung gewährleistet i s t 3 9 7 . Zusammenfassend läßt sich aiis der bisherigen Diskussion zum Parlamentsvorbehalt kaum der Eindruck vermeiden, daß die wichtigsten Probleme einer Wesentlichkeitstheorie des Parlamentsvorbehalts noch nicht ausreichend geklärt sind. Als ein neuer dogmatischer Kristallisationspunkt für staatliche Handlungen, die mit dem traditionellen Eingriffskriterium nicht oder nicht ausreichend erfaßt werden können, hat er seine dogmatische Leistungskraft noch nicht voll unter Beweis gestellt 398 . Als besonderes Problem könnte sich noch zeigen, daß die Wesentlichkeitstheorie als Generalersatz für den klassischen Begriff des Grundrechtseingriffs gebraucht wird, mit der Folge, daß dann auch die klassischen Eingriffe in Grundrechte nur dann einer gesetzlichen Regelung bedürfen, wenn sie als wesentlich qualifiziert werden 3 9 9 . Auch ist noch ungeklärt, ob sich aus dem Prinzip des Parlamentsvorbehalts ein demokratietheoretisch begründeter Totalvorbehalt des Gesetzes im grundrechtsrelevanten Bereich herleiten ließe 4 0 0 . Schließlich besteht auch weiterhin Unsicherheit darüber, wie auf der Grundlage von Wesentlichkeitsüberlegungen noch ein genuiner Anwendungsbereich von Art. 80 Abs. 1 GG beschaffen sein könnte 4 0 1 . Diese Problemlinien müssen hier jedoch nicht weiter verfolgt werden. In dem Zusammenhang verdeckter Informationsbefugnisse der Polizei interessieren allein Inhalte und Wirkungen des Wesentlichkeitskriteriums für die Regelungsdichte von Gesetzen, also die Frage, was als wesentlicher Inhalt in der gesetzlichen Regelung erscheinen muß, andernfalls eine verfassungsrechtlich nicht legitimierte Entscheidungsfreiheit bei der Normanwendung entsteht. Demgegenüber ist die verdeckte Informationsbeschaffung der Polizei auch ohne Rückgriff auf Wesentlichkeitsüberlegungen grundsätzlich als Grundrechtseingriff und damit als gesetzlich regelungsbedürftiger Sachverhalt begründet.

397

BVerfGE 57, 295, 325. Gegenüber Wesentlichkeitsüberlegungen versucht Lübbe-Woljf, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, 1988, S. 69 ff., den Gesetzesvorbehalt für konstituierte Rechtspositionen aller Art und staatliche Leistungen mit einem nichttraditionellen Eingriffsbegriffzu begründen. 399 So aber Peitsch, Grundrechtswesentlichkeit polizeilicher Informationssammlung und -Verarbeitung, CR 1989, 721 ff. für das polizeiliche Informationsrecht, allerdings ohne den Versuch, die Informationserhebung mit dem traditionellen Eingriffsschema zu erfassen. 400 So Suhr, EuGRZ 1984, 529 ff. und ders., Entfaltung des Menschen durch die Menschen, 1976, S. 131 ff., mit der Folge, daß dann allerdings das Wesentlichkeitskriterium umgekehrt als Begrenzung des Vorbehaltsbereichs der Gesetzgebung sich beweisen müßte. 401 Vgl. dazu nur Klopfer, JZ 1984, 685, 691 ff. 398

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Für den Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung konnte das bereits gezeigt werden 4 0 2 . Wie aber kann genauer festgestellt werden, was diejenigen wesentlichen Regelungen sind, die im Gesetz selbst erscheinen müssen? Dazu liegen bislang nur wenig greifbare Anhaltspunkte vor. Was wesentlich ist, soll sich "allgemein nach dem Grundgesetz", insbesondere nach seinen tragenden Prinzipien und den Grundrechten richten403. Nach anderen Formulierungen soll eine Regelung dann wesentlich sein, wenn sie "wesentlich für die Verwirklichung der Grundrechte" i s t 4 0 4 oder den "Freiheits- und Gleichheitsbereich des Bürgers wesentlich betrifft" 4 0 5 . Für diese Umschreibungen des Wesentlichkeitsgrundsatzes ist häufig darauf hingewiesen worden, daß sie entweder nichtssagend seien oder sogar einen Zirkelschluß enthielten 406 . Andererseits findet sich in diesen Formulierungen aber die verwertbare Grundaussage, daß sich der Umfang der gesetzlichen Regelungsaufgabe aus der Intensität entweder des Grundrechtseingriffs oder jedenfalls der Grundrechtsrelevanz einer staatlichen Maßnahme ergebe 407 . Für den Schulbereich heißt es programmatisch: "Der Umfang des parlamentarischen Regelungsvorbehalts bestimmt sich nach der Intensität, mit welcher die Grundrechte der Regelungsadressaten betroffen werden. Da diese in den verschiedenen Regelungsbereichen des Schulrechts und von Fallgruppe zu Fallgruppe verschieden sein kann, bedarf es jeweils einer besonderen Prüfung anhand der von der Rechtsprechung entwickelten Wesentlichkeitsmerkmale, was der parlamentarischen Willensbildung vorbehalten ist und was durch gesetzliche Ermächtigung dem Verordnungsgeber übertragen werden d a r f ' 4 0 8 . Zu beachten ist jedoch, daß dadurch eine Verdoppelung der Intensitätsprüfüng erreicht wird, weil bereits nach herkömmlicher Auffassung zur Abgrenzung des einfachen Gesetzesvorbehalts zum vorbehaltsfreien originären Exekutivbereich das Merkmal der Grundrechtsintensität Verwendung findet (Gegenteil: staatliche Bagatellhandlun-

402

Vgl. dazu C IV 1. Ob das freilich auch etwa für die verdeckte Datenerhebung bei Versammlungen gilt, hängt davon ab, wie das Konkurrenzverhältnis zwischen den Grundrechten auf Versammlungsfreiheit einerseits und auf informationelle Selbstbestimmung andererseits qualifiziert wird. Das soll hier offengelassen werden. 403 Vgl. z.B. BVerfGE 34, 165, 192; 49, 89, 127. 404 So z.B. in BVerfGE 40,237,278 f. 405 BVerfGE 49, 89, 126. 406 Vgl. Roellecke, NJW 1978, 1778; Kloepfer, JZ 1984, 687. 407 So schon in der Facharzt-Entscheidung, BVerfGE 33, 125, 158 ff. 408 BVerfGE 58, 257 ff., 274: Zwangsweiser Ausschluß muß im Gesetz geregelt werden, die Regeln zur Versetzung eines Schülers können auch in einer Rechtsverordnung erscheinen. Zur Kritik dieser konkreten Differenzierung vgl. Bryde, DÖV 1982, 243 f.

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gen). Und auch generell wird man aus der Intensität der Grundrechtsbetroffenheit feste Grenzen weder fur die Regelungsebenen noch für die Regelungsdichte erwarten können 4 0 9 . Die Intensität der Grundrechtsbetroffenheit ergibt jedoch einen generellen Maßstab für den Inhalt von Gesetzen im Geltungsbereich des Parlamentsvorbehalts. Für genauere Aussagen muß differenziert werden. Dafür bietet es sich an, den grundrechtlich begründeten 410 Parlamentsvorbehalt danach zu unterscheiden, ob es sich um eindimensionale, mehrdimensionale oder komplexe Grundrechtsregelungen handelt 4 1 1 . Im Unterschied zu eindimensionalen Grundrechtsregelungen sind mehrdimensionale bzw. komplexe Grundrechtsregelungen dadurch ausgezeichnet, daß bei ihnen die Sphären mehrerer Grundrechtsträger gegeneinander abzugrenzen sind, also auf Abwägung und Ausbalancierung konkurrierender oder gegenläufiger Grundrechtssphären angelegt sind. Eindimensionale Freiheitsprobleme tauchen typischerweise in der Eingangsverwaltung auf, z.B. im Polizei- und Ordnungsrecht. Mehrdimensionale Freiheitsprobleme ergeben sich immer dort, wo Grundrechtssphären von Betroffenen unmittelbar kollidieren, z.B. im Verhältnis von Mutter und K i n d 4 1 2 und erst recht auf der Ebene von Organisationen (Schule, Hochschule, Rundfunkanstalt) 413 . Mit dieser Differenzierung wird deutlich, daß die Intensität von Grundrechtsbetroffenheiten als Kriterium der Regelungsdichte eines Gesetzes dort an besonderer Bedeutung gewinnt, wo eindimensionale Grundrechtsregelungen vorliegen. Für mehrdimensionale und komplexe Regelungen dagegen tritt dieses Kriterium zurück hinter das der gutgewichteten Abwägung und Zuordnung von Grundrechtssphären, ohne dadurch völlig an Bedeutung zu verlieren. Für den hier relevanten Fall der klassischen Staat-Bürger-Beziehung kann das Intensitätsmerkmal demnach ungebrochen Verwendung finden. Geklärt ist damit aber noch nicht, wie es angewendet werden kann. Die allgemeine Antwort auf diese Frage lautet, daß im Gesetz ausreichende Erwägungen zu feststellbaren Eingriffsintensitäten enthalten sein müssen. Ganz generell ist damit der Vorbehalt des verhältnismäßigen Gesetzes gefordert. Was da-

409

Vgl. dazu Kisker, DVB1 1982, 886 IT. 887. Ini Unterschied zu einem politischen Parlamentsvorbehalt, der auf die politische Wichtigkeit von Regelungsproblemen Bezug nimmt. Vgl. dazu Kisker, NJW 1977, 1313 ff., 1318, für den das "Wesentliche" das politisch Kontroverse ist. Kritisch dazu Limbach, Das Wesentliche an der Wesentlichkeitstheorie, in: Festschrift für Faller, 1984, S. 111 ff., 126 f. 411 Vgl. dazu Staupe, S. 238 ff. und zuvor schon Schuppert, Funktiönell-rechtliche Grenzen der Verfassungsinterpretation, 1980, S. 24 ff. und Schmidt, AÖR 1981,497 ff. 412 Vgl. dazu BVerfGE 34, 165 ff, 192 ff. (Fristenlösung). 413 Zum Schulwesen eindrucksvoll Heussner, Vorbehalt des Gesetzes und "Wesentlichkeitstheorie", in: Festschrift für Stein, 1983, S. 111 ff 410

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nach an Unterscheidungen in Eingriffsintensitäten möglich und erforderlich ist und welche Abstufungen für den Inhalt der gesetzlichen Regelung verlangt werden müssen, kann nur für jeden einzelnen Regelungsbereich gesondert festgestellt werden. Eine zweite Schlußfolgerung ergibt sich. In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Parlamentsvorbehalt ist die Überlegung entwickelt worden, daß zu den wesentlichen Elementen einer gesetzlichen Regelung auch Bestimmungen zur Organisation und zum Verfahren der Verwaltungsentscheidung gehören, wenn anders effektiver Grundrechtsschutz nicht gewährleistet werden kann. Die Bedeutung solcher Verfahrensregelungen muß dort besonders hoch sein, wo es um die Regelungen mehrdimensionaler Freiheitsprobleme geht. Denn dann verlagert sich die Gewähr für einen gelungenen Freiheitsausgleich auf die Ausgestaltung des Ausgleichungsprozesses zwischen verschiedenen Grundrechtssphären, und dies erfordert organisatorische Vorkehrungen dafür, daß die relevanten Abwägungsgesichtspunkte Berücksichtigung finden. Erhöhte Bedeutung gewinnen Verfahrensregeln aber auch dann, wenn die materiell-rechtlichen Regelungen im klassischen Staat-BürgerVerhältnis das Verwaltungshandeln nur schwach determinieren und deshalb z.B. die Stellung von Verfahrensbeteiligten im Gegenzug stärker ausgebaut werden m u ß 4 1 4 . Was danach die wesentlichen Regelungen sind, die hinsichtlich der Organisation und des Verfahrens der Entscheidungsfindung im Gesetz enthalten sein müssen, bleibt wieder nach der Eigenart des Regelungsbereichs zu entscheiden. Zusammenfassend bleiben zu dem Umfang der gesetzgeberischen Regelungsaufgaben im Bereich klassischer Grundrechtseingriffe zwei Überlegungen festzuhalten: Erstens kommt der Gesetzgeber bei der Schaffung von grundrechtsgefahrdenden Eingriffstatbeständen seinen wesentlichen Regelungsaufgaben nur dann nach, wenn im Gesetz selbst ausreichende Abstufungen nach Umfang und Intensität von Grundrechtseingriffen aufgenommen werden (Vorbehalt des verhältnismäßigen Gesetzes); zweitens gehören zu den wesentlichen Elementen einer gesetzlichen Regelung auch ausreichende Bestimmungen zur Organisation und zum Verfahren, wenn anders ein effektiver Grundrechtsschutz nicht oder nicht ausreichend gewährleistet werden kann.

414

Vgl. dazu vorerst nur Laubinger, Grundrechtsschutz durch Gestaltung des Verwaltungsverfahrens, VerwArch 1982, 60 ff., 76 f.

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3. Effektiver Grundrechtsschutz Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu den wesentlichen Regelungsaufgaben des Gesetzgebers orientiert sich insgesamt an dem Problem, wie sowohl unter den Bedingungen interpretatorisch erweiterter Schutzwirkungen der Grundrechte als auch neuer Gefährdungslagen für Grundrechte deren effektiver Schutz gleichwohl gewährleistet werden kann. Aber was genau bedeutet der effektive Schutz von Grundrechten? Zur näheren Aufklärung hilft die Feststellung, daß die Zielvorstellung als solche nicht neu ist. In dem Topos "Effektiver Rechtsschutz" besteht seit langem ein verfassungsrechtlich namhaftes Vorbild 4 1 5 . Von Anfang an hat dieser Grundsatz wesentliche Bedeutung für das Verständnis der Rechtsweggarantie aus Art. 19 Abs. 4 GG gewonnen 416 . Auf der Grundlage eines "substantiellen Anspruchs auf eine möglichst wirksame gerichtliche Kontrolle" 4 1 7 wurde der Umfang seiner Anwendungsfälle von dem Verbot rechtlicher oder faktischer Verhinderung des Gerichtszugangs 418 oder dessen unzumutbarer Erschwerung 419 über das Gebot fairer Verhandlungsführung 420 und Angemessenheit der Rechtsschutzform 421 bis zu möglichst weitgehender inhaltlicher Determinierung des materiellen Rechts 4 2 2 ausgedehnt 423 . Das zunächst aus Art. 19 Abs. 4 GG entwickelte Gebot eines wirksamen Schutzes von Betroffenen gegen staatliche Handlungen hat zwischenzeitlich allerdings eine bemerkenswerte Veränderung erfahren. Seit der Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit des Hamburgischen Deichordnungsgesetzes ( D O G ) 4 2 4 geht das Bundesverfassungsgericht davon aus, daß die Ausgestaltung und richtige Handhabung verfahrensrechtlicher Vorschriften direkt den betroffenen Grundrechten entnommen werden kann, und weitergehend, daß sich die Garantie gerichtlicher Kontrolle staatlicher Eingriffe in die Grundrechtssphäre von Betroffenen unmittelbar aus dem berührten Grundrecht ergibt. In dieser Ausgangsentscheidung war die Verlagerung der verfahrensrechtlichen Garantie effektiven Rechtsschutzes in die materielle Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG erforderlich, weil die nach Art. 14 Abs. 3 Satz 2 GG vorgesehene und 415

Vgl. dazu Lorenz, AÖR 1980, 624 ff., 630 ff. Vgl. schon Bachof, DRZ 1950, 246: Art. 19 Abs. 4 enthalte "nicht einen papierenen, durch die Gerichtsorganisation praktisch wertlos gemachten", sondern garantiere "einen effektiven Rechtsschutz" (Hervorhebung im Original). 417 BVerfGE 35, 263, 274; 40, 272, 275. 418 BVerfGE 16, 289, 293; 17, 83, 85. 419 Vgl. BVerfGE 10, 264, 268. 420 BVerfGE 40, 95, 98 f.; 46, 325, 334; 49, 220, 225. 421 Vgl. BVerfGE 18, 203, 212 ff. 422 Vgl. BVerfGE 8, 274, 326. 423 Zu weiteren Anwendungsfallen vgl. v. Münch, GG, Art. 19 Rdnr. 53. 424 BVerfGE 24, 367. 416

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konkret durchgeführte Legalenteignung nicht mit dem Merkmal "öffentliche Gewalt" in Art. 19 Abs. 4 GG erfaßt werden konnte 4 2 5 . Dem widersprach die herkömmliche Auslegung, wonach die Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 GG sich nicht gegen den Gesetzgeber richtet, also keinen Anspruch auf besondere Verfahrensgestaltungen durch den Gesetzgeber enthält 4 2 6 . Diese Rechtsprechung ist zunächst für Art. 14 GG fortgeführt 427 und dann auf weitere Grundrechte ausgedehnt worden, namentlich auf Art. 16 G G 4 2 8 und Art. 2 Abs. 2 G G 4 2 9 . Seitdem gibt es einen grundrechtlichen Anspruch auf effektiven Rechtsschutz, wenn auch die Bezugnahme und die Terminologie in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts keineswegs einheitlich sind430. Die Begründung effektiven Rechtsschutzes aus den Grundrechten selbst ist vor allem eine deutliche Reaktion auf die durch Art. 19 Abs. 4 GG nicht beantwortete Frage, welche materiellen Bedingungen an Art und Umfang des notwendigen Rechtsschutzes zu stellen sind. Mit der Anbindung des Rechtsschutzes an die jeweils betroffenen Grundrechte ist deshalb generell die Möglichkeit eröffnet, je nach der Art des konkret betroffenen Grundrechts die Notwendigkeiten und Möglichkeiten effektiver Rechtsschutzgewährleistung zu konkretisieren. Der Vorteil eines grundrechtlich begründeten Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz liegt also zunächst in der Nähe zu den jeweils konkret betroffenen Grundrechten, ohne daß daraus allerdings schon unmittelbare und zwingende Maßstäbe für die Art und den Umfang des grundrechtlich gebotenen Rechtsschutzes abgeleitet werden können. Vor allem aber hat das einfachgesetzliche Verfahrensrecht dadurch eine deutliche verfassungsrechtliche Aufwertung erfahren 431 . Grundrechtsschutz ist danach sowohl im als auch durch Verfahrensrecht herzustellen. Besonders prominent ist diese Orientierung durch den Mülheim-Kärlich-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts

425

Zum Streitstand vgl. Schmidt-Aßmann in: Maunz/Diirig/Herzog/Scholz, GG, Art. 19 IV, Rdnr. 90 ff. 426 Vgl. dazu nur Stem, Staatsrecht Bd. I, § 20 IV 5; anders hingegen v. Münch, GG, Art. 20 Rdnr. 42b. 427 Vor allem zu den Zwangsversteigerungsfallen: vgl. BVerfGE 42, 64; 46, 325; 49, 220; 49, 252; 51, 150. Vgl. aber auch BVerfGE 45, 297, 333 - Hamburger U-BahnBau. 428 Vgl. BVerfGE 52, 391,407. 429 Vgl. z.B. BVerfGE 53, 30, 57. 430 Vgl. dazu Lorenz, AÖR 1980, 623, 639 f. 431 Vgl. Held, Der Grundrechtsbezug des Verwaltungsverfahrens, 1984, S. 64 ff.; Huber, Grundrechtsschutz durch Organisation und Verfahren als Kompetenzproblem in der Gewaltenteilung und im Bundesstaat, 1988, S. 87 ff ; Hufen, Fehler im Verwaltungsverfahren, 1986, S. 37 ff.

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geworden 432 . Zuvor war bereits festgestellt worden, daß sich aus dem Charakter des Grundgesetzes als objektiver Wertordnung verfassungsrechtliche Schutzpflichten ergeben, die es gebieten, rechtliche Regelungen so auszugestalten, daß die Gefahr von Grundrechtsverletzungen möglichst gering ausfallt. Ob, wann und mit welchem Gehalt eine solche grundrechtseffektive Ausgestaltung verfassungsrechtlich geboten ist, hängt von der Art, der Nähe und dem Ausmaß möglicher Gefahren und dem Rang des geschützten Rechtsgutes a b 4 3 3 . Auf dieser Grudlage wird dann hinzugefugt, daß Grundrechtsschutz auch weitgehend durch die Gestaltung von Verfahren zu bewirken ist und infolgedessen Verfahrensvorschriften, die der Staat in Erfüllung seiner Pflicht zum Schutze der Rechtsgüter aus Art. 2 Abs. 2 GG erlassen hat, grundrechtliche Bedeutung erhalten 4 3 4 . Für verfahrensabhängige Grundrechte versteht sich dann von selbst, daß der Verstoß gegen gesetzlich angeordnete Entscheidungskompetenzen und darüber hinaus relevante Verfahrensfehler zum Grundrechtsverstoß führen 4 3 5 . Das Problem, das mit der Figur "Grundrechtsschutz durch Verfahren" (auch) gelöst werden soll, läßt sich in der angeführten Rechtsprechung deutlich erkennen. Die Verpflichtung des Gesetzgebers, neben materiellen Regelungen auch solche über die Organisation und das Verfahren in das Gesetz aufzunehmen, ergibt sich besonders dann, wenn ausfüllungsbedürftige Normbegriffe und Generalklauseln im Gesetz benutzt werden. Dann nämlich konzentriert sich der Grundrechtsschutz auf die Frage, wer über die Ausfüllung und Anwendung dieser Normen entscheidet und wie das zur Entscheidung führende Verfahren gestaltet ist. Ausfüllungsbedürftige Normen und Generalklauseln sind dann verfassungsrechtlich tragbar, wenn durch ein formalisiertes, gerichtlich kontrollierbares Verfahren dafür vorgesorgt wurde, daß die wesentlichen Entscheidungsfaktoren geprüft und die mit der Norm angestrebten Ziele grundrechtsschonend erreicht werden 4 3 6 . Aus diesen Grundsätzen ergibt sich bereits hier eine allgemeine Schlußfolgerung. Entschließt sich der Ge432 ygj BVerfGE 53, 30, 65 ff Die davorliegende Rechtsprechung ist ausführlich dokumentiert bei Goerlich, Grundrechte als Verfahrensgarantien, 1981 und Wahl, VVDStRL 1983, 166. 433 Vgl. BVerfGE 49, 89, 142. 434 Vgl. BVerfGE 53, 30, 65 f. 435 Vgl. für das Asylrecht aus Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG vgl. BVerfGE 56, 216, 240 ff. Für das Eigentumsrecht aus Art. 14 Abs. 1 GG, vgl. BVerfGE 74, 264, 285 ff. Boxberg. Zur Differenzierung zwischen echten Verfahrensgrundrechten (z.B. Art. 103 GG), verfahrensabhängigen Grundrechten (Art. 4, 16 GG), verfahrensbetroffenen Grundrechten (Art. 2 I, 14 GG) und verfahrensgeprägten Grundrechten (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG) vgl. Ossenbühl, Grundrechtsschutz im und durch Verfahrensrecht, in: Festschrift für Eichenberger, 1982, S. 183 ff. 436 Vgl. BVerfGE 53, 30, 71 ff. - Mülheim-Kärlich - abweichende Meinung.

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setzgeber oder ist er durch die Eigenart der angestrebten Regelung gezwungen, kontrollschwache Rechtsnormen zu verwenden, dann folgt aus der grundrechtlichen Schutzpflicht des Staates, daß durch äquivalente Regelungen über die Organisation und das Verfahren der Entscheidung sichergestellt werden muß, daß (gleichwohl) der bestmögliche Schutz der betroffenen Grundrechte stattfinden kann. Das ergibt sich als grundrechtlich begründete Verpflichtung des Gesetzgebers, der allerdings für die konkrete Ausgestaltung von Organisation und Verfahren der Entscheidung rechtspolitischen Regelungsspielraum besitzt. Die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung zum Grundrechtsschutz durch Verfahren liefert darüber hinaus aber auch eine Zusatzantwort auf die Frage, zu welchem Zeitpunkt effektiver Grundrechtsschutz zu gewährleisten ist. Der traditionelle Ausgangspunkt für solche Überlegungen liegt allerdings wiederum in der Rechtsweggarantie aus Art. 19 Abs. 4 GG. Zu dem danach garantierten Rechtsschutz gehört auch seine Erlangung "zur rechten Z e i t " 4 3 7 . Allgemein wird angenommen, daß die Rechtsweggarantie aus Art. 19 Abs. 4 GG Rechtsschutz nur gegen eine bereits erfolgte Rechtsverletzung und damit nur nachträglich (repressiv) gewährleiste 438 . Es ist andererseits unbestritten, daß durch die Rechtsschutzgarantie nicht bloß eine eingetretene und als solche irreparable Rechtsverletzung kompensiert, sondern diese soweit als möglich ausgeschlossen werden s o l l 4 3 9 . Effektiver Rechtsschutz meint danach auch den zeitlich noch rechtzeitig einsetzenden Rechtsschutz. Weitergehend wird präventiver Rechtsschutz der Rechtsweggarantie dann entnommen, wenn einerseits über die schlichte Rechtsverletzung hinaus auch die tatsächliche Verletzung des geschützten Rechtsguts involviert ist oder der faktische Nachteil doch in eine solche Nähe rückt, daß ein im Einzelfall geschütztes Rechtsgut als unmittelbar gefährdet erscheint. Daraus wird über die verfassungsrechtlich besonders angeordneten Fälle der Art. 13 Abs. 2 GG (Durchsuchungen) und Art. 104 Abs. 2 GG (Freiheitsentziehung) hinaus ein Richtervorbehalt für die Anordnung solcher Entscheidungen in Betracht gezogen 440 . Die konstruktiv erforderliche Vorentscheidung liegt darin, die "Rechtsverletzung" des Art. 19 Abs. 4 GG begrifflich in die bloß normative einerseits und die auch tatsächliche andererseits abzustufen. Rechtsverletzung bedeutet danach generell die Nichtbeachtung des mit einer Rechtsnorm verbundenen Geltungsanspruchs, also die Herbeiführung eines entgegengesetzten oder die Verhinderung eines verlangten tatsächlichen Erfolgs in der sozialen Realität. Nicht also 437

BVerfGE 40, 17, 29. Vgl. Lorenz, JURA 1983, 393, 398. 439 Vgl. z.B. BVerfGE 35, 263, 274 f. 440 ygj L o r e t ] Z y Der Rechtsschutz des Bürgers und die Rechtsweggarantie, 1973, S.142 tf. 438

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erst die faktisch eingetretenen Nachteile, sondern schon die Nichtbeachtung des mit einer Rechtsnorm verbundenen Geltungsanspruchs fuhrt die Rechtsverletzung herbei. Nicht erst der Abriß eines Hauses, sondern bereits der darauf gerichtete Verwaltungsakt (als konkretisierte Nichtbeachtung des Geltungsanspruchs der Norm) realisiert die Rechtsverletzung. Im Normalfall wird diese gleichsam reine Rechtsverletzung vor einer Steigerung zu einer effektiven Rechtsverletzung dadurch bewahrt, daß Rechtsschutz erlangt, daß bereits gegen die Abrißverfügung vor deren Vollzug gerichtliche Hilfe in Anspruch genommen werden kann. Mit dieser Differenzierung im Begriff der Rechtsverletzung läßt sich erkennen, daß der verfassungsrechtliche Standardrechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG regelmäßig effektiv ausfällt und deshalb die Figur des präventiven Rechtsschutzes für diejenigen Fälle reserviert werden kann, in denen die darüber hinausgehende tatsächliche Verletzung des geschützten Rechtsguts einen besonders hohen Gefährdungsgrad erreicht. Als Beispiele für die verfassungsrechtlich dann erforderliche Gewährleistung präventiven Rechtsschutzes werden einerseits die Rechtsgüter aus Art. 2 Abs. 2 GG (Leben, körperliche Unversehrtheit, Freiheit der Person), Art. 2 Abs. 1 GG, darunter in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG die "Sphäre der privaten Lebensgestaltung", andererseits insgesamt die staatliche Straftätigkeit (bei der schon die Existenz eines Strafausspruches, das Bestraft-Sein als ein sittlich-moralisches Unwerturteil die tatsächliche Rechtsverletzung wegen des darin liegenden künftigen Kommunikationshindernisses indiziert) und schließlich auch die Garantie vorbeugenden Rechtsschutzes in den einzelnen Verfahrensordnungen genannt 4 4 1 . So wäre es verfassungsrechtlich unzureichend, wenn der gerichtliche Rechtsschutz gegen die Errichtung von Atomanlagen erst gegen Anordnungen zur Inbetriebnahme, nicht aber auch schon wegen (Teil)Errichtungsgenehmigungen gewährleistet würde. Die Rechtsverletzung liegt hier in Anbetracht hoher Schadenspotentiale bereits in der Gefährdung 442 . Die Einzelkriterien für die verfassungsrechtlich ausnahmsweise erforderliche Gewährung präventiven Rechtsschutzes sind: Bedeutung des geschützten Rechtsguts, Größe der Verletzungsgefahr 443 und Schadensausmaß444. Für den hier maßgeblichen Zusammenhang mit heimlichen Informationseingriffen der Polizei ergibt sich die Frage, ob mit den dargestellten Voraussetzungen fiir effektiven Rechtsschutz die verfassungsrechtliche Forderung 441 Vgl. Schmidt-Aßmann, Rdnr. 278 f.; Lorenz, Der Rechtsschutz des Bürgers und die Rechtsweggarantie, 1973, S. 134 ff. 442 Vgl. BVerfGE 49, 89, 141; 51, 324, 346 f. 443 Vgl. Lorenz , S. 138 f. 444 Vgl. Schmidt-Aßmann, Rdnr. 279.

I. Gesetzesvorbehalt und Parlamentsvorbehalt

163

nach einem präventiv einsetzenden Rechtsschutz begründet werden kann. Wenn man sich dafür an dem Rang der geschützten Rechtsgüter orientiert, dann bleibt über die Fälle des Art. 13 Abs. 2 GG (Unverletzlichkeit der Wohnung) als die gleichsam klassische "Sphäre der privaten Lebengestaltung" hinaus kaum ein Zweifel an der Hochrangigkeit des regelmäßig durch heimliche polizeiliche Informationserhebungen betroffenen Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung. Das Bundesverfassungsgericht selbst hat dieses Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG entwickelt und es dadurch in einen unmittelbaren Zusammenhang mit der Würde der menschlichen Person gebracht. Das Grundrecht enthält "die aus dem Gedanken der Selbstbestimmung folgende Befugnis des Einzelnen grundsätzlich selbst zu entscheiden, wann und innerhalb welcher Grenzen persönliche Lebenssachverhalte offenbart werden" 4 4 5 . Es läßt sich auch leicht erkennen, daß durch die verdeckten Informationserhebungen der Polizei die gesamte Breite des Schutzbereichs dieses Grundrechts bis hinein in die engere "Sphäre der privaten Lebensgestaltung" betroffen sein kann. Andererseits lassen sich wegen des breiten Schutzbereichs dieses Grundrechts auch viele Informationseingriffe denken, bei denen der Wert des geschützten Rechtsguts vergleichsweise gering einzuschätzen ist, z.B. bei einer kurzfristigen Beobachtung offener sozialer Verhaltensweisen. Es liegt deshalb nahe, im Schutzbereich des Grundrechts den Rang der betroffenen Verhaltensweisen nach dem Ausmaß der Betroffenheit abzustufen und danach auch die Überlegungen zu dem verfassungsrechtlich notwendigen Rechtsschutz zu differenzieren 446 . Für intensive Informationseingriffe ergibt sich danach ein jeweils hoher Rang der geschützten Rechtsgüter. Für den Zeitpunkt des notwendigen Rechtsschutzes gegen verdeckte Informationseingriffe ist allerdings entscheidend, daß sie generell heimlich, also gezielt auf das Nichtwissen der Betroffenen hin durchgeführt werden. Für solche Informationserhebungen der Polizei kann deshalb festgestellt werden, daß die Gefahr einer tatsächlichen Rechtsverletzung nicht nur ebenso generell erhöht ist, sondern regelmäßig die tatsächliche Rechtsverletzung vollendet wird. Durch die längerfristige heimliche Beobachtung, durch systematische verdeckte Nachforschungen, durch Aufnahme des nicht-öffentlich gesprochenen Wortes tritt nicht nur eine (schlichte) Rechtsverletzung ein, die Rechtsverletzung ist bereits vollzogen, der angestrebte tatsächliche Erfolg des Informationseingriffs gegen den Geltungsanspruch der Grundrechtsnorm realisiert. Der Geltungsanspruch des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung, nämlich der Anspruch der Grundrechtsträger, von systematischer und heimli445 446

BVerfGE 65, 1,45. Vgl. dazu näher unten D Π 2.

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D. Verfassungsrechtliche Bedingungen

cher staatlicher Beobachtung verschont zu sein, wird durch die heimlichen Informationseingriffe regelmäßig auch tatsächlich vereitelt. Gegenüber den heimlich durchgeführten staatlichen Datenerhebungen kann deshalb generell der verfassungsrechtliche Standardschutz der nachträglichen Rechtskontrolle nicht mehr effektiv wirken. Nach den aufgeführten Einzelkriterien ergibt sich die Notwendigkeit präventiven Rechtsschutzes für die Betroffenen deshalb zusätzlich auch aus der Art der staatlichen Handlungen. Präventiver Rechtsschutz ist notwendig als Ersatz für den nicht mehr effektiv möglichen repressiven Rechtsschutz. Dieser Schlußfolgerung scheinen indessen die Überlegungen des Bundesverfassungsgerichts zu dem Zusammenhang von staatlichen Informationserhebungen und Rechtsschutzgarantie entgegenzustehen: "Art. 19 Abs. 4 GG garantiert nicht nur das formale Recht und die Möglichkeit, die Gerichte anzurufen, sondern auch die Effektivität des Rechtsschutzes; der Bürger hat einen substantiellen Anspruch auf eine tatsächlich wirksame gerichtliche Kontrolle (...). Würde das Volkszählungsgesetz 1983 demnach verhindern, daß der Bürger Kenntnis davon erlangen könnte, wer wo über welche seiner personenbezogenen Daten in welcher Weise und zu welchen Zwecken verfügt, so wäre sein Rechtsschutz verfassungsrechtlich unzureichend" 447 . Danach scheint das Bundesverfassungsgericht die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG im Zusammenhang mit staatlichen Informationserhebungen auf einen nachträglichen Auskunftsanspruch (und den daran angeschlossenen Rechten) sowie die nachträgliche gerichtliche Kontrolle beschränken zu wollen. So auch wird die Bedeutung der Rechtsschutzgarantie für heimliche Informationserhebungen der Polizei überwiegend interpretiert 448 . Demgegenüber ist aber zu bedenken, daß die verfassungsgerichtlichen Ausführungen nur im Hinblick auf die allein streitbefangene offene Erhebung von (zunächst) wenig brisanten Einzeldaten zu lesen sind und schon deshalb keine abschließende Stellungnahme für die Frage enthalten können, ob sich aus der verfassungsrechtlichen Rechtsschutzgarantie auch die Verpflichtung zur präventiven Kontrolle verdeckter Informationserhebungen der Polizei ergibt. Bei den offenen, an die Betroffenen adressierten Verpflichtungen zur Preisgabe personenbezogener Daten kann der repressive Rechtsschutz schon gegen die staatliche Anordnung in Anspruch genommen werden und in diesem Sinne effektive Wirkungen erzeugen. Diese Möglichkeit aber entfallt bei heimlichen Informationseingriffen. Es ist auch nicht überzeugend, aus der regelmäßigen Unkenntnis des Adressaten heimlicher Informationsmaßnahmen die Schlußfolgerung zu ziehen, daß dann 447

Ebenda, 70. So etwa von Kniesel, ZRP 1987, 377, 382, der deshalb eine eingeschränkte Auskunftspflicht befürwortet, präventiven Rechtsschutz gegen die Datenerhebung aber gar nicht in Betracht zieht. 448

I. Gesetzesvorbehalt und Parlamentsvorbehalt

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ein effektiver Rechtsschutz nach Art. 19 Abs. 4 GG sich zwangsläufig auf die nachträgliche Benachrichtigungspflicht gegenüber dem Betroffenen reduziere 4 4 9 . Übersehen wird, daß der nachträglich einsetzende Rechtsschutz nicht mehr effektiv sein kann, weil die tatsächliche Rechtsverletzung bereits vollendet ist, und allenfalls noch das Substrat des Informationseingriffs beseitigt werden könnte. Im Unterschied zur offenen Datenerhebung haben deshalb die Überlegungen zu einem effektiven Rechtsschutz bereits bei der Informationserhebung anzusetzen, allerdings auch in Rechnung zu stellen, daß die Betroffenen selbst in einem Rechtsschutzverfahren nicht beteiligt werden können. Eine vergleichende Überlegung kommt hinzu. Für die skizzierte Gefahrdungslage der betroffenen Grundrechte durch verdeckte Ermittlungen besteht ein verfassungsrechtlich fixiertes Vorbild in Art. 10 Abs. 2 GG. Danach können gesetzliche Beschränkungen des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses dann, wenn sie zum Schutz der freiheitlich demokratischen Grundordnung oder anderer Schutzgüter ergehen, bestimmen, daß sie dem Betroffenen nicht mitgeteilt werden und daß an die Stelle des Rechtsweges die Nachprüfung durch von der Volksvertretung bestellte Organe und Hilfsorgane tritt. Die Verfassung selbst regelt danach einen Parallelfall heimlicher Informationserhebungen und läßt nur ausnahmsweise die präventive Kontrolle von Überwachungsmaßnahmen statt durch ein Gericht auch durch Organe und Hilfsorgane der Volksvertretung zu. Diese Ermächtigung zum Austausch der Kontrollinstitutionen ist nur deshalb verfassungsgemäß, weil die der Kommission nach Art. 1 § 9 G10 eingeräumten Entscheidungskompetenzen dem eines Gerichts gleichwertig und präventiv wahrzunehmen sind. Die wesentlichen Voraussetzungen für eine mindestens äquivalente und präventive Rechtskontrolle sind: Richterliche Unabhängigkeit, verbindliche Entscheidungskompetenz über die Anordnung von Überwachungsmaßnahmen und für die Mitteilung an Betroffene, notwendige Sach- und Rechtskunde, Weisungsfreiheit, feste Berufung der Mitglieder auf bestimmte Zeit, laufende und effektive Kontrolle aller anderen mit Überwachungsmaßnahmen befaßten Organe 4 5 0 . Auch aus dieser Parallelregelung ist erkennbar, daß die präventive Kontrolle verdeckter Informationserhebungen verfassungsrechtlich geboten ist. Freilich darf diese Parallele auch nicht überzogen werden. Die verfassungsgerichtlichen Darlegungen zur Verfassungsmäßigkeit der Beschränkungsmöglichkeiten nach Art. 10 Abs. 2 GG sind auch deshalb so deutlich ausgefallen, weil darin zugleich die gesetzgeberische Möglichkeit eröffnet wurde, daß die Beschränkungen dem Betroffenen nicht mitgeteilt und der sonst nach Art. 19 449 450

So aber z.B. ders., ebenda. Vgl. BVerfGE 30, 1, 23 f.

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D. Verfassungsrechtliche Bedingungen

Abs. 4 GG garantierte Rechtsweg ausgeschlossen werden. Wenn aber jeglicher Rechtsweg ausgeschlossen wird, dann muß die alternative Kontrolle zwangsläufig präventiv sein, weil andernfalls überhaupt keine Rechtskontrolle gegen die Anordnung und den Vollzug der Überwachungsmaßnahmen stattfindet. Anders liegt es bei den neuen Regelungen für verdeckte Informationserhebungen der Polizei. Dort ist der Rechtsweg auch gegen die Anordnung und den Vollzug von Überwachungsmaßnahmen nicht grundsätzlich ausgeschlossen, der Verdacht oder die Kenntnis faktischer Überwachungsmaßnahmen würde die verwaltungsgerichtliche Kontrolle ermöglichen. Nur wird die Kenntnis von Überwachungsmaßnahmen regelmäßig nicht bestehen und deswegen gerichtlicher Rechtsschutz faktisch nicht ergriffen werden können. Insoweit behält die Parallele ihre Bedeutung. Anordnung und Vollzug von Überwachungsmaßnahmen nach dem neuen Polizeirecht können regelmäßig nicht durch prinzipiell offenstehende Rechtsschutzmöglichkeiten von Betroffenen kontrolliert werden, weil ebenso regelmäßig die Betroffenen keine Kenntnis der Überwachungsmaßnahmen besitzen. Die grundrechtliche Gefahrdungslage besteht aber in dem gleichen Umfang wie nach Art. 1 § 2 Abs. 1 G10. Und in demselben Umfang muß daher auch der Rechtsschutz effektiviert, also präventiv ausgestaltet werden. Danach scheint alles auf die Notwendigkeit einer vorausgehenden richterlichen Kontrolle von Überwachungsmaßnahmen nach dem neuen Polizeirecht hinauszulaufen. Aus der Parallelüberlegung zu den Grundrechtsbeschränkungen aus G10 ergibt sich diese Schlußfolgerung aber gerade nicht. Nur dann, wenn eine gerichtliche Kontrolle von Überwachungsmaßnahmen gesetzlich ausgeschlossen wird, hat mindestens gerichtsäquivalente Kontrolle stattzufinden. Im übrigen aber ist nur überhaupt die verfassungsrechtliche Notwendigkeit präventiven Rechtsschutzes begründet. Wie diese präventive Kontrolle auszugestalten ist, bleibt hingegen dem Gesetzgeber überlassen - und dafür nun liefern die Überlegungen zum Grundrechtsschutz durch Verfahren wesentliche Gesichtspunkte. Die präventive Kontrolle kann auch durch effektive Regelungen zur Organisation und zum Verfahren der Entscheidung über Anordnung und Vollzug heimlicher Informationserhebungen der Polizei hergestellt werden. Die richterliche Lösung ist verfassungsrechtlich nicht zwingend, der Grundrechtsschutz muß nur effektiv gewährleistet werden 4 5 1 . Die danach erforderlichen Regelungen über die Organisation und das Verfahren haben sich an den Eigenarten des Regelungsbereichs zu orientieren und die geeigneten Effekte für den Grundrechtsschutz bereitzustellen. Im 451

Ähnlich zu dem Vorschlag, im atomrechtlichen Genehmigungsverfahren eine präventive Gerichtskontrolle einzurichten, Pietzcker, VVDStRL 1982, 193, 207.

II.Wesentliche Regelungsaufgaben des Gesetzgebers

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einzelnen besteht ein rechtspolitischer Gestaltungsspielraum, der seine Grenze aber in dem Grundsatz findet, daß nach Eigenart und Intensität der Grundrechtseingriffe deren Kontrolle effektiv und das heißt hier: präventiv ausgestaltet sein muß.

IL Die wesentlichen Regelungsaufgaben des Gesetzgebers Nach den bisherigen Überlegungen steht die verfassungsrechtliche Notwendigkeit fest, daß gegen verdeckte Informationserhebungen der Polizei präventiver Rechtsschutz zur Verfugung zu stellen ist. Dadurch sind jedoch die wesentlichen Probleme des effektiven Grundrechtsschutzes noch keineswegs gelöst. Namentlich ist bislang noch nicht weiter aufgeklärt, welche Festlegungen als so wesentlich angesehen werden müssen, daß sie in der gesetzlichen Regelung zu treffen sind (1). Anschließend ist zu untersuchen, ob und inwieweit sich ein verfassungsrechtlicher Bedarf ergibt, durch die gesetzliche Fixierung geeigneter verfahrensrechtlicher Regelungen den gebotenen Grundrechtsschutz von Betroffenen gegen verdeckte Informationserhebungen der Polizei zu gewährleisten (2).

1. Materielle Regelungsaufgaben Aus der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Gesetzesvorbehalt folgt die generelle Verpflichtung des Gesetzgebers, in die gesetzliche Fassung von Eingriffstatbeständen das "Wesentliche" eines Regelungsbereiches aufzunehmen, um dadurch den Direktionswert der Ermächtigung für das Verwaltungshandeln herzustellen. Diese Verpflichtung betrifft zunächst die Definition der materiellen Voraussetzungen für den Verwaltungseingriff. Es hatte sich schon gezeigt, daß aus dieser Forderung einstweilen nur ein vager Anhaltspunkt für den notwendigen Inhalt von Gesetzen entwickelt werden kann, weil sie als solche bemerkenswert unpräzise ist und infolgedessen noch keine direkt vollziehbaren Kriterien für das Wesentliche mitgeliefert werden. Es ist deshalb hier aufzuklären, wie sich präzisere Aussagen zu den wesentlichen Regelungsaufgaben des Gesetzgebers in materieller Hinsicht treffen lassen. Eine grundrechtlich besonders empfindsame Haltung läßt leicht den Eindruck entstehen, daß die verdeckten polizeilichen Informationserhebungen mit der Wahl rechtlich schwach strukturierter Eingriffsvoraussetzungen nur in besonders begründeten Ausnahmefallen zulässig sein könnten. Denn wenn weder eine polizeirechtliche Gefahr noch ein Straftatverdacht vorliegen muß, wie könnte es dann gerechtfertigt werden, das öffentliche oder nichtöffentliche

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D. Verfassungsrechtliche Bedingungen

Auftreten von Personen optisch und akustisch zu fixieren, V-Personen zur Weitergabe von privaten Informationen über andere zu bewegen oder gar verdeckte Ermittler einzusetzen, deren Aufgabe darin besteht, möglichst viele, darunter auch sehr private Informationen zusammenzutragen, um zuverlässige Unterscheidungen treffen zu können? Dürfen die Grenzen von Gefahr und Tatverdacht überhaupt für den Zweck vorbeugender Informationserhebungen zur späteren Kriminalitätsbekämpfung unterlaufen werden? Bestehen nicht gerade darin rechtsstaatliche Barrieren, die aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht überwunden werden dürfen? Werden nicht sogar unverdächtige Personen zu bloßen Objekten überschießender staatlicher Informationsbedürfnisse gemacht? Hoffnungen auf eine sehr weitgehende Begrenzung verdeckter polizeilicher Informationserhebungen ohne Gefahr und Tatverdacht werden auf die Wesensgehaltsgarantie für Grundrechte aus Art. 19 Abs. 2 GG, aus der Menschenwürdegarantie nach Art. 1 Abs. 1 GG und der (jetzt älteren) Sphärentheorie nach Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG gesetzt 452 . Der Blick auf die bisherige Rechtsprechung und Literatur zeigt aber, daß sich daraus unmittelbar keine zwingenden verfassungsrechtlichen Forderungen für das Verbot bestimmter Informationseingriffe durch die gesetzliche Regelung ermitteln lassen. Ob ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet wird, entscheidet sich ohnehin erst auf der Ebene des Einzelfalls für jedes einzelne Grundrecht gesondert 453 . Bis auf einige sehr handgreifliche Beispiele 454 gilt das auch für den Menschenwürdegrundsatz aus Art. 1 Abs. 1 GG. Auch die sogenannte Sphärentheorie, mit der bislang das Bundesverfassungsgericht dem Schutz von personenbezogenen Informationen strukturelle Unterscheidungsmöglichkeiten zu geben versucht hatte 4 5 5 , enthält im Grundsatz nur eine Tendenzaussage: Je stärker der private Charakter der Information ist, umso bedeutender und nachhaltiger muß das öffentliche Interesse an der Information zur Rechtfertigung ihrer Erhebung und Verwendung sein 4 5 6 . Danach kann das Fotografieren von Teilnehmern einer öffentlichen Versammlung durch die 452

So bei Wolter, 137 ff. mit Einzelvorschlägen zu materiellen Grenzen für verdeckte Informationserhebungen. 453 Vgl. dazu nur Schneider, Der Schutz des Wesensgehalts von Grundrechten nach Art. 19 Abs. 2 GG, 1983, insbes. S. 189 ff. m.w.N. 454 Sklaverei, Leibeigenschaft und z.B. die Anwendung eines Lügendetektors, vgl. BVerfG, NJW 1982, 375 (dort aber gemeinsam mit Art. 2 Abs. 1 GG begründet). 455 Vgl. dazu und zur Ablösung der Sphäreneinteilung durch das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung Podlech, Die Begrenzung staatlicher Informationsverarbeitung durch die Verfassung angesichts der Möglichkeit unbegrenzter Informationsverarbeitung mittels der Technik, Leviathan 1984, 85 ff. 456 Vgl. nur BVerfGE 35, 202 - Lebach -. Aus der zivilrechtlichen Judikatur vgl. BGHZ2, 73, 128.

II. Wesentliche Regelungsaufgaben des Gesetzgebers

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Polizei gerechtfertigt sein 4 5 7 , hingegen die Aufnahme von "Raumgesprächen" im Rahmen einer Telefonüberwachung nach § 100a StPO nicht 4 5 8 . Der grundsätzlich garantierte Schutz gegen heimliche Tonbandaufnahmen und deren schriftliche Veröffentlichung 459 oder sonstige Verwertung kann zurücktreten, wenn in Fällen schwerer Kriminalität zur Feststellung der Identität von Straftätern oder zur Entlastung Beschuldigter auf solche Aufnahmen Dritter zurückgegriffen werden m u ß 4 6 0 . Obgleich die Veröffentlichung von Abbildungen eines Straftäters oder Tatverdächtigen im Fernsehen die Privatsphäre ber ü h r t 4 6 1 , kann doch die Veröffentlichung von Bildern verdächtiger Personen dann gerechtfertigt sein, wenn bei einer schwerwiegenden Straftat das öffentliche Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung gegenüber den schutzwürdigen Belangen des Betroffenen überwiegt 462 . Viele weitere Beispiele für Abwägungen, die je nach der Lage des Einzelfalls und des betroffenen Grundrechts so oder auch anders ausfallen, könnten aufgeführt werden. Die allgemeine Schlußfolgerung ist, daß über einen ganz eng begrenzten Bereich von "Intimsphäre" hinaus absolut wirkende Eingriffsverbote des Staates nicht erkannt werden können. Vielmehr entscheidet sich die Frage, ob ein staatlicher Informationseingrifif verfassungsrechtlich zulässig ist, erst in der Abwägung aller Belange auf der Ebene des Einzelfalls. Hierin nun liegt das grundsätzliche Dilemma fur die gesetzgeberischen Regelungsaufgaben zu den kriminalpräventiven polizeilichen Informationserhebungen in verdeckter Form. Wenn sich die Verhältnismäßigkeit staatlicher Informationseingriffe in großem Umfang erst auf der Ebene von Einzelfallen entscheidet, der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz aber gerade auf dieser Entscheidungsebene an Leistungskraft drastisch verloren hat, wie kann dann bereits auf der Ebene des Gesetzes ein verfassungsrechtlich zwingender Schluß auf unantastbare Kernbereiche gezogen werden? Und wie kann auf der Gesetzesebene der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz dann noch ausreichende, d.h. fur das Verwaltungshandeln verbindliche Wirkung entfalten? Die möglichen Antworten darauf fuhren zunächst zurück zu der Frage nach den wesentlichen Problemlagen, die in der gesetzlichen Fassung von Eingriffstatbeständen geregelt werden müssen. Die Übernahme der wesentlichen Regelungsaufgaben durch den Gesetzgeber ist aus der Verpflichtung begründet, die exekutive Umsetzung der gesetzlichen Vorgaben in dem möglichen Umfang zu determinieren, also auch zu begrenzen. Wenn nun nach der Eigenart der 457

Vgl. BGH JZ 1976,31 f. Vgl. BGHSt 31,296 ff. 459 Vgl. BGHZ 73, 123 ff. 460 V g l BVerfGE 34, 249. 458

461 462

Vgl. nochmals BVerfGE 35,202,219. Vgl. OLG Hamm, NStZ 1982, 82.

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D. Verfassungsrechtliche Bedingungen

vorgeschlagenen Vorsorgeregelungen die verhältnismäßige Einzelfallkontrolle schwach strukturiert und deshalb gerade dort nicht in einem ausreichenden Maße gewährleistet werden kann, dann ergibt sich als wesentliche materielle Regelungsaufgabe des Gesetzgebers, die wesentlichen Verhältnismäßigkeitserwägungen im Gesetz selbst festzulegen. Der Gesetzgeber muß mit anderen Worten dem Vorbehalt des verhältnismäßigen Gesetzes für wesentliche Problemlagen Genüge t u n 4 6 3 . Mit dieser mittleren Konkretisierung wesentlicher Regelungsaufgaben des Gesetzgebers ist zunächst wiederum nur ein genereller Beurteilungsmaßstab gewonnen. Es bleibt weiterhin aufzuhellen, worin genau die Ausgangslage besteht, für die durch verhältnismäßige Erwägungen des Gesetzgebers eine angemessene Regelung geschaffen werden muß. In ihrer allgemeinsten Beschreibung besteht die Ausgangslage darin, daß durch die gesetzgeberischen Entscheidungen zur Zulässigkeit verdeckter Informationserhebungen bei rechtlich schwach strukturierten Eingriffsvoraussetzungen zum Zweck der Kriminalvorsorge ein hohes Gefahrdungspotential für die Grundrechtsausübung von Betroffenen geschaffen wird. Die Aufgabe vorbeugender Verbrechensbekämpfung mit grundrechtsintensiven Eingriffsmöglichkeiten muß deshalb abgewogen werden mit den grundrechtlich geschützten Belangen der Betroffenen. Schon daraus läßt sich erkennen, daß es sich jeweils um Ausgleichsentscheidungen mit großer grundrechtlicher Reichweite handelt - und das ist der Grund, weshalb die Abwägungen auf der Ebene des Gesetzes in dem wesentlichen Umfang erscheinen müssen. Die Ausgangsfrage ist: was kann in Ansehung der Aufgabe kriminalpräventiver Erhebung von personenbezogenen Daten den Grundrechten an Gefährdungen und Eingriffen zugemutet werden? Die Antwort auf diese Frage ergibt den Kern der kriminalpolitischen Grundsatzentscheidungen, die in die Form eines Gesetzes zu bringen sind. Zur Präzisierung dieser Aufgabenstellung trägt eine weitere Überlegung bei. Die Grundrechte müssen auf der Vermittlungsebene des Gesetzes mit einer prinzipiell anerkannten staatlichen Aufgabenstellung in den Wettbewerb treten, nämlich mit der aus einer globalen staatlichen Schutzpflicht folgenden Aufgabe, das strafrechtlich definierte Unrecht effektiv zu unterdrücken. Diese staatliche Aufgabenstellung hat ihren Ausdruck und ihre Anerkennung in dem Topos "Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege" 464 gefunden. Damit ist jedoch nicht ausgedrückt, daß beide Seiten des Abwägungsmaterials, Grundrechte wie Staatsaufgabe, gleichrangig konkurrieren. Die Funktion von Grund463 Zu dem Vorbehalt des verhältnismäßigen Gesetzes vgl. Schlink, Freiheit durch Eingriffsabwehr - Rekonstruktion der klassischen Grundrechtsfunktion, EuGRZ 1984, 457, 459 ff. 464 Vgl. dazu Hassemer, StrafV 1982, 275 ff. mit Nachweisen aus Rechtsprechung und Literatur.

II.Wesentliche Regelungsaufgaben des Gesetzgebers

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rechten als Eingriffsabwehrrechte besteht darin, ungerechtfertigte, also auch übermäßige staatliche Handlungen zu verhindern, die Grundrechte markieren Grenzlinien für Staatseingriffe. Diese Grundposition von Grundrechten kann auch durch eine verfassungsrechtlich besonders prominent angesiedelte oder dazu stilisierte Aufgabe des Staates nicht grundsätzlich verrückt werden. Mit allen anderen Staatsaufgaben findet auch die Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege in den Grundrechten ihre Grenze. Das gilt auch dann, wenn man aus einem "Grundrecht auf Sicherheit" 465 die globale Staatsaufgabe "Informationsvorsorge" hochrechnet und ihr eine existentielle Auszeichnung verleihen w i l l 4 6 6 . Auch dann nämlich ergibt sich kein veifassungsrechtlicher Höchstwert an Aufgabenstellung und -erfüllung, auch dann handelt es sich nur um eine von mehreren Staatsaufgaben, deren verfassungsgemäße Wahrnehmung sich erst aus der Konfrontation mit den betroffenen Grundrechten ergeben kann. Bei der gesetzgeberischen Vermittlung von staatlicher Aufgabenstellung und Schutz der betroffenen Grundrechte besteht eine prinzipiell ungleiche Wettbewerbslage: Die Grundrechte besitzen ein strukturelles Übergewicht, weil sie Maßstäbe setzen, an denen sich die Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen Regelungen zur staatlichen Aufgabenerfüllung beweisen muß. Dieses Ungleichgewicht der Rechtfertigungslasten ist der Kern des rechtsstaatlichen Verteilungsprinzips 467 . Mit dieser Grundsatzüberlegung ist aber noch immer nicht geklärt, wie der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auf der Ebene von Gesetzen als Maßstab für die Regelung Verwendung finden kann. Vorerst hat sich nur herausgestellt, daß Verhältnismäßigkeit und Wesentlichkeit in einem Punkt zusammenlaufen: In der gesetzlichen Regelung muß nach den unterscheidungsfähigen Intensitäten der Grundrechtsgefährdung durch verdeckte Informationserhebungen differenziert werden. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in seiner Anwendung auf der Ebene des Gesetzes wirkt dann als ein zwar immer noch vages, aber doch erkennbares Begrenzungsprinzip. Was daraus für den Umkreis der notwendigen gesetzlichen Festlegungen zur Zulässigkeit und zum Umfang verdeckter Informationserhebungen durch die Polizei folgt, ist generell nur in einer Hinsicht bestimmt. Die Polizei soll ermächtigt werden zur Erhebung personenbezogener Daten von Individuen, von denen noch nicht feststeht, ob sie künftig Straftaten begehen werden. Es soll nur Informationsvorsorge für 465

Vgl. dazu Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit. Zu den Schutzpflichten des freiheitlichen Verfassungsstaates, 1983. Differenzierend dazu Klein, Grundrechtliche Schutzpflicht des Staates, NJW 1989, 1633 ff. und Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, 1987, S. 186 ff. 466 So Scholz/Pitschas, Informationelle Selbstbestimmung und staatliche Informationsverantwortung, 1984, S. 104 ff., 198. 467 Begriffsprägung von C. Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 126.

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D. Verfassungsrechtliche Bedingungen

den Fall getroffen werden, daß bislang unverdächtige Personen später und durch Auswertung der gewonnenen Erkenntnisse der Begehung von Straftaten verdächtig werden. Dafür müssen zwangsläufig bloße Anhaltspunkte für den Verdacht ausreichen, daß jemand in der Zukunft Straftaten begehen könnte. Die darin liegende Überschreitung der Grenzen von Gefahr und Tatverdacht auf das Risiko und die Vorsorge legt die Vermutung nahe, daß neben der allgemeinen Begrenzungsfunktion des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zusätzlich schärfere Anforderungen an den gesetzlichen Verhältnisausgleich erforderlich sind. Bestärkt wird dieser Verdacht durch die dargestellten Anwendungsschwächen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes auf der Ebene von Einzelfallen. Wie aber läßt sich feststellen, wann eine gesetzliche Regelung geeignet, erforderlich und zumutbar ist? Für das Merkmal der Eignung läßt sich diese Frage noch hinreichend deutlich beantworten. Wenn der Zweck der Informationserhebungen darin liegt, vorbeugend Informationen zu erhalten, die später in einem Strafverfahren Verwendung finden können, dann kann nahezu jede Information geeignete Hinweise auf die Einschätzung der Persönlichkeit des Betroffenen und seiner Handlungsweisen geben. Dann sind gerade verdeckte Informationserhebungen geeignet, weil nur diese eine ausreichende Sicherheit gegen die subjektive Fälschungsabsicht des Individuums bieten. Deutlich schwieriger wird es, wenn zu entscheiden ist, welche gesetzlichen Regelungen dem Anspruch der Erforderlichkeit genügen. Reicht es dafür nicht bereits aus, einen speziellen Erforderlichkeitsgrundsatz im Gesetz selbst niederzulegen? Das ist aber in den hier diskutierten Regelungen geschehen und verspricht gleichwohl keine ausreichende Anwendungssicherheit. Die nüchterne Betrachtung dieses Grundsatzdilemmas läuft auf die Feststellung zu, daß von dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz insgesamt nicht mehr als ein Gebot der Differenzierung auf der Ebene des Gesetzes zu erwarten ist. Immerhin läßt sich daraus die verfassungsrechtlich begründete Verpflichtung des Gesetzgebers feststellen, die wesentlichen Verhältnismäßigkeitsabwägungen bereits in den gesetzlichen Regelungen niederzulegen. Wenn der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als Mittel der Grenzziehung zwischen Grundrechten und Staatsaufgabe wirken soll und muß, dann kann nicht jede verdeckte Informationserhebung gegen jedermann mit jedem Mittel zu jedem konkreten Zweck in gleicher Weise zulässig sein. Daraus ergibt sich die verfassungsrechtliche Mindestpflicht des Gesetzgebers, daß sich aus dem Gesetz selbst erkennen lassen muß, daß überhaupt eine Abwägung und verhältnismäßige Zuordnung zwischen den jeweils betroffenen Interessen, dem staatlichen Vorsorgezweck einerseits und den betroffenen Grundrechten andererseits stattgefunden hat. Es besteht also ein Gebot ausreichender gesetzlicher Differenzierung. Mit dieser Konkretisierung wesentlicher Regelungsaufgaben lassen sich für den Bereich verdeckter

II.Wesentliche Regelungsaufgaben des Gesetzgebers

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Informationserhebungen der Polizei vier Regelungsaufgaben bezeichnen, zu denen ausreichende Verhältnismäßigkeitsabwägungen auf der Ebene des Gesetzes stattzufinden haben. Die gesetzliche Regelung hat zunächst den Umfang der Straftaten, für die verdeckte Informationserhebungen zur vorbeugenden Verbrechensbekämpfung zulässig sein sollen, hinreichend deutlich zu bestimmen (1); sie muß darüber hinaus eine differenzierende Regelung für unterschiedliche Eingriffsintensitäten erkennen lassen (2); außerdem muß der Umfang der Daten, die verdeckt erhoben werden dürfen, konkretisiert und differenziert werden (3); die Regelung muß schließlich die möglichen Definitionen von Tatbestandsmerkmalen enthalten (4).

( 1 ) Umfang der vorbeugenden Verbrechensbekämpfung Wenn bereits in der gesetzlichen Regelung selbst die wesentlichen kriminalpolitischen Entscheidungen in verhältnismäßiger Form getroffen werden müssen, dann muß aus der gesetzlichen Regelung erkennbar sein, für welche Bereiche der prinzipiell polizeilichen Vorsorgeinteressen verdeckte Ermittlungen und die korrespondierenden Grundrechtseingriffe statthaft sein sollen. Es liegt deshalb nahe, daß in der gesetzlichen Regelung festgelegt werden muß, für welche Straftatbestände die kriminalpräventive Informationserhebung erlaubt sein soll. M i t dem Vorbehalt des verhältnismäßigen Gesetzes erscheint es unvereinbar, wenn die verdeckte Informationserhebung ohne die Beschränkung auf bestimmte Straftatbestände ermöglicht wird. Die Verhältnismäßigkeit der gesetzgeberischen Zuordnung meint, daß zwischen den kollidierenden Interessen überhaupt eine Abwägung stattfindet. Nur auf diese Weise kann das verfassungsrechtliche Gebot erfüllt werden, daß die auf der Ebene des Einzelfalls erheblich verminderte Kontrollwirkung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes durch gesetzgeberische Entscheidungen materiell in einem Mindestmaß kompensiert wird. Außerdem ist zu bedenken, daß Informationen bei Personen erhoben werden sollen, die erst künftig und nur möglicherweise Straftaten begehen werden. Grundsätzlich hat man deshalb davon auszugehen, daß Gefahrdungen eines hochrangigen Rechtsguts zu befürchten sein müssen 468 und deshalb verdeckte Informationserhebungen nur für solche Personen in Betracht kommen, die mit Formen schwerer Kriminalität in einen Zusammenhang gebracht werden können. Verfassungsrechtlich ist deshalb gefordert, daß die verdeckte Informationserhebung nicht unterschiedslos für alle Straftaten erlaubt sein kann. Anderenfalls wäre die gebotene gesetzgeberische Abwägung nicht feststellbar 468

Vgl. dazu Grimm, KritV 1986, 38 ff., 51.

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und wäre deshalb das Gebot einer erkennbaren verhältnismäßigen Zuordnung kollidierender Rechtsgüter verletzt. Unzulässig ist deshalb die Regelung in § 8a Abs. 2 Nr. 1 VE M E PolG (B-Vorschlag), wonach i.V.m. § 8 Abs. 4 VE M E PolG die verdeckte Informationserhebung für alle Straftaten (als schlichte verdeckte Datenerhebung) vorgesehen i s t 4 6 9 . Gegen das Gebot einer aus dem Gesetz erkennbaren Abwägung verstoßen auch diejenigen Regelungsvorschläge, die allein auf "Straftaten mit erheblicher Bedeutung" abstellen 470 . Ungeklärt bleibt in diesen Formulierungen, unter welchen der vielen denkbaren Gesichtspunkte die Erheblichkeit von Straftaten beurteilt werden soll. Dadurch entledigt sich der Gesetzgeber gerade der geforderten kriminalpolitischen Grundsatzentscheidung. Die Verpflichtung zu den wesentlichen Regelungen durch Gesetz will gerade verhindern, daß der Verwaltung eine eigenständige kriminalpolitische Definitionsmacht auch dort zufließt, wo sie vermeidbar wäre. Gleiches gilt auch für diejenige tatbestandsmäßige Formulierung, in der auf "Straftaten von erheblicher Bedeutung" abgestellt und eine beispielhafte, aber nicht abschließende Aufzählung von Straftaten hinzugefügt w i r d 4 7 1 . In dieser Regelung wird offengelassen, unter welchen Voraussetzungen über die namentlich benannten Straftatbestände hinaus gleichartige "Straftaten von erheblicher Bedeutung" von der Polizeibehörde angenommen werden dürfen. Dadurch wird der Anwendungsbereich der Regelung wiederum geöffnet und zur kriminalpolitischen Entscheidung der Verwaltung gestellt. Ein verfassungsrechtlich richtiger Ausgangspunkt wird in §8a Abs. 2 Nr. 1 VE M E PolG (A-Vorschlag) gewählt. In dieser Vorschrift wird ein abschließender Katalog von Straftaten aufgeführt. Bedenken erregt allerdings der Umstand, daß sich darin auch viele Straftatbestände befinden, denen kaum der geforderte Schutzzweck für hochrangige Rechtsgüter beigemessen werden kann, z.B. die nichtqualifizierte Hehlerei nach § 260 StGB. Der Begrenzungseffekt des Straftatenkatalogs ist außerdem teilweise wieder aufgehoben für eine Reihe namentlich aufgezählter Straftaten, wenn "diese Straftaten in erheblichem Umfang begangen werden". Die verfassungsrechtlich begründete Forderung nach einem präzisen Strafiatenkatalog ist aus nachvollziehbaren Gründen nicht unumstritten. Gerügt wird 469

Ohne Begrenzung auf bestimmte, katalogartig gefaßte Straftaten erlaubt auch §26 Abs. 2 Nr. 1 SaarPolG die verdeckte Informationserhebung. Eine Sonderregelung enthält § 28 Abs. 1 Nr. 2 BremPolG, wo sich zwar ein Straftatenkatalog findet, eine Beschränkung auf bestimmte Straftaten aber dann entfallt, wenn die Informationen aus Strafermittlungsakten gewonnen werden. 470 So das in Brandenburg fortgeltende "Gesetz über die Aufgaben und Befugnisse der Polizei" vom 13.9.1990 (GBl I, 1489), §§ 35^0. 471 So in § 8a Abs. 3 PolG NW.

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die zweifelhafte Anwendungssicherheit einer dann hoch differenzierten Vorschrift 4 7 2 . Stattdessen wird vorgeschlagen, die Erhebungsbefugnisse auf die "Sicherheit des Bundes oder eines Landes", "Leib, Leben, Freiheit von Personen sowie erhebliche Vermögenswerte" festzulegen 473 . Durch eine solche Formulierung ließe sich voraussichtlich zwar die praktische Anwendungssicherheit steigern, weil dann die ohnehin schwierige Prognose auf die künftige Begehung bestimmter Straftatbestände entbehrlich würde. Aber auch die abstrakte Beschreibung bestimmter Rechtsgüter, zu deren Schutz die Informationserhebung zulässig sein soll, steigert die Anwendungssicherheit nur graduell. Der Grund dafür liegt in der Formulierung schwacher Eingriffsvoraussetzungen, die in beiden Fällen die immer unsichere Prognose auf künftig erst noch zu begehende Straftaten erforderlich macht. Zwischen dem Vorschlag einer abstrakten Beschreibung bestimmter Rechtsgüter und dem eng gefaßter Straftatenkataloge besteht ein rechtspolitischer Regelungsspielraum, weil in beiden Fällen eine gesetzgeberische Abwägung stattgefunden hat. Diese Bewertung steht jedoch unter der Bedingung, daß durch Regelungen zur Organisation und zum Verfahren der Verwaltungsentscheidungen in dem möglichen Umfang sichergestellt ist, daß diese Entscheidungen in jedem Einzelfall ausreichend verantwortet s i n d 4 7 4 .

(2) Abstufung von Eingriffsintensitäten Aus dem Differenzierungsgebot des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ist bereits die Verpflichtung des Gesetzgebers begründet worden, den Umfang verdeckter Informationserhebungen nach den erkennbaren Unterschieden in der Intensität der möglichen Grundrechtseingrifife abzustufen. Ganz allgemein bezeichnet die Eingriffsintensität staatlicher Maßnahmen das Ausmaß der Inanspruchnahme grundrechtlich geschützter Entfaltungschancen von Betroffenen. Eine nähere Beschreibung ist etwa nach der Zahl von Grundrechtseinschränkungen, ihrer zeitlichen Dauer und dem denkbaren Einfluß von Betroffenen auf die Erfüllung von rechtsbegründenden Voraussetzungen möglich 4 7 5 . Die Regel lautet, daß die gesetzgeberischen Abwägungen umso deutlicher ausfallen müssen, je schwerer die Grundrechtsbeeinträchtigung wiegt 4 7 6 . Auch 472 Vgl. Kniesel/Vahle, DÖV 1987, 953, 957, die die Effizienz der Polizeiarbeit durch einen Straftatenkatalog gefährdet oder doch die Gefahr "nachgeschobener konstruierter Begründungen" sehen. 473 So Kowalczyk, S. 119. 474 ygj dazu sogleich unten D Π 2. 475

Vgl. dazu Laubinger, VerwArchi 1983, 60 ff., 76. Das verfassungsrechtlich prominente Vorbild ist die Rechtsprechung des BVerfG zur Berufsfreiheit in Art. 12 GG. Dort wird das Ausmaß der gesetzlichen Regelungs476

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wenn sich mit diesen Erwägungen eine hinreichend präzise Skala von Intensitäten nicht ermitteln l ä ß t 4 7 7 , liefert der Grundsatz selbst doch eine ausreichende Folie für generelle Unterscheidungen. Mehr als diese typisierenden Differenzen können auf der Gesetzesebene ohnehin nicht erwartet oder verlangt, diese aber müssen getroffen werden. Dieser Differenzierungspflicht wird nur dann Genüge getan, wenn die spezifischen Gefährdungen durch spezifische Handlungen wiederum erkennbar mit der staatlichen Aufgabenstellung abgewogen werden. Dazu gehört, daß nach unterschiedlichen Gefährdungslagen differenziert wird und danach die Eingriffsbefugnisse begrenzt werden. Diese Maxime liegt im Grundsatz auch den Regelungen des VE M E PolG zugrunde, wo zwischen der schlichten Datenerhebung in § 8a, der Datenerhebung bei öffentlichen Veranstaltungen, Ansammlungen und Versammlungen in § 8b und den besonderen Formen der Datenerhebung in § 8c (dort mit weiterer Differenzierung für die Datenerhebung in und aus Wohnungen, § 8c Abs. 3) und schließlich der Polizeilichen Beobachtung in § 8d unterschieden wird. Bedenken begegnet allerdings die Regelung in § 8b Abs. 1 Satz 2 VE M E PolG. In dem B-Vorschlag werden die zur Gefahrenabwehr bei öffentlichen Veranstaltungen und Ansammlungen erhobenen Daten von der Vernichtungspflicht ausgenommen, soweit sie im Einzelfall zur vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten mit erheblicher Bedeutung erforderlich sind. Hier ist eine Abwägung überhaupt nicht erkennbar, die Regelung ist unzulässig. Demgegenüber wird in dem A-Vorschlag für die Datenerhebung bei öffentlichen Veranstaltungen und Ansammlungen auf den Strafiatenkatalog des § 8a verwiesen. Bedenklich ist auch die Regelung in § 8d Abs. 2 VE M E PolG, wo die Datenerhebung bei oder im Zusammenhang mit öffentlichen Versammlungen im Sinne des Versammlungsgesetzes geregelt wird. Nach dem B-Vorschlag sollen bereits tatsächliche Anhaltspunkte auf erhebliche Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung die Datenerhebung rechtfertigen, nach dem A-Vorschlag tatsächliche Anhaltspunkte, daß bei oder im Zusammenhang mit der Versammlung Straftaten begangen werden. Ist die Qualifizierung nicht eingetreten, sollen nach beiden Vorschlägen die Unterlagen nach Beendigung der Versammlung unverzüglich vernichtet werden. Auch hier ist wegen der

möglichkeit danach differenziert, ob mit der gesetzlichen Regelung objektive Zulassungsschranken oder bloße Ausübungsregeln bezweckt werden; vgl. BVerfGE 7, 377 ff. - Apothekenurteil. 477 Vgl. dazu Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, 1976, S. 50 ff ; Lincke, EuGRZ 1986, 60 ff. trifft genauere Feststellungen für die Verwendung des Intensitätsmerkmals bei dem Umfang der verfassungsgerichtlichen Überprüfung zivilgerichtlicher Entscheidungen.

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Hochrangigkeit des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit 478 für die verdeckte Erhebung eine Differenzierung nach Straftaten erforderlich. In erhöhtem Maße sind die "besonderen Formen der Datenerhebung" der gesetzgeberischen Vorentscheidung bedürftig. Dort wird zwar der Einsatz der besonderen Mittel zur vorbeugenden Verbrechensbekämpfung zunächst von einem Strafiatenkatalog abhängig gemacht, dann aber wieder auf alle Straftaten erweitert, sobald nur die Straftat voraussichtlich gewerbsmäßig, gewohnheitsmäßig oder von Banden begangen werden soll. Auch wenn man diese außerordentlich weitgreifende Bestimmung 4 7 9 im Regelungsspielraum des Gesetzgebers sieht, so besteht doch die weitergehende Verpflichtung, nach der Eingriffsintensität die Verwendungsmöglichkeiten der besonderen Mittel zu differenzieren und jeweils zu begrenzen. Die längerfristige Observation, der verdeckte Einsatz technischer Mittel oder der von verdeckten Ermittlern und V-Personen kann nicht unterschiedslos zulässig sein für alle Arten von Bagatelldelikten, sobald diese nur gewerbsmäßig, gewohnheitsmäßig oder von zwei Menschen 4 8 0 mutmaßlich begangen werden sollen. Nochmals verschärft werden die Forderungen an die verhältnismäßigen Abwägungen bei der Datenerhebung in und aus Wohnungen (§ 8c Abs. 3 VE M E PolG). Nach dem B-Vorschlag soll die Datenerhebung mit besonderen Mitteln zulässig sein zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr für Leib und Leben oder Freiheit einer Person oder zum Schutz erheblicher Sach- und Vermögenswerte. Nach dem A-Vorschlag wird diese Datenerhebung auf die Abwehr von Gefahren für Leib und Leben einer Person beschränkt. Der verfassungsrechtlich richtige Umfang muß sich messen lassen an der spezifischen Schrankenregelung von Art. 13 Abs. 3 GG. Danach dürfen Eingriffe und Beschränkungen im übrigen (für Durchsuchungen gilt die Spezialregelung in Art. 13 Abs. 2 GG) nur zur Abwehr einer gemeinen Gefahr oder Lebensgefahr für einzelne Personen, aufgrund eines Gesetzes auch zur Verhütung dringender Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, insbesondere zur Behebung der Raumnot, zur Bekämpfung von Seuchengefahren oder zum Schutz gefährdeter Jugendlicher, vorgenommen werden. Maßstab für die Zulässigkeit einer gesetzlichen Regelung ist also die Verhütung dringender Gefahren für die öffentliche Si478 Vgl. BVerfGE 69, 315 ff - Brokdorf-Beschluß. Vgl. auch BVerfGE 82, 236Startbahn 18 West und BVerfG StV 1993, 123 (Rechtmäßigkeit der Auflösung einer Versammlung als Voraussetzung für die Strafbarkeit wegen Nichtentfernens trotz Aufforderung). 47 9 Wagner, PolG NW, vor § 8, Rdnr. 127, nennt das kaum zu Unrecht "Scheintatbestandlichkeit". 480 Ygj ßGHSt 23, 239 f.: 2 Personen reichen zur Bandenbildung aus, soweit eine ausreichende gegenseitige Bindung besteht. 12 Neumann

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cherheit und Ordnung, und unbestritten ist, daß damit auf die klassische Begrifïlichkeit des Polizeirechts Bezug genommen w i r d 4 8 1 . Es muß sich um eine erhebliche und zugleich unmittelbar bevorstehende konkrete Gefahr handeln, die den Eingriff unabweisbar notwendig macht. Legt man diesen Maßstab zugrunde, dann kann die gesetzliche Regelung zur vorbeugenden Verbrechensbekämpfung im Rahmen einer reinen Risikovorsorge nicht in Anspruch genommen werden. Sie kann nur als klassische Gefahrenabwehrregelung verstanden, dann aber auch in der einen oder anderen Alternative hingenommen werden. Für den zulässigen Umfang der Polizeilichen Beobachtung nach § 8d VE M E PolG gilt erneut, daß ausreichende kriminalpolitische Abwägungen nicht stattgefunden haben, soweit nach § 8d Abs. 1 Nr. 1 auf Straftaten von erheblicher Bedeutung (nach Nr. 2 Straftaten gemäß dem Katalog in § 8c Abs. 1 Nr. 2a und § 47a AuslG) abgestellt wird.

(3) Umfang der Erhebungsdaten Ausreichende Abwägungen im Gesetz selbst müssen sich auch zu dem Umfang der Erhebungsdaten finden. In den Regelungen des VE M E PolG ist der Umfang der Erhebungsdaten grundsätzlich freigestellt und wiederum die geforderte Differenzierung unterlassen worden. Bedenklich ist namentlich, daß auch eine Differenzierung nach "Verdächtigen" und bloßen Kontakt- und Begleitpersonen, wie sie schon fur den Umfang der vorbeugenden Verbrechensbekämpfung vermißt wurde, nicht vorgesehen wird. Zumindest im Hinblick auf die Kontakt- und Begleitpersonen müßte gesetzlich eine Begrenzung deijenigen personenbezogenen Daten bestimmt werden, die von diesem Personenkreis erhoben werden dürfen. Als Vorbild kann hier die Regelung in § 8d Abs. 1 VE M E PolG dienen. Für die dort geregelte Polizeiliche Beobachtung des "Verdächtigen" ist der Umfang der Daten beschränkt auf die Personalien, das amtliche Kennzeichen des von einer solchen Person benutzten oder eingesetzten Kraftfahrzeugs und den Ort des Antreflfens. Nach § 8d Abs. 2 gilt diese Begrenzung auch fur etwaige Begleitpersonen. Aus Gründen der Praktikabilität könnte eine Negativliste von Daten Verwendung finden, die besonders empfindliche Informationen der Kontakt- und Begleitpersonen enthält und die deshalb nicht erhoben werden dürfen. Auch insofern besteht ein Regelungsspielraum des Gesetzgebers, der jedoch außerhalb der Regelung zur Polizeilichen Beobachtung nicht genutzt wurde.

481

Vgl. nur Pappermann, in: v. Münch (Hrsg.), GG, Art. 13 Rdnr. 36 ff.

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(4) Legaldefinitionen Definitionsbedarf für die gesetzliche Regelung entsteht dort, wo ausfüllungsbedürftige und konkretisierungsfahige Tatbestandsmerkmale Verwendung finden. An erster Stelle kommt für eine erforderliche Legaldefinition die Operationsform der Observation in Betracht. Einerseits kann nicht bereits jede nur kurzfristige Beobachtung von Personen gemeint sein, andererseits kann die Observation nicht erst dann entstehen, wenn mehrere Tage der Beobachtung vergangen sind. Beispielhaft dürfte die Regelung in § 16 Abs. 1 PolG NW sein, worin Observation als die planmäßig angelegte Beobachtung einer Person durchgehend länger als 24 Stunden oder an mehr als 2 Tagen bestimmt wird. Die disziplinierende Wirkung dieser Legaldefinition liegt darin, daß bei Erfüllung dieser Voraussetzungen die Observation nach § 16 Abs. 2 PolG NW durch den Behördenleiter angeordnet werden muß. Als Gegenstand einer präziseren gesetzlichen Bestimmung bietet sich auch eine Einzelaufzählung der erlaubten "besonderen technischen Mittel" an. Die in § 8c Abs. 2 Nr. 2 VE M E PolG verwendete Technik einer "insbesondere"-Beschreibung läßt den Einsatz aller denkbaren technischen Mittel z u 4 8 2 . Nach dieser Übersicht bliebe weiterer Raum für kritische Betrachtungen und Verbesserungsvorschläge zur materiellen Begrenzung der verdeckten polizeilichen Informationsbefugnisse 483 . Indessen läßt sich schon kein verfassungsrechtlich zwingender Schluß auf die Begrenzung von verdeckten Informationserhebungen für ganz bestimmte Straftaten ziehen. Dies gilt auch für die gesetzliche Abstufung von Eingriffsintensitäten, den Umfang der Erhebungsdaten und die erforderlichen Legaldefinitionen. In allen Fällen kann die Verfassungsmäßigkeit der Regelungen nur dann beanstandet werden, wenn die wesentlichen Abwägungen im Gesetz überhaupt keinen Ausdruck gefunden haben. Im übrigen besteht weiterhin das Grundsatzdilemma, daß die auf der Ebene von Einzelfallen verminderte Kontrollwirkung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes durch seine Anwendung auf der Gesetzesebene kompensiert werden soll. Nach den vorangegangenen Überlegungen besteht dort aber das Problem, daß in Anbetracht schwacher Eingriffsvoraussetzungen materielle Eingriffsgrenzen nur in einem bescheidenen Umfang gefunden werden können. Dieses Problem ist bereits in dem Vergleich mit anderen Vorsorgerege482

Z.B. auch die zuletzt öffentlich erörterte Möglichkeit, den auf Bildschirmen von Computern erscheinenden Inhalt durch Verwendung eines einfachen Fernsehempfängers auf richtiger Wellenlänge anzeigen zu lassen. Die korrumpierende Strahlung von Bildschirmen wird in einem Wohnhaus schon durch Wasserleitungen oder Stromkabel transportiert. 4 8 i Vgl. z.B. Wolter, 137 ff. Kritisch Lisken, NWVB1 1990, 325 ff. zu den Regelungen im PolG NW.

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lungen aufgefallen und nun auch fur den Bereich kriminalpräventiver Informationsvorsorge deutlich geworden. Wie in den vergleichbaren rechtlichen Vorsorgekonzepten ist diesem Problem nur durch höhere Anforderungen an die Regelungen zur Organisation und zum Verfahren der Entscheidungen zu begegnen. Den Verfahrensregeln fallt dadurch die Aufgabe zu, unzureichende materielle Grenzen von Eingriflfsbefugnissen in dem ihnen möglichen Umfang zu ersetzen 484 .

2. Organisation und Verfahren In dem bisherigen Verlauf der Untersuchung hat sich gezeigt, daß auch dann, wenn die wesentlichen Verhältnismäßigkeitsentscheidungen auf der Ebene des Gesetzes getroffen werden, dennoch ein weiter Bereich von Entscheidungsmöglichkeiten fur grundrechtsgefahrdende Informationserhebungen der Polizei verbleibt. Selbst wenn der Umfang der Straftaten, zu deren vorbeugender Bekämpfung die heimlichen Informationserhebungen erforderlich sein können, durch eine abschließende Aufzählung in Straftatenkatalogen eingeschränkt wird, eine ausreichende Abwägung nach Eingriffsintensitäten stattfindet, der Umfang der Erhebungsdaten präzisiert und die erforderlichen und möglichen Legaldefinitionen in das Gesetz aufgenommen werden, ergibt sich aus der spezifischen Struktur der Eingriffstatbestände, daß weiterhin ein quantitativ hochrelevanter Umfang kriminalpolitischer Entscheidungen über den Einsatz von Beamten und technischen Mitteln für verdeckte Informationserhebungen offenstem. Auch dann, wenn die notwendigen Verhältnismäßigkeitsabwägungen gesetzlich fixiert sind, werden dadurch die typischen Kontrollschwächen von Vorsorgenormen nicht beseitigt. Es bleibt vielmehr weiterhin ungeklärt, wie die "tatsächlichen Anhaltspunkte" auf den Verdacht der Begehung künftiger Straftaten beschaffen sein müssen. Undeutlichkeiten ergeben sich auch aus der unvermeidlichen Unsicherheit in dem Schluß von Sachverhalten auf die im Straftatenkatalog aufgeführten Straftatbestände, und schließlich ist offen, unter welchen Gesichtspunkten die "Erforderlichkeit" der vorbeugenden Verbrechensbekämpfung beurteilt werden soll. Mit den wesentlichen materiellen Verhältnismäßigkeitsabwägungen im Gesetz werden die Verwaltungsentscheidungen zwar konditioniert, aber keineswegs ausreichend 484

Aufschlußreich ist das in diesem Zusammenhang etwas abgelegene, aber instruktive Beispiel aus BVerfGE 45, 187, 242 ff.: Durch die Verhängung einer lebenslangen Freiheitsstrafe wird die Freiheit der Person aus Art. 2 Abs. 2, 10 GG auf Dauer entzogen und die Menschenwürde berührt. Das ist gerechtfertigt, soweit und solange durch Gesetz die Voraussetzungen, unter denen die Vollstreckung der Strafe ausgesetzt werden kann, und das anzuwendende Verfahren geregelt werden; vgl. auch BVerfGE 42, 105 ff., 113.

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kontrolliert. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit weiterer Überlegungen zu der Frage, wie die Entscheidungen zusätzlich diszipliniert werden können. Weil weitere materielle Festlegungen nicht erwartet werden können, müssen sich die ergänzenden Kontrollmöglichkeiten aus Regelungen über die Organisation und das Verfahren der Entscheidung ergeben. Wie in dem Bereich materieller Regelungsaufgaben ist auch für den von Organisation und Verfahren von einem weiten gesetzgeberischen Regelungsspielraum auszugehen. Die notwendigen verfahrensrechtlichen Schlußfolgerungen müssen sich aus den betroffenen Grundrechten begründen lassen, nun aber nicht mehr aus ihrer Funktion als Eingriffsabwehrgarantien, sondern aus ihrer objektiv-rechtlichen Bedeutung und der daraus gewonnenen Schutzpflicht des Gesetzgebers 485 für die betroffenen Grundrechte. Der gesetzgeberische Regelungsspielraum findet seine Grenzen an der spezifischen Funktion, die durch Verfahrensvorschriften im Regelungsbereich erfüllt werden soll. Regelungen über die Organisation und das Verfahren sollen grundsätzlich das materielle Recht in seiner Durchsetzung unterstützen. Vor allem in dem Bereich von Risiko und Vorsorge kommt eine zusätzliche Aufgabe hinzu. Durch geeignete Verfahrensregelungen sollen und müssen die unvermeidlichen materiellen Kontrollschwächen des Präventionsrechts kompensiert - und das heißt, effektiv ausgeglichen werden, um einen wirksamen Grundrechtsschutz zu gewährleisten. Grundrechtsschutz durch Organisation und Verfahren bedeutet demnach, daß der Schutz der betroffenen Grundrechte so geregelt werden muß, daß er gleichwohl noch effektiv ausfallt, also im Wortsinne Effekte für den Grundrechtsschutz erzielt werden können. Was daraus für die wesentlichen Regelungsaufgaben des Gesetzgebers folgt, kann sich auch für die Verfahrensregelungen nur aus der Eigenart der Eingriffe und der betroffenen Grundrechte ergeben, namentlich daraus, welche materiellen Schwächen durch Verfahrensrecht kompensiert werden sollen. Im folgenden wird zunächst ein Überblick zu den Aufgaben von Verfahrensregeln überhaupt und ihrer Bedeutung für die Kontrolle verdeckter Informationserhebungen durch die Polizei gegeben (1). Im Anschluß daran muß festgestellt werden, in welchem Umfang sich ein verfassungsrechtliches Minimum an Verfahrensregeln ergibt und wie dieses zur Kontrolle verdeckter polizeilicher Informationserhebungen eingesetzt werden kann (2).

485 Vgl. dazu grundsätzlich Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 1987, S. 23 ff.

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(1) Die Funktion von Verfahrensregeln Es ist bekannt, daß Verfahrensregelungen ganz unterschiedlichen, namentlich gegenläufigen Aufgaben dienen sollen 4 8 6 . Die Funktionen und Aufgaben des Verwaltungsverfahrens oszillieren um Verwaltungseffizienz, Rechtsschutz, Sachrichtigkeit, Konsens, Gerechtigkeit und einiges andere 487 . Überhaupt ist es die vielleicht auffälligste Entwicklung des Verwaltungsrechts in den letzten Jahren, daß es die Loslösung, Verselbständigung und beginnende dogmatische Konturierung des Verfahrensrechts aus dem traditionellen System des materiellen Verwaltungsrechts betrieben hat. Mit nur mäßiger Überspitzung läßt sich sogar ein Paradigmawechsel im Verwaltungsrecht feststellen. Die Beobachter sind sich darüber einig, daß die alte Formel von der bloß dienenden Funktion 4 8 8 des Verfahrensrechts für die materielle Verwaltungsentscheidung inadäquat geworden ist und zugunsten einer Orientierung auf die eigenständigen Funktionen und Wirkungen von Verfahrensregeln einschließlich der Konsequenzen, die sich aus ihrer Nichtbeachtung ergeben, aufgegeben werden m u ß 4 8 9 . Für die besonders fehlersensiblen Verfahrensarten wie alle Planungs- und Abwägungsentscheidungen 490 , aber auch für die klassischen Bereiche von Ermessensentscheidungen und für die hinzugekommenen unbestimmten Rechtsbegriffe mit Beurteilungsspielräumen 491 ist die Aufwertung von Verfahrensregeln ohnehin ebenso evident wie unvermeidlich. Bei dieser Entwicklung handelt es sich um Konsequenzen aus offen formulierten Entscheidungsprogrammen, deren Nachteil in der abgeschwächten Bindung der Verwaltung an materielle Normtexte liegt. Im Gegenzug werden erhöhte Anforderungen an das Verfahren der Konkretisierung und Anwendung von Rechtsnormen erzwungen. Besonders deutlich kann das an dem Regelungstyp des unbestimmten Rechtsbegriffs mit Beurteilungsspielraum beschrieben werden. Dieser Regelungsmodus taucht besonders häufig im Prüfungsrecht und im Bereich künstlerischer und wissenschaftlicher 486

Vgl. dazu die Beiträge von Wahl und Pietzcker, in: WDStRL 1983, 151 ff., 193 ff. 487 Ygj den Durchgang bei Schmidt-Aßmann, in: Lerche/Schmitt-Glaeser/ders. (Hrsg.), Verfahren als staats- und verwaltungsrechtliche Kategorie, 1984, S. 1 ff. 488 So noch die Begründung zum Musterentwurf VwVfG, § 46: "Der sachlich richtig beschiedene Bürger wird durch das fehlerhafte Verfahren nicht in seinen Rechten verletzt". 489 Vgl. nur Hufen, Fehler im Verwaltungsverfahren, 1986, S. 29 ff. 490 ygj fljj. Planfeststellungen Blümel, in: ders. (Hrsg.), Frühzeitige Bürgerbeteiligung bei Planungen, 1982, S. 34 ff. 491 Ygj ( j a z u K QÇIJ^ Unbestimmte Rechtsbegriffe und Ermessensermächtigungen im Verwaltungsrecht, 1979, S. 53 ff; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 1986, S. 101 ff. mit Nachweisen aus der Rechtsprechung.

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Bewertungen auf. Er reflektiert das Problem, daß ein Gericht auch bei Einsatz aller ihm gegebenen Aufklärungs- und Prognosemittel nicht in der Lage ist, die Entscheidungssituation der Verwaltung angemessen zu rekonstruieren. Es ist die Unwiederholbarkeit der Prüflings- oder Bewertungssituation, die einen vollständigen gerichtlichen Nachvollzug unmöglich macht. Andererseits kann aber der Betroffene durch die Entscheidung mit unangenehmen Folgen konfrontiert werden. In diesen Fällen kann die erforderliche Rechtmäßigkeitsprüfung nur über die Kontrolle des richtigen Verfahrens vollzogen werden 4 9 2 . In dem Typus des unbestimmten Rechtsbegriffs mit Beurteilungsspielraum kumulieren die reduzierte Gesetzsteuerung und die reduzierte gerichtliche Kontrollmöglichkeit. M i t dem Regelungstyp des Beurteilungsspielraums im unbestimmten Rechtsbegriff scheint eine genaue Parallele zu den Formulierungen in den Eingriffstatbeständen des neuen Polizeirechts zu bestehen. Auch hier ist das Entscheidungsprogramm offen formuliert, ist die Anwendungsinstanz nur schwach gebunden und ist schließlich die gerichtliche Kontrolle materiell überfordert. Bei aller Vergleichbarkeit besteht aber ein wesentlicher Unterschied. Die in den Eingriffsermächtigungen für verdeckte Informationserhebungen formulierten Voraussetzungen (tatsächliche Anhaltspunkte, Erforderlichkeit) sind nach bisherigem Verständnis als unbestimmte Rechtsbegriffe ohne Beurteilungsspielraum konzipiert und ausgewiesen. Dies hatte sich namentlich in dem Vergleich mit ähnlichen Regelungen des Eingriffsrechts nach G10 gezeigt. Für die neuen Eingriffsbefugnisse der Polizei besteht deshalb der Verdacht, daß ein weiterer Regelungstyp geschaffen wird, der sich nach seiner Formulierung zwar an ein klassisches Regelungsmodell hält, gleichwohl aber genau die Probleme aufwirft, die mit diesem Regelungsmodell reduziert werden sollten, nämlich die Vermeidung einer Verbindung zwischen offenen Entscheidungsprogrammen und schwacher Rechtmäßigkeitskontrolle. Das allerdings scheint ein generelles Problem von Vorsorgenormen zu sein. Um so deutlicher wird dadurch auch hier die Bedeutung von Verfahrensregeln als Ausgleich oder mindestens Abschwächung dieser Probleme hervorgehoben. Damit ist das Problem näher bezeichnet, aber noch nicht beantwortet worden, worin genau die Aufgabe des Verfahrensrechts für komplexe, materiell nur schwach determinierte Entscheidungen besteht. Eine schnelle und sofort einleuchtende Antwort würde besagen, daß angemessener Ausgleich zu schaf492 Vgl. für das Prüfungsrecht Pietzcker, Verfassungsrechtliche Anforderungen an die Ausgestaltung staatlicher Prüfungen, 1975, S. 104 ff. Aus der Rechtsprechung exemplarisch: BVerfGE 52, 380, 390 ff., wonach der schweigende Prüfling auf die negativen Folgen weiteren Schweigens vor Erlaß der Entscheidung hingewiesen werden muß.

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fen sei. Aber worin genau kann der Ausgleich kontrollschwacher Eingriffsnormen bei intensiven Grundrechtseingriffen bestehen, wenn das Verfahrensrecht in großem Umfang die Stelle materieller Eingriffsgrenzen vertreten soll? Materielle Eingriffsgrenzen können auch durch den Umweg über das Verfahrensrecht nicht formuliert werden. Verfahrensregeln können deshalb vollwertigen Ersatz für den Wegfall kontrollfähiger Substanz im materiellen Recht nicht bieten. Die daraufhin naheliegende Antwort ist, daß das Verfahrensrecht auf die Entscheidung zur verdeckten Informationserhebung insoweit Einfluß nehmen kann, als sie deren Herbeiführung mit Umständen verbindet, die zusätzlichen Aufwand an Zeit und Kompetenz beanspruchen. Die äquivalente Funktion von Verfahrensrecht kann nur darin liegen, die materiell-rechtlich unvollkommen strukturierten Entscheidungen zeitlich und sachlich auseinanderzuziehen 493 . Wenn das die Funktion (nicht unbedingt der gewollte Sinn) von Verfahrensregelungen ist, dann ergibt sich ein bemerkenswerter Berührungspunkt mit den bereits getroffenen Feststellungen zum präventiven Rechtsschutz. Der Grundgedanke dort ist, daß die Entscheidung zum Grundrechtseingriff nicht von den Handelnden (einschließlich handelnder Behörden) selbst, sondern von Dritten getroffen wird. Im Falle der präventiven richterlichen Kontrolle ist das die klassische Figur des objektiven Dritten, auf die Ebene des einfachen Verfahrensrechts heruntergezogen, die Differenzierung in der Ämterhierarchie. Die zeitliche Komponente ergibt sich dann zwangsläufig als Nebeneffekt der Differenzierung. Wenn nicht die Handelnden selbst entscheiden, wird zusätzliche Zeit unvermeidlich in Anspruch genommen werden müssen. Darüber hinaus kann Zeit aber auch eine eigenständige, spezifische Aufgabe erfüllen, z.B. bei Fristenregelungen. Das Ausmaß solcher Differenzierungen ist abhängig von der Eigenart des Regelungsbereichs, den Schwächen des Entscheidungsprogramms, die kompensiert werden sollen, und schließlich davon, was sich als verfassungsrechtliche Grundforderungen ermitteln läßt.

(2) Das verfahrensrechtliche Minimum Wenn sich die Forderung nach der gesetzlichen Ausgestaltung eines entweder grundrechtsschonenden oder grundrechtsfordernden Verfahrens aus der staatlichen Schutzpflicht für die Wahrnehmungsmöglichkeiten von Grundrechten ergibt, dann liegt die Vermutung nahe, daß es zugleich auch ein verfassungsrechtlich stets erforderliches Minimum an verfahrensrechtlichen Re493 y g j d a z y a u s organisationssoziologischer Sicht: Luhmann, Zweckbegriff und Systemrationalität, 1968, S. 284 ff.

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gelungen für grundrechtsrelevante staatliche Handlungen gibt. Denn unabhängig davon, ob das Verfahrensrecht überhaupt erst die Wahrnehmung von Grundrechten ermöglicht (Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG) oder der Wahrnehmung von Grundrechten nur förderlich i s t 4 9 4 , besteht doch im Hinblick auf die Abwehr grundrechtsgefahrdender Eingriffe der Exekutive eine im wesentlichen gleiche Problemlage. Stets ist die Frage zu beantworten, ob die im Schutzbereich eines Grundrechts beabsichtigte staatliche Handlung gerechtfertigt ist, und zwar unabhängig davon, ob es sich um eine gebundene oder um eine Ermessensentscheidung der Verwaltung handelt 4 9 5 . Vor einer genaueren Betrachtung ist allerdings eine dogmatisch wie rechtspolitisch notwendige Klarstellung angebracht. Die Frage nach dem verfassungsrechtlichen Minimum an prozeduralem Grundrechtsschutz ist nicht identisch mit der nach den wesentlichen Regelungsaufgaben des Gesetzgebers für das Verfahrensrecht. Sie kann das deshalb nicht sein, weil sich erst aus den spezifischen Gefahrdungswirkungen spezifischer staatlicher Handlungen für jedes einzelne Grundrecht ergeben kann, worin die wesentlichen Regelungsaufgaben des Gesetzgebers bestehen. Hingegen ergibt sich der verfassungsrechtliche Minimalstandard an Verfahrensrecht bereits aus der allgemeinen Gefahrdungswirkung von rechtlich schwach determinierten Handlungen des Staates im Geltungsbereich von Grundrechten. Die wesentlichen Regelungsaufgaben werden deshalb regelmäßig höhere Anforderungen an den Gesetzgeber stellen als das verfahrensrechtliche Minimum, dieses darf freilich - von eng begrenzten Ausnahmesituationen (z.B. Gefahr im Verzug) abgesehen - in keinem Fall unterschritten werden. Die regelmäßig darüber hinausgehenden wesentlichen Regelungsaufgaben des Gesetzgebers sind gegenüber dem verfassungsrechtlichen Minimum andererseits qualitativ herabgestuft. Es handelt sich um verfassungsrechtliche Gestaltungsziele, um Regelungsperspektiven, die so oder anders im Rahmen des gesetzgeberischen Spielraums realisiert werden k ö n n e n 4 9 6 . 494 Zu dieser Differenzierung vgl. Ossenbühl, in: Festschrift für Eichenberger, 1982, S. 183 ff. 495 Unzureichend deshalb Held, Der Grundrechtsbezug des Verwaltungsverfahrens, 1984, S. 190 ff., der ein verfassungsrechtliches Minimum an Verfahrensschutz für gebundene Verwaltungsentscheidungen ablehnt und dafür den repressiven Gerichtsschutz für ausreichend hält. Dazu wird er offenbar wegen seiner zu engen Perspektive auf die Relevanz von Verfahrensfehlern fiir die Schlußentscheidung verführt. Übersehen wird aber auch, daß der hier auftretende Regelungstyp zwar den Charakter einer gebundenen Entscheidung suggeriert, aber davon doch weit entfernt ist. 496 Hill, Das fehlerhafte Verfahren und seine Folgen im Verwaltungsrecht, 1986, S. 227 ff., 242 ff., will demgegenüber kein verfassungsrechtlich gebotenes Minimum an Verfahrensregeln erkennen, sondern sieht einen Spielraum für den Gesetzgeber, der nur durch das Übermaßverbot begrenzt ist.

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D. Verfassungsrechtliche Bedingungen

Worin nun das direkt aus den Grundrechten folgende Minimum an Verfahrensgarantien besteht, ist bislang nicht abschließend geklärt. Wenn man von der Überlegung ausgeht, daß es sich bei den Verfahrensgarantien um kompensatorische Vorkehrungen einerseits für fehlenden Einfluß auf die Verwaltungsprogrammierung, andererseits für verkürzten Individualrechtsschutz handelt, "so kann man als Kern der grundrechtlichen Verfahrensgarantien das Recht der Betroffenen herausstellen, vor Entscheidungen, die ihre Grundrechtssphäre berühren, ihren Standpunkt vertreten zu dürfen, und zwar zu einer Zeit und in einer Art, die ihre Stellungnahme für die Verwaltungsentscheidung noch folgenreich macht" 4 9 7 . Komplementär kommen hinzu: Bekanntgabe von Verfahrensthema und Verfahrensstand, Begründungspflicht der Behörde und Gleichbehandlung der Betroffenen im Verfahren 498 . Mit dieser Feststellung eines Kernbereichs grundrechtlich gebotener Verfahrensregeln läßt sich allerdings für heimliche staatliche Informationserhebungen eine unmittelbare Lösung nicht finden. Es liegt auf der Hand, daß die direkte Übertragung des verfassungsrechtlichen Minimums an Verfahrensgarantien auf verdeckte staatliche Informationserhebungen dazu führen müßte, daß die den Behörden eingeräumten Befugnisse leerlaufen würden. Der Kernbereich verfassungsrechtlicher Verfahrensgarantien gilt direkt nur für den Regelfall des offenen Verwaltungsverfahrens. Der Grundgedanke selbst eignet sich aber auch für die Anwendung auf verdeckte Informationserhebungen. Er läßt sich generell dahin beschreiben, daß zwar der Betroffene aus naheliegenden Gründen nicht selbst am Verfahren zur Herbeiführung und zum Vollzug der Entscheidung beteiligt werden kann, zum Ausgleich dafür aber eine präventive Beteiligung von Personen oder Institutionen erforderlich ist, die zumindest auch die Belange der Betroffenen angemessen würdigen können. Das dann gleichsam durch Dritte repräsentierte Interesse des Betroffenen an der Vermeidung von Grundrechtseingriffen muß auch für die Entscheidung selbst noch folgenreich sein, Verfahrensthema und Verfahrensstand sind mitzuteilen, die Entscheidungsbehörde hat alle die Grundrechtsbetroffenheit konstituierenden Fakten gründlich zu ermitteln und die endgültige Entscheidung in der Auseinandersetzung mit dem repräsentierten Standpunkt des Betroffenen zu begründen. Willkürliche Ungleichbehandlungen sind zu vermeiden. Auf welche Weise diese Grundforderungen von dem Gesetzgeber verwirklicht werden, ist verfassungsrechtlich nicht festgelegt. Für die Ausgestaltung dieser Verfahrensregeln besitzt der Gesetzgeber einen Regelungsspielraum, 497

Cmmm, NVwZ 1985, 865, 869. Ebenso Schupper in: Hoffmann-Riem (Hrsg.), Bürgernahe Verwaltung?, 1979, S. 282; Hufen, NJW 1982, 2160, 2163; ders., Fehler im Verwaltungsverfahren, 1986, S. 127 ff. und Burmeister, in: Jahrbuch des Umweltund Technikrechts, 1988, S. 122 f. 498 Vgl. nur Hufen, NJW 1982,2160, 2163.

II. Wesentliche Regelungsaufgaben des Gesetzgebers

187

der nur dann nicht ausgefüllt wird, wenn das unbestreitbare Minimum an prozeduralem Grundrechtsschutz unterlassen wird. Rechtspolitisch stehen dem Gesetzgeber mehrere Regelungsalternativen offen.

3. Rechtspolitische Alternativen Der rechtspolitisch bestehende Regelungsspielraum des Gesetzgebers ist nach den vorangegangenen Überlegungen begrenzt durch die verfassungsrechtlich erforderliche Beachtung der Mindestanforderungen an Verfahrensgarantien zugunsten von Betroffenen. Zugleich sollen die verfahrensrechtlichen Regelungen dem Ziel dienen, die materiellen Kontrollschwächen kriminalpräventiver Entscheidungsprogramme zu kompensieren oder doch die spezifisch aus solchen Rechtsnormen resultierenden Wirkungen auf die Betroffenen abzuschwächen. Ein Überblick über Kontrollmodelle kann dadurch erleichtert werden, daß nach der jeweiligen Nähe des Modells zu den drei klassischen Entscheidungseinheiten des Rechtsstaats unterschieden wird: Justiz, Verwaltung, Parlament (Politik). Nachfolgend wird unter Verzicht auf die Erörterung aller Vor- und Nachteile der vorgestellten Regelungsmöglichkeiten ein Überblick zu den bisher vorgeschlagenen Alternativen und den darüber hinaus denkbaren Vorschlägen gegeben.

(1) Kontrolle durch Justizorgane Unter den verfahrensrechtlichen Lösungen, die für eine gesetzliche Regelung der verdeckten Informationsbefugnisse in Betracht gezogen werden, ragt der Vorschlag zur Aufnahme eines Richtervorbehalts für jeweils bestimmte Eingriffsermächtigungen heraus. Die Vorschläge aus VE ME PolG sehen allerdings nur für die verdeckten Informationserhebungen in und aus Wohnungen mit technischen Mitteln (§ 8c Abs. 3) die vorherige Anordnung des (örtlich zuständigen Amts-)Richters vor. In den zwischenzeitlich verabschiedeten Polizeigesetzen der Bundesländer werden darüber hinausgehend auch für weitere Einsatzbereiche Richtervorbehalte geregelt. So ist in PolG NW der Richtervorbehalt auch für die Polizeiliche Beobachtung (§ 21) und die Rasterfahndung ( § 3 1 ) aufgenommen. Weitere Länderpolizeigesetze dehnen den Richtervorbehalt auch auf den Einsatz verdeckter Ermittler 4 9 9 und generell auf das nichtöffentliche W o r t 5 0 0 aus. 499

So § 28 SaarPolG. 500 V g l g 44 c Abs. 5 HSOG; außerdem muß danach die richterliche Anordnung schriftlich ergehen und eine möglichst präzise Beschreibung des betroffenen Personenkreises enthalten; schließlich sind Art und Dauer der Maßnahmen festzulegen.

188

D. Verfassungsrechtliche Bedingungen

Der Vorteil eines Richtervorbehalts für die Anordnung aller oder doch einiger besonders schwerwiegender verdeckter Informationserhebungen liegt in dem Rückgriff auf ein geläufiges und bewährtes Kontrollmodell aus dem Polizei» und Strafprozeßrecht. Die Entscheidung wird damit einer Instanz übertragen, auf deren Urteil kein rechtlich durchsetzbarer Einfluß genommen werden kann und der nach allgemeiner Überzeugung die Fähigkeit zugeschrieben wird, auch die Interessen von Betroffenen angemessen würdigen zu können. Ob die Aufnahme von Richtervorbehalten jedoch insgesamt als geeignete Lösung für das Kontrollproblem gelten kann, muß bereits aus praktischen Gründen bezweifelt werden 5 0 1 . Nicht nur, daß die bekannten Probleme der Arbeitsmenge mit der Gefahr von Routineentscheidungen entstehen, vor allem würden durch die materielle Leere der polizeilichen Eingriffsnormen den Richtern Entscheidungen zugemutet, die "nahezu außerhalb seiner berufstypischen Funktion, Sachverhalte an rechtlichen Tatbestandsvoraussetzungen zu messen" 502 , liegen. In Anbetracht der materiell-rechtlich ausgedünnten Eingriffsvoraussetzungen können auch durch die vorherige Einschaltung von Richtern nur Entscheidungen erwartet werden, die entweder die kriminalpolitischen Zielsetzungen der Polizei nachvollziehen oder aber eigene entgegensetzen. Darin aber liegt nicht die genuine Aufgabe von Richtern, dazu sind sie weder legitimiert noch ausgebildet. Außerdem ist bekannt, daß die Grenzen richterlicher Leistungsfähigkeit dort rasch erreicht werden, "wo es um Programmentwicklung in wenig vorprogrammierten Entscheidungsfeldern geht, wo Abwägungen hochkomplexer Natur vorgenommen werden müssen, für die (...) die erforderliche Informationsgewinnung im Gerichtsverfahren nicht gelingen k a n n " 5 0 3 . Diese grundsätzlichen Bedenken würden nicht entkräftet, sie könnten aber dadurch gemildert werden, daß die richterliche Entscheidung im Instanzenzug höher angesiedelt wird. Statt an einen Amtsrichter könnte die Entscheidung einem Kollegialorgan beim Land- oder Oberlandesgericht übertragen werden,

501

Vgl. schon Vahle, S. 62 f., der vorrangig auf die anfallende Arbeitslast für Richter und den damit ausgelösten Zwang zur formularmäßigen Abwicklung von Anträgen hinweist. 502 So wurde im Gesetzgebungsverfahren zur Änderung von Art. 10 Abs. 2 GG auf den Vorschlag zur Aufnahme eines Richtervorbehalts erwidert, vgl. Amtl. Begründung zum Entwurf des Gesetzes zur Ergänzung des Grundgesetzes, BT-Drs. V/1879, S. 18. 503 Rhinow, Rechtsetzung luid Methodik. Rechtstheoretische Untersuchungen zum gegenseitigen Verhältnis von Rechtsetzung und RechtsanWendung, 1979, S. 191. Zur Leistungsfähigkeit gerichtlicher Kontrolle staatlicher Entscheidungen allgemein vgl. Krebs, Kontrolle in staatlichen Entscheidungsprozessen, 1984, S. 52 ff., der generell gerichtliche Kontrollen staatlicher Entscheidungen nur dann für sinnvoll einsatzfahig hält, wenn Sachverhalt und Prüfungsauftrag ausreichend "portioniert" sind (S. 118 f.).

II. Wesentliche Regelungsaufgaben des Gesetzgebers

189

abgestuft nach der Bedeutung und Reichweite der Entscheidungen 504 . Die damit verbundenen Vorteile lägen in der Errichtung zusätzlicher sachlicher und sozialer Zugangsbarrieren, welche die Zahl der Anträge reduzieren und zugleich ihre Qualität verbessern helfen könnte. Für eine Justizlösung des Kontrollproblems könnte auch an die Entscheidungskompetenz der Staatsanwaltschaft oder doch deren präventive Mitwirkung gedacht werden 5 0 5 . Dieser Vorschlag kann sich auf ein bereits im Strafprozeßrecht eingespieltes Vorbild berufen. Die Staatsanwaltschaft würde dadurch auch für den Bereich verdeckter Informationserhebungen nach Polizeirecht zur "Herrin des Verfahrens". Dafür spricht neben der Sachnähe auch die gleichwohl bestehende Distanz zum operativen Geschehen. Für besonders sensible Eingriffe könnte die Zuständigkeit des Behördenleiters oder die der Generalstaatsanwaltschaft begründet werden.

(2) Verwaltungsentscheidungen Als ungeeignet und bedenklich müssen die in den vorliegenden Gesetzen enthaltenen Regelungen gelten, in denen für nahezu alle Formen verdeckter Informationserhebungen die Entscheidung in die Hände der Polizeibehörden gelegt w i r d 5 0 6 . Diese Bewertung gilt uneingeschränkt auch für eine Regelung, wonach die Befugnis zur Anordnung des Einsatzes der "besonderen Mittel der Datenerhebung" (längerfristige Observation, verdeckter Einsatz technischer Mittel, Verdeckte Ermittler) auf die mittlere Verwaltungsebene oder die Behördenspitze übertragen w i r d 5 0 7 . Die auf diese Weise ausgestalteten Verwaltungslösungen sind weder rechtspolitisch noch verfassungsrechtlich akzeptabel. Mit solchen Vorschlägen ist 504

Für die Anordnung von Überwachungsmaßnahmen nach G10 war im Gesetzgebungsverfahren (erfolglos) die Zuständigkeit des BGH-Präsidenten vorgeschlagen worden. 505 So z.B. die Forderung von Schoreit, KritV 1989, 201 ff; ebenso, aber ohne Festlegung auf diesen Vorschlag, Backes, Polizeiführungsakademie Münster (Hrsg.), S. 40 ff. 506 Z.B. in dem in Brandenburg (vorläufig) fortgeltenden "Gesetz über die Aufgaben und Befugnisse der Polizei" vom 13.9.1990 (GBl DDR S. 1489): Einsatz verdeckter Ermittler (§ 39) und V-Leute (§ 38), längerfristige Observation (§ 35), technische Mittel zur Ton- und Bildaufzeichnung (§§ 36, 37) mit Ausnahmen zur Aufnahme in oder aus Wohnungen (dazu: Richter). 507 Art. 33 BayPAG gibt die Anordnungsbefugnis nebeneinander an den Leiter des Landespolizeipräsidiums (mit Delegationsmöglichkeit an Abteilungsleiter), den Leiter einer Polizei- oder Kriminaldirektion, den Leiter des Grenzpolizeipräsidiums und den Leiter des Landeskriminalamtes.

190

D. Verfassungsrechtliche Bedingungen

nicht gewährleistet, daß die Interessen der unter Umständen vielen Betroffenen an der Vermeidung von verdeckten Informationseingriffen institutionell oder personell mitrepräsentiert werden. Im polizeilichen Vollzugsalltag werden die mit den beabsichtigten Maßnahmen verbundenen Aufklärungs- und Erfassungschancen zwangsläufig dominieren, sofern sie nicht ohnehin ausschließlich die Entscheidung bestimmen werden. Vor allem aber ist die Ansiedlung der Entscheidungskompetenzen auf der Ebene der Polizeibehörden selbst deswegen abzulehnen, weil dadurch keine kompensatorischen Effekte für die materiellen Schwächen des Entscheidungsprogramms entstehen. Es hatte sich in der Untersuchung gezeigt, daß die in den Eingriffsbefugnissen formulierten Bedingungen darauf angelegt sind, kriminalpolitische Entscheidungen herbeizufuhren. Wenn solche Entscheidungsprogramme allein der handelnden Behörde zur Ausführung überantwortet werden, liegt die Wirkung in der weitestgehenden Selbstprogrammierung und Selbststeuerung der Verwaltung. Dieses Ergebnis soll aber gerade durch Überlegungen zu verfassungsrechtlichen Vermeidungs- oder doch Abschwächungsmöglichkeiten verhindert werden. Immerhin könnte für eine Lösung auf der Verwaltungsebene an die vorherige Zustimmung von sachnahen Behörden, z.B. von Datenschutzbeauftragten, gedacht werden. Die institutionelle Selbständigkeit von Datenschutzbehörden läßt erwarten, daß dann die betroffenen Interessen mitbedacht und dadurch übermäßige Eingriffe vermieden werden. Der Vorschlag ist aber deswegen ambivalent, weil dadurch für die Datenschutzbehörde selbst Begründungs- und Rechtfertigungsprobleme bei den ihr gesetzlich obliegenden nachträglichen Kontrollen der polizeilichen Datenbestände ausgelöst werden können

(3) Mischlösungen Die Lösungsmodelle auf der Justiz- und Verwaltungsebene leiden vorrangig an dem gemeinsamen Mangel, daß sie nicht ausreichend auf die Kompensation der spezifischen Defizite im anzuwendenden materiellen Recht angelegt sind. Das materielle Problem besteht darin, daß mit den Entscheidungen zum Einsatz verdeckter Informationstechniken keine klassisch strukturierten Rechtsentscheidungen, sondern kriminalpolitische Entschlüsse Verlangt werden. Es liegt deswegen nahe, die Lösung des Kontrollproblems institutionell so auszugestalten, daß die Entscheidungen sowohl unabhängig getroffen als auch (gegebenenfalls politisch) hochrangig verantwortet werden. Erstrangig könnte aus dem geltenden Überwachungsrecht das Vorbild der G10-Kommission als besonders geeignet herangezogen werden. Ihre Ausge-

II.Wesentliche Regelungsaufgaben des Gesetzgebers

191

staltung und ihre Entscheidungskompetenzen dienen nach dem für sie geltenden Überwachungsrecht auch und gerade dem Zweck, die rechtlich schwach strukturierten Eingriffsnormen dadurch auszugleichen, daß die Kommission sowohl die Rechtmäßigkeit wie die Zweckmäßigkeit von Überwachungsanträgen fortlaufend prüft und außerdem institutionell hochrangig verankert ist. Für die Herbeiführung und Kontrolle von verdeckten polizeilichen Informationseingriffen könnte an die Einrichtung spezieller Ausschüsse auf der Ebene von Länderparlamenten gedacht werden. Dieser Vorschlag verbindet zwei greifbare Vorteile. Erstens wäre die Entscheidung dann politiknah angesiedelt, andererseits doch nicht unmittelbar politischen Entscheidungen unterworfen. Ein entsprechender Ausschuß müßte mit umfassenden Informationsrechten und eigenem Verwaltungsapparat nach dem Vorbild der G10-Kommission ausgestattet sein. Allerdings sollte dabei nach der Intensität von Eingriffsmaßnahmen differenziert werden. Nicht jede polizeiliche Observation oder Beobachtung ist in gleichem Maße kontrollbedürftig. Zur Abgrenzung könnten Fristen vorgesehen werden, nach deren Ablauf erstmals eine Kontrolle durch den Ausschuß stattzufinden hat. Der Einsatz verdeckter Ermittler, gegebenenfalls auch der von V-Leuten, die nach Streubreite und Tiefe ihrer Informationsmöglichkeiten die weitestgehenden Grundrechtseingriffe befürchten lassen, müßte der Entscheidung durch ein solches Gremium vorbehalten sein. Ein Modell direkter politischer Kontrolle durch Differenzierung in der Behördenhierarchie enthält der Vorschlag, über längerfristige Observationen den zuständigen Innenminister entscheiden zu lassen 508 . In einem anderen Vorschlag sollte die Entscheidungsbefugnis des Innenministers weitergehend sogar für fast alle Formen verdeckter Ermittlungen gelten 5 0 9 . Die Entscheidung wird auf diese Weise in eine Form gebracht, in der sie politisch auf hoher Ebene verantwortet werden muß und wodurch der kriminalpolitische Charakter der Entscheidung zugleich institutionellen Ausdruck findet. Das Interesse der Betroffenen ist allerdings nur in der vermittelten Form politischer Rücksichtnahme und Vorsicht aufgenommen. Dieses Modell läßt es aber auch zu, die politische Verantwortung je nach der Intensität von Eingriflfsmaßnahmen auch noch höherrangig anzusiedeln, z.B. auf Kabinettsebene. Als Vorbild könnte auch die schweizerische Regelung im strafrechtlichen Staatsschutz dienen, wonach die Gefahren aus den fast konturenlosen Straftatbeständen dadurch kompensiert werden, daß über die Einleitung eines Ermittlungsver508 ygj g 44 C pfos. 2 des Gesetzentwurfes der Fraktionen der CDU und FDP zur Änderung des HSOG, LT-Drs. 12/3092, S. 7 (nicht in die verabschiedete Fassung aufgenommen). 509 So in einer ersten Fassung des HSOG-E, § 44 Abs. 1, mitgeteilt bei Wellbrock, CR 1986, 149, 155.

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D. Verfassungsrechtliche Bedingungen

fahrens der Bundesrat (= Bundesregierung) entscheidet 510 . Eine Variante dieses Grundgedankens findet sich auch in den Regelungen aus §§ 153c Abs. 4, 153d StPO, wonach die Entscheidung zur Erhebung der Anklage, zur Rücknahme der Anklage oder zur Einstellung des Verfahrens bei bestimmten Staatsschutzdelikten in das freie Ermessen des Generalbundesanwalts gestellt wird. Diesen und ähnlichen Regelungsmöglichkeiten wird von den Verfechtern einer effektiven Kriminalitätsbekämpfung entgegengehalten werden, daß wegen des zeitlichen und sachlichen Aufwandes die Entscheidungen nicht schnell genug und nicht in der erforderlichen Anzahl herbeizuführen seien. Indessen kann diesem Einwand nicht nur durch Differenzierung der Entscheidungsorgane nach der Intensität der beabsichtigten Maßnahmen begegnet werden, sondern auch mit dem Hinweis auf den Charakter der Überwachungsmaßnahmen. Diese dienen nach ihrer Zielsetzung und ihrer Ausgestaltung nicht der Abwehr einer bevorstehenden oder der Beseitigung einer bereits eingetretenen Gefahr, sondern der vorbeugenden Verbrechensbekämpfung. Unter diesen Umständen wird regelmäßig ein hoher Zeitdruck für die Herbeiführung von Entscheidungen nicht bestehen. Schließlich bleibt daran zu erinnern, daß in der Differenzierung von Handlungs- und Entscheidungsebene gerade der beabsichtigte ausgleichende Effekt für die Schwächen des anzuwendenden materiellen Rechts liegen soll. Welche der verschiedenen Regelungsmöglichkeiten von den Gesetzgebern gewählt wird, liegt in deren Entscheidungsspielraum. Gewährleistet werden muß aber eine Regelung, die unabhängig davon, ob der Betroffene Kenntnis von den gegen ihn gerichteten Maßnahmen besitzt oder einen Rechtsschutzantrag gestellt hat, präventive Kontrolle auslöst. Unter den Alternativen sind wegen der spezifischen materiellen Regelungsprobleme diejenigen Möglichkeiten vorzugswürdig, die kriminalpolitische Verantwortbarkeit und hochrangige institutionelle Verantwortung kombinieren. Ergänzt werden müssen solche Regelungen mit umfassenden Überprüfungskompetenzen der Entscheidungseinheiten, Fristbestimmungen und Dokumentationspflichten für die handelnden Behörden. Als Fazit bleibt hier festzuhalten, daß ohne komplementäre Regelungen zur Organisation und zum Verfahren der Überwachungsmaßnahmen die wesentlichen Regelungsaufgaben des Gesetzgebers nicht erfüllt werden. Diesen Anforderungen genügen die meisten der novellierten Polizeigesetze der Bundesländer nicht.

510 Mitgeteilt bei Backes, Rechtsstaatsgefahrdungsdelikte und Grundgesetz, 1970, S. 76; die Folge dieser Regelung ist, daß nur eine sehr geringe Zahl von Staatsschutzprozessen eingeleitet wird.

E. Risikovorsorge und Recht In der Einleitung zu dieser Untersuchung über die Gesetze und Gesetzgebungsvorschläge fur ein neues Recht der polizeilichen Informationsbeschaffung sind Gründe fur die Annahme aufgeführt worden, daß durch die Art der Regelungen einige beunruhigende Veränderungen in die Strukturen des bislang geltenden Polizeirechts hineingetragen werden. Diese Befürchtungen haben sich bestätigt. Im Verlauf der Untersuchung hat sich gezeigt, daß die neuen rechtlichen Handlungsformen gegenüber dem Gefahrenabwehrmodell des traditionellen Polizeirechts grundlegend anders ausgestaltet und daß dadurch die Bedingungen der klassischen Rechtmäßigkeitskontrolle nahezu aufgelöst worden sind. Für die Verluste an rechtsstaatlicher Anwendungssicherheit und effektivem Rechtsschutz lassen sich zwar alternative Lösungen vorschlagen, aber die Defizite können nicht vollständig kompensiert werden. Es besteht deswegen Veranlassung, die Überlegungen aus der Einleitung nochmals aufzugreifen und die Gründe zu bezeichnen, die zu einem vermehrten Auftreten von Rechtsnormen mit schwacher Determinationskraft für das Verwaltungshandeln und rechtsschutzgefahrdenden Wirkungen für die Betroffenen geführt haben. Aus der genaueren Betrachtung und aus der Bewertung der damit verbundenen Feststellungen müßte sich ein Urteil darüber bilden lassen, ob die bedenklichen Folgen aus der Schaffung und Anwendung solcher Rechtsnormen vermieden, aufgefangen oder zumindest gemildert werden können. Es sollte außerdem eine Prognose darüber möglich sein, ob und mit welchen Unsicherheiten in der Anwendung des einfachen Gesetzesrechts und in dessen Kontrolle durch das Verfassungsrecht dauerhaft gerechnet werden muß. Zu diesem Zweck sollen zunächst die wesentlichen Ergebnisse dieser Untersuchung über das neue Polizeirecht zur heimlichen Informationsbeschaffüng und dessen Wirkungen auf die Rechtsanwendung und die Rechtskontrolle zusammengefaßt werden (I). Dieses Resümee bietet die Grundlage, um die in der Einleitung behandelte Überlegung fortzuführen, daß die bedeutsamen Umstellungen in der Struktur von Rechtsnormen Folge und Ausdruck von sozialen Bedingungen sind, die nicht mehr demjenigen Staats- und Verfassungsmodell genügen, welches dem tradierten Verständnis der staatlichen Grenzen für Eingriffe in die Gesellschaft einerseits und dem Rechtsschutz der Bürger

13 Neumann

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E. Risiko Vorsorge und Recht

andererseits zugrundegelegt worden war. Über den Untersuchungsgegenstand hinaus lassen sich daran anschließend Erkenntnisse über die Bedingungen und Möglichkeiten einer rechtlichen Erfassung und Regelung von Risikosachverhalten sammeln (II). Abschließend sind die Gefahrdungen für das klassische Konzept des Rechtsstaats festzustellen und ist zu beleuchten, wie unter den veränderten Bedingungen die verfassungsrechtlichen Kontrollmöglichkeiten beschaffen sind (III). I. Zusammenfassung: Präventives Informationsrecht der Polizei Zu den wesentlichen Feststellungen aus der Analyse des neuen polizeilichen Informationsrechts, wie es nach dem Vorbild des VE ME PolG in nun fast alle Polizeigesetze der Bundesländer Eingang gefunden hat, gehört, daß die zur heimlichen Informationsbeschaffung ermächtigenden Regelungen die Grenzen des klassischen polizeirechtlichen Gefahrenbegriffs und die des strafprozessualen Tatverdachts überschreiten. Die tatbestandlichen Formulierungen der Befugnisse zu verdeckten Informationseingriffen sind so gewählt worden, daß die Entscheidung über den Einsatz optischer und akustischer Mittel, von verdeckten Ermittlern und V-Personen allein von der durch die zuständige Behörde aufgrund tatsächlicher Anhaltspunkte gebildeten Prognose abhängig gemacht wird, die gemeinten Personen könnten in der Zukunft Straftaten begehen. Für den Entschluß zu dem damit regelmäßig verbundenen Gründrechtseingriff kommt es nicht mehr darauf an, daß staatliches Handeln zur Beseitigung einer bereits eingetretenen Störung oder zur Verhinderung eines bevorstehenden, mit hinreichender Wahrscheinlichkeit prognost-izierbaren Schadenseintritts erforderlich ist. Im Gegensatz zu den Ein-griffsvoraussetzungen nach dem Kriterium des strafprozessualen Tatverdachts sollen auch nicht mehr bereits begangene Straftaten aufgeklärt werden. Die mit der heimlichen polizeilichen Informationsbeschaffung verbundenen Grundrechtseingriffe sollen vielmehr schon dann zulässig sein, wenn nach (irgendwelchen) tatsächlichen Anhaltspunkten vermutet werden kann, daß (irgendwann) in der Zukunft Straftaten verübt werden könnten. Der Abstand dieser Eingriffsbefugnisse zu den traditionellen Grenzen für polizeiliches Handeln könnte kaum größer sein. Das Regelungsziel liegt in der vorsorgenden Beschaffung von Informationen, mit denen die in der Zukunft möglicherweise auftretende Kriminalität überschaubar und kontrollierbar gemacht werden soll. Das informationelle Polizeirecht wird auf die Vorsorge für die Bekämpfung zukünftig auftretender Kriminalität umgestellt. Das angestrebte Regelungsziel kann nur erreicht werden, wenn die traditionellen Grenzen polizeilicher Tätigkeit aufgegeben werden. Deswegen kommt es in den neu formulierten Eingriffsbefugnissen nicht mehr auf den Eintritt einer Gefahr

I.Präventives Informationsrecht der Polizei

195

oder auf die Begehung einer Straftat an, aber auch nicht mehr darauf, daß sich die polizeiliche Aufmerksamkeit auf ein bereits rechtswidriges Geschehen richtet. In den neuen Eingriffstatbeständen zur polizeilichen Informationsbeschaflung lassen sich deswegen nahezu keine praktisch relevanten Handlungsschranken erkennen. Ein prominentes Vorbild für diesen Regelungstyp findet sich im Überwachungsrecht nach G10, dort allerdings deswegen in einer konditionierten Form, weil die ähnlichen Eingrififsbefugnisse nur zu dem Schutz besonders hochrangiger Rechtsgüter verliehen sind. Ein vergleichbarer Typ von Eingriffsbefugnissen begegnet auch im Verfassungsschutzrecht, im Immissionsschutzrecht sowie in einigen Regelungen des geltenden Strafprozeßrechts. In diesen Rechtsgebieten hat die Umstellung der Staatstätigkeit von Gefahrenabwehr auf Risikovorsorge z.T. bereits seit geraumer Zeit stattgefunden. Durch die vergleichende Betrachtung ähnlicher Entwicklungen in verschiedenen Regelungsgebieten wird deutlich, daß mit den verwendeten Präventionsnormen eine beträchtliche Erweiterung der staatlichen Handlungsbefügnisse einhergeht. Noch bedenklicher ist, daß sich die präventive Staatstätigkeit aus systematischen Gründen konditionaler Programmierung nicht zugänglich zeigt. Durch präventives staatliches Handeln soll nicht mehr ein gestörter Normalzustand wiederhergestellt, es sollen vielmehr die jeweils bezeichneten zukünftigen Ereignisse oder Zustände bewirkt werden. Das aber läßt sich nicht mehr in dem konditionalen Wenn-Dann-Schema programmieren, sondern erzwingt eine Programmstruktur, in der die Zielerreichung dominiert und in der dafür das staatliche Handeln von einschränkenden Bedingungen freigehalten wird. M i t der Verwendung zweckorientierter Rechtsnormen sind hohe Unsicherheiten für die Rechtsanwendung und die Rechtskontrolle verbunden. Diese erstrecken sich auch auf den für die Begrenzung staatlicher Grundrechtseingriffe heute hauptsächlich zuständigen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Durch die finale Programmstruktur präventiver Rechtsnormen werden die Anwendungsbedingungen für den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nahezu aufgelöst. Die staatsbegrenzenden Effekte des Verhältnismäßigkeitsprinzips können nur erreicht werden, wenn der Zweck der Regelung und die zur Zweckerreichung zugelassenen Mittel hinreichend präzise beschrieben werden. Je stärker die Zwecke spezifiziert sind, desto deutlicher fallt die Beziehung zu den Mitteln aus - und umgekehrt. Die Kontrollkraft des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes lebt deswegen vor allem von einem begrenzten Zweck der rechtlichen Regelung. Ist der Zweck einer Eingriffsermächtigung eng und präzise bezeichnet, kann unter den Gesichtspunkten der Eignung, Erforderlichkeit und Zumutbarkeit vergleichsweise sicher über die Rechtmäßigkeit eines Grundrechtseingriffs geurteilt werden. Ist der Zweck hingegen umfassend formuliert oder hochran-

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E. Risiko Vorsorge und Recht

gig angesetzt, verlieren diese Beurteilungsmaßstäbe an Begrenzungskraft oder laufen völlig leer. Bei den auf Zukunftsvorsorge gerichteten Rechtsnormen, in denen wenig mehr als das Ziel der Rechtsnorm geregelt wird, ist deswegen ein staatsbegrenzender Effekt des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nur in einem sehr bescheidenen Umfang zu erwarten. Für die Eingriffsbefugnisse des neuen informationellen Polizeirechts konnte festgestellt werden, daß die Kontrollsubstanz des Verhältnismäßigkeitsprinzips entscheidend dadurch geschwächt worden ist, daß neben dem ohnehin hypertrophierten Zweck der informationellen Kriminalvorsorge ausreichend konkrete Abwägungsgesichtspunkte nicht in die Tatbestände aufgenommen worden sind. An die Stelle von rechtlich strukturierten Abwägungsvorgängen zwischen den jeweils involvierten Rechtsgütern tritt die kriminalpolitische Entscheidung. Auf diese Weise wird nicht lediglich die Verwaltung von einschränkenden rechtlichen Bedingungen ihres Handelns entlastet. Die Präventionsnormen werden sogar zur Ermächtigungsgrundlage für selbstprogrammiertes Verwaltungshandeln. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz schließlich mutiert dadurch vom Kontrollprinzip für Grundrechtseingriffe zum Legitimationsprinzip für administrative Selbststeuerung. Eine bedeutende Einschränkung des so entstehenden Verwaltungsvorrangs ist auch durch die herkömmliche Form der rechtlichen Außenkontrolle, die gerichtliche Entscheidung, nicht zu erwarten. Die maßgeblichen Mängel liegen nämlich in den Rechtsnormen selbst und sind dadurch der gerichtlichen Kontrolle und Korrektur weitestgehend entzogen. In dem Polizeirecht der verdeckten Informationserhebung wird so auch die gerichtliche Entscheidung in hohem Maße zur kriminalpolitischen Option. Die Bedeutung dieser Feststellungen wird dadurch erhöht, daß die entstandene rechtsstaatliche Lücke durch materiell-rechtliche Regelungen nicht geschlossen werden kann. Weil die Eigenart der Zukunftsvorsorge in der Herbeiführung künftiger Erfolge besteht, ist eine wirksame Steuerung der darauf gerichteten staatlichen Tätigkeiten durch materielles Recht weitgehend ausgeschlossen. Die Lösung der mit dem neuen polizeilichen Informationsrecht verbundenen Probleme kann daher nicht in materiell-rechtlichen Grenzen für die polizeiliche Informationsbeschaffüng gefunden werden. Auch die Hoffnung auf günstige Wirkungen des verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatzes trügen. Entgegen einem verbreiteten Mißverständnis ist ihm ein Gebot maximaler Regelungspräzision nicht zu entnehmen. Der Bestimmtheitsgrundsatz regelt im wesentlichen die Verteilung der Kompetenzen zwischen Gesetzgeber, Verwaltung und Rechtsprechung. Nicht hingegen eignet er sich zur Beschaffung materiell-rechtlicher Abhilfe für die den Präventionsnormen eigenen Undeutlichkeiten.

I.Präventives Informationsrecht der Polizei

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Unter diesen Voraussetzungen liegt das für den Grundrechtsschutz von Betroffenen wesentliche Interesse in der Antwort auf die Fragen, wer über die polizeiliche Tätigkeit entscheidet und in welchem Verfahren das geschieht. Dafür kann auf die durch das Bundesverfassungsgericht entwickelten Grundsätze zurückgegriffen werden, wonach alle für die Verwirklichung von Grundrechten wesentlichen Entscheidungen von dem Gesetzgeber selbst zu treffen sind und daß mit den Grundrechten zugleich ein Anspruch auf effektiven Rechtsschutz verbunden ist. Daraus ergibt sich das verfassungsrechtliche Gebot, daß der durch materielle Normen nicht mehr erreichbare Grundrechtsschutz durch prozedurale Vorkehrungen herbeigeführt werden muß. Für das neue informationelle Polizeirecht ist der Gesetzgeber dadurch gehalten, ausreichende Abstufungen der Polizeibefügnisse nach Umfang und Intensität der Grundrechtseingriflfe in die Befugnisnormen aufzunehmen. Gleichwohl verhindert die Heimlichkeit der Informationsbeschaffüng, daß der verfassungsrechtliche Standardschutz der nachträglichen repressiven Kontrolle wirksam eingreifen könnte. Bei heimlichen Ermittlungen wird der tatsächliche Eingriff sofort bewirkt und ist deswegen nachträglich nicht mehr rückgängig zu machen. Darin liegt der wichtige Unterschied zu offenen Informationserhebungen, bei denen der Rechtsschutz gegen die Anordnung selbst ergriffen und je nach Rechtslage der tatsächlich Eingriffe verhindert werden kann. Daraus folgt, daß an die Stelle des unmöglich gewordenen repressiven Rechtsschutzes die präventive Kontrolle durch geeignete Verfahrensregeln treten muß. Es bleibt aber in Erinnerung zu halten, daß Verfahrensregeln keinen vollständigen Ersatz für fehlende materiell-rechtliche Bestimmungen bieten können. Die Leistungen von Verfahrensregeln liegen vor allem darin, daß die aus der schwachen materiell-rechtlichen Determination des Staatshandelns ausgelösten Grundrechtsgefahren durch die Differenzierung von Entscheidungsträgern und Zeitebenen entschärft werden. Als wesentliche Überlegung ergibt sich daraus, daß die Entscheidung zum Grundrechtseingriff nicht von den zur Handlung ermächtigten Behörden allein getroffen werden darf. Als verfassungsrechtlich minimale Bedingung folgt für die Regelung heimlicher polizeilicher Informationsbeschaffüng die Beteiligung von Personen oder Institutionen, die kein eigenes unmittelbares Handlungsinteresse besitzen und deswegen die Belange von Betroffenen besser als die Handelnden selbst einschätzen und zur Geltung bringen können. Zur Durchführung dieser verfassungsrechtlich gebotenen Forderung lassen sich mehrere Möglichkeiten identifizieren, unter denen der Gesetzgeber die freie rechtspolitische Wahl hat. Für den Gesetzgebungsvorschlag des VE M E PolG und für die meisten der neuen Länderpolizeigesetze ergibt sich als Fazit, daß die verfassungsrechtlichen Anforderungen nur bedingt erfüllt werden.

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E. Risikoorsorge und Recht

IL Risikogesellschaft und Rechtssystem Aus der Zusammenfassung müßte nochmals deutlich geworden sein, daß sich in ganz unterschiedlichen Regelungsbereichen des modernen Ordnungsrechts seit einiger Zeit ein Typ von Rechtsnormen etabliert hat, der mit dem traditionellen Schema von Gefahr und Gefahrenabwehr nicht mehr angemessen beschrieben werden kann. Neu ist das Auftreten solcher Rechtsnormen, in denen das staatliche Handeln nicht mehr an die Beseitigung einer bereits eingetretenen Störung oder an die Verhinderung eines unmittelbar bevorstehenden und mit hinreichender Wahrscheinlichkeit absehbaren Schadenseintritts gebunden, sondern staatliche Tätigkeit bereits dann zugelassen wird, wenn sie der Vorsorge für die Vermeidung künftig möglicherweise eintretender Schadensentwicklungen dienlich sein könnte. Die Distanz zu dem klassischen Modell des Ordnungsrechts ist so groß, daß mit den Veränderungen in den Rechtsnormen zugleich die rechtlichen Kontrollmöglichkeiten für deren Anwendung einem grundlegenden Wandel unterworfen sind. Wegen der wachsenden Verbreitung und Bedeutung solcher Rechtsnormen kann nicht angenommen werden, daß darin eine bloß zufallige oder willkürliche Entwicklung erkennbar wird. Es besteht vielmehr Grund zu der Annahme, daß durch die vermehrte Verwendung von Präventionsnormen zugleich das Ausmaß signalisiert wird, in dem die Gesellschaft insgesamt und mit ihr die dominierenden Rechtsstrukturen bedeutenden Veränderungen ausgesetzt sind. Um diese Vermutung zu erhärten, werden zunächst die eingangs dieser Untersuchung angestellten Überlegungen zum Risiko und zur Prävention aufgegriffen und fortgeführt (1). Die Befunde geben Anlaß zu der Besorgnis, daß die Bedingungen für die rechtliche Erfassung und Behandlung von Risiken Einfluß nicht nur auf die Anwendungssicherheit von Rechtsnormen und den Rechtsschutz von Betroffenen, sondern sogar auf die Funktion des Rechts nehmen (2). Dadurch wird es erforderlich, die Steuerungskapazität des Rechts unter den veränderten Bedingungen von Risiko und Vorsorge deutlicher zu beleuchten (3).

1. Risiko und Vorsorge Die Art der sozialen Veränderungen, auf die mit dem gesteigerten Einsatz von Präventionsnormen reagiert wird, sind am Beginn dieser Untersuchung mit dem Begriff der Risikogesellschaft bezeichnet worden 5 1 1 . Damit ist ein zusammenfassender Ausdruck für den Tatbestand gewählt worden, daß in mo511

Vgl. obenA. Π. (S. 9 ff.).

II.Risikogesellschaft und Rechtssystem

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dernen Gesellschaften alle aktuellen und möglichen Gefahren als Gegenstand von Entscheidungen behandelt und dadurch als Risiken interpretiert werden können. Nach der in den Sozialwissenschaften verbreiteten Begriffsbildung sind Risiken wie Gefahren zunächst gleichermaßen mögliche künftige Schäden, deren Eintritt gegenwärtig nicht sicher, wenig wahrscheinlich oder unwahrscheinlich sein kann. Wird der Eintritt möglicher Schadensfalle fur unbeeinflußbar gehalten, können sie externalisiert, z.B. als Zufall abgehandelt werden. Sind die potentiellen Schadensfalle hingegen das Produkt von Entscheidungen (darunter auch der Entscheidung, nicht zu entscheiden), dann werden sie als Risiken wahrgenommen. Der Unterschied zwischen Gefahren und Risiken liegt also in einer anderen Form der Zurechnung von Schadensverläufen. Bei Gefahren wird der Schadenseintritt der gesellschaftlichen oder natürlichen Umwelt zugerechnet, bei Risiken werden sie als Folgen des eigenen Handelns oder Unterlassens bewertet. Die Übernahme von Risiken beruht mithin auf einer Selbstwahrnehmung von Gefahr. Sie ist immer dann möglich, wenn es Technologien gibt, nach denen alternativ gehandelt werden kann. Erst dann nämlich kann ein etwaiger Schaden auf die Wahl der Handlung oder Unterlassung zugerechnet werden. Dann allerdings kann, muß aber auch im Unsicheren entschieden werden 5 1 2 . Die Möglichkeit einer Naturkatastrophe ist zunächst nur eine Bedrohung. Erst wenn man entscheidet, daß vorbeugende Maßnahmen ergriffen oder nicht getroffen werden sollen, tritt das Risiko auf, falsch zu entscheiden. Dies setzt sich bei der Wahl über die Art der vorbeugenden Maßnahme fort. Oder: daß die Weintrauben durch das Wetter ruiniert werden, ist eine Gefahr; daß der Wein durch falsche Behandlung mißlingt, ist ein Risiko 5 1 3 . Diese begriffliche Unterscheidung läßt deutlich werden, wie sehr die Wahrnehmung eines Ereignisses als entweder Gefahr oder Risiko von der Verfiigungsmöglichkeit über Wissen abhängig ist. Je mehr Wissen zur Verfugung steht, desto höher wird die Zahl derjenigen Ereignisse, die eigenem Verhalten zugerechnet werden (müssen). In modernen Gesellschaften, in denen ein für frühere Gesellschaften unvorstellbares Maß von Wissen angesammelt worden ist, steigt daher auch das Risiko. Dieser Effekt wird noch dadurch unterstützt, daß in modernen Gesellschaften auf eigenartige Weise zugleich mehr Wissen und mehr Nichtwissen produziert wird. Je mehr man weiß, desto besser weiß man auch, was man noch nicht weiß. Wissen einschließlich des Wissens über 512

Vgl. dazu Luhmann, Soziologie des Risikos, 1991, S. 30 ff. mit Erörterung der in den wesentlichen Funktionssystemen der Gesellschaft durch das Auftreten von Risiken hervorgerufenen Probleme. Für eine Übersicht vgl. auch Bechmann, Risiko als Schlüsselkategorie der Gesellschaftstheorie, KritV 1991,212 ff. 513 Dieses - offenbar die Unterscheidung von Risiko und Gefahr inspirierende Beispiel bei Ladeur, Risikowissen und Risikoentscheidung, KritV 1991, 242.

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E. Risiko Vorsorge und Recht

Nichtwissen führen dazu, daß in modernen Gesellschaften alle Gefahren auf Handlungen und Entscheidungen zurückgeführt und dadurch in die Form von Risiken gebracht werden können. Daß in modernen Gesellschaften ein außerordentlich hohes Maß an individuellen und kollektiven Entscheidungen zugelassen ist (aber auch verlangt wird), klingt zunächst nur wie eine liberale Selbstverständlichkeit. Unter den Bedingungen des Risikos handelt es sich aber um einen beträchtlichen Schritt in die kognitive und soziale Unsicherheit. In dem Maße nämlich, wie es wirtschaftlich, sozial und technisch möglich geworden ist, Entscheidungen mit ungewissen oder riskanten Folgen zu treffen, wird der Ausschnitt dessen, was ohne unter Umständen gravierende Nachteile für andere entschieden werden kann, immer kleiner. Jedenfalls können und werden solche Nachteile den getroffenen Entscheidungen zugerechnet und dadurch ins Zweifelhafte oder doch Unsichere gerückt. Insgesamt wird dadurch die moderne Gesellschaft darauf eingestellt, daß ihr Bestand und ihre weitere Entwicklung von Entscheidungen, die getroffen und verantwortet werden müssen, abhängt. Darin liegt eine sehr fundamentale Differenz zu allen früheren Gesellschaften. Diese konnten von der Annahme leben, daß die meisten Ereignisse des Lebens eine natürliche Grundlage besitzen. Erfreuliche wie unerfreuliche Vorgänge konnten externalisiert werden und auf diese Weise ihre sichere Erklärung finden. Die Zukunft konnte man sich im wesentlichen als die Wiederholung des Vergangenen mit bereits bekannten Gleichmäßigkeiten vorstellen. Mit der enormen Ansammlung von Wissen (einschließlich des Wissens über Nichtwissen) in modernen Gesellschaften gehören solche Überzeugungen nicht mehr zu dem allgemein geteilten Konsens in der Gesellschaft. Stattdessen weiß man, daß die Folgen von Entscheidungen fast immer ambivalent sind, also sowohl Vorteile wie Nachteile entstehen lassen. Das allein wäre wenig aufregend, wenn nicht durch das vorhandene Maß an Wissen ständig über mehr und neue Gegenstände, also auch über neue Gefahren, entschieden werden kann und muß - und man das weiß. Darunter finden sich heute auch solche Risiken, bei deren Eintritt hohe und höchste Schadenspotentiale freigesetzt werden können. Mit vielen neuen Risiken gibt es keine Erfahrung, und mit einigen davon sollte es keine geben, weil die potentiellen Schadensmöglichkeiten sonst die faktische Zukunft höchst undeutlich werden ließen. Bedenklich ist auch, daß Wissen über Risiken ein Wissen für den Umgang mit Ungewißheit ist und sich dadurch vollkommen von Wahrscheinlichkeitsannahmen unterscheidet, also paradoxes Wissen i s t 5 1 4 . 514

Vgl. Krohn/Weyer, Die Gesellschaft als Labor, in: Halfmann/Japp (Hrsg.), Riskante Entscheidungen und Katastrophenpotentiale, 1990, S. 89 ff., 97 ff.

II.Risikogesellschaft und Rechtssystem

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Bei der dadurch entstandenen Risikogesellschaft handelt es sich entgegen erstem Anschein nicht um eine bloße Abweichung von dem liberalen Modell der Trennung von Staat und Gesellschaft, sondern um ein durch die konsequente Durchführung des Modells entstandenes gesellschaftliches Aliud. Erst infolge der durch den liberalen Staat ermöglichten und garantierten Freigabe des Wissens und Forschens aus den vordem staatlichen oder religiösen Bindungen konnte es zu der davor unvorstellbaren Ansammlung von Wissen kommen. Damit ist die Schaffung und Wahrnehmung von vermehrten und qualitativ veränderten Risiken unvermeidbar geworden. Dieser seinerseits riskante Zustand ist die Folge einer primär in funktionale Teilsysteme differenzierten Gesellschaft. Die Ausdifferenzierung und Konstitution von Teilsystemen der Gesellschaft, die sich allein an jeweils spezifischen Leitdifferenzen orientieren und die nicht mehr über eine zentrale Gesamtrepräsentation integriert werden können, hat dazu geführt, daß eine gewaltige Steigerung des Auflösungsvermögens aller sozialen Sachverhalte stattgefunden hat. Die durch die funktionale Differenzierung der Gesellschaft strukturell erzeugte Überproduktion von Möglichkeiten steigert zugleich das Ausmaß sozialer Kontingenz. Die damit eröffneten Alternativen des möglichen Handelns erhöhen das in der Gesellschaft verfügbare Entscheidungspotential beträchtlich, gleichzeitig aber auch den Entscheidungszwang, und das auch für die Fälle ungewisser Entscheidungsgrundlagen und hoher Schadenspotentiale. In modernen Gesellschaften gibt es deswegen kein risikofreies Verhalten. Dadurch fehlt es umgekehrt an der Möglichkeit absoluter Sicherheit. Wenn man sich für die schnelle Überwindung einer räumlichen Distanz dazu entschließt, ein Flugzeug zu benutzen, aber feststellen muß, daß der Start wegen schlechten Wetters ausfallt, hätte man sich besser anderen Verkehrsmitteln anvertraut. Der Nachteil, dann früher aufgestanden sein zu müssen, wäre durch pünktliches Erscheinen am gewünschten Ziel aufgehoben worden, vorausgesetzt, das andere Verkehrsmittel wird nicht bestreikt worden oder hätte selbst gestreikt. Welche Wahl immer man trifft, das Risiko einer falschen Entscheidung sorgt für ständige Begleitung. Sofern man überhaupt entscheidet, lassen sich Risiken nicht vermeiden. Weil aber auch die Nichtentscheidung eine Entscheidung ist, wird das Risiko unausweichlich. Bedenklich ist, daß dadurch die klassischen Rationalitätsprämissen für Entscheidungen ruiniert werden. Zu ihnen gehört, daß die Richtigkeit der Entscheidung mit der Menge der bekannten und berücksichtigten Informationen steigt 5 1 5 . Nach der Entdeckung des Risikos dürfte nunmehr das Gegenteil 515

Allerdings weiß man seit geraumer Zeit und schon vor dem Auftauchen von Risiken, daß dies jedenfalls fiir Entscheidungen von Organisationen nicht gilt, vgl. dazu die heute noch instniktive Studie von March/Simon, Organizations, 1958 ("bounded rationality").

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E.Risikoorsorge und Recht

wahr sein. Schon die enorm gestiegene Zahl an Informationen dürfte regelmäßig die normalerweise zur Verfügung stehende Kapazität in sachlicher, personeller und zeitlicher Hinsicht sprengen. Neben den quantitativen Problemen entsteht aber auch ein qualitatives Dilemma. Das Wissen darüber, daß die Bedingungen der eigenen Entscheidung selbst nur das Produkt (möglicherweise unsicherer) anderer Entscheidungen sind, erhöht statt der Sicherheit eher die Unsicherheit der Entscheidung - obwohl und gerade weil die Zahl der Informationen hoch ist. Für die Einzelentscheidung ist dadurch erkennbar, daß mit der Menge und Komplexität des Wissens mehr Alternativen auftauchen, also weitere Entscheidungen erforderlich werden und also mehr Risiko entsteht 516 . Unter den Bedingungen des Risikos wird man daher nicht erwarten können, daß durch die Ansammlung von mehr Wissen der Übergang von Risiko zu Sicherheit gradlinig eintreten wird. Welche Form von Entscheidungsrationalität läßt sich unter diesen veränderten Voraussetzungen erwarten? Aus der Forschung über Organisationen ist seit langem bekannt, daß der Vergleich von Alternativen und Folgeproblemen einer Entscheidung im Hinblick auf Informationen, Konflikte und etablierte Beziehungen im Organisationsnetz viel zu komplex wäre, um optimale Entscheidungen garantieren zu können. Der Rationalitätsanspruch wird deswegen von optimalen auf bloß brauchbare Entscheidungen ("satisfying") abgesenkt 5 1 7 . Das Hinzutreten von Risiken läßt erwarten, daß die Entscheidungsrationalität nochmals verringert wird. Wie für aktuelle Gefahrensituationen ohnehin verständlich, darf auch für private und staatliche Planungs- und Verteilungsentscheidungen angenommen werden, daß die Entscheidungen in zunehmendem Maße impressionistisch angelegt, also auf hervortretende oder sofort wahrnehmbare Eindrücke und andere dominante Situationen des Sachverhalts gestützt werden. Dadurch entsteht eine Art retrospektiver Rationalität 518 , die erfolgreich sein kann oder nicht, jedenfalls durch einen denkbar großen Abstand zu dem tradierten Verständnis von Entscheidungsrationalität ausgezeichnet ist.

2. Die Funktion des Rechts Daß von dieser Entwicklung das Rechtssystem der Gesellschaft unberührt geblieben sein könnte, ist schon deswegen nicht vorstellbar, weil viele Entscheidungen in die Form des Rechts gebracht werden müssen, damit ihre Er516

Vgl. Evers/Novotny, Über den Umgang mit Unsicherheit, 1987, S. 190 ff. Vgl. Brunsson, The Irrational Organization: Irrationality as a Basis for Organizational Action and Change, 1985, S. 52 ff. 518 So die Schlußfolgenmg bei Jap ρ, S. 48 ff. 517

II.Risikogesellschaft und Rechtssystem

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kennbarkeit und Durchsetzbarkeit möglich ist. Damit wird die Vorstellung verbunden, daß zumindest die Sicherheit der Rechtsentscheidung gewährleistet werden kann. Ob und wie man sich diesen Effekt vorstellen könnte, wird noch zu behandeln sein. Jedenfalls darf nicht erwartet werden, daß durch die Form der Rechtsentscheidung die Rationalität der Entscheidung erhöht wird. Denn das würde bedeuten, die Rationalität einer Entscheidung in ihrer Verbindlichkeit zu suchen. Für klassische Rationalitätsansprüche läge darin eine befremdende Zumutung. Darüber ließe sich hinwegsehen, weil mit deren Voraussetzungen auch die Plausibilität der traditionellen Entscheidungsrationalität entfallen ist. Aber kann überhaupt die Verbindlichkeit riskanter Entscheidungen durch Recht hergestellt werden und welche Probleme müssen beachtet werden, wenn man dies versucht. In dieser Untersuchung findet sich der Befund, daß mit den auf Risikovorsorge zugeschnittenen Rechtsnormen die Sicherheit der Rechtsanwendung und der Rechtsschutz nicht mehr mit der gewohnten Deutlichkeit garantiert werden können. Darüber hinaus muß man vermuten, daß die durch das Auftreten von Risiken für das Recht insgesamt ausgelösten Probleme bis in die Strukturen des Rechts hinein Wirkungen zeigen. Es besteht sogar Anlaß zu der Besorgnis, daß auch das bislang gewohnte Verständnis der Rechtsgeltung selbst nicht unberührt bleibt. Die Suche nach den Gründen dafür, warum Recht gilt, gehört zu den klassischen Themen der Rechtsphilosophie. Die Bemühungen sind bisher vor allem deswegen unbefriedigend ausgefallen, weil sie mit der ganz anderen Frage nach den Maßstäben für richtiges, gerechtes oder doch angemessenes Recht verbunden und dadurch ein offenbar resistentes Maß an Unentscheidbarkeit geschaffen und aufrechterhalten worden ist. Auf diese Weise behandelt man die Geltung des Rechts als unauflösbares Rätsel und gerät sogar in die Verlegenheit, Probleme durch Probleme erklären zu wollen 5 1 9 . Aufschlußreicher ist es, mit dem Begriff der Norm selbst anzufangen und dann die Funktion von Rechtsnormen zu begründen. Alle Normen sind begründete Regeln, deren Geltungsgrundlage je nach den geschichtlichen Bedingungen in der (interpretierten) Natur, Moral, Gewalt, in legitimierenden Werten oder schließlich im positiven Recht selbst gesucht und gefunden werden kann. Wie immer man in dieser Kontroverse optiert, die Funktion von Normen besteht darin, eine spezifische Form der Zeitbindung herzustellen. Durch die Norm werden Erwartungen stabilisiert, auch und gerade für den Fall, daß anders als erwartet gehandelt wird. Bei Verstößen gegen die Norm ist nicht 519

Vgl. Luhmann, Die Geltung des Rechts, Rechtstheorie 1991, 273 ff.

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E.Risikoorsorge und Recht

falsch erwartet, sondern falsch gehandelt worden. Man hat sich zwar in der faktischen, nicht aber in der normativen Erwartung geirrt. Der Verstoß ist mithin kein Anlaß zur Änderung der Norm, sondern die Aufforderung, die Geltung der Norm zu bestätigen. Im Extremfall gilt das selbst dann, wenn der laufende Verstoß gegen Normen zweifelhaft werden läßt, ob die Geltung der Norm noch beabsichtigt ist. Die durch Normen erreichbare spezifische Form der Zeitbindung besteht darin, daß eine Erwartung mit der Maßgabe in die Zukunft projiziert wird, daß an der Erwartung auch im Enttäuschungsfall festgehalten werden kann: man hat, obwohl die Erwartung enttäuscht wurde, Recht gehabt 5 2 0 . Bei dieser Ausgangslage kann das Risiko ausschließlich in der Abweichung von der Norm liegen. Um diesen Unterschied zu markieren, wird die Norm mit entweder äußeren (rechtlichen) oder inneren (moralischen) Sanktionen ausgestattet. Wenn man sein eigenes Handeln im Normschema beobachtet, wird man in Ansehung möglicher Abweichungen die eigene Handlung als riskant erkennen, die Norm selbst wird als risikofreie Struktur vorausgesetzt. Wenn sich Nachteile der Norm herausstellen oder Präferenzen sich ändern, kann die Norm geändert werden. Aber sie gilt, solange sie gilt, und solange ist es kein Risiko, sich an ihr zu orientieren. Die Funktion von Rechtsnormen besteht nun darin, Erwartungen in zeitlicher, sachlicher und sozialer Hinsicht in eine Form zu bringen, die das Festhalten an der Erwartung auch im Enttäuschungsfall erlaubt. Durch bloßen Zeitablauf soll die Erwartung nicht geändert werden müssen. Um diese Funktion zu stabilisieren, müssen die Erwartungen wiedererkannt und mit dem Schema Konform/Abweichung diskriminiert werden können. Schließlich müssen die Erwartungen kongruent gehalten, also nicht durch zusätzliche Bedingungen der Gefahr ihrer Auflösung ausgesetzt werden. An dem Zeitbindungseffekt der Rechtsnormen läßt sich daher erkennen, daß erhebliche soziale Lasten mitgeschleppt werden müssen. Das Durchhalten von Erwartungen ist nur möglich, wenn die Unempfindlichkeit gegen weitere (soziale oder moralische) Zumutungen ausreichend gewährleistet ist. Durch das Eindringen des Risikos in das Recht werden diese Voraussetzungen eines funktionierenden Rechtssystems beträchtlich aufgeweicht. Die auf Risikovorsorge programmierten Rechtsnormen sind darauf gerichtet, den gewünschten Zustand in der Zukunft zu erreichen oder eine unerwünschte Lage zu vermeiden. Es soll mit anderen Worten die Zukunft von der Vergangenheit aus kontrolliert werden. Andererseits, was immer an Einzelwissen über die zukünftige Welt bekannt ist, man kann nicht wissen, was man in der Zukunft weiß - denn dann wüßte man es bereits (Popper). Durch das Anliegen präven520

Vgl. Luhmann, Rechtssoziologie, 2. Aufl. 1983, S. 27 ff.

II.Risikogesellschaft und Rechtssystem

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tiver Rechtsnormen entsteht zwangsläufig eine hohe Insuffizienz der Entscheidung, weil das erforderliche Wissen noch nicht zur Verfügung stehen kann. Wenn trotzdem der Versuch unternommen wird, die Symbole der Rechtsgeltung auf zukünftige Folgen zu orientieren, entsteht eine Begründungsparadoxie. Einerseits soll die Entscheidung gelten, weil bestimmte künftige Folgen vorausgesehen oder erwartet werden, andererseits wird mit der Verwendung des Geltungssymbols signalisiert, daß es darauf gar nicht ankommt, denn die Entscheidung soll auch dann gelten, wenn es zu ganz unerwarteten, die Entscheidung als falsch erweisenden Entwicklungen kommt. Es wird mithin das Risiko der falschen Entscheidung in der Rechtsnorm programmiert 5 2 1 . Durch die Anwendung von Recht auf Risikolagen entsteht also das Problem, die Zukunft darauf festzulegen, daß die Erwartungen künftig auch dann noch gelten, wenn es zu abweichenden und selbst entgegengesetzten Folgen kommt. Man wird sich dann darüber verständigen können, durch geeignete Verfahren der Neuentscheidung die faktischen Folgen zu korrigieren, kann aber nicht vermeiden, daß die Anwendung der Rechtsnorm falsch war. Deutlicher formuliert heißt das nichts anderes als daß man sich an der durch die Rechtsnorm begründeten Erwartung gerade nicht enttäuschungsfrei orientieren konnte. Der fur die Rechtsgeltung entscheidende Zeitbindungseffekt konnte nicht eintreten, weil die Erwartung durch die Zukunft enttäuscht wurde. Beispiele für solche Regelungszusammenhänge ließen sich auch in dem bislang geltenden Recht schon erkennen, so im Enteignungsrecht und im Notstandsrecht 522 . In beiden Fällen haben sich die Handelnden rechtmäßig verhalten, sind aber gleichwohl zur Hergabe des Eigentums und zur Duldung von Eingriffen verpflichtet. Der Ausnahmecharakter solcher Vorschriften war stets unbestritten. Die Steigerung dieses Prinzips läßt sich nun in dem neuen Umwelthaftungsrecht 523 deutlich erkennen. Die neu begründete Gefahrdungshaftung läßt grundsätzlich die in den Tatbeständen geregelten Handlungen zu, verpflichtet aber zum Schadensersatz, wenn ein überschießender Erfolg in der Form von weich definierten Umweltschäden auftritt. Obwohl rechtmäßig gehandelt wurde, soll ein riskanter Erfolg entschädigt werden 5 2 4 .

521

Vgl. Lukmann, Soziologie des Risikos, 1991, S. 67 f. Klassisch dazu: Merkel, Die Kollision rechtmäßiger Interessen und die Schadensersatzpflicht bei rechtmäßigen Handlungen (Straßburg) 1895. 523 Umwelthaftungsgesetz (UmweltHG) vom 10.12.1990 (BGBl. I, S. 2634) 524 Zur Diskussion darüber vgl. Reuter, Das neue Gesetz über die Umwelthaftung, BB 1991, 145 ff. Einen Oberblick zu den damit verbundenen Versicherungsproblemen gibt Merkisch, Haftung für Umweltschäden, BB 1990. 223 ff. 522

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E. Risikoorsorge und Recht

Nach diesen Überlegungen müßte deutlich geworden sein, daß mit dem Auftreten von Präventionsnormen nicht nur Vorsorge gegen das Entstehen künftiger Risiken betrieben wird, sondern die rechtlichen Regelungen selbst in hohem Maße riskant sind. Kein Zufall deshalb, daß für die Regelungen des administrativen Umweltrechts die Beobachtung gemacht wird, daß die Rechtsregeln von biologischen, chemischen oder technischen Sachverhalten dominiert werden und das Recht dadurch antiquarischen Wert erhält 5 2 5 . Nach den hier getroffenen Feststellungen zu den Wirkungen des Risikos auf die Struktur des Rechts selbst läßt sich genauer und pointiert formulieren, daß im Rechtssystem das Wagnis eingegangen wird, die Funktion des Rechts zu destabilisieren. Und es läßt sich keineswegs deutlich erkennen, daß dieser Effekt durch das Hinzufugen von Verfahrensregeln ausreichend kompensiert werden könnte.

3. Die Steuerungskapazität des Rechts Diese Überlegungen sind bereits inmitten der Diskussion über die Krise des regulativen Rechts und die Grenzen des Rechts überhaupt angesiedelt 526 . Das Interesse für die damit verbundenen Problemlagen ist zunächst aus Anlaß des seit den siebziger Jahren höchst auffälligen Wachstums der Rechtsproduktion entstanden. In dieser Phase intensiver gesetzgeberischer Aktivitäten zur inneren Reform ist deutlich geworden, in welch hohem Maße dem Staat Steuerungsansprüche und Planungsaufgaben zugetragen worden sind, die dieser in der Form des Rechts erfüllen sollte. Die Aufmerksamkeit konzentrierte sich zunächst darauf, wie die entstandene "Normenflut" bewältigt, insbesondere der Rechtsstoff gestrafft und so übersichtlich gestaltet werden kann, daß diffuse Effekte vermieden oder doch verringert werden können. Beträchtliche Hoffnungen wurden auf die Rationalisierung des Gesetzgebungsverfahrens gesetzt 5 2 7 . Parallel richtete sich viel Aufmerksamkeit darauf, die Probleme der Durchsetzung des bereits geschaffenen Rechts zu erörtern. Deutlicher als zuvor wurde wahrgenommen, daß mit der angewachsenen Menge des Rechts dessen effektive Anwendung nicht Schritt gehalten hatte. Die Implementa525

So die pointierte Feststellung von Wolf Zur Antiquiertheit des Rechts in der Risikogesellschaft, Leviathan 15, 357 ff. 526 ygj a u s d e r jüngeren Diskussion die Beiträge von Günther und Ritter, in: Grimm (Hrsg.), Wachsende Staatsaufgaben - sinkende Steuerungsföhigkeit des Rechts, 1990, S. 51 ff. und S. 69 ff. sowie aus sozial wissenschaftlicher Sicht: Kaufmann, Steuerung wohlfahrtsstaatlicher Abläufe durch Recht, in: Grimm/Maihofer (Hrsg.), Gesetzgebungstheorie und Rechtspolitik 1988, S. 65 ff. 527 Aus der Literatur vgl. Rödig u.a., Vorstudien zu einer Theorie der Gesetzgebung, 1976; Bohret (Hrsg.), Gesetzgebungspraxis und Gesetzgebungslehre, 1980; Hugger , Gesetze - Ihre Vorbereitung, Abfassimg und Prüfung, 1983.

II. Risikogesellschaft und Rechtssystem

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tionsforschung ließ deutlich werden, daß der Grund für die Durchsetzungsdefizite des Rechts nicht nur in der unzureichenden Ausstattung der Anwendungsinstanzen mit Personal und Sachmitteln identifiziert werden konnte. Darüber hinaus mußte, besonders für globale Steuerungsziele, angenommen werden, daß die rechtlichen Handlungsprogramme auf soziale Bedingungen stoßen, die sich gegen die Regelung sperren, und daß deswegen die beabsichtigten Wirkungen nicht oder nur unvollkommen oder in der Form perverser Effekte eintreten 5 2 8 . Der in diesem Zusammenhang verwendete Begriff der Verrechtlichung sollte zusätzlich zum Ausdruck bringen, daß die Bedeutung des Rechts auch für solche Sozialbeziehungen zugenommen hatte, die bislang durch andere Modi der Konfliktbewältigung geprägt waren 5 2 9 . Tatsächlich läßt es sich nicht übersehen, daß die nachlassende Steuerungskraft des Rechts auch in einer unübersichtlichen Zahl von Rechtsnormen und den dadurch provozierten Implementationsdefiziten liegt. Auch liegt es auf der Hand, daß die Ausdehnung rechtlicher Regelungen auf soziale Sachverhalte, die anderen Imperativen folgen, zu ungewollten und destabilisierenden Effekten führt. Mit den dazu gewonnenen Erkenntnissen gelangt man jedoch zunächst nur zu mehr oder weniger erfolgversprechenden Lösungsvorschlägen für die Hemmung des Rechtswachstums und die Beseitigung von Wirkungsindifferenzen. Aus solchen Feststellungen ließe sich wohl auch wenig mehr als die Empfehlung zu gesetzgeberischer Zurückhaltung und zu gesteigerter administrativer Handlungsfähigkeit geben. Unter den Bedingungen des Wohlfahrtsstaates müssen die politischen Chancen solcher Vorschläge als schwach bezeichnet werden. Man wird sich stattdessen mit der Überlegung befreunden müssen, daß die Menge an Rechtsnormen verringert oder vermehrt wird und die Durchsetzung des Rechts mehr oder weniger befriedigend gelingt, ohne daß damit die Voraussetzungen, Formen und Folgen zukunftsorientierter Rechtsnormen angemessen erfaßt werden können. Allerdings hat im Zusammenhang mit den Implementationsdefiziten des Rechts und den begrenzten Möglichkeiten der Politik, globale Planungsziele zu erreichen und effektiven Einfluß auf große Organisationen zu nehmen, inzwischen eine theoretisch weiterführende Diskussion über die Steuerungsleistungen und -grenzen des Rechts begonnen 530 . Die empirisch feststellbaren

528

Vgl. Mayntz (Hrsg.), Implementation politischer Programme, 2 Bde. 1980/1983; dies, u.a., Differenzierung und Verselbständigung. Zur Entwicklung gesellschaftlicher Teilsysteme, 1988. 52 ^ Vgl. dazu Voigt (Hrsg.), Verrechtlichung, 1980; Zacher, Verrechtlichung im Bereich des Sozialrechts, in: Kübler (Hrsg.), Verrechtlichung von Wirtschaft, Arbeit und sozialer Solidarität, 1984, S. 73 ff

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E. Risiko Vorsorge und Recht

Steuerungsprobleme in modernen Gesellschaften dienen als Ausgangspunkt für die Feststellung, daß darin systematische Grenzen für die Regelungskraft sozialgestaltenden Rechts erkennbar werden. In funktional differenzierten Gesellschaften, deren Teilsysteme sich ausschließlich an ihren jeweils spezifischen Relevanzkriterien orientieren und die füreinander nicht durchschaubar und nicht unmittelbar zugänglich sind, ist die direkte Bewirkung von Wirkungen durch Recht nur unvollkommen möglich. Mit den Mitteln des modernen regulativen oder regulatorischen Rechts, mit dem unmittelbare Sozialgestaltung in politischer Absicht erreicht werden s o l l 5 3 1 , laufen die rechtlichen Steuerungsbemühungen auf ein regulatorisches Trilemma zu: Jeder regulatorische Eingriff, der die Grenzen der Selbststeuerung gesellschaftlicher Teilsysteme überschreitet, ist entweder irrelevant oder hat desintegrierende Wirkungen für den gesellschaftlichen Lebensbereich oder aber desintegrierende Wirkungen auf das regulatorische Recht selbst zur Folge 5 3 2 . Diese Analyse zwingt zu der Feststellung, daß jenseits der Wirkungsgrenzen regulativen Rechts eine effektive Steuerung autonomer Sozialbereiche durch Recht nicht erwartet werden kann. Wo diese Grenzen liegen, bedarf jeweils genauerer Analyse der Regelungsziele und Implementationsbedingungen 533 . Generell darf immerhin vermutet werden, daß mit der Komplexität von Regelungsverhältnissen und mit der Vetomacht von Adressaten die Indifferenz oder Disfunktionalität regulatorischer Regelungsformen steigt. Selbst dort, wo diese Regelungsform eingesetzt werden könnte und dürfte, wird deswegen heute vorsorglich in Prozessen der Vorabstimmung und in Verhandlungssystemen der Konsens mit mächtigen gesellschaftlichen Akteuren gesucht. Manche Beobachter wollen daraus den Schluß ziehen, daß sich die Aufgabe des Rechts für die Erreichung großer oder mittlerer Steuerungsziele auf die Bereitstellung "weicher" Verhandlungsregeln beschränken müsse. Die dafür geeignete Form seien Relationierungsprogramme, in denen die äußeren Grenzen der Selbststeuerungspotentiale autonomer Sozialsystem beschrieben werden und mit deren Hilfe der wechselseitige Kontakt ermöglicht w i r d 5 3 4 . Viele Anzeichen sprechen dafür, daß auf andere Weise die bereits entstandenen neokoporatistischen Politikformen kaum angemessen behandelt werden können. Daß dadurch die Steuerungsmöglichkeiten mit Hilfe regulativen Rechts im übrigen 530

Vgl. exemplarisch Teubner, Reflexives Recht, ARSP 68 (1982), S. 13 ff; ders., Recht als autopoietisches System, 1989. 531

Vgl. Teubner, Verrechtlichung - Begriff, Merkmale, Grenzen, Auswege, in: Kübler (Hrsg.),, S. 289 ff., 312 ff. 532 Vgl. ders., ebenda, S. 316 f. 533 Siehe dazu Schuppert, Grenzen und Alternativen von Steuerung durch Recht, in: Grimm (Hrsg.), S. 217 ff. 534 Vgl. dazu (mit Ambitionen auf eine neue Staatstheorie) Willke, Ironie des Staates, 1992, S. 175 ff.

II.Risikogesellschaft und Rechtssystem

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desavouiert oder überflüssig würden, ist allerdings nicht zu erwarten, weil ein beträchtliches Maß an direkter Zielerreichung möglich bleibt 5 3 5 . Aus der Diskussion über die "Grenzen des Rechts" darf die Erkenntnis mitgenommen werden, daß wegen der Differenzierung moderner Gesellschaften in autonom operierende Teilsysteme nicht erwartet werden kann, daß durch Formen des regulativen Rechts unmittelbar sozialgestaltende Wirkungen in jedem Fall hervorgerufen werden können. Nach den bisherigen Betrachtungen über die Struktur und die Wirkungen präventiver Rechtsnormen muß darüber hinaus damit gerechnet werden, daß solche Wirkungen nicht einmal mehr beabsichtigt werden. Mit geringfügiger Überspitzung kann man deshalb behaupten, daß im Präventionsrecht der erklärte Verzicht auf materielle Steuerungsleistungen des Rechts zum Ausdruck kommt. Außerdem ist schon für die Bedingungen des Wohlfahrtsstaates erkennbar, daß Rechtsnormen kaum auf eine maximale Anwendungseffektivität festgelegt werden können. An dem Beispiel präventiver Rechtsnormen wird nun außerdem deutlich, daß das Risiko in die Struktur der Rechtsnormen selbst aufgenommen und dadurch die Vorstellung einer zielgerichteten Steuerungsleistung mit den Mitteln des Rechts aufgegeben wird. Überhaupt ist die klassische Vorstellung des regulativen Rechts, wonach die Rechtsnormen einen direkten Zugriff auf die Erreichung, Vermeidung oder Stabilisierung des gemeinten Sachverhalts erlauben sollen, seit längerer Zeit höchst unplausibel geworden. Sie orientiert sich zu stark an den Entstehungsbedingungen des modernen Formalrechts. Die historisch im Zeitalter des beginnenden Verfassungsstaates am Ende des 18. Jahrhunderts kreierte und schließlich mit großem Erfolg durchgesetzte Form der Rechtserzeugung und anwendung ist in einem heute wachsenden Maße nicht mehr überzeugend. Um den wesentlichen Unterschied nochmals deutlich werden zu lassen: das historisch erfolgreiche Regelungsschema konditionaler Programmierung besagt, daß dann, wenn ein in der Rechtsnorm geregelter Sachverhalt auftaucht, eine genau bestimmte Rechtsfolge eintritt. Im Gegensatz dazu besteht der heute weithin übliche Regelungstyp finaler Programmierung von Rechtsnormen darin, daß ein zumeist abstraktes Ziel erreicht werden soll, und die gesetzliche Regelung lediglich den Umfang der fiir die Zielerreichung zugelassenen Mittel bezeichnet. Die nun schon klassischen Beispiele für diesen Regelungstyp finden sich in dem Recht der sozialen Sicherheit und im Subventionsrecht. Die zur vorbeugenden Risikovermeidung eingesetzten Rechtsnormen übertragen 535 Vgl. dazu nochmals Schuppert, und aus politikwissenschaftlicher Perspektive Scharpf Die Handlungsfähigkeit des Staates am Ende des Zwanzigsten Jahrhunderts, in: Kohler-Koch (Hrsg.), Staat und Demokratie in Europa, 1992, S. 93 ff. 14 Neumann

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E. Risikoorsorge und Recht

diesen Regelungstyp in relevante Bereiche des Ordnungsrechts und steigern ihn an empfindlichen Stellen ins Unbestimmbare. Im Bereich des Ordnungsrechts handelt es sich um ein Regelungsschema sui generis, das ohne ein direktes Vorbild Eingang in die Rechtsmaterie gefunden hat. Vieles spricht dafür, daß dieser Vorgang eine für das Rechtsverständnis fundamentale Bedeutung besitzt. Dem Rechtssystem der Gesellschaft werden dadurch jetzt die vollen Konsequenzen der Positivierung des Rechts deutlich vor Augen geführt. Obwohl man spätestens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts eine theoretische Vorstellung davon gewonnen hatte, daß die Geltung des Rechts nicht mehr einfach auf die Imitation der Natur oder auf übersinnliche Direktiven gestützt werden kann, hat man sich lange Zeit mit der Vorstellung geholfen, daß äußere Invarianzen dem Recht als Ganzem Bestand geben. Daß Recht einfach nur deshalb gilt, weil es als Recht gesetzt wurde, also über dessen Geltung entschieden worden ist, hat sich bis heute der Rechtsphilosophie und Rechtstheorie noch nicht vollständig erschlossen. Präventive Rechtsnormen dürften geeignet sein, dieses Reflexionsdefizit deutlicher in Erscheinung treten zu lassen. Statt mit den Gründen für das richtige Recht zu beginnen, könnte man sich mit der (theoretisch voraussetzungsvollen, dann aber) einfachen Feststellung begnügen, daß Recht nichts anderes ist als die Unterscheidung von Kommunikation durch die Codierung mit den beiden Werten Recht/Unrecht 536 . Darin ist die Feststellung eingeschlossen, daß über jede rechtlich motivierte Kommunikation (von wem auch immer) nach rechtmäßig oder unrechtmäßig entschieden werden kann. Ein dritter Wert ist ausgeschlossen. Man kann auf die Rechtsbehauptung eines anderen nicht sinnvoll mit den Relevanzkriterien eines anderen Sozialsystems antworten, etwa, der erhobene Anspruch führe zu hohem Geldverlust, verletze religiöse Gefühle oder sei lieblich. Wenn man so antwortet, ist man für die weitere Teilnahme an der Rechtskommunikation disqualifiziert. Allerdings können dritte Werte in der Form von Paradoxien auftreten, die dann aber als solche im Rechtssystem invisibilisiert werden müssen. Ob die Unterscheidung von Recht und Unrecht mit Recht oder Unrecht eingeführt worden ist, kann als Entscheidung im Rechtssystem selbst nicht verantwortet werden. Sie taucht allerdings in den Schwierigkeiten zur Begründung einer Legishierarchie an durchaus prominenter Stelle wieder auf. Wenn eine Forderung des modernen Verfassungsstaates darin besteht, daß alle Rechtsnormen mit dem höherrangigen Verfassungsrecht vereinbar sein müssen, aber die Ver536

Vgl. dazuLuhmann, Die Geltung des Rechts, Rechtstheorie 1991, S. 273 ff.

II.Risikogesellschaft und Rechtssystem

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fassung selbst nur in engen Grenzen geändert werden darf, dann taucht zwangsläufig die Frage nach der Legitimation eines änderungsfesten verfassungsrechtlichen Regelungsgehalts auf. Mit der Codierung des Rechtssystems nach Recht und Unrecht ist dieses Problem logisch unentscheidbar. Praktisch wird es dadurch gelöst, daß die Verfassungsinhalte neu interpretiert werden. Dies geschieht allerdings zumeist nicht durch den theoretisch dazu berufenen Gesetzgeber, sondern durch die im Modell dafür nicht zuständigen Gerichte. Die logische Paradoxie wird also durch pragmatische Systemoperationen entschärft. An den Risikovorsorgenormen läßt sich nun beobachten, daß zwar die Codierung Recht/Unrecht im Rechtssystem aufrechterhalten wird, aber die rechtliche Qualität von Verwaltungsentscheidungen und richterlichen Urteilen allein auf die kompetenzrechtlich begründete Verbindlichkeit der Norm und der darauf gestützten Entscheidungen beruht. Hingegen wird die Herstellung von Erwartungssicherheit, mithin die Aktualisierung der Funktion des Rechts, in entscheidendem Umfang ausgehöhlt. Am Beispiel des neuen informationellen Polizeirechts konnte festgestellt werden, daß keine relevanten Grenzen für die polizeiliche Tätigkeit errichtet wurden. Die tatbestandlichen Formulierungen führen dazu, daß der Orientierungswert der Regelungen für mögliche Betroffene dadurch weitgehend entfallt. Unter diesen Bedingungen kann Erwartungssicherheit schon deswegen nicht gebildet werden, weil man sein eigenes Verhalten nicht so einrichten kann, daß man mit einiger Wahrscheinlichkeit von polizeilicher Observation verschont bleibt. Nun läßt sich zwar im Rechtssystem ohnehin nicht jede Rechtsnorm so ausgestalten, daß alle Teilnehmer am Rechtsverkehr ihr Verhalten eindeutig nach Recht oder Unrecht einrichten könnten. Schon bisher kamen Eingriffstatbestände vor, deren Orientierungswert gering war, z.B. die polizeirechtliche Generalklausel. Die in solchen Rechtsnormen enthaltenen Undeutlichkeiten werden durch die typischen Formulierungen in Vorsorgenormen jedoch beträchtlich gesteigert und durch die wachsende Bedeutung und Verbreitung solcher Tatbestände auch erheblich ausgedehnt. Vor allem aber fallt ins Gewicht, daß die Verwaltungsentscheidungen durch die sowohl im Polizeirecht wie in weiten Bereichen des Umweltrechts verbreiteten Abwägungsformeln lediglich einzelfallbezogene Ergebnisse erwarten lassen, die eine für die Erwartungssicherheit notwendige Generalisierung kaum mehr zulassen werden. Die der Verwaltung dadurch zufließende Definitionsmacht kann auch durch richterliche Kontrolle nicht auf das für die Herstellung von Erwartungssicherheit erforderliche Niveau gehoben werden, weil dort (allenfalls) noch die Einhaltung der äußersten Grenzen des Verwaltungsermessens geprüft werden kann.

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E. Risiko Vorsorge und Recht

Diese Feststellungen können zu der Behauptung verdichtet werden, daß die auf der Grundlage von Präventionsnormen getroffenen Entscheidungen nicht mehr die Qualität von Rechtsentscheidungen erreichen, weil die Entscheidungsgrundlagen selbst normativ ausgedünnt sind und das zugleich freigegebene Verwaltungsermessen die Generalisierung von Erwartungen verhindert. Die Funktion des Rechts wird dadurch in hohem Maße beeinträchtigt. Zugleich liegt darin ein Verzicht auf generelle Steuerungsleistungen des Rechts. Die rechtlich nicht oder kaum mehr strukturierte Verwaltungsentscheidung und die ausgehöhlte richterliche Kontrolle sind nicht geeignet, Hoffnungen auf eine gleichmäßig zielgerichtete Bewirkung von Wirkungen zu begründen. Die Ersetzung genereller Verhaltensanforderungen durch situativ ansetzendes Verwaltungshandeln mag zu den jeweils beabsichtigten Wirkungen fuhren. In dem hier behandelten Beispiel kriminalpräventiver Informationsbeschaffüng läge darin dann aber nicht der Erfolg einer spezifisch rechtlichen Entscheidungsgrundlage, weil der Erfolg mit dem Verzicht auf die Funktion des Rechts verbunden ist. Auch dieses Fazit läßt vermuten, daß im Bereich von Präventionsnormen die spezifischen Leistungen des Rechts in erster Linie durch verfahrensrechtliche Lösungen erhalten werden können.

III. Die Gefährdung des Rechtsstaates Nach alledem lassen sich optimistische Erwartungen über effektive Steuerungsleistungen des Rechts für zukunftsgestaltende Tätigkeiten des Staates kaum begründen. Zunächst durch den Wohlfahrtsstaat und nun mit qualitativer Steigerung durch den Präventionsstaat werden alle wichtigen Regeln des liberalen Konstitutionalismus unterlaufen oder doch in ihrer Bedeutung entscheidend abgeschwächt. In dem modernen Vorsorge- und Sicherheitsrecht ist es nicht mehr der Gesetzgeber, der die fest umrissenen, erkennbaren und durchsetzungsfahigen Grenzen staatlicher Handlungen in der Form von Gesetzen beschreibt, die Verwaltung die Anwendung der Gesetze betreibt und Gerichte die rechtliche Kontrolle übernehmen. Dieses historisch überaus erfolgreiche Modell einer staatlichen Binnendiflferenzierung hat von der Voraussetzung gelebt, daß sich die staatliche Tätigkeit auf die Abwehr freiheitsbedrohender Störungen der gesellschaftlichen Autonomie oder auf die Wiederherstellung eines gestörten Freiheitszustandes richtet. Unter diesen Voraussetzungen konnte in dem Gesetz als dem wichtigsten Verbindungsstück zwischen den getrennten Sphären von Staat und Gesellschaft das staatliche Handeln mit großer Sicherheit nach rechtmäßig oder rechtswidrig diskriminiert werden. Als Maßstab fiir die Rechtswidrigkeit dienten die Grundrechte, die alle wesentlichen Bereiche freier sozialer Handlungsformen erfaßten.

III.Gefährdung des Rechtsstaats

213

Seitdem der Staat auch das Ziel der Wohlfahrt und darüber hinaus der Zukunftssicherheit zu seinen Aufgaben gemacht hat, ist in gleichem Umfang die Justitiabilität seines Handelns verringert worden. Das Gesetz ist dadurch zu einem Ort für die Formulierung von Zielen und Gestaltungsaufgaben geworden. Entgegen dem Ideal des liberalen Verfassungsstaates wird dadurch die Interpretation und Anwendung der Gesetze in die Hände der Verwaltung gelegt, die ihre Handlungsprogramme erst im Vollzug desselben entwickelt. Statt Gesetze anzuwenden, werden soziale Ziele angesteuert, denen gegenüber die Wirkungen für den Freiheitsgebrauch der Betroffenen kaum mehr in ein rationales Kalkül gebracht werden können. Von diesen Schwächen des Gesetzes wird auch die gerichtliche Kontrolle infiziert, die wie im bürokratischen Vollzug der Normen anstelle einer rechtlichen Prüfung Gesichtspunkte der sozialen und ökologischen Vertretbarkeit bemühen muß. Von dieser Entwicklung sind auch die von den Grundrechten ausgehenden Wirkungen nicht unberührt geblieben. Die verfassungsrechtliche Antwort auf den Funktionswandel staatlicher Tätigkeit (Grundrechtseingriff) ist das Verhältnismäßigkeitsprinzip, das die Verfassungsmäßigkeit einer administrativen Grundrechtsbeschränkung nicht mehr nur von einer ausreichenden gesetzlichen Ermächtigung der Verwaltung abhängig macht, sondern auch davon, daß das ermächtigende Gesetz selbst das betroffene Grundrecht nicht unzumutbar beschränkt und kollidierende Grundrechtspositionen angemessen zum Ausgleich gebracht werden. In den Bereichen der sogenannten nichtimperativen Staatstätigkeit hat in der Reaktion auf die veränderten Bedingungen eine Erweiterung des Eingriffsbegriffs auf alle grundrechtsbeeinträchtigenden Auswirkungen der Staatstätigkeit und des Gesetzesvorbehalts auf alle grundrechtswesentlichen staatlichen Aktivitäten unabhängig von ihrer Eingriffsqualität stattgefunden. Die Grundrechte selbst werden auch nicht mehr nur als subjektive Abwehrrechte gegen den Staat, sondern überdies als objektive Prinzipien interpretiert, die den Staat zum allseitigen Schutz der grundrechtlichen Freiheiten verpflichten und seine sozialgestaltende Tätigkeit auf die Beachtung der grundrechtlichen Prinzipien festlegt. Diese Interpretationsgewinne dürfen jedoch nicht überschätzt werden. Für die Grundrechte als objektive Gestaltungsprinzipien zeigt sich in der verfassungsrechtlichen Anwendung, daß sie nicht denselben Bindungsgrad wie in ihrer Funktion als subjektive Abwehrrechte entfalten. Die hohe Bindungskraft der bloß negatorisch wirkenden Grundrechte liegt darin begründet, daß sie als Handlungsverbote nur auf eine einzige Weise erfüllt werden können, nämlich durch Unterlassen. Eine Verletzung kann daher auch nur auf eine denkbare Weise behoben werden, nämlich durch die rechtliche Annullierung des Staatsaktes. Als Abwehrrechte gelten die Grundrechte folglich unmittelbar und kön-

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E. Risikoorsorge und Recht

nen im Verletzungsfall von den Gerichten auf sichere Weise durchgesetzt werden. Dagegen steht für die Erfüllung einer grundrechtlichen Zielvorgabe eine Vielzahl zulässiger Alternativen zur Verfügung. Es ist dann Sache der Politik, nach Maßgabe ihrer Prioritäten und Ressourcen darüber zu entscheiden, wie ein grundrechtlicher Handlungsauftrag erfüllt wird. In ihrer Eigenschaft als objektive Prinzipien sind die Grundrechte also auf gesetzliche Vermittlung angewiesen. Solange diese fehlt, gewähren sie dem Einzelnen keinen Anspruch und können folglich auch vor Gericht nicht durchgesetzt werden 5 3 7 . Der auf diese Weise weitgehend dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz übertragene Grundrechtsschutz sorgt fur beträchtliche rechtsstaatliche und demokratische Kosten. Die in den Verhältnismäßigkeitsüberlegungen notwendigen Zumutbarkeits- und Angemessenheitsstandards entziehen sich einer Generalisierung und sind deswegen nur zur Lieferung fallbezogener Ergebnisse geeignet. Soweit Gerichte die Legislative oder Exekutive unter Anlegung dieses Maßstabs kontrollieren, ziehen sie daher die Sozialgestaltung an sich, ohne dafür hinreichend ausgestattet oder legitimiert zu sein. Noch bedenklicher ist, daß die jetzt vordringende Risikovorsorge auch die freiheitssichernde Wirkung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in relevanten Bereichen des Ordnungsrechts zu schmälern droht. Als Maßstab fur die Rechtmäßigkeit staatlicher Handlungen macht er die Angemessenheit einer Grundrechtsbeschränkung von dem Ausmaß der bekämpften Gnindrechtsgefahr abhängig. Ist diese groß genug, kann die Eingriffsschwelle für andere Grundrechte drastisch sinken. In der Risikogesellschaft wird es also denkbar, daß jede einzelne Maßnahme als verhältnismäßig geringfügige Belastung zugunsten eines hochwertigen Rechtsguts erforderlich und angemessen erscheint, in der Summe von Einzelmaßnahmen aber die Möglichkeiten freier Willensentscheidungen mit dem Höchstwert Sicherheit entscheidend beschränkt werden. Ob und wie dieser schleichende Prozeß von Wirkungsverlusten der Verfassung aufgehalten werden kann, läßt sich gegenwärtig nicht sicher beantworten. Irritierend ist, daß die wohlfahrts- und sicherheitsstaatlichen Veränderungen nicht eigentlich eine Abweichung von dem liberalen Rechtsstaatsmodell sind, sondern dessen Konsequenz. Dadurch bleibt es zwar möglich, die Abweichungen an dem Maßstab des Modells zu identifizieren. Aber die Lösung der Probleme kann nicht einfach in der Rückkehr zu einem liberalen Rechtsstaatsverständnis bestehen. Im Präventionsstaat gilt nun nicht mehr: der Eintritt von Schadensfallen wird hingenommen und es wird nur vorgegeben, wie

537 ygj fij r diesen Zusammenhang Grimm, Der Wandel der Staatsaufgaben und die Krise des Rechtsstaates, in: ders. (Hrsg.), Wachsende Staatsaufgaben - sinkende Steuerungsfähigkeit des Rechts, 190, S. 291 ff.

III.Gefährdung des Rechtsstaats

215

sie behandelt werden sollen, wenn sie sich ereignen. Stattdessen dominiert das Prinzip: der Eintritt von Schadensfallen soll vermieden werden, und es wird bestimmt, daß der Schutz so früh wie möglich einzusetzen hat. Prävention wird dadurch zur dominanten staatlichen Handlungsstrategie und berührt sogar die Geltungsbedingungen des rechtsstaatlichen Verteilungsprinzips. Dessen Gehalt besteht in einer Ungleichverteilung der Argumentationslasten bei freiheitsbeschränkendem Staatshandeln. Rechtfertigungsbedürftig ist das staatliche Handeln, nicht der Freiheitsgebrauch, und staatliches Handeln ist nur gerechtfertigt, wenn der Freiheitsgebrauch nicht unverhältnismäßig beschränkt wird. Prävention dagegen scheint die Begründungslasten umzukehren. Gerechtfertigt werden muß nicht mehr das staatliche Handeln, sondern der Freiheitsgebrauch, und der Freiheitsgebrauch ist nur gerechtfertigt, wenn er staatliche Vorsorge nicht übermäßig behindert. In dieser Umkehrung oder im günstigsten Fall: Glcichgewichtung der Begründungslast liegen bedeutende Gefahren für den Freiheitsgebrauch der Bürger, auch wenn nicht sofort die Nachteile und Beschränkungen deutlich werden. In der Summe aber könnte eine Gesellschaft entstehen, in der die Grundrechte trotz ihrer formellen Geltung ohne entscheidenden Einfluß auf die Sicherung freier Handlungsmöglichkeiten bleiben. Ob die gegenwärtig diskutierten Möglichkeiten, den schleichenden Wirkungsverlust des Gesetzes und der Grundrechte aufzuhalten, erfolgreich sein werden, bleibt abzuwarten. Durch die Steigerung des allgemeinen Gesetzesvorbehalts zum Parlamentsvorbehalt ist zwar die Herrschaft des Gesetzes in vordem unberührte Sozialbereiche ausgedehnt und die Entscheidungsprärogative des Gesetzgebers gestärkt worden. Die damit verbundene Vermehrung von Gesetzen ist aber kein eindeutiges Indiz für die ungebrochene Bedeutung des Rechtsstaats. Diese beruht nicht so sehr auf der Form des Gesetzes, sondern auf der im Gesetz niedergelegten Bindungskraft. Im Präventions- und Sicherheitsrecht ist aber gerade dieses Qualitätsmerkmal stark beeinträchtigt. Immerhin ist es vorstellbar, daß mit Hilfe des Parlamentsvorbehalts stärkere Kriterien für Antworten auf die Frage entwickelt werden, in welchen Formen die Übertragung von Regelungskompetenzen an die Exekutive statthaft ist (und dadurch z.B. die Wahl von Globalermächtigungen begrenzt werden kann). Auch könnte noch stärker aufgeklärt werden, ob sie die Verpflichtung des parlamentarischen Gesetzgebers zur Regelung des Wesentlichen eines Sachverhalts zur Begründung spezifischer Regelungsaufgaben im Umweltrecht, z.B. für die Festlegung von Grenzwerten, ergeben 538 . 538 ygj fazu d enninger, Verfassungsrechtliche Anforderungen an die Normsetzung im Technik- und Umweltrecht, 1990.

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E.Risikoorsorge und Recht

Ob darüber hinaus auch aus der Schutzpflicht des Staates günstige Wirkungen erwartet werden können, ist zweifelhaft. Diese jüngste Neuschöpfung der Verfassungsdogmatik ist im Zusammenhang mit dem Schutz des ungeborenen Lebens entwickelt und dort zu einer sehr starken Handlungspflicht des Staates zugespitzt worden 5 3 9 . Obwohl seitdem die Schutzpflicht des Staates zur Begründung gesetzgeberischer Regelungserfordernisse mehrfach in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung herangezogen worden ist, sind die Auswirkungen dieses Grundsatzes auf die Regelungsaufgaben des Gesetzgebers und vor allem die negatorischen Freiheitsgrundrechte noch weitgehend unklar. Eine wesentlich erhöhte Bindungskraft von Gesetzen kann wohl aus der Schutzpflicht des Staates allein nicht begründet werden. Ob mit verfahrensrechtlichen Lösungen fur ausreichende Kompensation gesorgt werden kann, ist ebenfalls noch nicht ausreichend geklärt. Es liegt nahe, Einfluß auf die Qualität und Bindungskraft von Gesetzen bereits bei ihrer Herstellung zu nehmen. Aber auch die Gesetzgebung muß bei zukunftsorientierten Rechtsnormen unausweichlich mit theoretischen Simulationen für künftiges, also unbekanntes faktisches Geschehen operieren. In diese Entscheidungen unter den Bedingungen von Ungewißheit gehen in hohem Maße theoretische Modellkonstruktionen statt Erfahrungswissen ein. Das ist unvermeidlich, weil die Zukunft prognostiziert werden muß, also gegenwärtiges Erfahrungswissen nur begrenzte Bedeutung erlangen kann. Darin besteht die große Herausforderung an die Rationalität von Verfahrensregeln. Wenn man nicht genau weiß und auch nicht wissen kann, welche Effekte aus gegenwärtigen Entscheidungen fur zukünftige Sachverhalte entstehen, hängt die Qualität der Entscheidung vor allem davon ab, welche Korrekturmöglichkeiten zukünftig noch benutzt werden können und inwieweit diese für die Vermeidung unerwünschter Wirkungen geeignet sind. Es muß mit anderen Worten darauf geachtet werden, daß alternative Handlungsmöglichkeiten durch gegenwärtige Entscheidungen nicht ausgeschlossen werden, sondern später noch als Alternative zur Verfügung stehen 540 . Die Steuerungsleistung von Verfahrensregeln würde dann darin bestehen, Handlungsalternativen zu erzeugen und präsent zu halten. An diesen Möglichkeiten wird deutlich, daß die Distanz zu den Steuerungsleistungen des regulativen Rechts groß ist. Aber wenn wegen der Ungewißheit künftiger Ereignisse eine unmittelbare Bewirkung von Wirkun539

Vgl. BVerfGE 39,41. Mit einigen Anregungen dazu vgl. Roßnagel, Die parlamentarische Verantwortung für den technischen Fortschritt, ZPR 1992, 55 ff. Ein spezieller Vorschlag bei Ladeur, Die Entsorgung der Kernenergie als Rechtsproblem - Zu den Anforderungen an Gesetzgebung unter Ungewißheitsbedingungen, UPR 1989, 241 ff und ders., Gesetzesinterpretation, "Richterrecht" und Konventionsbildung in kognitivistischer Perspektive, ARSP 1991, 176. 540

III.Gefhrdung des Rechtsstaats

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gen ohnehin nicht erwartet werden kann, dann könnte auf diese Weise die Möglichkeit eröffnet werden, irreversible Entscheidungen zu vermeiden oder doch deren Auswirkungen zu mildern. Für Kompensationsleistungen zugunsten materiell-rechtlich schwacher Bindungskraft von Rechtsnormen kommen auch Einsichts-, Beteiligungs- und Mitentscheidungsrechte von Betroffenen oder Sachwaltern in Betracht. Übertriebene Erwartungen sind jedoch nicht angebracht. Durch Einsichtsrechte können zwar die Ansatzpunkte vermehrt werden, um öffentliches Interesse zu erregen. Durch die Wahrnehmung von Beteiligungsrechten kann unter günstigen Umständen Einfluß auf die Entscheidung genommen werden. Ob darüber hinausgehende Mitentscheidungsrechte die Qualität von Entscheidungen begünstigen, ist hingegen unklar. Schlecht begründet erscheint die häufig erhobene Forderung, daß Entscheidungen mit unsicheren Wirkungen in der Zukunft nur im Zusammenwirken von Entscheidern und Betroffenen gefallt werden dürften. Solche Überlegungen beruhen auf der Annahme, daß die Entscheidungsinstanz selbst nicht von den eigenen Entscheidungen betroffen ist und daher das Interesse der Betroffenen nicht ausreichend zu reflektieren vermag. An den "großen" Risiken zeigt sich aber, daß der Kreis der Betroffenen heute so groß sein kann, daß im Regelfall auch die Entscheider selbst Betroffene ihrer eigenen Entscheidungen sind. Immerhin wird man daraus die Überlegung festhalten können, daß die Beteiligung von Betroffenen an der Herstellung riskanter Entscheidungen die soziale Bereitschaft zur Abnahme solcher Entscheidungen fordern kann. Hier liegen große Herausforderungen an die Schaffung ausreichend zustimmungsfähiger Verfahrensregeln. Dabei darf nicht übersehen werden, daß alle Modelle der Beteiligung von Betroffenen hohe Abstimmungslasten erzeugen, empfindsame Dissenzregeln notwendig und Organisationen erforderlich machen. Die demokratische Vision könnte dadurch zu einem Impuls fiir bürokratisches Wachstum werden. Nach alledem drängt sich der Eindruck auf, daß die Möglichkeiten des Verfassungsrechts fur die Beschaffung von Ersatzlösungen fur materiell-rechtliche Regelungsschwächen noch nicht erschöpft sind. Aber es bleibt abzuwarten, in welcher Form und in welchem Umfang die aufgetretenen Probleme bewältigt werden können. Es könnte schon als Erfolg gebucht werden, wenn es mit Hilfe von Verfahrensregeln gelingen würde, konsensfahige Definitionen der für die Gesellschaft tragbaren sozialen und technischen Risiken herzustellen.

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