Vorabentscheidungsverfahren und Beschleunigungsgebot in Strafsachen: Unter besonderer Berücksichtigung des Eilvorlageverfahrens zum Gerichtshof der Europäischen Union nach Art. 104b der Verfahrensordnung [1 ed.] 9783428536023, 9783428136025

Den Anforderungen des Beschleunigungsgebots aus der EMRK, dem Grundgesetz und dem Unionsrecht gerecht zu werden, ist auc

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German Pages 287 Year 2011

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Vorabentscheidungsverfahren und Beschleunigungsgebot in Strafsachen: Unter besonderer Berücksichtigung des Eilvorlageverfahrens zum Gerichtshof der Europäischen Union nach Art. 104b der Verfahrensordnung [1 ed.]
 9783428536023, 9783428136025

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Beiträge zum Internationalen und Europäischen Strafrecht Studies in International and European Criminal Law and Procedure Band / Volume 12

Vorabentscheidungsverfahren und Beschleunigungsgebot in Strafsachen Unter besonderer Berücksichtigung des Eilvorlageverfahrens zum Gerichtshof der Europäischen Union nach Art. 104b der Verfahrensordnung

Von Kathleen Maja Wolter

Duncker & Humblot · Berlin

KATHLEEN MAJA WOLTER

Vorabentscheidungsverfahren und Beschleunigungsgebot in Strafsachen

Beiträge zum Internationalen und Europäischen Strafrecht Studies in International and European Criminal Law and Procedure Herausgegeben von / Edited by RiLG Prof. Dr. Kai Ambos

Band / Volume 12

Vorabentscheidungsverfahren und Beschleunigungsgebot in Strafsachen Unter besonderer Berücksichtigung des Eilvorlageverfahrens zum Gerichtshof der Europäischen Union nach Art. 104b der Verfahrensordnung

Von Kathleen Maja Wolter

Duncker & Humblot · Berlin

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG WORT.

Die Juristische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin hat diese Arbeit im Wintersemester 2010/2011 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2011 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: TextFormA(r)t, Daniela Weiland, Göttingen Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 1867-5271 ISBN 978-3-428-13602-5 (Print) ISBN 978-3-428-53602-3 (E-Book) ISBN 978-3-428-83602-4 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Meinen Eltern

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2010/2011 von der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin als Dissertation angenommen und mit dem Promotionspreis 2011 bedacht. Rechtsprechung und Literatur sind bis zu diesem Zeitpunkt berücksichtigt. Ganz herzlich danken möchte ich meinem Doktorvater Herrn Prof. Dr. Martin Heger, der mich überhaupt erst auf die Idee einer Promotion gebracht und mich im Folgenden bei meinen Forschungen stets mit Rat, Tat und Zuspruch unermüdlich unterstützt hat. Dank gebührt auch Frau Prof. Dr. Tatjana Hörnle für die rasche Erstellung des Zweitgutachtens und Herrn Prof. Dr. Kai Ambos für die freundliche Aufnahme in diese Schriftenreihe. Für interessantes Hintergrundwissen und aufschlussreiche Einblicke in das neue Eilvorlageverfahren am Gerichtshof der Europäischen Union danke ich der Generalanwältin beim EuGH, Frau Prof. Dr. Juliane Kokott. In fachlicher und sprachlicher Hinsicht haben mich Julia Brons, Jutta Wickenhäuser und Karsten Wolter durch ihre kritischen Hinweise dankenswerterweise bei der Erstellung dieser Arbeit unterstützt. Bedanken möchte ich mich zudem bei der Studienstiftung des deutschen Volkes für das Promotionsstipendium, das mir nicht nur Zeit und Raum für das Verfassen dieser Arbeit verschafft, sondern durch Auslandsaufenthalte auch neue Einsichten und Erfahrungen ermöglicht hat, und beim Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG WORT, mit dessen Unterstützung dieses Buch gedruckt wurde. Dass ich die Promotionszeit aber als die schönsten Jahre des Studiums in Erinnerung behalten werde, liegt vor allem an den zahlreichen Weggefährten, die mit mir diese abwechs­lungsreiche, aufregende Zeit erlebt und geteilt haben. Allen Freundinnen und Freunden sei an dieser Stelle von Herzen für Beistand, Anregungen und Ermutigung gedankt. Besonderer Erwähnung bedarf dabei nicht zuletzt, dass ich mich stets eines soliden Rückhalts in meiner gesamten Familie glücklich schätzen durfte. Insbesondere meinen Eltern, Petra und Karsten Wolter, bin ich für ihre immer liebevolle Begleitung und moralische Unterstützung zutiefst dankbar, so dass ich ihnen diese Arbeit widme. Berlin, im August 2011

Kathleen Maja Wolter

Inhaltsübersicht Einführung: Gegenstand und Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Erster Teil Begriffsklärung und Problemdarstellung A. Bedeutung des Beschleunigungsgebots . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 B. Beschleunigungsgebot in der europäischen Menschenrechtskonvention . . . . . . . . . . . 35 C. Beschleunigungsgebot im deutschen Straf- und Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . 48 D. Beschleunigungsgebot im Recht der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 E. Vorabentscheidungsverfahren im Spannungsverhältnis zum Beschleunigungsgebot . 74 Zweiter Teil Darstellung und kritische Analyse des neuen Eilvorlageverfahrens vor dem Gerichtshof der Europäischen Union A. Entstehungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 B. Konkrete Ausgestaltung des Eilvorlageverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 C. Erste Erfahrungen mit dem Eilvorlageverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 D. Kritik des Eilvorlageverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 Dritter Teil Lösungsmöglichkeiten für das Spannungsfeld zwischen Vorabentscheidungsverfahren und dem Beschleunigungsgebot A. Vorverständnis hinsichtlich der zu erarbeitenden Lösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 B. Lösungen zur Erweiterung der Kapazität des Gerichtshofs der Europäischen Union . . 209 C. Lösungen zur Beschränkung von Vorabentscheidungsersuchen . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 D. Eigener Lösungsvorschlag für Strafgerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 Schluss: Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284

Inhaltsverzeichnis Einführung: Gegenstand und Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23

Erster Teil Begriffsklärung und Problemdarstellung A. Bedeutung des Beschleunigungsgebots . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 B. Beschleunigungsgebot in der europäischen Menschenrechtskonvention . . . . . . . . . . 35 I.

Rechtliche Konkretisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35

II.

Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte . . . . . . . 37 1. „Strafrechtliche Anklage“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 2. Beginn und Ende der „strafrechtlichen Anklage“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 3. Überschreiten der „angemessenen Frist“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 a) Keine absolute Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 b) Kriterien innerhalb der Gesamtabwägung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 4. Konventionsrechtliche Konsequenzen einer Verletzung von Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45

C. Beschleunigungsgebot im deutschen Straf- und Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . 48 I.

Rechtliche Konkretisierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 1. Strafprozessordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 2. Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49

II.

Auslegung durch die Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 1. Annäherung an die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 2. Kriterien der Gesamtabwägung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesgerichtshofs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 3. Strafrechtliche und strafprozessuale Konsequenzen der überlangen Verfahrensdauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 a) Strafzumessungslösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 b) Strafvollstreckungslösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58

12

Inhaltsverzeichnis

D. Beschleunigungsgebot im Recht der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 I.

Rechtliche Konkretisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 1. Rechtslage vor dem Vertrag von Lissabon: Grundrechtsbindung durch exArt. 6 EUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 2. Vor und nach dem Vertrag von Lissabon: Art. 47 Abs. 2 S. 1 GRCh . . . . . . 64 3. Rechtslage nach dem Vertrag von Lissabon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67

II.

Auslegung durch den Gerichtshof der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . 69 1. Annäherung an die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 2. Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . 71

E. Vorabentscheidungsverfahren im Spannungsverhältnis zum Beschleunigungsgebot . . 74 I.

Überblick: Vorabentscheidungsverfahren im Unionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 1. Bedeutung und Dauer von Vorabentscheidungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . 76 2. Funktionen des Vorabentscheidungsverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 3. Zuständigkeiten des Gerichtshofs der Europäischen Union bezüglich Vorab­ entscheidungs­verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 4. Vorlagepflicht und Ausnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 5. Verfahren bei Vorabentscheidungsersuchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85

II.

Vorabentscheidungsverfahren als in der Verfahrensdauer zu berücksichtigender Abschnitt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 1. Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und ihre Rezeption in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 2. Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 3. Argumente für die Einbeziehung der Verfahrensdauer . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 a) Vergleichbarkeit mit Vorlage ans Bundesverfassungsgericht . . . . . . . . . . 94 b) Vorabentscheidungsverfahren als Inzidentverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . 96 c) Beschleunigungsgebot als anerkannter Rechtsgrundsatz des europäischen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 d) Verantwortlichkeit der EU-Mitgliedstaaten für Handlungen der Unions­ organe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 e) Verhältnis zwischen dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und dem Gerichtshof der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 4. Ergebnis und Gesichtspunkte im Rahmen der Prüfung der Angemessenheit 101

Inhaltsverzeichnis

13

Zweiter Teil Darstellung und kritische Analyse des neuen Eilvorlageverfahrens vor dem Gerichtshof der Europäischen Union A. Entstehungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 I.

Bisherige Reformmaßnahmen mit dem Ziel der Verfahrensbeschleunigung . . . 105 1. Beschleunigtes Verfahren nach Art. 104a VerfOEuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 2. Vereinfachtes Verfahren nach Art.  104 § 3 VerfOEuGH sowie sonstige beschleunigende Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 3. Änderungen durch den Vertrag von Nizza . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109

II.

Vorüberlegungen zum neuen Eilvorlageverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 1. Reflexionspapier des Gerichtshofs der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . 111 2. Weiterer Verfahrensgang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112

B. Konkrete Ausgestaltung des Eilvorlageverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 I.

Gesetzestext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114

II.

Sachlicher Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116

III. Antrag auf Durchführung des Eilvorlageverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 IV. Entscheidung über die Anwendung des Eilvorlageverfahrens . . . . . . . . . . . . . . 120 V.

Schriftliche Phase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122

VI. Mündliche Phase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 VII. Anhörung des Generalanwalts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 VIII. Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 IX. Erwartete Verfahrensdauer und Häufigkeit des Eilvorlageverfahrens . . . . . . . . 126 C. Erste Erfahrungen mit dem Eilvorlageverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 I.

Rechtssache Rinau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 1. Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 2. Dauer des Eilvorlageverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 3. Grund für die „Dringlichkeit“ einer Entscheidung des Gerichtshofs . . . . . . 130

II.

Rechtssache Santesteban Goicoechea . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 1. Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 2. Dauer des Eilvorlageverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 3. Grund für die „Dringlichkeit“ einer Entscheidung des Gerichtshofs . . . . . . 133

III. Rechtssache Leymann und Pustarov . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 1. Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 2. Dauer des Eilvorlageverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 3. Grund für die „Dringlichkeit“ einer Entscheidung des Gerichtshofs . . . . . . 136

14

Inhaltsverzeichnis IV. Rechtssache Kadzoev . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 1. Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 2. Dauer des Eilvorlageverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 3. Grund für die „Dringlichkeit“ einer Entscheidung des Gerichtshofs . . . . . . 139 V.

Rechtssache Detiček . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 1. Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 2. Dauer des Eilvorlageverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 3. Grund für die „Dringlichkeit“ einer Entscheidung des Gerichtshofs . . . . . . 141

VI. Rechtssache Gataev und Gataeva . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 VII. Rechtssache Povse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 1. Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 2. Dauer des Eilvorlageverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 3. Grund für die „Dringlichkeit“ einer Entscheidung des Gerichtshofs . . . . . . 143 VIII. Rechtssache McB. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 1. Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 2. Dauer des Eilvorlageverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 3. Grund für die „Dringlichkeit“ einer Entscheidung des Gerichtshofs . . . . . . 144 IX. Rechtssache Aguirre Zarraga . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 1. Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 2. Dauer des Eilvorlageverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 3. Grund für die „Dringlichkeit“ einer Entscheidung des Gerichtshofs . . . . . . 146 X.

Rechtssache Mercredi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 1. Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 2. Dauer des Eilvorlageverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 3. Grund für die „Dringlichkeit“ einer Entscheidung des Gerichtshofs . . . . . . 147

XI. Abgelehnte Anträge auf Anwendung des Eilvorlageverfahrens . . . . . . . . . . . . . 148 D. Kritik des Eilvorlageverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 I.

Restriktion des sachlichen Anwendungsbereichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 1. Europäisierung des nationalen Strafrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 a) Begriff des Europäischen Strafrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 b) Überblick: Strafrechtsbezogene Neuerungen durch den Vertrag von Lis­ sabon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 2. Strafrechtssetzungskompetenz der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . 156 a) Bisherige Rechtslage: Keine Strafrechtssetzungskompetenz der Euro­ päischen Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 b) Nach dem Vertrag von Lissabon: Bereichsspezifische Strafrechtssetzungskompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159

Inhaltsverzeichnis

15

3. Strafrechtsharmonisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 a) Bisherige Rechtslage: Unterscheidung zwischen Strafrechtsanweisungskompetenz in erster Säule und Strafrechtsharmonisierung in dritter Säule 162 b) Strafrechtsharmonisierung in materieller Hinsicht . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 c) Strafrechtliche Zusammenarbeit in verfahrensrechtlicher Hinsicht . . . . . 173 d) Rechtssetzungsverfahren und sogenanntes Notbremsrecht . . . . . . . . . . . 174 4. Grundlegende Prinzipien des Europäischen Strafrechts . . . . . . . . . . . . . . . . 176 a) Anwendungsvorrang des Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 b) Assimilierungsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 c) Unionsrechtskonforme Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 5. Konsequenzen für den Anwendungsbereich des Eilvorlageverfahrens . . . . . 187 II.

Übergangsweise Fortgeltung der Vorlagebeschränkungen in ex-Art. 35 EUV und ex-Art. 68 EGV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193

III. Abhängigkeit von Beurteilung der Dringlichkeit durch den Gerichtshof der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 IV. Verzögerung anderer Rechtssachen infolge des Eilvorlageverfahrens . . . . . . . . 200 V.

Weitere Kritikpunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 1. Festhalten am Vielsprachigkeitsgebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 2. Eingriff in die Rollenverteilung zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 3. Bedeutung des mündlichen Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203

VI. Zwischenbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204

Dritter Teil Lösungsmöglichkeiten für das Spannungsfeld zwischen Vorabentscheidungsverfahren und dem Beschleunigungsgebot A. Vorverständnis hinsichtlich der zu erarbeitenden Lösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 I.

Systemimmanente Lösung im europäischen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206

II.

Ausklammerung der problemnegierenden Stimmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 1. Keine wertende Betrachtung der Verzögerungsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 2. Strafvollstreckungslösung unzureichend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208

III. Ansatzpunkte für eine rechtliche Lösung aus europarechtlicher Sicht . . . . . . . 209 B. Lösungen zur Erweiterung der Kapazität des Gerichtshofs der Europäischen Union 209 I.

Entlastung der Richter des Gerichtshofs der Europäischen Union . . . . . . . . . . 209 1. Institutionelle Maßnahmen: Erhöhung der Richterzahl oder Verkleinerung der Spruchkörper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210

16

Inhaltsverzeichnis 2. Verlagerung von Vorabentscheidungsverfahren auf das Gericht . . . . . . . . . . 211 3. Verlagerung von Vorabentscheidungsverfahren auf dezentrale Unionsgerichte 213 II.

Effektivierung von Verfahren und Organisation am Gerichtshof der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 1. Ausschöpfung der verfahrensrechtlichen Möglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . 215 2. Anpassung des Anwendungsbereichs des Eilvorlageverfahrens . . . . . . . . . . 216 3. Annahmeverfahren, insbesondere das Certiorari-Verfahren . . . . . . . . . . . . . 217 4. Green-Light-Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219

III. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 1. Nachteile der in Betracht gezogenen Lösungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 2. Verschärfung des Problems durch steigende Arbeitsbelastung beim Gerichtshof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 C. Lösungen zur Beschränkung von Vorabentscheidungsersuchen . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 I.

Verzicht auf Vorlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226

II.

Beschränkung des Vorlagerechts auf letztinstanzliche Gerichte . . . . . . . . . . . . 229

III. Anpassung der Acte-clair-Doktrin / Weitere Ausnahmen von der Vorlagepflicht 231 1. Theorie: Voraussetzungen der Acte-clair-Doktrin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 2. Praxis: Umgehung der Vorlagepflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 3. Schlussfolgerung: Anpassung des acte clair erforderlich . . . . . . . . . . . . . . . 237 4. Neues Kriterium: Unionsrechtliche Klärungsbedürftigkeit . . . . . . . . . . . . . . 240 a) Auffassungen der Generalanwälte beim Gerichtshof . . . . . . . . . . . . . . . . 240 b) Bericht der Reflexionsgruppe über die Zukunft des Gerichtssystems . . . 244 c) Vorschläge im Schrifttum und ihre Gemeinsamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 d) Kriterien zur Ermittlung der unionsrechtlichen Klärungsbedürftigkeit . . 246 e) Praktische Umsetzung der erweiterten Ausnahmen von der Vorlagepflicht 249 D. Eigener Lösungsvorschlag für Strafgerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 I.

Empfehlung für nicht-letztinstanzliche Gerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 1. Bei Vorlagebefugnis: Ermunterung zur eigenständigen Entscheidung . . . . . 251 a) Grundsatz: Vorlage nur bei unionsrechtlicher Klärungsbedürftigkeit . . . 251 b) Exkurs: Zeitpunkt einer Vorlage an den Europäischen Gerichtshof . . . . 253 c) Bei Eilbedürftigkeit: Eigenständige Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 2. Bei Vorlagepflicht: Übertragung der beim einstweiligen Rechtsschutz an­ erkannten Lösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 a) Gültigkeitsfragen in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes . . . . . . 257 b) Vergleichbarkeit der Problemlage in eilbedürftigen Strafverfahren . . . . . 259 c) Sinngemäße Übertragung der im einstweiligen Rechtsschutz entwickelten Konzeption auf eilbedürftige Strafverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 3. Zusammenfassende Empfehlung für nicht-letztinstanzliche Strafgerichte . . 263

Inhaltsverzeichnis II.

17

Empfehlung für letztinstanzliche Gerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 1. Anwendung der erweiterten Acte-clair-Doktrin bei Auslegungsfragen . . . . 264 2. Vorlagepflicht nur bei Fragen von unionsrechtlicher Klärungsbedürftigkeit und Gültigkeitsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 3. Zusammenfassende Empfehlung für letztinstanzliche Strafgerichte . . . . . . . 266

Schluss: Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284

Abkürzungsverzeichnis a. A. ABl.EG bzw. ABl.EU Abs. a. E. AEUV a. F. AG AMG Anm. AO ArbGG Art. Aufl. AWG Az. BBG Bd. BeamtStG Begr. Beschl. BFH BFHE BGBl. BGH BGHSt BNatSchG BR-Drs. BT-Drs. BVerfG BVerfGE BVerfGG BVerfGK BVerwG BVerwGE BZRG bzw. ca. CMLRev. DAR

anderer Ansicht Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaft bzw. Union Absatz am Ende Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union alte Fassung Amtsgericht Gesetz über den Verkehr mit Arzneimitteln Anmerkung Abgabenordnung Arbeitsgerichtsgesetz Artikel Auflage Außenwirtschaftsgesetz Aktenzeichen Bundesbeamtengesetz Band Beamtenstatusgesetz Begründer Beschluss Bundesfinanzhof Entscheidungen des Bundesfinanzhofs (Amtliche Sammlung) Bundesgesetzblatt (Teil, Seite) Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen (Amtliche Sammlung) Gesetz über Naturschutz und Landschaftspflege Bundesratsdrucksache Bundestagsdrucksache Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (Amtliche Sammlung) Bundesverfassungsgerichtsgesetz Kammerentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (Amtliche Sammlung) Bundesverwaltungsgericht Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts (Amtliche Sammlung) Bundeszentralregistergesetz beziehungsweise circa Common Market Law Review (Zeitschrift) Deutsches Autorecht (Zeitschrift)

20 ders. / dies. d. h. DOK DRiG DRiZ DVBl. EAGV EG EGMR

EGV EKMR Einl. EMRK endg. Entsch. ERA Forum EU EuG EuGH EuGöD EuGRZ EuR Euratom EUV EuZW EWG f., ff. FG FGO Fn. FS GA GASP GG ggf. GRCh GrS GVG h. L. h. M. HRRS

Abkürzungsverzeichnis derselbe / dieselbe, dieselben das heißt Dokument des Rates der Europäischen Union Deutsches Richtergesetz Deutsche Richterzeitung (Zeitschrift) Deutsches Verwaltungsblatt (Zeitschrift) Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft Europäische Gemeinschaft Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (alle in dieser Arbeit zitierten Entscheidungen des EGMR und der EKMR sind in der ­HUDOC-Datenbank unter verfügbar) Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft Europäische Kommission für Menschenrechte Einleitung Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten endgültige Fassung Entscheidung Europäische Rechtsakademie-Forum (Zeitschrift) Europäische Union Gericht der Europäischen Union (bis 1.12.2009: Europäisches Gericht erster Instanz) Gerichtshof der Europäischen Union (bis 1.12.2009: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften) Gericht für den öffentlichen Dienst der Europäischen Union Europäische Grundrechte-Zeitschrift Europarecht (Zeitschrift) Europäische Atomgemeinschaft Vertrag über die Europäische Union Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Europäische Wirtschaftsgemeinschaft folgende(r) Festgabe Finanzgerichtsordnung Fußnote Festschrift Goltdammer’s Archiv für Strafrecht (Zeitschrift) Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland gegebenenfalls Charta der Grundrechte der Europäischen Union Großer Senat Gerichtsverfassungsgesetz herrschende Lehre herrschende Meinung Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Abkürzungsverzeichnis Hrsg. Hs. insb. IPbpR i. V. m. JA JGG Jura jurisPR-StrafR JuS JZ Kap. KOM KritV LFGB LG lit. MarkenG m. w. N. n. F. NJW Nr., No. NS NStZ NStZ-RR NVwZ OLG PJZS PPU RabelsZ RB RL Rn. Rs. Rspr. S. SDÜ SEK SGG Slg. sog. StGB StPO st. Rspr. StraFO StV

21

Herausgeber / herausgegeben Halbsatz insbesondere Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte in Verbindung mit Juristische Arbeitsblätter (Zeitschrift) Jugendgerichtsgesetz Juristische Ausbildung (Zeitschrift) juris PraxisReport Strafrecht Juristische Schulung (Zeitschrift) Juristenzeitung (Zeitschrift) Kapitel Dokument der Europäischen Kommission Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft (Zeitschrift) Lebensmittel-, Bedarfsgegenstände- und Futtermittelgesetzbuch Landgericht litera (Buchstabe) Gesetz über den Schutz von Marken und sonstigen Kennzeichen mit weiteren Nachweisen neue Fassung Neue Juristische Wochenschrift (Zeitschrift) Nummer Nationalsozialismus Neue Zeitschrift für Strafrecht NStZ-Rechtsprechungsreport Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Oberlandesgericht Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen Procédure Préjudicielle d’Urgence Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht Rahmenbeschluss Richtlinie Randnummer, Randnummern Rechtssache Rechtsprechung Satz, Seite Schengener Durchführungsübereinkommen Arbeitsdokument der Kommissionsdienststellen Sozialgerichtsgesetz Sammlung der Rechtsprechung des Gerichtshofs und des Gerichts erster Instanz sogenannte(r, s) Strafgesetzbuch Strafprozessordnung ständige Rechtsprechung Strafverteidiger-Forum (Zeitschrift) Strafverteidiger (Zeitschrift)

22 StVG u. a. UAbs. UN Urt. v. Verf. VerfOEuG VerfOEuGH

VG vgl. VO Vorb. VwGO WeinG wistra WpHG z. B. ZEuP ZfRV ZIS ZJS ZPO ZRP ZStW ZZP

Abkürzungsverzeichnis Straßenverkehrsgesetz unter anderem, und andere Unterabsatz United Nations (Vereinte Nationen) Urteil vom, von, vor Verfasserin Verfahrensordnung des Gerichts der Europäischen Union (bis 1.12. 2009: Verfahrensordnung des Gerichts erster Instanz) Verfahrensordnung des Gerichtshofes der Europäischen Union (bis 1.12.2009: Verfahrensordnung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften) Verwaltungsgericht vergleiche Verordnung Vorbemerkung Verwaltungsgerichtsordnung Weingesetz Zeitschrift für Wirtschafts- und Steuerstrafrecht Wertpapierhandelsgesetz zum Beispiel Zeitschrift für europäisches Privatrecht Zeitschrift für Rechtsvergleichung, internationales Privatrecht und Wirtschaftsrecht Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik Zeitschrift für das juristische Studium Zivilprozessordnung Zeitschrift für Rechtspolitik Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft Zeitschrift für Zivilprozess

Einführung: Gegenstand und Gang der Untersuchung Dass Justitia, die römische Göttin der Gerechtigkeit und des Rechtswesens  – neben ihren „klassischen“ Attributen Waage, Richtschwert und Augenbinde – gelegentlich auch auf einer Schildkröte stehend dargestellt wird1, symbolisiert, dass jedes gründliche und sorgfältige Verfahren seine Zeit braucht. Jemandem einen „kurzen Prozess“ zu machen, gilt schlichtweg als Gegenteil eines rechtsstaatlichen Verfahrens. Wegen der mit der Durchführung gerade eines Strafverfahrens einhergehenden empfindlichen Belastung des möglicherweise zu Unrecht Beschuldigten und um der Erreichung der Zwecke des Strafprozesses willen besteht jedoch auch ein erhebliches Interesse an einer raschen Strafrechtspflege, weshalb das Gebot der zügigen und effizienten Durchführung von Verfahren in Strafsachen – das sogenannte Beschleunigungsgebot  – mittlerweile zu den anerkannten Prozessrechtsgrundsätzen in Deutschland und Europa gehört. Durch die Forderung nach Prozessbeschleunigung einerseits und sorgfältiger Arbeit der Justizbehörden andererseits entsteht ein Spannungsverhältnis, das durch die scheinbar gegensätzlichen Rechtsregeln „iustitiae dilatio est quaedam negatio“ (Verzögerung der Rechts­ gewährung ist wie ihre Verweigerung)2 und „in iudicando criminosa est celeritas“ (Eile beim Richten ist verbrecherisch) anschaulich beschrieben wird. Deshalb können und sollen die Staatsanwälte und Richter nicht verpflichtet werden, ein Strafverfahren ausschließlich schnell zu betreiben, sondern nur so rasch, wie dies unter Berücksichtigung des Ziels der Wahrheitsermittlung möglich ist. Zur europaweiten Durchsetzung des Beschleunigungsgebots haben die Europäische Menschenrechtskonvention vom 4. November 1950 und die dazu er­gangene Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte erheblich beigetragen. Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK bzw. die für inhaftierte Beschuldigte geltende Spezialregelung des Art. 5 Abs. 3 S. 1 Hs. 2 EMRK positivieren das Beschleunigungsgebot – im Gegensatz zum deutschen Strafprozess- und Verfassungsrecht – explizit: „Jede Person hat ein Recht darauf, dass über […] eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage […] innerhalb angemessener Frist verhandelt wird.“3



1



2

So z. B. im Pariser „Palais de Justice“. Im angelsächsischen Rechtsraum spricht man deshalb auch von „Justice delayed is justice denied“. 3 Auch der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 16.12.1966 enthält ein Recht auf Aburteilung ohne unangemessene Verzögerung in Art. 14 Abs. 3 lit. c):

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Einführung: Gegenstand und Gang der Untersuchung

Die Menschenrechtskonvention ist infolge ihrer Ratifikation durch die Bundesrepublik Deutschland am 7. August 1952 unmittelbar geltendes innerstaatliches Recht im Rang eines einfachen Bundesgesetzes4 (Art. 59 Abs. 2 GG) und ist damit von jeder staatlichen Stelle, insbesondere auch dem Richter und dem Staatsanwalt, zu beachten. Gleichwohl beschäftigt diese Garantie den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg hauptsächlich; die weit überwiegende Zahl der eingehenden Beschwerden ist zumindest auch auf die Verfahrensdauer­ garantie gestützt. So betrafen immerhin 14 von den 18 im Jahr 2009 ergangenen Verurteilungen der Bundesrepublik Deutschland das Beschleunigungsgebot aus Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK5; 2008 stellte der Gerichtshof sogar in fünf der sechs Verurteilungen Deutschlands einen Verstoß gegen das Recht auf angemessene Ver­ fahrensdauer fest6. Mit der fortschreitenden Entwicklung der Europäischen Union7 und der damit einhergehenden zunehmenden überstaatlichen Rechtsverflechtung kommt ein „In the determination of any criminal charge against him, everyone shall be entitled to the following minimum guarantees, in full equality: […] To be tried without undue delay.“ Mangels eines Gerichts, das die Einhaltung des UN-Zivilpakts überprüft, kommt dem IPbpR für das Beschleunigungsgebot neben Art. 6 EMRK keine eigenständige Bedeutung zu, so dass im Folgenden nur auf Art. 6 EMRK näher eingegangen wird. – Das Beschleunigungsgebot aus Art. 5 Abs. 3 S. 1 Hs. 2 EMRK garantiert dem inhaftierten Beschuldigten eine besonders zügige Behandlung seiner Sache und geht damit über das – allgemeine – Beschleunigungsgebot aus Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK hinaus. Die für beide Artikel entwickelten Kriterien ähneln sich jedoch; lediglich die jeweils tolerierten Zeitspannen differieren; vgl. Peters, EMRK, S. 123; ­Villiger, EMRK, Rn. 452; Unfried, Art. 5 EMRK, S. 64, 72 ff. Um jedoch alle denkbaren strafrechtlichen Konstellationen zu erfassen, muss das Spannungsverhältnis zwischen dem allgemeineren Art. 6 EMRK und der Dauer von Vorabentscheidungsverfahren untersucht werden. Schließlich handelt es sich bei Art. 5 EMRK um eine Spezialvorschrift für inhaftierte Personen; das Europarecht strahlt meist jedoch nur auf Delikte der mittleren Kriminalität aus, bei denen der Beschuldigte selten in Untersuchungshaft genommen wird und Art. 5 EMRK damit tatbestandlich ratione personae gar nicht anwendbar ist. Art. 6 EMRK ist hingegen auch für in Haft befindliche Beschuldigte anwendbar (vgl. statt vieler EKMR, Beschl. v. 12.5.1985 – Nr.  10291/83  – B./Frankreich), deshalb wird im Weiteren grundsätzlich nur das aus Art.  6 Abs. 1 S. 1 EMRK folgende Beschleunigungsgebot thematisiert. 4 So die h. M. zur Stellung der EMRK in der Normenhierarchie. Zu den anderen Ansichten – Verfassungsrang der EMRK bzw. Rang unterhalb der Verfassung, aber über den Bundesgesetzen – siehe Grabenwarter, EMRK, § 3 Rn. 1 ff.; Diehm, Menschenrechte, S. 65 ff.; Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte, § 2 Rn. 10 ff.; Kramer, Angemessene Dauer, S. 13 ff.; jeweils m. w. N. 5 EGMR, Annual Report 2009, S. 144. 6 Für Deutschland vgl. EGMR, Annual Report 2008, S. 132; siehe auch die Übersicht auf S. 138 f. über alle Verurteilungen von November 1998 bis Dezember 2008, wonach ein gutes Drittel der Urteile eine Verletzung des Beschleunigungsgebots konstatierten. 7 Die zunächst gegründeten Europäischen Gemeinschaften (erstens die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl vom 18.4.1951, die im Juli 2002 auslief; zweitens die ehemalige Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), die seit dem Vertrag von Maastricht nur noch Europäische Gemeinschaft (EG) hieß; sowie drittens die Europäische Atomgemeinschaft (Euratom) vom 25.3.1957) sind nicht von der durch den Vertrag von Maastricht vom 7.2.1992 gegründeten Europäischen Union (EU) abgelöst worden. Diese Union war vielmehr eine Art

Einführung: Gegenstand und Gang der Untersuchung

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weiterer und neuer Aspekt hinzu, der sich verfahrensverlängernd auf den ohnehin schon nicht gerade kurzen deutschen Strafprozess8 auswirken kann: Das Straf- und Strafverfahrensrecht wird nun nicht mehr allein auf nationaler Ebene durch den innerstaatlichen Gesetzgeber geformt, sondern auch zunehmend durch das auf der überstaatlichen Ebene der Europäischen Union gesetzte Recht beeinflusst9. Zwar stehen die Mitgliedstaaten einer Übertragung von  – insbesondere originären  – strafrechtlichen Kompetenzen auf die Europäische Union wegen des engen Zusammenhangs zwischen dem Strafrecht und der Souveränität der Mitgliedstaaten und den gerade im Strafrecht zum Ausdruck kommenden kulturellen Besonderheiten äußerst skeptisch gegen­über, dennoch steht der EU seit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon im Dezember 2009 in Art. 325 Abs. 4 AEUV erstmals eine „Dach“ über den um die beiden intergouvernementalen Säulen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP, sog. „Zweite Säule“) und der Polizeilichen und Justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen (PJZS, sog. „Dritte Säule“) ergänzten Gemeinschaften (sog. „Erste Säule“), siehe ex-Art. 1 Abs. 3 S. 1 EUV. Mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon zum 1.12.2009 wurden zwar wesentliche Inhalte des aufgrund der negativen Referenden in Frankreich und den Niederlanden gescheiterten Verfassungsvertrags übernommen, aber die Trennung in die zwei bereits bestehenden Verträge beibehalten, die lediglich geändert wurden: einerseits der EU-Vertrag, der die grundlegenden Bestimmungen über die Grundsätze und die Organe der Union enthält, andererseits der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, der den bisherigen EGV weiterführt und um die Bestimmungen der ehemaligen intergouvernementalen Zusammenarbeit ergänzt (die konsolidierten Fassungen der Verträge EUV und AEUV sind im ABl.EU 2010 Nr. C 83 verfügbar). Da der Union nun an sich Rechtspersönlichkeit zugesprochen und die Aufteilung in mehrere Säulen abgeschafft wurde, wird in der folgenden Arbeit nurmehr von EU, Unionsrecht (bzw. hier synonym gebraucht: Europarecht), EU-Organen und EU-Mitgliedstaaten gesprochen. Lediglich dann werden die Termini EG und Gemeinschaftsrecht (EG-Recht) benutzt, wenn ausschließlich die ehemalige „Erste Säule“ vor dem Geltungsbeginn des Vertrags von Lissabon gemeint ist. 8 Der Problemkreis Beschleunigungsgebot und Strafverfahren wird bereits seit den 1970er Jahren intensiv diskutiert; vgl. Prochnow, Beschleunigung des Strafverfahrens (1971); Kramer, Angemessene Dauer (1973); Peters, in: Schreiber, Strafprozeß, S. 82 ff. (1979); Küng-Hofer, Beschleunigung des Strafverfahrens (1984); Scheffler, Überlange Dauer (1991); Pfeiffer, FS Baumann, S. 329 ff. (1992); Ress, FS Müller-Dietz, S. 627 ff. (2001); I. Roxin, Rechtsstaatsverstöße (1. Aufl. 1987, nunmehr 4. Aufl. 2004); Schmitt, StraFo 2008, 313 ff.; Tepperwien, NStZ 2009, 1 ff. 9 So hat Hoppe, EuZW 2009, 168 f. gezeigt, dass europäische Richtlinien, Verordnungen und das Primärrecht für einen Anteil von etwa 80 % aller in Deutschland geltenden Gesetze verantwortlich sind; vgl. auch Satzger, Europäisierung, S. 1. – Deshalb konstatiert Wesel, Geschichte des Rechts, Rn. 342: „In der Geschichte des Rechts geschieht es selten, dass Rechtsordnungen von außen bestimmt werden. Zuletzt ist das im Mittelalter geschehen mit der Rezeption des römischen Rechts, das die einheimische Ordnung stark verändert hat. Aber völlig einmalig in der Geschichte moderner Staaten ist es, dass sie Teile ihrer Souveränität aufgeben […] und sich freiwillig der Gesetzgebung einer gemeinsamen Behörde unterwerfen, […] im Völkerrecht bisher unbekannt, nämlich Rat und Kommission der Europäischen [Union] in Brüssel. Immer mehr haben sie in den letzten Jahrzehnten auch das Recht der Bundesrepublik geprägt, vom Bürger weitgehend unbemerkt, obwohl es sein Leben zunehmend beeinflusst hat. Das Europarecht mit Tausenden Verordnungen und Richtlinien. Die meisten Gesetze, die heute die wirtschaftliche Entwicklung der Bundesrepublik bestimmen, kommen aus Brüssel. Hier ist ein Rechtsgebiet von großer Bedeutung entstanden.“

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Einführung: Gegenstand und Gang der Untersuchung

solche supranationale Strafrechtssetzungskompetenz zum Schutz der finan­ziellen Unionsinteressen zu. Doch auch unabhängig von einer originären strafrechtlichen Kompetenz10 gebietet bereits der europarechtliche Effektivitätsgrundsatz (sogenannter effet utile), dass sich das nationale Straf- und Strafverfahrensrecht dem Einfluss des Unionsrechts nicht entziehen kann11. Mittels normativer Vorgaben aus Brüssel – wie vor allem Richtlinien (Art. 288 Abs. 3 AEUV, ex-Art. 249 Abs. 3 EGV) bei den Harmonisierungsbefugnissen in Art. 82 und 83 AEUV, aber auch Verordnungen (Art. 288 Abs. 2 AEUV, ex-Art. 249 Abs. 2 EGV) und bis zum Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon Rahmenbeschlüssen (ex-Art. 34 Abs. 2 S. 1 lit. b) EUV) – wird deshalb das nationale Strafrecht in vielfältiger Weise europarechtlich geprägt. Kommt es dabei zu Kollisionen zwischen Unionsrecht und nationalem Strafrecht, so sind diese – wie auch sonst – im Wege des Anwendungsvorrangs des Rechts der Europäischen Union zu lösen, d. h. die dem EU-Recht widersprechende Strafnorm verliert nicht ihre Gültigkeit, das Gericht darf sie im konkreten Fall aber nicht anwenden. Die Verlängerung innerstaatlicher Strafverfahren kann sich bei Bezügen zum ­ uroparecht nun folgendermaßen ergeben: Zwar sind die nationalen Gerichte zur E Anwendung des Europarechts berufen, im Interesse der einheitlichen Anwendung des gemeinsamen Rechts in allen Mitgliedstaaten besteht jedoch nach Art.  19 Abs. 1 S. 2 EUV, 267 AEUV (ex-Art. 220, 234 EGV) eine Monopolstellung des Gerichtshofs der Europäischen Union für die Auslegung des primären Unionsrechts sowie hinsichtlich der Entscheidung über die Gültigkeit und Auslegung von Sekundärrechtsakten12. Bei Auslegungszweifeln kann deshalb nach Art. 267 Abs. 2 AEUV jedes mitgliedstaatliche Gericht in jedem Verfahrensstadium eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs einholen; letztinstanzliche Gerichte sind gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV zur Vorlage sogar prinzipiell verpflichtet, sofern nicht ausnahmsweise nach der vom EuGH entwickelten Acte-clair-Doktrin von der Einleitung eines Ersuchens abgesehen werden darf13. Für die Dauer des Vorabentscheidungsverfahrens vor dem EuGH wird das innerstaatliche Ausgangsverfahren ausgesetzt. Angesichts der Tatsache, dass der EuGH für die Beantwortung eines Vorabentscheidungsersuchens in den letzten Jahren jedoch durchschnittlich anderthalb Jahre benötigte14, zu denen die Zeit noch hinzukommt, die das mitgliedstaat­liche Ausgangsgericht für das Verfassen des Ersuchens vorher und

10 Die bisher schließlich nach h. M. nicht bestand, siehe exemplarisch Hecker, Europäisches Strafrecht, § 4 Rn. 67 ff. m. w. N. 11 So bereits EuGH, Urt. v. 21.3.1972 – Rs. 82/71, Slg. 1972, 119, Rn. 4 f. – SAIL; ganz h. M., vgl. dazu die Abhandlungen von Satzger, Europäisierung; Hecker, Europäisches Strafrecht; Ambos, Internationales Strafrecht, § 9 ff.; Pradel/Corstens/Vermeulen, Droit pénal européen. – Ausführlich zu den Europäisierungsfaktoren unten Zweiter Teil, D. I. 12 Von der in Art. 256 Abs. 3 AEUV (ex-Art. 225 Abs. 3 EGV) vorgesehenen Möglichkeit, für Vorabentscheidungsersuchen zu bestimmten Materien die Zuständigkeit des Gerichts (ehemals Gericht erster Instanz) zu eröffnen, wurde bislang kein Gebrauch gemacht. 13 Grundlegend EuGH, Urt. v. 6.10.1982 – Rs. 283/81, Slg. 1982, 3415 – CILFIT. 14 EuGH, Jahresbericht 2010, S. 102.

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die erneute Ingangsetzung des Strafverfahrens nachher braucht, liegt ein Konflikt mit dem Beschleunigungsgebot auf der Hand. Auch wenn das Verfahren vor dem EuGH selbst – bislang15 – mangels unmittelbarer Bindung der Europäischen Union an die EMRK nicht direkt an Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK zu messen ist, so hat der EuGH doch wegen der gemäß Art. 6 Abs. 1 EUV nun im Rang des Primärrechts gel­tenden Grundrechte-Charta das dem der Menschenrechtskonvention entsprechende Beschleunigungsgebot aus Art.  47 Abs.  2 GRCh zu beachten; außerdem zählt das ungeschriebene unionsrechtliche Beschleunigungsgebot zu den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten im Sinne des Art. 6 Abs. 3 EUV (ex-Art. 6 Abs. 2 EUV). Vom Europarecht besonders beeinflusst sind insbesondere das Steuer-, Umwelt- und Wirtschaftsstrafrecht sowie das Nebenstrafrecht. Bei diesen typischerweise im Bereich der kleinen bis mitt­ leren Kriminalität anzusiedelnden Delikten dauern die Ermittlungen bereits auf nationaler Ebene allein wegen des Umfangs der nötigen tatsächlichen Feststellungen meist überdurchschnittlich lange; kommt nun noch die Durchführung eines Vorabentscheidungsverfahrens in Luxemburg hinzu, kann  – außer einer potenziellen Überlänge des Vorlageverfahrens an sich – möglicherweise die noch akzeptable Gesamtverfahrensdauer überschritten und damit wegen der gebotenen Kompensation durch Strafnachlass im äußersten Fall auch das Ausgangsverfahren obsolet werden. Der EuGH selbst hat diese Problematik erkannt und eine Änderung seiner Verfahrensordnung angeregt, die zum 1. März 2008 in Kraft getreten ist16: Danach wird in Art. 104b der Verfahrensordnung ein Eilverfahren für besonders dringliche, insbesondere grundrechtlich relevante Vorabentscheidungsersuchen eingeführt, die – früher – den Titel VI des EUV a. F. (polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen) sowie den Titel IV des Dritten Teils des EGV (Visa, Asyl, Einwanderung und andere Politiken betreffend den freien Personenverkehr) betrafen. Infolge des Inkrafttretens des Vertrags von Lissabon wurde der Anwendungsbereich des Eilvorlageverfahrens ohne inhaltliche Änderung auf den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, d. h. die Art. 67 bis 89 AEUV, fest­gelegt17. Ob dieses neue Eilverfahren das soeben aufgeworfene rechtspolitische sowie rechtsstaatliche Spannungsfeld zwischen Vorabentscheidungsverfahren und dem Beschleunigungsgebot in Strafsachen auflösen kann, soll in dieser Arbeit untersucht werden. Im ersten Teil der Abhandlung wird dargestellt, wie das abstrakte Stichwort „Beschleunigungsgebot“ in den verschiedenen, miteinander verwobenen Rechtsebenen  – regionales Völkerrecht in Gestalt der Europäischen Menschenrechtskonvention, deutsches Straf- und Verfassungsrecht, Recht der Europäischen Union  – rechtlich konkretisiert ist und von den zuständigen obersten Gerichten – Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Bundesgerichtshof und

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Vgl. die Beitrittsverpflichtung in Art. 6 Abs. 2 EUV. ABl.EU 2008 Nr. L 24, S. 39. 17 ABl.EU 2010 Nr. L 92, S. 12, 13.

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Einführung: Gegenstand und Gang der Untersuchung

Bundesverfassungsgericht, Gerichtshof der Europäischen Union – ausgelegt wird. Besondere Beachtung muss dabei die Frage finden, ob die Dauer eines Vorabentscheidungsverfahrens überhaupt in die im Sinne des Beschleunigungsgebots zu berücksichtigende Gesamtverfahrensdauer mit eingerechnet werden darf und somit tatsächlich ein Konflikt von Vorabentscheidungsverfahren mit dem Beschleunigungsgebot auftreten kann. Danach widmet sich der zweite Teil der Darstellung der Entstehung, gesetzlichen Ausgestaltung und konkreten Anwendung des neuen Eilvorlageverfahrens vor dem EuGH, woran sich eine Untersuchung seiner Anwendungslücken bezogen auf Strafverfahren anschließt. Um etwaige inakzeptable Lücken zu füllen, werden im dritten Abschnitt die weiteren zum Teil in der Literatur vorgeschlagenen Lösungsansätze diskutiert, bevor schließlich ein umfassender Vorschlag für einen angemessenen Ausgleich für das Spannungsfeld zwischen menschenrechtlichen, verfassungsrechtlichen und europarechtlichen Anforderungen an die Verfahrensdauer in Strafsachen unterbreitet werden kann.

Erster Teil

Begriffsklärung und Problemdarstellung 1. Teil: Begriffsklärung und Problemdarstellung Der nationale Strafprozess – auch in seiner Erweiterung durch das europarechtliche Vor­abentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV – wird durch bestimmte Maximen geprägt, die sich teils aus der Geschichte des Strafprozessrechts ent­ wickelt haben und teils aus der Verfassung resultieren. Das Beschleunigungsgebot als einer der Prozessrechtsgrundsätze hat in der Praxis insbesondere durch die sich mit dem Laufe der Zeit verstärkende Rezeption der Europäischen Menschenrechtskonvention immer größere Bedeutung gewonnen1. Infolge der seit der Mitte des letzten Jahrhunderts zunehmenden Europäisierung und Internationalisierung des Rechts lässt sich das Beschleunigungsgebot als justizielles Verfahrens(grund)‑ recht mittlerweile aus mehreren unterschiedlichen Rechtsnormen ableiten. Durch das Aufeinander­treffen der verschiedenen Rechtsebenen  – nationales Straf- und Verfassungsrecht, Recht der supranationalen Europäischen Union, regionales Völkerrecht des Europarats in Gestalt der EMRK – entstehen Überschneidungen, die zu einer – partiellen – gegenseitigen Beeinflussung führen, die im Folgenden illus­ triert werden soll.

A. Bedeutung des Beschleunigungsgebots Trotz der das gesamte Verfahren beherrschenden Unschuldsvermutung2 ist die Durchführung eines Strafverfahrens für den Beschuldigten (und seine Familie) regelmäßig mit erheblichen Beschränkungen seiner  – im deutschen Verfassungsrecht jedenfalls von Art.  2 Abs.  1 GG geschützten  – persönlichen Freiheitsausübung verbunden. Neben den zeitlichen und finanziellen Kosten der Vorbereitung 1 So konnte der 4.  Strafsenat des BGH (DAR 1963, 169) noch 1962 postulieren, dass der Länge eines Strafverfahrens „grundsätzlich keine rechtliche Bedeutung“ zukomme. Heut­ zutage jedoch ist das Beschleunigungsgebot laut Schmid, LK-StGB, Vor § 78 Rn. 18 ein „Wesenselement moderner Strafrechtspflege“ und die Rüge einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung – so stellt Peglau, JuS 2006, 704 fest – gehört im Revisionsverfahren fast schon ebenso zum Standard wie die Erhebung einer Aufklärungsrüge. Vgl. dazu auch Krehl/Eidam, NStZ 2006, 1, 2 sowie Schmitt, StraFo 2008, 313. 2 Die Unschuldsvermutung ist ebenso wie das Beschleunigungsgebot weder in der StPO noch im GG explizit aufgeführt, sondern „nur“ in Art. 6 Abs. 2 EMRK und wird ansonsten aus dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG bzw. der Menschenwürde aus Art. 1 Abs. 1 GG und § 261 StPO abgeleitet; vgl. Beulke, Strafprozessrecht, Rn. 25; Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 301.

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1. Teil: Begriffsklärung und Problemdarstellung

einer effektiven Verteidigung muss der Beschuldigte infolge des eingeleiteten Verfahrens nicht selten erhebliche berufliche und daraus folgend wirtschaftliche Konsequenzen wie den Verlust der Kreditwürdigkeit3 tragen. Ohne dass er von einem Gericht verurteilt worden wäre, kann der Beschuldigte bereits zahlreichen vorläufigen Maßnahmen – z. B. §§ 111a (vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis), 111b (Sicherstellung für Verfall, Einziehung und Gewinnabschöpfung), 111d (ding­ licher Arrest), 112a (Haftgrund der Wiederholungsgefahr), 126a (einstweilige Unterbringung), 132a StPO (vorläufiges Berufsverbot) – sowie sonstigen zu duldenden strafprozessualen Ermittlungs- und Zwangsmaßnahmen ausgesetzt werden. Zudem stellt das mit Ungewissheit über den Ausgang behaftete Strafverfahren4, insbesondere wenn es zu einer nach § 169 S. 1 GVG öffentlichen Hauptverhandlung vor Gericht kommt, eine schwerwiegende psychische Belastung dar, die beim Beschuldigten auch zur Beeinträchtigung seiner Reputation und gesellschaftlichen Beziehungen führen kann5. Die psychischen und physischen Auswirkungen potenzieren sich noch, wenn der Betroffene in Untersuchungshaft sitzt6. Solange es sich um legitime Strafverfolgungszwecke des Staates handelt, ist ein jeder aber verpflichtet, diese Nachteile hinzunehmen. Da der materielle Strafanspruch und dessen Durchsetzung allein dem Staat obliegen – Offizialprinzip, § 152 Abs. 1 StPO –, muss der Staat im Falle eines Anfangsverdachts auch gegen jeden Ermittlungen aufnehmen und bei Bestätigung des Verdachts Anklage erheben – Legalitätsprinzip, § 152 Abs. 2 StPO. Dem entspricht auf der Seite des Beschuldigten die Pflicht, diese Ermittlungen zu dulden. Zieht sich ein Strafverfahren jedoch überlang über Jahre hin, wirkt es sich wie eine vorweggenommene Verdachtsstrafe aus7. Der Beschuldigte wird durch dessen Durchführung8 so stark belastet, dass dadurch das



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Pfeiffer, FS Baumann, S. 329, 332; Kohlmann, FS Maurach, S. 501, 502. Siehe EGMR, Urt. v. 10.11.1969 – Nr. 1602/62, Rn. 5 – Stögmüller/Österreich über den Sinn von Art. 6 Abs. 1 EMRK in Strafverfahren: „ to avoid that a person charged should remain too long in a state of uncertainty about his fate“. Auch nach dem BGH spricht u. a. die „allgemeine prozessuale Fürsorgepflicht“ für eine tunliche Beschleunigung, vgl. BGHSt 24, 239, 240; 26, 1, 4; 26, 228, 232 f.; 47, 105, 109. 5 Krehl/Eidam, NStZ 2006, 1; Schmitt, StraFo 2008, 313. 6 Zwar geht das Gesetz in § 121 StPO von dem Grundsatz aus, dass die Untersuchungshaft nicht länger als sechs Monate dauern soll, eine Verlängerung durch das OLG ist aber gemäß § 122 StPO möglich, insb. bei „besonderer Schwierigkeit oder besonderem Umfang der Ermittlungen“. Allein die vorläufigen Feststellungen des Haftbefehls führen dann zu einer erheb­ lichen Freiheitseinschränkung. Andererseits wird der Untersuchungshäftling im Vergleich zur normalen Strafhaft teilweise privilegiert, vgl. § 119 StPO, so dass sowohl für den Fall eines späteren Freispruchs als auch einer Verurteilung die Beschleunigung des Verfahrens angestrebt werden sollte. 7 Kühne, in: Karl, IntKommEMRK, Art. 6 Rn. 340; I. Roxin, Rechtsstaatsverstöße, S. 232 ff. Auch das BVerfG betont, dass solche Belastungen in ihren Auswirkungen einer Sanktion gleichkommen können, siehe BVerfG NJW 1993, 3254, 3255; 2003, 2225; 2003, 2897. 8 Während der Hauptverhandlung gilt schließlich grundsätzlich stets die Anwesenheitspflicht aus § 230 StPO; Ausnahmen finden sich in §§ 231 Abs. 2, 231a, 231b, 231c, 232, 233, 247, 329 Abs. 2, 350 Abs. 2, 387 Abs. 1, 411 Abs. 2 S. 1 StPO.

A. Bedeutung des Beschleunigungsgebots

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staatliche Strafbedürfnis reduziert werden bzw. schließlich sogar vollständig wegfallen kann9. Das Gebot der zügigen Erledigung von Strafsachen dient aber neben dem Individualschutz auch unterschiedlichen Allgemeininteressen. Ziel des Strafpro­zesses ist es, den wahren Sachverhalt zu ermitteln und darauf aufbauend eine gerechte Entscheidung zu treffen, so dass der Rechtsfrieden wiederhergestellt wird10. Eine der Grundvoraussetzungen für eine gerechte Urteilsfindung bildet die Zuver­lässigkeit der Erinnerung: Zum einen hängt die Qualität der Beweiserhebung wegen des Grundsatzes der Unmittelbarkeit beim überaus bedeutsamen Beweismittel der Zeugenaussage stark vom Erinnerungsvermögen der Zeugen ab, welches mit der Zeit indes immer mehr nachlässt11. Im Übrigen wird es mit fortschreitender Verfahrensdauer auch dem Beschuldigten schwerer fallen, selbstständig12 entlastende Tat­ sachen aufzuspüren. Dass eine lange Verfahrenszeit z. B. wegen der Erinnerungslücken bei Zeugen durchaus auch mit Vorteilen für den Betroffenen verbunden sein kann, ist hingegen nicht schutzwürdig13. Außer der Gefahr von Beweismittel­ trübungen oder -verlusten wird auch die Gefahr einer Fehlentscheidung erheblich erhöht, wenn die Beteiligten aufgrund zu langer Prozessdauer nicht einmal mehr sicher sein können, ob die Ergebnisse der Hauptverhandlung richtig in Erinnerung geblieben sind. Mit fortschreitender Dauer des Strafverfahrens ist folglich das Ziel der zuverlässigen Wahrheitsermittlung immer schwieriger zu er­reichen14. Auch den Strafzwecken15 wird mit einer zügigen Entscheidung in höherem Maße Genüge getan: Die Abschreckungswirkung auf andere potenzielle Täter – die sogenannte negative Generalprävention – sowie die auf Besserung bedachte Einwirkung auf den Täter – die sogenannte positive Spezialprävention – sind bei zeitnaher Aburteilung naturgemäß größer, als wenn der Anlass der Strafe bereits in Vergessenheit ­geraten

9 Katzorke, Verwirkung, insb. S. 50 ff.; Küng-Hofer, Beschleunigung des Strafverfahrens, S. 28 f. 10 BVerfGE 57, 250, 275; Beulke, Strafprozessrecht, Rn.  3 ff.; Pfeiffer/Hannich, in: KKStPO, Einl. Rn. 2; Meyer-Goßner, StPO, Einl. Rn. 4; Peters, EMRK, S. 123; I. Roxin, Rechtsstaatsverstöße, S. 155 f. 11 Küng-Hofer, Beschleunigung des Strafverfahrens, S. 23 f., 29; Kohlmann, FS Maurach, S.  501, 502; Krehl/Eidam, NStZ 2006, 1; Pfeiffer, FS Baumann, S.  329, 333; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 16 Rn. 3. – Zur Bedeutung der (mitunter fragwürdigen, vgl. Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 851 ff. m. w. N.) Zeugenaussage im deutschen Strafrecht siehe Kramer, Angemessene Dauer, S. 168. 12 Wenngleich dem Angeklagten keine Beweislast obliegt, sondern die Staatsanwaltschaft verpflichtet ist, auch entlastende Umstände zu ermitteln (§ 160 Abs. 2 StPO), so wird er doch versuchen, seine Unschuld beweisende Indizien beizubringen. 13 BGHSt 24, 239, 241; Kohlmann, FS Maurach, S.  501, 502; vgl. auch Schmitt, StraFo 2008, 313, 314 Fn. 9; Küng-Hofer, Beschleunigung des Strafverfahrens, S. 29 f. 14 I. Roxin, Rechtsstaatsverstöße, S.  156; Kramer, Angemessene Dauer, S.  164 ff.; Prochnow, Beschleunigung des Strafverfahrens, S. 3 (der einen „Freispruch infolge Zeitablaufs“ befürchtet). 15 Zu den verschiedenen Strafzwecktheorien siehe statt aller Theune, in: LK-StGB, Vor §§ 46–50 Rn. 22 ff.; Stree/Kinzig, in: Schönke/Schröder, StGB, Vorb. §§ 38 ff. Rn. 2 ff.

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1. Teil: Begriffsklärung und Problemdarstellung

ist16. Für die Stärkung des Rechtsbewusstseins und des Vertrauens der Allgemeinheit in die Rechtsordnung – die sogenannte positive Generalprävention – gilt dies umso mehr, als sich in der raschen Ahndung strafbaren Verhaltens die Fähigkeit des Staates zeigt, seine Bürger zu schützen und das Recht gegenüber dem Unrecht durchzusetzen17. Abgesehen von den durch überlange Verfahren entstehenden Kosten sowie der Belastung auch der beteiligten Rechtspflegeorgane18 fördert das Beschleunigungsgebot in kollektiver Hinsicht mithin hauptsächlich die Glaubwürdigkeit und Effizienz der Strafgerichtsbarkeit19. Zwar kommt dem Beschleunigungsgrundsatz im Interesse des Beschuldigten selbst und der Allgemeinheit erhebliche Bedeutung zu, doch kann die Forderung nach unbedingter Schnelligkeit der Durchführung kein absolutes Leitprinzip des Strafverfahrens in dem Sinne sein, dass dadurch das ebenfalls aus dem Rechtsstaatsprinzip abzuleitende strafprozessuale Gebot der Wahrheitsfindung und die richtige Anwendung des Rechts beeinträchtigt werden20. Die verschiedenen Aspekte des Rechtsstaatsprinzips – Beschleunigung auf der einen Seite, Wahrheitserforschung und Rechtssicherheit auf der anderen Seite – bergen zwangsläufig einen Zielkonflikt in sich: Ein Mehr an Verfahrensrechten und Rechtsbehelfen bedingt regelmäßig ein längeres Verfahren. Wirksamer Rechtsschutz hat aber nicht nur mit der für die Entscheidung benötigten Zeit, sondern auch mit dem Gehalt und der Güte von Entscheidungen zu tun. Deshalb können die zueinander gegenläufigen Strafprozessprinzipien je für sich keinen Vorrang beanspruchen; die Forderung nach sorgfältiger, umfassender Sachverhaltsermittlung und rechtlicher Würdigung muss im Strafverfahren im Hinblick auf das Ziel einer materiell richtigen Entscheidung und wegen der Unschuldsvermutung mindestens gleichrangig neben dem Grundsatz der Beschleunigung stehen21. Eine besonders intensive 16 I. Roxin, Rechtsstaatsverstöße, S. 156; Kramer, Angemessene Dauer, S. 168; Prochnow, Beschleunigung des Strafverfahrens, S. 2; vgl. auch Berz, NJW 1982, 729 und 730, der zum einen auf die Unverständnis hervorrufende lange Dauer von Großprozessen verweist und zum anderen exemplarisch die Situation eines Kraftfahrers nach einem Verkehrsverstoß in Erinnerung ruft, der entweder sofort von der Polizei angehalten und verwarnt wird oder erst später den Bußgeldbescheid erhält. 17 Laue, GA 2005, 648, 657 ff.; Pfeiffer, FS Baumann, S. 329, 333 f.; Schmitt, StraFo 2008, 313, 314; Waßmer, ZStW 118 (2006), 159, 160 f. 18 Vgl. Berz, NJW 1982, 729. 19 EGMR, Urt. v. 28.7.1999 – Nr. 34884/97, Rn. 22 – Bottazzi/Italien; Urt. v. 23.10.1990 – Nr. 11296/84, Rn. 74 – Moreira de Azevedo/Portugal; Peters, EMRK, S. 123; Ress, FS Müller-Dietz, S. 627, 636; Villiger, EMRK, Rn. 452. Ausführlich dazu Laue, GA 2005, 648 ff. – Schmitt, StraFo 2008, 313, 314 erwähnt außerdem das Interesse des Geschädigten an einer raschen Bestrafung des Täters, um sogenannte Sekundärviktimisierungen zu vermeiden. 20 Das Gebot der Wahrheitsfindung ist wesentlicher Teil  des Anspruchs des Beschuldigten auf ein faires Verfahren, vgl. BVerfGE 86, 288, 317; 80, 367, 378. Zu weiteren möglichen Kollisionen mit anderen prozessualen Normen und Verfahrensprinzipien siehe Schmitt, StraFo 2008, 313, 317 ff. 21 EGMR, Urt. v. 28.6.1978  – Nr.  6232/73, Rn.  100  – König/Deutschland; Kühne, Straf­ prozessrecht, Rn. 268.

A. Bedeutung des Beschleunigungsgebots

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rechtliche Prüfung, die möglicherweise mehrere Instanzen und bei einer Vorlage an den EuGH im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens sogar mehrere Rechtsschutzsysteme umfasst, kann sich als unverhältnismäßig im Vergleich zu den damit einhergehenden Belastungen des Beschuldigten und der Allgemeinheit erweisen, weil sie mehrere Jahre in Anspruch nimmt. Umgekehrt genügen die vereinfachten Prüfungen, wie sie im deutschen Strafprozessrecht für die Aufnahme von Ermittlungen (§ 152 Abs. 2 StPO: Anfangsverdacht), die Anklageerhebung sowie den Eröffnungsbeschluss (§§ 170 Abs. 1, 203 StPO: hinreichender Tatverdacht) und die Anordnung von Zwangsmitteln erfolgen (vgl. z. B. Beschlagnahme, § 94 Abs.  1 StPO; Überwachung der Telekommunikation, § 100a StPO; Durchsuchung, § 102 StPO; Einsatz verdeckter Ermittler, § 110a Abs. 1 StPO; Hauptverhandlungshaft, § 127b StPO; längerfristige Observation, § 163f StPO), wegen ihrer mangelnden Intensität dem Grundsatz des fairen Verfahrens nur im Rahmen des Ermittlungsverfahrens22. Der Konflikt zwischen den verschiedenen strafprozessualen Maximen kann nur durch Abwägung der widerstreitenden Interessen gelöst werden. Das verfassungsrechtliche Beschleunigungsgebot für Strafverfahren ist insofern als Optimierungsgebot zu begreifen, um einen gerechten Ausgleich mit dem Prinzip der sorgfältigen Sachverhalts- und Rechtsermittlung zu erreichen23. In Deutschland wird das Problem der überlangen Dauer von Strafverfahren seit den 1970er Jahren als Folge eines starken Anstiegs der durchschnittlichen Prozessdauer verstärkt beachtet24. Die Gründe für die immer wieder beklagte lange Dauer 22 Vgl. aber insoweit auch die immer wieder mahnende Rechtsprechung des Bundesver­ fassungsgerichts, die Grundrechte des Beschuldigten nicht zu weit den Strafverfolgungsinteressen des Staates zu opfern, so z. B. im Jahr 2004 im Urteil über den „Großen Lauschangriff“, BVerfGE 109, 279. 23 Eser, FS Tiedemann, S. 1453, 1464; Huber, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 19 Rn. 504; Peters, in: Schreiber, Strafprozeß, S. 82, 83; Kirchhof, FS Doehring, S. 439 f.; KüngHofer, Beschleunigung des Strafverfahrens, S. 32 ff. (mit dem Hinweis auf S. 78, dass der Versuch, das Rechtsstaats- und das Beschleunigungsprinzip zu vereinen, mitunter als „Quadratur des Kreises“ wahrgenommen werde).  – Pointiert Ress, FS  Müller-Dietz, S.  627, 635: „Ge­ fordert ist der schnelle, nicht aber der kurze Prozess, der ebenso rechtsstaatswidrig wäre, wie die überlange Verfahrensdauer.“ – Gefahren für die Wahrheitsfindung sowie die Verteidigungsmöglichkeiten des Beschuldigten werden deshalb auch gegen das – aus praktischer Sicht zu befürwortende – beschleunigte Verfahren der §§ 417 ff. StPO vorgebracht; vgl. Krehl/Eidam, NStZ 2006, 1 f. 24 Zwar ist die These, dass unsere Strafverfahren immer länger dauern, umstritten und empirisch schwer zu belegen, dennoch wird allgemein anerkannt, dass auch Deutschland ein Problem mit überlangen Gerichtsverfahren hat, vgl. Prochnow, Beschleunigung des Straf­ verfahrens, S. 1 (schon im Jahr 1971); Kohlmann, FS Maurach, S. 501 (bezüglich Ermittlungs­ verfahren schon 1972); Hecker, Europäisches Strafrecht, § 3 Rn. 61; Krehl/Eidam, NStZ 2006, 1, 2 (unter Berufung auf empirische Befunde); Ignor/Bertheau, NJW 2008, 2209; Scheffler, Überlange Dauer, S. 19; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 16 Rn. 5 f.; Peters, EMRK, S. 125; Diehm, Menschenrechte, S. 451 ff.; vgl. auch Bundesamt für Justiz, Statistiken zu den Geschäftsbelastungen bei Gerichten und Staatsanwaltschaften. – Für den europäischen Rechtskreis vgl. Ress, FS Müller-Dietz, S. 627, der feststellt, dass sich die Fälle überlanger Ermittlungs- und Strafverfahren in letzter Zeit häufen. – Auch die (1998 abgeschaffte) ­Kommission

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1. Teil: Begriffsklärung und Problemdarstellung

der deutschen Strafprozesse sind vielfältig25: inmitten der in den 1970er Jahren26 ansteigenden Verfahrensflut befanden sich immer mehr rechtlich komplizierte und tatsächlich umfangreiche Fälle – damals vor allem die schwierig aufzuklärenden NS-Sachen und die Terroristenprozesse, heutzutage insbesondere Wirtschaftsstrafverfahren –; die Beachtung der in der Verfassung und der StPO verankerten Prinzipien zum Schutz des Beschuldigten wie die Unschuldsvermutung, die Wahrung der Grundrechte bei allen Zwangsmaßnahmen und die Instruktionsmaxime ist zeitaufwendig, zudem werden die prozessualen Möglichkeiten vom Angeklagten vermehrt ausgenutzt; und schließlich wird immer wieder die unzureichende personelle und sachliche Ausstattung der Justiz bemängelt, die eine mangelnde Förderung einer zügigen Erledigung der anhängigen Verfahren durch die Strafverfolgungsorgane unterstützt. Gerichtsentscheidungen, die das Problem der überlangen Verfahrensdauer in Strafsachen thematisieren, beschäftigen sich überwiegend mit Delikten aus dem Bereich des Wirtschaftsstrafrechts wie Betrug, Untreue, Insolvenzdelikten und Steuerstraftaten27. Diese Wirtschaftsstraftaten erfordern einen vergleichsweise hohen zeitlichen Aufwand, um den tatsächlichen Sachverhalt zu durchdringen und ihn rechtlich zu würdigen28.

des EGMR und der EGMR selbst üben wiederholt Kritik an System und Praxis des deutschen Strafverfahrens  – insbesondere am Legalitätsprinzip –; siehe z. B. EKMR, Bericht v. 12.7.1977  – Nr.  7412/76, Rn.  109  – Haase/Deutschland; Kühne, in: Karl, IntKomm­EMRK, Art. 6 Rn. 338; Peukert, EuGRZ 1979, 261, 273. – In der Tat werden wohl z. B angelsächsische Prozesse wesentlich schneller beendet als deutsche. Das Recht auf alsbaldige Verhandlung findet sich bereits in der Magna Charta von 1215, in welcher es heißt: „Nulli vendemus, nulli ­negabimus, aut differemus rectum aut justiciam“ (Wir werden Gerechtigkeit an niemanden verkaufen, noch niemandem versagen noch verzögern). Im Jahre 1679 erging der „Habeas Corpus Act“, der vorschreibt, dass die Gefangenen in der nächsten Gerichtssitzung für Verbrechen und Vergehen abzuurteilen oder gegen Kaution zu entlassen sind, es sei denn, dass aufgrund Eides nachgewiesen wird, dass die Zeugen der Anklage für diese Sitzung nicht verfügbar sind. Der Gedanke des „prompt and speedy trial“ gilt auch heute noch vor englischen Gerichten. – Siehe aber Eser, FS Tiedemann, S. 1453, 1462: „Was die Effizienz des Verfahrens im Sinne von Zügigkeit und Kostspieligkeit betrifft, so wurden schon von Tiedemann die besseren Noten an das Inquisitionsmodell [im Gegensatz zum adversatorischen Modell] vergeben.“ Zu den Unterschieden (und Ähnlichkeiten) in den europäischen Strafrechtsordnungen Hörnle, ZStW 117 (2005), 801 ff. 25 Vgl. I. Roxin, Rechtsstaatsverstöße, S.  90; Küng-Hofer, Beschleunigung des Strafver­ fahrens, S. 6 ff.; Pfeiffer, FS Baumann, S. 329; Scheffler, Überlange Dauer, S. 19, 37 f. 26 Zur Entwicklung der Kriminalität vgl. BKA, Polizeiliche Kriminalstatistik 2009, S. 29 ff. 27 Genaue Auflistung bei I. Roxin, Rechtsstaatsverstöße, S. 53. 28 Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 16 Rn.  6; Grunst/Volk, in: Volk, Münchener Anwaltshandbuch, § 1 Rn. 1 ff. I. Roxin, Rechtsstaatsverstöße, S. 53 vermutet, dass verschärfend hinzu kommt, dass solche schwierigen Verfahren von den Strafverfolgungsbehörden zunächst zurückgestellt werden, um erst einmal die leichteren Fälle zu erledigen.

B. Beschleunigungsgebot in der europäischen Menschenrechtskonvention

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B. Beschleunigungsgebot in der europäischen Menschenrechtskonvention Mit der überlangen Dauer von Strafverfahren musste sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte seit dem Beginn seines Bestehens immer wieder auseinandersetzen29. In Anbetracht der Tatsache, dass etwa 50 Prozent der den Gerichtshof erreichenden Beschwerden die überlange Prozessdauer betreffen30, waren es auch die Straßburger Richter, die als erste gesamteuropäische31 Kriterien zu diesem Problem aus der menschenrechtlichen Sicht des Art. 6 Abs. 1 S. 1 bzw. Art.  5 Abs.  3 EMRK entwickelten. Durch eine dynamische32, aber gleichwohl den Vertragsstaaten gewisse Beurteilungsspielräume33 belassende Rechtsprechung gaben die frühere Europäische Kommission für Menschenrechte und der Euro­ päische Gerichtshof für Menschenrechte, der seit dem 1. November 1998 allein für die Auslegung der Konvention zuständig ist, dem Beschleunigungsgebot Konturen, die auch heute noch in der deutschen Praxis angewendet werden34. I. Rechtliche Konkretisierung

In Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK steht geschrieben: „Jede Person hat ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrecht­lichen Ansprüche und Verpflichtungen oder über eine gegen sie erhobene strafrecht­liche Anklage von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird.“35

29 Kühne, in: Karl, IntKommEMRK, Art. 6 Rn. 338; Grabenwarter, EMRK, § 24 Rn. 68; Ress, FS Müller-Dietz, S. 627. – Vgl. auch die Übersicht über die vom EGMR im Ergebnis festgestellten Konventionsverletzungen von 1959 bis 2009 bei EGMR, Annual Report 2009, S. 150 f., wonach rund ein Drittel der Urteile eine Verletzung des Beschleunigungsgebots konstatierten. 30 So Peters, EMRK, S. 123; vgl. auch Grabenwarter, EMRK, § 24 Rn. 68; Peukert, in: Frowein/Peukert, EMRK, Art. 6 Rn. 235. – Für das Jahr 2000 gibt Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 6 Rn. 1 an, dass es in 75 Prozent der Urteile um die angemessene Prozesslänge ging. 31 Die EMRK zählt inzwischen 47 Mitglieder, nämlich alle Mitgliedstaaten des Europarats. 32 Die EMRK wird als „living instrument“ behandelt, vgl. Meyer-Ladewig, EMRK, Einl. Rn. 32. 33 Sogenannter „margin of appreciation“, vgl. Pradel/Corstens/Vermeulen, Droit pénal euro­péen, S. 292 ff.; Streinz, Europarecht, Rn. 73. 34 Gaede, wistra 2004, 166; Krehl/Eidam, NStZ 2006, 1, 2; Pfeiffer/Hannich, in: KK-StPO, Einl. Rn. 11. Ausführlich dazu sogleich in diesem Ersten Teil unter C. II. – Die Akzeptanz der Entscheidungen des EGMR betreffend die überlange Verfahrensdauer musste sich jedoch auch in Deutschland erst entwickeln; so stellte Kühl, ZStW 100 (1988), 601, 642 f. fest, dass die Rechtsprechung der Strafgerichte „durch die reichhaltige Straßburger Spruchpraxis zu diesem Thema nicht direkt beeinflusst und erst recht nicht ‚geprägt‘“ werde. 35 Hervorhebung von Verf. – Es existieren mehrere deutsche Übersetzungen der völkerrechtlich allein verbindlichen englischen und französischen Fassungen der EMRK, vgl. Schluss­ bestimmung nach Art. 59 EMRK. In diesen Fassungen lautet die betreffende Passage:

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1. Teil: Begriffsklärung und Problemdarstellung

Für den inhaftierten Beschuldigten ergibt sich der Anspruch auf beschleunigte Aburteilung bereits aus der Spezialregelung des Art. 5 Abs. 3 S. 1 Hs. 2 EMRK: „Jede Person, die […] von Festnahme oder Freiheitsentziehung betroffen ist, […] hat Anspruch auf ein Urteil innerhalb angemessener Frist oder auf Entlassung während des Verfahrens.“36

Insbesondere durch die ständig steigende Zahl der Individualbeschwerden nach Art. 34 EMRK37 sieht sich der Gerichtshof aber inzwischen auch selbst mit dem Problem der überlangen Verfahrensdauer konfrontiert38: Die Zahl der einge­ „In the determination of […] any criminal charge against him, everyone is entitled to a fair and public hearing within a reasonable time“ bzw. „Toute personne a droit à ce que sa cause soit entendue […] dans un délai raisonnable, par un tribunal […], qui décidera […] du bienfondé de toute accusation en matière pénale dirigée contre elle.“ 36 Hervorhebung von Verf. – Vgl. auch die weitere Beschleunigungsvorgabe in Art. 5 Abs. 4 EMRK: „Jede Person, die festgenommen oder der die Freiheit entzogen ist, hat das Recht zu beantragen, dass ein Gericht innerhalb kurzer Frist über die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung entscheidet und ihre Entlassung anordnet, wenn die Freiheitsentziehung nicht rechtmäßig ist.“ Ausführlich dazu Unfried, Art. 5 EMRK. 37 Die Individualbeschwerde ist seit Inkrafttreten des Protokolls Nr.  11 am 1.  November 1998 obligatorisch und eröffnet jeder Person direkt den Weg zum EGMR, wenn alle innerstaatlichen Rechtsbehelfe ausgeschöpft wurden („local remedies rule“, Art. 35 Abs. 1 EMRK). Seit dem 1. Juni 2010 (mit Inkrafttreten des 14. Zusatzprotokolls) sieht Art. 35 Abs. 3 lit. b) EMRK eine zusätzliche Ablehnungsmöglichkeit vor, um den EGMR zu entlasten: „Der Gerichtshof erklärt eine nach Artikel 34 erhobene Individualbeschwerde für unzu­ lässig, a) wenn er sie für unvereinbar mit dieser Konvention oder den Protokollen dazu, für offensichtlich unbegründet oder für missbräuchlich hält oder b) wenn er der Ansicht ist, dass dem Beschwerdeführer kein erheblicher Nachteil entstanden ist, es sei denn, die Achtung der Menschenrechte, wie sie in dieser Konvention und den Protokollen dazu anerkannt sind, erfordert eine Prüfung der Begründetheit der Beschwerde, und vorausgesetzt, es wird aus diesem Grund nicht eine Rechtssache zurückgewiesen, die noch von keinem innerstaatlichen Gericht gebührend geprüft worden ist.“ Genaueres zu den Voraussetzungen einer Individualbeschwerde bei Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 34, Art. 35 und Esser, in: Ahlbrecht u. a., Internationales Strafrecht, Rn. 33 ff. – Daneben gibt es die Staatenbeschwerde gemäß Art. 33 EMRK und das Gutachtenverfahren in Art. 47 EMRK. Von diesen beiden Verfahrensarten wird jedoch äußerst selten Gebrauch gemacht: Die Staatenbeschwerde wird nur in Fällen von grundsätzlicher Bedeutung und großer politischer Tragweite eingelegt, vgl. z. B. EGMR, Urt. v. 18.1.1978 – Nr. 5310/71 – Vereinigtes Königreich/Irland (zur Krise in Nordirland) sowie Urt. v. 10.5.2001 – Nr. 25781/94 – Zypern/Türkei; allgemein dazu Grabenwarter, EMRK, § 10. 38 Siehe EGMR, Annual Report 2009, S. 12: „It has long been evident that the number of ­applications to the Court is beyond the institution’s capacity, leading to excessive delays for many applicants.“ Vgl. auch die Abschlusserklärung der Konferenz des Ministerkomitees des Europarats in Interlaken zur Zukunft des EGMR v. 19.2.2010. – Die Gründe für die Überforderung des EGMR liegen zum einen an der gewachsenen Bekanntheit und dem erhöhten Vertrauen in den EGMR und zum anderen an der gestiegenen Zahl der Vertragsstaaten. Das Inkrafttreten des 14. Zusatzprotokolls, welches eine Entlastung der Richter bewirken soll, wurde lange Zeit durch die fehlende Ratifikation durch Russland verhindert (ist nun aber zum 1. Juni 2010

B. Beschleunigungsgebot in der europäischen Menschenrechtskonvention

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gangenen Beschwerden stieg von 138 in 195539, über 404 in 1981 und 4750 in 1997 auf 57.100 im Jahr 200940. Da dem z. B. in 2009 „nur“ 35.460 Erledigungen durch Sachurteil (2395) oder Beschluss (33.065) gegenüber­standen, hat sich inzwischen ein Rückstau von gut 140.000 unerledigten Beschwerden gebildet41. Die durchschnittliche Dauer eines Verfahrens vor dem EGMR wird deshalb auch auf fünf bis sechs Jahre geschätzt42. II. Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte

Es ist eine große Herausforderung für den EGMR, ein kohärentes gesamteuro­ päisches Grundrechtsschutzsystem aufzubauen; dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass relativ heterogene Rechtssysteme in Europa zusammen­geführt werden müssen43 und dass ihm 47 Richter aus 46 Staaten angehören44. Hinzu kommt, dass sich der Begriff der „angemessenen Frist“ in Art. 6 EMRK weitgehend einer abstrakten Begriffsbildung entzieht. Insofern verwundert es nicht, dass nicht alle Entscheidungen des kaum überschaubaren Fallmaterials zur überlangen in Kraft getreten), so dass zwischenzeitlich ein Zusatzprotokoll Nr.  14bis verabschiedet werden musste. Zu den neueren Maßnahmen, um die Verfahrensdauer vor dem EGMR zu reduzieren, siehe Ovey/White, ECHR, S. 585 ff. – Peukert, in: Frowein/Peukert, EMRK, Art. 6 Rn. 155 äußert in der 2. Aufl. noch die Befürchtung, dass durch die Überlastung des Gerichtshofs selbst dieser immer mehr Verständnis für die Arbeitsbelastung der nationalen Gerichte aufbringen und dadurch öfter eine Verletzung des Beschleunigungsgebots ablehnen wird. In der 3. Aufl. (Rn. 238) wird auf die Bedeutung der gütlichen Einigung zur Reduktion der Verfahrenslast hingewiesen. 39 1954 wurde die Europäische Kommission für Menschenrechte geschaffen; 1959 der Gerichtshof. 40 EGMR, Annual Report 2009, S. 139. Bis zum 30.11.2010 wurden bereits 57.400 neue Beschwerden und damit 10 Prozent mehr als im vergleichbaren Zeitraum 2009 beim EGMR anhängig gemacht, vgl. EGMR, Statistiken 2010, S. 1. 41 EGMR, Statistiken 2010, S. 1. 42 Frowein, in: Frowein/Peukert, EMRK, 2. Aufl., Einführung Rn.  16; Haase, Faires Gerichtsverfahren, S. 198; Kühne, in: Karl, IntKommEMRK, Art. 6 Rn. 329. Nach EGMR, Statistikanalyse 2009, S. 10 sind derzeit zehn Prozent aller Verfahren, d. h. mindestens 10.000 Beschwerden, über fünf Jahre lang anhängig. – Dieser Befund galt bereits in den 1980er Jahren (vgl. Ulsamer, FS Faller, S. 373, 376) und scheint sich angesichts der hohen Rückstände am EGMR eher zu verschlimmern (vgl. Peukert, in: Frowein/Peukert, EMRK, Art.  6 Rn.  237, Art. 34 Rn. 3). 43 Schließlich hat der EGMR auch über Staaten zu urteilen, die sich noch im Übergang zu einer tatsächlich demokratischen und rechtsstaatlichen Ordnung befinden. Dies betrifft vor allem Russland (28,1 Prozent), die Türkei (11 Prozent), die Ukraine (8,4 Prozent) und Rumänien (8,2 Prozent), gegen die im Jahr 2009 zusammen mehr als die Hälfte (rund 56 Prozent) aller beim EGMR eingereichten Beschwerden gerichtet waren, siehe EGMR, Annual Report 2009, S. 137. 44 Siehe Art. 20 EMRK; die Stelle des Richters Liechtensteins ist bis 2015 mit einem Schweizer besetzt.

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1. Teil: Begriffsklärung und Problemdarstellung

Verfahrensdauer dem gleichen Schema folgen. Dennoch hat der Straßburger Gerichtshof tragende Prinzipien herausgearbeitet, die durch die nationalen Gerichte weiter kon­kretisiert werden können. Die Entscheidung über einen Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot setzt zunächst die Bestimmung voraus, ob eine „strafrechtliche Anklage“ im Sinne des Art. 6 EMRK vorliegt45. Anschließend müssen der Anfangs- und Endzeitpunkt der zu beurteilenden Verfahrensdauer festgelegt werden, um schließlich die Kriterien, anhand derer der EGMR eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK feststellt, herauszuarbeiten. Dabei ist stets zu berücksichtigen, dass die EMRK als völkerrechtlicher Vertrag autonom auszulegen ist46. 1. „Strafrechtliche Anklage“ Die Anwendbarkeit des Beschleunigungsgebots setzt ratione materiae eine „Entscheidung über eine strafrechtliche Anklage“ voraus. Ob inhaltlich ein Strafverfahren vorliegt, beurteilt der EGMR üblicherweise nach Sinn und Zweck des Art. 6 EMRK anhand einer dreistufigen Prüfung: Um ein strafrechtliches Verfahren handelt es sich dann, wenn entweder erstens bereits das nationale Recht den Sachverhalt im Strafrecht regelt, oder zweitens die wahre Natur der Rechtsnorm dem Strafrecht zuzuordnen ist, weil als Folge der Zuwiderhandlung eine Sanktion angedroht wird, die sowohl abschreckenden als auch punitiven Charakter hat, oder drittens die Schwere der Sanktion die Anwendung von Art. 6 EMRK gebietet47. Eine „Entscheidung“ wiederum zeichnet sich dadurch aus, dass in ihr die Schuld oder Nichtschuld des Angeklagten festgestellt wird48. Nicht unter Art.  6 EMRK fallen deshalb reine Steuer- und Zollverfahren – wohl aber Steuerstrafverfahren –, Auslieferungsverfahren oder Asylverfahren; erfasst sind ferner keine Verfahren, innerhalb derer Maßnahmen im Rahmen eines Strafprozesses überprüft werden; wie etwa die Überprüfung der Untersuchungshaft oder Verfahren zur Sicherung und Vorbeugung49. 45 Zwar nennt Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK ausdrücklich nur die Anwendbarkeit auf zivilrechtliche und strafrecht­liche Verfahren. Da diese Begriffe jedoch autonom und nicht nach nationalem Verständnis zu interpretieren sind, wendet der EGMR die Verfahrensdauergarantie auch für verwaltungsrechtliche Verfahren an, weil maßgebend sei, dass der Ausgang des Verfahrens über Rechte und Verpflichtungen privatrechtlicher Natur entscheide; vgl. EGMR, Urt. v. 16.7.1971 – Nr.  2614/65, Rn.  94  – Ringeisen/Österreich; Urt. v. 28.6.1978  – Nr.  6232/73, Rn.  86 ff.  – König/Deutschland; Grabenwarter, EMRK, § 24 Rn. 4 ff. 46 Vgl. Meyer-Ladewig, EMRK, Einl. Rn. 36; Satzger, Int. und Eur. Strafrecht, § 11 Rn. 19. 47 Vgl. erstmals EGMR, Urt. v. 8.6.1976 – Nr. 5100/71 u. a., Rn. 82 – Engel u. a./Niederlande; ausführlich dazu van Dijk, ECHR, S.  543 ff.; Grabenwarter, EMRK, § 24 Rn.  16 ff.; Grabenwarter/Pabel, in: Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap.  14 Rn.  19 ff.; Villiger, EMRK, Rn. 394 ff. 48 Grabenwarter/Pabel, in: Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 14 Rn. 28. 49 Villiger, EMRK, Rn. 391, 399, 401; vgl. auch die Zusammenstellung bei Peukert, in: Frowein/Peukert, EMRK, Art. 6 Rn. 26 ff.

B. Beschleunigungsgebot in der europäischen Menschenrechtskonvention

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2. Beginn und Ende der „strafrechtlichen Anklage“ Damit der Anwendungsbereich des Beschleunigungsgebots nicht von den Vertragsstaaten durch eine späte formale Anklage eingeengt werden kann, ist der Begriff der „strafrechtlichen Anklage“ in Art.  6 EMRK autonom auszulegen50. Insofern bezeichnet der in der deutschen Übersetzung gewählte Begriff nicht notwendigerweise die Anklageerhebung im Sinne des § 170 Abs. 1 StPO. Der EGMR definiert den Beginn der Frist vielmehr als „the official notification given to an individual by the competent authority of an allegation that he has committed a criminal offence [whilst] it may in some instances take the form of other measures which carry the implication of such an allegation and which likewise substantially affect the situation of the suspect.“51

Demnach läuft die Frist mit dem Zeitpunkt, in dem der Beschuldigte erstmals von den gegen ihn laufenden Ermittlungen in Kenntnis gesetzt wird – sei es, dass er formell beschuldigt wird oder dass der gegen ihn gerichtete Verdacht aufgrund behördlicher Strafverfolgungsmaßnahmen wie Verhaftung oder Durchsuchung ernsthafte Auswirkungen auf seine Situation hat. Den für Art. 6 EMRK maßgebenden Zeitraum bereits mit einer etwaigen Belastung des Beschuldigten durch Unter­ suchungsmaßnahmen beginnen zu lassen, rechtfertigt sich vor dem Hintergrund des weiten englischen Wortlauts („criminal charge“) und unter Berücksichtigung der ratio der Norm, wonach das Beschleunigungsgebot eine zu lange währende Ungewissheit des Betroffenen über den Ausgang des Strafverfahrens verhindern soll. Theoretisch wäre es nun denkbar, jedes Stadium des Strafverfahrens  – Er­ mittlungsverfahren, Zwischenverfahren, Hauptverfahren, Berufungs-/Revisionsverfahren, gegebenenfalls Verfassungsbeschwerdeverfahren oder Vorabentscheidungsverfahren zum EuGH  – hinsicht­lich der einzuhaltenden „angemessenen Frist“ einzeln zu betrachten. Eine solche Betrachtung würde indes ein einheit­ liches Verfahren sinnwidrig in einzelne Teile aufspalten und insbesondere der Individualschutzfunktion des Beschleunigungsgebots nicht gerecht werden. Formal lassen sich die genannten Verfahrensstadien zwar trennen, inhaltlich jedoch geht es

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Vgl. van Dijk, ECHR, S. 539 ff., 604 f.; Trechsel, Human Rights, S. 137 f. St. Rspr., vgl. nur EGMR, Urt. v. 10.12.1982 – Nr. 7604/76 u. a., Rn. 52 – Foti u. a./Italien; Urt. v. 2.10.2003 – Nr. 41444/98, Rn. 32 – Hennig/Österreich; Urt. v. 31.5.2001 – Nr. 37591/97, Rn.  31  – Metzger/Deutsch­land; Urt. v. 15.7.1982  – Nr.  8130/78, Rn.  73 f.  – Eckle/Deutschland. – Der Auslegung des EGMR folgend auch der BGH (z. B. in NStZ-RR 2001, 294, 295); van Dijk, ECHR, S. 604; Grabenwarter, EMRK, § 24 Rn. 68; Grabenwarter/Pabel, in: Grote/ Marauhn, EMRK/GG, Kap.  14 Rn.  27; Ovey/White, ECHR, S.  273; Peukert, EuGRZ 1979, 261, 269 ff.; Trechsel, Human Rights, S. 138 ff.; Villiger, EMRK, Rn. 457. – Im Gegensatz zu der EGMR-Entscheidung im Fall Eckle (EGMR, Urt. v. 15.7.1982 – Nr. 8130/78), wonach die in Art.  6 Abs.  1 EMRK genannte „strafrechtliche Anklage“ den spätestens möglichen Frist­ beginn darstellt, sind bei Verfahren in Abwesenheit des Beschuldigten auch Fälle denkbar, in denen der Fristbeginn mangels Kenntnis des Betroffenen noch später liegen kann; vgl. van Dijk, ECHR, S. 604 f.

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1. Teil: Begriffsklärung und Problemdarstellung

stets um die Beurteilung desselben Lebenssachverhalts, so dass das Strafverfahren als Ganzes in einer angemessenen Frist durchgeführt werden muss. Deshalb bildet das Ende des im Hinblick auf Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK zu berücksichtigenden Zeitraums der endgültige Abschluss des Verfahrens – ein rechtskräftiges Urteil, ein rechtskräftiger Freispruch oder eine sonstige dauernde Verfahrensbe­endigung52. Ein anschließendes Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht muss – obwohl es selbst kein Rechtsmittel im eigentlichen Sinn darstellt  – dann bei der Frist­ berechnung berücksichtigt werden, wenn dessen Entscheidung Auswirkungen auf den Ausgang des Verfahrens vor dem ordentlichen Gericht haben kann, weil es den materiell-rechtlichen Gehalt der angegriffenen Entscheidung in substantiierter Weise in Frage stellt53. 3. Überschreiten der „angemessenen Frist“ a) Keine absolute Grenze Eine absolute Obergrenze für die Dauer eines gerichtlichen Verfahrens ist weder durch Gesetz54 noch durch den EGMR aufgestellt worden. Die Verfahrens­ verzögerungen müssen auch keine Mindestdauer aufweisen, um eine Verletzung des Beschleunigungsgebots aus Art. 6 Abs. 1 EMRK zu begründen. Das Beschleunigungsgebot ist – wegen der nötigen Abwägung zwischen den widerstreitenden Aspekten Schnelligkeit und Genauigkeit  – naturgemäß relativ. Eine Dauer von weniger als zwei Jahren kann schon zu einer Konventionsverletzung führen55, 52 St. Rspr., vgl. EGMR, Urt. v. 4.4.2006 – Nr. 7324/02, Rn. 58 – Kobtsev/Ukraine; Urt. v. 31.5.2001 – Nr. 37591/97, Rn. 34 f. – Metzger/Deutschland; Urt. v. 27.6.1968 – Nr. 2122/64, Rn. 18 – Wemhoff/Deutschland; Urt. v. 27.6.1968 – Nr. 1936/63, Rn. 19 – Neumeister/Österreich; Urt. v. 15.7.1982 – Nr. 8130/78, Rn. 77 – Eckle/Deutschland. Diese Rechtsprechung des EGMR ist auch von der Literatur übernommen worden, vgl. Villiger, EMRK, Rn. 458; Hecker, Euro­päisches Strafrecht, § 3 Rn. 61; Peukert, in: Frowein/Peukert, EMRK, Art. 6 Rn. 242 ff.; Grabenwarter, EMRK, § 24 Rn. 68; Kramer, Angemessene Dauer, S. 173; Pfeiffer, FS Baumann, S. 329, 334 f.; Ress, FS Müller-Dietz, S. 627, 641; I. Roxin, Rechtsstaatsverstöße, S. 52 f. 53 EGMR, Urt. v. 29.5.1986  – Nr.  9384/81, Rn.  77  – Deumeland/Deutschland; Urt. v. 16.9.1996 – Nr. 20024/92, Rn. 39 – Süßmann/Deutschland; Urt. v. 1.7.1997 – Nr. 17820/91, Rn. 51 – Pammel/Deutsch­land; Urt. v. 25.2.2000 – Nr. 29357/95, Rn. 65 ff. – Gast und Popp/ Deutschland; Urt. v. 27.7.2000 – Nr. 33379/96, Rn. 39 – Klein/Deutschland; Urt. v. 31.5.2001 – Nr. 37591/97, Rn. 34 f. – Metzger/Deutsch­land; so auch BGH StV 2006, 241, 242; ­Trechsel, Human Rights, S.  141; Grabenwarter, EMRK, § 24 Rn.  68; Peukert, in: Frowein/Peukert, EMRK, Art. 6 Rn. 246 f. – Das BVerfG selbst sieht die Einbeziehung der Verfahrensdauer vor seinem Gericht als dem deutschen Rechtssystem eher fremd an, vgl. BVerfG NStZ 2006, 680, 682; siehe dazu Kühne, in: Karl, IntKommEMRK, Art. 6 Rn. 339. 54 Eine gesetzliche Zeitgrenze sah z. B. das Recht der DDR vor, vgl. dazu Kohlmann, FS Maurach, S. 501, 512 ff. 55 Vgl. EGMR, Urt. v. 22.4.1998  – Nr.  32217/96, Rn.  60 ff.  – Pailot/Frankreich; Urt. v. 9.2.1996 – Nr. 16419/90 und 16426/90, Rn. 58 ff. – Yağci und Sargin/Türkei (zwei Jahre ab dem Zeitpunkt des türkischen Beitritts zur EMRK).

B. Beschleunigungsgebot in der europäischen Menschenrechtskonvention

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während Verfahren von bis zu zwanzig Jahren als mit Art. 6 EMRK noch vereinbar betrachtet wurden56. Gefordert ist nämlich nicht die maximale, sondern an­ gemessene Beschleunigung57. So ist auch die Überschreitung von nach nationalem Prozessrecht vorgesehenen Fristen lediglich ein Indiz für eine zögerliche Bearbeitung der Rechtssache58. Erscheint die Gesamtdauer des Verfahrens jedoch prima facie als unangemessen lang (im Fall Eckle/Deutschland z. B. der Zeitraum von 10 bzw. 17 Jahren), so besteht eine Vermutung für eine Konventionsverletzung. Es obliegt dann dem verklagten Vertragsstaat, Erklärungen für die außergewöhnlich lange Dauer des Verfahrens darzulegen59. Da der Gerichtshof bei Strafverfahren einen strengeren Maßstab für das angemessen dauernde Verfahren anlegt als bei Zivilverfahren60, liegt eine Verletzung des Beschleunigungsgebots ab einer Dauer von etwa acht Jahren nahe61. Für die Dauer einer einzelnen Instanz hat der EGMR selbst im Jahr 2003 erstmals im Rahmen der Prüfung von Art. 5 Abs. 4 EMRK als Faustregel für Art. 6 Abs. 1 EMRK aufgestellt, dass jede Instanz innerhalb eines Jahres abgeschlossen werden sollte62; diese Aussage wird zwar vom Gerichtshof in seiner weiteren Rechtsprechung immer wieder aufgegriffen, dürfte aber insbesondere für die erste Instanz zu knapp bemessen sein, so dass eher das Überschreiten von zwei Jahren pro Instanz vermieden werden sollte63.

56 So die etwas erstaunliche Entscheidung EKMR, Entsch. v. 2.9.1994  – Nr.  16182/90, D. S. u. a./Italien. 57 Krehl/Eidam, NStZ 2006, 1, 4. 58 EKMR, Report v. 10.3.1988 – Nr. 11688/85, Rn. 69 – Mlynek/Österreich; EGMR, Urt. v. 25.11.1992 – Nr. 12728/87, Rn. 24 – Abdoella/Niederlande. 59 So EGMR, Urt. v. 15.7.1982 – Nr. 8130/78, Rn. 80 – Eckle/Deutschland; Urt. v. 7.8.1996 – Nr. 19874/92, Rn. 38 ff. – Ferrantelli und Santangelo/Italien; siehe auch Peukert, in: Frowein/ Peukert, EMRK, Art. 6 Rn. 251; Schlette, Gerichtliche Entscheidung, S. 38; Ulsamer, FS Faller, S.  373, 376.  – Im umgekehrten Fall muss der Kläger bei nicht offensichtlicher Überlänge des Verfahrens Verzögerungen durch die Justiz nachweisen, vgl. Trechsel, Human Rights, S. 142 m. w. N. 60 Peters, EMRK, S. 124. 61 So mit weiteren Nachweisen Meyer-Goßner, StPO, Art. 6 MRK Rn. 7b (bereits eine Verfahrensdauer von mehr als sieben Jahren sei übermäßig lang); Jokisch, Gemeinschaftsrecht und Strafverfahren, S. 196; Diehm, Menschenrechte, S. 443 Fn. 1763 (schon sieben Jahre zu lang); Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art.  20 Teil VII, Rn.  149 (bereits sechs Jahre seien überlang); Heß, ZZP 1995, 59, 103 (für zivilrechtliche Verfahren, die aber in der Regel großzügiger vom EGMR betrachtet werden); Stavros, Article 6, S. 106 (der die Grenze erst bei neun Jahren sieht); vgl. auch die Fallliste bei Peukert, in: Frowein/Peukert, EMRK, 2. Aufl., Art. 6 Rn. 153 f.; Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 6 Rn. 82 f.; Villiger, EMRK, Rn. 468. Bezüglich Ermittlungsverfahren meint Ress, FS Müller-Dietz, S. 644, dass eine Dauer von drei Jahren die Grenze der „Angemessenheit“ überschreitet. 62 EGMR, Urt. v. 20.2.2003 – Nr.  50272/99, Rn.  79 – Hutchison Reid/Vereinigtes Königreich: „[O]ne year per instance may be a rough rule of thumb in Article 6 § 1 cases“. – Siehe auch EGMR, Urt. v. 8.2.2005 – Nr. 45100/98, Rn. 117 – Panchenko/Russland; Urt. v. 7.4.2005 – Nr.  54071/00, Rn.  74 – Rokhlina/Russland; Urt. v. 8.11.2005 – Nr. 6847/02, Rn.  193 – ­Khudoyorov/Russland; Urt. v. 24.5.2007 – Nr. 27193/02, Rn. 111 – Ignatov/Russland; Urt. v. 9.10.2008 – Nr. 62936/00, Rn. 160 – Moiseyev/Russland. 63 Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 6 Rn. 77; vgl. auch Peters, EMRK, S. 124 und Peukert, in: Frowein/Peukert, EMRK, Art. 6 Rn. 249, der konstatiert, dass Verfahrensdauern von anderthalb

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1. Teil: Begriffsklärung und Problemdarstellung

b) Kriterien innerhalb der Gesamtabwägung Mangels absoluter Grenzen ist eine Verletzung des Beschleunigungsgebots deshalb mittels einer Gesamtabwägung aller Umstände des Einzelfalls zu ermitteln. Eine konventionswidrige überlange Verfahrensdauer kommt immer dann in Betracht, wenn das Verfahren bei Einhaltung der Prozessgesetze, gemessen an der normalen Bearbeitungsdauer, erheblich schneller zum Abschluss gebracht hätte werden können64. Der Straßburger Gerichtshof überprüft grundsätzlich anhand von vier Kriterien, ob die Dauer eines Verfahrens noch als „angemessen“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK gewertet werden kann65: „The Court reiterates at the outset that the reasonableness of the length of proceedings must be assessed in the light of the particular circumstances of the case and having regard to the criteria laid down in its case-law, in particular the complexity of the case and the conduct of the applicant and of the relevant authorities. It is necessary among other things to take account of the importance of what is at stake for the applicant in the litigation.“

• Untersucht wird also zum einen, ob die Sache für den Beschwerdeführer eine besondere Bedeutung aufweist. Eine solche wird in Strafverfahren wegen des in Art. 5 EMRK garantierten Rechts auf Freiheit stets dann angenommen, wenn der Beschwerdeführer inhaftiert ist66. • Zweitens wird geprüft, ob dem Verfahren komplexe, d. h. schwierig zu lösende Sach- und Rechtsfragen zugrunde lagen. Als eher komplex gelten im Strafrecht Tatbestände des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts angesichts der häufig bereits mühsamen Ermittlung des tatsächlichen Sachverhalts67; auch die Auslegung des Rechts der Europäischen Union kann eine längere Verfahrensdauer recht­fertigen68.

bis zwei Jahren pro Instanz in der Regel nicht zu beanstanden sein werden. – Überhaupt verwundert es, dass der EGMR diese Faustregel angebracht hat, weil er selbst für die genannten Entscheidungen zwischen drei und acht Jahre benötigte. 64 Gollwitzer, Menschenrechte, Art. 6 MRK Rn. 78. 65 St. Rspr., vgl. nur EGMR, Urt. v. 27.6.1997 – Nr. 19773/92, Rn. 35 – Philis/Griechenland; Urt. v. 31.5.2001 – Nr. 37591/97, Rn. 36 – Metzger/Deutschland. – Ausführlich zu den einzelnen Kriterien Peukert, in: Frowein/Peukert, EMRK, Art. 6 Rn. 252 ff.; Stavros, Article 6, S. 88 ff.; Trechsel, Human Rights, S. 141 ff.; Villiger, EMRK, Rn. 459 ff. Eine Zusammenstellung der Rechtsprechung des EGMR enthält auch ein Aufsatz der Verfahrensbevollmächtigten aus dem Bundesministerium der Justiz, Wittling-Vogel/Ulick, DRiZ 2008, 87 ff. 66 Vgl. EGMR, Urt. v. 27.6.1968  – Nr.  2122/64, Rn.  17  – Wemhoff/Deutschland; Urt. v. 25.11.1992 – Nr. 12728/87, Rn. 24 – Abdoella/Niederlande; Urt. v. 21.12.2000 – Nr. 33492/96, Rn. 102 – Jablonski/Polen; Urt. v. 26.7.2001 – Nr. 34097/96, Rn. 52 – Kreps/Polen. 67 Vgl. EGMR, Urt. v. 31.5.2001  – Nr.  37591/97, Rn.  39  – Metzger/Deutschland; Urt. v. 30.9.2004  – Nr.  41171/98, Rn.  80  – Zaprianov/Bulgarien; siehe auch Urt. v. 15.7.1982  – Nr.  8130/78, Rn.  81  – Eckle/Deutschland; Gaede, wistra 2004, 166, 169; Ress, FS MüllerDietz, S. 627, 642. 68 Vgl. EGMR, Urt. v. 26.2.1998 – Nr. 20323/92, Rn. 91 – Pafitis u. a./Griechenland.

B. Beschleunigungsgebot in der europäischen Menschenrechtskonvention

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• Als dritter  – und wichtigster  – Gesichtspunkt ist zu begutachten, ob die Behörden das Verfahren zügig vorangetrieben haben, um es dem Abschluss zuzuführen, oder ob sich längere Phasen der Inaktivität finden, d. h. Zeiträume, in denen die Behörden untätig blieben69. Denn der EGMR folgert aus dem Beschleunigungsgrundsatz eine Pflicht jedes Vertragsstaats, seine Gerichtsbarkeit so zu organisieren, dass eine angemessene Verfahrensdauer sichergestellt werden kann70. Naturgemäß wird ein Verfahren umso länger dauern, je mehr Instanzen durchlaufen werden. Wegen der besonderen Bedeutung der Verfassungsgerichtsrechtsprechung wird den höchsten nationalen Gerichten eine längere Bearbeitungsdauer zugebilligt71. Allerdings sind die Justizorgane gehalten, ein bereits lang dauerndes Verfahren im weiteren Verlauf rasch zu einem Abschluss zu bringen72. Bei Personalmangel und Arbeitsüberlastung der Justizbehörden muss grundsätzlich der Staat für Abhilfe sorgen, wenn nicht ausnahmsweise generell ein starker Arbeitsanfall zu verzeichnen ist73. Eine rechtsstaatswidrige Verzögerung liegt mithin dann vor, wenn sie den staatlichen Stellen anzulasten ist, weil die Verzögerung durch vermeidbare oder absehbare Umstände ver­ ursacht wurde. • Schließlich kann viertens das Verhalten des Beschwerdeführers in die Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer einfließen, da der Staat nur für solche Verzögerungen einzustehen hat, die seinen Behörden angelastet werden können. Zwar wird wegen des Grundsatzes nemo tenetur se ipsum accusare nicht vom Beschuldigten verlangt, dass er aktiv mit den Strafverfolgungsbehörden zusammenarbeitet und damit den Weg zu seiner eigenen Verurteilung 69 Vgl. EGMR, Urt. v. 23.9.1998  – Nr.  28523/95, Rn.  33  – Portington/Griechenland: in einem Strafverfahren vergingen 19 Monate von der Erhebung der Berufung bis zur ersten Verhandlung.  – Siehe auch BGHSt 35, 137 (das Übersenden der Akten vom erstinstanzlichen Landgericht an den BGH dauerte unerklärlicherweise fünf Jahre) sowie BGH StV 1999, 661 (21 Monate zwischen Revisionsbegründung und Vorlage beim Generalbundesanwalt). 70 St. Rspr., vgl. statt aller EGMR, Urt. v. 27.6.1997 – Nr. 19773/92, Rn. 40 – Philis/Griechenland; Urt. v. 31.5.2001 – Nr. 37591/97, Rn. 42 – Metzger/Deutschland; siehe auch Kühne, in: Karl, IntKommEMRK, Art. 6 Rn. 336; Peukert, in: Frowein/Peukert, EMRK, Art. 6 Rn. 253; Gollwitzer, Menschenrechte, Art. 6 MRK Rn. 79; Hecker, Europäisches Strafrecht, § 3 Rn. 61. 71 EGMR, Urt. v. 16.9.1996  – Nr.  20024/92, Rn.  57 f.  – Süßmann/Deutschland; Urt. v. 1.7.1997 – Nr. 17820/91, Rn. 68 ff. – Pammel/Deutschland; Urt. v. 25.2.2000 – Nr. 29357/95, Rn.  75 f.  – Gast und Popp/Deutschland; Urt. v. 27.7.2000  – Nr.  33379/96, Rn.  42  – Klein/ Deutschland. 72 Vgl. EGMR, Urt. v. 29.3.1989 – Nr. 11118/84, Rn. 42, 47 – Bock/Deutschland; siehe auch BVerfGK 2, 239, 251. 73 Van Dijk, ECHR, S. 609 f. – Dies war z. B. nach der Wiedervereinigung von Bundesrepublik und DDR beim BVerfG der Fall; vgl. EGMR, Urt. v. 16.9.1996 – Nr. 20024/92, Rn. 60 – Süßmann/Deutschland; Urt. v. 25.2.2000 – Nr. 29357/95, Rn. 77 f. – Gast und Popp/Deutschland; Entsch. v. 2.3.2005 – Nr. 71916/01 u. a., Rn. 133 f. – Maltzan u. a./Deutschland; keine Rechtfertigung bildete die Wiedervereinigung jedoch im Urt. v. 27.7.2000  – Nr.  33379/96, Rn. 39 ff. – Klein/Deutschland; Urt. v. 20.2.2003 – Nr. 44324/98, Rn. 51 – Kind/Deutschland. Vgl. zur chronischen Überlastung des BVerfG auch EGMR, Urt. v. 1.7.1997 – Nr. 20950/92, Rn. 63 f. – Probstmeier/Deutschland; vgl. allgemein auch BVerfGE 36, 264, 275.

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1. Teil: Begriffsklärung und Problemdarstellung

erleichtert74; allerdings kann eine zögerliche Verfahrensführung seinerseits  – wie etwa das exzessive Ausnutzen prozessualer Möglichkeiten, mehrfache Anträge auf Richterablehnung oder die Beantragung erneuter bzw. wiederholter Expertengutachten – eine längere Verfahrensdauer rechtfertigen75. Die Unangemessenheit der Verfahrensdauer kann vom EGMR dabei auf zwei unterschiedlichen Wegen festgestellt werden76: Einerseits analysiert er teilweise verfahrens- oder sachbezogen, indem jeder Verfahrensabschnitt einzeln untersucht und danach gefragt wird, ob den innerstaatlichen Behörden zuzurechnende Ver­ zögerungen aufgetreten sind77. Andererseits stellt der Gerichtshof mitunter in einer summarischen Überprüfung („global“ bzw. „overall assessment“) allein auf die Gesamtverfahrensdauer ab, wenn die Beurteilung nach den einzelnen Kriterien aufwändig und die Gesamtdauer so unverhältnismäßig ist, dass sie nicht mehr angemessen sein kann78. Eine Verletzung des Beschleunigungsgebots wegen der insgesamt zu langen Verfahrensdauer setzt dann nicht unbedingt staatliche Versäumnisse voraus; vielmehr implizieren der Begriff der „Angemessenheit“ und der Sinn und Zweck des Beschleunigungsgebots, dass ein Verstoß auch wertend über die Gesamtverfahrensdauer begründet werden kann79. Während es die Variante der Gesamtwürdigung ermöglicht, staatlich begründete Verzögerungen durch spätere 74 Vgl. EGMR, Urt. v. 15.7.1982 – Nr. 8130/78, Rn. 82 – Eckle/Deutschland; Urt. v. 9.2. 1996 – Nr. 16419/90 und 16426/90, Rn. 66 – Yağci und Sargin/Türkei. 75 EGMR, Urt. v. 23.4.1987 – Nr. 9816/82, Rn. 57 – Poiss/Österreich; Urt. v. 8.12.1983 – Nr.  7984/77, Rn.  34  – Pretto u. a./Italien. Als Maßstab untersucht der Gerichtshof, welche Verteidigungsmaßnahmen des Angeklagten „reasonable and understandable“ erscheinen; vgl. EGMR, Urt. v. 26.10.1988 – Nr. 11371/85, Rn. 49 – Martins Moreira/Portugal. – Ress, FS Müller-Dietz, S. 627, 643 betont, dass in Strafverfahren die Anforderungen an den Beschuldigten nicht zu hoch anzusetzen sind und daher eine Anrechnung seiner Verzögerungen nur selten einmal in Betracht kommen wird. Taucht der Angeklagte unter oder entzieht er sich dem Verfahren durch Flucht, gehen die dadurch entstehenden Verzögerungen jedoch ohne Zweifel zu seinen Lasten, vgl. EGMR, Urt. v. 19.2.1991 – Nr. 13324/87, Rn. 15 – Girolami/Italien; EKMR, Entsch. v. 2.3.1983 – Nr. 9429/81 – X./Irland. 76 Grabenwarter, EMRK, § 24 Rn. 70; Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 6 Rn. 79; Gaede, wistra 2004, 166, 171 f.; van Dijk, ECHR, S. 606; Grabenwarter/Pabel, in: Grote/Marauhn, EMRK/ GG, Kap.  14 Rn.  105; Haase, Faires Gerichtsverfahren, S.  76; Villiger, EMRK, Rn.  469; ­Peukert, in: Frowein/Peukert, EMRK, Art. 6 Rn. 249 f.; Stavros, Article 6, S. 106 ff.; Peukert, EuGRZ 1979, 261, 272. 77 So z. B. in EGMR, Urt. v. 31.5.2005  – Nr.  64330/01, Rn.  51 f.  – Antunes Rocha/Por­ tugal; Urt. v. 9.11.2004 – Nr. 46300/99, Rn. 61 ff. – Marpa Zeeland u. a./Niederlande; Urt. v. 31.5.2001 – Nr. 37591/97, Rn. 41 – Metzger/Deutschland. 78 Vgl. EGMR, Urt. v. 16.12.2003  – Nr.  42083/98, Rn.  46  – Mianowski/Polen; Urt. v. 17.12.2004 – Nr. 49017/99, Rn. 51 – Pedersen und Baadsgaard/Dänemark; Urt. v. 23.4.1987 – Nr.  9616/81, Rn.  69  – Erkner und Hof­auer/Österreich; Urt. v. 28.6.1990  – Nr.  11761/85, Rn. 72 – Obermeier/Österreich; in diese Richtung auch schon Urt. v. 28.6.1978 – Nr. 6232/73, Rn. 111 – König/Deutschland. – Eine weitere Schematisierung musste der EGMR wegen der Flut der Beschwerden aus Italien vornehmen. Mit dem Fall Bottazzi/Italien (EGMR, Urt. v. 28.7.1999 – Nr. 34884/97) stellten die Richter eine „ständige Praxis der Verletzung“ des Beschleunigungsgebots durch Italien fest; vgl. dazu Ress, FS Müller-Dietz, S. 627, 637 f. 79 Gaede, wistra 2004, 166, 171.

B. Beschleunigungsgebot in der europäischen Menschenrechtskonvention

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besonders rasche Bearbeitung zu heilen, schlagen staatliche Versäumnisse bei der Variante der Prüfung nur der einzelnen Verfahrensabschnitte immer häufiger auf die Annahme einer Verletzung von Art. 6 EMRK durch: Hat ein bestimmtes Verfahrensstadium zu lange gedauert, stellt der EGMR des Öfteren einen Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot wegen dieser einen Untätigkeit fest, ohne auf die Gesamtverfahrensdauer einzugehen80. Diese Vorgehensweise ist zum einen prozessökonomisch und zeigt zum anderen das Bemühen des Gerichtshofs, eine Konventionsverletzung an konkrete Kriterien zu knüpfen81. Im Ergebnis ist damit festzuhalten, dass das Beschleunigungsgebot aus Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK sowohl dann verletzt sein kann, wenn bei einer gerade noch akzeptablen Gesamtverfahrensdauer einzelne Verfahrensabschnitte überlang erscheinen, als auch dann, wenn zwar die einzelnen Verfahrensabschnitte für sich betrachtet als noch vertretbar lang erscheinen, jedoch die Gesamtverfahrensdauer so erheblich ist, dass sie den Rahmen der „Angemessenheit“ sprengt. Dem Beschleunigungsgebot kann damit nur durch eine hinreichend zügige Bearbeitung der Rechtssache in allen Verfahrensstadien Rechnung getragen werden82. 4. Konventionsrechtliche Konsequenzen einer Verletzung von Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK enthält selbst keine eigenständige Sanktion für die Verletzung des Beschleunigungsgebots; aus Art. 13 EMRK folgt jedoch, dass eigene Rügemöglichkeiten der überlangen Verfahrensdauer im nationalen Recht vorhanden sein müssen83. Darüber hinaus ergibt sich aus Art. 46 EMRK, dass der Staat 80 Grabenwarter, EMRK, § 24 Rn. 70 m. w. N. – Kritisch dazu Peglau, JuS 2006, 704 f., unter Hinweis darauf, dass immer Argumente gefunden werden können, wie ein einzelner Verfahrensteil hätte schneller durchgeführt werden können (z. B. bei Bestellung von zwei statt nur einem Ergänzungsschöffen oder Ergänzungsrichter; bei paralleler Ladung mehrerer Zeugen auf eine Uhrzeit, um ein eventuelles Fernbleiben eines Zeugen zu überbrücken etc.), was dann aber wiederum mit anderen Interessen kollidiere. 81 Insofern ist diese Art der Prüfung in der Praxis des Straßburger Gerichtshofs besonders ausgeprägt. Eine Abkehr von der Gesamtbetrachtung kann darin allerdings nicht gesehen werden, vgl. Gaede, wistra 2004, 166, 172. 82 Gaede, wistra 2004, 166, 172. 83 Inwieweit bei überlanger Dauer gerichtlicher Verfahren neben dem in Art. 6 Abs. 1 EMRK garantierten Recht auf ein faires und zügiges Verfahren auch das in Art. 13 EMRK verbürgte Recht auf wirksame Beschwerde verletzt sein kann, ist vor einiger Zeit Gegenstand eines Rechtsprechungswandels gewesen. Der EGMR hat  – unter ausdrücklicher Aufgabe seiner früheren Rechtsprechung  – erstmals in der Entscheidung Kudla/Polen (Urt. v. 26.10.2000  – Nr. 30210/96, Rn. 146 ff.) entschieden, dass Art. 13 nicht subsidiär zu Art. 6 EMRK ist, wenn dieser wegen unangemessener Verfahrensdauer verletzt ist und der Betroffene insoweit keinen Rechtsbehelf nach innerstaatlichem Recht einlegen kann. Hintergrund dieser – inzwischen mehrfach bestätigten (siehe EGMR, Entsch. v. 11.9.2002  – Nr.  57220/00, Rn.  17  – Mifsud/ Frankreich; Urt. v. 10.7.2003  – Nr.  53341/99, Rn.  81  – Hartman/Tschechische Republik)  –

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1. Teil: Begriffsklärung und Problemdarstellung

den konventionswidrigen Zustand beseitigen muss und zur Wiedergutmachung im Rahmen seiner gesetzlichen Möglichkeiten verpflichtet ist. Die Urteile des EGMR erschöpfen sich demnach regelmäßig in der Feststellung, dass in dem angegriffenen Prozess die angemessene Verfahrensdauer überschritten und damit die Konvention verletzt wurde84. Es bleibt dann dem innerstaatlichen Recht überlassen, Rechtsprechung ist es, der Vielzahl der Konventionsverletzungen durch Rechtsschutzverzögerungen entgegen zu wirken und die Zahl der beim EGMR eingehenden, auf Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK gestützten Beschwerden zu mindern. Art. 13 EMRK lautet: „Jede Person, die in ihren in dieser Konvention anerkannten Rechten oder Freiheiten verletzt worden ist, hat das Recht, bei einer innerstaatlichen Instanz eine wirksame Beschwerde zu erheben, auch wenn die Verletzung von Personen begangen worden ist, die in amtlicher Eigenschaft gehandelt haben.“ Diese Bestimmung garantiert nach dem EGMR nunmehr eine wirksame Beschwerdemöglichkeit bei einer innerstaatlichen Instanz, mit der die Verletzung der aus Art. 6 Abs. 1 EMRK folgenden Verpflichtung, über eine Streitigkeit innerhalb angemessener Frist zu verhandeln, gerügt werden kann. Wirksam ist der Rechtsbehelf, wenn er es ermöglicht, entweder die befassten Gerichte zu einer schnelleren Entscheidungsfindung zu veranlassen (präventive Wirkung) oder dem Betroffenen für die bereits entstandenen Verzögerungen eine angemessene Entschädigung zu gewähren (kompensatorische Wirkung), vgl. EGMR, Urt. v. 31.7.2003 – Nr. 50389/99, Rn. 59 – Doran/Irland; Urt. v. 27.1.2005 – Nr. 55057/00, Rn. 38 – Sidjimov/Bulgarien. Die erforderliche Wirksamkeit muss sich nicht notwendig aus einem einzelnen Rechtsbehelf ergeben, vielmehr kann auch die Gesamt­heit der nach dem innerstaatlichen Recht möglichen Rechtsbehelfe die Erfordernisse des Art. 13 EMRK erfüllen. – Ob die im deutschen Recht vorhandenen – auch dienstaufsichts- und disziplinarrechtlichen – Rechtsschutzmöglichkeiten ausreichen (so etwa Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 13 Rn. 22; Peters, EMRK, S. 127), oder ob eine Beschleunigungsbeschwerde vom Gesetzgeber geschaffen werden muss (so Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 19 Abs. 4 Rn. 263a), ist im Schrifttum und insbesondere zwischen der Richter- und der Anwaltschaft umstritten, siehe ausführlich dazu Steinbeiß-Winkelmann, ZRP 2007, 177, 180 und Richter, in: Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 20 Rn. 102 f. Der von der Bundesregierung am 22.8.2005 vorgelegte Gesetzentwurf zur Schaffung einer Untätigkeitsbeschwerde als neuer § 198 GVG wird bis auf weiteres nicht beschlossen werden, siehe Kleine Anfrage der Fraktion der FDP, BT-Drs. 16/7558 v. 28.12.2007, S. 4. – Da der EGMR jedoch inzwischen die deutschen Rechtsschutzmöglichkeiten als unzureichend im Sinne von Art. 13 EMRK angesehen hat (Urt. v. 8.6.2006 – Nr. 75529/01 – Sürmeli/Deutschland), hat die Bundesregierung auf Initiative des Bundesjustizministeriums jüngst einen Regierungsentwurf für eine Entschädigungsklage vorgelegt, der grundsätzlich 100  Euro pro verzögerten Monat als Entschädigung vorsieht. 84 Kühne, in: Karl, IntKommEMRK, Art. 6 Rn. 340; Meyer-Ladewig, EMRK, Einl. Rn. 24; Satzger, Int. und Eur. Strafrecht, § 11 Rn. 100. – Zur Bindungswirkung von Entscheidungen des EGMR vgl. ausführlich Grabenwarter, EMRK, § 16. – Um einer Verurteilung zuvorzukommen, kann jedoch auch versucht werden, eine gütliche Einigung zu erreichen, vgl. Art. 38 f. EMRK. Dabei gilt die Zustellung einer Beschwerde als Indiz dafür, dass der Gerichtshof einen Konventionsverstoß für naheliegend hält. Für eine gütliche Einigung ist jedoch das Einverständnis zwischen den Parteien Voraussetzung. Liegt dieses nicht vor, ist es in letzter Zeit häufiger vorgekommen, dass der beklagte Staat sich einseitig zu einer pauschalen und abgeltenden Schadensersatzleistung bereit erklärt, die der Gerichtshof als angemessen anerkennt und deshalb die Beschwerde gemäß Art. 37 Abs. 1 S. 1 lit. c) EMRK aus dem Verfahrensregister streicht; vgl. etwa EGMR, Entsch. v. 1.4.2008 – Nr. 35000/05 – Orlowski/Deutschland; ausführlich und m. w. N. dazu Broß, StraFo 2009, 10, 15; Grabenwarter, EMRK, § 13 Rn. 55 f., 58 f.; Wittling-Vogel/Ulick, DRiZ 2008, 87, 89.

B. Beschleunigungsgebot in der europäischen Menschenrechtskonvention

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wie eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung ausgeglichen wird85, wobei der EGMR jedoch gewisse konkretisierende Maßstäbe entwickelt hat. Vor allem muss das Urteil den Konventionsverstoß ausdrücklich anerkennen86. Dies kann bei leichten Verstößen unter Umständen bereits als Kompensation genügen87; insbesondere muss eine Verletzung nicht zwangs­läufig zum Abbruch des Verfahrens führen88. Die Überschreitung der angemessenen Verfahrensdauer muss nämlich nicht notwendigerweise zur Feststellung einer Verletzung des Beschleunigungsgebots führen: Der Staat kann durch kompensatorische Maßnahmen wie z. B. das Herabsetzen der Strafe eine Verletzung von Art. 6 EMRK abwenden89. Ist auf nationaler Ebene keine oder nur eine unvollkommene Wiedergutmachung für die Folgen der Verletzung möglich – dies ist bei der Verletzung des Beschleunigungsgebots eher selten der Fall –, so spricht der Gerichtshof der verletzten Partei gemäß Art. 41 EMRK eine gerechte Entschädigung zu90.



85 Vgl. nur EGMR, Urt. v. 15.7.1982 – Nr. 8130/78, Rn. 66 – Eckle/Deutschland; Gollwitzer, Menschenrechte, Art. 6 Rn. 84; van Dijk, ECHR, S. 611; Stavros, Article 6, S. 90. 86 EGMR, Urt. v. 15.7.1982 – Nr. 8130/78, Rn. 66 ff. – Eckle/Deutschland; Kühne, in: Karl, IntKommEMRK, Art. 6 Rn. 342; Ulsamer, FS Faller, S. 373, 382. 87 Vgl. EGMR, Urt. v. 13.7.1984 – Nr. 8737/79, Rn. 35 – Zimmermann und Steiner/Schweiz; Urt. v. 27.7.2000 – Nr. 33379/96, Rn. 51 – Klein/Deutschland; Urt. v. 29.7.2004 – Nr. 49746/99, Rn. 68 – Cevizovic/Deutschland; Urt. v. 10.2.2005 – Nr. 64387/01, Rn. 39 – Uhl/Deutschland; Urt. v. 10.11.2005 – Nr. 65745/01, Rn. 113 – Dzelili/Deutschland; vgl. auch BGHSt 52, 124, 134, 138 f. 88 So bereits EKMR, Entsch. v. 16.10.1980 – Nr. 8182/78, Rn. 5 – S./Deutschland; vgl. auch Gaede, wistra 2004, 166, 170; Gollwitzer, Menschenrechte, Art. 6 MRK Rn. 85b. 89 EGMR, Urt. v. 15.7.1982 – Nr. 8130/78, Rn. 66 – Eckle/Deutschland; Peukert, in: Frowein/Peukert, EMRK, Art. 41 Rn. 66; Grabenwarter, EMRK, § 24 Rn. 71; Ulsamer, FS Faller, S. 373, 382 f.; I. Roxin, StV 2001, 490, 491. 90 Entschädigungsfähig sind materielle und immaterielle Schäden. Der Nachweis, dass materielle Schäden auf die Konventionsverletzung zurückzuführen sind, wird dabei nur in Ausnahmefällen gelingen. Häufiger wird deshalb eine Entschädigung für immaterielle Schäden gewährt, dessen Höhe sich nach den Umständen des konkreten Falls richtet, wobei hauptsächlich die Dauer und Zahl der Instanzen berücksichtigt werden, vgl. Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 41 Rn. 18 f. (Entschädigung von bis zu € 50.000). Siehe auch EGMR, Urt. v. 31.7.2003 – Nr. 50389/99, Rn. 75 f. – Doran/Irland (€ 25.000 bei 8 Jahren und 5 Monaten Dauer); Urt. v. 29.3.2006 – Nr. 36813/97, Rn. 272 – Scordino/Italien (€ 24.000 bei achteinhalb Jahren Verfahrensdauer in zwei Instanzen). Eine lange Dauer allein führt jedoch nicht immer zu einer Entschädigung; so hat der Gerichtshof etwa eine Entschädigung verweigert, wenn die Dauer des Verfahrens nicht unwesentlich auf das Verhalten des Beschwerdeführers zurückzuführen war (z. B. EGMR, Urt. v. 15.7.2003 – Nr. 44978/98, Rn. 72 – Berlin/Luxemburg: 17 Jahre Dauer für 2 Instanzen).  – Die lange Zeit streitige Frage, wie die Kosten einer Entschädigungsverpflichtung aus Art. 41 EMRK zwischen Bund und Ländern zu verteilen sind, wurde durch die Föderalismusreform 2006 in Art. 104a Abs. 6 GG und durch das Ausführungsgesetz in §§ 1 Abs. 1, 4 Lastentragungsgesetz entschieden: Die Lastentragung richtet sich grundsätzlich nach der innerstaatlichen Zuständigkeits- und Aufgabenverteilung hinsichtlich des beanstandeten Verfahrens.

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1. Teil: Begriffsklärung und Problemdarstellung

C. Beschleunigungsgebot im deutschen Straf- und Verfassungsrecht Neben dem völkerrechtlichen Vertrag der EMRK, die durch die Transformation ins deutsche Recht im Rang eines einfachen Bundesgesetzes gilt und deshalb nach Art. 20 Abs. 3 GG von allen Staatsorganen zu beachten ist, gibt es auch die origi­ när vom deutschen Gesetzgeber erlassene Strafprozessordnung und das Grund­ gesetz, aus denen sich das Beschleunigungsgebot in Strafsachen91 ebenfalls ab­ leiten lässt. I. Rechtliche Konkretisierungen

1. Strafprozessordnung Das Gebot der zügigen Durchführung von Strafverfahren ist zwar nicht ausdrücklich in der deutschen Strafprozessordnung verankert. Das Beschleunigungsgebot – in der Hauptverhandlung auch Konzentrationsmaxime genannt – lässt sich aber aus einzelnen Vorschriften und dem Gesamtzusammenhang der StPO ab­ leiten92: 91 Für den Zivilprozess kommt das Bestreben um eine möglichst zügige Verfahrensdurchführung in § 272 ZPO, in den Vorschriften über das Versäumnisurteil, §§ 330 ff. ZPO und der Präklusionsnorm des § 296 ZPO zum Ausdruck. Für das Verfahren vor den Arbeitsgerichten gilt explizit § 9 Abs.  1 ArbGG: „Das Verfahren ist in allen Rechtszügen zu beschleunigen.“ Zur Konzentrationsmaxime im Verwaltungsrecht (vgl. §§ 87 ff., 116 VwGO, § 79 FGO, § 106 Abs. 2 SGG) siehe Schlette, Gerichtliche Entscheidung, S. 19 f. – Ein rechtstheoretischer Unterschied in der Begründung des Beschleunigungsgebots zwischen zivilrechtlichen und anderen Verfahren im Gegensatz zu Strafverfahren liegt in Folgendem (vgl. Ress, FS Müller-Dietz, S. 627, 634): Das Beschleunigungsgebot fungiert bei den erstgenannten Verfahren als Kehrseite zum dem einzelnen Bürger zugemuteten Verzicht auf die gewaltsame Durchsetzung seiner Ansprüche, so dass bei einer Rechtsverweigerung seitens der Justizbehörden letztlich ab einem bestimmten Zeitpunkt an der einzelne wieder ermächtigt ist, seinen Anspruch im Wege der Selbsthilfe durchzusetzen. Eine solche Parallele kann im Strafrecht nur für die Privatklagedelikte (§§ 374 ff. StPO) und für die Möglichkeit eines Klageerzwingungsverfahrens (§§ 172 ff. StPO) gezogen werden. Grundsätzlich soll nämlich die Durchsetzung des allgemeinen staatlichen Strafanspruchs nach den verschiedenen Strafzwecktheorien nicht der Rache, sondern der Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, der Prävention und auch der Sühne und Resozialisierung dienen – jedenfalls aber nicht das Gegenstück zu einem Gewaltverzicht des Verletzten im Rahmen der staatlichen Ordnung darstellen. In Strafverfahren spielt für das Beschleunigungsgebot vielmehr der Gedanke des Individualschutzes eine entscheidende Rolle. 92 Vgl. Kramer, Angemessene Dauer, S. 27; Kühne, Strafprozessrecht, Rn.  269 ff.; Roxin/ Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 16 Rn. 4; Pfeiffer, FS Baumann, S. 329, 330. Nach Ansicht von Kohlmann, FS Maurach, S.  501, 505 sollen die meisten der nachfolgenden Normen primär der raschen Reaktion auf die Verletzung der Rechtsordnung dienen. Dass sich der In­dividualschutz daraus aber mehr als nur mittelbar ergibt, kann schon aus den Rechten des Festgenommenen abgelesen werden. – Als weiterer Ausdruck des Beschleunigungs-

C. Beschleunigungsgebot im deutschen Straf- und Verfassungsrecht

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• Dass die Verfahren von inhaftierten Beschuldigten besonders beschleunigt durchgeführt werden sollen, verdeutlichen §§ 115, 128 f. (unverzügliche Vorführung eines Festgenommenen vor den Richter) und §§ 118 Abs. 5, 121 StPO (grundsätzliche Beschränkung der Untersuchungshaft auf sechs Monate)93. • Nach §§ 153 ff. StPO werden den Strafverfolgungsorganen weitgehende Einstellungsmöglichkeiten aus Opportunitätsgründen zugebilligt, um einfach ge­ lagerte Fälle schnell abschließen zu können. Demselben Zweck dient das Strafbefehls- und das beschleunigte Verfahren gemäß §§ 407 ff., 417 ff. StPO. • Um die Ermittlungen zügig durchführen zu können, ist es nach §§ 161a, 163a Abs.  3 StPO die Pflicht des Beschuldigten und der Zeugen und Sach­ verständigen, nach Ladung vor der Staatsanwaltschaft zu erscheinen; gemäß § 163  II StPO muss die Polizei Verhandlungsergebnisse unverzüglich an die Staatsanwaltschaft weiterleiten. • Der beschleunigten Durchführung der Hauptverhandlung dienen §§ 228, 229 StPO, in denen die Aussetzung und Unterbrechung der Hauptverhandlung geregelt sind. Nach §§ 222a, 222b StPO droht gegebenenfalls eine Rügepräklusion wegen vorschriftswidriger Gerichtsbesetzungen; gemäß § 244 Abs. 3 S. 2, Abs.  4, 5 StPO können Beweisan­träge u. a. wegen Prozessverschleppungs­ absicht abgelehnt werden. Schließlich sehen §§ 268 Abs. 3, 275 StPO Fristen für die Urteilsverkündung und -begründung vor, deren Einhaltung durch den absoluten Revisionsgrund des § 338 Nr. 7 StPO abgesichert wird. • Darüber hinaus laufen gemäß §§ 314 Abs. 1, 341 Abs. 1 StPO im Vergleich zum Zivilprozess kürzere Rechtsmittelfristen. 2. Grundgesetz Die Vermeidung überlanger Verfahrensdauer wird zudem von der Verfassung gefordert. Das Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit aus Art.  2 Abs.  1 GG (bzw. bei Haftsachen als lex specialis das Grundrecht auf Freiheit der Person aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG94) gebietet, dass unverhältnismäßige Belastungen durch einen Strafprozess unterbunden werden müssen. Außerdem lässt sich aus dem gebots ist § 26 Abs. 2 DRiG anzusehen, wonach im Rahmen der Dienstaufsicht jeder Richter zu „­unverzögerter Erledigung der Amtsgeschäfte“ ermahnt werden kann. – In den Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren wird zudem in den Nummern 5 (betreffend Ermittlungsverfahren), 36 (betreffend Leichenschau und Leichenöffnung), 153 (betreffend Rechtsmittelsachen), 167 (betreffend Beschwerden und Anträge), 221 (betreffend Verfahren mit kindlichen Opfern von Sexualstraftaten) ausdrücklich auf das Beschleunigungsgebot hingewiesen. 93 Siehe auch § 72 Abs. 5 JGG: „Befindet sich ein Jugendlicher in Untersuchungshaft, so ist das Verfahren mit besonderer Beschleunigung durchzuführen.“ 94 Vgl. nur BVerfGE 20, 45, 49 f.; 36, 264, 273; NJW 2001, 2707; NStZ 2005, 456.

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1. Teil: Begriffsklärung und Problemdarstellung

Rechtsstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 3 GG ableiten, dass jedem Beschuldigten ein Anspruch auf ein faires und effektives Verfahren zusteht; und von einem „effek­ tiven“ Rechtsschutz kann nur die Rede sein, wenn er innerhalb angemessener Zeit gewährt wird. Damit jeder Beschuldigte innerhalb akzeptabler Frist Klarheit über den gegen ihn erhobenen Strafvorwurf erhält, gewährleistet also Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem in Art. 20 Abs. 3 GG festgelegten Rechtsstaatsprinzip die Beschleunigung von Strafverfahren95. Wegen der erheblichen persönlichen Auswirkungen eines überlangen Strafverfahrens kann man zudem auf die Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG rekurrieren96. II. Auslegung durch die Rechtsprechung

Aufgrund der unterschiedlichen Rechtsebenen, aus denen sich das Beschleunigungsgebot in Strafsachen entwickeln lässt, sind auch verschiedene Gerichtsbarkeiten für dessen Konkretisierung zuständig – die nationalen Strafgerichte und das Bundesverfassungsgericht für das verfassungsrechtliche, der EGMR für das aus Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK und der EuGH für das europarechtliche Beschleu­



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St. Rspr., vgl. etwa BVerfG NJW 1984, 967; 1992, 2472 f.; 1993, 3254; 1995, 1277; 2003, 2897 f.; BGHSt 24, 239, 240; 26, 1, 4; 47, 105, 109. Siehe auch Pfeiffer/Hannich, in: ­KK-StPO, Einl. Rn.  12; Schäfer/San­der/van Gemmeren, Strafzumessung, Rn.  439; Scheffler, Überlange Dauer, S. 49 f.; Laue, GA 2005, 648; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 20 Rn. 220; ­Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 Teil VII, Rn. 144, 149; Sommermann, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 20 Rn. 324; Kirchhof, FS Doehring, S. 439, 448 ff.; MeyerLadewig, EMRK, Art. 6 Rn. 84a. – Auf Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG abstellend Beulke, Strafprozessrecht, Rn. 26. – Das Recht auf Beschleunigung in jedem gerichtlichen Verfahren stellt eine Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips dar, und letzteres hat neben der Postulierung in Art. 20 Abs. 3 GG auch seinen Ausdruck in Art. 19 Abs. 4 GG gefunden. Für manche ergibt sich deshalb der Anspruch auf Beschleunigung für öffentlich-rechtliche Verfahren – weil Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG die Voraussetzung einer vorhergehenden Rechtsverletzung seitens der öffentlichen Gewalt enthält – ferner aus Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG (als Spezialvorschrift zu dem die objektive Komponente des Beschleunigungsgebots enthaltenden allgemeinen Rechtsstaatsgebot des Art. 20 Abs. 3 GG); vgl. BVerfGE 54, 39, 41; 60, 253, 269, 297; 93, 1, 13; Schlette, Gerichtliche Entscheidung, S. 23 ff.; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 19 Abs. 4 Rn. 111; Huber, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 19 Rn. 479; Grabenwarter/ Pabel, in: Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 14 Rn. 106; Nowak, in: Heselhaus/Nowak, Europäische Grundrechte, § 51 Rn. 26, 28; Peters, EMRK, S. 126. – Andere hingegen betonen, dass Art. 19 Abs. 4 GG nur den Rechtsweg, aber nicht unmittelbar das Beschleunigungsgebot bestätigt, vgl. Ress, FS Müller-Dietz, S. 627, 635. Dies gilt mangels Anwendbarkeit des Art. 19 Abs. 4 GG ratione materiae zumindest für bürgerlich-rechtliche Verfahren, für die sich das Beschleunigungsgebot unzweifelhaft nur aus Art. 20 Abs. 3 GG ergibt. In zivilrechtlichen Streitigkeiten wird das Beschleunigungsgebot als Unterkategorie des aus Art. 20 Abs. 3 GG in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 GG folgenden allgemeinen Justizgewährungsanspruchs angesehen, vgl. BVerfGE 88, 118, 124; 93, 99, 107. 96 So auch I. Roxin, Rechtsstaatsverstöße, S. 153 f.; Pfeiffer, FS Baumann, S. 329, 331; Ress, FS Müller-Dietz, S. 627, 635.

C. Beschleunigungsgebot im deutschen Straf- und Verfassungsrecht

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nigungsgebot97. Insofern sind naturgemäß gewisse Unterschiede in den Anforderungen an die „angemessene Dauer“ eines Strafverfahrens zu erwarten98. 1. Annäherung an die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte In der Praxis hat aber eine Annäherung der betreffenden Rechtsprechungen stattgefunden99. Verurteilungen der Bundesrepublik Deutschland wegen Verletzung der Verfahrensrechte aus Art. 6 Abs. 1 S. 1 bzw. Art. 5 Abs. 3 S. 1 Hs. 2 EMRK führten dazu, dass nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesgerichtshofs die Auslegung der Menschenrechtskonvention durch den EGMR grundsätzlich auch für die Bestimmung des Inhalts der deutschen Grundrechte und rechtsstaatlichen Prinzipien heranzuziehen ist100. Obwohl die EMRK in Deutschland formell nur den Rang eines einfachen Gesetzes besitzt, misst ihr das Bundesverfassungsgericht besondere Bedeutung innerhalb der Normenhie­ rarchie bei. So ist wegen des Prinzips der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grund-



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Zum Beschleunigungsgebot im Europarecht sogleich ausführlich im Ersten Teil unter D. Zu Recht stellt Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 38.1 (vgl. auch Kühl, ZStW 100 (1988), 406, 426 ff.) fest, dass es eine direkte Kollision nur zwischen dem EGMR und den letztinstanzlichen Urteilen der Oberlandesgerichte sowie des BGH geben kann, nicht aber zwischen dem EGMR und dem BVerfG, was daraus folgt, dass der Prüfungsmaßstab der beiden letztgenannten Gerichte unterschiedlich ist: Der EGMR prüft das Beschleunigungsgebot aus der Konvention; das BVerfG ist demgegenüber nur zur Prüfung des aus Art. 2 Abs. 1, 20 Abs. 3 GG ableitbaren Beschleunigungsgebots berechtigt. Gleichwohl ist es wegen der inhaltlichen Überschneidung und im Interesse eines einheitlichen europäischen Individualrechtsschutzes trotzdem erstrebenswert, Auslegungsdivergenzen so weit wie möglich zu vermeiden. 99 Diehm, Menschenrechte, S. 455 stellt bei einer Durchsicht der deutschen Rechtsprechung fest: „[Es ist] keine nicht zumindest mittelbar auf Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK und die hierzu ergehende Rechtsprechung des EGMR Bezug nehmende Entscheidung ersichtlich.“  – So berücksichtigen die nationalen Gerichte die Vorgaben des EGMR, der die alleinige Befugnis zur verbindlichen Auslegung der EMRK besitzt, in der Regel in ihrer Rechtsprechung, um nicht gegen völkerrechtliche Verpflichtungen zu verstoßen. Auch der EuGH berücksichtigt im Rahmen der Herleitung von Grundrechten die mitgliedstaatlichen Verfassungstraditionen und die EMRK in ihrer Ausgestaltung durch den EGMR (dazu sogleich mehr in diesem Ersten Teil unter D. II. 1.). Der EGMR als „Wächter der EMRK“ lässt sich indes nicht von der Rechtsprechung der nationalen Gerichte beeinflussen, sondern entscheidet autonom über die Aus­legung der EMRK. Allerdings lässt er den nationalen Gerichten bei der Umsetzung der EMRK meist ausreichend Spielraum, um den verschiedenen, relativ heterogenen Rechtsordnungen innerhalb des Europarats gerecht zu werden. 100 Vgl. BVerfGE 74, 358, 370 (allgemein zur Konvention); BVerfG NJW 1993, 3254, 3255 (zum Beschleunigungsgebot); I. Roxin, StV 2001, 490, 491; Schäfer/Sander/van Gemmeren, Strafzumessung, Rn.  439; Kirchhof, FS Doehring, S.  439, 456 f.; vgl. auch Schmitt, StraFo 2008, 313, 314. – Dass auch der BGH inzwischen wie selbstverständlich die Rechtsprechung des EGMR zur Auslegung der Konvention heranzieht, zeigt sich z. B. in BGHSt 45, 321, 327 ff. zum Lockspitzeleinsatz. – Dennoch gibt es auch mehr oder weniger gravierende Differenzen zwischen den Gerichten; vgl. dazu Paeffgen, StV 2007, 487, 492 ff.

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1. Teil: Begriffsklärung und Problemdarstellung

gesetzes101 das gesamte deutsche Recht nicht nur in Einklang mit der EMRK, sondern auch mit der Rechtsprechung des EGMR zu interpretieren102. Diese konven­tionskonforme Auslegung kann zudem mit der aus Art. 20 Abs. 3 GG resultierenden Bindung aller Staatsorgane an das geltende Recht  – d. h. auch die EMRK – sowie mit der Annahme begründet werden, dass der deutsche Gesetzgeber und die Strafverfolgungsbehörden ihre völkerrechtlichen Verpflichtungen grundsätzlich nicht verletzen möchten103. Der Grundsatz der EMRK-freundlichen Auslegung wird vom Bundesverfassungsgericht daher sogar für die Verfassung anerkannt104: „Der Konventionstext und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte dienen auf der Ebene des Verfassungsrechts als Auslegungshilfen für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten und rechtsstaatlichen Grundsätzen des Grundgesetzes, sofern dies nicht zu einer – von der Konvention selbst nicht gewollten (vgl. Art. 53 EMRK) – Einschränkung oder Minderung des Grundrechtsschutzes nach dem Grundgesetz führt.“

Die Rechtsprechung des EGMR ist für die Auslegung der EMRK nicht nur von erheblicher Bedeutung, weil die Menschenrechtskonvention autonom auszulegen ist, sondern auch deshalb, weil sie abstrakt gefasst ist und selbst keine detail­ lierten Regelungen über Strafverfahren und hier insbesondere die angemessene Frist enthält. Insofern hat insbesondere das Bundesverfassungsgericht frühzeitig die Grundsätze der Rechtsprechung des EGMR in seine Entscheidungstätigkeit zu den verfassungsrechtlichen Aspekten lang dauernder Strafrechtsprechung integriert105. Die vom EGMR zur Prüfung der Angemessenheit der Verfahrensdauer herangezogenen Kriterien werden deshalb grundsätzlich auch von den deutschen Gerichten angewendet, teilweise jedoch auch weiter konkretisiert. 101 Die Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes lässt sich vor allem Art. 25 und der zugehörigen Regelung des Art. 100 Abs. 2, aber auch Art. 23, 24 Abs. 3, 26 und Art. 1 Abs. 1, 9 Abs. 2 GG sowie der Präambel entnehmen. Sie verpflichtet auch außerhalb der von Art. 25 GG erfassten allgemeinen Regeln des Völkerrechts zu besonderer Beachtung jeglichen internationalen Rechts bei Anwendung des nationalen Rechts. Siehe dazu BVerfGE 18, 112, 121; 31, 58, 75 f.; 75, 1, 17 und zuletzt BVerfGE 111, 307, 317 ff.; Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 25 Rn. 6 f.; Kühl, ZStW 100 (1988), 407, 409 f. 102 BVerfGE 74, 358, 370; 111, 307, 317; Grabenwarter, EMRK, § 3 Rn.  6; Meyer-Ladewig, EMRK, Einl. Rn. 29; Meyer-Goßner, StPO, vor Art. 1 MRK Rn. 4 f.; Streinz, Europarecht, Rn. 75. 103 Vgl. BVerfGE 74, 358, 370; 111, 307, 317 f., 323 ff.; Eisele, JA 2005, 390, 391. 104 BVerfGE 111, 307, 317; grundlegend BVerfGE 74, 358, 370; vgl. auch BVerfGE 82, 106, 120; 83, 119, 128. – Dadurch kommt es zu einem faktischen Vorrang der EMRK vor deutschem Recht, vgl. Ambos, Internationales Strafrecht, § 10 Rn. 9; Streinz, Europarecht, Rn. 75; Gaede, wistra 2004, 166, 167. 105 Vgl. nur BVerfG NJW 1984, 967; 1993, 3254 f.; 2003, 2225, 2226; 2003, 2897 f.  – Krehl/Eidam, NStZ 2006, 1, 3 kommen deswegen zu der Feststellung, dass sich die Recht­ sprechungslinien von EGMR und BVerfG zum Beschleunigungsgebot in ihren wesentlichen Punkten decken. – Zur Rezeption der Entscheidungen des EGMR durch den BGH siehe ausführlich Schuska, Rechtsfolgen von Verstößen, S. 23 ff.

C. Beschleunigungsgebot im deutschen Straf- und Verfassungsrecht

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2. Kriterien der Gesamtabwägung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesgerichtshofs Ob eine mit dem Grundgesetz im Widerspruch stehende Verfahrensverzögerung in einem Strafverfahren vorliegt, bestimmen die deutschen Gerichte wie der EGMR – trotz der zwei verschiedenen dogmatischen Anknüpfungspunkte des Beschleunigungsgebots in Art.  6 EMRK und in Art.  2 Abs.  1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG – nach den besonderen Umständen des Einzelfalls, die in einer umfassenden Gesamtwürdigung gegeneinander abgewogen werden müssen. Die relevanten Faktoren entsprechen weitgehend jenen des EGMR; für die Frage der Angemessenheit der Verfahrensdauer sind nach dem Bundesverfassungsgericht folgende Kriterien zu berücksichtigen106: • Verfahrensverlängerungen, die durch Verzögerungen bei Polizei, Staatsanwaltschaft oder Gericht verursacht worden sind – ein Verschulden seitens der Justiz ist nicht erforderlich –, nicht jedoch vom Beschuldigten selbst verursachte Verzögerungen; • Gesamtdauer des Verfahrens; • Schwere des Tatvorwurfs; • Umfang und Schwierigkeit des Verfahrensgegenstandes; • Ausmaß der mit dem Andauern des Verfahrens verbundenen Belastungen des Beschuldigten (insbesondere Haft). Zusätzlich zu den vier vom EGMR aufgestellten Kriterien untersucht das Bundesverfassungs­gericht demnach die Gesamtdauer des Verfahrens107 und die Schwere des Tatvorwurfs108. Der Bundesgerichtshof hat die Kriterien des Bundes 106 Für das BVerfG vgl. BVerfGE 55, 349, 369; BVerfGK 2, 239, 246 f.; NJW 1984, 967; 1993, 3254, 3255; 2003, 2225; 2003, 2897. In BVerfG NJW 2005, 3488; StV 2008, 198 f. wiederholt das BVerfG dagegen genau die vier vom EGMR aufgestellten Kriterien. – Für den BGH vgl. BGHSt 46, 159, 170; NStZ 1999, 313; NStZ-RR 2001, 294, 295; 2006, 50 f. – Ausführlich zur Entwicklung, die das Beschleunigungsgebot in der deutschen Rechtsprechung genommen hat, I. Roxin, Rechtsstaatsverstöße, S. 54 ff.; siehe auch Gaede, wistra 2004, 166 ff.; Krehl/­ Eidam, NStZ 2006, 1 ff.; Waßmer, ZStW 118 (2006), 159 ff.; Grabenwarter/Pabel, in: Grote/ Marauhn, EMRK/GG, Kap. 14 Rn. 107. 107 So hat das BVerfG in einer frühen Entscheidung (BVerfGE 55, 349, 369) die durchschnittliche Verfahrensdauer für den betreffenden Verfahrenstyp bei dem Gerichtszweig bestimmt und damit die in Frage stehende Verfahrensdauer verglichen. Bei dieser Ermittlung der durchschnittlichen Verfahrensdauer wurde aber auch die Überlastung der Gerichte mit eingerechnet. Dies scheidet nach dem EGMR aber aus (siehe oben unter B. II. 3. b) in diesem Ersten Teil), so dass der mathematische Vergleich so heute nicht mehr vorgenommen werden darf. 108 Ob das Maß der dem Angeklagten zur Last gelegten Schuld bei der Beurteilung der angemessenen Verfahrensdauer mit eingerechnet werden darf, ist umstritten; siehe dazu Schäfer/ Sander/van Gemmeren, Strafzumessung, Rn.  440a; Schuska, Rechtsfolgen von Verstößen, S. 112 f.; I. Roxin, StV 2001, 490, 491. – In der Entscheidung des Großen Senats für Straf­ sachen (BGHSt 52, 124, 137 f. m. w. N.) klingt an, dass der Bundesgerichtshof die Schwere des

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1. Teil: Begriffsklärung und Problemdarstellung

verfassungsgerichts zwar weitgehend übernommen, weicht aber teilweise auch von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ab. Unter anderem berücksichtigt der Bundesgerichtshof Verzögerungen in einem Teilabschnitt des Verfahrens dann nicht, wenn das Verfahren insgesamt eine angemessene Dauer wahrt109. Den Versuch, der Abwägung im Einzelfall genauere Kriterien für eine Ver­ fahrensverzögerung gegenüberzustellen, hat insbesondere das Bundesverfassungsgericht in den letzten Jahren unternommen, indem es verbindliche allgemeine Vorgaben an die Justizorgane formuliert110: So haben die Verfassungsrichter etwa die übliche Terminierungspraxis der Tatgerichte111 sowie das Ausschöpfen der Urteilsabsetzungsfristen in § 275 Abs. 1 S. 2 StPO gerügt112 und judiziert, dass die durch eine Revisionsentscheidung bedingte zusätzliche Verfahrensdauer zur Begründung eines überlangen Verfahrens beitragen kann, wenn im Revisionsverfahren ein offensichtlich der Justiz anzulastender Verfahrensfehler korrigiert werden muss113. Tatvorwurfs nicht mehr als relevantes Kriterium zur Begründung einer rechtsstaats­widrigen Verfahrensdauer ansieht; anders noch BGHSt 46, 159, 174; NStZ-RR 2004, 230, 231; wistra 2007, 392. 109 BGH NStZ 1999, 313; 1999, 418, 419; NStZ-RR 2001, 294, 295; 2002, 219; 2006, 50 f.; siehe dazu Schuska, Rechtsfolgen von Verstößen, S. 117 f.; Theune, in: LK-StGB, § 46 Rn. 245; Franke, in: MüKo-StGB, § 46 Rn. 62. – Der EGMR hingegen scheint in neueren Entscheidungen aus Gründen der Prozessökonomie immer mehr auf die konkret eingetretenen einzelnen Verzögerungen abzustellen, ohne die Angemessenheit der Gesamtdauer zu bewerten (vgl. dazu schon oben unter B. II. 3. b) in diesem Ersten Teil). 110 Diese Kammerrechtsprechung ist vom BGH und von der Literatur wegen ihrer Aus­ wirkungen auf die Praxis der Strafgerichtsbarkeit und -verteidigung mitunter sehr kritisch aufgenommen worden, vgl. dazu Schmitt, StraFo 2008, 313, 314 f., 318 ff. Zur Kollision des Beschleunigungsgebots mit der freien Verteidigerwahl siehe BVerfG NStZ 2006, 460; Beschl. v. 17.7.2006 – 2 BvR 1190/06; StV 2008, 198, 199 f.; BGH NStZ 2007, 163, 164 f.; Beukelmann, NJW-Spezial 2007, 279. – Konkrete Vorschläge für den Praktiker, wie Verfahrensverzögerungen in den einzelnen Verfahrensstadien verhindert werden können, finden sich bei Krehl/Eidam, NStZ 2006, 1, 3 ff.; vgl. auch Schäfer/Sander/van Gemmeren, Strafzumessung, Rn. 441 ff. 111 Nach BVerfG NJW 2006, 672, 676 und 668, 670 f. kann es in besonders gelagerten Fällen (insbesondere Haftsachen) verfassungsrechtlich erforderlich sein, an vier Werktagen oder sogar am Wochenende zu verhandeln. Auch bei sonstigen umfangreichen Verfahren sei eine Sitzungsfrequenz von mindestens zwei Tagen pro Woche von Verfassungs wegen notwendig, BVerfG NJW 2006, 677, 679; StV 2008, 198, 199. 112 Vgl. BVerfG NJW 2006, 677, 679. – Jüngere Entscheidungen des BGH indes sehen darin nur in außergewöhnlichen Konstellationen einen Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot, siehe etwa BGH NStZ 2006, 296; 2006, 463, 464. 113 BVerfG NJW 2003, 2897, 2898; 2005, 3485, 3487; 2006, 672, 674 im Anschluss an EGMR, Urt. v. 31.5.2001 – Nr. 37591/97, Rn. 41 – Metzger/Deutschland, wo der EGMR allein darauf abstellte, dass die Aufhebung des Urteils in der Revision auf einem Verfahrensfehler des Tatrichters beruhte. – Nach dieser Auffassung müsste eigentlich nach jeder erfolgreichen Verfahrensrüge eine Kompensation wegen rechtsstaatswidriger Verfahrensdauer vorzunehmen sein. Diese Konsequenz zieht der BGH jedoch nur für eklatante/schlechterdings nicht nachvollziehbare/willkürliche Verfahrensfehler, weil Rechtsmittel wie die Revision – wie auch der EGMR anerkennt, vgl. Urt. v. 15.7.1982  – Nr.  8130/78, Rn.  82  – Eckle/Deutschland  – eine

C. Beschleunigungsgebot im deutschen Straf- und Verfassungsrecht

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3. Strafrechtliche und strafprozessuale Konsequenzen der überlangen Verfahrensdauer Die Frage nach den rechtlich gebotenen strafrechtlichen und strafprozessualen Konsequenzen einer überlangen Verfahrensdauer gestaltet sich ebenso vielschichtig wie die Feststellung, ob überhaupt eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung vorliegt114. Der Ausgangspunkt der anzustellenden Überlegungen ist noch klar: Führt die Überprüfung des kon­kreten Verfahrensablaufs zur Annahme einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung, so ist dies nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bei der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs zu kompensieren. Art und Umfang der Verletzung des Beschleunigungsgebots sind ausdrücklich im Urteil festzustellen, zugleich ist das Ausmaß der Berücksich­ tigung dieses Umstands näher zu bestimmen115. Kommt es in einem Strafverfahren zu einer außergewöhnlich langen Dauer des Verfahrens, sind nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs jedoch drei voneinander unabhängige, für die Bestimmung der Rechtsfolgen erhebliche Umstände zu bedenken, die grundsätzlich zu prüfen und im Urteil zu erörtern sind, wenn sie naheliegen. Neben einer möglichen Strafmilderung wegen Verletzung des verfassungsrechtlich geschützten und in Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK ausdrücklich genannten Beschleunigungsgebots sind noch die beiden folgenden mildernAusprägung eines rechtsstaatlichen Gerichtssystems darstellen, das auch dem Schutz des Angeklagten dient, BGH NJW 2005, 1813, 1814; 2006, 1529, 1532 f.; NStZ-RR 2006, 177, 178; vgl. dazu auch Theune, in: LK-StGB, § 46 Rn. 246; Peglau, JuS 2006, 704, 705. – Anders noch BGHSt 35, 137, 141; NStZ 1987, 232, 233; wistra 1992, 66 f.; 1992, 296, 297 f.; NJW 1995, 1101, 1102; wistra 1996, 19; 1998, 101. 114 Vgl. die ausführlichen Darstellungen der Entwicklung bei I. Roxin, Rechtsstaatsverstöße; Scheffler, Überlange Dauer; Schuska, Rechtsfolgen von Verstößen, S.  126 ff.; Diehm, Menschenrechte, S. 451 ff. – Wie die Verletzung des Beschleunigungsgebots im Revisionsverfahren geltend gemacht werden kann, war zunächst zwischen den Senaten des BGH umstritten, darf jetzt aber als geklärt angesehen werden: Grundsätzlich muss eine Verfahrensrüge erhoben werden, in der alle Tatsachen enthalten sein müssen, aus denen sich die konventionswidrige Verfahrensdauer ergibt, siehe z. B. BGH NStZ-RR 2006, 50. Nur ausnahmsweise reicht die Erhebung einer Sachrüge aus, wenn sich die Verfahrensverzögerung bereits aus den Urteilsgründen ergibt oder erst nach Erlass des Urteils eingetreten ist, so BGHSt 49, 342. Siehe dazu m. w. N. Schuska, Rechtsfolgen von Verstößen, S. 183 ff.; Schäfer/Sander/van Gemmeren, Strafzumessung, Rn. 439c; Meyer-Goßner, StPO, Art. 6 MRK Rn. 9e. – Wird die Verletzung von Art. 6 Abs.  1 S.  1 EMRK erst durch den Straßburger Gerichtshof festgestellt, so ermöglicht § 359 Nr. 6 StPO seit 1998 eine Wiederaufnahme des nationalen Verfahrens, so dass der Betroffene zumindest nachträglich noch eine Berücksichtigung bei der Strafbestimmung, wie sie der BGH praktiziert, erwirken kann; siehe dazu Marxen/Tiemann, Wiederaufnahme, Rn. 272 ff.; Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 42. 115 St. Rspr., vgl. etwa BVerfG NJW 1984, 967; 1995, 1277; 2003, 2225. – Soweit möglich, sollten neben der Berücksichtigung bei den Rechtsfolgen die besonderen Belastungen, die der Beschuldigte infolge der vermeidbaren Verfahrensverzögerung zu erdulden hat, abgestellt werden; dies betrifft etwa die Untersuchungshaft und sonstige vorläufige Zwangsmaßnahmen, vgl. hierzu Tepperwien, NStZ 2009, 1, 3 f.; Roxin/Schü­nemann, Strafverfahrensrecht, § 16 Rn. 13.

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1. Teil: Begriffsklärung und Problemdarstellung

den Umstände anerkannt116: Strafmilderung gemäß § 46 Abs. 2 StGB, weil zwischen Tat und Urteil ein großer zeitlicher Abstand liegt – ohne, dass es insoweit auf die Dauer des Verfahrens selbst ankäme, sowie Strafmilderung gemäß Art. 46 Abs. 2 StGB, weil das Strafverfahren überdurchschnittlich lange gedauert und dadurch den Angeklagten übermäßig belastet hat – unabhängig davon, ob die außergewöhnliche Dauer sachlich zu begründen und von den Strafverfolgungsbehörden nicht zu vertreten ist. Da das positive Recht  – weder auf nationaler Ebene im einfachen oder Ver­ fassungsrecht noch auf völkerrechtlicher Ebene – explizit Folgen bei einer Verletzung des Beschleunigungsgebots vorgibt, sind die vorhandenen Instrumentarien des Straf- und Strafverfahrensrechts von der Rechtsprechung daraufhin zu untersuchen, ob sie neue Kriterien der Strafwürdigkeit wie die konventionswidrige Verfahrenslänge integrieren können. Welche der strafrechtlichen und strafprozessualen Rechtsfolgen in Betracht kommt, ist von den Strafverfolgungsbehörden dann nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Einzelfall zu prüfen117. Wie ein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK ausgeglichen wird, ist kürzlich Gegenstand eines Rechtsprechungswandels des BGH gewesen, wonach der Große Senat des Bundesgerichtshofs die seit 1971118 geltende sogenannte Strafzumessungs­ lösung zugunsten der sogenannten Strafvollstreckungslösung auf­gegeben hat119. a) Strafzumessungslösung Nach der sogenannten Strafzumessungs- bzw. Strafabschlagslösung – der langjährigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesgerichtshofs – ist eine Verletzung des Beschleunigungsgebots grundsätzlich120 innerhalb 116

BGH NJW 1999, 1198; Schäfer/Sander/van Gemmeren, Strafzumessung, Rn.  436 ff. m. w. N.; Franke, in: Müko-StGB, § 46 Rn. 59 ff.; Theune, in: LK-StGB, § 46 Rn. 239 ff. – Das Doppelverwertungsverbot des § 50 StGB gilt für die strafmildernde Berücksichtigung des Beschleunigungsgebots nicht, vgl. Ulsamer, FS Faller, S. 373, 383 f. Einen „doppelten Rabatt“ in Form einer schematischen Berücksichtigung der Verzögerungen sowohl bei den Einzelstrafen als auch bei der Gesamtstrafe will aber BGH NJW 2003, 2759 verhindern. 117 St. Rspr., vgl. etwa BVerfGK 2, 239, 247 f.; NJW 2003, 2225 f.; 2003, 2897 f.; Grabenwarter/Pabel, in: Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap.  14 Rn.  107.  – Der BGH hat es jüngst in einem Strafverfahren wegen Mordes, in dem die Verletzung des Gebots einer angemessenen Beschleunigung des Strafverfahrens festge­stellt worden war, unter ausdrücklicher Nicht­ berücksichtigung einer Kammerentscheidung des BVerfG jedoch abgelehnt, aus der Dauer des Verfahrens Konsequenzen für den Strafausspruch zu ziehen, vgl. BGH NJW 2006, 1529. 118 BGHSt 24, 239. 119 BGHSt 52, 124. 120 Neben der unter Umständen gebotenen Einstellung des Verfahrens – dazu sogleich – genügt gelegentlich zur Kompensation eines Verstoßes gegen das Beschleunigungsgebot bereits die ausdrückliche Feststellung einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung, vgl. BGHSt 52, 124, 138 f. unter Hinweis auf die Rechtsprechung des EGMR (dazu bereits oben in diesem Ersten Teil unter B. II. 4.); Pfeiffer/Hannich, in: KK-StPO, Einl. Rn. 13a.

C. Beschleunigungsgebot im deutschen Straf- und Verfassungsrecht

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der Strafzumessung nach § 46 Abs. 1 StGB mildernd zu berücksichtigen. Zunächst muss der Tatrichter die an sich angemessene Strafe ermitteln, um dann eine be­ ziffert mildere Strafe unter Berücksichtigung der überlangen Verfahrensdauer festzusetzen121. Im Rahmen einer Gesamtabwägung aller Umstände des Einzelfalls (§ 46 Abs.  2 S.  1 StGB) kann das Überschreiten der angemessenen Verfahrensdauer neben der Festsetzung der einzelnen Strafe auch die Strafrahmenwahl beeinflussen. Das Strafgesetzbuch eröffnet folgende Möglichkeiten122: • Ablehnung eines besonders schweren Falles bzw. Annahme eines minder schweren Falles, • Strafaussetzung zur Bewährung, § 56 StGB, • Verwarnung mit Strafvorbehalt, § 59 StGB123, • Absehen von Strafe, § 60 StGB, • Gnadenerweis124. In krassen Fällen einer Verfahrensverzögerung, in denen die Anwendung und Auslegung des Straf- und Strafverfahrensrechts keinen hinreichenden Ausgleich für die Verletzung des Beschleunigungsgebots bietet, ist auch eine Einstellung gemäß § 153 Abs.  2125 oder § 153a Abs.  2 StPO126 oder eine Beschränkung der Strafverfolgung in Anwendung der §§ 154, 154a StPO127 zu erwägen – sofern deren tatbestandliche Voraussetzungen vorliegen. Zumindest wird durch eine nicht zu rechtfertigende Überlänge des Verfahrens regelmäßig das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung aus rechtsstaatlicher Sicht abgeschwächt. Liegen die Vor­aussetzungen der §§ 153, 153a StPO jedoch nicht vor128, so erkennt auch die Rechtsprechung immer öfter an, dass es Fälle geben kann, in denen wegen des besonders gravierenden Ausmaßes der Verfahrensverzögerung und den damit verbundenen Belastungen des Beschuldigten das Rechtsstaatsgebot ein anerkennens 121 Vgl. nur BVerfG NStZ 1997, 591; BGHSt 52, 124, 146 f.; Franke, in: MüKo-StGB, § 46 Rn. 63 ff. 122 Vgl. statt aller BGHSt 24, 239, 242 f.; Meyer-Goßner, StPO, Art. 6 MRK Rn. 9 ff.; Schäfer/Sander/van Gem­meren, Strafzumessung, Rn. 442 f. 123 Die überlange Verfahrensdauer kann durch eine verfassungskonforme Auslegung des Merkmals „Persönlichkeit des Täters“ bei der Gesamtwürdigung nach § 59 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StGB berücksichtigt werden, vgl. BVerfG NJW 2003, 2897, 2899; BGH StV 1995, 19, 20; Krehl/Eidam, NStZ 2006, 1, 8. 124 Vgl. dazu auch EGMR, Urt. v. 7.5.1974 – Nr. 1936/63, Rn. 40 – Neumeister/Österreich, wonach der Gnadenerweis zwar keine Wiederherstellung des früheren Zustands bedeute, ihr jedoch so nahekomme, wie es der Natur der Sache nach möglich sei. 125 Siehe etwa BGHSt 46, 159, 169; NStZ 1996, 506; OLG Frankfurt NStZ-RR 1998, 52; so bereits das LG Aachen im Contergan-Beschluss, JZ 1971, 507. 126 LG Frankfurt NJW 1997, 1994. 127 BVerfG NJW 1984, 967; siehe auch EGMR, Urt. v. 15.7.1982 – Nr. 8130/78, Rn. 16, 26, 50, 55 f., 66 – Eckle/Deutschland. 128 Dies wird insbesondere dann der Fall sein, wenn das dem Beschuldigten vorgeworfene Delikt kein Vergehen ist.

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1. Teil: Begriffsklärung und Problemdarstellung

wertes Strafverfolgungsinteresse entfallen lässt129. Der ursprünglich bestehende staatliche Strafanspruch kann dann verwirkt sein, weil die Schuld des Täters seine Bestrafung nicht mehr erfordert oder weil ein anerkennenswertes Interesse an weiterer, dem Rechtsgüterschutz verpflichteter Strafverfolgung nicht mehr begründet werden kann. Wenn die Fortsetzung des Strafverfahrens rechtsstaatlich nicht mehr hinnehmbar und eine angemessene Berücksichtigung des Verstoßes im Rahmen der Sachentscheidung nicht mehr möglich ist, wird im Einzelfall doch ein Verfahrenshindernis aus Verfassungsrecht anerkannt, welches zu einer Einstellung gemäß § 260 Abs. 3 StPO führt130. b) Strafvollstreckungslösung Nunmehr hat sich in einer Grundsatzentscheidung131 des Großen Senats für Strafsachen ein Rechtsprechungswandel von der Strafzumessungslösung hin zur sogenannten Strafvollstreckungs- bzw. Anrechnungslösung vollzogen. Die Strafzumessungslösung führte nämlich bei absoluten Strafgrenzen zu dem Problem, dass der verfassungs- und konventionsrecht­lich gebotenen Kompensation einer überlangen Verfahrensdauer das Strafrecht entgegenstand. Dies trifft beispielsweise auf die lebenslange Freiheitsstrafe132 zu wie auch auf die Konstella­tion, die der Entscheidung des Großen Senats des BGH zugrunde lag, in dem eine Kom 129

Während das BVerfG schon vor längerer Zeit feststellte, dass im Einzelfall „von Verfassungs wegen ein Verfahrenshindernis unmittelbar aus dem Rechtsstaatsgebot des Grund­ gesetzes abzuleiten ist“ (BVerfG NJW 1984, 967; vgl. auch BVerfG NJW 1993, 3254, 3255), vertrat der BGH lange Zeit die Auffassung, dass aus einer Verletzung des Beschleunigungs­ gebots in keinem Fall ein Verfahrenshindernis hergeleitet werden könne, vgl. BGHSt 21, 81; 24, 239. Er berief sich auf das Fehlen einer gesetzlichen Grundlage und darauf, dass eine besonders sorgfältige Prüfung des Sachverhalts unter Ausschöpfung aller zur Verfügung stehenden Rechtsmittel schließlich dem Schutz des Betroffenen diente, auch wenn dadurch Verzögerungen entstünden. Erst mit der Entscheidung BGHSt 46, 159, 171 ff. erkannte der BGH an, dass in „ganz außergewöhnlichen Sonderfällen“ die Fortsetzung des Verfahrens ausgeschlossen ist. 130 Ist bereits im Zwischenverfahren eine unangemessene Verfahrensdauer erreicht, so ist der Prozess nach § 206a Abs. 1 StPO einzustellen; vgl. OLG Stuttgart NStZ 1993, 450; OLG Düsseldorf StV 1995, 400. Das Verfahrenshindernis ist vom Revisionsgericht gegebenenfalls von Amts wegen zu prüfen. Vgl. insgesamt dazu BVerfG NJW 1984, 967; 2003, 2225 f.; 2003, 2897 f.; BGHSt 46, 159, 171 f.; 52, 124, 145; I. Roxin, Rechtsstaatsverstöße, S. 91 ff. – Allgemein gültige zeitliche Vorgaben, ab wann eine Einstellung des Verfahrens zu erfolgen hat, haben sich in der Rechtsprechung nicht durchsetzen können. I. Roxin, Rechtsstaatsverstöße, S. 250 schlägt vor, ein Verfahren dann einzustellen, wenn die dem Staat zurechenbaren, un­ nötigen Verzögerungen zusammen den Regelstrafrahmen des angeklagten Delikts ausschöpfen; wenn der Beschuldigte in Untersuchungshaft gesessen hat, dürfe die Dauer der Haft und der Verzögerungen zusammen den Regelstrafrahmen nicht überschreiten. 131 BGHSt 52, 124. 132 Vgl. deshalb die Entscheidung BGH NJW 2006, 1529, wo der BGH eine Milderung wegen unangemessener Verfahrensverzögerungen bei einer Verurteilung wegen Mordes ablehnte.

C. Beschleunigungsgebot im deutschen Straf- und Verfassungsrecht

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pensation nur durch ein Unterschreiten der gesetzlich vorgesehenen Mindeststrafe möglich gewesen wäre133. Der Große Senat für Strafsachen sah sich an der vom Landgericht erwogenen Strafrahmenverschiebung analog § 49 Abs. 1 StGB134 durch die Gesetzesbindung der Gerichte gemäß Art. 20 Abs. 3 GG gehindert. Einziger Ausweg sei das Anrechnungs- bzw. Vollstreckungsmodell, das in allen Fällen rechtsstaats­widriger Verfahrensverzögerung eine Kompensation entsprechend § 51 Abs. 1 S. 1, Abs. 4 S. 2 StGB ermögliche. Wenn und soweit die bloße Feststellung konven­tionswidriger Verfahrensdauer also nicht zur Kompensation ausreicht, ist nunmehr in der Urteilsformel auszusprechen, dass ein Teil der nach allgemeinen Strafzumessungsgesichtspunkten ermittelten Strafe als vollstreckt angesehen wird135, anstatt wie bisher einen Abschlag auf die eigentlich angemessene Strafe vorzunehmen. In besonders gravierenden Fällen, in denen das gebotene Maß der Kompensation die schuldangemessene Strafe übersteigt, soll jedoch auch weiterhin statt der Anrechnung eine Verwarnung mit Strafvorbehalt (§ 59 StGB), ein Absehen von 133 Die Vorlage des 3. Strafsenats des BGH schildert folgenden Fall: Der Angeklagte hatte einen Gasthof in Brand gesetzt, um Leistungen aus einer für den Betrieb abgeschlossenen Versicherung zu erhalten. Auf seine Schadensmeldung bei der Versicherung hin zahlte diese jedoch nicht. Das Landgericht Oldenburg hat den Angeklagten wegen besonders schwerer Brandstiftung nach § 306b Abs. 2 Nr. 2 StGB und versuchten Betrugs gemäß §§ 263 Abs. 2, 22, 23 Abs. 1 StGB zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Ohne Berücksichtigung der ca. anderthalbjährigen rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung hielt das Landgericht die in § 306b Abs. 2 StGB vorgesehene Mindeststrafe von fünf Jahren für angemessen. Da aber § 306b StGB keinen Sonderstrafrahmen für minder schwere Fälle vorsieht, war ein Ausgleich für die Verfahrensverzögerung innerhalb des gesetzlich eröffneten Strafrahmens nicht möglich. Um dem Angeklagten dennoch den gebotenen Ausgleich zu gewähren, sei eine Straf­ rahmenverschiebung in analoger Anwendung des § 49 Abs. 1 Nr. 2 S. 1, Nr. 3 StGB vorzunehmen. So verhängte das Landgericht für die Brandstiftung eine Einzelstrafe von drei Jahren und zehn Monaten. 134 Diese Analogie steht seit der Entscheidung des Großen Strafsenats in BGHSt 30, 105 zum Absehen von der in § 211 StGB vorgesehenen lebenslangen Freiheitsstrafe bei „außergewöhnlichen Umständen“ in der Diskussion, vgl. Scheffler, Überlange Dauer, S. 238 ff. m. w. N. 135 Das gilt auch für Geldstrafen und für Bewährungsstrafen, wenn die Strafe nach einem Bewährungswiderruf vollstreckt werden muss, vgl. die verschiedenen Fallkonstellation bei BGHSt 52, 124, 145.  – Unabhängig von der konventionswidrigen Überlänge, die nunmehr nach dem Vollstreckungsmodell kompensiert werden muss, bleibt die Bedeutung eines über­ langen Verfahrens als allgemeiner Strafmilderungsgrund bestehen, da nicht jede Verfahrensverzögerung zugleich gegen Art. 6 EMRK verstößt. Daraus folgt, dass in Zukunft zunächst Art, Ausmaß und Ursachen der Verzögerungen zu ermitteln und im Urteil festzustellen sind. Daraufhin ist auf die angemessene Strafe unter Berücksichtigung der Folgen langer Verfahren für den Täter und des Gedankens verminderten Reaktionsbedürfnisses bei langer Zeit zwischen Tat und Urteil (im Rahmen des § 46 Abs. 2 StGB) zu erkennen. Erst dann ist zu prüfen, ob für den Verstoß gegen Art. 6 EMRK ein weiterer Ausgleich in der Form gewährt werden muss, dass ein Teil der erkannten Strafe als vollstreckt gilt. Siehe zu den drei verschiedenen mit der Verfahrenslänge zusammenhängenden Gründen schon oben in diesem Ersten Teil, C. II. unter 3. und den daraus resultierenden praktischen Problemen Heghmanns, ZJS 2008, 197, 199 f.; Scheffler, ZIS 2008, 269, 274 ff.

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1. Teil: Begriffsklärung und Problemdarstellung

Strafe (§ 60 StGB) oder eine Verfahrenseinstellung nach Opportunitätsgrundsätzen (§§ 153 ff. StPO) bzw. gar wegen eines Verfahrenshindernisses in Betracht kommen136. Durch die Trennung von Strafzumessung und Entschädigung unterscheide die Vollstreckungslösung sachgerecht zwischen der Schuld des Angeklagten und der Entschädigung für staatliches Fehlverhalten und belasse damit der unrechtsund schuldangemessenen Strafe die ihr in strafrechtlichen und außerstrafrecht­ lichen Folgebestimmungen beigelegte Funktion; darüber hinaus werde die Rechtsfolgenbestimmung vereinfacht137. Der Übergang zur Vollstreckungslösung bringt für den Angeklagten unter bestimmten Umständen Vorteile; der Großteil der Verurteilten wird aber verglichen mit der Strafzumessungslösung schlechter gestellt138. Vorteilhaft kann sich – bei relativ hoch bestraften Delinquenten  – auswirken, dass durch die Anrechnung einer bestimmten Zeit auf die verhängte Strafe der Zwei-Drittel-Zeitpunkt nach § 57 Abs. 1 StGB eher erreicht wird, so dass die Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung schneller als bisher möglich ist139. Der größte Nachteil für den Verurteilten besteht jedoch darin, dass die Kompensation der rechtsstaatswidrigen Verfahrenslänge nun nicht mehr dazu beitragen kann, die Grenze von zwei Jahren für die Aussetzung einer Freiheitsstrafe zur Bewährung zu erlangen140. Diese Konsequenz 136

BGHSt 52, 124, 145; Schäfer/Sander/van Gemmeren, Strafzumessung, Rn. 443h. BGHSt 52, 124, 141. 138 Diese Konsequenz erkennen auch Richter des BGH an, vgl. Tepperwien (Vorsitzende Richterin des 4.  Strafsenats) NStZ 2009, 1, 4; Schmitt (Richter des 2.  Strafsenats), StraFo 2008, 313, 317, der jedoch trotzdem die Entscheidung des Großen Senats in Strafsachen begrüßt. – Die Literatur steht der Entscheidung – nach anfänglich positiver Aufnahme (vgl. etwa ­Heghmanns, ZJS 2008, 197, 198; Winkler, jurisPR-StrafR 8/2008 Anm. 1) – denn auch zunehmend kritisch gegenüber. Prägnant formuliert I. Roxin, StV 2008, 14, 15: „Auf den ersten Blick scheint [die Argumentation des Großen Senats] in verblüffender Weise zutreffend. Man muss sich freilich fragen, warum in jahrzehntelanger Beschäftigung mit der Thematik niemand, weder der BGH noch das BVerfG noch die Literatur, auf eine so einfache Lösung des Problems gekommen ist. Sollte sie bei genauerer Überprüfung doch nicht überzeugend sein?“ Zu dogmatischen, teleologischen und systematischen Bedenken siehe Ignor/Bertheau, NJW 2008, 2209, 2210 ff.; I. Roxin, StV 2008, 14, 15 ff.; Scheffler, ZIS 2008, 269, 274 ff. (m. w. N. auf S. 271 ff.); Ziegert, StraFo 2008, 321, 322 ff.; Gaede, JZ 2008, 422; vorsichtig kritisch auch Schäfer/Sander/van Gemmeren, Strafzumessung, Rn.  443c ff., 443m; für die Entscheidung des Großen Strafsenats argumentiert Schmitt, StraFo 2008, 313, 316. – Zu weiteren (möglichen) Anwendungsbereichen der Vollstreckungslösung siehe BGHSt 52, 48, 55 ff.; Gaede, JZ 2008, 422 ff.; Winkler, jurisPR-StrafR 8/2008 Anm.  1.  – Demgegenüber befürwortet Scheffler, ZIS 2008, 269, 277 f. statt der Anrechnung auf die Strafe eine Entschädigung für rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerungen, weil  – wie auch BGHSt 52, 124, 138 anerkennt  – „durch die Kompensation […] eine Art Staatshaftungsanspruch erfüllt [wird]“; vgl. dazu auch Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 16 Rn. 12; Paeffgen, StV 2007, 487, 494; Scheffler, Überlange Verfahren, S. 262 ff. und den im August 2010 vorgestellten Regierungsentwurf der Bundes­regierung zu einer Entschädigungsklage bei überlanger Verfahrensdauer. 139 So bereits BGH StV 2008, 399 f. und Beschl. v. 19.2.2008 – 3 StR 536/07. 140 Dies betrifft vor allem Wirtschafts- und Steuerstrafverfahren. Nach Joachim Jahn, FAZ v. 16.11.2007, S.  11 (zitiert bei Scheffler, ZIS 2008, 269, 272 f. mit zusätzlichen Hinwei 137

D. Beschleunigungsgebot im Recht der Europäischen Union

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erstreckt sich auf alle Rechtsfolgen, bei denen formelle Tatbestandsvoraussetzungen an die Höhe der erkannten und nicht vollstreckten Strafe geknüpft sind. Neben der Strafaussetzung zur Bewährung (§ 56 StGB) betrifft das etwa auch die Möglichkeit zur Verfahrenseinstellung nach §§ 153, 153a StPO, die Verwarnung mit Strafvorbehalt (§ 59 StGB), das Absehen von Strafe (§ 60 StGB), die grundsätzliche Sechs-Monats-Grenze für Freiheitsstrafen (§ 47 StGB), die Sicherungsverwahrung (§§ 66 ff. StGB), die Führungsaufsicht (§ 68 StGB), den Verlust der Amtsfähigkeit (§§ 45 ff. StGB), die Vollstreckungsverjährung (§§ 79 ff. StGB) oder die Tilgungsfristen im Bundeszentralregistergesetz (etwa § 46 BZRG) sowie beamtenrechtliche (§ 12 Abs. 1 Nr. 2 BeamtStG, § 41 BBG, § 24 DRiG) und ausländerrechtliche (§§ 53, 54 Aufenthaltsgesetz) Folgeregelungen.

D. Beschleunigungsgebot im Recht der Europäischen Union Mit dem Zusammenschluss im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft und nunmehr der Europäischen Union haben die Mitgliedstaaten eine supranationale Rechtsordnung geschaffen, die insbesondere nach Sinn und Zweck  – um der unions­weiten Durchsetzung der gesteckten Ziele wegen  –, Vorrang vor jedwedem nationalen Recht beansprucht141. Gegen den Vorrang des gemeinsamen Rechts auch vor dem mitgliedstaatlichen Verfassungsrecht meldeten insbesondere das deutsche (Bundesverfassungsgericht) und italienische Verfassungsgericht (Corte ­Costituzionale) Bedenken an, weil das Europarecht keine Grundrechte und damit der Gerichtshof der Europäischen Union keinen Grundrechtsschutz gewährt habe142. Mangels eines verbindlichen geschriebenen Grundrechtskatalogs begannen die Luxemburger Richter erstmals 1969 in der Rechtssache Stauder143, europäische Grundrechte aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der sen auf Urteile anderer Strafsenate)  soll der vorgeschlagene Systemwechsel denn auch auf dem ­Gedanken beruhen, dass mit der Vollstreckungslösung härtere, nicht mehr bewährungsfähige Strafen gegen Wirtschaftsstraftäter verhängt werden können. Diese Mutmaßung negiert Schmitt (Richter des 2. Strafsenats beim BGH), StraFo 2008, 313, 316; so aber auch Schäfer/ Sander/van Gemmeren, Strafzumessung, Rn. 12. – Als Folge der Strafvollstreckungslösung erwarten deshalb Ignor/Bertheau, NJW 2008, 2209, 2213 einen Anstieg bei – vom Gesetz eigentlich nicht gewollten (vgl. § 47 Abs. 1 StGB) – kurzfristigen Strafvollstreckungen. 141 So die st. Rspr. des EuGH, erstmals Urt. v. 15.7.1964 – Rs. 6/64, Slg. 1964, 1253 – Costa/ ENEL, explizit für den Vorrang auch vor Verfassungsrecht Urt. v. 9.3.1978 – Rs. 106/77, Slg. 1978, 629, Rn. 17 f. – Simmenthal. Siehe ausführlich und m. w. N. dazu Streinz, Europarecht, Rn. 201 ff.; Oppermann, Europarecht, § 11 Rn. 1 ff. 142 Siehe insbesondere die Solange I-Entscheidung des BVerfG in BVerfGE 37, 271. 143 EuGH, Urt. v. 12.11.1969 – Rs. 26/69, Slg. 1969, 419 – Stauder; wichtige spätere Entscheidungen folgten mit der Rechtssache Internationale Handelsgesellschaft (Urt. v. 17.12.1970 – Rs. 11/70, Slg. 1970, 1125) und dem Fall Nold (Urt. v. 14.5.1974 – Rs. 4/73, Slg. 1974, 491), in dem der EuGH direkt aus internationalen Verträgen, denen alle Mitgliedstaaten beigetreten waren, Grundprinzipien auch für das Gemeinschaftsrecht ableitete.

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1. Teil: Begriffsklärung und Problemdarstellung

Mitgliedstaaten zu entwickeln. Diese individualrechtsschützende Funktion der europäischen Gerichtsbarkeit wurde stetig fortentwickelt, so dass der EuGH bereits vor Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon eine Vielzahl von Grundrechten – darunter auch das Recht auf eine Entscheidung innerhalb angemessener Verfahrensdauer – herausgearbeitet hatte144. Seit Dezember 2009 ist – mit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon – das Beschleunigungsgebot sogar explizit und rechtsverbindlich in Art. 47 der Grundrechte-Charta normiert. I. Rechtliche Konkretisierung

Um einen vollständigen Überblick über die Entwicklung des Beschleunigungsgebots im Recht der Europäischen Union zu bekommen, werden im Folgenden die europarechtlichen Grundlagen ausgehend von der früheren Rechtslage nach ex-Art. 6 EUV bis zum Vertrag von Lissabon dargestellt. 1. Rechtslage vor dem Vertrag von Lissabon: Grundrechtsbindung durch ex-Art. 6 EUV Da die ehemalige Europäische Gemeinschaft der EMRK nicht beigetreten war, wurde sie formal auch nicht unmittelbar an die Konvention gebunden145. Unter diesem Gesichtspunkt waren Verfahren vor den europäischen Gerichten deshalb nicht direkt am Beschleunigungsgebot des Art.  6 Abs.  1 S.  1 EMRK zu messen. Allerdings mussten die europäischen Organe bereits bisher berücksichtigen, dass sämtliche EU-Mitgliedstaaten als Vertragsstaaten der EMRK an deren Gewährleistungen gebunden waren und sich dieser Verpflichtung auch nicht durch die Übertragung von Hoheitsrechten auf die Union entziehen konnten146. Dieser Konstellation und der bereits entwickelten Grundrechtsrechtsprechung des EuGH wurde seit dem Vertrag von Maastricht auch durch die Primärverträge der Euro­ päischen Union in mehrfacher Hinsicht Rechnung getragen:

144 Dass auch auf europäischer Ebene mittlerweile ein ausreichender Grundrechtsschutz gewährleitet wird, hat inzwischen auch das BVerfG mit seiner Solange II-Entscheidung anerkannt, BVerfGE 73, 339. Ausführlich zur Entwicklung der europäischen GrundrechteRechtsprechung siehe Rengeling/Szczekalla, Grundrechte EU, Rn.  1 ff.; Walter, in: Ehlers, Europäische Grundrechte, § 1 Rn. 25 ff.; Strasser, Grundrechtsschutz in Europa, S. 1 ff.; Haltern, Europarecht, Rn. 1030 ff.; Oppermann, Europarecht, § 18 Rn. 1 ff. 145 Frowein, in: Frowein/Peukert, EMRK, Einführung Rn.  14; Grabenwarter, EMRK, § 4 Rn. 5; Busch, Bedeutung der EMRK für EU, S. 22 ff.; Winkler, Beitritt zur EMRK, S. 75. 146 Vgl. EGMR, Urt. v. 18.2.1999 – Nr. 26083/94, Rn. 67 – Waite und Kennedy/Deutschland; Urt. v. 18.2.1999 – Nr. 28934/95, Rn. 57 – Beer und Regan/Deutschland; Urt. v. 18.2.1999 – Nr. 24833/94, Rn. 32  – Matthews/Vereinigtes Königreich; Urt. v. 30.6.2005 – Nr.  45036/98, Rn. 108 – Bosphorus/Irland.

D. Beschleunigungsgebot im Recht der Europäischen Union

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Nach ex-Art. 6 Abs. 1 EUV beruhte die Europäische Union „auf den Grund­ sätzen der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit“. Das Recht auf effektiven  – und damit auch zeitnahen  – Rechtsschutz gehört zu den zentralen Gewährleistungen des Rechtsstaats147. Zudem verpflichtete ex-Art. 6 Abs. 2 EUV die Union zur Achtung der „Grundrechte, […] wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ergeben“. Neben den Mitgliedstaaten, in denen sich das Beschleunigungsgebot  – wie in Deutschland – aus einzelnen Verfassungsbestimmungen ableiten lässt, finden sich in den mitgliedstaatlichen Verfassungsordnungen auch vereinzelt besondere Regelungen, mit denen der Anspruch auf Rechtsschutz in angemessener Zeit bzw. ohne unbegründete Verzögerung auf eine verfassungsrechtliche Grundlage gestellt wird148. Insofern war das Beschleunigungsgebot als Teil  der gemeinsamen Ver­ fassungstraditionen der Mitgliedstaaten und damit als allgemeiner Grundsatz des Gemeinschaftsrechts anzuerkennen149. Die Fixierung der Bindung der Organe der Europäischen Union an eigene europäische Grundrechte durch ex-Art. 6 Abs. 2 EUV wurde komplettiert durch den dortigen Verweis auf die EMRK: „Die Union achtet die Grundrechte, wie sie in der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind.“

Die durch ex-Art. 6 Abs. 2 EUV vorgeschriebene „Achtung“ der EMRK entsprach im Übrigen der vom EuGH bereits vor Inkrafttreten des Vertrags von ­Maastricht angewandten Methode zur Entwicklung der europäischen Grundrechte: Die EMRK wurde im Wege der „wertenden Rechtsvergleichung“ zur Rechts­erkenntnisquelle für die Anwendung von ex-Art. 6 Abs. 2 EUV herangezogen150. 147

EuGH, Urt. v. 16.7.2009 – Rs. C-385/07 P, Slg. 2009, I-6155, Rn. 176 ff. – Der Grüne Punkt; vgl. auch BVerfGE 63, 45, 69; NJW 2003, 2225; NStZ 2006, 680, 681 . 148 Vgl. die Aufzählung bei Nowak, in: Heselhaus/Nowak, Europäische Grundrechte, § 51 Rn.  24 Fn.  95: § 21 der finnischen Verfassung, Art.  39 Abs.  1 der maltesischen Verfassung, Art. 45 Abs. 1 der polnischen Verfassung, Art. 20 Abs. 4 und 5 der portugiesischen Verfassung, Art. 3 und 112 Abs. 1 der tschechischen Verfassung in Verbindung mit Art. 38 Abs. 2 der tschechischen Grundrechts­deklaration. 149 Pache, NVwZ 2001, 1342, 1343; Hackspiel, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Handbuch Rechtsschutz, § 21 Rn. 10; Heger, Europäisierung des Umweltstrafrechts, S. 45. 150 EuGH, Gutachten v. 28.3.1996 – Rs. C-2/94, Slg. 1996, I-1759, Rn. 33 – Beitritt der Gemeinschaft zur EMRK; Alber, in: Tettinger/Stern, Grundrechte-Charta, Vor Art.  47 Rn.  10; ­Streinz, Europarecht, Rn. 754, 761; Böse, ZRP 2001, 402, 403. Deshalb stellen Ovey/White, ECHR, S.  582 fest, dass im Ergebnis doch eine faktische Selbstbindung der Europäischen Union an die EMRK bestand. Hilf/Schorkopf, in: Grabitz/Hilf, REU, Art. 6 EUV Rn. 48 und Busch, Bedeutung der EMRK für EU, S. 24 bezeichnen dies als „materielle Bindung“ an die EMRK.

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1. Teil: Begriffsklärung und Problemdarstellung

2. Vor und nach dem Vertrag von Lissabon: Art. 47 Abs. 2 S. 1 GRCh Ausdrücklich wurde und wird das Beschleunigungsgebot zudem in Art.  47 Abs. 2 S. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union151 statuiert: „Jede Person hat ein Recht darauf, dass ihre Sache von einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird.“152

Auf dem Gipfel von Nizza wurde die Grundrechte-Charta am 7. Dezember 2000 erstmals feierlich proklamiert und vom Europäischen Rat „begrüßt“. Im Zusammenhang mit der Unterzeichnung des Vertrags von Lissabon erfolgte am 12. Dezember 2007 eine zweite Proklamation der Charta mit leichten Änderungen, die aber nicht Art. 47 Abs. 2 GRCh betrafen153. Die Charta hatte formal bis Ende November 2009 allerdings den Status einer rechtlich nicht verbindlichen Erklärung, d. h. sie entfaltete keine rechtlichen Wirkungen und war nur sogenanntes „soft law“154. Trotz der fehlenden Verbindlichkeit der Charta konnten die justiziellen Rechte jedoch bereits damals berücksichtigt werden, denn das Kapitel VI der Grundrechte-Charta stellt die bereits an anderer Stelle normierten oder von der Rechtsprechung entwickelten Rechte lediglich zusammen und systematisiert diese, ohne inhaltlich oder strukturell Neuerungen mit sich zu bringen, wie sich ihrer Präambel entnehmen lässt: „Diese Charta bekräftigt […] die Rechte, die sich vor allem aus den gemeinsamen Verfassungstraditionen und den gemeinsamen internationalen Verpflichtungen der Mit­gliedstaaten, aus der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, aus den von der Union und dem Europarat beschlossenen Sozialchartas sowie aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ergeben.“

Insofern wurde die Grundrechte-Charta auch schon von den europäischen Gerichten als Rechtserkenntnisquelle im Rahmen des ex-Art. 6 Abs. 2 EUV herangezogen155, so dass die wesentlichen Inhalte der Charta bereits vor Inkrafttreten 151

Die Grundrechte-Charta in ihrer aktuellen Fassung ist im ABl.EU 2010 Nr. C 83, S. 389 ff. veröffentlicht. 152 Hervorhebung von Verf. 153 Siehe zu den Änderungen Pache/Rösch, EuR 2009, 769, 776 f. 154 Ihre rechtliche Verbindlichkeit hätte zwar durch ein förmliches Verfahren nach ex-Art. 48 EUV herbeigeführt werden können; dies ist jedoch nicht geschehen. Die Aufnahme der Charta in die Grundlagenverträge wurde in Nizza auch ausdrücklich aufgeschoben. Insbesondere die Briten sprachen sich gegen eine verbindliche Grundrechte-Charta aus, weil sie befürchteten, dass britische Arbeitnehmer auf dem Umweg über ein europäisches Gericht Arbeitsrechte in ihrem Land einklagen könnten. – Ausführlich zur Geschichte der Grundrechte-Charta Mombaur, in: Tettinger/Stern, Grundrechte-Charta, B IV; Jarass, EU-Grundrechte, § 1 Rn. 18 ff. 155 So durch eine Reihe von Generalanwälten und etwa EuGH, Urt. v. 13.3.2007 – Rs. C-432/05, Slg. 2007, I-2271, Rn. 37 – Unibet; zuvor bereits das EuG, Urt. v. 30.1.2002 – Rs. T-54/99, Slg.  2002, II-313, Rn.  48  – max.mobil (siehe allerdings auch EuG, Urt. v. 20.2.2001  –

D. Beschleunigungsgebot im Recht der Europäischen Union

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des Vertrags von Lissabon als allgemeine Grundsätze des Europarechts und damit als geltendes Recht betrachtet werden konnten. Außerdem konnten die justiziellen Rechte der Charta mittelbar über die EMRK (und dann über ex-Art. 6 Abs.  2 EUV) abgeleitet werden, sofern sie mit deren Bestimmungen inhaltsgleich waren. Art.  47 Abs.  2 S.  1 GRCh basiert inhaltlich nämlich auf Art.  6 Abs.  1 S.  1 EMRK, was sich schon an dem weitgehend identischen Wortlaut zeigt156. Lediglich die bei Art. 6 EMRK vorhandene, wenngleich eng ausgelegte Beschränkung der Gewährleistungen auf Zivil- und Strafsachen wird in Art.  47 Abs. 2 S. 1 GRCh ausgelassen. Die Referenz zur EMRK wird durch die Gleichwertigkeitsbestimmung des Art.  52 Abs.  3 GRCh zudem ausdrücklich im Text verankert: „Soweit diese Charta Rechte enthält, die den durch die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten garantierten Rechten entsprechen, haben sie die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihnen in der genannten Konvention ver­ liehen wird. Diese Bestimmung steht dem nicht entgegen, dass das Recht der Union einen weiter gehenden Schutz gewährt.“

Während bisher eine Berücksichtigung von Art. 47 Abs. 2 S. 1 GRCh nur über ex-Art. 6 Abs. 2 EUV in Betracht kam, ist die Grundrechte-Charta am 1. Dezember 2009 – nach dem zweiten, diesmal positiven Referendum der Iren zum Vertrag von Lissabon im Oktober 2009157  – zur unmittelbar maßgeblichen europarecht­ Rs. T-112/98, Slg. 2001, II-729, Rn. 76 – Mannesmannröhren-Werke: keine Heranziehung in Bezug auf vor ihrer Proklamation erlassene Rechtsakte). Für eine über die Wirkung von „soft law“ hinausgehende Bedeutung spricht zudem die Tatsache, dass das Europäische Parlament und die Europäische Kommission die Grundrechte-Charta als für ihre Tätigkeit, d. h. insbesondere auch die Gesetzgebung der Europäischen Union, verbindlich erachteten, vgl. Meyer, GRCh, Vorwort, Vorb. Rn.  5c; Oppermann, Europarecht, § 18 Rn.  55; Streinz, Europarecht, Rn.  758; weitere Nachweise bei Mayer, EuR 2009, Beiheft 1, 87, 95 f.; Pache/Rösch, EuR 2009, 769, 773 f.  – Zu den möglichen dogmatischen Ansatzpunkten dieser Rechtsprechung nennt ­Streinz, Europarecht, Rn.  758 die Beschlüsse der europäischen Organe zur Charta als „Praxis“ im Sinne von Art. 31 Abs. 3 der Wiener Vertragsrechtskonvention oder die Charta als Ausdruck der gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten im Sinne von exArt. 6 Abs. 2 EUV. 156 Vgl. die Erläuterungen zu Art. 47 Abs. 2 GRCh im ABl.EU 2007 Nr. C 303 S. 17, 34; Alber, in: Tettinger/Stern, Grundrechte-Charta, Vor Art.  47 Rn.  5; Voet van Vormizeele, in: Schwarze, EU-Komm, Art. 47 GRCh Rn. 2. 157 Im Vorfeld wurde dem irischen Regierungschef bei der Tagung des Europäischen Rates am 18./19.6.2009 in Brüssel zugesichert, dass Irland im Fall einer erneuten – und dann positiven – Abstimmung über den Vertrag von Lissabon einen ständigen Kommissionssitz bekommen solle und Fragen von Steuern, Neutralität und Abtreibung weitgehend unabhängig von europäischen Vorgaben entscheiden dürfe. Um diese Zusage schriftlich festzuhalten, soll nicht der Vertrag von Lissabon ergänzt werden (denn ansonsten müsste er wegen der Änderungen vermutlich erneut von allen Mitgliedstaaten ratifiziert werden), sondern die Zugeständnisse an Irland sollen bei der nächsten Vertragsänderung mit aufgenommen werden. Dies wird vermutlich beim Beitritt eines neuen Mitglieds zur Europäischen Union, und damit aller Voraussicht nach Kroatien, sein. Vgl. dazu Europäischer Rat, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, S. 2 f. und Anlagen 1 bis 3.

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1. Teil: Begriffsklärung und Problemdarstellung

lichen Rechtsquelle aufgestiegen158: So sah bereits der – wegen der negativen Referenden in Frankreich und den Niederlanden freilich gescheiterte – Vertrag über eine Verfassung für Europa vom 29. Oktober 2004 die Übernahme der leicht modifizierten Charta als Teil II der neuen Verfassung vor159. In dem daraufhin verabschiedeten Vertrag von Lissabon, auf den sich die Mitgliedstaaten am 13. Dezember 2007 einigten, um die Europäischen Verträge an die neuen Entwicklungen seit dem Vertrag von Nizza anzupassen160, wird die Grundrechte-Charta durch Art. 6 Abs. 1 EUV n. F. auch den Verträgen rechtlich gleichgestellt, gleichwohl nicht in diese aufgenommen: „Die Union erkennt die Rechte, Freiheiten und Grundsätze an, die in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union vom 7. Dezember 2000 in der am 12. Dezember 2007 in Straßburg angepassten Fassung niedergelegt sind; die Charta der Grundrechte und die Verträge sind rechtlich gleichrangig. […] Die in der Charta niedergelegten Rechte, Freiheiten und Grundsätze werden gemäß den allgemeinen Bestimmungen des Titels VII der Charta, der ihre Auslegung und Anwendung regelt, und unter gebührender Berücksichtigung der in der Charta angeführten Erläuterungen, in denen die Quellen dieser Bestimmungen angegeben sind, ausgelegt.“161

158 Allerdings bestimmt das Protokoll Nr.  30 zum Vertrag von Lissabon (ABl.EU 2010 Nr. C 83, S. 313 f.), dass die Grundrechte-Charta für das Vereinigte Königreich und Polen im Rahmen von dessen Maßgabe nicht anwendbar ist. In einem Zusatzprotokoll wurde 2009 ergänzt, dass dieses „opt-out“ auch für Tschechien gilt (das Zusatzprotokoll soll mit der nächsten Vertragsreform ratifiziert werden; dies wird voraussichtlich bei der nächsten EU-Erweiterung der Fall sein). Danach bewirkt die Grundrechte-Charta keine Ausweitung der Befugnis des Gerichtshofs der Europäischen Union oder eines Gerichts Polens, des Vereinigten Königreichs oder Tschechiens, festzustellen, dass die Rechts- und Verwaltungsvorschriften, die Verwaltungspraxis oder Verwaltungsmaßnahmen der genannten Länder nicht mit den durch die Charta be­kräftigten Rechten in Einklang stehen. Insbesondere wird ausdrücklich klargestellt, dass mit Titel IV der Charta und seinen sozialen Grundrechten keine für Polen, das Vereinigte Königreich und mithin auch Tschechien geltenden einklagbaren Rechte geschaffen werden, soweit solche Rechte nicht in den jeweiligen nationalen Rechtsordnungen ohnehin vorgesehen sind. Ob damit tatsächlich eine Verschlechterung des Grundrechtsschutzes in den genannten Ländern einhergeht, ist angesichts der nach Art. 6 Abs. 3 EUV weitergeltenden (ungeschrie­ benen) europäischen Grundrechte als allgemeine Grundsätze noch offen (verneinend Mayer, EuR 2009, Beiheft 1, 87, 94; Pache/Rösch, EuR 2009, 769, 784; bejahend mit lex specialisArgument Hatje/Kindt, NJW 2008, 1761, 1766 f.). Zumindest bleibt jedoch der uneinheitliche Eindruck eines „Europas der zwei Geschwindigkeiten“ (so Streinz/Ohler/Herrmann, Vertrag von Lissabon, S. 126 f.; Pache/Rösch, EuR 2009, 769, 784). 159 ABl.EU 2004 Nr.  C 310, S. 41 ff.; das Beschleunigungsgebot findet sich in Art. II-107 Abs. 2. 160 Diese betrafen vor allem das Bedürfnis nach stärkerer Beteiligung des demokratisch direkt legitimierten Europäischen Parlaments und die Anpassung der Organe der EU an inzwischen 27 Mitgliedstaaten, vgl. Streinz/Ohler/Herrmann, Vertrag von Lissabon, S. 17 ff. und ausführlich zu den Änderungen im strafrechtlichen Bereich unten Zweiter Teil, D. I. 161 Hervorhebung von Verf.

D. Beschleunigungsgebot im Recht der Europäischen Union

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In den nach Art. 6 Abs. 1 S. 3 EUV n. F. maßgeblich zu berücksichtigenden Erläuterungen162 heißt es, dass Art.  47 Abs.  2 GRCh dem konventionsrechtlichen Beschleunigungsgebot entspricht und demzufolge „dieselbe Bedeutung“ (Art. 52 Abs. 3 GRCh) wie Art. 6 Abs. 1 EMRK haben soll. Damit wird für das europarechtliche Beschleunigungsgebot ein Gleichlauf zum völkerrechtlichen Beschleunigungsgebot hergestellt163 und der Einfluss der Konvention in seiner Auslegung durch den EGMR im Recht der Europäischen Union gesichert164. 3. Rechtslage nach dem Vertrag von Lissabon Neben dem nunmehr rechtsverbindlichen europäischen Beschleunigungsgebot in Art. 47 GRCh bleiben die vom EuGH bereits entwickelten (ungeschriebenen) europäischen Grundrechte weiter bestehen. Insofern bildet Art. 6 Abs. 3 EUV die Nachfolgenorm zu ex-Art. 6 Abs. 2 EUV165: „Die Grundrechte, wie sie in der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, sind als allgemeine Grundsätze Teil des Unions­rechts.“

Darüber hinaus sieht der Vertrag von Lissabon in Art. 6 Abs. 2 S. 1 EUV – ebenso wie schon der Verfassungsvertrag in Art. I-9 Abs. 2 S. 1 – den Beitritt der Europäischen Union zur EMRK vor, wodurch das Beschleunigungsgebot aus der Konvention direkte Geltung für alle EU-Organe entfalten würde166. Obwohl ein Beitritt der EG bzw. EU zur Menschenrechtskonvention bereits seit etwa 30 Jahren diskutiert wird, standen doch nach bisheriger Verfassungslage diesem Schritt rechtliche Hindernisse im Weg167: Das erste europarechtliche Hindernis – der EuGH hat 1996 in einem Gutachten festgestellt, dass die Gemeinschaft bzw. Union für einen 162

Die Erläuterungen sind abgedruckt im ABl.EU 2007 Nr. C 303, S. 17, 30, 34. Grabenwarter, EMRK, § 4 Rn. 12; Ottaviano, Rechtzeitiger Rechtsschutz, S. 30; vgl. auch EuGH, Urt. v. 16.7.2009 – Rs. C-385/07 P, Slg. 2009, I-6155, Rn. 177 ff. – Der Grüne Punkt. 164 Vgl. Präambel der GRCh und Meyer, GRCh, Vorb. Rn.  5; Grabenwarter, EMRK, § 4 Rn. 9; Szczekalla, in: Heselhaus/Nowak, Europäische Grundrechte, § 2 Rn. 24 f. 165 Vgl. dazu Pache/Rösch, EuR 2009, 769, 771 f. und 785 f. zu dem Verhältnis zwischen GRCh, ungeschriebenen Unionsgrundrechten und (möglicherweise in Zukunft) der EMRK. Zu ex-Art. 6 Abs. 2 EUV bereits oben in diesem Ersten Teil, D. I. unter 1. 166 Die EMRK würde als völkerrechtlicher Vertrag nach Art. 216 AEUV unmittelbar in die Unionsrechtsordnung integriert, allerdings normenhierarchisch nicht gleichrangig mit, sondern unterhalb der Verträge und damit auch unterhalb der Grundrechte der Europäischen Grundrechte-Charta, jedoch mit Vorrang vor europäischem Sekundärrecht. 167 Einzelheiten bei Strasser, Grundrechtsschutz in Europa, S.  90 ff.; Winkler, Beitritt zur EMRK, S.  46 ff.  – Angesichts der zunehmenden Europäisierung des grundrechtssensiblen Strafrechts wird (auch) in der strafrechtlichen Literatur vielfach ein Beitritt der EU zur EMRK befürwortet; vgl. Böse, ZRP 2001, 402, 404; Hecker, Europäisches Strafrecht, § 3 Rn.  76; Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 39.1; Satzger, Int und Eur. Strafrecht, § 10 Rn. 14; Walter, in: ­Ehlers, Europäische Grundrechte, § 1 Rn. 34 f. 163

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1. Teil: Begriffsklärung und Problemdarstellung

Beitritt zur Menschenrechtskonvention wegen der erheblichen Auswirkungen auf das europarechtliche Rechtsschutzsystem einer Ermächtigungsnorm bedarf168  – wurde durch das Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon obsolet. Zweitens steht – auf Europaratsebene – der Beitritt zur EMRK gemäß Art. 59 Abs. 1 S. 1 EMRK nur Mitgliedern des Europarats offen, wobei nach Art. 4 und 5 der Satzung des Europarats169 wiederum nur Staaten Mit­glied des Europarats sein können170. Dieser Einwand wurde jedoch zum 1. Juni 2010 durch das Inkrafttreten des 14. Zusatzprotokolls zur Konvention ausgeräumt, welches einen neuen Art. 59 Abs. 2 EMRK vorsieht, der den Beitritt der Europäischen Union ausdrücklich ermöglicht171. Wie genau dann die Bindung der Europäischen Union an die EMRK verfahrenstechnisch sichergestellt werden soll – eventuell durch ein Vorlageverfahren des EuGH an den EGMR, welches Vorabentscheidungsverfahren unter Umständen zusätzlich verlängert? – ist jedoch noch vollkommen offen172. Jedenfalls bekäme die Euro­ päische Union einen eigenen Richter am EGMR und müsste den Urteilen des Gerichtshofs Folge leisten. Bis zu einem Beitritt der Union zur Konvention könnten durch das umfangreiche Beitrittsverfahren allerdings noch einige Jahre vergehen173: So erfordert ein EMRK-Beitritt gemäß Art. 218 Abs. 2, 3 und 8 AEUV eine Empfehlung der Kommission bezüglich der Ermächtigung zur Aufnahme von Verhandlungen, einen einstimmigen Beschluss des Rates der Europäischen Union zum Eintritt in und zum Ergebnis der Beitrittsverhandlungen mit dem Europarat, eine Zustimmung des Europäischen Parlaments und die Ratifikation des Beitritts­ abkommens nicht nur durch die 27 EU-Staaten, sondern auch durch die zusätz­ lichen 20 Vertrags­parteien der EMRK (einschließlich Russlands und der Türkei). Durch ein spezielles Beschleunigungsgebot soll der Vertrag von Lissabon jedoch zumindest bei schwebenden (Ausgangs-)Prozessen inhaftierter Beschuldigter zu einer merklich rascheren Urteilsfindung des EuGH führen, weil Art.  267 Abs. 4 AEUV bestimmt174:

168 EuGH, Gutachten v. 28.3.1996 – Rs. C-2/94, Slg. 1996, I-1759, Rn. 23 ff. – Beitritt der Gemeinschaft zur EMRK. 169 Verfügbar unter . 170 Im Gegensatz dazu wurde die EMRK neutral formuliert, vgl. z. B. Art. 20 EMRK: „Die Zahl der Richter des Gerichtshofs entspricht derjenigen der Hohen Vertragsparteien.“ 171 Das 14. Zusatzprotokoll ist verfügbar unter . Sein Inkrafttreten hat sich durch die späte Ratifikation Russlands erheblich verzögert (alle anderen 46 der 47 Vertragsstaaten des Europarats hatten das Abkommen spätestens im Oktober 2006 ratifiziert). 172 Siehe zu solchen Überlegungen z. B. Paeffgen, ZStW 118 (2006), 275, 345 ff. 173 So die Einschätzung der EU-Kommissarin für Justiz, Grundrechte und Bürgerschaft ­Viviane Reding v. 17.3.2010, S. 2. – Sehr skeptisch Pache/Rösch, EuR 2009, 769, 781 ff.: Die hohen Verfahrenshürden stellen „ungeachtet des primärrechtlichen Beitrittsauftrags an die EU und die Mitgliedstaaten zumindest tatsächlich nachhaltig in Frage, ob jemals bzw. wann ein Beitritt der EU zur EMRK real durchgeführt werden kann.“ 174 Dieselbe Regelung war bereits in Art. III-369 des gescheiterten Verfassungsvertrags vorgesehen.

D. Beschleunigungsgebot im Recht der Europäischen Union

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„Wird eine [Vorabentscheidungs-]Frage in einem schwebenden Verfahren, das eine inhaftierte Person betrifft, bei einem einzelstaatlichen Gericht gestellt, so entscheidet der Gerichtshof innerhalb kürzester Zeit.“

Zu erwarten ist, dass sich der Europäische Gerichtshof bei solchen Ersuchen des neuen Eilvorlageverfahrens in Art.  104b VerfOEuGH bedienen wird, sofern das vom Anwendungsbereich her möglich ist175. Im Übrigen dürfte sich der EuGH bezüglich der Bewertungsmaßstäbe der einzuhaltenden Frist an den Kriterien orientieren, die der EGMR zu Art. 5 Abs. 3 und 4 EMRK entwickelt hat176. Auch im Prozessrecht des Gerichtshofs der Europäischen Union lassen sich Normen finden, die Ausdruck des Beschleunigungsgebots sind und teilweise andere Prozessgrundsätze wie z. B. die Dispositionsmaxime, den Verhandlungsgrundsatz und das Mündlichkeitsprinzip zugunsten einer zügigen Entscheidungsfindung einschränken177. Besonders hervorzuheben sind dabei die im Jahr 2000 eingeführten beschleunigten Verfahren sowohl beim EuGH (Art.  104a, 62a Verf­OEuGH) als auch beim EuG (Art. 76a VerfOEuG), die Möglichkeit einer Entscheidung mit Vorrang (Art. 55 § 2 Abs. 1 VerfOEuGH und Art. 55 § 2 Abs. 1 Verf­O­EuG) sowie die Vorschriften, die dem EuGH ein Absehen von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung (Art. 44a, 104 § 4 VerfOEuGH) oder im Vorabentscheidungsverfahren eine Entscheidung per Beschluss erlauben, wenn über die vorgelegte Frage bereits früher entschieden wurde (Art. 104 § 3 VerfOEuGH)178. Darüber hinaus wird der Konzentrationsmaxime durch den numerus clausus der Schriftsätze (Art. 41 VerfOEuGH, Art. 47 VerfOEuG), die Präklusionsvorschriften (Art. 42 § 2 VerfOEuGH, Art. 48 § 2 VerfOEuG), die mögliche vorgezogene Beweiserhebung (Art. 44 § 2, 54a VerfOEuGH) und die Entscheidung über prozesshindernde Ein­ reden (Art. 91 VerfOEuGH, 114 VerfOEuG) Rechnung getragen. II. Auslegung durch den Gerichtshof der Europäischen Union

Wie gesehen, erlangt die EMRK für das Handeln der EU-Organe179 bis zu einem Beitritt der Europäischen Union zur Menschenrechtskonvention erst mittels eines Zwischenschritts Bedeutung – nämlich erstens über Art. 6 Abs. 3 EUV, wonach die in der Konvention gewährleisteten Rechte als allgemeine Grundsätze des Unions­ 175 So auch Everling, EuR 2009, Beiheft 1, 71, 84; Mayer, EuR 2009, Beiheft 1, 87, 100 Fn. 46. – Siehe ausführlich zum Eilvorlageverfahren im Zweiten Teil, zur Restriktion des Anwendungsbereichs vgl. die Kritik dort unter D. I. 176 Dörr, EuGRZ 2008, 349, 351; siehe zu Art.  5 EMRK eingehend Peukert, in: Frowein/­ Peukert, EMRK, Art. 5 Rn. 109 ff.; Renzikowski, in: Karl, IntKommEMRK, Art. 5 Rn. 238 ff.; Unfried, Art. 5 EMRK, S. 43 ff. 177 Vgl. Hackspiel, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Handbuch Rechtsschutz, § 21 Rn. 10 ff. 178 Zu diesen Beschleunigungsmöglichkeiten ausführlich im Zweiten Teil, A. I. 179 Die europäischen Grundrechte richten sich vorrangig an die europäischen Einrichtungen und Organe. Jedoch hat der EuGH entschieden (Urt. v. 18.6.1991 – Rs. C-260/89, Slg. 1991, I-2925  – ERT), dass in bestimmten Fallgruppen auch die Mitgliedstaaten durch die europä-

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1. Teil: Begriffsklärung und Problemdarstellung

rechts gelten und die gemeinsamen Verfassungstraditionen zu berücksichtigen sind, und zweitens über die Gleichwertigkeitsbestimmung des Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRCh für das Beschleunigungsgebot aus Art. 47 Abs. 2 S. 1 GRCh. Obwohl die europäischen Gerichte also eigentlich an das aus Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK folgende Beschleunigungsgebot gebunden sind, kann der EuGH bisher – früher wegen der formalen Unabhängigkeit von der EMRK, nunmehr mangels einer allgemeinen Zuständigkeit des EGMR zur Kontrolle von EU-Akten180  – relativ selbstständig über das europarechtliche Beschleunigungsgebot befinden. Da bis zu einem Beitritt der Union zur Konvention weder der EGMR noch der EuGH formellen Vorrang vor dem jeweils anderen Gericht genießt, kann es zu divergierender Rechtsprechung zwischen den Straßburger und den Luxemburger Richtern kommen. 1. Annäherung an die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte Die in den europarechtlichen Normen bereits angedeutete Parallelisierung der Grundrechtsinhalte setzt sich indes auch auf der Ebene der Rechtsprechung fort. So hat der EuGH bei der Entwicklung der ungeschriebenen Gemeinschaftsgrundrechte immer wieder auf die EMRK und – nach früheren Zweifeln181 – auf deren Auslegung durch den EGMR zurückge­griffen182. Sowohl der EuGH als auch der EGMR bemühen sich um eine weitgehende Übereinstimmung bei der Auslegung der korrespondierenden Grundrechte, indem sie auf die Rechtsprechung des jeweils anderen Gerichts rekurrieren183. Durch die Kohärenzbestimmung in Art. 52 Abs. 3 GRCh ischen Grundrechte gebunden werden können, nämlich wenn sie das Europarecht umsetzen und durchführen oder sich sonst „im Anwendungsbereich“ des Europarechts betätigen. Vgl. dazu Nowak, in: Heselhaus/Nowak, Europäische Grundrechte, § 6. 180 Vgl. EGMR, Urt. v. 30.6.2005 – Nr. 45036/98, Rn. 154 ff. – Bosphorus/Irland, wo der EGMR sich selbst bezüglich der Kontrolle von Unionsrechtsakten zurückgenommen hat; zur prinzipiellen Kontrollmöglichkeit nochmals unten in diesem Ersten Teil unter E. II. 3. e). 181 Vgl. EuGH, Urt. v. 10.11.1993 – Rs. C-60/92, Slg. 1993, I-5683, Rn. 11 ff. – Otto BV gegenüber EGMR, Urt. v. 25.2.1993 – Nr. 10828/84, Rn. 41 ff. – Funke/Frankreich. – Die formale Unabhängigkeit von der EMRK wird hervorgehoben etwa in EuG, Urt. v. 20.2.2001 – Rs. T-112/98, Slg. 2001, II-729, Rn.  59 f.  – Mannesmannröhren-Werke; Urt. v. 14.5.1998  – Rs. T-347/94, Slg. 1998, II-1751, Rn. 311 – Mayr-Melnhof. 182 St. Rspr., vgl. nur EuGH, Urt. v. 13.12.1979 – Rs. 44/79, Slg. 1979, 3727, Rn. 17 ff. – Hauer; Urt. v. 10.4.2003 – Rs. C-276/01, Slg. 2003, I-3735, Rn. 72, 75 ff. – Steffensen; siehe auch Paeffgen, ZStW 118 (2006), 275, 320; von Danwitz, in: Tettinger/Stern, GrundrechteCharta, Art. 53 Rn. 5 f.; Haase, Faires Gerichtsverfahren, S. 381; Satzger, Int. und Eur. Strafrecht, § 11 Rn. 1; Streinz, Europarecht, Rn. 761. 183 Als Beispiele für eine Berücksichtigung der Rechtsprechung des EGMR durch den EuGH siehe insbesondere EuGH, Urt. v. 28.3.2000 – Rs. C-7/98, Slg. 2000, I-1935, Rn. 25 ff., 38 ff. – Krombach; Urt. v. 11.7.2002 – Rs. C-60/00, Slg. 2002, I-6279, Rn. 41 f. – Carpenter; die Bereitschaft des EuGH, sich an der Rechtsprechung des EGMR zu orientieren, geht mitunter sogar zulasten der Grundfreiheiten des Binnenmarkts, vgl. etwa EuGH, Urt. v. 12.6.2003 – Rs. C-112/00, Slg. 2003, I-5659, Rn. 71 ff. – Schmidberger. – Der EGMR untersucht das EU-Recht

D. Beschleunigungsgebot im Recht der Europäischen Union

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kommt der Wille zur Parallelität von EU-Grundrechten und EMRK zusätzlich zum Ausdruck, zumal in der Präambel auch die Rechtsprechung des EGMR als maßgeblich für die Entwicklung der europäischen Grundrechte erwähnt wird. Aufgrund der bisher nur mittelbaren Berücksichtigung des Konventionsstandards hängt die Intensität der Berücksichtigung der Rechtsprechung des EGMR trotzdem von den jeweiligen Richterpersönlichkeiten am EuGH ab. In einzelnen Fragen gibt es auch deutliche Divergenzen in der Rechtsprechung des EuGH einerseits und der des EGMR andererseits; diese betreffen jedoch vor allem Art. 8 EMRK184. Bezüglich des Beschleunigungsgebots aus Art.  6 Abs.  1 S.  1 EMRK greift der EuGH zur Begründung seiner Entscheidungen oftmals auf Urteile des EGMR zurück185. 2. Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union Aufgrund von (auch ex-)Art. 6 EUV und Art. 47 Abs. 2 GRCh hat der EuGH den An­spruch auf eine Entscheidung innerhalb angemessener Verfahrensdauer inzwischen als allgemeinen unionsrechtlichen Rechtsgrundsatz – und damit auch als und die Rechtsprechung des EuGH z. B. in EGMR, Urt. v. 8.12.1999 – Nr. 28541/95, Rn. 41, 66 – Pellegrin/Frankreich; Urt. v. 11.7.2002 – Nr. 28957/95, Rn. 43 ff., 92 – Goodwin/Vereinigtes Königreich; Urt. v. 11.7.2002 – Nr. 25680/94, Rn. 41, 80 – I./Vereinigtes Königreich. – Ausführlich und m. w. N. dazu Peters, EMRK, S. 28 ff. 184 Vgl. dazu Busch, Bedeutung der EMRK für EU, S. 128 ff.: Im Gegensatz zum EGMR zählte etwa der EuGH in der Sache Hoechst (Urt. v. 21.9.1989 – Rs. 46/87 und 227/88, Slg. 1989, 2859, Rn.  17 f.) die Geschäftsräume nicht zum Anwendungsbereich des Art.  8 EMRK. Der EGMR hatte dagegen im Fall Chappell/Verei­nigtes Königreich (Urt. v. 30.3.1989 – Nr. 10461/83, Rn. 51) die Anwendbarkeit von Art. 8 EMRK auf ein Haus, in dem sich sowohl Geschäfts- als auch Privaträume befanden, bejaht. Dass auch Geschäftsräume unter Art. 8 EMRK fallen, hat der EGMR später eindeutig im Urt. v. 16.12.1992 – Nr. 13710/88, Rn. 27 ff. – Niemietz/Deutschland entschieden. – Unterschiede zwischen der Rechtsprechung des EuGH und dem EGMR gibt es auch bezüglich der Frage, ob Art. 6 EMRK dahingehend ausgelegt werden kann, dass es ein Verbot der Pflicht zur Selbstbezichtigung enthält; vgl. EuGH, Urt. v. 18.10.1989 – Rs. 374/87, Slg. 1989, 3283, Rn. 28 ff. – Orkem einerseits und EGMR, Urt. v. 25.2.1993 – Nr. 10828/84, Rn. 41 ff. – Funke/Frankreich andererseits. – Paeffgen, ZStW 118 (2006), 275, 320 weist jedoch zutreffend darauf hin, dass in den Fällen der divergierenden Auslegung die Entscheidung des EuGH zumeist zeitlich vor der des EGMR lag. Er zieht daraus den Schluss, dass der EuGH nicht bewusst von einer bereits exisitierenden Rechtsprechung des EGMR abweichen würde. Dies werde auch durch Formulierungen in den abweichenden Urteilen (wie z. B. in den Fällen Hoechst und Orkem, Rn. 18 respektive Rn. 30) deutlich, wonach der EuGH davon ausging, dass bezüglich der zu prüfenden Fragen keine Rechtsprechung des EGMR vorliege. Dass sich der EuGH inzwischen an die Rechtsprechung des EGMR gebunden sieht, wird auch in EuGH, Urt. v. 22.10.2002 – Rs. C-94/00, Slg. 2002, I-9011, Rn. 29 – Roquette Frères deutlich. 185 Siehe z. B. EuGH, Urt. v. 17.12.1998 – Rs. C-185/95 P, Slg. 1998, I-8417, Rn. 29 – Baustahlgewebe/Kommission; Urt. v. 27.11.2001  – Rs. C-270/99, Slg. 2001, I-9197, Rn.  24 f.  – Z./Europäisches Parlament; Haase, Faires Gerichtsverfahren, S. 381; Nowak, in: Heselhaus/ Nowak, Europäische Grundrechte, § 51 Rn.  42; Pernice/Mayer, in: Grabitz/Hilf, REU, nach Art. 6 EUV Rn. 272.

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1. Teil: Begriffsklärung und Problemdarstellung

verbindliche Vorgabe für seine eigene Tätigkeit – anerkannt186. Erstmals wurde das Verbot der überlangen Verfahrensdauer als Bestandteil des Anspruchs auf einen fairen Prozess durch den EuGH in der Rechtssache Baustahlgewebe herausge­ arbeitet187: „Gemäß Art.  6 Abs.  1 EMRK hat jedermann Anspruch darauf, dass seine Sache in billiger Weise öffentlich und innerhalb einer angemessenen Frist gehört wird […]. Der aus den Grundrechten der EMRK entwickelte allgemeine gemeinschaftliche Rechtsgrundsatz […], dass jedermann Anspruch auf einen fairen Prozess, insbesondere auf einen Prozess innerhalb einer angemessenen Frist hat, gilt auch für die Klage eines Unternehmens gegen eine Entscheidung der Kommission, mit der diese wegen Verstoßes gegen das Wettbewerbsrecht Geldbußen gegen das Unternehmen verhängt […].“

Das erstinstanzliche Verfahren vor dem EuG dauerte etwa fünfeinhalb Jahre. Hinsichtlich der Frage, ob dieser Zeitraum noch einer angemessenen Verfahrensdauer entspricht, hat der EuGH im Folgenden die Rechtsprechung des EGMR inhaltlich explizit vollumfänglich übernommen188: „[Die Verfahrensdauer von ungefähr fünf Jahren und sechs Monaten] ist auf den ersten Blick ein beträchtlicher Zeitraum. Die Angemessenheit einer Verfahrensdauer ist jedoch nach den Umständen jeder einzelnen Rechtssache, insbesondere nach den Interessen, die in dem Rechtsstreit für den Betroffenen auf dem Spiel stehen, nach der Komplexität der Rechts­ 186

So grundlegend EuGH, Urt. v. 17.12.1998 – Rs. C-185/95 P, Slg. 1998, I-8417 – Baustahlgewebe/Kommission, obwohl bereits im Fall Johnston (Urt. v. 15.5.1986 – Rs. 222/84, Slg. 1986, 1651, Rn. 18 f.) der allgemeine Grundsatz des gerichtlichen Rechtsschutzes anerkannt wurde, der das Recht auf zeitnahen Rechtsschutz impliziert. – Die Baustahlgewebe-Rechtsprechung wurde u. a. bestätigt in EuGH, Urt. v. 27.11.2001 – Rs. C-270/99 P, Slg. 2001, I-9197, Rn. 24 f. – Z./Europäisches Parlament; Urt. v. 15.10.2002 – Rs. C-238/99 P u. a., Slg. 2002, I-8375, Rn. 206 ff. – Limburgse Vinyl; Urt. v. 2.10.2003 – Rs. C-194/99 P, Slg. 2003, I-10821, Rn.  154 ff.  – Thyssen Stahl; Urt. v. 1.7.2008  – Rs. C-341/06 P und C-342/06 P, Rn.  45  – Chronopost; Urt. v. 16.7.2009 – Rs. C-385/07 P, Slg. 2009, I-6155, Rn. 176 ff. – Der Grüne Punkt. – Vgl. zum Unionsgrundrecht auf recht­zeitigen Rechtsschutz auch Ottaviano, Rechtzeitiger Rechtsschutz, S. 23 ff.; Gundel, in: Ehlers, Europäische Grundrechte, § 20 Rn. 42; Nowak, in: Heselhaus/Nowak, Europäische Grundrechte, § 51 Rn.  42; Kokott/Dervisopoulos/Henze, EuGRZ 2008, 10; Pache, NVwZ 2001, 1342, 1345 f.; Hackspiel, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Handbuch Rechtsschutz, § 21 Rn. 10, 14. – Neben den Unionsorganen wie insbesondere die Kommission und die Unionsgerichte sind auch die Mitgliedstaaten beim Vollzug von EU-Recht den Unionsgrundrechten verpflichtet. Bezogen auf das Beschleunigungsgebot ergeben sich daraus jedoch für die mitgliedstaatlichen Gerichte keine weiterreichenden Verpflichtungen (wohl aber für den nationalen Gesetzgeber), da diese durch ihren Beitritt zur EMRK bereits direkt an Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK gebunden sind, vgl. Ottaviano, Rechtzeitiger Rechtsschutz, S. 36 ff. 187 EuGH, Urt. v. 17.12.1998  – Rs. C-185/95 P, Slg. 1998, I-8417, Rn.  20 f.  – Baustahl­ gewebe/Kommission. – Zu der dogmatischen Streitfrage, ob es sich beim Recht auf eine an­ gemessene Verfahrensdauer um ein Grundrecht oder einen allgemeinen Rechtsgrundsatz handelt, siehe Ottaviano, Rechtzeitiger Rechtsschutz, S. 25 ff. 188 EuGH, Urt. v. 17.12.1998 – Rs. C-185/95 P, Slg. 1998, I-8417, Rn. 29 – Baustahlgewebe/ Kommission; vgl. auch Urt. v. 15.10.2002 – Rs. C-238/99 P u. a., Slg. 2002, I-8375, Rn. 210 – Limburgse Vinyl; Urt. v. 16.7.2009 – Rs. C-385/07 P, Slg. 2009, I-6155, Rn. 181 ff. – Der Grüne Punkt.

D. Beschleunigungsgebot im Recht der Europäischen Union

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sache sowie nach dem Verhalten des Klägers und dem der zuständigen Behörden zu beurteilen (vgl. EGMR, Urteile Erkner und Hofauer […]; Kemmache […]; Phocas/Frankreich […]; Garyfallou AEBE/Griechenland […]).“

Die Prüfung der Angemessenheit richtet sich also auch im Unionsrecht nach dem Verhältnismäßigkeitsprinzip. Die Rechtfertigung einer längeren Verfahrensdauer vor europäischen Gerichten kann sich nach dem EuGH zwar aus der besonderen Funktion der Unionsgerichte sowie aus den aufgrund der Sprachen­regelungen nötigen Übersetzungen ergeben, jedoch halten sich fünfeinhalb Jahre auch unter Berücksichtigung der Funktion des EuG als Tatsacheninstanz nicht mehr im Rahmen des Angemessenen. Ebenso kann eine Überlastung der europäischen Gerichte keine Rechtfertigung für die Überschreitung einer angemessenen Verfahrensdauer darstellen189. Bei der Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer prüft der EuGH die einzelnen Prozessabschnitte getrennt voneinander190. Wenn die Missachtung des Beschleunigungsgebots durch ein europäisches Gericht zu einer Überschreitung der angemessenen Verfahrensdauer führt, so liegt darin ein Verfahrensverstoß, der im Rahmen des Rechtsmittelverfahrens gerügt werden kann. Zu den verfahrensrechtlichen Konsequenzen einer Verletzung des unionsrechtlichen Beschleunigungsgebots führt der EuGH im Präzedenzfall Baustahlgewebe aus191: „Aus Gründen der Prozessökonomie und im Hinblick darauf, dass gegen einen solchen Verfahrensfehler ein unmittelbarer und effektiver Rechtsbehelf gegeben sein muss, ist auf den Rechtsmittelgrund der überlangen Verfahrensdauer hin das angefochtene Urteil insoweit aufzuheben, als darin die Höhe der gegen die Rechtsmittelführerin festgesetzten Geldbuße auf 3 Millionen ECU festgesetzt wird. Dagegen fehlt jeder Anhaltspunkt dafür, dass die Verfahrensdauer Auswirkungen auf den Ausgang des Rechtsstreits gehabt hätte, so dass dieser Rechtsmittelgrund nicht zur vollständigen Aufhebung des angefochtenen Urteils führen kann.“

Im Umkehrschluss lässt sich daraus folgern, dass der EuGH eine Aufhebung des angefochtenen Urteils in Betracht zieht, wenn – was jedoch nur selten vorkommen dürfte  – die Verfahrensdauer Auswirkungen auf den Ausgang des Rechtsstreits gehabt hat, z. B. weil Beweismittel verloren gegangen sind. Im Regelfall dürfte 189

So auch Ottaviano, Rechtzeitiger Rechtsschutz, S. 219 f. Dies ist ein Unterschied zum EGMR, der auch die Angemessenheit der Gesamtverfahren berücksichtigt. Diese abschnittsbezogene Prüfung wirkt sich aber im Unionsprozessrecht nicht gravierend aus, weil es schließlich – wenn überhaupt – nur zwei Instanzen (EuG und EuGH, Gerichtliche Kammern und EuG) gibt, wobei über die Wahrung des europäischen Rechts auf angemessene Verfahrensdauer stets bereits die zweite Instanz entscheidet. 191 EuGH, Urt. v. 17.12.1998  – Rs. C-185/95 P, Slg. 1998, I-8417, Rn.  48 f.  – Baustahl­ gewebe/Kommission. – Prinzipiell gibt der EuGH im Anwendungsbereich des Unionsrechts – anders als der EGMR – weiterreichende Hinweise, welche Rechtsfolgen ein Verstoß gegen die EMRK nach sich ziehen kann, vgl. Eisele, JA 2005, 390, 394 f. So hat er z. B. in EuGH, Urt. v. 10.4.2003 – Rs. C-276/01, Slg. 2003, I-3735, Rn. 72 ff. – Steffensen aus einer Verletzung des Art. 6 Abs. 1 EMRK ein Beweisverwertungsverbot abgeleitet. 190

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1. Teil: Begriffsklärung und Problemdarstellung

vielmehr eine Berücksichtigung der überlangen Verfahrensdauer auf der Rechtsfolgenseite zur Kompensation ausreichen; etwa durch die Minderung einer verhängten Geldbuße192.

E. Vorabentscheidungsverfahren im Spannungsverhältnis zum Beschleunigungsgebot E. Spannungsverhältnis Vorabentscheidung / Beschleunigungsgebot

Nachdem das Beschleunigungsgebot in den verschiedenen Rechtsebenen dargestellt wurde, ist nun zu untersuchen, inwieweit die europarechtlich gebotene Durchführung eines Vorabentscheidungsverfahrens, welche die Dauer des nationalen Strafverfahrens erheblich verlängert, mit dem konventionsrechtlichen, europarechtlichen und verfassungsrechtlichen Beschleunigungsgebot kollidieren kann. Bevor dieser Frage nachgegangen wird, soll mittels einer Darstellung der Grundzüge zuallererst Klarheit über die Funktionsweise und charakteristischen Merkmale des Vorabentscheidungsverfahrens geschaffen werden. I. Überblick: Vorabentscheidungsverfahren im Unionsrecht

Nach Art. 19 Abs. 1 S. 2 EUV (ex-Art. 220 EGV) sichert der Gerichtshof der Europäischen Union in Luxemburg zusammen mit dem Gericht (ehemals Gericht erster Instanz) und den Fachgerichten die Wahrung des Rechts bei der Aus­ legung und Anwendung der Verträge193. Allein mit den 27 Richtern des EuGH (und 27 beim EuG bzw. sieben beim EuGöD) wäre diese Rechtsprechungsfunktion in einer Europäischen Union mit fast 500 Millionen Unionsbürgern nicht zu bewältigen. Das Rechtsschutzsystem des Unionsrechts beruht vielmehr auf der Zusammenarbeit mit den staatlichen Gerichten, zumal das gemeinsame Recht regelmäßig

192

Ausführlich zu den möglichen Konsequenzen eines Verstoßes gegen das unionsrecht­ liche Beschleunigungsgebot Ottaviano, Rechtzeitiger Rechtsschutz, S. 239 ff., der darüber hinaus eine außervertragliche Haftung der EU gemäß ex-Art. 235, 288 Abs.  2 EGV (nunmehr Art. 268, 340 Abs. 2 AEUV) für aus der überlangen Verfahrensdauer resultierende materielle und immaterielle Schäden befürwortet und eine dem deutschen Steuerrecht entlehnte Fiktion des Prozesssieges in Fällen annehmen möchte, in denen Luxemburger Gerichtsverfahren in ähnlicher Weise wie Steuerverfahren nur bipolare Rechtsverhältnisse betreffen und der Streitgegenstand auf Geldleistungen beschränkt ist, z. B. also bei Schadensersatzprozessen oder dienstrecht­lichen Streitigkeiten. 193 Grundsätzlich sind die europäischen Gerichte Einheitsgerichte ohne Unterteilung in bestimmte Rechtszweige. Oppermann, Europarecht, § 14 Rn.  3 spricht hier vom sogenannten Supreme-Court-Modell. Seit dem Vertrag von Nizza (in Kraft getreten am 1.2.2003) ermöglichte ex-Art. 225a EGV jedoch auch die Einsetzung gerichtlicher Kammern (diese sind nicht mit den Kammern zu verwechseln, aus denen der EuGH besteht); als erste dieser Kammern wurde im Dezember 2005 das Gericht für den öffentlichen Dienst der Europäischen Union (­EuGöD) gegründet.

E. Spannungsverhältnis Vorabentscheidung / Beschleunigungsgebot

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indirekt in den Mitgliedstaaten durch nationale Behörden vollzogen wird194. Solche nationalen Vollzugsakte können nur vor nationalen Gerichten angegriffen werden, welche dann im Verfahren die Vereinbarkeit mit dem gesamten Europarecht sicherzustellen haben195. Auch im Übrigen muss jeder mitgliedstaatliche Richter angesichts des Vorrangs des Europarechts vor nationalem Recht stets das unmittelbar anwendbare Unionsrecht bedenken. Dies betrifft einen großen Teil des Europarechts; neben zahlreichen Bestimmungen der Primärverträge EUV und AEUV (insbesondere den Grundfreiheiten), denen der EuGH unmittelbare Wirkung zuerkannt hat, gelten vom Sekundärrecht insbesondere Verordnungen (Art. 288 Abs. 2 AEUV, ex-Art. 249 Abs.  2 EGV), Beschlüsse (Art.  288 Abs.  4 AEUV, ehemals Entscheidungen nach ex-Art. 249 Abs.  4 EGV) und unter bestimmten Voraus­ setzungen auch Richtlinien (Art. 288 Abs. 3 AEUV, ex-Art. 249 Abs. 3 EGV) ohne weiteren nationalen Vollzugsakt196. Stellen sich in einem nationalen Verfahren entscheidungserhebliche Fragen zur Auslegung oder Gültigkeit von EU-Recht, sieht der AEUV in Art. 267 (ex-Art. 234 EGV197) die Möglichkeit vor, in einem indirekten Klageverfahren ein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH zu stellen. Schließlich kann die Auslegung und Anwendung des Rechts der Europäischen Union einige Schwierigkeiten bereiten: Insbesondere das sekundäre Unionsrecht ist des Öfteren in einem schwer zu durchdringenden Stil geschrieben; hinzu kommt die gleiche Verbindlichkeit der Rechtsakte in allen Amtssprachen und Rechtsordnungen der Europäischen Union, so dass bei der Auslegung und Fortentwicklung des Rechts die Unterschiede zwischen den jeweiligen Sprachfassungen und mitgliedstaatlichen Rechtssystemen berücksichtigt werden müssen. Der spezialisierte Europäische Gerichtshof verfügt bei der Lösung dieser Probleme über umfangreichere Kompetenzen und Ressourcen als ein nationales Gericht, da er von einem eigenen wissenschaftlichen Dienst unterstützt wird, der in der Lage ist, auf Anfrage der Richter in verhältnismäßig kurzer Zeit rechtsvergleichende Analysen vorzubereiten. Die unionsrechtliche Vorlagefrage wird dann vom Gerichtshof losgelöst vom kon­kreten Ausgangsfall 194

Thiele, Europäisches Prozessrecht, § 2 Rn. 58 ff.; Streinz, Europarecht, Rn. 649 f.; Pechstein, EU-/EG-Prozessrecht, Rn. 780 ff. 195 Insofern kann man die staatlichen Gerichte auch als „funktionale Unionsgerichte“ bezeichnen, vgl. statt aller Pechstein, EU-/EG-Prozessrecht, Rn. 780 f.; Thiele, Europäisches Prozessrecht, § 2 Rn. 58. Auch der EuGH hat diese Funktion der mitgliedstaatlichen Gerichte bereits im Urt. v. 9.3.1978 – Rs. 106/77, Slg. 1978, 629, Rn. 21 – Simmenthal umschrieben, in dem er feststellte „dass jeder im Rahmen seiner Zuständigkeit angerufene staatliche Richter verpflichtet ist, das [Unions]recht uneingeschränkt anzuwenden und die Rechte, die es den Einzelnen verleiht, zu schützen“. 196 Vgl. hierzu eingehend Gellermann, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Handbuch Rechtsschutz, § 33 Rn. 12 ff.; Streinz, Europarecht, Rn. 404 ff. – Zum Einfluss des Vorrangs des Europarechts auf das nationale Strafrecht ausführlich im Zweiten Teil unter D. I. 4. a). 197 Bzw. Art. 150 EAGV. – Mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon ist die in exArt. 35 EUV befindliche Kompetenz für Vorabentscheidungsverfahren bezüglich der polizei­ lichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen (PJZS) in der allgemeinen Vorschrift des Art. 267 AEUV aufgegangen; vgl. dazu sogleich in diesem Ersten Teil, E. I. unter 3.

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1. Teil: Begriffsklärung und Problemdarstellung

entschieden. Insofern ähnelt das Vorabentscheidungsverfahren als Inzidentverfahren im deutschen Recht der konkreten Normenkontrolle zum Bundesverfassungsgericht gemäß Art. 100 Abs. 1 GG198. 1. Bedeutung und Dauer von Vorabentscheidungsverfahren Das Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV hat im Laufe der Zeit eine immer wichtigere und umfänglichere Bedeutung gewonnen. Die Zahl der anhängigen Vorabentscheidungsverfahren ist stetig gestiegen; im Jahr 2010 betrug sie 385, was über die Hälfte der beim Gerichtshof eingehenden Rechtssachen ausmacht199. 71 davon und damit die meisten Vorabentscheidungsersuchen stammen aus Deutschland; auch in der Gesamtstatistik seit Bestehen des EuGH nimmt Deutschland mit 1802 von 7005 Anfragen an den Gerichtshof den Spitzenplatz ein. „Vorlagefreudigstes“ Bundesgericht ist der Bundesfinanzhof mit 272  Ersuchen, gefolgt vom Bundesgerichtshof mit 130 Vorlagen. Der eindeutig überwiegende Teil  der Vorabentscheidungsersuchen (1202) wird jedoch von den unter­ instanzlichen Gerichten anhängig gemacht, denen gerade keine Vorlagepflicht wie den letztinstanzlichen Gerichten obliegt200. Bei so gut wie allen vor dem EuGH verhandelten Fällen mit strafrechtlichem Bezug handelt es sich ebenfalls um Vorabentscheidungsverfahren201. Dabei betreffen die meisten Vorlageersuchen der deutschen Strafgerichte Fragen zum materiellen Strafrecht202, da die nationalen Straf- und Bußgeldbestimmungen immer häufiger direkt oder indirekt europäischen Einflüssen unterliegen. Dadurch können sich etwa Fragen ergeben zur Anwendbarkeit oder unionsrechtskonformen Auslegung deutscher Strafnormen, um eine Kollision mit unmittelbar anwend­barem Primär- oder Sekundärrecht zu vermeiden, oder zur Gültigkeit bzw. Aus­legung einer Verordnung, auf die ein deutsches Blankettstrafgesetz verweist. Immer häufiger werden jedoch auch Fragen zum Strafverfahrensrecht vorgelegt203. Denkbar ist diesbezüglich ein Konflikt einer innerstaatlichen Verfahrensnorm mit den europäischen Grundrechten, dem allgemeinen Diskriminierungsverbot aus Art. 18 AEUV (ex-Art. 12 EGV), den primärrechtlichen Grundfreiheiten oder sogar mit (ausnahmsweise) unmittelbar anwendbarem Richtlinienrecht. Ebenso wie die Zahl der Vorabentscheidungsverfahren stieg auch die durchschnittliche Erledigungsdauer kontinuierlich bis zum Jahr 2003 an, in dem sie 198

Everling, Vorabentscheidungsverfahren, S. 14 f.; Lieber, Vorlagepflicht, S. 25 ff.; Thiele, Europäisches Prozessrecht, § 9 Rn. 2 Fn. 5. 199 Siehe EuGH, Jahresbericht 2010, S. 90. 200 EuGH, Jahresbericht 2010, S. 111. 201 Zu Beispielen ausführlich im Zweiten Teil, D. I. 202 Vgl. dazu Hecker, Europäisches Strafrecht, § 6 Rn. 8; Jokisch, Gemeinschaftsrecht und Strafverfahren, S. 176 f.; Satzger, Europäisierung, S. 662; Hugger, in: Ahlbrecht u. a., Internationales Strafrecht, Rn. 564. 203 Jokisch, Gemeinschaftsrecht und Strafverfahren, S. 177 m. w. N.

E. Spannungsverhältnis Vorabentscheidung / Beschleunigungsgebot

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sehr bedenkliche 25,5 Monate betrug204. Bis 2008 konnte die Verfahrensdauer im Durchschnitt zwar auf 16,8 Monate gesenkt werden (2007 lag sie bei 19,3 Monaten, 2006 bei 19,8 Monaten)205. Im Jahr 2009 ist die durchschnittliche Er­ ledigungsdauer allerdings wieder angestiegen; die Beantwortung eines Vorabent­ scheidungsersuchens benötigte nun im Schnitt 17,1 Monate, damit fast anderthalb Jahre206. Im Jahr 2010 indes ist die Durchschnittsdauer auf 16,1 Monate zurückgegangen.207 Angesichts der steigenden Tendenz der noch anhängigen und darüber hinaus eingehenden Vorabentscheidungs­ersuchen208 ist – ohne weitere Beschleunigungsmaßnahmen – hingegen nicht mit einer Reduktion der durchschnittlichen Verfahrensdauer zu rechnen209. 2. Funktionen des Vorabentscheidungsverfahrens Wegen des überwiegend indirekten Vollzugs des Unionsrechts und des daraus resultierenden dezentralen Rechtsschutzsystems besteht die Gefahr, dass jeder Adressat des Europarechts – insbesondere die nationalen Gerichte – dieses auf seine Weise auslegt und anwendet, so dass der unionsrechtliche Charakter der Normen verloren geht. Primäre Funktion des Vor­abentscheidungsverfahrens ist es deshalb, diese drohende Rechtszersplitterung zu verhindern und eine einheitliche Auslegung und gleichmäßige Anwendung des gesamten Unionsrechts in allen Mitgliedstaaten sicherzustellen210. So betont auch der Gerichtshof selbst immer wieder: 204

EuGH, Jahresbericht 2003, S. 238. EuGH, Jahresbericht 2008, S. 100. – Dieser Reduktion lag eine effizientere Arbeitsweise und die Nutzung der verschiedenen Möglichkeiten der Beschleunigung des Verfahrens zugrunde, insbesondere des Eilvorlageverfahrens, der Entscheidung mit Vorrang, des beschleunigten Verfahrens, des vereinfachten Verfahrens und der Entscheidung ohne Schlussanträge des Generalanwalts, vgl. EuGH, Jahresbericht 2008, S.  10. Zu diesen Beschleunigungsmöglich­ keiten ausführlich unten im Zweiten Teil. 206 EuGH, Jahresbericht 2009, S.  98.  – Auch die Dauer der Klageverfahren ist wieder angestiegen (von 16,9 Monaten in 2008 auf 17,1 Monate in 2009), während bei der Dauer von Rechtsmittelverfahren eine Reduktion um drei Monate auf durchschnittlich 15,4 Monate erreicht werden konnte. 207 EuGH, Jahresbericht 2010, S. 102. 208 Vgl. die Übersicht bei EuGH, Jahresbericht 2010, S. 89, 109 f. 209 Siehe nur Skouris, EuGRZ 2008, 343, 346 f.; ausführlich zum zu erwartenden Arbeits­ anstieg beim EuGH unten im Dritten Teil unter B. III. 2. – Rennert, EuGRZ 2008, 385, 389 meint etwa: „Selbst wenn der EuGH keinerlei Rückstände hätte und jedes Vorabentscheidungsverfahren innerhalb kürzester Zeit erledigen könnte, würde dennoch jeder Rechtsstreit um wenigstens 18 Monate verlängert.“ 210 Everling, Vorabentscheidungsverfahren, S.  16 f.; Schima, Vorabentscheidungsverfahren, S.  3 f.; Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Handbuch Rechtsschutz, § 10 Rn.  6; Thiele, Europäisches Prozessrecht, § 9 Rn.  2; Pechstein, EU-/EG-Prozessrecht, Rn.  777 ff.; Karpenstein, in: Grabitz/Hilf, REU, Art.  234 EGV Rn.  2.  – Bei Gültigkeitsvorlagen kommt (ähnlich dem Verfahren der konkreten Normenkontrolle zum BVerfG nach Art. 100 Abs. 1 GG) noch eine weitere Funktion hinzu, nämlich der Schutz der Autorität des Unionsgesetzgebers, indem das Recht zur Verwerfung von Unionsrechtsakten beim höchsten europäischen Gericht zentralisiert wird, vgl. Rennert, EuGRZ 2008, 385, 386. 205

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1. Teil: Begriffsklärung und Problemdarstellung „Art. 177 [EGV a. F., nunmehr Art. 267 AEUV] ist von entscheidender Bedeutung dafür, dass das vom Vertrag geschaffene Recht wirklich gemeinsames bleibt, er soll gewährleisten, dass dieses Recht in allen Mitgliedstaaten der [Union] immer die gleiche Wirkung hat. Auf diese Weise soll er unterschiedliche Auslegungen des [Unions]rechts verhindern, das die nationalen Gerichte anzuwenden haben.“211

Indem das Vorabentscheidungsverfahren den nationalen Gerichten eine Hilfe bei der Beantwortung der teilweise schwierigen europarechtlichen Fragen zur Verfügung stellt, unterstützt es die Verzahnung zwischen dem Unionsrecht und den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen und trägt damit entscheidend zur Wahrung der unionsweiten Rechtseinheit bei212. Daneben bietet das Vorabentscheidungsverfahren den Luxemburger Richtern die Möglichkeit, die zuweilen nur rudimentären Regelungen der Verträge weiterzuentwickeln213. Vielen für die Fortentwicklung des Europarechts bedeutsamen Entscheidungen lag ein Vorabentscheidungsverfahren zugrunde: Die Grundsätze des Vorrangs des EU-Rechts vor nationalem Recht214, die unmittelbare Wirkung und Anwendbarkeit des Primärrechts und besonders von Richtlinien215 sowie der Staatshaftungsanspruch aus Europarecht216 sind etwa heute allgemein anerkannt. Diese objektivrechtlichen Funktionen des Vorabentscheidungsverfahrens werden durch eine individualschützende Funktion ergänzt217: Die Unionsbürger können sich gegen mit­gliedstaatliche Verstöße gegen subjektive Rechte begründendes Europarecht vor den nationalen Gerichten wehren, die wiederum vorlageberechtigt an den EuGH sind218. Wenngleich der Einzelne keinen Anspruch auf die Ein­leitung 211

Siehe nur EuGH, Urt. v. 16.1.1974 – Rs. 166/73, Slg. 1974, 33, Rn. 2 – Rheinmühlen. Das Vorabentscheidungsverfahren wird deshalb regelmäßig als „Eckpfeiler“ des Gerichtssystems der Europäischen Union (siehe nur Schwarze, in: ders., EU-Komm, Art.  234 EGV Rn. 5) oder als „Schlussstein des gesamten Rechtsschutzgebäudes“ der EU bezeichnet (Lieber, Vorlagepflicht, S. 14; Dauses, Vorabentscheidungsverfahren, S. 50). Vgl. auch Grabenwarter, EuR 2003, Beiheft 1, 55, 68: „Die Erfolgsgeschichte der Europäischen Union ist […] mit dem Vorabentscheidungsverfahren aufs Engste verknüpft und als Instrument der Rechtswahrung und -fortentwicklung heute weitgehend unbestritten.“ 213 Everling, Vorabentscheidungsverfahren, S. 17 f.; Pechstein, EU-/EG-Prozessrecht, Rn. 784; Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Handbuch Rechtsschutz, § 10 Rn.  7; Thiele, Europäisches Prozessrecht, § 9 Rn. 3. 214 EuGH, Urt. v. 15.7.1964 – Rs. 6/64, Slg. 1964, 1253 – Costa/ENEL; Urt. v. 5.2.1963 – Rs. 26/62, Slg. 1963, 1 – Van Gend en Loos. 215 EuGH, Urt. v. 5.2.1963 – Rs. 26/62, Slg. 1963, 1 – Van Gend en Loos; Urt. v. 5.4.1979 – Rs. 148/78, Slg. 1979, 1629 – Ratti; Urt. v. 19.1.1982 – Rs. 8/81, Slg. 1982, 53 – Becker; Urt. v. 26.2.1986 – Rs. 152/84, Slg. 1986, 723 – Marshall. 216 EuGH, Urt. v. 19.11.1991 – Rs. C-6/90 und C-9/90, Slg. 1991, I-5357 – Francovich; Urt. v. 30.9.2003 – Rs. C-224/01, Slg. 2003, I-10239 – Köbler. 217 Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Handbuch Rechtsschutz, § 10 Rn. 8; Pechstein, EU-/EG-Prozessrecht, Rn. 783; Thiele, Europäisches Prozessrecht, § 9 Rn. 5. 218 Dieser Rechtsschutz ist zwar indirekt, allerdings steht den natürlichen und juristischen Personen sonst überhaupt kein unmittelbares Klagerecht gegen Rechtsakte der EU zu – ausgenommen Beschlüsse gemäß Art. 288 Abs. 4 AEUV (früher Entscheidungen, ex-Art. 249 Abs. 4 EGV), gegen die nach Art.  263 Abs.  4 AEUV (ex-Art. 230 Abs.  4 EGV) die Nichtigkeits 212

E. Spannungsverhältnis Vorabentscheidung / Beschleunigungsgebot

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eines Vorabentscheidungsersuchens hat, so hat doch das Bundesverfassungsgericht die Vorlage an den EuGH zumindest in den Fällen einer Vorlagepflicht bewehrt, indem es das Luxemburger Gericht als „gesetzlichen Richter“ im Sinne von Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG klassifiziert und damit bei einem Verstoß gegen die Vor­ lagepflicht die Verfassungsbeschwerde eröffnet hat219. 3. Zuständigkeiten des Gerichtshofs der Europäischen Union bezüglich Vorabentscheidungs­verfahren Sachlich besitzt der EuGH derzeit noch die ausschließliche Zuständigkeit für Vorabentscheidungsverfahren, obwohl seit der Vertragsnovellierung durch den Vertrag von Nizza Art.  256 Abs.  3 AEUV (ex-Art. 225 Abs.  3 EGV) die Möglichkeit vorsieht, auch dem Gericht erster Instanz diesbezüglich bestimmte, in der EuGH-Satzung220 festzulegende Sachgebiete zur Judikation zu übertragen221. Mit dem Wegfall der Säulenstruktur durch den Vertrag von Lissabon ist der EuGH im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens nunmehr gemäß Art.  267 Abs. 1 AEUV grundsätzlich umfassend zuständig: „Der Gerichtshof der Europäischen Union entscheidet im Wege der Vorabentscheidung a) über die Auslegung der Verträge, b) über die Gültigkeit und die Auslegung der Handlungen der Organe, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Union.“222 klage gegeben ist. Dem Vorabentscheidungsverfahren kommt daher auch die Aufgabe zu, den eingeschränkten unmittelbaren Zugang zum EuGH auszugleichen, vgl. Skouris, EuGRZ 2008, 343. 219 Erstmals BVerfGE 75, 223, erforderlich ist dafür eine willkürliche Missachtung der Vorlagepflicht. Siehe näher dazu Gellermann, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Handbuch Rechtsschutz, § 35 Rn. 51 ff.; Roth, NVwZ 2009, 345 ff.; Thiele, Europäisches Prozessrecht, Rn. 78 ff. 220 Mit dem Begriff Satzung ist hier und im Folgenden das Protokoll Nr. 3 zum Vertrag von Lissabon über die Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union gemeint (ABl.EU 2010 Nr. C 83, S. 210). 221 Dazu ausführlich unten im Dritten Teil unter B. I. 2. 222 Eine Ausnahme gilt jedoch für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik nach Art. 24 Abs. 1 UAbs. 2 S. 6 EUV, die in Art. 275 AEUV wiederholt wird (vgl. dazu Everling, EuR 2009, Beiheft 1, 71, 78): „Der Gerichtshof der Europäischen Union ist in Bezug auf [die Bestimmungen zur Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik] nicht zuständig; hiervon ausgenommen ist die Kontrolle der Einhaltung des Artikels 40 dieses Vertrags und die Überwachung der Rechtmäßigkeit bestimmter Beschlüsse nach Artikel 275 Absatz 2 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union.“ Vgl. auch die partielle Einschränkung in Art. 276 AEUV: „Bei der Ausübung seiner Befugnisse im Rahmen der Bestimmungen des Dritten Teils Titel V Kapitel 4 und 5 über den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ist der Gerichtshof der Europäischen Union nicht zuständig für die Überprüfung der Gültigkeit oder Verhältnismäßigkeit von Maßnahmen der Polizei oder anderer Strafverfolgungsbehörden

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1. Teil: Begriffsklärung und Problemdarstellung

Vor Dezember 2009 waren die Zuständigkeiten des Europäischen Gerichtshofs differenzierter geregelt. Da die bisherigen Restriktionen für zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Vertrags von Lissabon bereits geltende Sekundärrechtsakte übergangsweise noch bis Ende November 2014 wirksam bleiben223, soll kurz die ehemalige Regelung dargestellt werden: Als Organ der einzig rechtlich selbstständigen Europäischen Gemeinschaft war der EuGH auch im Rahmen des Vorabent­ scheidungsverfahrens gemäß ex-Art. 234 EGV grundsätzlich allein für die Wahrung des Rechts der sogenannten ersten Säule der EU (EG-Vertrag sowie die auf Kompetenznormen des EGV gestützten Sekundärrechtsakte, d. h. insbesondere Verordnungen und Richtlinien) zuständig. Auslegungsfragen betreffend die zweite oder dritte Säule – und damit auch betreffend die das nationale Strafrecht besonders beein­flussende polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – konnten deshalb nur dann dem EuGH vorgelegt werden, wenn die Mitgliedstaaten ihm im Primärrecht ausdrücklich die Rechtsprechungskompetenz übertragen hatten, wie dies durch ex-Art. 46 lit. b), 35 EUV für die PJZS geschehen ist. ex-Art. 35 EUV listete seit dem Amsterdamer Vertrag die Zuständigkeit des Gerichtshofs für Vorabentscheidungsersuchen über die Gültigkeit und Auslegung der Rahmenbeschlüsse und Beschlüsse, sowie über die Auslegung der Übereinkommen über die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen und über die Gültigkeit und Auslegung der dazugehörigen Durchführungsmaßnahmen auf224. Die Zuständigkeit zur Entscheidung über die im Rahmen der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen ergangenen Rechtsakte war – und ist es auch weiterhin – jedoch von der Anerkennungserklärung eines jeden EU-Mitgliedstaats abhängig. Darin kann bestimmt werden, ob entsprechend ex-Art. 35 Abs. 3 lit. a) EUV lediglich die nationalen Gerichte, deren Entscheidungen nicht mehr mit innerstaatlichen Rechtsmitteln angegriffen werden können, vorlageberechtigt sein sollen, oder ob eine Vorlage nach ex-Art. 35 Abs. 3 lit. b) EUV allen Gerichten gestattet ist. Nur im letzten Fall besteht kein Unterschied zu dem Vorabentscheidungsverfahren in der ersten Säule nach ex-Art. 234 EGV eines Mitgliedstaats oder der Wahrnehmung der Zuständigkeiten der Mit­gliedstaaten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit.“ Für den EAGV findet sich die Kompetenznorm betreffend Vorabentscheidungsverfahren in Art. 150. 223 Siehe Art. 10 des Protokolls Nr. 36 zum Vertrag von Lissabon über die Übergangsbestimmungen, ABl.EU 2010 Nr. C 83, S. 322, 325 f. 224 Für die mit dem Vertrag von Amsterdam (in Kraft getreten am 1.5.1999) vergemeinschafteten Bereiche Visa, Asyl, Einwanderung und andere Politiken betreffend den freien Personenverkehr (ex-Titel IV EGV) enthielt ex-Art. 68 EGV eine Sonderregelung bezüglich der Vorlageberechtigung: Nur einzelstaatliche Gerichte, deren Entscheidungen nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden konnten, waren zur Vorlage von diesen Titel betreffenden Fragen – soweit es sich nicht um Maßnahmen handelte, die die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit nach exArt.  62 Abs.  1 EGV betrafen  – berechtigt und dann auch verpflichtet. Zu dieser Regelung, die eine Überlastung des EuGH mit asylrechtlichen Verfahren verhindern sollte, kritisch Heß, RabelsZ 2002, 470, 488 ff.; Pechstein, EU-/EG-Prozessrecht, Rn. 828.

E. Spannungsverhältnis Vorabentscheidung / Beschleunigungsgebot

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(jetzt Art.  267 AEUV). Angesichts der Funktion des Vorabentscheidungsverfahrens, die Wahrung der Rechtseinheit sicherzustellen, war diese Fakultativklausel bedenklich225 und ist deshalb auch mit dem Vertrag von Lissabon entfallen. So haben denn auch nur 19 der 27 Mitgliedstaaten die Zuständigkeit des EuGH an­ erkannt; Spanien beschränkte sie aber auf letztinstanzliche Gerichte226. 4. Vorlagepflicht und Ausnahmen Im Zusammenhang mit der erheblichen Verlängerung des nationalen Strafverfahrens durch die Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens ist es für die Gerichte insbesondere interessant zu wissen, wann sie zu einer Vorlage an den EuGH verpflichtet sind227. Grundsätzlich geht Art. 267 Abs. 2 AEUV – wie ex-Art. 234 Abs. 2 EGV – davon aus, dass die Einschaltung des EuGH im Ermessen der mit 225 So auch Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Handbuch Rechtsschutz, § 10 Rn. 36; Herrnfeld, in: Schwarze, EU-Komm, Art. 46 EUV Rn. 7, wenngleich sie dem inter­ gouvernementalen, auf Zusammenarbeit angewiesenen Charakter der dritten Säule entsprach. 226 Vgl. die Auflistung in ABl.EU 2010 Nr.  L 56, S.  14 (Stand: März 2010); dazu nochmals unten im Zweiten Teil unter D. II. – Deutschland hat von der opt-in-Möglichkeit mit dem EuGH-Gesetz („Gesetz betreffend die Anrufung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens auf dem Gebiet der polizeilichen Zusammenarbeit und der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen nach Art. 35 des EU-Vertrags“, BGBl. 1998, I-2035) umfassend Gebrauch gemacht, so dass für die Bundesrepu­blik bezüglich jeglichen Unionsrechts die Regelung des ex-Art. 234 EGV Anwendung fand und findet. 227 Die Zulässigkeit eines Vorabentscheidungsverfahrens hängt nach Art.  267 AEUV von folgenden Voraussetzungen ab (vgl. ausführlich dazu Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Handbuch Rechtsschutz, § 10 Rn.  16 ff.; Thiele, Europäisches Prozessrecht, § 9 Rn. 6 ff.): 1. Vorlageberechtigung  – nur mitgliedstaatliche Gerichte sind vorlageberechtigt; die Staats­ anwaltschaft ist mangels Unabhängigkeit z. B. kein Gericht (siehe dazu Hugger, in: Ahlbrecht u. a., Internationales Strafrecht, Rn. 565 ff.); 2. zulässige Vorlagefrage hinsichtlich Gegenstand (siehe Art. 267 Abs. 1 lit. a) und b) AEUV) und Inhalt (Auslegung oder Gültigkeit); 3. Entscheidungserheblichkeit der Lösung der Vorlagefrage für das zu treffende Verdikt des mitgliedstaatlichen Gerichts – diese beurteilt sich grundsätzlich aus nationaler Sicht, wenn die Vorlagefrage nicht aus­nahmsweise offensichtlich in keinem Zusammenhang mit dem Sachverhalt oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht oder einen rein hypothetischen Fall betrifft (vgl. zusammengefasst in EuGH, Urt. v. 13.3.2001 – Rs. C-379/98, Slg. 2001, I-2099, Rn. 38 f. – Preußen Elektra); 4. Vorlagerecht / Vorlagepflicht des ersuchenden Gerichts. In der Praxis wenden sich weit überwiegend die unterinstanzlichen und nicht vorlagepflichtigen Gerichte an den EuGH (zu der genauen Verteilung siehe bereits oben in diesem Ersten Teil, E. I. unter 1.). Die obersten Gerichte zeigen – trotz bestehender Pflicht zur Vorlage – keine ausgeprägte Vorlagefreudigkeit, sondern berufen sich entweder auf mangelnde Entscheidungserheblichkeit oder auf die Acte-clair-Ausnahme (dazu so­gleich), vgl. Vogel, in: Volk, Münchener Anwaltshandbuch, § 14 Rn. 102; Schima, Vorabentscheidungsverfahren, S. 60; Thiele, Europäisches Prozessrecht, § 9 Rn. 48.

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1. Teil: Begriffsklärung und Problemdarstellung

gliedstaatlichen Gerichte steht, d. h., dass das mit einer europarechtlichen Frage konfrontierte Gericht sie auch selbst entscheiden kann228: „Wird eine [Frage über die Auslegung oder Gültigkeit von Unionsrecht] einem Gericht eines Mitgliedstaats gestellt und hält dieses Gericht eine Entscheidung darüber zum Erlass seines Urteils für erforderlich, so kann es diese Frage dem Gerichtshof zur Entscheidung vorlegen.“229

In zwei Fällen jedoch reduziert sich das Ermessen der Gerichte auf Null, so dass sich das Vorlagerecht in eine Vorlagepflicht umwandelt. Dies betrifft zum einen letztinstanzliche Gerichte, wie es Art. 267 Abs. 3 AEUV nach wie vor ausdrücklich vorsieht: „Wird eine [Frage über die Auslegung oder Gültigkeit von Unionsrecht] in einem schwebenden Verfahren bei einem einzelstaatlichen Gericht gestellt, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, so ist dieses Gericht zur Anrufung des Gerichtshofes verpflichtet.“230

Dem Sinn und Zweck der Regelung entsprechend hat der EuGH Art. 267 Abs. 3 AEUV dahingehend ausgelegt, dass nicht nur die prinzipiell letztinstanzlichen Gerichte vorlagepflichtig sind (für Deutschland wären das nach dieser sogenannten abstrakten oder formellen Betrachtungsweise die obersten Bundesgerichte), sondern jedes im konkreten Fall letztentscheidende Gericht (und mit dieser sogenannten konkreten oder materiellen Betrachtungsweise gegebenenfalls auch Ausgangsund Obergerichte)231: „Diese Verpflichtung soll insbesondere verhindern, dass sich in einem Mitgliedstaat eine nationale Rechtsprechung herausbildet, die nicht mit den Vorschriften des [Unions]rechts in Einklang steht […]. Dieses Ziel ist erreicht, wenn die obersten Gerichte (Urteil Parfums Christian Dior) und alle Gerichte, deren Entscheidungen nicht mehr mit Rechtsmitteln angegriffen werden können (Urteil [Da Costa…])  – mit den vom Gerichtshof zugelassenen Einschränkungen (Urteil CILFIT u. a.) – der Vorlagepflicht unterliegen.“

Zum anderen hat der Gerichtshof eine Vorlageverpflichtung für alle mitgliedstaatlichen Gerichte unabhängig von der jeweiligen Instanz entwickelt, wenn sie einen sekundären Unionsrechtsakt unangewendet lassen wollen, weil sie an dessen Gültigkeit zweifeln232. Könnte jedes nationale Gericht selbstständig über die 228

Thiele, Europäisches Prozessrecht, § 9 Rn.  44; Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Handbuch Rechtsschutz, § 10 Rn. 53. 229 Hervorhebung von Verf. 230 Hervorhebung von Verf. 231 St. Rspr., vgl. nur EuGH, Urt. v. 4.6.2002 – Rs. C-99/00, Slg. 2002, I-4839, Rn. 14 f. – Lyckeskog; ausführlich zu den Argumenten für beide Seiten Thiele, Europäisches Prozessrecht, § 9 Rn. 60 ff. 232 Grundlegend EuGH, Urt. v. 22.10.1987 – Rs. 314/85, Slg. 1987, 4199 – Foto-Frost. – Anders als im vergleichbaren Fall der konkreten Normenkontrolle zum Bundesverfassungsgericht nach Art. 100 Abs. 1 GG, wo die feste Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit der vor-

E. Spannungsverhältnis Vorabentscheidung / Beschleunigungsgebot

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Geltung des sekundären Europarechts urteilen, wäre die Rechtssicherheit und Rechtseinheit innerhalb der Union empfindlich gefährdet. Ein solches „Verwerfungsmonopol“ des EuGH ist zwar primärrechtlich nicht vorgesehen, ergibt sich aber teleologisch aus der Notwendigkeit zur gleichmäßigen und einheitlichen Anwendung des Unionsrechts in allen Mitgliedstaaten und lässt sich systematisch aus einer Zusammenschau von Art. 263 und 277 AEUV (ex-Art. 230 und 241 EGV) schließen. Stellen sich Gültigkeitsfragen im einstweiligen Rechtsschutz, so darf ein nationales Gericht das auf einem Unionsrechtsakt beruhende Rechtsverhältnis unter engen Voraussetzungen selbst vorläufig gestalten, muss dann aber die in Frage stehende Unionsrechtshandlung dem EuGH zur endgültigen Entscheidung vorlegen233. Während die Verpflichtung zur Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens bei Gültigkeitszweifeln hinsichtlich sekundären Unionsrechts ausnahmslos gilt234, kann die Vorlagepflicht der letztinstanzlichen Gerichte nach Art.  267 Abs. 3 AEUV unter bestimmten Umständen wieder entfallen und sich in ein bloßes Vorlagerecht zurückwandeln. Dies betrifft einerseits den Fall, dass die fragliche europarecht­liche Konstellation bereits durch die europäischen Gerichte entschieden wurde235. Die Problemstellung muss dabei weder vollkommen identisch mit der im Präzedenzfall sein, noch muss es sich um ein Vorabentscheidungsverfahren gehandelt haben. An diese Rechtsprechung anknüpfend geht das Bundesverwaltungsgericht aus Gründen der Prozessökonomie davon aus, dass eine Vorlage auch dann entbehrlich ist, wenn die umstrittene europarechtliche Frage­ stellung bereits Gegenstand eines in Luxemburg anhängigen Verfahrens ist, sogelegten Norm vorausgesetzt wird, genügt zur Begründung der Vorlagepflicht zum EuGH das Bestehen bloßer Zweifel an der Gültigkeit des Unionsrechtsakts; vgl. Middeke, in: Rengeling/ Middeke/Gellermann, Handbuch Rechtsschutz, § 10 Rn. 54. 233 Nach den grundlegenden Entscheidungen des EuGH in Urt. v. 21.2.1991 – Rs. C-143/88 und C-92/89, Slg.  1991, I-415, Rn.  14 ff.  – Süderdithmarschen und Urt. v. 9.11.1995  – Rs. C-465/93, Slg. 1995, I-3761, Rn. 19 ff. – Atlanta darf jedes Gericht einen nationalen Hoheitsakt, der auf einem Unionsrechtsakt beruht, vorläufig aussetzen, wenn 1. das Gericht im Ergebnis erhebliche Zweifel an der Gültigkeit des Unionsrechts hat, 2. eine Entscheidung notwendig ist, um dem Antragsteller einen schweren und nicht wiedergutzumachenden Schaden zu ersparen, 3. das Gericht das Unionsinteresse an einer einheitlichen Anwendung des Unionsrechts hinreichend berücksichtigt hat, 4. das Gericht zudem bei der Prüfung dieser Voraussetzungen die Unionsrechtsprechung zur Rechtmäßigkeit des jeweiligen Rechtsakts gebührend berücksichtigt und 5. der betreffende Sekundärrechtsakt dem EuGH gleichzeitig zur Vorabentscheidung vorgelegt wird. Ausführlich zu dieser Ausnahme im Dritten Teil unter D. I. 2. a). 234 Dies hat der EuGH ausdrücklich auch für den Fall einer möglichen kürzeren Verfahrensdauer entschieden, vgl. EuGH, Urt. v. 6.12.2005 – Rs. C-461/03, Slg. 2005, I-10513, Rn. 23 – Gaston Schul. 235 EuGH, Urt. v. 27.3.1963 – Rs. 28–30/62, Slg. 1963, 63, 80 f. – Da Costa; Urt. v. 6.10.1982 – Rs. 283/81, Slg. 1982, 3415, Rn. 13 f. – CILFIT; vgl. als Beispielsfall dieser Rechtsprechung BGHSt 33, 76, 78.

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1. Teil: Begriffsklärung und Problemdarstellung

fern der nationale Prozess bis zur Entscheidung des EuGH ausgesetzt wird236. Andererseits hat der EuGH auch eine aus dem französischen Recht stammende Rechtskonstruktion in engen Grenzen für das Europarecht übernommen: Danach entfällt die Vorlagepflicht, „wenn die richtige Anwendung des [Unions]rechts derart offenkundig ist, dass keinerlei Raum für vernünftige Zweifel an der Entscheidung der gestellten Frage bleibt“ (sogenannte Acte-clair-Doktrin bzw. ­CILFIT-Rechtsprechung)237. Um eventuelle Missbrauchsmöglichkeiten zu verhindern, knüpft der Gerichtshof diese Ausnahme indes an einen möglichst objektiven Offensichtlichkeitsbegriff. Um sich auf die Acte-clair-Doktrin berufen zu können, muss der nationale Richter die Überzeugung gewinnen, dass sowohl der EuGH als auch alle Gerichte der anderen Mitgliedstaaten die europarechtliche Frage in derselben Weise beantworten würden; dabei hat er die Eigenheiten und Schwierigkeiten der Auslegung des Unionsrechts (mehrere gleich verbindliche Sprachfassungen, eigenständige Terminologie und Rechtsbegrifflichkeit, die von den verschiedenen nationalen Begrifflichkeiten abweichen kann, Gesamtzusammenhang und Entwicklungsstand des Europarechts) und die aus der selbstständigen Entscheidung resultierende Gefahr divergierender Gerichtsentscheidungen in den Mitgliedstaaten angemessen zu berücksichtigen238. Angesichts dieser engen Voraussetzungen – man bedenke nur die verschiedenen Rechtssysteme innerhalb der Europäischen Union – scheint nur in seltenen Fällen die richtige Anwendung des Unionsrechts offensichtlich zu sein. Deshalb wird die Acte-clair-Doktrin in der Literatur teilweise als zu eng und mithin kaum praxistauglich angesehen239 – auf der anderen Seite berufen sich die mitgliedstaat­lichen Gerichte schon heutzutage vergleichsweise häufig auf die als Ausnahme von der Vorlagepflicht konzipierte Offensichtlichkeit der Antwort, um von einem Er­suchen an den Gerichtshof absehen zu können240. Die Verletzung der Vorlagepflicht kann sowohl europarechtlich, völkerrechtlich als auch innerstaatlich in Deutschland sanktioniert werden241: Ein Verstoß kann von der Kommission in einem Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258 AEUV 236

BVerwGE 112, 166; siehe auch Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Handbuch Rechtsschutz, § 10 Rn. 62. 237 EuGH, Urt. v. 6.10.1982 – Rs. 283/81, Slg. 1982, 3415, Rn. 16 – CILFIT; vgl. zur Übernahme dieser Kon­struktion in die deutsche Strafrechtsprechung BGHSt 48, 52, 65 f.; 48, 108, 117; NStZ 2010, 30, 32; LG Hannover, NStZ-RR 2004, 378, 380. 238 EuGH, Urt. v. 6.10.1982 – Rs. 283/81, Slg. 1982, 3415, Rn. 16 ff. – CILFIT. 239 Vgl. hier nur Hummert, Acte-clair-Doktrin; Heß, RabelsZ 2002, 470, 493 f.; Middeke, in: Rengeling/Midde­ke/Gellermann, Handbuch Rechtsschutz, § 10 Rn. 63. – Eingehend zur Acteclair-Doktrin unten im Dritten Teil, C. III. 240 Vgl. Vogel, in: Volk, Münchener Anwaltshandbuch, § 14 Rn. 102; Karpenstein, Praxis des EG-Rechts, Rn. 360; Thiele, Europäisches Prozessrecht, § 9 Rn. 72; Hummert, Acte-Clair-Doktrin, S. 40 ff. sowie unten im Dritten Teil, C. III. 2. – Oftmals berufen sich letztinstanzliche Gerichte auch auf die – angeblich – mangelnde Entscheidungserheblichkeit einer Vorlagefrage, vgl. Thiele, Europäisches Prozessrecht, § 9 Rn. 68 und als Beispiel BGHSt 45, 123, 129. 241 Siehe ausführlich dazu Hummert, Acte-Clair-Doktrin, S. 46 ff.; Kokott/Henze/Sobotta, JZ 2006, 633, 635 ff.

E. Spannungsverhältnis Vorabentscheidung / Beschleunigungsgebot

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(ex-Art. 226 EGV) gerügt werden und bei einem hinreichend qualifizierten Verstoß sogar zu einem unionsrechtlichen Staatshaftungsanspruch führen. Bei willkürlicher Nichtvorlage kann der EGMR in Straßburg eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK feststellen242. In Deutschland schließlich hat das Bundesverfassungsgericht den EuGH als gesetzlichen Richter im Sinne von Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG anerkannt, so dass bei einem willkür­ lichen Verstoß gegen die Vorlageverpflichtung – in Form von grundsätzlicher Verkennung der Vorlagepflicht, bewusstem Abweichen von der Rechtsprechung des EuGH ohne Vorlagebereitschaft oder Unvollständigkeit der Rechtsprechung – die Verfassungsbeschwerde eröffnet ist. 5. Verfahren bei Vorabentscheidungsersuchen Das Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV ist ein Inzidentverfahren, welches einen Teil des vor dem mitgliedstaatlichen Gericht anhängigen gesamten Verfahrens bildet243. Ähnlich wie die konkrete Normenkontrolle zum deutschen Bundesverfassungsgericht nach Art. 100 Abs. 1 GG handelt es sich um ein objektives Feststellungsverfahren, bei dem der EuGH die vorgelegte europarechtliche Frage losgelöst vom konkreten Fall entscheidet, um die nationalen Gerichte bei der Auslegung und Anwendung des Unionsrechts zu unterstützen. Die Regelung des konkreten Ablaufs des Vorabentscheidungsverfahrens und andere Bestimmungen hinsichtlich der Organisation des Gerichtshofs finden sich ergänzend zu Art. 267 AEUV in den weiteren Kodifikationen des Europarechts244, um diesbezügliche Änderungen unabhängig von dem in Art. 357 AEUV (ex-Art. 313 EGV) normierten Ratifikationserfordernis durch alle Mitgliedstaaten vornehmen zu können. Die Satzung des EuGH, ins­besondere Art. 20 ff., enthält neben näheren Regelungen über den Aufbau des Gerichtshofs die grundsätzlichen Verfahrensbestimmungen245. Von der durch Art. 253 Abs. 6 S. 1 AEUV (ex-Art. 223 EGV) legi 242

EGMR, Entsch. v. 4.10.2001 – Nr. 60350/00 – Canela Santiago/Spanien; ähnlich bereits EKMR, Entsch. v. 28.6.1993 – Nr. 15669/89 – F. S. und N. S./Frankreich. 243 Lieber, Vorlagepflicht, S. 20 f.; Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Handbuch Rechtsschutz, § 10 Rn. 11; Seyr, Göttinger Online-Beiträge zum Europarecht Nr. 8, S. 7; Brück, Vorabentscheidungsverfahren, S. 37. 244 Die wichtigsten verfahrensrechtlichen Vorschriften für den Gerichtshof sind verfügbar unter . Dort finden sich neben der Satzung und der Verfahrensordnung des EuGH auch weitere Vorschriften, wie z. B. die Zusätzliche Verfahrensordnung und die Dienstanweisung für den Kanzler des EuGH, die gegebenenfalls von Bedeutung sein können. 245 Änderungen der Satzung des Gerichtshofs unterliegen gemäß Art. 51 EUV (ex-Art. 311 EGV) – die Satzung ist nach Art. 281 Abs. 1 AEUV (ex-Art. 245 Abs. 1 EGV) ein Protokoll zu den Primärverträgen – zwar grundsätzlich auch dem Ratifikationserfordernis des Art. 357 AEUV (ex-Art. 313 EGV); Art.  281 Abs.  2 AEUV ermöglicht jedoch eine flexiblere Vor­ gehensweise: Sofern es sich nicht um Anpassungen im Titel I (Stellung der Richter und Generalanwälte) oder Art. 64 der Satzung (Sprachenregime beim Gerichtshof) handelt, kann die

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1. Teil: Begriffsklärung und Problemdarstellung

timierten und vom Gerichtshof selbst erlassenen Verfahrensordnung des EuGH246 sind insbesondere die Art.  103 ff. speziell für das Vorabentscheidungs­verfahren von Bedeutung. Das Vorabentscheidungsverfahren wird durch den Eingang des Vorlagebeschlusses eines mitgliedstaatlichen Gerichts in der Kanzlei des Gerichtshofs eingeleitet. Welche Form und welchen Inhalt die nationale Vorlageentscheidung haben soll, ist unionsrechtlich ungeregelt und bleibt den Mitgliedstaaten überlassen. Deutsche Gerichte erlassen ihre Vorlageersuchen in Form eines Beschlusses, mit dem das nationale Verfahren in der Regel ausgesetzt wird247. Im Vorlageersuchen sollte neben der Vorlagefrage auch der Sachverhalt, der nationale und europarechtliche Rechtshintergrund, die Rechtsansichten der Parteien und möglichst auch die­jenige des vorlegenden Gerichts erläutert werden248. Nachdem die neue Rechtssache durch die Kanzlei in das Register eingetragen und im Amtsblatt der Europäischen Union gemäß Art.  16 § 6 VerfOEuGH mitgeteilt wurde, wird der

Satzung im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren (Art.  294 AEUV) durch das Europäische Parlament und den Rat geändert werden, sofern ein Antrag des Gerichtshofs oder der Kommission vorliegt. 246 Gemäß Art. 253 Abs. 6 S. 2 AEUV bedarf die Verfahrensordnung aber der Genehmigung des Rates, der darüber nach Art. 238 Abs. 1 AEUV mit der einfachen Mehrheit seiner Mitglieder entscheidet. – Kritisch zu diesem Genehmigungserfordernis Thiele, Europäisches Prozessrecht, § 2 Rn. 6. 247 Die Aussetzung erfolgt in zivilrechtlichen Verfahren in analoger Anwendung von § 148 ZPO, in verwaltungsrechtlichen Verfahren wird § 94 VwGO entsprechend herangezogen. Dass eine Aussetzung auch in Strafverfahren möglich ist, ist unbestritten; diskutiert wird lediglich die Frage, ob die Einleitung eines Vor­abentscheidungsverfahrens einen Aussetzungsgrund sui generis darstellt oder die Aussetzung auf eine analoge Anwendung des § 262 Abs. 2 StPO gestützt werden sollte. Siehe dazu Middeke und Dannecker, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Handbuch Rechtsschutz, § 10 Rn. 72 bzw. § 38 Rn. 45 m. w. N. und zu den abweichenden Ansichten; Jokisch, Gemeinschaftsrecht und Strafverfahren, S. 179 f. – Nach deutschem Recht ist eine direkte Beschwerde gegen Vorlagebeschlüsse nach Art. 267 AEUV nicht gegeben. Auch eine Anfechtbarkeit der analog zu den Aussetzungsvorschriften getroffenen Entscheidung mittels Beschwerde gemäß § 252 bzw. §§ 567 ff. ZPO, § 146 Abs. 1 VwGO oder § 304 StPO (entsprechend) wird von der h. M. wohl abgelehnt, vgl. Dannecker, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Handbuch Rechtsschutz, § 38 Rn. 56. Für Strafverfahren folge dies aus § 305 StPO, weil Vorlagebeschlüsse wegen ihres das Urteil vorbereitenden Charakters der Beschwerde entzogen seien. In diesem Bereich ist jedoch noch vieles umstritten, vgl. a. A. dazu Thiele, Europäisches Prozessrecht, § 9 Rn. 82 ff. m. w. N. und teilweise Hugger, in: Ahlbrecht u. a., Internationales Strafrecht, Rn. 585. 248 Zum weiteren Inhalt des Vorlagebeschlusses, der dem EuGH auch die Zulässigkeits­ prüfung – insbesondere die Erforderlichkeit betreffend – ermöglichen muss, siehe EuGH, Hinweise zur Vorlage von Vorabentscheidungsersuchen durch die nationalen Gerichte, ABl.EU 2009 Nr. C 297, S. 2 ff. und ausführlich Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Handbuch Rechtsschutz, § 10 Rn. 75 f.; Thiele, Europäisches Prozessrecht, § 9 Rn. 87 ff. Zwar besteht nach Art. 104 § 5 VerfOEuGH die Möglichkeit, das vorlegende Gericht jederzeit um Klarstellungen zu bitten, allerdings sollten diese Anforderungen angesichts der Überlastung des Gerichtshofs erfüllt werden, um nicht die „Nichtannahme“ bzw. Verwerfung des Vorabent­ scheidungsersuchens als unzulässig durch den EuGH zu riskieren.

E. Spannungsverhältnis Vorabentscheidung / Beschleunigungsgebot

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Vorlagebeschluss in alle anderen Amtssprachen der Union übersetzt249 und nach Art. 23 Abs. 1 S. 2 EuGH-Satzung den Parteien des Ausgangsverfahrens, den Mitgliedstaaten, der Kommission sowie den Organen, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Union zugestellt, von denen die Handlung, deren Auslegung oder Gültigkeit streitig ist, ausgegangen ist. Binnen zwei Monaten nach dieser Zustellung können die Beteiligten schriftliche Erklärungen beim Gerichtshof einreichen; damit ist der schriftliche Teil des Vorabentscheidungsverfahrens beendet (vgl. Art. 20 Abs. 2 EuGH-Satzung)250. Währenddessen weist der Präsident des Gerichtshofs die Rechtssache einer Dreier-Kammer zu und bestimmt aus deren Mitte einen Berichterstatter; der erste Generalanwalt wählt den zuständigen Generalanwalt aus251. Der Berichterstatter erstellt nach Eingang der schriftlichen Stellungnahmen zwei Berichte: Im Sitzungsbericht (sogenannter rapport d’au­dience), der auch den Parteien zugestellt wird und als Grundlage für die mündliche Verhandlung dient, werden der Sachund Streitstand wertungsfrei wiedergegeben. Der Vorbericht (sogenannter ­rapport préalable), enthält eine kurze Darstellung der Rechtssache und eine erste Einschätzung der ihr zugrunde liegenden Rechtsfragen. Außerdem äußert der Berichterstatter einen Vorschlag, welche Formation – Dreier-Kammer, Fünfer-Kammer, große Kammer mit 13 Richtern, Plenum mit sämtlichen Richtern (vgl. Art. 16 249

Der Übersetzungsdienst am Gerichtshof ist stets gut beschäftigt und sorgt naturgemäß für einen delai de traduction; im Jahr müssen ca. 720.000 Seiten übersetzt werden, vgl. Hakenberg/Schilhan, ZfRV 2008, 104, 109 f., insb. Fn. 60. Zum einen müssen alle Schriftsätze in die Verfahrenssprache des Vorabentscheidungsverfahrens übersetzt werden, welche der Sprache des vorlegenden Gerichts entspricht. Darüber hinaus müssen die Dokumente ins Französische übersetzt werden, weil die interne Arbeitssprache des Gerichtshofs ausschließlich Französisch ist. Der Generalanwalt schließlich hat das Recht, die Schlussanträge in seiner Muttersprache zu verfassen, wodurch weitere Übersetzungen nötig werden. Dazu kommen die Simultanübersetzungen bei den mündlichen Verhandlungen: Die Parteien des Ausgangsverfahrens plädieren in der Verfahrenssprache, die Regierungsvertreter in ihrer jeweiligen Amtssprache; alle Plädoyers werden in die Sprachen der Beteiligten, in die Muttersprachen der Richter und in die des Generalanwalts übersetzt, vgl. Seyr, Göttinger Online-Beiträge zum Europarecht Nr. 8, S. 11. 250 Wegen der umfassenden Beteiligungsmöglichkeit aller Mitgliedstaaten bezeichnet Skouris, EuGRZ 2008, 343 das Vorabentscheidungsverfahren als Verfahren des Dialogs zwischen unterschiedlichen juristischen Kulturen. 251 Die Verteilung der Rechtssachen richtet sich regelmäßig nach – unveröffentlichten – Kriterien, die der Gerichtshof aufgestellt hat, von denen aber aus pragmatischen Gesichtspunkten abgewichen werden kann. Zu den rechtsstaatlichen Bedenken, die das Fehlen eines Geschäftsverteilungsplans hervorruft, siehe Thiele, Europäisches Prozessrecht, § 2 Rn. 18 Fn. 29; Pechstein, EU-/EG-Prozessrecht, Rn. 99. – Um Unparteilichkeit und Unabhängigkeit zu gewährleisten, wird jedoch grundsätzlich darauf geachtet, dass die Richter nicht aus dem Land des vorlegenden Gerichts stammen. Dies gilt auch für den Berichterstatter und den Generalanwalt, die außerdem nicht beide aus demselben Mitgliedstaat kommen sollen. Dass es am EuGH keine spezialisierten Kammern gibt, soll sicherstellen, dass jeder Mitgliedstaat – in Vertretung durch seinen EuGH-Richter – an der Gestaltung von allen Bereichen des Unionsrechts beteiligt sein kann und dadurch die Akzeptanz der Entscheidungen des Gerichtshofs erhöhen, vgl. Seyr, Göttinger Online-Beiträge zum Europarecht Nr. 8, S. 9. Auf der anderen Seite folgt daraus, dass sich jeder Richter in unterschiedlichste Rechtsbereiche einarbeiten muss.

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1. Teil: Begriffsklärung und Problemdarstellung

EuGH-Satzung, Art. 44 § 3 VerfOEuGH)252 – über das Vorlageersuchen entscheiden soll. Die endgültige Entscheidung hierüber fällt die wöchentlich tagende Generalversammlung aller Richter253. Die eingereichten schriftlichen Erklärungen werden allen Beteiligten des Vorlageverfahrens in der Verfahrenssprache und der Arbeitssprache des Gerichtshofs zugesendet; bis dahin sind in der Regel bereits sechs bis acht Monate seit Eingang des Vorabentscheidungsersuchens vergangen254. In der Praxis wird zugleich eine Frist von drei Wochen gesetzt, innerhalb derer die Beteiligten einen Antrag auf Durchführung der mündlichen Verhandlung nach Art.  44a VerfOEuGH stellen können255. Aufgrund der nur einfachen Schriftsatzrunde bietet sich die Einreichung eines solchen Antrags dann an, wenn die schriftlichen Stellungnahmen der anderen Beteiligten  – insbesondere der Kommission  – für einen entgegengesetzten Standpunkt argumentieren, mit dem man sich in der mündlichen Verhandlung kontradiktorisch auseinandersetzen möchte256. Wenn eine mündliche Verhandlung über das Vorabentscheidungsersuchen stattfindet, können die Beteiligten zunächst in der ihnen zugewiesenen Redezeit257 ihre Rechtsansichten darlegen, woraufhin eventuelle Fragen der Richter und des Generalanwalts gestellt werden. Zum Schluss kann jeder Beteiligte kurz zu den übrigen Plädoyers Stellung nehmen. Die Verkündung der Schlussanträge  – so die Rechtssache mit Schlussanträgen entschieden wird – durch den völlig unabhängigen Generalanwalt erfolgt in einem separaten Termin etwa ein bis zwei Monate nach der mündlichen Verhandlung258. Der Generalanwalt unterbreitet dem Gerichtshof einen nicht bindenden Entscheidungsvorschlag und begründet seine Lösung regelmäßig ausführlich unter Berücksichtigung der bisherigen Rechtsprechung und der europarechtlichen Literatur. 252 In der Praxis ist seit 2007 die Grande Chambre mit 13 Richtern das größte Entscheidungsorgan des EuGH, denn seitdem wurde keine Entscheidung mehr durch das Plenum gefällt, siehe EuGH, Jahresbericht 2009, S. 92. Nach EuGH, Jahresbericht 2010, S. 104 war Ende 2010 jedoch wieder eine Rechtssache beim Plenum anhängig. 253 Die réunion générale legt seit dem Inkrafttreten des Vertrags von Nizza je nach der Bedeutung der Vorlagefrage auch fest, ob die Rechtssache mit oder ohne Schlussanträge des Generalanwalts entschieden wird, vgl. Art. 252 Abs. 2 AEUV (ex-Art. 222 EGV) in Verbindung mit Art. 20 Abs. 5 EuGH-Satzung, Art. 44 § 2 VerfOEuGH. Kritisch hierzu Thiele, Europäisches Prozessrecht, § 2 Rn. 21 m. w. N. 254 Chevalier, ERA Forum 2009, 591, 595 f. 255 Die mündliche Verhandlung ist nicht zwingend vorgeschrieben; vielmehr kann auf sie unter den Voraussetzungen der Art. 44a, 104 § 4 S. 2 VerfOEuGH verzichtet werden, wenn keiner der Beteiligten den Wunsch nach einer mündlichen Verhandlung äußert und der Gerichtshof sie für entbehrlich hält. 256 Lumma, EuGRZ 2008, 381, 383 f. 257 Die Redezeit vor einer Dreier-Kammer beträgt in der Regel fünfzehn Minuten, vor den anderen Zusammensetzungen dreißig, vgl. Seyr, Göttinger Online-Beiträge zum Europarecht Nr. 8, S. 11. 258 Chevalier, ERA Forum 2009, 591, 596.

E. Spannungsverhältnis Vorabentscheidung / Beschleunigungsgebot

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Nach einer Beratung der Richter entscheiden sie über die gestellten Vorabent­ scheidungsfragen durch Urteil, Art. 103 § 1 in Verbindung mit §§ 63 ff. VerfOEuGH, welches nach der Übersetzung in alle anderen Amtssprachen verkündet und den Beteiligten zugestellt wird. Da gegen ein Urteil des EuGH kein Rechtsmittel möglich ist, wird es sofort rechtskräftig, vgl. Art. 65 VerfOEuGH259. Nachdem die Zustellung des Vorabentscheidungsurteils erfolgt ist, nimmt das Ausgangsgericht das nationale Verfahren in dem Stadium wieder auf, in dem es ausgesetzt wurde, und entscheidet unter Beachtung der Rechtsauffassung des EuGH. Auf das Urteil aus Luxemburg muss das nationale Gericht, selbst wenn alles perfekt läuft, mindestens ein Jahr warten260. II. Vorabentscheidungsverfahren als in der Verfahrensdauer zu berücksichtigender Abschnitt

Auf der einen Seite ist es zwar wünschenswert, dass unionsrechtliche Fragen durch eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union euro­ paweit einheitlich beantwortet werden, um die gleichmäßige Anwendung des Unionsrechts zu wahren. Auf der anderen Seite liegt dem (Um-)Weg über die Luxemburger Richter261 das strukturelle Problem zugrunde, dass die Dauer des nationalen Ausgangsverfahrens gerade auch durch das Vorabentscheidungsverfahren erheblich verlängert wird. Während das Gebot angemessener Verfahrensdauer auf allen Ebenen – völkerrechtlich, europarechtlich, national – für eine Beschleunigung gerichtlicher Verfahren streitet, manchmal diese sogar zwingend gebietet,

259

Erklärt der Gerichtshof einen Rechtsakt für ungültig, wirkt dies erga omnes. Grundsätzlich gilt das auch für den umgekehrten Fall, d. h. wenn ein Rechtsakt trotz Zweifeln des vorlegenden Gerichts für gültig erklärt wird; in dieser Konstellation steht den mitgliedstaatlichen Gerichten aber die Möglichkeit offen, ein erneutes Vorabentscheidungsverfahren zur Frage der Gültigkeit einzuleiten. Auslegungsurteile binden eigentlich nur das Ausgangsgericht und alle folgenden Instanzen; ihnen kommt aber eine weitergehende starke präjudizielle Wirkung zu. Da dem Gerichtshof nach Art.  19 EUV n. F. (ex-Art. 220 EGV) die verbindliche Auslegung des Unionsrechts übertragen ist, würde eine von der Rechtsprechung des Gerichtshofs abweichende Entscheidung nach BGH wistra 1998, 344 zumindest für letztinstanzliche Gerichte die erneute Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV auslösen. Siehe ausführlich zur Bindungswirkung von EuGH-Entscheidungen Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Handbuch Rechtsschutz, § 10 Rn.  86 ff.; Karpenstein, in: Grabitz/Hilf, REU, Art.  234 EGV Rn. 93 ff.; Schima, Vorabentscheidungsverfahren, S. 96 ff.; Dauses, Vorabentscheidungsverfahren, S. 148 ff. 260 Denn die in mehreren Stadien erforderlichen Übersetzungen, so Edward, Liber Amicorum Slynn, S. 119, 125 f., benötigen etwa eine Dauer von sieben Monaten, also fast so lang, wie Anfang der 1980er Jahre noch das gesamte Vorabentscheidungsverfahren. Rennert, EuGRZ 2008, 385, 389, geht sogar von einer Verzögerung von mindestens 18 Monaten aus. Das Ziel muss laut dem Due-Report über die Zukunft des Gerichtssystems der Europäischen Gemeinschaften, S. 7 eine Verfahrensdauer von durchschnittlich einem Jahr sein. 261 So Heger, HRRS 2008, 413, 417.

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1. Teil: Begriffsklärung und Problemdarstellung

führt das Vor­abentscheidungsverfahren ein retardierendes Element in das einzelstaatliche Ausgangsverfahren ein: Zu den durchschnittlich fast anderthalb Jahren, die der EuGH für die Entscheidung der Vorlagefrage benötigt, kommt nämlich noch die weitere Zeit hinzu, die das vorlegende mitgliedstaatliche Gericht – vorher – für die Abfassung und Übermittlung des Vorabentscheidungsersuchens benötigt, sowie die Zeit, die – nachher – bis zum Wiederaufruf der Rechtssache verstreicht262. Gerade in Strafverfahren kann es sich dann besonders belastend auf den Angeklagten auswirken, wenn neben dem Ermittlungsverfahren, den zwei bzw. drei in der StPO vorgesehenen Instanzen (eventuell zuzüglich eines Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht) noch ein Vorabentscheidungsverfahren durchgeführt wird. Die daraus regelmäßig resultierende Verfahrensdauer von mehreren Jahren scheint unweigerlich in einen Kon­flikt mit dem Gebot der Einhaltung einer angemessenen Verfahrensdauer aus Art.  6 Abs.  1 S.  1 EMRK und dem Rechtsstaatsprinzip zu geraten263. Dass jedoch tatsächlich ein solches Spannungsverhältnis zwischen den letztendlich auf der Menschenrechtskonvention beruhenden Beschleunigungsgeboten und Vorabentscheidungsverfahren besteht, setzt voraus, dass die sich durch ein Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH ergebende Verfahrensverlängerung mit einzuberechnen ist, um beurteilen zu können, ob und inwieweit sich die Verfahrensdauer als überdurchschnittlich lang im Sinne von Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK darstellt.

262 Malferrari, Zurückweisung von Vorabentscheidungsersuchen, S.  222 f.; von Danwitz, NJW 1993, 1108, 1113. – So dauerte zum Beispiel das Revisionsverfahren in BGHSt 52, 275 von Dezember 2003 bis zum Juni 2008, also etwa viereinhalb Jahre, wovon nur gute zwei Jahre auf das Vorabentscheidungsverfahren entfielen (Vorlagebeschluss am 30.6.2005, Urteil des EuGH am 18.7.2007). 263 So auch Heger, HRRS 2008, 413, 417; ders., Europäisierung des Umweltstrafrechts, S.  44 ff.; Hecker, Europäisches Strafrecht, § 6 Rn.  21, 24; Skouris, EuGRZ 2008, 343, 347; Dörr, EuGRZ 2008, 349, 351; Rennert, EuGRZ 2008, 385; Satzger, Europäisierung, S. 666 f. („Ein Konflikt mit dem Beschleunigungsgebot […] ist damit vorprogrammiert.“); Jokisch, Gemeinschaftsrecht und Strafverfahren, S.  196; Vogel, in: Volk, Münchener Anwaltshandbuch, § 14 Rn. 102; Groh, Auslegungsbefugnis, S. 68 f.; Grabenwarter, EuR 2003, Beiheft 1, 55, 56; Abetz, Justizgrundrechte, S. 97; Rengeling/Szczekalla, Grundrechte EU, Rn. 1174; Schomburg, NJW 2000, 1833, 1839; Due-Report über die Zukunft des Gerichtssystems der Europäischen Gemeinschaften, S.  6 f.; Brück, Vorabentscheidungsverfahren, S. 194 f.; Heß, ZZP 1995, 59, 102 ff.; von Danwitz, NJW 1993, 1108, 1113.

E. Spannungsverhältnis Vorabentscheidung / Beschleunigungsgebot

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1. Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und ihre Rezeption in der Literatur Der EGMR hatte bereits 1998 im Fall Pafitis u. a./Griechenland Gelegenheit, sich mit der Frage einer möglichen Kausalität eines Vorabentscheidungsverfahrens für eine überlange Verfahrensdauer auseinanderzusetzen. In dem betreffenden Urteil führt der EGMR diesbezüglich aus264: „As regards the proceedings before the Court of Justice of the European Communities, the Court notes that the Athens District Court decided on 3 August 1993 to refer a question to the Court of Justice, which gave judgment on 12 March 1996. During the intervening period the proceedings in the actions concerned were stayed, which prolonged them by two years, seven months and nine days. The Court cannot, however, take this period into consideration in its assessment of the length of each particular set of proceedings: even though it may at first sight appear relatively long, to take it into account would adversely affect the system instituted by Article 177 of the EEC Treaty [Art. 267 AEUV] and work against the aim pursued in substance in that Article.“

Der EGMR lehnt also eine Berücksichtigung des Vorabentscheidungsverfahrens bei der Beurteilung der Angemessenheit des nationalen Prozesses ab, um die Funktionsfähigkeit des Vor­abentscheidungsverfahrens und seine spezifische Bedeutung für das Unionsrecht nicht zu beeinträchtigen. Zwar ohne weitere Begründung, aber im Ergebnis ebenso stellt der EGMR im Fall Koua Poirrez/Frankreich fest265: „The Court reiterates that the reasonableness of the length of proceedings must be assessed in the light of the circumstances of the case and with reference to the criteria laid down in its case-law, especially the complexity of the case and the conduct of the applicant and the relevant authorities […]. The Court also reiterates that the length of the proceedings before the ECJ, namely over eighteen months in the present case, cannot be taken into consideration (see Pafitis and ­Others v. Greece […]).“

Zuletzt wurde diese Rechtsprechung – wobei jedoch aus anderen Gründen ein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK gerügt wurde – in der Rechtssache Mathy/Belgien im Jahr 2008 wiederholt266: „La Cour a déjà jugé qu’en appréciant le délai raisonnable d’une procédure devant les juridictions nationales, elle ne prend pas en compte la durée d’une procédure préjudicielle devant la Cour de Justice des Communautés.“

Den Entscheidungen des EGMR folgend, allerdings ohne nähere eigene Begründung, geht auch van Dijk davon aus, dass

264

EGMR, Urt. v. 26.2.1998  – Nr.  20323/92, Rn.  95  – Pafitis u. a./Griechenland, Hervor­ hebung von Verf. 265 EGMR, Urt. v. 30.9.2003 – Nr. 40892/98, Rn. 59, 61 – Koua Poirrez/Frankreich. 266 EGMR, Urt. v. 24.4.2008 – Nr. 12066/06, Rn. 28 – Mathy/Belgien.

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1. Teil: Begriffsklärung und Problemdarstellung „the lapse of time caused by preliminary proceedings under Article 234 of the EC Treaty [Art. 267 AEUV] before the Court of Justice of the European Communities is not ta­ken into consideration in the assessment of the length of the proceedings.“267

Gundel merkt zur Entscheidung des EGMR an, „dass die [durch das Vorabentscheidungsverfahren] bedingte Verlängerung im Interesse der Funktionsfähigkeit des Vorabentscheidungsverfahrens hinzunehmen ist.“268

Stärker auf den Gesamtzusammenhang der zitierten Passage aus dem PafitisUrteil stellt Ottaviano ab. Der EGMR untersucht nämlich die einzelnen Abschnitte des angegriffenen Verfahrens isoliert nach ihrer Angemessenheit („assessment of the length of each particular set of proceedings“)269. Ottaviano entnimmt daraus, dass das Vorabentscheidungsverfahren zwar nicht im Rahmen des nationalen Verfahrens berücksichtigt werden dürfe, wohl aber selbst den Anforderungen des Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK gerecht werden müsse270. Rennert führt zur Begründung der EGMR-Urteile zusätzlich an, dass die Dauer eines Vorabentscheidungsverfahrens bei der Frage, ob ein mitgliedstaatliches Gericht wegen überlanger Verfahrensdauer zu verurteilen ist, deshalb nicht mit einzubeziehen sei, weil der Gerichtshof der Europäischen Union außerhalb der einzelstaatlichen Verantwortung stehe271. Obwohl Groh dem Urteil des EGMR (wohl) zustimmt, äußert er erste Bedenken hinsichtlich der Folgerichtigkeit der Entscheidung272: „Zwar ist nach der Rechtsprechung des EGMR die durch ein Vorabentscheidungsverfahren verursachte Verzögerung des Ausgangsrechtsstreits (noch) nicht in die Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer einzubeziehen, so dass sie als solche auch nicht zu einer Verletzung des Rechts auf eine angemessene Verfahrensdauer führen kann. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die durch eine Vorlage an den EuGH hervorgerufene Verzögerung des Ausgangsrechtsstreits unterhalb der Schwelle der Rechtsverletzung unbeachtlich wäre. Vielmehr erreicht die durch ein Vorabentscheidungsverfahren verursachte Verzögerung des Ausgangsrechtsstreits mittlerweile ein Ausmaß, das nicht mehr ohne weiteres gerecht­fertigt werden kann.“

267 Van Dijk, ECHR, S. 605, Hervorhebung von Verf.; ebenso neuerdings Peukert, in: Frowein/Peukert, EMRK, Art. 6 Rn. 247. 268 Gundel, in: Ehlers, Europäische Grundrechte, § 20 Rn. 43. 269 Zu dieser Art von Prüfung vgl. schon oben in diesem Ersten Teil unter B. II. 3. b). 270 Ottaviano, Rechtzeitiger Rechtsschutz, S.  222. Trotz der gesonderten Betrachtung des Ausgangs- und des Vorabentscheidungsverfahrens müsse letzteres besonders zügig durchgeführt werden, um Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK und Art. 47 Abs. 2 S. 1 GRCh gerecht zu werden, da es sich lediglich um ein Zwischenverfahren handele. 271 Rennert, EuGRZ 2008, 385 f. – Gegen diese Behauptung siehe jedoch die Argumentation unten in diesem Ersten Teil, E. II. unter 3. d). 272 Groh, Auslegungsbefugnis, S. 68.

E. Spannungsverhältnis Vorabentscheidung / Beschleunigungsgebot

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2. Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs Für eine Berücksichtigung des Vorabentscheidungsverfahrens bei der Berechnung der Gesamtverfahrensdauer hat sich indes der BGH  – erstmals kurz nach dem Pafitis-Urteil des EGMR im Jahr 1998 – ausgesprochen273: In dem Verfahren wurde der Angeklagte beschuldigt, zwischen 1987 und 1989 ohne die erforderliche Konzession Glücksspiele veranstaltet und die erzielten Erlöse nur unzu­reichend versteuert zu haben. Das Landgericht hat den Angeklagten 1995 u. a. wegen unerlaubten Glücksspiels, Umsatzsteuerhinterziehung in 30 Fällen und Lohnsteuerhinterziehung in 58 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Die Revisionsentscheidung verzögerte sich, weil der BGH die Entscheidung des EuGH in einem Vorabentscheidungsverfahren abwartete, das durch das Finanzgericht Baden-Württemberg betreffend die Auslegung einer Richt­linie zur Harmonisierung der Umsatzsteuern eingeleitet worden war. Nachdem der EuGH nach fast drei Jahren entschied, dass es den Mitgliedstaaten verwehrt sei, unerlaubte Glücksspiele der Mehrwertsteuer zu unterwerfen, wenn die Veranstaltung solcher Glücksspiele durch eine zugelassene öffentliche Spielbank steuerfrei ist274 – so wie es im deutschen Recht durch § 4 Nr. 9 lit. b) UStG vorgesehen ist –, musste die Verurteilung des Angeklagten wegen Umsatzsteuerhinterziehung aufgehoben werden. Zur Verfahrensdauer stellt der BGH fest: „Der nunmehr berufene Tatrichter wird bei der Entscheidung über den Fortgang des Verfahrens und die neu zu bemessene Strafe nicht nur den lange zurückliegenden Tatzeitraum und die ohnehin sehr lange Verfahrensdauer zu bedenken haben, sondern auch die seit Erlass des erstinstanzlichen Urteils am 28. November 1995 vergangene Zeit. […] Die Verfahrensdauer in der Rechtssache F. vor dem Europäischen Gerichtshof […], die im Ergebnis ursächlich war für die Dauer des Revisionsverfahrens, hat der Angeklagte nicht zu vertreten. Dieser Zeitablauf wird beim Rechtsfolgenausspruch angemessen zu berücksichtigen sein.“275

Obwohl der BGH Art.  6 EMRK nicht explizit erwähnt, kann aus der Aufzählung „lange zurückliegender Tatzeitraum“, „lange Verfahrensdauer“, „seit Erlass des erstinstanzlichen Urteils vergangene Zeit“ und aus der Feststellung, dass der Angeklagte den Zeitablauf durch das Vorabentscheidungsverfahren nicht zu ver­treten hat, gefolgert werden, dass er eine Prüfung des konventions- und ver­ fassungsrechtlichen Beschleunigungsgebots vornimmt und dabei wie selbstverständlich davon ausgeht, dass das Vorabentscheidungsverfahren als Teil des gesamten Prozesses eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung (mit) begründen 273 BGH wistra 1998, 344. – Um eine nicht hinnehmbare Verzögerung des nationalen Verfahrens zu verhindern, hat der französische Conseil d’Etat sogar trotz Unklarheiten bezüglich der Auslegung einer EU-Richtlinie von einer Vorlage an den EuGH gänzlich abgesehen, vgl. Urt. v. 20.5.1998 – Communauté de communes du Piémont de Barr et autres, besprochen im Monitoring-Report der Kommission 1998, Anhang 6, S. 253. 274 EuGH, Urt. v. 11.6.1998 – Rs. C-283/95, Slg. 1998, I-3369 – Fischer. 275 BGH wistra 1998, 344, 345.

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1. Teil: Begriffsklärung und Problemdarstellung

kann276. Diese Entscheidung, in welcher der BGH lediglich das Urteil des EuGH in einem bereits anhängigen Vorabentscheidungsverfahren abgewartet hat, ist übertragbar auf den Fall, dass ein Strafgericht selbst eine Vorlage an den EuGH stellt277. An seiner Rechtsprechung hat der BGH über die Jahre festgehalten; so wurde erst kürzlich im Zusammenhang mit einer „Schmuggelfahrt“ durch mehrere EU-Mitgliedstaaten entschieden278: „Gleichwohl stellt der Senat das Verfahren hinsichtlich des allein noch verfahrensgegenständlichen Falls […] gemäß § 154 Abs. 2 StPO ein […], zumal […] berücksichtigt werden müsste, dass die der Verurteilung zugrunde liegende Straftat inzwischen bereits mehr als acht Jahre zurückliegt und auch das Revisionsverfahren – insbesondere wegen des beim EuGH durchgeführten Vorabentscheidungsverfahrens – schon mehr als vier Jahre andauert.“

Dass nach Ansicht des BGH Vorabentscheidungsverfahren mit dem Beschleunigungsgebot kollidieren können, zeigt sich auch an einer weiteren Praxis, mit der unvorhersehbar lange Verzögerungen vermieden werden sollen: Leitet der BGH im Revisionsverfahren ein Vorab­entscheidungsverfahren zum EuGH ein, so trennt er nicht von der Vorlagefrage betroffene entscheidungsreife Verfahrensteile ab und lässt bezüglich selbstständiger Taten eine Teilentscheidung zu, um diese nicht auch um die Dauer des Zwischenverfahrens zu verlängern und einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK zu riskieren279. 3. Argumente für die Einbeziehung der Verfahrensdauer a) Vergleichbarkeit mit Vorlage ans Bundesverfassungsgericht Was als erstes an dem Urteil des EGMR im Fall Pafitis u. a./Griechenland erstaunt, ist, dass die Richter keinen Anlass dazu sehen, eine Abgrenzung zum vergleichbar gelagerten und etwa ein Jahr vorher entschiedenen Fall Pammel/ Deutschland vorzunehmen. Dort wurde ein Zivilverfahren ausgesetzt, um eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Wege der konkreten Normenkontrolle nach Art. 100 Abs. 1 GG einzuholen. Der EGMR judizierte erneut, dass die Zeit, die das Bundesverfassungsgericht für die Beantwortung der Vorlage benötigt, bei der Berechnung der Verfahrenslänge mit eingerechnet werden muss280: 276 Vgl. zu den drei mit dem Faktor Zeit zusammenhängenden Umständen bereits in diesem Ersten Teil unter C. II. 3. – Eine Erörterung anhand des Beschleunigungsgebots nimmt auch Satzger, JA 1999, 367, 368 f. vor; vgl. auch Rengeling/Szczekalla, Grundrechte EU, Rn. 1174; Beulke, Strafprozessrecht, Rn. 26. 277 Vgl. Satzger, JA 1999, 367, 370. 278 BGHSt 52, 275, 283 f. mit Besprechung von Heger, HRRS 2008, 413, 417 f. 279 Siehe z. B. BGH wistra 2004, 475; 2000, 219, 226 f.; vgl. für das vergleichbare Anfrageund Vorlageverfahren nach § 132 GVG auch BGHSt 49, 209; zu dieser Praxis Hugger, in: Ahlbrecht u. a., Internationales Strafrecht, Rn. 587. 280 EGMR, Urt. v. 1.7.1997 – Nr. 17820/91, Rn. 57 – Pammel/Deutschland. – So auch EGMR, Urt. v. 1.7.1997 – Nr. 20950/92, Rn. 51 ff. – Probstmeier/Deutschland.

E. Spannungsverhältnis Vorabentscheidung / Beschleunigungsgebot

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„In the present case the proceedings in the Federal Constitutional Court were […] closely linked to those in the civil courts; not only was the former’s decision directly decisive for the applicant’s civil right, but in addition, as the proceedings arose from an application for a preliminary ruling, the [Civil] Court of Appeal was obliged to wait for the Federal Constitutional Court’s decision before it could give judgment.“

Diese Entscheidung trägt dem Umstand Rechnung, dass durch das zwischengeschaltete Inzidentverfahren zum Bundesverfassungsgericht das Ausgangsverfahren schon rein faktisch um die Verfahrensdauer vor dem angerufenen Gericht verlängert wird281. Warum sollte dann das funktional gleichgelagerte Vorabentscheidungsverfahren – auf der einen Seite Prüfung der Vereinbarkeit des nationalen Rechts mit dem nationalen Verfassungsrecht, auf der anderen Seite Prüfung der Vereinbarkeit nationalen Rechts mit europäischem Recht oder europäischen Sekundärrechts mit übergeordnetem europäischen Primärrecht – nicht bei der Verfahrenslänge berücksichtigt werden? Schließlich hat auch das Ergebnis eines Vorabentscheidungsverfahrens wie die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in einer konkreten Normenkontrolle Einfluss auf den Ausgang des Verfahrens vor dem Fachgericht und die mitgliedstaatlichen Gerichte müssen die Entscheidung des EuGH abwarten282. Gibt es also keinen funktionalen Unterschied zwischen dem Vorabentscheidungsverfahren in Luxemburg und der konkreten Normenkontrolle in Karlsruhe, so ist der einzige Gegensatz darin zu sehen, dass es sich beim Bundesverfassungsgericht um ein deutsches Gericht, beim EuGH aber um ein europäisches Gericht handelt. Da sich Deutschland aber die durch die europäische Gerichtsbarkeit entstandenen Verfahrensverzögerungen zurechnen lassen muss283, kann diese Besonderheit nicht die differenzierte Behandlung durch den EGMR rechtfertigen. Eine Erklärung für seine unterschiedlichen Entscheidungen ist der EGMR – auch 2003 im Fall Koua Poirrez/Frankreich und 2008 in der Rechtssache Mathy/Belgien – leider schuldig geblieben. 281 Gollwitzer, Menschenrechte, Art. 6 Rn. 76; Brück, Vorabentscheidungsverfahren, S. 195; Heß, ZZP 1995, 59, 102 ff. – Für die Berücksichtigung eines Vorlageverfahrens ist es wegen der Einbindung in das Ausgangsverfahren irrelevant, ob auch sein Gegenstand Art. 6 EMRK unterfällt. Allerdings kann man strafrecht­liche Vorabentscheidungsverfahren durchaus unter den weiten Begriff der „strafrechtlichen Anklage“ in Art. 6 Abs. 1 EMRK fassen, weil sich solche Vorabentscheidungsersuchen – die ohne Entscheidungserheblichkeit nach der Rechtsprechung des EuGH gar nicht zulässig wären – im weitesten Sinn mit der Strafbarkeit eines bestimmten Verhaltens des Angeklagten beschäftigen, sei es, dass es etwa direkt um die Anwendbarkeit einer nationalen Strafrechtsnorm, um die Verwertbarkeit eines Beweismittels oder prinzipiell um das Eingreifen deutschen Strafrechts geht (vgl. zu den verschiedenen Gruppen von Vorlagen im Strafprozess aufgrund der Europäisierung des nationalen Strafrechts schon in diesem Ersten Teil, E. unter I. sowie im Zweiten Teil unter D. I.). 282 So auch Peukert, Mélanges Ryssdal, S. 1107, 1118 f.; Brück, Vorabentscheidungsverfahren, S. 195; Rengeling/Szczekalla, Grundrechte EU, Rn. 1174. Zu der Vergleichbarkeit des Vorabentscheidungsverfahrens mit anderen Vorlageverfahren in den europäischen Rechtsordnungen siehe Lieber, Vorlagepflicht, S. 25 ff.; Everling, Vorabentscheidungsverfahren, S. 14 f.; vgl. auch Thiele, Europäisches Prozessrecht, § 9 Rn. 2 Fn. 5, der die Ähnlichkeit von Vorabentscheidungsverfahren und der konkreten Normenkontrolle zum BVerfG betont. 283 Siehe dazu sogleich in diesem Ersten Teil, E. II. 3. unter d).

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1. Teil: Begriffsklärung und Problemdarstellung

b) Vorabentscheidungsverfahren als Inzidentverfahren Darüber hinaus ist das Vorabentscheidungsverfahren als Inzidentverfahren integraler Bestandteil des mitgliedstaatlichen Ausgangsverfahrens und erhöht zwangsläufig die Gesamtverfahrensdauer284. Es ist als Zwischenverfahren konzipiert, um die nationalen Richter bei der Anwendung und Auslegung des Unionsrechts zu unterstützen und fördert folglich lediglich die Kooperation zwischen dem EuGH und den mitgliedstaatlichen Gerichten. Dafür, die aus der Dauer einer Vorlage nach Luxemburg entstehenden Mehrbelastungen zugunsten des Beschuldigten zu berücksichtigen, spricht auch der Umstand, dass das Verfahren nach Art. 267 AEUV grundsätzlich kein Individualschutzverfahren darstellt, sondern hauptsächlich den Interessen der Europäischen Union an der einheitlichen Anwendung des Europarechts dient. Dass der Einzelne prinzipiell eine Vorlage zum EuGH nicht erzwingen und keinen Einfluss auf den Inhalt der vorgelegten Fragen nehmen kann, zeigt das geringe Gewicht der individualschützenden Wirkungen285. Demgegenüber wird der enge Zusammenhang des Vorlageverfahrens mit dem nationalen Verfahren noch durch die verfassungsgericht­liche Einordnung des EuGH als „gesetz­licher Richter“ im Sinne von Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG betont, weshalb die Verletzung einer Vorlagepflicht durch die deutschen Gerichte eine Verfassungsbeschwerde zu begründen vermag286. Wenn das Vorabentscheidungsverfahren aber Teil des nationalen Strafverfahrens ist, sollte es auch bei der Beurteilung der Frage, ob der Forderung des Art. 6 EMRK nach einer angemessenen Verfahrensdauer Rechnung getragen wurde, uneingeschränkt mit einfließen287.

284

Vgl. statt aller, die sich für die Berücksichtigung der Dauer des Vorabentscheidungsverfahrens aussprechen (dazu in diesem Ersten Teil, E. II. unter 4.), Satzger, JA 1999, 367, 370; Middeke, in: Rengeling/Midde­ke/Gellermann, Handbuch Rechtsschutz, § 10 Rn. 11. 285 Satzger, Europäisierung, S. 668; Thiele, Europäisches Prozessrecht, § 9 Rn. 5; vgl. zum nur mittelbaren Individualschutz schon oben in diesem Ersten Teil, E. unter I. 2. Hakenberg/ Stix-Hackl, Handbuch EuGH, Bd. 1, S. 63 und Lieber, Vorlagepflicht, S. 4 ff. erwähnen die Individualschutzfunktion nicht einmal. 286 Satzger, JA 1999, 367, 370; ders., Europäisierung, S. 668. Vgl. dazu aus der europäischen Perspektive auch Rengeling/Szczekalla, Grundrechte EU, Rn. 1174, die die Berücksichtigung der Dauer eines durchgeführten Vorabentscheidungsverfahrens auch aus dem Umstand rechtfertigen, dass die nationalen Gerichte bei der Anwendung des Europarechts neben dem EuGH „Komponenten der richterlichen Gewalt in der Europäischen Union“ seien. – Ein weiteres Argument dafür, dass das Vorabentscheidungsverfahren nicht eigenständig zu beurteilen ist, lässt sich aus der Tatsache entnehmen, dass nicht der EuGH, sondern das nationale Ausgangsgericht über die Kostentragung betreffs des Luxemburger Verfahrens entscheidet; vgl. Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Handbuch Rechtsschutz, § 10 Rn. 93. 287 Vgl. auch Rennert, EuGRZ 2008, 385, 386: „Nur der Blick auf das gesamte Verfahren entspricht auch der Qualität des Rechtsschutzgebots als eines Grundrechts des Rechtsschutzsuchenden. Den Rechtsschutzsuchenden interessiert nur, wann das rechtskräftige Urteil ergeht und wie gut es ist; er will und braucht sich nicht entgegenhalten zu lassen, welche Wege und Umwege der Prozess in seinem Verlauf genommen hat.“

E. Spannungsverhältnis Vorabentscheidung / Beschleunigungsgebot

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c) Beschleunigungsgebot als anerkannter Rechtsgrundsatz des europäischen Rechts Schließlich vermag auch das einzige vom EGMR in der Pafitis-Entscheidung vorge­brachte Argument nicht zu überzeugen: Die spezifische Bedeutung des Art. 267 AEUV für das Unionsrecht wird gerade nicht dadurch unterlaufen, dass man Vorabentscheidungsverfahren am Recht auf Verhandlung in angemessener Frist misst; vielmehr wird auf diese Weise der europäische Rechtsschutz sogar verbessert288. Dies folgt zum einen daraus, dass auch auf europäischer Ebene das Beschleunigungsgebot aus der Konvention über Art. 47 Abs. 2 S. 1 GRCh (und die Gleichwertigkeitsbestimmung in Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRCh) sowie Art. 6 Abs. 3 EUV (ex-Art. 6 Abs. 2 EUV) beachtet werden muss und außerdem der EuGH das Recht auf zügige Aburteilung als Unionsrechtsgrundsatz anerkannt hat, der sich aus mehreren elementaren Maximen wie dem Rechtsstaatsprinzip, dem Gebot des effektiven Rechtsschutzes und dem Recht auf ein faires Verfahren ableiten lässt289. Zum anderen beobachtet sogar der EuGH selbst, dass sich die lange Dauer des Vorabentscheidungsverfahrens abträglich auf die Vorlagebereitschaft der mitgliedstaatlichen Gerichte und damit auf das von Art. 267 AEUV verfolgte Ziel der einheitlichen Anwendung und Auslegung des Unionsrechts auswirkt290. Im Gegenteil nimmt der Gerichtshof sogar Beeinträchtigungen des Einheitlichkeitspostulats hin, um dem Gebot der Einhaltung einer angemessenen Verfahrensdauer gerecht zu werden, wenn er eine eigentlich bestehende Vorlagepflicht in summarischen Verfahren schon bei der bloßen Möglichkeit, dass später ein Hauptsache­verfahren eingeleitet wird, in dem die europarechtliche Frage durch eine Vorlage an den EuGH geklärt werden kann, entfallen lässt291. Wie also die Prüfung auch eines Vorabentscheidungsverfahrens unter dem Gesichtspunkt des Beschleunigungsgebots die Wirksamkeit desselbigen beeinträchtigen soll, hätte näherer Begründung des EGMR bedurft.

288 Peukert, Mélanges Ryssdal, S. 1107, 1119, der außerdem kritisiert, dass sich der EGMR nicht einmal mit dem Gesetzestext von ex-Art. 234 EGV (jetzt Art. 267 AEUV) auseinander­ gesetzt hat; Schomburg, NJW 2000, 1833, 1839; so auch Ottaviano, Rechtzeitiger Rechtsschutz, S. 222, obwohl er eine getrennte Beurteilung von Vorabentscheidungs- und nationalem Verfahren befürwortet. 289 Vgl. zum europarechtlichen Beschleunigungsgebot ausführlich oben in diesem Ersten Teil unter D. 290 Siehe dazu schon im Januar 2000 den Due-Report über die Zukunft des Gerichtssystems der Europäischen Gemeinschaften, S. 7; Skouris, EuGRZ 2008, 343, 347; Everling, Vorabentscheidungsverfahren, S. 73. 291 Groh, Auslegungsbefugnis, S. 69.

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1. Teil: Begriffsklärung und Problemdarstellung

d) Verantwortlichkeit der EU-Mitgliedstaaten für Handlungen der Unionsorgane Gegen die Berücksichtigung eines Vorabentscheidungsverfahrens im Rahmen der Überprüfung der Dauer des nationalen Prozesses wird häufig vorgebracht, dass bei einer festge­stellten Konventionsverletzung der Mitgliedstaat für Verfehlungen der Unionsorgane einzu­stehen hätte292. Diese Konsequenz wäre indes de lege lata hinzunehmen, wenn sie sich durch das normenhierarchische Mehrebenensystem293 von Völker-, Europa- und nationalem Recht begründen ließe. Ob das Handeln von Organen der Europäischen Union im Anwendungsbereich des Europarechts der völkerrechtlichen Bindung der EMRK unterliegt, ist umstritten294. Immerhin ist die Europäische Union selbst (noch) nicht Vertrags­partner der Konvention und konnte es bis vor kurzem sogar gar nicht werden295, so dass eine Anwendbarkeit der Konvention ratione personae ausscheiden könnte. Andererseits sind alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union auch Vertragsparteien der Europäischen Menschenrechtskonvention; diesbezüglich hat der EGMR wiederholt judiziert, dass jeder Vertragsstaat mit der Ratifikation der EMRK Verpflichtungen eingegangen ist, deren Einhaltung er nach dem Grundsatz pacta sunt servanda auch dann zu verantworten hat, wenn er Hoheitsbefugnisse auf völkerrechtliche Entitäten wie eben die Europäische Union überträgt296. Insofern hat die (inzwischen aufgelöste) Kommission bereits im Jahr 1989 entschieden, dass die Rechtsbehelfe im Rechtsschutzsystem der Europäischen Union im Rahmen der

292 So z. B. Ottaviano, Rechtzeitiger Rechtsschutz, S.  222, allerdings für die Prüfung des Art. 47 Abs. 2 S. 1 GRCh, der anders als (noch) Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK nicht nur die EU-Mitgliedstaaten, sondern auch die Unionsorgane selbst unmittelbar verpflichtet. Vgl. auch Haase, Faires Gerichtsverfahren, S. 78 f.: „Einbezogen werden in die Gesamtverfahrensdauer können dagegen Vorlageverfahren gemäß Art. 234 EGV [Art. 267 AEUV] an den Europäischen Gerichtshof, wobei der belangte Staat natürlich nur im Rahmen seines Aufgaben- und Machtbereichs für die zügige Verfahrensabwicklung verantwortlich sein kann.“ 293 Der Begriff des Mehrebenensystems ist zwar kein Rechtsbegriff, wird aber in der rechtswissenschaftlichen Literatur mittlerweile häufig aufgegriffen, weil er etwas Offenkundiges – nämlich das Zusammenspiel von jeweils an eigene Institutionen gekoppelten Gewährleistungen, wobei es zwangsläufig zu Überlappungen kommt – treffend beschreibt. 294 Vgl. ausführlich dazu Busch, Bedeutung der EMRK für EU, S. 43 ff.; Ottaviano, Recht­ zeitiger Rechtsschutz, S.  249 ff.; Paeffgen, ZStW 118 (2006), 275, 332 ff.; Grabenwarter, EMRK, § 4 Rn. 5 f. 295 Siehe zu den überwindbaren Hindernissen aber bereits oben in diesem Ersten Teil, D. I. 3. 296 Vgl. EGMR, Urt. v. 18.2.1999 – Nr. 26083/94, Rn. 67 – Waite und Kennedy/Deutschland; Urt. v. 18.2.1999 – Nr. 28934/95, Rn. 57 – Beer und Regan/Deutschland; Urt. v. 18.2.1999 – Nr. 24833/94, Rn. 32  – Matthews/Vereinigtes Königreich; Urt. v. 30.6.2005 – Nr.  45036/98, Rn. 108 – Bosphorus/Irland. Alle Entscheidungen sind ausführlich bei Busch, Bedeutung der EMRK für EU, S. 43 ff. besprochen. – Für diese Sichtweise spricht zudem, dass der EGV die Geltung von Altverträgen wie der EMRK gemäß ex-Art. 307 EGV unberührt ließ (genauso jetzt nach dem Vertrag von Lissabon Art.  351 AEUV), wenngleich die Mitgliedstaaten verpflichtet werden, Unvereinbarkeiten zu beheben.

E. Spannungsverhältnis Vorabentscheidung / Beschleunigungsgebot

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Menschenrechtskonvention als „innerstaatliche Rechtsbehelfe“ anzusehen sind297. Deshalb muss auch für die EU-Mitgliedstaaten der vom EGMR aus dem Beschleunigungsgebot abgeleitete Grundsatz gelten, dass nicht nur das nationale, sondern auch das Unionsgerichtssystem so zu organisieren ist, dass Gerichtsverfahren innerhalb angemessener Frist abgeschlossen werden können298. Schließlich darf auch die grundsätzlich zu begrüßende Stärkung der Rechtsschutzmöglichkeiten nicht zu einer Schwerfälligkeit und Unübersichtlichkeit des Rechtsschutzsystems führen, die den Anspruch auf eine angemessene Verfahrensdauer gefährden299. Für die europäischen Richter kann folglich  – wie für die mitgliedstaatlichen  – eine überlange Verfahrensdauer nicht mit dem Argument einer Überlastung der Unionsgerichte gerechtfertigt werden. Die völkerrechtliche Verantwortlich­keit für einen Verstoß der Unionsgerichte gegen das konventionsrechtliche Beschleunigungs­ gebot im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens kann sich dann für die EUMitglied­staaten entweder einzeln oder gemeinsam ergeben300 und hat letztlich zur Konsequenz, dass der Straßburger Gerichtshof zur Überprüfung von Unionsrecht und Handlungen auf dessen Grundlage am Maßstab der EMRK berechtigt ist. e) Verhältnis zwischen dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und dem Gerichtshof der Europäischen Union Doch warum sollte der EGMR, wenn doch die besseren Gründe eigentlich für eine Berücksichtigung der durch ein Vorabentscheidungsverfahren entstandenen Verlängerung des nationalen Verfahrens sprechen, eine solche Einbeziehung ab­lehnen? Eine Antwort darauf könnte in dem rechtspolitisch sensiblen Verhältnis zwischen dem EGMR und dem EuGH liegen. Exemplarisch dafür ist die Straßburger Lösung der eben bereits angesprochenen Frage, ob und inwieweit das Unionsrecht und die Handlungen der Unionsorgane am Maßstab der EMRK durch den EGMR geprüft werden können, obwohl das Europarecht aus Sicht der Luxemburger Richter jeglichem nationalen Recht inklusive dem Verfassungs 297 EKMR, Entsch. v. 19.1.1989  – Nr.  13539/88  – Dufay/EG: „[…] il est entendu que la compétence de la Commission ne se trouverait établie qu’une fois épuisées les voies de recours spécifiques prévues en matière de contrôle des actes communautaires. Dans cette hypothèse, le système de recours, tel qu’il est prévu en matière de droit communautaire, se trouverait assimilé aux recours généralement visés par l’article 26 de la Convention [Art. 35 EMRK n. F.]. Il s’ensuit que les voies de recours prévues par le droit communautaire con­stitueraient alors des voies de recours internes au sens de ladite disposition de la Convention.“ – Grabenwarter, EMRK, § 24 Rn. 68 leitet daraus sein Hauptargument für die Berücksichtigung der Dauer eines Vor­abentscheidungsverfahrens ab. 298 Ottaviano, Rechtzeitiger Rechtsschutz, S. 219 f.; Jarass, EU-Grundrechte, § 40 Rn. 42. 299 Vgl. schon EGMR, Urt. v. 28.6.1978 – Nr. 6232/73, Rn. 100 – König/Deutschland. 300 Busch, Bedeutung der EMRK für EU, S. 88 ff.; Grabenwarter, EMRK, § 4 Rn. 5 f.; Waßmer, ZStW 118 (2006), 159, 176; Winkler, Beitritt zur EMRK, S. 169 ff., 180 ff. (der die EU als Agentur der Mitgliedstaaten zur gemeinsamen Erledigung von öffentlichen Aufgaben sieht, die der mittelbaren Staatsverwaltung der Mitgliedstaaten zuzurechnen sei).

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1. Teil: Begriffsklärung und Problemdarstellung

recht – und damit auch der in die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen umgesetzten EMRK? – vorgeht. Um keine Rechtsschutzlücken und Rechtsprechungsdivergenzen aufkommen zu lassen, bejaht der EGMR trotz des (bislang noch) fehlenden Beitritts der Europäischen Union zur EMRK zwar seine Zuständigkeit ratione personae, entschärft die Problematik aber auf praktischem Wege durch eine selten anzunehmende Zuständigkeit ratione materiae301: Jeder Vertragsstaat erfülle seine Verpflichtungen aus der Konvention in Bezug auf eine internationale Organisation, der er beigetreten ist, bereits dann, „wenn die Organisation die Grundrechte schützt und dieser Schutz wenigstens ‚gleichwertig‘ zu dem der EMRK anzusehen ist, das heißt als ‚vergleichbar‘, nicht als ‚identisch‘. In diesem Fall besteht eine Vermutung, dass der Staat sich den Anforderungen der EMRK nicht entzogen hat. Die Vermutung kann jedoch widerlegt werden, wenn der gewährte Grundrechtsschutz offensichtlich unzureichend ist.“302

Den Grundrechtsschutz innerhalb der Europäischen Union sieht der EGMR dabei als dem durch die Menschenrechtskonvention gewährleisteten Standard „gleich­ wertig“ an. An der Ähnlichkeit der vom EGMR gewählten Formulierung zu der Position des Bundesverfassungsgerichts gegenüber dem EuGH in seiner „Solange“-Rechtsprechung303 zeigt sich das Bemühen, eine pragmatische und praktikable Lösung für das hierarchisch unklare Verhältnis zwischen den beiden europäischen Gerichtshöfen zu finden304. Diese Art von Vertrauensvorschuss gegenüber dem EuGH und dem Europarecht mag auch dem Pafitis-Urteil des EGMR zugrunde gelegen haben, so dass die Ablehnung der Einbeziehung von Vorabentscheidungsverfahren in die an Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK zu messende Gesamtverfahrensdauer mit der Zurückhaltung des EGMR gegenüber den Luxemburger Richtern und ihrer Arbeit zu erklären ist305. 301 Ausführlich dazu Ottaviano, Rechtzeitiger Rechtsschutz, S. 250 ff.; Grabenwarter, EMRK, § 18 Rn. 23; Satzger, Int. und Eur. Strafrecht, § 10 Rn. 18. 302 EGMR, Urt. v. 30.6.2005 – Nr. 45036/98, Rn. 155 f. – Bosphorus/Irland. – Die Entscheidung beschäftigt sich zwar mit der mittelbaren Kontrolle des sekundären Europarechts und schweigt zu den nicht umsetzungsbedürftigen Maßnahmen der Unionsorgane (wie eben die Durchführung eines Vorabentscheidungsverfahrens beim EuGH); eine Übertragung der Grundsätze ist jedoch möglich, weil es keinen Unterschied macht, ob in Rechtspositionen des Einzelnen direkt durch die Unionsorgane eingegriffen wird, oder ob vorher noch eine Umsetzung des Rechtsakts durch die Mitgliedstaaten erforderlich ist, vgl. Ottaviano, Rechtzeitiger Rechtsschutz, S. 254. – Bereits die frühere Europäische Kommission für Menschenrechte hatte ihre Prüfung solange zurückgestellt, wie der EuGH adäquaten Grundrechtsschutz gewährleistet; vgl. EKMR, Entsch. v. 9.2.1990 – Nr. 13258/87 – Melchers u. a./Deutschland und EGMR, Urt. v. 18.2.1999 – Nr. 26083/94, Rn. 67 ff. – Waite und Kennedy/Deutschland. 303 BVerfGE 37, 271 („Solange I“); 73, 339 („Solange II“). 304 Spätestens mit dem neuerdings in Art. 6 Abs. 2 EUV vorgesehenen Beitritt der EU zur EMRK wird dieses Verhältnis jedoch durch eine rechtliche Unterordnung des Unionsrechts unter die EMRK geklärt werden. 305 Vgl. auch die Einschätzung bei Dörr, EuGRZ 2008, 349, 352: „Ob diese Rechtsprechung in Straßburg auch fortgeführt würde, wenn der EuGH demnächst in Kindschafts- oder Haftsachen angerufen wird, mag zweifelhaft erscheinen. Jedenfalls ist beim aktuellen Stand des

E. Spannungsverhältnis Vorabentscheidung / Beschleunigungsgebot

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4. Ergebnis und Gesichtspunkte im Rahmen der Prüfung der Angemessenheit Abschließend ist damit festzustellen, dass das Vorabentscheidungsverfahren als integraler Bestandteil des deutschen oder eines sonstigen mitgliedstaatlichen Strafverfahrens entgegen der Ansicht des EGMR die überlange Verfahrensdauer und damit einen Verstoß gegen das konventionsrechtliche Beschleunigungsgebot aus Art.  6 Abs.  1 S.  1 EMRK (mit) be­gründen kann306. Im Rahmen der vorzunehmenden Gesamtbetrachtung aller Umstände des Einzelfalls müsste wohl die Rechtsprechung des EGMR, wonach bei der Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer vor den nationalen Verfassungsgerichten wie dem Bundesverfassungsgericht deren besondere Stellung im Verfahren und ihre speziellen Aufgaben im Rahmen der Rechtsgewährung berücksichtigt werden können, zumindest ansatzweise auch auf Vorabentscheidungsverfahren beim Gerichtshof der Europäischen Union übertragen werden. So hat der EGMR in Gast und Popp/Deutschland entschieden307: „As regards the conduct of the Federal Constitutional Court, the Court recalls that, as it has repeatedly held, Article 6 § 1 imposes on the Contracting States the duty to organise their judicial systems in such a way that their courts can meet each of its requirements, including the obligation to hear cases within a reasonable time. Although this obligation applies also to a Constitutional Court, when so applied it cannot be construed in the same way as for an ordinary court. Its role as guardian of the Constitution makes it particularly necessary for a Constitutional Court sometimes to take into account other considerations than the mere chronological order in which cases are entered on the list, such as the nature of a case and its importance in political and social terms. Furthermore, while Article 6 requires that judicial proceedings be expeditious, it also lays emphasis on the more general principle of the proper administration of justice.“ Verhältnisses zwischen Luxemburg und Straßburg davon auszugehen, dass ein rechtsschutzrechtliches Beschleunigungsgebot, an dessen Geltung nicht zu zweifeln ist, gegen den EuGH praktisch schwer durchsetzbar ist.“ 306 Für die Berücksichtigung der Dauer von Vorabentscheidungsverfahren auch Grabenwarter, EMRK, § 24 Rn. 68; ders., EuR 2003, Beiheft 1, 55, 56; Heger, HRRS 2008, 413, 417; Waßmer, ZStW 118 (2006), 159, 176; Abetz, Justizgrundrechte, S. 97; Hecker, Europäisches Strafrecht, § 6 Rn. 21, 24; Jokisch, Gemeinschaftsrecht und Strafverfahren, S. 196 f.; Rengeling/Szczekalla, Grundrechte EU, Rn. 1174; Hugger, in: Ahlbrecht u. a., Internationales Strafrecht, Rn. 587; Schulze/Walter, EuGRZ 2008, 341; Haase, Faires Gerichtsverfahren, S. 78 f.; Beulke, Strafprozessrecht, Rn.  26; Heß, ZZP 1995, 59, 102 ff.; implizit Jarass, EU-Grundrechte, § 40 Rn.  43; wohl auch der ehemalige EGMR-Richter Peukert, Mélanges Ryssdal, S. 1107, 1118 f. – Umgekehrt kann schließlich auch die willkürliche Verweigerung der Vorlage an den EuGH durch ein nationales Gericht einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK begründen; vgl. EGMR, Entsch. v. 4.10.2001 – Nr. 60350/00 – Canela Santiago/Spanien. 307 EGMR, Urt. v. 25.2.2000 – Nr. 29357/95, Rn. 75 – Gast und Popp/Deutschland. Siehe auch EGMR, Urt. v. 16.9.1996  – Nr.  20024/92, Rn.  57 ff.  – Süßmann/Deutschland; Urt. v. 1.7.1997 – Nr. 17820/91, Rn. 68 f. – Pammel/Deutschland; Urt. v. 27.7.2000 – Nr. 33379/96, Rn.  42  – Klein/Deutschland; Urt. v. 12.6.2001  – Nr.  39914/98, Rn.  62 ff.  – Tričković/ Slowenien.

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1. Teil: Begriffsklärung und Problemdarstellung

Die genannten Gründe lassen sich ebenso in Bezug auf die EuGH-Rechtsprechung vorbringen, insbesondere muss der Gerichtshof der Europäischen Union bei seinen unionsweit gel­tenden Entscheidungen das oftmals lückenhafte Unionsrecht fortentwickeln und dabei die Interessen der Union sowie 27 verschiedene Rechtsordnungen bedenken. Insofern sollte den Luxemburger Richtern ein gewisser Spielraum für die Bearbeitung von Vorlageersuchen zugestanden werden308, der aber wiederum auch berücksichtigen sollte, dass Vorabentscheidungsverfahren als Zwischenverfahren zu einem nationalen Verfahren konzipiert sind und dementsprechend rasch entschieden werden sollten309. Hinzu kommt, dass die Verfahrensverlängerung nicht dem Beschuldigten zugerechnet werden kann, weil sie ohne sein Verschulden eintritt und er keine Möglichkeit hat, die Beschleunigung des Vorabentscheidungsverfahrens zu erreichen310. Vor diesem Hintergrund ist die Vereinbarkeit bereits einer anderthalb- bis zweijährigen Verfahrensdauer allein im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens mit dem Beschleunigungsgebot mehr als fraglich311. Immerhin hat der EGMR selbst im Jahr 2003 erstmals beiläufig als Faustregel für Art.  6 Abs.  1 EMRK aufgestellt, dass jede Instanz nur ein Jahr dauern dürfe312. Wenngleich diese Aussage wohl etwas zu knapp bemessen ist – obschon sie vom Gerichtshof in seiner weiteren Rechtsprechung immer wieder aufgegriffen wird  –, sollte zumindest das Überschreiten von zwei Jahren pro Instanz vermieden werden313. Zwar beträgt die durchschnittliche Verfahrensdauer vor dem EuGH in Vorabentscheidungsverfahren derzeit nicht ganz zwei Jahre, allerdings ist erstens diese Angabe nur ein Durchschnittswert, so dass es einige Verfahren gibt, für die der EuGH über zwei 308 So wohl auch Jarass, EU-Grundrechte, § 40 Rn. 43; Heger, Europäisierung des Umweltstrafrechts, S. 46. 309 Vgl. Grabenwarter, EuR 2003, Beiheft 1, 55, 56; Ottaviano, Rechtzeitiger Rechtsschutz, S. 222. 310 Jokisch, Gemeinschaftsrecht und Strafverfahren, S. 196. – Auf der anderen Seite geht die Anregung zur Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens des Öfteren vom Beschuldigten aus. Zumindest in nicht-strafrechtlichen Verfahren sei die Verzögerung des Verfahrens durch eine Vorlage an den EuGH schließlich ein hervorragendes Mittel für den Beklagten, um Zeit zu gewinnen und Druck auf die Gegenpartei auszu­üben, vgl. Groh, Auslegungsbefugnis, S. 21 Fn. 5. Aber auch in strafrechtlichen Verfahren könnte der Hinweis auf eine sonst nötige Vorlage zum EuGH und die dadurch eintretende Verfahrensverlängerung das Gericht zu einer Straf­ milderung bewegen; vgl. ähnlich Heger, Europäisierung des Umweltstrafrechts, S. 48. 311 Due-Report über die Zukunft des Gerichtssystems der Europäischen Gemeinschaften, S. 7; Grabenwarter, EuR 2003, Beiheft 1, 55, 56; Brück, Vorabentscheidungsverfahren, S. 194 f. 312 EGMR, Urt. v. 20.2.2003 – Nr.  50272/99, Rn.  79 – Hutchison Reid/Vereinigtes Königreich: „[O]ne year per instance may be a rough rule of thumb in Article 6 § 1 cases“. – Siehe auch EGMR, Urt. v. 8.2.2005 – Nr. 45100/98, Rn. 117 – Panchenko/Russland; Urt. v. 7.4.2005 – Nr. 54071/00, Rn. 74 – Rokhlina/Russland; Urt. v. 8.11.2005 – Nr. 6847/02, Rn. 193 – Khudoyorov/ Russland; Urt. v. 24.5.2007 – Nr. 27193/02, Rn. 111 – Ignatov/Russland; Urt. v. 9.10.2008 – Nr. 62936/00, Rn. 160 – Moiseyev/Russland. 313 Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 6 Rn. 77. Überhaupt verwundert es, dass der EGMR diese Faustregel ange­bracht hat, weil er ja selbst für die genannten Entscheidungen zwischen drei und acht Jahre benötigte.

E. Spannungsverhältnis Vorabentscheidung / Beschleunigungsgebot

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Jahre und länger benötigt314, zweitens darf nicht vergessen werden, dass zu der reinen Bearbeitungszeit vor dem EuGH noch die Zeit der Vor- und Nachbereitung des Ersuchens durch das mitgliedstaatliche Ausgangsgericht hinzukommt, und drittens konstituiert das Vorabentscheidungsverfahren gar keine eigene Instanz im eigentlichen Sinne, weil es als Inzidentverfahren zum nationalen Prozess konzipiert ist. Doch selbst wenn das durchgeführte Vorabentscheidungsverfahren als solches sich noch im Rahmen des Angemessenen hält, so muss nach der Rechtsprechung des EGMR berücksichtigt werden, dass auch mehrere Verfahrensabschnitte, deren jeweilige Dauer für sich genommen noch angemessen erscheinen, in ihrer Gesamtheit zur Unangemessenheit der Verfahrenslänge führen können. Da das Europarecht hauptsächlich die Bereiche des Steuer-, Umwelt- und Wirtschaftsstrafrechts beeinflusst, d. h. Vorabentscheidungsverfahren insbesondere bei Delikten eingeleitet werden, die typischerweise im Bereich der kleinen bis mittleren Kriminalität anzusiedeln sind und bei denen meist auch die tatsächlichen Feststellungen einigen Aufwand erfordern, kann die Vorlage nach Luxemburg unter Umständen zu einer insgesamt nicht mehr angemessenen Verfahrensdauer führen. Wenn solch ein Verfahren über alle Instanzen geführt wird, kann es nicht nur in Ausnahmefällen zu der nach Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK kritischen Achtjahresfrist kommen315. Bisher wird die durch ein Vorabentscheidungsverfahren in Strafsachen mög­ licherweise um Jahre verlängerte Verfahrensdauer auf nationaler Ebene durch die Gewährung einer Strafmilderung bzw. neuerdings durch die Anrechnung auf die zu vollstreckende Strafe oder im Extremfall sogar die Einstellung des gesamten Verfahrens ausgeglichen. Sehr fraglich ist jedoch, ob diese Art von Reaktion die beste Auflösung des Spannungsfeldes zwischen europarechtlichen und menschen- bzw. verfassungsrechtlichen Anforderungen darstellt. Immerhin sind im Extremfall Konstellationen denkbar, bei denen ein mitgliedstaatliches Gericht aufgrund der Vorlageverpflichtung aus Art. 267 Abs. 3 AEUV den EuGH mit einer unionsrecht­lichen Frage befasst, obwohl abzusehen ist, dass die durch das Vor­ abentscheidungsverfahren bedingte Verfahrensverlängerung wegen des geringen Tatvorwurfs zu einer an Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK gemessenen Überlänge des nationalen Verfahrens führen wird und mithin das Verfahren einzustellen ist316. 314

So Everling, EuR 2003, Beiheft 1, 7, 12. So schon von Danwitz, NJW 1993, 1108, 1113; ähnlich Heger, Europäisierung des Umweltstrafrechts, S.  46; Abetz, Justizgrundrechte, S.  97 f.  – Hinzu kommt, wie Kramer, An­ gemessene Dauer, S. 177 f. zutreffend ausführt, dass die „angemessene Frist“ bei Delikten der kleineren und mittleren Kriminalität kürzer gefasst ist. 316 Anschaulich Heger, HRRS 2008, 413, 417 f.: „Während der Klärung europarechtlicher Vorfragen schwebt bildlich gesprochen das Damoklesschwert einer gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK verstoßenden Überlänge des laufenden Verfahrens, das – schlägt es auf dieses hernieder – zugleich auch dem Vorabentscheidungsverfahren den Boden entzieht.“ In diese Richtung auch Satzger, Europäisierung, S. 669, der bezweifelt, dass auf lange Sicht der bloße Ausgleich auf strafzumessungsrechtlicher Ebene hingenommen werden kann; vgl. dazu bereits Schomburg, NJW 2000, 1833, 1839. 315

Zweiter Teil

Darstellung und kritische Analyse des neuen Eilvorlageverfahrens vor dem Gerichtshof der Europäischen Union 2. Teil: Neues Eilvorlageverfahren vor dem EuGH Der EuGH selbst hat den Konflikt mit dem Beschleunigungsgebot, der aus der Durchführung eines Vorabentscheidungsverfahrens resultieren kann, ebenfalls erkannt1 und eine Änderung seiner Verfahrensordnung und Satzung angeregt, die zum 1. März 2008 in Kraft getreten ist2. Mit ihr wurde ein Eilvorlageverfahren für Vorabentscheidungsersuchen eingeführt, die Fragen zum sogenannten Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts aufwerfen (ehemals Titel VI des EU-Vertrags oder Titel IV des Dritten Teils des EG-Vertrags, seit dem Vertrag von Lissabon Titel V des Dritten Teils des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union). So soll der Gerichtshof die Möglichkeit erhalten, in begründeten – nicht selten grundrechtlich besonders brisanten – Fällen rasch zu einer Antwort auf die vorgelegte europarechtliche Frage zu gelangen.

A. Entstehungsgeschichte Dass aufgrund der stark gestiegenen Arbeitsbelastung insbesondere durch Vorabentscheidungsersuchen grundsätzlicher Reformbedarf bei den europäischen Gerichten besteht, ist mittlerweile allgemeine Meinung3: In den vergangenen Jahren wurden dem EuGH nicht nur neue Zuständigkeiten übertragen, die teilweise Rechtsgebiete betreffen, die dem Unionsrecht bislang fremd waren – so etwa die durch den Vertrag von Amsterdam in ex-Art. 35 EUV eingefügte Zuständigkeit für Vorlagen zur polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen. Sondern auch das herkömmliche Europarecht wächst immer weiter an; hinzu kommt darüber hinaus die Erweiterung der Union auf nunmehr 27 Mitgliedstaaten, denen



1

EuGH, Reflexionspapier v. 25.9.2006, DOK 13272/06 und Ergänzung v. 22.12.2006, DOK 17013/06. 2 ABl.EU 2008 Nr. L 24, S. 39 und 42. 3 Vgl. statt aller bereits das Reflexionspapier des EuGH v. 28.5.1999, EuZW 1999, 750 f. und Due-Report über die Zukunft des Gerichtssystems der Europäischen Gemeinschaften vom Januar 2000, S. 7; Rengeling/Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Handbuch Rechtsschutz, § 1 Rn. 8 ff.; Hakenberg/Stix-Hackl, Handbuch EuGH, 2. Aufl., S. 31; Lenarts, in: Pernice/Kokott/Saunders, European Judicial System, S. 211, 212; Haase, Faires Gerichtsverfahren, S. 465 ff.; Ottaviano, Rechtzeitiger Rechtsschutz, S. 77 f.

A. Entstehungsgeschichte

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in absehbarer Zukunft noch weitere folgen könnten4. Angesichts der prinzipiellen Überlastung der europäischen Gerichtsbarkeit bildet das nunmehr eingeführte Eilverfahren nur den bislang letzten Teil  eines bereits laufenden Reformprozesses. Die zur Einführung des neuen Eilvorlageverfahrens vorgenommenen Änderungen in der Verfahrensordnung und der Satzung des Gerichtshofs werden besser verständlich, wenn sie vor dem Hintergrund der früher unternommenen Beschleunigungsversuche betrachtet werden. I. Bisherige Reformmaßnahmen mit dem Ziel der Verfahrensbeschleunigung

Wegen der Mitbestimmungsbefugnisse bei der Ausgestaltung des europäischen Prozessrechts ergreift der EuGH immer wieder selbst die Initiative und bringt Verbesserungsvorschläge zur Optimierung des Verfahrensablaufs ein. Vor dem Anstoß zur Einführung des hier zu diskutierenden Eilverfahrens haben die Luxemburger Richter bereits im Frühjahr 1999 dem Rat ein Reflexionspapier über die „Zukunft des Gerichtssystems in der Europäischen Union“ vorgelegt, in dem nicht nur Änderungen der Verfahrensordnung und der Satzung vorgeschlagen, sondern auch grundlegende Perspektiven über die künftige Ausgestaltung des europäischen Gerichtssystems dargestellt wurden5. Mit den dadurch initiierten Änderungen der Verfahrensordnung des EuGH wurden folgende Neuerungen eingeführt: 1. Beschleunigtes Verfahren nach Art. 104a VerfOEuGH Seit dem 1. Juli 2000 kann der Präsident des EuGH gemäß Art. 104a ­VerfOEuGH6 auf Antrag des vorlegenden nationalen Gerichts und auf Vorschlag des Bericht­ erstatters nach Anhörung des Generalanwalts beschließen, dass das Vorabentschei 4 Auf der offiziellen EU-Website werden etwa Kroatien, Mazedonien und die Türkei als Kandidatenländer genannt und Albanien, Bosnien und Herzegowina, Kosovo, Montenegro, Serbien und Island als potenzielle Beitrittskandidaten aufgezählt, vgl. . 5 EuGH, Reflexionspapier v. 28.5.1999, EuZW 1999, 750 ff. Darauffolgend hat die Kommission im Januar 2000 den Abschlussbericht der von ihr eingesetzten „Gruppe zur Reflexion über die Zukunft des Gerichtssystems der Gemeinschaften“, den sogenannten Due-Report, veröffentlicht, der ebenfalls verschiedene Reformmöglichkeiten enthält. 6 Art. 104a VerfOEuGH bestimmt: „Auf Antrag des nationalen Gerichts kann der Präsident auf Vorschlag des Berichterstatters nach Anhörung des Generalanwalts ausnahmsweise beschließen, ein Vorabentscheidungsersuchen einem beschleunigten Verfahren unter Abweichung von den Bestimmungen dieser Verfahrensordnung zu unterwerfen, wenn sich aus den angeführten Umständen die außer­ordentliche Dringlichkeit der Entscheidung über die zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage ergibt.

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2. Teil: Neues Eilvorlageverfahren vor dem EuGH

dungsersuchen in einem beschleunigten Verfahren (der sogenannten procédure accélérée) verhandelt wird. Die Beschleunigung ergibt sich daraus, dass zwar alle Verfahrensabschnitte eines normalen Vorabentscheidungsersuchens durchgeführt werden, aber das schriftliche Verfahren stark abgekürzt wird und dafür der mündlichen Verhandlung eine größere Rolle zukommt7. Wegen der verkürzten Schriftsatzfrist von mindestens 15 Tagen  – allerdings gemäß Art.  81 § 2 VerfOEuGH zuzüglich der pauschalen Entfernungsfrist von zehn Tagen – und der lediglich einfachen Anhörung des Generalanwalts konnten die bisherigen beschleunigten Verfahren innerhalb von gut zwei bis sechs Monaten abgeschlossen werden. Voraussetzung für die Durchführung des beschleunigten Verfahrens ist indes „die außerordentliche Dringlichkeit der Entscheidung über die zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage“, die im Vorlagebeschluss kon­kret dargelegt werden muss. Bei der Anerkennung dieser „außergewöhnlichen Dringlichkeit“ ist der EuGH sehr zurückhaltend, wie sich an den nur vier durchgeführten beschleunigten Vorab­ entscheidungsverfahren in den ersten zehn Jahren seit 2000 zeigt8. Bisher wurde sie in Vorabentscheidungen nur in Fällen großer Gefahren für die Gesundheit von Menschen und Tieren, bei inhaftierten Betroffenen und bei gravierenden Fami­ lientrennungen angenommen9. In diesem Fall bestimmt der Präsident sofort den Termin für die mündliche Verhandlung, der den Parteien des Ausgangsverfahrens und den in Artikel 23 der Satzung bezeichneten Beteiligten mit der Zustellung der Vorlageentscheidung mitgeteilt wird. Die Parteien und die anderen im vorstehenden Absatz bezeichneten Beteiligten können innerhalb einer vom Präsidenten gesetzten Frist von mindestens 15 Tagen Schriftsätze oder schriftliche Erklärungen einreichen. Der Präsident kann die Parteien und die anderen Beteiligten auffordern, ihre Schriftsätze oder schriftlichen Erklärungen auf die wesentlichen von der Vorlagefrage aufgeworfenen Rechtsfragen zu beschränken. Die gegebenenfalls eingereichten Schriftsätze oder schriftlichen Erklärungen werden den vorstehend genannten Parteien und anderen Beteiligten vor der Sitzung übermittelt. Der Gerichtshof entscheidet nach Anhörung des Generalanwalts.“ 7 Näher zum beschleunigten Verfahren Wägenbaur, EuGH VerfO, Art. 104a Rn. 1 ff.; Schima, Vorabentscheidungsverfahren, S.  149 f.; Karpenstein, in: Grabitz/Hilf, REU, Art.  234 EGV Rn. 87 f.; Hackspiel, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Handbuch Rechtsschutz, § 26 Rn. 7 ff. 8 Im Jahr 2010 sind dagegen weitere vier Anträge auf Anwendung des Art. 104a VerfOEuGH angenommen worden. Ob dies einen generellen Trend zu einer großzügigeren Aus­legung der „außer­ordentlichen Dringlichkeit“ begründet, bleibt abzuwarten. 9 Dabei wurde das beschleunigte Verfahren in den ersten acht Jahren seit seinem Inkraft­ treten nur einmal, nämlich 2001 in einem Vorabentscheidungsverfahren betreffend die Maul- und Klauen­seuche angewendet (EuGH, Urt. v. 12.7.2001 – Rs. C-189/01, Slg. 2001, I-5689 – Jippes). Zwei weitere beschleunigte Vorabentscheidungsverfahren stammen aus dem Jahr 2008: Zum einen wurde Art. 104a VerfOEuGH bei einer Vorlage des OLG Stuttgart betreffend den Rahmenbeschluss zum Europäischen Haftbefehl angewendet (EuGH, Urt. v. 17.7.2008 – Rs. C-66/08, Slg. 2008, I-6041 – Kozłowski); zum anderen bei einer Vorlage des irischen High Court betreffend das Aufenthaltsrecht für Drittstaatsangehörige (EuGH, Urt. v. 25.7.2008 – Rs. C-127/08, Slg. 2008, I-6241 – Metock u. a.). In einer Rechtssache aus dem Jahr 2009 hat der EuGH die Anwendung des Art. 104a VerfOEuGH für ein Ersuchen des OLG Düsseldorf angeordnet, u. a. weil sich die wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung Angeklagten in Untersuchungshaft befanden, vgl. EuGH, Urt. v. 29.6.2010 – Rs. C-550/09 – Strafverfahren gegen E und F. Die beschleunigten Verfahren im Jahr 2010 beschäftigten sich mit der Frage des Elternurlaubs

A. Entstehungsgeschichte

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Zwar ermöglicht das beschleunigte Verfahren eine schnelle Behandlung drin­ gender Fälle, allerdings vermag es das grundsätzliche Problem der langen Verfahrensdauer vor dem EuGH nicht zu lösen10. Schließlich umfasst auch das beschleunigte Verfahren im Wesentlichen die Verfahrensschritte des normalen Vorabentscheidungsverfahrens, so dass die Beschleunigung hauptsächlich dadurch erreicht wird, dass der betreffenden Rechtssache absoluter Vorrang vor allen anderen anhängigen Verfahren eingeräumt wird. Da die Beschleunigung folglich auf Kosten der weiteren Verfahren erzielt wird, hält auch der Gerichtshof selbst das beschleunigte Verfahren gemäß Art. 104a VerfOEuGH für wenig zweckmäßig zur prinzipiellen Entlastung des EuGH11. 2. Vereinfachtes Verfahren nach Art. 104 § 3 VerfOEuGH sowie sonstige beschleunigende Maßnahmen Als Gegenstück zu den den mitgliedstaatlichen Gerichten eingeräumten Ausnahmen von der Vorlagepflicht eröffnet das vereinfachte Verfahren gemäß Art. 104 § 3 VerfOEuGH dem Europäischen Gerichtshof die Möglichkeit, nach Anhörung des Generalanwalts ohne mündliche Verhandlung durch einen mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden, wenn eine zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage mit einer früheren Frage übereinstimmt, über die der Gerichtshof bereits entschieden hat bzw. wenn die Antwort auf eine solche Frage klar aus der Rechtsprechung abgeleitet werden kann oder aber die Beantwortung der Frage keinen Raum für vernünftige Zweifel lässt. Nur in letzterem Fall („kein Raum für vernünftige Zweifel“) wird das vorlegende Gericht über den beabsichtigten Beschluss (EuGH, Urt. v. 16.9.2010 – Rs. C-149/10 – Chatzi), dem Schengener Abkommen, wobei die vom Verfahren Betroffenen in Auslieferungshaft saßen (EuGH, Urt. v. 22.6.2010 – Rs. C-188/10 und C-189/10 – Melki), sowie dem Sorgerecht (EuGH, Urt. v. 9.11.2010 – Rs. C-296/10 – ­Purrucker). – Ein beschleunigtes Verfahren gibt es ferner bei Direktklagen (vgl. Art.  62a ­VerfOEuGH, siehe auch Art. 76a VerfOEuG) und bei Rechtsmitteln; auch dort kam es beim Europäischen Gerichtshof bislang jedoch zu lediglich zwei bzw. einem Anwendungsfall. – Eine verhältnis­mäßig hohe Anzahl von Anträgen auf Durchführung des beschleunigten Verfahrens bei Vorabentscheidungsersuchen wurde dagegen abgelehnt (laut den Rechtsprechungsstatis­ tiken des EuGH bis Ende 2010 insgesamt 51; nimmt man die Abweisungen in den anderen Verfahrensarten noch dazu, sind es insgesamt 66), weil der Gerichtshof die vorgebrachten Gründe als nicht ausreichend angesehen hat: nicht genügend waren z. B. die große Zahl der betroffenen Personen und Rechtsverhältnisse (vgl. EuGH, Beschl. v. 21.9.2006 – Rs. C-283/06, Slg. 2006, I-Rn. 9 – KÖGÁZ), die wiederholte Befassung des vorlegenden Gerichts mit derselben Frage (vgl. EuGH, Urt. v. 19.6.2003 – Rs. C-315/01, Slg. 2003, I-6351, Rn. 23 f. – GAT), das hinter einem Verfahren stehende wirtschaftliche Interesse (vgl. EuGH, Beschl. v. 15.9.2004  – Rs. 341/04, Rn. 12 – Eurofood; Beschl. v. 9.4.2003 – Rs. C-424/01, Slg. 2003, I-3249, Rn. 19 f. – CS Austria)  sowie die Auswirkungen auf die nationalen Haushalte (vgl. EuGH, Beschl. v. 8.11.2007 – Rs. C-456/07, Rn. 8 – Mihal). 10 Statt aller Kokott/Dervisopoulos/Henze, EuGRZ 2008, 10, 11 f.; Lenz, EuGRZ 2001, 433, 438 f. 11 EuGH, Reflexionspapier v. 25.9.2006, DOK 13272/06, S.  2; vgl. auch EuGH, Jahres­ bericht 2007, S. 9.

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2. Teil: Neues Eilvorlageverfahren vor dem EuGH

unterrichtet und den Beteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben, wobei der EuGH auf die Rechtsprechung hinweist, aus der sich die aus seiner Sicht unzweifelhafte Antwort ableiten lässt12. Von der Möglichkeit, per Beschluss im vereinfachten Verfahren zu entscheiden, macht der Gerichtshof in circa fünf bis zehn Prozent der Vorabentscheidungsersuchen Gebrauch13. Wenngleich das vereinfachte Verfahren den dialoghaften Charakter des Vorabentscheidungsverfahrens wahrt, bringt auch dieser Beschleunigungsversuch aufgrund der Beteiligungs­ möglichkeit aller Mit­gliedstaaten im zeitaufwändigen schriftlichen Verfahren im Ergebnis wenig14. Der raschen Durchführung des Vorabentscheidungsverfahrens sollen noch folgende Maßnahmen dienen: Gemäß Art. 55 § 2 VerfOEuGH kann der Gerichtshof bei der Terminierung der mündlichen Verhandlung eine Rechtssache vorrangig behandeln, wenn ein „besonderer Fall“ vorliegt15. Art. 104 § 4 VerfOEuGH ermöglicht es, von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung abzusehen, sofern keiner der Beteiligten einen Antrag stellt, in dem die Gründe aufgeführt sind, aus denen eine mündliche Verhandlung stattfinden sollte16. Außerdem kann der Gerichtshof das vorlegende Gericht um Klarstellungen ersuchen, Art. 104 § 5 Verf­OEuGH, und den Beteiligten praktische Anweisungen insbesondere zur Vorbereitung und zum Ablauf der Sitzungen sowie zur Einreichung von Schriftsätzen oder schriftlichen Erklärungen erteilen, Art. 125a VerfOEuGH. Schließlich führt auch die Nutzung moderner Kommunikationsmittel (Fax und E-Mail, vgl. Art. 37 § 6, 79 § 2 12 Ursprünglich war das Erfordernis der Unterrichtung und Gelegenheit zur Äußerung für alle Fälle, in denen der Gerichtshof durch Beschluss entscheiden wollte, vorgesehen. Weil dadurch das Verfahren aber um etwa anderthalb Monate verlängert wurde, ohne dass neue Gesichtspunkte vorgetragen wurden, ist es seit dem 1.9.2005 (vgl. ABl.EU 2005 Nr. L 203, S. 19) teilweise gestrichen. 13 2010 wurden 24 vereinfachte Verfahren, 2009 derer 22 durchgeführt (EuGH, Jahres­ bericht 2010, S.  10 und Jahresbericht 2009, S.  11); gemessen an den insgesamt erledigten Vorlage­ersuchen kam Art.  104 § 3 VerfOEuGH also in gut sechs bzw. sieben Prozent der Rechtssachen zur Anwendung. Im Jahr 2008 lag der Prozentsatz sogar bei etwa 13,5 % (39 von 288 Vorlagen, wobei die Zahl der vereinfachten Verfahren gegenüber 2007 verdoppelt wurde; vgl. EuGH, Jahresbericht 2008, S.  10 f.)  – Leider werden die Beschlüsse nach Art.  104 § 3 ­VerfOEuGH selten veröffentlicht, vgl. Schima, Vorabentscheidungsverfahren, S. 149; Karpenstein, in: Grabitz/Hilf, REU, Art. 234 EGV Rn. 89. 14 Dörr, EuGRZ 2008, 349, 352; Lenz, EuGRZ 2001, 433, 438. 15 Von dieser Bestimmung wurde im Jahr 2009 in acht Fällen Gebrauch gemacht, siehe EuGH, Jahresbericht 2009, S. 11. 2010 wurden 14 Verfahren vorrangig behandelt, vgl. EuGH, Jahresbericht 2010, S. 10. 16 Hierfür gilt jedoch das gleiche wie für das vereinfachte Verfahren: Im Verhältnis zur Länge des schriftlichen Verfahrens fällt die mündliche Verhandlung nicht groß ins Gewicht. – Lenz, EuGRZ 2001, 433, 439 gibt grundsätzlich gegen eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zu bedenken, dass damit gegebenenfalls die Möglichkeit genommen wird, auf das Vorbringen anderer Beteiligter zu antworten, da dies in Vor­abentscheidungsverfahren mangels einer zweiten Schriftsatzrunde prinzipiell erst in der mündlichen Verhandlung möglich ist. Dem Entfallen der mündlichen Verhandlung wird auch vor dem Hintergrund des Art. 6 EMRK skeptisch begegnet, vgl. Everling, EuR 2003, Beiheft 1, 7, 28 ff.

A. Entstehungsgeschichte

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VerfOEuGH) zu einer Beschleunigung der Dokumentenübermittlung und damit des Vorabentscheidungsverfahrens insgesamt. 3. Änderungen durch den Vertrag von Nizza Wesentliche organisatorische Änderungen wurden auch auf der Regierungs­ konferenz in Nizza im Dezember 2000 beschlossen, die im Februar 2003 in Kraft traten. Vorabentscheidungsverfahren betreffend ist insbesondere die neue Zuständigkeitsverteilung zwischen dem Europäischen Gerichtshof und dem Gericht (früher sogenanntes Gericht erster Instanz) hervorzuheben: Zwar soll der Gerichtshof, der für die einheitliche Anwendung des Unionsrechts zu sorgen hat, im Grundsatz auch weiterhin für Vorabentscheidungsersuchen zuständig sein, allerdings können Vorlagen zu bestimmten, in der Satzung noch festzulegenden Sachgebieten seitdem nach Art. 256 Abs. 3 AEUV (ex-Art. 225 Abs. 3 EGV) auch dem Gericht zur Entscheidung übertragen werden17. Darüber hinaus hat der Vertrag von Nizza dazu geführt, dass die Entscheidung einer Rechtssache durch das Plenum des EuGH von der Regel zur Ausnahme geworden ist18. Außerdem kann nach Art. 20 Abs. 5 der EuGH-Satzung auf die Schlussanträge des Generalanwalts verzichtet werden, wenn der Gerichtshof der Auffassung ist, dass das Verfahren keine neuen Rechtsfragen aufwirft19. II. Vorüberlegungen zum neuen Eilvorlageverfahren

Wenngleich die Änderungen der Verfahrensbestimmungen durch den Vertrag von Nizza und parallel dazu erfolgte Änderungen der Verfahrensordnung zu einer durchaus sub­stantiellen Verkürzung der Verfahrensdauer in Vorabentschei 17 Das EuG soll dann jedoch, wenn es der Auffassung ist, dass die Rechtssache eine Grundsatzentscheidung erfordert, die die Einheit oder die Kohärenz des Unionsrechts berührt, das Verfahren an den EuGH verweisen. Das Kriterium der Einheitlichkeit des Europarechts ist auch maßgeblich für die Entscheidung des Ersten Generalanwalts, ob er eine Überprüfung des vom Gericht erster Instanz gefällten Urteils über das Vorlageersuchen durch den EuGH vorschlägt. – Angesichts des fraglichen Beschleunigungseffekts und der ungeklärten Frage, welche Er­suchen dem Gericht übertragen werden könnten, ist es bisher bei der Monopolstellung des EuGH für Vorabentscheidungsverfahren geblieben. Ausführlich zu einer möglichen Übertragung von Vorlagen auf das EuG unten im Dritten Teil unter B. I. 2. 18 So wurde bereits seit 2007 keine Entscheidung mehr durch das Plenum gefällt, wenngleich Ende 2010 wieder eine Rechtssache dort anhängig war, siehe EuGH, Jahresbericht 2010, S. 104. Der weitaus größte Teil der Rechtssachen wird von den Kammern mit fünf Richtern entschieden (288 von 496 Rechtssachen im Jahr 2010, d. h. ca. 58 %), gefolgt von den Kammern mit drei Richtern (132 Rechtssachen, ca. 27 %) und dann erst der Großen Kammer mit 13 Richtern (71 Rechtssachen, ca. 14 %). 19 Seit 2009 entscheidet der EuGH in etwa 50 % aller Rechtssachen ohne Schlussanträge, siehe EuGH, Jahresbericht 2009, S. 11 und Jahresbericht 2010, S. 10; im Jahr 2008 waren es erst 41 %. – Dörr, ­EuGRZ 2008, 349, 352 allerdings be­zweifelt den dadurch erreichbaren Beschleunigungseffekt.

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2. Teil: Neues Eilvorlageverfahren vor dem EuGH

dungsverfahren geführt haben (von maximalen 25,5 Monaten im Jahr 2003 auf 16,1 Monate in 201020), so ist doch – nicht zuletzt an der 2009 wieder gestiegenen durchschnittlichen Verfahrensdauer – festzustellen, dass eine weitere spürbare Beschleunigung des (herkömmlichen) Vorabentscheidungsverfahrens insbesondere angesichts der stetigen Tendenz der Zunahme der Vorlagen und noch anhängigen Rechtssachen21 praktisch kaum realisierbar sein wird22. Dies liegt daran, dass die geltenden Verfahrensvorschriften für die Behandlung von Vorabentscheidungs­ ersuchen eine große Zahl von Verfahrensschritten und -fristen vorsehen, die nicht beliebig übersprungen oder verkürzt werden können. Vor allem die während eines Vorlageverfahrens anfallenden Übersetzungen in alle 23 Amtssprachen der Union nehmen unweigerlich eine gewisse Zeit in Anspruch23. So stellte der Gerichtshof im Jahr 2006 bezogen auf das bis dahin einzige im Wege des beschleunigten Verfahrens durchgeführte Vorabentscheidungsverfahren seit der Einführung des Art. 104a VerfOEuGH fest24: „In der Vorabentscheidungssache entfiel nur eine Woche [des gesamten, 76 Tage umfassenden] Zeitraums auf die Entscheidung des Gerichtshofes und die Abfassung des Urteils. Bei den übrigen Fristen handelt es sich um Verfahrensfristen und Fristen für die Übersetzungen, die für die Behandlung der Rechtssache unerlässlich sind. Eine Verkürzung dieser Verfahrens- und Übersetzungsfristen ist so gut wie ausgeschlossen. Nach Ansicht des Gerichtshofes ist daher die Einführung eines neuartigen Verfahrens in Betracht zu ziehen, das es erlaubt, eine Rechtssache in einer noch kürzeren Frist zu behandeln, als sie in der Verfahrensordnung für das beschleunigte Verfahren vorgesehen ist.“

Die europäischen Institutionen bemerkten, dass gerade Rechtssachen, die den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts betreffen, von den Gerichten des Öfteren binnen strikter Fristen behandelt werden müssen, die sich aus nationalen, aber auch aus europarechtlichen Regelungen ergeben können25. Dass durch eine Anpassung der Verfahrensordnung eine angemessene Verfahrensdauer der Vor 20 Wobei seit dem Jahr 2008 bereits das hier vorzustellende Eilvorlageverfahren zur Senkung des Verfahrensdurchschnitts beigetragen hat; im Jahr 2007 lag die durchschnittliche Verfahrensdauer in Vorabentscheidungsverfahren noch bei 19,3 Monaten. 21 Eindrucksvoll diesbezüglich Skouris, EuGRZ 2008, 343, 349, der von einer Verdopplung der Gesamtbelastung des EuGH in der Zukunft ausgeht. Vgl. zur zu erwartenden Arbeitsbelastung des Gerichtshofs auch im Dritten Teil, B. III. 2. 22 Kokott/Dervisopoulos/Henze, EuGRZ 2008, 10, 11; Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Handbuch Rechtsschutz, § 10 Rn. 85; Lenz, EuGRZ 2001, 433, 438; vgl. auch EuGH, Reflexionspapier v. 25.9.2006, DOK 13272/06, S. 5. 23 Zurzeit etwa sieben Monate, vgl. dazu schon oben im Ersten Teil, E. I. 4. – Von der Erstellung einer irischen Übersetzung wird derzeit noch abgesehen, vgl. Art. 2 der VO 920/2005 (ABl.EU 2005 Nr. L 156, S. 3 f.). 24 EuGH, Reflexionspapier v. 25.9.2006, DOK 13272/06, S. 5. 25 Als Beispiel für eine unionsrechtliche Bestimmung auf dem strafrechtsähnlichen Gebiet der Auslieferung mag der Rahmenbeschluss 2002/584/JI des Rates vom 13.6.2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl.EG 2002 Nr. L 190, S. 1; im Folgenden Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl) dienen, der in Art. 17 detaillierte Fristenregelungen enthält.

A. Entstehungsgeschichte

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abentscheidungsersuchen für Fälle sichergestellt wird, die Fragen zum Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts aufwerfen, wurde bereits im sogenannten Haager Programm von 2004 gefordert26. Der Europäische Rat unterstrich darin die Bedeutung des Gerichtshofs für den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts und betonte, dass der EuGH in die Lage versetzt werden müsse, in diesem Bereich schnell entscheiden zu können. 1. Reflexionspapier des Gerichtshofs der Europäischen Union Daraufhin hat der Gerichtshof im September 2006 in einem Reflexionspapier zwei Lösungsansätze für ein neues Eilvorlageverfahren herausgearbeitet, welches auf Rechtssachen Anwendung finden soll, in denen „die Dringlichkeit der Entscheidung die Einhaltung der Fristen eines normalen oder eines beschleunigten Verfahrens von der Sache her nicht zulässt“27. Die erste – dann jedoch nicht umgesetzte – Lösungsoption wollte die Beschleunigung durch eine Beschränkung der Zahl der Verfahrensbeteiligten erreichen. Danach sollten nur die Parteien des nationalen Rechtsstreits, der Mitgliedstaat, dessen Gericht das Ersuchen gestellt hat, die Kommission und die Organe, die den Rechtsakt erlassen haben, dessen Gültigkeit in Zweifel gezogen oder dessen Auslegung begehrt wird, am Vorabentscheidungsverfahren beteiligt werden. Der Gerichtshof hätte seine Entscheidung dann mittels eines mit Gründen versehenen Beschlusses erlassen und diesen dem nationalen Ausgangsgericht zugestellt. Als Ausgleich für die weggefallene Beteiligung der anderen Mitgliedstaaten und Organe wäre die Beantragung einer nochmaligen Überprüfung des ersten Beschlusses des EuGH in einem sich anschließenden, normalen Verfahren möglich gewesen. Selbst wenn der Gerichtshof in diesem Verfahren zu einem anderen Ergebnis als im Beschluss hätte kommen sollen, wären davon die im Ausgangsverfahren bereits eingetretenen Wirkungen unberührt geblieben. Zwar wäre der Beschleunigungseffekt dieser Option, der durch die wenigen Beteiligten hätte erreicht werden können, erheblich; allerdings hätte die Überprüfungsmöglichkeit zu konträren Auslegungen durch den EuGH und damit zu Rechtsunsicherheit führen können. Außerdem ist die Möglichkeit der Beteiligung aller Mitgliedstaaten an einem Vorabentscheidungsverfahren entscheidend für die Akzeptanz der Rechtsprechung des EuGH: Immerhin sind es die nationalen Gerichte und Behörden, die das Europarecht anwenden müssen. Da die Beantwortung einer Vorlagefrage in allen Mitgliedstaaten berücksichtigt und grundsätzlich befolgt werden muss, sichert 26 Haager Programm zur Stärkung von Freiheit, Sicherheit und Recht in der Europäischen Union, ABl.EU 2005 Nr. C 53, S. 11; siehe auch die Schlussfolgerungen des Vorsitzes von der Tagung des Europäischen Rates v. 4./5.11.2004, DOK 14292/04, S. 36. 27 EuGH, Reflexionspapier v. 25.9.2006, DOK 13272/06, S.  5. Dieses Reflexionspapier wurde vom Gerichtshof Ende Dezember 2006 nochmals ergänzt, siehe EuGH, Ergänzung v. 22.12.2006, DOK 17013/06.

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2. Teil: Neues Eilvorlageverfahren vor dem EuGH

die Möglichkeit der Stellungnahme zum Vorabentscheidungsverfahren, dass jeder Mitgliedstaat vor dem Hintergrund seines jeweiligen Rechtssystems seine Auf­ fassung und etwaige Bedenken vorbringen kann. Um neben dem Gebot des effektiven Rechtsschutzes, das für grundrechtlich besonders brisante Fälle eine möglichst kurze Verfahrensdauer verlangt, deshalb auch dem Grundsatz des rechtlichen Gehörs für alle Mitgliedstaaten gerecht zu werden, setzt die zweite vom Gerichtshof vorgeschlagene – und dann auch um­ gesetzte  – Lösungsoption mehr an der praktischen Durchführung des Vorabentscheidungsverfahrens an. Da insbesondere die Übersetzungen und Schriftsatzfristen die lange Dauer des Vorabentscheidungsverfahrens verursachen, sollte die Art der Beteiligung der Mitgliedstaaten, die Zahl der Übersetzungen, der Umfang der Stellungnahmen sowie die Fristen für deren Abgabe reguliert und auf die Schlussanträge des Generalanwalts verzichtet werden28. 2. Weiterer Verfahrensgang Nach Beratungen im Rat der Europäischen Union wurde dem Gerichtshof im April 2007 mitgeteilt, dass die Umsetzung der zweiten Option favorisiert wird29. Zwar unterstützt der Rat das vom Gerichtshof angestrebte Ziel einer Beschleunigung der Vorabentscheidungsverfahren in den Bereichen justizielle Zusammenarbeit in Zivil- und Strafsachen sowie Visa, Asyl und Einwanderung, er besteht aber darauf, dass dem Erfordernis der zügigen Entscheidung der dringlichen Verfahren und der Notwendigkeit einer effektiven Beteiligungsmöglichkeit der Mitglied­ staaten am Verfahren gleichermaßen Rechnung getragen wird, um den dialoghaften Charakter des Vorabentscheidungsverfahrens zu wahren. Schließlich führe die faktische erga omnes-Wirkung von Urteilen im Vorabentscheidungsverfahren dazu, dass unabhängig davon, aus welcher mitgliedstaatlichen Jurisdiktion das Vorabentscheidungsersuchen stamme, von jeder Rechtssache auch eigene nationale Interessen berührt werden könnten30. Unter Berücksichtigung dieser Position legte der Gerichtshof im Juli 2007 einen Entwurf zur Änderung seiner Verfahrensordnung vor31. Konkretisiert wurde damit der zweite Lösungsansatz, der allen Mitgliedstaaten die Möglichkeit der Beteiligung unter den schon bisher gewohnten Bedingungen – insbesondere was die Verfügbarkeit von Übersetzungen der Hauptdokumente betrifft – bietet, wenngleich sich die Mitwirkung für die meisten Mitgliedstaaten auf das mündliche Verfahren beschränkt. Das grundsätzlich vorgesehene schriftliche Verfahren ist nämlich

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Ausführlich zur genauen Ausgestaltung sogleich in diesem Zweiten Teil unter B. Brief an den Präsidenten des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, vgl. Rat der EU, DOK 7646/07 und DOK 8364/07, S. 38. 30 Siehe dazu Lumma, EuGRZ 2008, 381 f. 31 Bis auf kleine Änderungen in Art. 104b § 2 VerfOEuGH wurde dieser Vorschlag auch so verabschiedet, siehe Rat der EU, DOK 11759/07.

A. Entstehungsgeschichte

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im Interesse der Verkürzung der Verfahrensdauer auf die Beteiligten beschränkt, die der Verfahrenssprache mächtig sind, d. h. die am Ausgangsverfahren beteiligten Parteien, den Mitgliedstaat, zu dem das vorlegende Gericht gehört, und die von dem Ersuchen betroffenen EU-Organe. Weil das vorgeschlagene Eilvorlageverfahren in einigen Punkten (Schriftsatzfristen, schriftliches Verfahren, Schlussanträge) von der Satzung des Gerichtshofs abweicht, hat der Gerichtshof zudem einen Entwurf für eine Satzungsänderung vorgelegt32. In ihrer diesbezüglich erforderlichen Stellungnahme hat die Kommission unterstrichen, dass sie die Einführung eines Eilvorlageverfahrens begrüßt33. Schließlich könnten angesichts der Dynamik des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts dringliche Vorlagefragen in Zukunft immer häufiger auftauchen, wobei die Kommission insbesondere an die Vollstreckung Europäischer Haftbefehle oder allgemein an Strafverfahren denkt, bei denen es um inhaftierte Personen geht. Dabei bewahre das vorgeschlagene abgekürzte Vorabentscheidungsverfahren das nötige Gleichgewicht zwischen einerseits dem Erfordernis der Schnelligkeit, um einen wirksamen Rechtsschutz zu garantieren, und andererseits der notwendigen Flexibilität, um im Rahmen der unterschiedlichsten Verfahren funktionieren zu können. Außerdem hebt die Kommission positiv hervor, dass das neue Eilverfahren die Grundsätze des kontradiktorischen und fairen Verfahrens wahre und dabei nicht zu einer Verzögerung der anderen anhängigen Rechtssachen führe34. Neben der Kommission hat auch das Europäische Parlament die Satzungs­ änderung gebilligt35. In dem die Abstimmung des Parlaments vorbereitenden Bericht des Rechtsausschusses36 wird jedoch darauf hingewiesen, dass eine Veröffentlichung des – wenn auch nur mündlichen – Vorbringens des Generalanwalts im Interesse der besseren Verständlichkeit und Verbreitung des Europäischen Rechts wünschenswert sei und weder zu einem unverhältnismäßig hohen Arbeitsaufwand führen noch das Vorabentscheidungsverfahren in die Länge ziehen würde. Außerdem merkt der Bericht an, dass sich an der Einführung des Eilvorlageverfahrens wieder einmal zeige, dass eine größere Unabhängigkeit des Gerichtshofs, über seine Verfahrensordnung selbst und damit schneller bestimmen zu können, vorteilhaft wäre: Obwohl das Problem der dringlichen Vorabentscheidungsersuchen mindestens seit 2004 bekannt war, dauerte es bis Ende 2007, ehe eine Lösung für das betreffende Verfahren gefunden wurde. Prinzipiell wird ferner darauf hinge­ wiesen, dass der Aufbau und die Organisation der gesamten EU-Gerichtsbarkeit

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Die vorerst sehr allgemein gehaltene Formulierung des Gerichtshofs wurde in der späteren Satzungsänderung konkretisiert, siehe Rat der EU, DOK 11824/07. 33 Stellungnahme der Kommission v. 20.11.2007, SEK (2007) 1540 endg., abgedruckt in Rat der EU, DOK 15815/07. 34 Dies ist indes strittig und wird später in diesem Zweiten Teil  unter D. IV. näher dar­ gelegt. 35 Die legislative Entschließung des Europäischen Parlaments ist abgedruckt in ABl.EU 2008 Nr. C 297 E, S. 130. 36 Europäisches Parlament, Bericht des Rechtsausschusses v. 21.11.2007.

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2. Teil: Neues Eilvorlageverfahren vor dem EuGH

demnächst einer grundsätzlichen Revision bedürften, insbesondere, falls sich das Eilvorlageverfahren als Erfolg erweisen sollte. Nachdem der Rat der Europäischen Union das neue Eilvorlageverfahren am 20. Dezember 2007 genehmigt hatte, wurde es am 29. Januar 2008 im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht37, so dass es am 1. März 2008 in Kraft treten konnte.

B. Konkrete Ausgestaltung des Eilvorlageverfahrens Im Folgenden soll nun das Eilvorlageverfahren nach Art.  104b VerfOEuGH (die sogenannte procédure préjudicielle d’urgence)  in seinen konkreten Einzel­ heiten dargestellt werden. I. Gesetzestext

Die Hauptänderung zur Einführung des neuen Eilvorlageverfahrens wurde in der Verfahrensordnung des Gerichtshofs der Europäischen Union vorgenommen. Im neunten Kapitel („Vorlagen zur Vorabentscheidung und andere Auslegungsverfahren“) wurde nach Art. 104a VerfOEuGH, der das beschleunigte Verfahren regelt, ein neuer Art. 104b eingefügt, der wie folgt lautet: „§ 1 Ein Vorabentscheidungsersuchen, das eine oder mehrere Fragen zu den von Titel V des Dritten Teils des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union erfassten Bereichen38 aufwirft, kann auf Antrag des nationalen Gerichts oder ausnahmsweise von Amts wegen einem Eilverfahren unter Abweichung von den Bestimmungen dieser Verfahrensordnung unterworfen werden. In seinem Antrag stellt das nationale Gericht die rechtlichen und tatsächlichen Umstände dar, aus denen sich die Dringlichkeit ergibt und die die Anwendung dieses abweichenden Verfahrens rechtfertigen, und gibt, soweit möglich, an, welche Antwort es auf die Vorlagefragen vorschlägt. Hat das nationale Gericht keinen Antrag auf Durchführung des Eilverfahrens gestellt, so kann der Präsident des Gerichtshofes, wenn die Anwendung dieses Verfahrens dem ersten Anschein nach geboten ist, die nachstehend genannte Kammer um Prüfung der Frage er­ suchen, ob es erforderlich ist, das Ersuchen dem Eilverfahren zu unterwerfen.

37 ABl.EU 2008 Nr. L 24, S. 39 (Änderung der Verfahrensordnung) und 42 (Änderung der Satzung). 38 Mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon wurde eine Anpassung des in Art. 104b § 1 VerfOEuGH genannten Anwendungsbereichs an die aktuellen Bestimmungen nötig (vgl. ABl.EU 2010 Nr. L 92, S. 12). Vorher war der Anwendungsbereich mit den Worten „Titel VI des Unionsvertrags oder Titel IV des Dritten Teils des EG-Vertrags“ umschrieben.

B. Konkrete Ausgestaltung des Eilvorlageverfahrens

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Die Entscheidung, ein Ersuchen dem Eilverfahren zu unterwerfen, wird von der hierfür bestimmten Kammer auf Bericht des Berichterstatters nach Anhörung des Generalanwalts getroffen. Die Besetzung der Kammer gemäß Artikel 11c bestimmt sich, wenn das nationale Gericht die Anwendung des Eilverfahrens beantragt, nach dem Tag der Zuweisung der Rechtssache an den Berichterstatter oder, wenn die Anwendung dieses Verfahrens auf Ersuchen des Präsidenten des Gerichtshofes geprüft wird, nach dem Tag, an dem dieses Er­ suchen gestellt wird. § 2 Ein unter § 1 fallendes Vorabentscheidungsersuchen wird, wenn das nationale Gericht die Anwendung des Eilverfahrens beantragt hat oder der Präsident die hierfür bestimmte Kammer um Prüfung der Frage ersucht hat, ob es erforderlich ist, das Ersuchen dem Eilverfahren zu unterwerfen, vom Kanzler sofort den am Verfahren vor dem nationalen Gericht beteiligten Parteien, dem Mitgliedstaat, zu dem dieses Gericht gehört, und unter den in Artikel 23 Absatz 1 der Satzung vorgesehenen Voraussetzungen den dort genannten Organen zugestellt. Die Entscheidung, das Vorabentscheidungsersuchen dem Eilverfahren zu unterwerfen oder nicht zu unterwerfen, wird dem nationalen Gericht sowie den in Absatz 1 genannten Parteien, dem dort genannten Mitgliedstaat und den dort genannten Organen unverzüglich zugestellt. Mit der Entscheidung, das Ersuchen dem Eilverfahren zu unterwerfen, wird die Frist festgesetzt, innerhalb deren die in Satz 1 Genannten Schriftsätze oder schriftliche Erklärungen einreichen können. In der Entscheidung kann angegeben werden, welche Rechtsfragen die Schriftsätze oder schriftlichen Erklärungen behandeln sollen, und der Umfang bestimmt werden, den diese höchstens haben dürfen. Unmittelbar nach der in Absatz 1 genannten Zustellung wird das Vorabentscheidungsersuchen außerdem den in Artikel 23 der Satzung genannten Beteiligten, die nicht Adressaten dieser Zustellung sind, übermittelt, und die Entscheidung, das Ersuchen dem Eilverfahren zu unterwerfen oder nicht zu unterwerfen, wird diesen Beteiligten unmittelbar nach der in Absatz 2 genannten Zustellung übermittelt. Den in Artikel 23 der Satzung bezeichneten Parteien und sonstigen Beteiligten wird so bald wie möglich der voraussichtliche Termin für die mündliche Verhandlung mitgeteilt. Wird das Ersuchen nicht dem Eilverfahren unterworfen, bestimmt sich das Verfahren nach Artikel 23 der Satzung und den anwendbaren Vorschriften dieser Verfahrensordnung. § 3 Das einem Eilverfahren unterworfene Vorabentscheidungsersuchen sowie die eingereichten Schriftsätze und schriftlichen Erklärungen werden den in Artikel 23 der Satzung bezeichneten Beteiligten, soweit dies nicht die in § 2 Absatz 1 genannten Parteien und Beteiligten sind, zugestellt. Dem Vorabentscheidungsersuchen ist eine Übersetzung, unter den Voraussetzungen des Artikels 104 § 1 gegebenenfalls eine Zusammenfassung beizufügen. Die eingereichten Schriftsätze und schriftlichen Erklärungen werden außerdem den in § 2 Absatz 1 genannten Parteien und sonstigen Beteiligten zugestellt. Mit den Zustellungen nach den Absätzen 1 und 2 wird den Parteien und sonstigen Beteiligten der Termin für die mündliche Verhandlung mitgeteilt.

116

2. Teil: Neues Eilvorlageverfahren vor dem EuGH § 4

Die Kammer kann in Fällen äußerster Dringlichkeit beschließen, von dem in § 2 Absatz 2 dieses Artikels vorgesehenen schriftlichen Verfahren abzusehen. § 5 Die hierfür bestimmte Kammer entscheidet nach Anhörung des Generalanwalts. Sie kann beschließen, mit drei Richtern zu tagen. In diesem Fall ist sie mit dem Präsidenten der hierfür bestimmten Kammer, dem Berichterstatter und dem ersten oder gegebenenfalls den ersten beiden Richtern besetzt, die bei der Besetzung der hierfür bestimmten Kammer nach § 1 Absatz 4 dieses Artikels anhand der in Artikel 11c § 2 genannten Liste bestimmt werden. Sie kann auch beschließen, die Rechtssache dem Gerichtshof vorzulegen, damit sie einem größeren Spruchkörper zugewiesen wird. Das Eilverfahren wird vor dem neuen Spruch­ körper fortgeführt, gegebenenfalls nach Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens. § 6 Die in diesem Artikel vorgesehenen Schriftsätze gelten mit der Übermittlung einer Kopie der unterzeichneten Urschrift sowie der Unterlagen und Schriftstücke, auf die sich der Beteiligte beruft, mit dem in Artikel 37 § 4 erwähnten Verzeichnis mittels Fernkopierer oder sonstiger beim Gerichtshof vorhandener technischer Kommunikationsmittel an die Kanzlei als eingereicht. Die Urschrift des Schriftsatzes und die Anlagen werden der Kanzlei des Gerichtshofes übermittelt. Die in diesem Artikel vorgesehenen Zustellungen und Mitteilungen können durch Übermittlung einer Kopie mittels Fernkopierer oder sonstiger beim Gerichtshof und beim Empfänger vorhandener technischer Kommunikationsmittel erfolgen.“

II. Sachlicher Anwendungsbereich

Das neu geschaffene Eilvorlageverfahren kann nach Art. 23a der Satzung des EuGH, Art. 104b § 1 Abs. 1 VerfOEuGH nur bei Vorabentscheidungsverfahren betreffend den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts angewendet werden. Erfasst waren bisher mithin Vorlagefragen über die Auslegung oder Gültigkeit der ex-Art. 29 bis 42 EUV – polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – bzw. der ex-Art. 61 bis 69 EGV – Visa, Asyl, Einwanderung und andere Politiken betreffend den freien Personenverkehr – einschließlich des hieraus abgeleiteten Unions- und Gemeinschaftsrechts. Lediglich sachliche Berührungspunkte zu diesen Bereichen genügen nicht. Infolge des Inkrafttretens des Vertrags von Lissabon im Dezember 2009 ist eine Anpassung der Verfahrensordnung erfolgt, die den Anwendungsbereich von „­Titel VI des Unionsvertrags oder Titel IV des Dritten Teils des EG-Vertrags“ in „Titel V des Dritten Teils des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union“ geändert hat39. Dieser Titel umfasst die Bestimmungen zum Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts nunmehr gebündelt

39

ABl.EU 2010 Nr. L 92, S. 12, 13.

B. Konkrete Ausgestaltung des Eilvorlageverfahrens

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in den Art. 67 bis 89 AEUV. Die Anpassung hat mithin nicht zu einer Ausweitung des Anwendungsbereichs, sondern nur zu einer formalen Änderung von Art. 104b VerfOEuGH geführt40. Wann die zur Anwendung des Eilverfahrens nötige „Dringlichkeit“ vorliegt, obliegt – da es sich um einen nicht näher definierten und damit ausfüllungsbedürftigen Begriff handelt – der Rechtsprechung des EuGH. Erforderlich ist zumindest, dass eine Entscheidung des Gerichtshofs binnen weniger Wochen für das Ausgangsverfahren „absolut erforderlich“ ist41. Ausweislich des ersten Erwägungsgrundes zur Änderung der Verfahrensordnung des Gerichtshofs verlangten in bestimmten Fällen insbesondere Ersuchen aus den genannten Themengebieten „in Anbetracht der Dringlichkeit, die bei der Erledigung des bei dem nationalen Gericht anhängigen Verfahrens geboten ist, eine rasche Antwort des Gerichtshofs“42. Schließlich müssten die nationalen Gerichte solche Verfahren mitunter binnen strikter Fristen behandeln43. Bezogen auf strafrechtliche Ausgangsverfahren hatte der Gerichtshof vor allem Fälle des Freiheitsentzugs oder der Freiheitsbeschränkung im Blick, wenn die aufgeworfene Frage für die Beurteilung der Rechtsstellung des Betroffenen entscheidend ist44. In seiner anlässlich der Einführung des neuen Verfahrens abgegebenen Erklärung „ersucht“ der Rat der Europäischen Union den Gerichtshof, das Eilvorlageverfahren prinzipiell in allen Situationen des Freiheitsentzugs anzuwenden45. Auch die Kommission geht davon aus, dass „dringliche“ Vorlagefragen vor allem im Zusammenhang mit der Vollstreckung Europäischer Haftbefehle und in Strafverfahren auftauchen, bei denen der Beschuldigte inhaftiert ist46. Durch den mit dem Vertrag von Lissabon neu eingefügten Art.  267 Abs.  4 AEUV wird die besondere Bedeutung eines beschleunigten Verfahrens bei Inhaftierten nochmals ausdrücklich unterstrichen47. In der

40

Freilich wurden jedoch die einer Harmonisierungstätigkeit der EU zugänglichen Kriminalitätsbereiche durch die Einführung einer Kompetenz-Kompetenz der EU in Art. 83 Abs. 1 AEUV sowie die Klarstellung der Annexkompetenz der EU in Art. 83 Abs. 2 AEUV und damit der Kreis der potenziellen Gegenstände eines Verfahrens nach Art. 104b VerfOEuGH erweitert. 41 EuGH, Hinweise zur Vorlage von Vorabentscheidungsersuchen durch die nationalen Gerichte, ABl.EU 2009 Nr. C 297, S. 5 (vgl. auch schon ABl.EU 2008 Nr. C 64, S. 2); Karpenstein, in: Grabitz/Hilf, REU, Art. 234 EGV Rn. 88a. 42 ABl.EU 2008 Nr. L 24, S. 39. 43 Solche strengen Fristvorgaben – seien sie nun europarechtlich oder durch das Recht der Mitgliedstaaten determiniert – kommen insbesondere im elterlichen Erziehungs- und Sorgerecht sowie bei Asyl- und Einwanderungsstreitigkeiten vor, vgl. Beispiele bei EuGH, Re­ flexionspapier v. 25.9.2006, DOK 13272/06, S. 3 f. 44 EuGH, Hinweise zur Vorlage von Vorabentscheidungsersuchen durch die nationalen Gerichte, ABl.EU 2009 Nr. C 297, S. 5 (so auch schon ABl.EU 2008 Nr. C 64, S. 2); vgl. auch Ergänzung zum Reflexionspapier v. 22.12.2006, DOK 17013/06, S. 11 („Schutz der persönlichen Freiheit“). 45 ABl.EU 2008 Nr. L 24, S. 44. 46 Stellungnahme der Kommission v. 20.11.2007, SEK (2007) 1540 endg., S. 2 f., ab­gedruckt in Rat der EU, DOK 15815/07. 47 So auch Mayer, EuR 2009, Beiheft 1, 87, 100 und Fn. 46; Zeder, ERA Forum 2008, 209, 222.

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2. Teil: Neues Eilvorlageverfahren vor dem EuGH

Ergänzung zum Reflexionspapier des Gerichtshofs heißt es aber allgemeiner, dass das Eilverfahren außer zum Schutz der persönlichen Freiheit auch dann Anwendung finden könne, wenn es im Ausgangsverfahren um die Wahrung eines Grundrechts geht, sofern dem Betroffenen durch einen verzögerten Schutz dieses Rechts ein schwerer und nicht wiedergutzumachender Schaden entstünde48. Da das Recht auf angemessene Verfahrensdauer aus Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK im europäischen Recht als Grundrecht anerkannt ist, könnte insofern auch eine drohende Menschenrechtsverletzung als eine „schwerwiegende Folge […] aus einer verzögerten Entscheidung“49 und damit einen Anwendungsfall des neuen Eilverfahrens dar­stellen – vorausgesetzt natürlich, dass sich die Vorlagefrage auf den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (Art. 67 ff. AEUV bzw. ex-Art. 29 ff. EUV und ex-Art. 61 ff. EGV) bezieht. III. Antrag auf Durchführung des Eilvorlageverfahrens

Für ein Vorgehen im Eilverfahren bedarf es grundsätzlich eines ausdrücklichen Antrags des vorlegenden nationalen Gerichts, Art. 104b § 1 Abs. 1 VerfOEuGH. Um das Eilverfahren möglichst schnell in Gang zu setzen, sieht Art.  104b § 6 Abs.  1 S.  1 VerfOEuGH vor, dass das Vorabentscheidungsersuchen zunächst in Form einer Kopie an den Gerichtshof mittels Fernkopierer oder sonstiger beim Gerichtshof vorhandener technischer Kommunikationsmittel, d. h. insbesondere per E-Mail, eingereicht werden kann. Gemäß Art. 104b § 6 Abs. 1 S. 2 VerfOEuGH ist daneben jedoch auch weiterhin die postalische Übermittlung der Unterlagen erforderlich. Da jedes Vorabentscheidungsersuchen zunächst in der Kanzlei auf die Erfüllung der formellen Voraussetzungen überprüft wird, sollte es der Antrag auf Durchführung des Eilvorlageverfahrens bereits von seiner Form her dem Kanzler ermöglichen, unmittelbar festzustellen, dass die Angelegenheit eine spezi­fische Behandlung erfordert. Es empfiehlt sich mithin, den Antrag in einem gesonderten Schriftstück zu stellen bzw. ausdrücklich im Begleitschreiben zu erwähnen. Inhaltlich muss der Antrag die Gründe darlegen, die nach Ansicht des nationalen Gerichts die Anwendung des Eilvorlageverfahrens rechtfertigen. Insofern muss das mitgliedstaatliche Gericht klar und deutlich den rechtlichen und tatsächlichen Rahmen der Rechtssache unter Nennung der einschlägigen europarechtlichen Vorschriften darlegen, aber auch nach Art. 104b § 1 Abs. 2 VerfOEuGH die recht­lichen und tatsächlichen Umstände angeben, aus denen sich die Dringlichkeit einer schnellen Entscheidung des EuGH ergibt; insbesondere sollten also die Gefahren dargelegt werden, die bei Anwendung des herkömmlichen Vorabentschei 48 EuGH, Ergänzung zum Reflexionspapier v. 22.12.2006, DOK 17013/06, S. 5, 9. – Auf grundrechtliche Beeinträchtigungen – er nennt beispielhaft Eingriffe in das Recht auf Leben, in Freiheitsrechte und ins Vermögen – stellt auch Kühn, EuZW 2008, 263, 264 ab. 49 So wird die „Dringlichkeit einer Entscheidung“ definiert in dem EuGH-Entwurf eines Ratsbeschlusses, vgl. Rat der EU, DOK 11759/07, S. 14.

B. Konkrete Ausgestaltung des Eilvorlageverfahrens

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dungsverfahrens drohen50. Um im Fall der Durchführung des Eilvorlageverfahrens auf die Abgabe möglichst zweckdienlicher Erklärungen der sonstigen Verfahrens­ beteiligten hinzuwirken und um zugleich eine schnelle, der Dringlichkeit angemessene Entscheidung des Gerichtshofs zu erleichtern, soll das nationale Gericht nach Art. 104b § 1 Abs. 2 VerfOEuGH ferner soweit möglich angeben, welche Antwort es auf die Vorlagefragen vorschlägt. Bezüglich des eigentlichen Ersuchens gelten gegenüber dem gewohnten Vorabentscheidungsverfahren keine formellen oder inhaltlichen Besonderheiten: Der Vorlagebeschluss muss den Gegenstand des Rechtsstreits und das anwendbare nationale Recht verständlich darstellen und die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen glaubhaft machen. Allerdings sollte bei einer Beantragung der Anwendung des Eilvorlageverfahrens auf eine äußerst knappe Fassung Wert gelegt werden, um zur Schnelligkeit des Verfahrens beizutragen51. Hat das mitgliedstaatliche Gericht seinem Vorabentscheidungsersuchen keinen Antrag auf Durchführung des Eilverfahrens beigefügt, kann dessen Einleitung – ausnahmsweise – auch von Amts wegen beschlossen werden. Gemäß Art. 104b § 1 Abs. 1 und 3 VerfOEuGH kann nämlich der Präsident des Gerichtshofs bei der für die Eilvorlagen zuständigen Kammer anregen, zu prüfen, ob es erforderlich ist, das Ersuchen dem Eilverfahren zu unterwerfen, „wenn die Anwendung dieses Verfahrens dem ersten Anschein nach geboten ist“52. In beiden Fällen teilt der Kanzler der zuständigen Kammer und dem Ersten Generalanwalt den Eingang der Rechtssache mit, damit diese dann die Zuweisung an einen Berichterstatter respektive einen Generalanwalt vornehmen können, um die Entscheidung über die Anwendung des Eilverfahrens vorzubereiten. Außerdem stellt der Kanzler nach Art. 104b § 2 Abs. 1 VerfOEuGH das Vorabentscheidungsersuchen und regelmäßig den Antrag auf Durchführung des Eilvorlageverfahrens sofort den am Verfahren vor dem nationalen Gericht beteiligten Parteien, dem Mitgliedstaat, zu dem dieses Gericht gehört, der Kommission und gegebenenfalls den Organen, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Union, von denen die hinsichtlich ihrer Auslegung oder Gültigkeit streitige Handlung ausgegangen ist, zu (vgl. Art. 23 Abs. 1 EuGH-Satzung). Dadurch werden diese Beteiligten unmittelbar davon unterrichtet, dass die Durchführung eines Eilverfahrens in Betracht kommt, und so in die Lage versetzt, bereits Vorbereitungen für ihre im weiteren Verfahrensverlauf abzugebenden Erklärungen zu treffen. Den übrigen Mitgliedstaaten wird das Vorabentscheidungsersuchen zugestellt, sobald die erforderlichen Über 50 EuGH, Hinweise zur Vorlage von Vorabentscheidungsersuchen durch die nationalen Gerichte, ABl.EU 2009 Nr. C 297, S. 5 (so auch schon ABl.EU 2008 Nr. C 64, S. 2). 51 EuGH, Hinweise zur Vorlage von Vorabentscheidungsersuchen durch die nationalen Gerichte, ABl.EU 2009 Nr. C 297, S. 5 (so auch schon ABl.EU 2008 Nr. C 64, S. 2). 52 Wägenbaur, EuGH VerfO, Art. 104b Rn. 4 erwähnt zudem die weitere Möglichkeit, dass der EuGH in Rücksprache mit dem vorlegenden Gericht die Beantragung des Eilvorlageverfahrens empfehlen kann.

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2. Teil: Neues Eilvorlageverfahren vor dem EuGH

setzungen angefertigt wurden. Dies wird in der Regel erst der Fall sein, wenn der Gerichtshof bereits über den Antrag auf Durchführung des Eilvorlageverfahrens entschieden hat53. IV. Entscheidung über die Anwendung des Eilvorlageverfahrens

Betraut mit allen Eilvorlagen ist erstmals eine einzige Kammer des EuGH: Der Gerichtshof bestimmt eine seiner mit fünf Richtern besetzten Kammern, die für die Dauer eines Jahres für Entscheidungen im Eilverfahren zuständig sein werden54. Dieses Rotationssystem ist geboten, weil die Zugehörigkeit zu der Kammer angesichts der Dringlichkeit der von ihnen zu behandelnden Rechtssachen den Richtern einen Arbeitsrhythmus und eine Anwesenheitspflicht abverlangt, die eine erhebliche Belastung bedeuten kann55. Sofern es die Zahl der Rechtssachen, bei denen die Anwendung des Eilvorlageverfahrens geboten ist, erfordert, können vom Gerichtshof auch weitere Kammern mit fünf Richtern mit der Entscheidung dieser Fälle befasst werden. Die Möglichkeit der Bestimmung zusätzlicher Kammern trägt dem Umstand Rechnung, dass bei der Verabschiedung des neuen Eilvorlageverfahrens nicht absehbar war, mit wie vielen Anträgen auf Durchführung des Eilverfahrens der Gerichthof konfrontiert würde56. 53 Kühn, EuZW 2008, 263, 265. Der EuGH geht sogar davon aus, dass diese Zustellung erst nach dem Ablauf der Frist zur Einreichung von schriftlichen Stellungnahmen erfolgt, um letztere gleich mitschicken zu können, vgl. Rat der EU, DOK 11759/07, S. 5. 54 Vgl. dazu die mit dem Inkrafttreten des Eilvorlageverfahrens geänderte Fassung von Art. 9 § 1 VerfOEuGH: „Der Gerichtshof bildet gemäß Artikel 16 der Satzung Kammern mit fünf und mit drei Richtern und teilt ihnen die Richter zu. Der Gerichtshof bestimmt die Kammer oder die Kammern mit fünf Richtern, die für die Dauer eines Jahres mit den in Artikel 104b genannten Rechtssachen betraut sind. Die Zuteilung der Richter zu den Kammern und die Bestimmung der Kammer oder der Kammern, die mit den in Artikel 104b genannten Rechtssachen betraut sind, werden im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht.“ In der bis zum 6.10.2008 zuständigen Dritten Kammer waren die folgenden Richter tätig: A. Rosas (Kammerpräsident), A. Ó Caoimh, J. N. Cunha Rodrigues, J. Klučka, U. Lỡhmus, P. Lindh, A. Arabadjiev. Vom 7.10.2008 bis zum 6.10.2009 kümmerten sich die Richter der Zweiten Kammer um eine Eilvorlage, die noch dazu in der Formation der Großen Kammer entschieden wurde (vgl. ABl.EU 2008 Nr. C 301, S. 4). Seit dem 7.10.2009 bis zum 6.10.2010 war wiederum die Dritte Kammer für Eilvorlageverfahren zuständig (ABl.EU 2009 Nr.  C 267, S. 5), diesmal in der Besetzung Richter Lenaerts (Kammerpräsident), Richterin Silva de ­Lapuerta, Richter Juhász, Arestis, Malenovský, von Danwitz und Švaby. Seit dem 7.10.2010 ist die Erste Kammer mit den Richtern Tizzano, Kasel, Borg Barthet, Ilešič, Levits, Safjan und Berger zuständig (ABl.EU 2010 Nr. C 317, S. 4). Die jeweils aktuelle Kammerbesetzung ist verfügbar unter . 55 EuGH, Entwurf eines Ratsbeschlusses v. 10.7.2007, DOK 11759/07, S. 10. 56 Nach etwas mehr als drei Jahren Erfahrung mit dem neuen Eilvorlageverfahren und bisher nur zehn Anwendungsfällen (siehe dazu sogleich in diesem Zweiten Teil unter C.) scheint die Befassung einer zusätzlichen Kammer indes auf absehbare Zeit nicht nötig zu werden.

B. Konkrete Ausgestaltung des Eilvorlageverfahrens

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Die für die Behandlung der in Art. 104b VerfOEuGH genannten Rechtssachen bestimmte Kammer entscheidet nach Eingang des begründeten Antrags des nationalen Gerichts bzw. in Ausnahmefällen von Amts wegen auf Bericht des Berichterstatters57 und nach Anhörung des Generalanwalts über die Einleitung des Eilvorlageverfahrens. Entscheidet der Gerichtshof, das Vorabentscheidungsersuchen nicht dem Eilverfahren zu unterwerfen, wird die Vorlage im weiteren Verfahren gemäß Art. 104b § 2 Abs. 5 VerfOEuGH wie ein herkömmliches Vorabentscheidungsersuchen behandelt, wobei unter Umständen die Anwendung des beschleunigten Verfahrens nach Art. 104a VerfOEuGH in Erwägung zu ziehen ist. Kommt die zuständige Kammer jedoch zu dem Beschluss, das Eilverfahren durchzuführen, so ist sie auch für die Entscheidung in der Sache zuständig. Um der unterschiedlichen Komplexität der Vorabentscheidungsersuchen Rechnung tragen zu können, eröffnet auch das neue Eilvorlageverfahren die Wahl zwischen mehreren Spruchkörpern unterschiedlicher Größe: Die an sich zuständige, aus fünf Richtern bestehende Kammer kann einerseits gemäß Art. 104b § 5 Abs. 2 S. 1 VerfOEuGH in geeigneten Fällen beschließen, nur mit drei Richtern zu tagen. Ein solches Vorgehen bietet sich insbesondere bei wenig komplizierten oder sich wiederholenden Rechtssachen an58. Die Kammer wäre in diesem Fall besetzt mit dem Präsidenten der Kammer, dem Berichterstatter und dem ersten Richter, der auf der gemäß Art. 11c § 2 VerfOEuGH erstellten Liste der Richter geführt wird, oder, falls der Präsident der Kammer zugleich Berichterstatter ist, den ersten beiden Richtern, die anhand dieser Liste bestimmt werden. Umgekehrt ist andererseits nach Art. 104b § 5 Abs. 3 S. 1 VerfOEuGH die Möglichkeit gegeben, die Rechtssache dem Gerichtshof vorzulegen, damit sie einem größeren Spruchkörper zugewiesen wird. Eine solche Verweisung an die Große Kammer oder theoretisch sogar das Plenum bei Fragen großer rechtlicher oder politischer Relevanz kann auch noch während des Eilverfahrens und sogar nach der mündlichen Verhandlung erfolgen59; das Verfahren wird dann gegebenenfalls nach Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens vor dem neuen Spruchkörper fortgeführt. 57 Siehe zur Bestimmung des Berichterstatters die neuen Absätze 2 und 3 von Art.  9 § 2 VerfOEuGH: „Der Berichterstatter für die in Artikel 104b genannten Rechtssachen wird unter den Richtern der nach § 1 bestimmten Kammer auf Vorschlag des Präsidenten dieser Kammer ausgewählt. Beschließt die Kammer, die Rechtssache nicht dem Eilverfahren zu unterwerfen, kann der Präsident des Gerichtshofes die Rechtssache einem einer anderen Kammer zugeteilten Berichterstatter zuweisen. Der Präsident des Gerichtshofes trifft bei Abwesenheit oder Verhinderung eines Bericht­ erstatters die erforderlichen Maßnahmen.“ 58 Rat der EU, DOK 11759/07, S. 19. 59 Wobei Kühn, EuZW 2008, 263, 266 darauf hinweist, dass eine solche Zuweisung mit langwierigen Beratungen verbunden sein könnte. Da diese dem Zweck des Eilvorlageverfahrens eigentlich widersprechen, aber im Interesse einer qualitativ hochwertigen Entscheidung hingenommen werden müssen, sollte von der Abgabe der Rechtssache an eine größere Kammer nur in Ausnahmefällen Gebrauch gemacht werden. Beim ersten Eilvorlageverfahren, das

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2. Teil: Neues Eilvorlageverfahren vor dem EuGH

V. Schriftliche Phase

Der Beschluss der Kammer, das Ersuchen dem Eilverfahren zu unterwerfen oder nicht zu unterwerfen, wird gemäß Art.  104b § 2 Abs.  2 S.  1 VerfOEuGH dem vorlegenden Gericht sowie den Parteien, dem Mitgliedstaat des Ausgangs­ gerichts und den beteiligten Unionsorganen unverzüglich bekannt gegeben. Bei einer positiven Entscheidung über die Anwendung des Eilvorlageverfahrens wird unter Berücksichtigung des Grades der Dringlichkeit und Komplexität der Rechtssache zugleich eine Frist festgesetzt, innerhalb derer die genannten Verfahrensbeteiligten Schriftsätze oder schriftliche Erklärungen einreichen können; dabei darf der Gerichtshof im Interesse der Effektivität und Schnelligkeit Vorgaben hinsichtlich der zu behandelnden Rechtsfragen und des höchstmöglichen Umfangs dieser Stellungnahmen machen (Art. 104b § 2 Abs. 2 S. 2 und 3 VerfOEuGH). Da sich der Gerichtshof von diesen Beschränkungen im schriftlichen Verfahren den größten Beschleunigungseffekt des neuen Verfahrens erhofft60, wird die Frist für die Einreichung schriftlicher Erklärungen zweckmäßigerweise kürzer als die im beschleunigten Verfahren nach Art. 104a VerfOEuGH vorgesehene Frist von insgesamt mindestens 25 Tagen sein61. Nach Wunsch des Rates der Europäischen Union sollte jedoch grundsätzlich eine Frist von nicht weniger als 10 Werktagen eingeplant werden, um eine wirksame und sinnvolle Beteiligung an dem Verfahren zu gewährleisten62. Die Entscheidung über die Durchführung des Eilvorlageverfahrens wird zwar auch den übrigen Mit­gliedstaaten mitgeteilt, allerdings sind diese nicht berechtigt, sich an dem schriftlichen Verfahren zu beteiligen63. an die Große Kammer verwiesen wurde (Rs. C-357/09 PPU – Kadzoev), konnte indes die angestrebte Höchstdauer von drei Monaten eingehalten werden; vgl. dazu sogleich in diesem Zweiten Teil unter C. IV. 60 So Dörr, EuGRZ 2008, 349, 353. 61 EuGH, Ergänzung zum Reflexionspapier v. 22.12.2006, DOK 17013/06, S. 9. 62 ABl.EU 2008 Nr. L 24, S. 44. 63 Da Art. 23 EuGH-Satzung aber den Beteiligten einschließlich aller Mitgliedstaaten das Recht einräumt, binnen zwei Monaten zu jedem Vorabentscheidungsersuchen schriftlich Stellung zu nehmen, musste ein neuer Art. 23a eingefügt werden, der ebenfalls zum 1.3.2008 in Kraft trat (vgl. ABl.EU 2008 Nr. L 24, S. 42 f.): „In der Verfahrensordnung können ein beschleunigtes Verfahren und für Vorabentscheidungsersuchen zum Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ein Eilverfahren vorgesehen werden. Diese Verfahren können vorsehen, dass für die Einreichung von Schriftsätzen oder schrift­ lichen Erklärungen eine kürzere Frist als die des Artikels 23 gilt und dass abweichend von Artikel 20 Absatz 4 keine Schlussan­träge des Generalanwalts gestellt werden. Das Eilverfahren kann außerdem eine Beschränkung der in Artikel 23 bezeichneten Parteien und sonstigen Beteiligten, die Schriftsätze einreichen oder schriftliche Erklärungen abgeben können, und in Fällen äußerster Dringlichkeit das Entfallen des schriftlichen Verfahrens vorsehen.“ Darauf, dass auch das beschleunigte Verfahren nach Art.  104a VerfOEuGH die Möglichkeit vorsieht, ohne förmliche Schlussanträge des Generalanwalts zu entscheiden und die Frist zur Stellungnahme zu verkürzen, obwohl diese Abweichungen in der Satzung nicht ausdrücklich vorgesehen sind, weisen Kokott/Dervisopou­los/Henze, EuGRZ 2008, 10, 12 hin.

B. Konkrete Ausgestaltung des Eilvorlageverfahrens

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Diese Differenzierung zwischen den Verfahrensbeteiligten, die auch dazu führt, dass die meisten Mitgliedstaaten erst später und eventuell nach Art. 104b § 3 Abs. 1 S. 2 VerfOEuGH nur mittels einer Zusammenfassung der rechtlichen und tatsächlichen Problemstellung des Ausgangsrechtsstreits benachrichtigt werden, rechtfertigt sich folgendermaßen: Da manche Verfahrensbeteiligte – die Parteien des Ausgangsverfahrens, das vorlegende Gericht und der Mitgliedstaat, dem dieses Gericht angehört – unmittelbar vom Ausgangsrechtsstreit betroffen sind, soll ihnen die Möglichkeit gegeben werden, durch die Erläuterung ihres Standpunkts bereits in einem frühen Verfahrensstadium auf die Meinungsbildung beim Gerichtshof Einfluss nehmen zu können. Während insbesondere für die Parteien des Ausgangsverfahrens viel auf dem Spiel steht, erschöpft sich das Interesse der übrigen Mitgliedstaaten demgegenüber regelmäßig in der richtigen Auslegung des Europarechts64. Etwaige diesbezügliche Bedenken können die Mitgliedstaaten ausreichend in der mündlichen Verhandlung vorbringen. Außerdem dient die Beschränkung des schriftlichen Verfahrens auf die genannten Beteiligten der Schnelligkeit: Erstens werden durch wenige eingehende Schriftsätze die Ressourcen des Gerichtshofs geschont, wobei durch die unterschiedlichen Interessen der Beteiligten trotzdem sichergestellt wird, dass alle Gesichtspunkte zur Sprache kommen. Zweitens ist die Kommunikation zwischen den Parteien des Ausgangsrechtsstreits, dem vorlegenden Gericht und dem Mitgliedstaat, aus dem die Vorlage stammt, in der Gerichtssprache des Vorlagegerichts möglich, so dass bis auf die Übersetzung in die Arbeitssprache des EuGH keine Übersetzungen nötig sind65. Ein dritter Effekt der getroffenen Regelung besteht darin, dass dem von den Mitgliedstaaten geforderten Vielsprachigkeitsgebot weiterhin insofern Genüge getan wird, als jedem EU-Staat das Vorabentscheidungsersuchen in seiner jeweiligen Amtssprache zur Verfügung gestellt wird. Ist also auch im Eilvorlageverfahren eine  – beschränkte  – schriftliche Phase vorgesehen, so kann es nichtsdestotrotz Rechtssachen geben, die so dringlich sind, dass dieses Eilverfahren immer noch nicht schnell genug ist. In solchen Fällen äußerster Dringlichkeit kann die mit der Rechtssache betraute Kammer gemäß Art.  104b § 4 VerfOEuGH von der Durchführung des schriftlichen Verfahrens absehen und so das Eilvorlageverfahren nochmals erheblich beschleunigen. Die „äußerste Dringlichkeit“ kann etwa in den besonderen Umständen des kon­ kreten Falles oder in seinem rechtlichen Rahmen begründet sein66; für strafrechtliche Ausgangsverfahren lässt sich vor allem Art. 267 Abs. 4 AEUV entnehmen, dass bei Strafverfahren in Untersuchungshaft befindlicher Beschuldigter neben der Anwendung des Eilvorlageverfahrens ein Absehen von der schriftlichen Phase zu 64 So auch Kühn, EuZW 2008, 263, 266. Dieser Befund wird auch dadurch bestätigt, dass bei den normalen Vorabentscheidungsverfahren kaum je alle Mitgliedstaaten ihre Beteiligungsmöglichkeit wahrnehmen. 65 Bernard, Europe No. 5/2008, 5, 7; Chevalier, ERA Forum 2009, 591, 600. 66 Rat der EU, DOK 11759/07, S. 18. – Bei den bislang abgeschlossenen Eilvorlageverfahren wurden die Voraussetzungen des Art. 104b § 4 VerfOEuGH jedoch noch nicht als erfüllt angesehen.

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2. Teil: Neues Eilvorlageverfahren vor dem EuGH

prüfen ist67. Im Normalfall des Eilverfahrens jedoch gehen beim Gerichtshof die Schriftsätze oder schriftlichen Erklärungen der am schriftlichen Verfahren Beteiligten ein68, die sodann den anderen Mitgliedstaaten in der Verfahrenssprache (d. h. der Gerichtssprache des vorlegenden Gerichts) und der Arbeitssprache des EuGH übersandt werden69. VI. Mündliche Phase

Zusammen mit den Verfahrensunterlagen wird allen Beteiligten der von der zuständigen Kammer unter Berücksichtigung der Komplexität und der Dringlichkeit der Rechtssache festgesetzte Termin für die mündliche Verhandlung mitgeteilt (Art. 104b § 3 Abs. 2 und 3 VerfO­EuGH). Anhand der Unterlagen wird jeder Mitgliedstaat in die Lage versetzt, für sich zu entscheiden, ob er an der münd­lichen Verhandlung teilnehmen möchte, um zu der von dem vorlegenden Gericht aufgeworfenen Frage Stellung zu nehmen und/oder auf die im schriftlichen Verfahren eingereichten Erklärungen zu reagieren. In der mündlichen Verhandlung besteht also für alle Verfahrensbeteiligten die Möglichkeit, sich zu äußern. Aufgrund der großen Zahl der Anhörungsberechtigten sollten zum einen die EU-Staaten ihr Interesse an einer Teilnahme an der mündlichen Verhandlung dem Kanzler frühzeitig anzeigen und zum anderen ihre Äußerungen auf die strittigen Aspekte beschränken und sich mit den anderen Verfahrensbeteiligten abstimmen, um unnötige verfahrensverlängernde Wiederholungen zu vermeiden70. Auch der Gerichtshof kann für eine effektive mündliche Verhandlung sorgen, indem er die Beteiligten auffordert, ihre mündlichen Ausführungen auf bestimmte Fragen zu konzentrieren71. VII. Anhörung des Generalanwalts

Eine weitere Besonderheit des Eilvorlageverfahrens besteht darin, dass anders als im normalen Vorabentscheidungsverfahren der Generalanwalt keine Schlussanträge vorlegen muss, sondern gemäß Art.  104b § 5 Abs.  1 VerfOEuGH ledig

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Ein Absehen vom schriftlichen Teil des Verfahrens fordert Dörr, EuGRZ 2008, 349, 353 für alle Fälle andauernder Untersuchungshaft mittels einer auf Art. 5 Abs. 3 und 4 EMRK gestützten konventionskonformen Auslegung des Prozessrechts. 68 Wie bereits erwähnt, ergibt sich eine weitere erhebliche Beschleunigung des Verfahrens bei einer Eilvorlage dadurch, dass die Kommunikation zwischen den Beteiligten hauptsächlich auf elektronischem Wege abläuft, weil nach den neuen Bestimmungen der Verfahrensordnung Schriftsätze mittels Fernkopierer oder elektronischer Post eingereicht und umgekehrt auch zugestellt werden können, vgl. Art. 104b § 6 Abs. 2 VerfOEuGH. 69 Rat der EU, DOK 11759/07, S. 17. – Im Klartext heißt das, dass den Mitgliedstaaten lediglich das Vorabentscheidungsersuchen selbst in ihrer Amtssprache übermittelt wird, die eingereichten schriftlichen Erklärungen hingegen nur in der Verfahrenssprache und der Arbeitssprache des Gerichtshofs, also auf Französisch. 70 Kühn, EuZW 2008, 263, 266. 71 EuGH, Ergänzung zum Reflexionspapier v. 22.12.2006, DOK 17013/06, S. 10 i. V. m. S. 6.

B. Konkrete Ausgestaltung des Eilvorlageverfahrens

125

lich vor der Entscheidung der zuständigen Kammer über das Vorlageersuchen in einer nichtöffentlichen Sitzung nach der mündlichen Verhandlung angehört wird. Die Verfahrensordnung macht also ebenso wie beim beschleunigten Verfahren für das Eilverfahren eine Ausnahme von dem grundsätzlichen Erfordernis schrift­ licher Schlussanträge. Dies bedeutet jedoch nicht, dass sich der Generalanwalt gegenüber dem Gerichtshof nicht mehr schriftlich äußern darf, sofern der Zeitrahmen dies ermöglicht. Vielmehr wird der Begriff der Anhörung noch in der Praxis zu konkretisieren sein. Dem Wortlaut nach zu urteilen wäre es zwar möglich, dass dem Anhörungserfordernis durch eine nur mündliche Stellungnahme des Generalanwalts Genüge getan wird, wie es in der weiter zurückliegenden Vergangenheit auch bei normalen Vorabentscheidungsverfahren praktiziert wurde72. Angesichts der Funktion der Schlussanträge, mittels einer Analyse der einschlägigen Rechtsprechung und Fachliteratur dem Gerichtshof eine in völliger Unparteilichkeit und Unabhängigkeit erstellte Entscheidungsgrundlage an die Hand zu geben, ist man jedoch im Laufe der Zeit zu einer schriftlichen Abfassung der Schlussanträge übergegangen. Der Grund für diese Änderung – die zunehmende Komplexität der Rechtssachen – gilt in ähnlicher Weise auch für die Eilvorlagen: Gerade zur Auslegung der Bestimmungen des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts gibt es bislang teilweise erst wenig Rechtsprechung, so dass eine schriftliche Stellungnahme des Generalanwalts, die sich von den Schlussanträgen lediglich was ihre Länge betrifft unterscheidet, für den Spruchkörper von großem Nutzen sein könnte. Erfreulicher Nebeneffekt einer schriftlichen Analyse wäre die Möglichkeit, sie gemeinsam mit dem von der Kammer gefällten Urteil veröffentlichen zu können, um der Fachöffentlichkeit über die oftmals knappen Urteilsgründe hinaus Einblick in die ange­stellten Überlegungen zu gewähren73. Der Gerichtshof hat jüngst beschlossen, die Stellungnahme des Generalanwalts in der Regel zu ver­ öffentlichen, wenn sie in schriftlicher Form vorgelegt wurde und der EuGH nicht ausnahmsweise etwas anderes beschließt74.



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Deshalb stellen sich frühere Schlussanträge von ihrer Form her als Reden dar, vgl. Kühn, EuZW 2008, 263, 266. 73 Lumma, EuGRZ 2008, 381, 384; Kokott/Dervisopoulos/Henze, EuGRZ 2008, 10, 12. – Die Veröffentlichung des Vorbringens des Generalanwalts hat auch das Europäische Parlament in seiner Stellungnahme zur Satzungsänderung im Zusammenhang mit der Einführung des Eilvorlageverfahrens angeregt, vgl. Europäisches Parlament, Bericht des Rechtsausschusses v. 21.11.2007, S. 7. – Auch in beschleunigten Verfahren, bei denen der Generalanwalt ebenfalls keine Schlussanträge vorlegen muss, sondern nur angehört wird, ist mitunter die Stellungnahme des Generalanwalts neben dem Urteil in der amtlichen Sammlung veröffentlicht worden, vgl. z. B. Stellungnahme von Generalanwalt Tizzano v. 19.5.2004 – Rs. C-27/04, Slg. 2004, I-6649 – Kommission/Rat. 74 Die Stellungnahme des Generalanwalts (auch für Eilvorlageverfahren weiterhin Schluss­ anträge genannt) ist deshalb auch für acht der neun abgeschlossenen Eilverfahren auf der EuGHWebsite verfügbar, nämlich alle bis auf das Verfahren Leymann und Pustarov (Rs. C-388/08 PPU). – Aufgrund der nötigen Übersetzung in die Verfahrenssprache wird die Stellungnahme jedoch zumeist erst nach der Entscheidung der Kammer veröffentlicht.

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2. Teil: Neues Eilvorlageverfahren vor dem EuGH

VIII. Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union

Nach Anhörung des Generalanwalts und interner Beratung entscheidet die zuständige Kammer über das Ersuchen in den auf die mündliche Verhandlung folgenden Tagen. Der Gerichtshof erlässt seine Entscheidung dabei in der gleichen Form wie bei einem normalen Vor­abentscheidungsverfahren, d. h. wegen der obligatorischen mündlichen Verhandlung stets als Urteil75. Um rasch für die Verkündung verfügbar zu sein, wird das Urteil sodann von der Übersetzungsabteilung zuerst in die Verfahrenssprache und dann in alle weiteren Amtssprachen der Union übersetzt. Mit der Verkündung ist das Urteil wirksam. Im Folgenden wird es allen Verfahrensbeteiligten zugestellt und im Amtsblatt mitgeteilt. Damit endet das Eilvorlageverfahren; nunmehr muss das mitgliedstaatliche Gericht, welches die Vorlage eingebracht hat, unter Beachtung der Auffassung des Gerichtshofs den Ausgangsrechtsstreit entscheiden. IX. Erwartete Verfahrensdauer und Häufigkeit des Eilvorlageverfahrens

Wie viel Zeit ein Eilvorlageverfahren im Einzelfall tatsächlich in Anspruch nimmt, ist abstrakt nur schwer vorauszusagen, weil die Verfahrensdauer von unter­ schiedlichsten Bedingungen abhängt: Bedeutende Faktoren sind zum einen die tatsächliche und rechtliche Kom­plexität der Rechtssache und zum anderen die Behandlung des Falls durch die zuständige Kammer selbst, die in Relation zum Grad der Eilbedürftigkeit insbesondere mittels ihrer Fristsetzungen und der Terminierung der mündlichen Verhandlung auf einen raschen Abschluss des Verfahrens hinwirken kann76. Erwartet wird vom Rat der Europäischen Union, dass jedes Eilvorlageverfahren – vom Eingang des Vorabentscheidungsersuchens bis zur abschließenden Entscheidung des Gerichtshofs – innerhalb von drei Monaten abgeschlossen wird77; der Präsident des EuGH geht davon aus, dass je nach der konkreten Eilbedürftigkeit zwei bis vier Monate zu veranschlagen sind78. Eine durchschnittliche Verfahrensdauer von drei bis vier Monaten wird auch in der Literatur teilweise als Höchstdauer erwartet79. Angesichts der vielfältigen Beschleunigungsmöglichkeiten innerhalb des Eilvorlageverfahrens sollte allerdings eine Entscheidung grundsätzlich in weniger als drei Monaten getroffen werden können80; zumal

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Eine Entscheidung in Beschlussform ist nur möglich, wenn ein Verfahren ohne mündliche Verhandlung durchgeführt wird, vgl. Art. 104 § 3 VerfOEuGH. 76 Vgl. Kokott/Dervisopoulos/Henze, EuGRZ 2008, 10, 12 f. 77 Siehe die vom Rat anlässlich der Einführung des Eilvorlageverfahrens abgegebene Erklärung im ABl.EU 2008 Nr. L 24, S. 44. 78 Skouris, ERA Forum 2008, 99, 106. 79 So Gardette, EuZW 2008, 98 Fn. 1; Hakenberg/Schilhan, ZfRV 2008, 104, 110. 80 So auch Kokott/Dervisopoulos/Henze, EuGRZ 2008, 10, 13. Dörr, EuGRZ 2008, 349, 353 geht von einer regelmäßigen Verfahrensdauer von zehn bis zwölf Wochen aus.

B. Konkrete Ausgestaltung des Eilvorlageverfahrens

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wenn von der Durchführung des schriftlichen Verfahrens abgesehen wird, dürfte es auch möglich sein, binnen eines Monats nach Eingang der Eilvorlage zu entscheiden81. Notwendige Voraussetzung für die Beantwortung von Eilvorlagen ist jedoch die jederzeitige Verfügbarkeit des Präsidenten und der Mitglieder der zuständigen Kammer und eines Generalanwalts, was sich insbesondere während der Zeit der Gerichtsferien als schwierig erweisen könnte82. Mithilfe organisatorischer Maßnahmen und der Nutzung moderner Kommunikationsmittel sollten aber die Anhörung des Generalanwalts und die Beratungen der Richter sichergestellt werden können; darüber hinaus ist zur gleichmäßigen Arbeitsbelastung der Richter immerhin nach einem Jahr eine Rotation der für die Bearbeitung der Eilvorlagen zuständigen Kammer vorgesehen. Genauso wenig wie sich die voraussichtliche Verfahrensdauer eines Eilvorlageverfahrens prognostizieren lässt, ist sicher vorherzusagen, wie häufig es zu Eil­ ersuchen kommen wird. Im dritten Erwägungsgrund zur Änderung der Verfahrensordnung heißt es diesbezüglich sehr allgemein: „Die rasche Behandlung einer nicht unerheblichen Zahl von Vorabentscheidungsersuchen ist nur möglich durch Einführung eines Eilvorlageverfahrens, das die Abschnitte des Vorabentscheidungsverfahrens beschränkt und vereinfacht.“83

Da das Eilverfahren grundsätzlich nur auf Antrag des vorlegenden Gerichts zur Anwendung kommt, hängt der Erfolg des neuen Verfahrens entscheidend davon ab, wie es von den mit­gliedstaatlichen Gerichten angenommen wird84. Um den nationalen Gerichten eine Hilfestellung bei der Entscheidung darüber zu geben, ob das Eilverfahren beantragt werden kann und falls ja, welche Angaben der Antrag beinhalten sollte, hat der Gerichtshof seine allgemeinen Hinweise zur Einreichung eines Vorabentscheidungsersuchens um einen informatorischen Vermerk mit Hinweisen infolge des Inkrafttretens des Eilvorlageverfahrens für Vorabentscheidungsersuchen zum Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ergänzt85. Dennoch bleibt eine Vorlage an den EuGH aus der Sicht der mitgliedstaatlichen Gerichte auch nach Einführung des neuen Eilvorlageverfahrens ein 81 Dies nimmt Karpenstein, in: Grabitz/Hilf, REU, Art. 234 EGV Rn. 88b wohl sogar für alle Eilvorlagen an. 82 Kühn, EuZW 2008, 263, 266. – Dass dies jedoch kein Hindernis sein muss, hat der EuGH in der Rechtssache Santesteban Goicoechea (Rs. C-296/08 PPU) bewiesen, vgl. dazu sogleich in diesem Zweiten Teil unter C. II. 83 ABl.EU 2008 Nr. L 24, S. 39; Hervorhebung von Verf. 84 So auch Kokott/Dervisopoulos/Henze, EuGRZ 2008, 10, 13. – Dörr, EuGRZ 2008, 349, 353 befürchtet demgegenüber, dass der Gerichtshof mit Anträgen auf Durchführung des Eilvorlageverfahrens überhäuft wird, weil viele nationale Gerichte auf eine möglichst schnelle Antwort des EuGH erpicht seien. Dass auch der Gerichtshof diese Bedenken teile, entnimmt er den ergänzenden Hinweisen (ABl.EU 2008 Nr. C 64, S. 2, so auch in der aktuellen Fassung ABl.EU 2009 Nr. C 297, S. 5), wonach der EuGH ausdrücklich darauf hinweise, dass das Eilverfahren nur beantragt werden solle, „wenn es nach den Umständen absolut erforderlich ist“. 85 ABl.EU 2008 Nr. C 64, S. 1 f.; siehe jetzt die vereinten Hinweise in ABl.EU 2009 Nr. C 297, S. 1 ff.

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2. Teil: Neues Eilvorlageverfahren vor dem EuGH

zusätzlicher Verfahrensabschnitt, der selbst bei Ausschöpfung aller Möglichkeiten der Verfahrensbeschleunigung den Ausgangsrechtsstreit um mindestens einen Monat verlängert86. Andererseits besteht für die Gerichte, die lediglich ein Vorlagerecht haben, jedoch keiner europarechtlichen Vorlagepflicht aus Art. 267 Abs. 3 AEUV unterliegen, die Chance, sich durch eine frühzeitige – und durch das Eilvorlageverfahren zudem rasche – Einholung der Entscheidung des EuGH Sicherheit bezüglich der Auslegung der unionsrechtlichen Fragen zu verschaffen. Die anzustellende Abwägung zwischen der Verfahrensverlängerung und dem Gewinn an Rechtssicherheit erübrigt sich zwar bei letztinstanzlichen Gerichten, die zur Vorlage an den Gerichtshof verpflichtet sind; allerdings profitieren sie von der erheblichen Reduktion der Verfahrensdauer. Angesichts der Möglichkeit, ge­gebenenfalls weitere Kammern mit der Entscheidung von Rechtssachen im Wege des Art. 104b VerfOEuGH zu betrauen, dürfte der Gerichtshof dazu fähig sein, in jedem Fall eines Eilvorlageverfahrens effektiven, d. h. vor allem zeitnahen, Rechtsschutz zu gewähren.

C. Erste Erfahrungen mit dem Eilvorlageverfahren Nachdem das neue Eilvorlageverfahren nach Art. 104b VerfOEuGH in seinen theoretischen Grundlagen dargestellt wurde, soll nun untersucht werden, wie es in der Praxis aufgenommen und umgesetzt wurde. Der Gerichtshof der Euro­ päischen Union selbst jedenfalls sieht das Eilvorlageverfahren neben den anderen in den letzten Jahren eingeleiteten organisatorischen Reformen als Grund dafür an, warum der EuGH seine Effizienz in dem geschehenen Maße steigern und dadurch die durchschnittliche Dauer von Vorabentscheidungsverfahren von maximal 25,5 Monaten im Jahr 2003 auf 16,1 Monate im Jahr 2010, obschon mit der zwischenzeitlichen Erhöhung in 2009, senken konnte87. Die neuen Bestimmungen über das Eilvorlageverfahren ermöglichten es dem Gerichtshof, die betreffenden Rechtssachen in den Jahren 2008 und 2010 in durchschnittlich 2,1 Monaten, im Jahr 2009 in 2,5 Monaten – und damit in weniger als den vom Rat der Europäischen Union geforderten drei Monaten – abzuschließen88. Die seit dem 1.  März 2008 bestehende Möglichkeit, ein Vorabentscheidungsersuchen dem Eilvorlageverfahren zu unterwerfen, wurde im Jahr 2008 in drei Rechtssachen genutzt, von denen wiederum zwei Fragen zur justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen aufwarfen. Im Jahr 2009 sind zwei Vorabentscheidungsersuchen zum Abschiebungsrecht und zur justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen im Wege des Eilvorlageverfahrens nach Art. 104b VerfOEuGH behandelt worden. Von den fünf im Jahr 2010 angenommenen Eilvorlagen betrafen vier

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Kokott/Dervisopoulos/Henze, EuGRZ 2008, 10, 13. Siehe EuGH, Jahresbericht 2009, S. 98; Jahresbericht 2010, S. 10. 88 EuGH, Jahresbericht 2010, S. 102.

C. Erste Erfahrungen mit dem Eilvorlageverfahren

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Kindschaftssachen; eine Vorlage zum Europäischen Haftbefehl wurde wegen einer Rücknahme des Vorabentscheidungsersuchens nicht abgeschlossen. I. Rechtssache Rinau

Im ersten durchgeführten Eilvorlageverfahren in der Rechtssache Rinau89 ging es um die Europarechtsregelungen über die Rückgabe eines in einem anderen Mitgliedstaat widerrechtlich zurückgehaltenen Kindes und damit um die Auslegung einer Bestimmung aus dem ehemaligen Titel IV des Dritten Teil des EG-Vertrags bezüglich Visa, Asyl, Einwanderung und andere Politiken betreffend den freien Personenverkehr. Die Rechtssache Rinau hat es dem Gerichtshof dabei erstmals ermöglicht, die Voraussetzungen näher zu erläutern, unter denen ein Eilvorlage­ verfahren nach Art. 104b VerfOEuGH beantragt werden kann. 1. Sachverhalt Dem Vorabentscheidungsverfahren lag folgender Sachverhalt zugrunde: Nach Einreichung der Scheidung zwischen dem deutschen Kindesvater und seiner litauischen Ehefrau setzte sich diese im Juli 2006 mit der gemeinsamen Tochter nach Litauen ab und weigerte sich in der Folge, sie nach Deutschland zurückzuführen, obwohl dem Vater das Sorgerecht übertragen wurde. Daraufhin erwirkte der Vater in Deutschland beim Amtsgericht eine Bescheinigung gemäß der Verordnung über Zuständigkeit, Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung (Brüssel IIa-Verordnung)90, mittels derer die Rückführung des Kindes als vollstreckbar angeordnet und diese Entscheidung in anderen Mitgliedstaaten als automatisch anzuerkennen qualifiziert wurde. In Litauen beantragte nun die Mutter die Nichtanerkennung dieser Entscheidung, woraufhin der Oberste Gerichtshof von Litauen den EuGH anrief, um im Wesentlichen klären zu lassen, ob die Anfechtung der Rückführungsentscheidung durch litauische Gerichte zulässig ist. Der Gerichtshof in Luxemburg antwortete dem vorlegenden Gericht verneinend auf diese Frage, mit der Kon­ sequenz, dass es den litauischen Gerichten lediglich zusteht, die Vollstreckbarkeit der Rückführungsentscheidung festzustellen und die sofortige Rückgabe des Kindes zu veranlassen.



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EuGH, Urt. v. 11.7.2008 – Rs. C-195/08 PPU, Slg. 2008, I-5271 – Rinau. VO (EG) Nr. 2201/2003, ABl.EU 2003 Nr. L 338, S. 1.

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2. Teil: Neues Eilvorlageverfahren vor dem EuGH

2. Dauer des Eilvorlageverfahrens Im Verhältnis dazu, dass der Streit um die Tochter bereits seit August 2006 anhängig war, erging das Vorabentscheidungsurteil des EuGH relativ zügig: Das litauische Gericht entschied sich am 30. April 2008 zur Anrufung des Gerichtshofs in Luxemburg, bei dem das Vorabentscheidungsersuchen am 14.  Mai 2008 einging. Dem gut eine Woche später am 22. Mai 2008 gestellten Antrag auf Anwendung des Eilvorlageverfahrens wurde bereits tags darauf von der zuständigen Dritten Kammer stattgegeben. Nach Durchführung des schriftlichen Verfahrens fand die mündliche Verhandlung rund einen Monat später, am 26. und 27. Juni 2008, statt. Das Vorlageverfahren ist auf großes Interesse der Mitgliedstaaten gestoßen; in der mündlichen Verhandlung plädierten neben den Rechtsanwälten der Parteien des Ausgangsverfahrens, der Kommission und Litauens, die alle auch schriftliche Erklärungen eingereicht hatten, Vertreter Deutschlands, Frankreichs, Lettlands, der Niederlande und des Vereinigten Königreichs. Die Anhörung der Generalanwältin, deren Stellungnahme erfreulicherweise auch schriftlich verfügbar ist, erfolgte am 1. Juli 2008. Am 11. Juli 2008, also ins­gesamt etwas über acht Wochen nach Eingang des Vorabentscheidungsersuchens, verkündete der EuGH sein Urteil. 3. Grund für die „Dringlichkeit“ einer Entscheidung des Gerichtshofs Zur Begründung der gemäß Art. 104b § 1 Abs. 2 VerfOEuGH für die Durchführung des Eilvorlageverfahrens notwendigen „Dringlichkeit“ lässt sich dem Urteil Folgendes entnehmen91: Zum einen fordert der 17. Erwägungsgrund der von der Vorlage betroffenen Verordnung, dass „bei widerrechtlichem Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes […] dessen Rückgabe unverzüglich erwirkt werden“92 soll. Um diesem Erfordernis gerecht zu werden, sollte also versucht werden, die strittigen Fragen im schnellsten zur Verfügung stehenden Verfahren zu lösen. Zum anderen macht Art. 11 Abs. 3 der Verordnung – wenngleich er auf die litauischen Gerichte nicht direkt anwendbar ist – deutlich, dass unter einer zügigen Entscheidung grundsätzlich eine Entscheidung innerhalb von sechs Wochen zu verstehen ist: „Das Gericht, bei dem die Rückgabe eines Kindes nach Absatz 1 beantragt wird, befasst sich mit gebotener Eile mit dem Antrag und bedient sich dabei der zügigsten Verfahren des nationalen Rechts. Unbeschadet des Unterabsatzes 1 erlässt das Gericht seine Anordnung spätestens sechs Wochen nach seiner Befassung mit dem Antrag, es sei denn, dass dies aufgrund außergewöhnlicher Umstände nicht möglich ist.“

Diesen beiden Textstellen liegt erkennbar der Gedanke zugrunde, dass jede Verzögerung der Kindesrückführung sehr nachteilig und bisweilen irreparabel für die

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EuGH, Urt. v. 11.7.2008 – Rs. C-195/08 PPU, Slg. 2008, I-5271, Rn. 43 ff. – Rinau. Hervorhebung von Verf.

C. Erste Erfahrungen mit dem Eilvorlageverfahren

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Beziehungen zwischen dem Kind und dem Elternteil sein kann, mit dem es nicht zusammenlebt. Um möglichen Schaden von dem betroffenen Kind abzuwenden und um für einen gerechten Ausgleich zwischen den Interessen des Kindes und denen seiner Eltern zu sorgen, ist mithin auf eine schnelle Entscheidung der Sorgerechtssituation hinzuwirken. Insofern dürften auch in Zukunft Vorlagefragen, die sich in einem nationalen Verfahren stellen, in dem es um die Rückgabe eines widerrechtlich entführten oder zurückgehaltenen Kindes geht, im Wege des Eil­ vorlageverfahrens nach Art. 104b VerfOEuGH zu behandeln sein93. II. Rechtssache Santesteban Goicoechea

Das zweite Vorabentscheidungsersuchen, welches im Wege des neuen Eilvorlageverfahrens nach Art. 104b VerfOEuGH behandelt wurde, betraf mit der Rechtssache Santesteban Goicoechea94 die Auslegung des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl. 1. Sachverhalt Im Ausgangsverfahren bemühte sich Spanien seit dem Jahr 2000 um die Auslieferung des Herrn Santesteban Goicoechea, der sich im Februar und März 1992 auf spanischem Hoheitsgebiet u. a. wegen Lagerung von Kriegswaffen, unbefugten Besitzes von Sprengstoff und Zugehörigkeit zu einer Terrororganisation strafbar gemacht haben soll. Ein erster Auslieferungsantrag vom Oktober 2000, gestützt auf das europäische Auslieferungsübereinkommen vom 13. Dezember 1957, wurde von Frankreich im Juni 2001 abschlägig beschieden, weil die Straftaten nach französischem Recht bereits verjährt waren. Ein im März 2004 von Spanien ausgestellter Europäischer Haftbefehl, der auf die gleichen Straftaten wie der Auslieferungsantrag zuvor gestützt war, wurde ebenfalls abgelehnt  – einerseits, weil Herr Santesteban Goicoechea zuerst noch eine Haftstrafe hätte absitzen müssen; andererseits, weil Frankreich eine Erklärung gemäß Art.  32 des Rahmenbeschlusses zum Europäischen Haftbefehl abgegeben hat, wonach Ersuchen in Zusammenhang mit Handlungen, die vor dem Inkrafttreten des Vertrags von Maastricht am 1. November 1993 begangen wurden, weiterhin nach den vor dem 1. Januar 2004 geltenden Auslieferungsregelungen behandelt werden95. Auf

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So auch Rieck, NJW 2008, 2958, 2960. EuGH, Urt. v. 12.8.2008  – Rs. C-296/08 PPU, Slg. 2008, I-6307  – Santesteban Goicoechea. 95 Art. 32 des Rahmenbeschlusses sieht unter der Überschrift „Übergangsbestimmung“ vor: „Für die vor dem 1. Januar 2004 eingegangenen Auslieferungsersuchen gelten weiterhin die im Bereich der Auslieferung bestehenden Instrumente. Für die nach diesem Zeitpunkt eingegangenen Ersuchen gelten die von den Mitgliedstaaten gemäß diesem Rahmenbeschluss erlassenen Bestimmungen. Jeder Mitgliedstaat kann jedoch zum Zeitpunkt der Annahme

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2. Teil: Neues Eilvorlageverfahren vor dem EuGH

grund dieses Vorbehalts berief sich Frankreich also zur Ablehnung der Auslieferung wieder auf das europäische Auslieferungsübereinkommen von 1957 und die Verjährung der Straftaten. Kurz bevor Herr Santesteban Goicoechea im Juni 2008 aus der französischen Haft entlassen werden sollte, beantragte Spanien jedoch erneut dessen vorläufige Festnahme und Auslieferung aufgrund des Übereinkommens über die Auslieferung zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union vom 27. September 199696, welches in Frankreich seit dem 1. Juli 2005 anwendbar ist. Art. 8 Abs. 1 dieses Übereinkommens verbietet es, eine Auslieferung nur deshalb abzulehnen, weil „die Strafverfolgung oder die Strafvollstreckung nach den Rechtsvorschriften des ersuchten Mitgliedstaats verjährt ist“. Deshalb beantragte der procureur générale beim französischen Cour d’appel, dem Auslieferungsersuchen stattzugeben. Herr Santesteban Goicoechea machte dagegen vor allem geltend, dass laut Art.  31 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl die vorigen Auslieferungsabkommen, darunter auch das von 1995, durch den Europäischen Haftbefehl abgelöst würden, so dass eine Auslieferung nur noch aufgrund eines solchen Europäischen Haftbefehls möglich sei97. Daraufhin legte der französische Appellationsgerichtshof dem EuGH folgende Fragen zur Vorabentscheidung vor: „1. Führt das Unterlassen einer Unterrichtung durch einen Mitgliedstaat, im vorliegenden Fall das Königreich Spanien, davon, weiterhin bilaterale oder multilaterale Abkommen aufgrund von Art. 31 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses anwenden zu wollen, wegen des Begriffs ‚ersetzt‘ in Art. 31 des Rahmenbeschlusses dazu, dass es diesem Mitgliedstaat im Verhältnis zu einem anderen Mitgliedstaat, in diesem Fall zur Französischen Republik, die eine dieses Rahmenbeschlusses eine Erklärung abgeben, dass er als Vollstreckungsmitgliedstaat auch weiterhin Ersuchen im Zusammenhang mit Handlungen, die vor einem von ihm festzulegenden Zeitpunkt begangen wurden, nach der vor dem 1. Januar 2004 geltenden Auslieferungsregelung behandeln wird. Der betreffende Zeitpunkt darf nicht nach dem 2. August 2002 liegen. Diese Erklärung wird im Amtsblatt veröffentlicht. Sie kann jederzeit zurückgezogen werden.“ 96 ABl.EG 1996 Nr. C 313, S. 12. 97 Art. 31 des Rahmenbeschlusses mit der Überschrift „Verhältnis zu anderen Überein­ kommen“ bestimmt: „(1) Dieser Rahmenbeschluss ersetzt am 1. Januar 2004 die entsprechenden Bestimmungen der folgenden in den Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten im Bereich der Auslieferung geltenden Übereinkommen, unbeschadet von deren Anwendbarkeit in den Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten und Drittstaaten: a) das Europäische Auslieferungsübereinkommen vom 13. Dezember 1957 […]; […] d) das Übereinkommen vom 27. September 1996 über die Auslieferung zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union […]. (2) Es steht den Mitgliedstaaten frei, auch weiterhin die zum Zeitpunkt der Annahme dieses Rahmenbeschlusses geltenden bilateralen oder multilateralen Abkommen oder Übereinkünfte anzuwenden, sofern diese die Möglichkeit bieten, über die Ziele dieses Beschlusses hinauszugehen, und zu einer weiteren Vereinfachung oder Erleichterung der Verfahren zur Übergabe von Personen beitragen, gegen die ein Europäischer Haftbefehl vorliegt. […] Die Mitgliedstaaten unterrichten den Rat und die Kommission binnen drei Monaten nach Inkrafttreten dieses Rahmenbeschlusses von den bestehenden Abkommen oder Übereinkünften nach Unterabsatz 1, die sie auch weiterhin anwenden wollen.“

C. Erste Erfahrungen mit dem Eilvorlageverfahren

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Erklärung gemäß Art. 32 des Rahmenbeschlusses abgegeben hat, nicht möglich ist, andere Verfahren als das des Europäischen Haftbefehls anzuwenden? Für den Fall einer Verneinung der vorstehenden Frage wird um Beantwortung der folgenden Frage ersucht: 2. Gestatten es die Vorbehalte, die der Vollstreckungsstaat gemacht hat, diesem Staat, das Übereinkommen von 1996 anzuwenden, das vor dem 1. Januar 2004 geschlossen wurde, aber im Vollstreckungsstaat erst nach dem 1. Januar 2004 – dem Datum, das Art. 32 des Rahmenbeschlusses als Stichtag vorsieht – in Kraft getreten ist?“

Da der EuGH die erste Frage verneint und die zweite Frage bejaht hat, kann im Ergebnis das französische Gericht dem Auslieferungsersuchen betreffend Herrn Santesteban Goicoechea stattgeben. 2. Dauer des Eilvorlageverfahrens Für das Urteil in der Rechtssache Santesteban Goicoechea benötigte die Dritte Kammer des EuGH nur sechs Wochen und damit die bisher kürzeste Zeit – und das, obwohl das Vor­abentscheidungsersuchen in die Zeit der Gerichtsferien beim EuGH fiel98: Das französische Ausgangsgericht entschied über die Anrufung des Gerichtshofs und die Antragstellung nach Art. 104b VerfOEuGH am 3. Juli 2008, an dem beide Schriftsätze auch bereits in Luxemburg eingingen. Nachdem dem Antrag am 7. Juli 2008 stattgegeben und das schriftliche Verfahren durchgeführt worden war, fand die mündliche Verhandlung am 6. August 2008 statt. An dieser beteiligte sich neben den auch im schriftlichen Verfahren Äußerungsberechtigten Herrn Santesteban Goicoechea, der französischen Regierung und der Kommission nur ein Vertreter Spaniens. Nach Anhörung der Generalanwältin, deren Stellungnahme ebenfalls veröffentlicht wurde, erging das Urteil nicht einmal eine Woche später, am 12. August 2008. 3. Grund für die „Dringlichkeit“ einer Entscheidung des Gerichtshofs Die „Dringlichkeit“ im Sinne des Art. 104b § 1 Abs. 2 VerfOEuGH – und damit die Zulässigkeit des Eilvorlageverfahrens – ergab sich für den Gerichtshof bei dieser Rechtssache aus der Tatsache, dass Herr Santesteban Goicoechea seine in Frankreich verhängte Haftstrafe bereits abgesessen hatte und seit Juni 2008 allein aufgrund des spanischen Auslieferungsersuchens in Auslieferungshaft fest­ gehalten wurde99. Im Rahmen des Auslieferungsverfahrens war aber nur die vorgelegte europarechtliche Auslegungsfrage streitig, so dass der Verbleib von Herrn Santesteban Goicoechea in (zumindest französischer Auslieferungs-)Haft direkt

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Im Sommer 2008 waren Gerichtsferien vom 14.7. bis 31.8.2008. EuGH, Urt. v. 12.8.2008 – Rs. C-296/08 PPU, Slg. 2008, I-6307, Rn. 33 – Santesteban Goicoechea.

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2. Teil: Neues Eilvorlageverfahren vor dem EuGH

und ausschließlich von der Entscheidung des EuGH abhing. Der Zulassung des Eilvorlageverfahrens in dieser Rechtssache liegt also der Gedanke zugrunde, dass jemand wegen einer ausstehenden Entscheidung des Gerichtshofs in Luxemburg nicht länger als unbedingt nötig in Haft bleiben soll. III. Rechtssache Leymann und Pustarov

Auch das dritte bisher durchgeführte Eilvorlageverfahren in der Rechtssache Leymann und Pustarov100 beschäftigt sich mit der Auslegung des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl. 1. Sachverhalt Gegen die außer Landes befindlichen Herren Leymann und Pustarov wurde von den finnischen Behörden wegen der Begehung schwerer Betäubungsmittelstraftaten ermittelt und ein Haftbefehl erlassen. Aufgrund eines Europäischen Haftbefehls wurde Herr Leymann Ende Juni 2006 von Polen übergeben, wobei ihm laut dem Europäischen Haftbefehl die mittäterschaftliche illegale Einfuhr einer großen Menge Amphetamine zum Zwecke des Weiterverkaufs nach Finnland im Februar 2006 zur Last gelegt wurde. Herr Pustarov wurde ebenfalls Ende Juni 2006 aus Spanien überstellt, weil er neben der auch Herrn Leymann vorgeworfenen Einfuhr von Amphetaminen zudem Ende 2005 mehrmals große Mengen Haschisch nach Finnland eingeführt haben soll. Im Rahmen des erstinstanzlichen Strafverfahrens konnte den beiden Angeklagten statt der Einfuhr von Amphetaminen aber nur die Einfuhr von 26 kg Haschisch nachgewiesen werden. Insofern stellte sich die Frage, ob der in Art. 27 der Regelungen zum Europäischen Haftbefehl enthaltene Spezialitätsgrundsatz, wonach es grundsätzlich nicht möglich ist, jemanden wegen einer anderen Straftat als der im Auslieferungsersuchen genannten zu verfolgen, die Einholung einer Zustimmung zum veränderten Anklage­ vorwurf aus Polen respektive Spanien notwendig machte101. Auf Nachfrage der 100 EuGH, Urt. v. 1.12.2008  – Rs. C-388/08 PPU, Slg. 2008, I-8993  – Leymann und ­Pustarov. 101 Art. 27 des Rahmenbeschlusses zum Europäischen Haftbefehl sieht unter der Überschrift „Etwaige Strafverfolgung wegen anderer Straftaten“ u. a. vor: „(2) Außer in den in den Absätzen 1 und 3 vorgesehenen Fällen dürfen Personen, die übergeben wurden, wegen einer vor der Übergabe begangenen anderen Handlung als derjenigen, die der Übergabe zugrunde liegt, weder verfolgt noch verurteilt noch einer freiheitsent­ ziehenden Maßnahme unterworfen werden. (3) Absatz 2 findet in folgenden Fällen keine Anwendung: […] g) wenn die vollstreckende Justizbehörde, die die Person übergeben hat, ihre Zustimmung nach Absatz 4 gibt. (4) Das Ersuchen um Zustimmung ist unter Beifügung der in Artikel 8 Absatz 1 erwähnten Angaben und einer Übersetzung gemäß Artikel 8 Absatz 2 an die vollstreckende Justiz­

C. Erste Erfahrungen mit dem Eilvorlageverfahren

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finnischen Staats­anwaltschaft erklärte der polnische Vertreter bei Eurojust, dass die Einholung einer Zustimmung nicht erforderlich sei; Spanien indes wurde mittels eines neuen Europäischen Haftbefehls um Zustimmung ersucht. Ohne die Erlaubnis Spaniens abzuwarten – die im Juli 2007 aber auch erklärt wurde – wurden Herr Leymann und Herr Pustarov im November 2006 zu Freiheitsstrafen ver­ urteilt. Das Strafurteil griffen die Verurteilten sowohl vor dem Rechtsmittelgericht als auch vor dem Obersten Gericht mit dem Argument an, dass sie nicht wegen der im Auslieferungsersuchen erwähnten Straftat verurteilt worden waren. Daraufhin hat das finnische Oberste Gericht im September 2008 den EuGH angerufen, insbesondere mit der Bitte um Erläuterung, unter welchen Umständen sich der Charakter einer genau benannten Straftat ändert und zu einer „anderen Tat“ im Sinne des Art. 27 des Rahmenbeschlusses zum Europäischen Haftbefehl wird. Zur Auslegung von Art. 27 Abs. 2 entschied der EuGH: „Zur Bestimmung, ob die betrachtete Handlung im Sinne des Art. 27 Abs. 2 des Rahmen­ beschlusses […] über den Europäischen Haftbefehl […] eine ‚andere Handlung‘ als diejenige ist, die der Übergabe zugrunde liegt, und die Durchführung des […] Zustimmungsverfahrens erforderlich macht, ist zu prüfen, ob die Tatbestandsmerkmale der Straftat nach deren gesetzlicher Umschreibung im Ausstellungsmitgliedstaat diejenigen sind, für die die Person übergeben wurde, und ob sich die Angaben im Europäischen Haftbefehl und die­ jenigen in dem späteren Verfahrensschriftstück hinreichend entsprechen. Änderungen bei den zeitlichen und örtlichen Umständen sind zulässig, sofern sie sich aus den Tatsachen ergeben, die in dem im Ausstellungsmitgliedstaat bezüglich der im Haftbefehl beschriebenen Verhaltensweisen durchgeführten Verfahren ermittelt wur­den, sie nicht die Art der Straftat verändern und sie keine Gründe für das Absehen von der Vollstreckung nach den Art. 3 und 4 des Rahmenbeschlusses zur Folge haben.“102

Für Herrn Leymann und Herrn Pustarov bedeutete das, dass ihrer Bestrafung wegen der Einfuhr von Haschisch nicht der Grundsatz der Spezialität entgegenstand, weil der Europäische Haftbefehl auf die Einfuhr von Amphetaminen und damit ebenso auf eine Straftat gestützt war, die unter die Rubrik „illegaler Handel mit Drogen“ von Art. 2 Abs. 2 Spiegelstrich 5 des Rahmenbeschlusses zum Europäischen Haftbefehl fällt.

behörde zu richten. Die Zustimmung wird erteilt, wenn die Straftat, derentwegen um Zustimmung ersucht wird, nach diesem Rahmenbeschluss der Verpflichtung zur Übergabe unterliegt. Die Zustimmung wird verweigert, wenn die in Artikel 3 genannten Gründe vorliegen; ansonsten kann sie nur aus den in Artikel 4 genannten Gründen verweigert werden. Die Entscheidung ist spätestens 30 Tage nach Eingang des Ersuchens zu treffen.“ 102 EuGH, Urt. v. 1.12.2008 – Rs. C-388/08 PPU, Slg. 2008, I-8993, Rn. 77 – Leymann und Pustarov.

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2. Teil: Neues Eilvorlageverfahren vor dem EuGH

2. Dauer des Eilvorlageverfahrens Um das Urteil in der Rechtssache Leymann und Pustarov zu fällen, benötigte der EuGH mit etwas über 12 Wochen die bislang längste Zeit: Nachdem der finnische Oberste Gerichtshof dem EuGH am 5. September 2008 sein Vorabentscheidungsersuchen und den Antrag auf Durchführung des Eilvorlageverfahrens nach Art. 104b VerfOEuGH übermittelt hatte, gab die zuständige Dritte Kammer diesem Antrag am 11. September 2008 per Beschluss statt. Während bei den beiden vorhergehenden Eilverfahren bis zur mündlichen Verhandlung etwa ein Monat verging, fand die mündliche Verhandlung hier erst knapp zwei Monate später, am 4. November 2008, statt. In dieser äußerten sich neben den Beteiligten des schriftlichen Verfahrens – den Betroffenen Leymann und Pustarov, der finnischen Regierung und der Kommission – auch Vertreter Spaniens und der Niederlande. Nach Anhörung des Generalanwalts erging das Urteil schließlich am 1. Dezember 2008. Obwohl das Verfahren bisher am längsten gedauert hat, konnte sich der EuGH immer noch innerhalb der vom Rat erwünschten Drei-Monats-Frist halten. 3. Grund für die „Dringlichkeit“ einer Entscheidung des Gerichtshofs Hinsichtlich der von Art.  104b § 1 Abs.  2 VerfOEuGH zur Anwendung des Eilvorlageverfahrens geforderten „Dringlichkeit“ machte das vorlegende Gericht Folgendes geltend103: Herr Pustarov, der zur Zeit eine Freiheitsstrafe wegen verschiedener Straftaten, darunter derjenigen der illegalen Einfuhr von 26 kg Haschisch, in deren Zusammenhang das Vorabentscheidungsverfahren gestellt worden sei, verbüße, sei am 18. März 2009 auf Bewährung zu entlassen. Sollte jedoch der EuGH entscheiden, dass er wegen fehlender Zustimmung Spaniens nicht wegen der Einfuhr von Haschisch hätte bestraft werden dürfen, würde sich die gegen ihn verhängte Freiheitsstrafe verkürzen und der Entlassungstermin dementsprechend nach vorne verlagern. Um zu verhindern, dass Herr Pustarov in einem solchen Fall nur deshalb in Haft festgehalten wird, weil der Europäische Gerichtshof zu viel Zeit für seine Entscheidung braucht, hat die Kammer dem Antrag des vorlegenden Gerichts, das Vorabentscheidungsersuchen dem Eilverfahren zu unterwerfen, stattgegeben. Dass die Dringlichkeit einer Entscheidung des EuGH eigentlich nur für den Fall vorlag, dass der EuGH in der Einfuhr von Haschisch eine „andere Straftat“ als in der Einfuhr von Amphetaminen sieht, erklärt vielleicht auch die im Verhältnis zu den bisherigen Eilvorabentscheidungsverfahren längere Dauer: Immerhin kam der EuGH gerade nicht zu einem für die Angeklagten positiven Ergebnis, so dass seine Entscheidung die Inhaftierung von Herrn Pustarov bis zum März 2009 nicht beein 103

EuGH, Urt. v. 1.12.2008 – Rs. C-388/08 PPU, Slg. 2008, I-8993, Rn. 38 – Leymann und Pustarov.

C. Erste Erfahrungen mit dem Eilvorlageverfahren

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flusste. Interessant ist darüber hinaus an der Begründung der „Dringlichkeit“, dass sie sich ausschließlich auf Herrn Pustarov stützt; eine „Dringlichkeit“ auch bezüglich Herrn Leymann scheint wohl nicht – oder jedenfalls nicht so offensicht­lich – herzuleiten gewesen zu sein. Im Interesse des effektiven Rechtsschutzes sollte die Konsequenz, dass es zur Anwendung des Eilvorlageverfahrens genügt, wenn zumindest bei einem der Angeklagten die geforderte Dringlichkeit vorliegt, allerdings selbstverständlich sein. IV. Rechtssache Kadzoev

Erst ein Jahr nach der Rechtssache Leymann und Pustarov entschied der EuGH den nächsten Fall im Wege des neuen Eilvorlageverfahrens. Das auf ex-Art. 68 EGV gestützte Vorabentscheidungsersuchen in der Sache Kadzoev104 betraf die Rechtmäßigkeit einer Abschiebehaft in Bulgarien. Bei dieser Eilvorlage hat die eigentlich für die Entscheidung zuständige Zweite Kammer des Gerichtshofs erstmals von der in Art. 104b § 5 Abs. 3 S. 1 VerfO­EuGH vorgesehenen Möglichkeit Gebrauch gemacht, die Rechtssache dem Gerichtshof vorzulegen, damit sie der Großen Kammer mit 13 Richtern zugewiesen wird105. 1. Sachverhalt Herr Kadzoev, der von bulgarischen Ordnungskräften Ende Oktober 2006 ohne Identitätsdokumente nahe der Grenze zur Türkei aufgegriffen wurde, befand sich seitdem in Abschiebehaft in Sofia. Seine genaue Herkunft konnte nicht zweifelsfrei aufgeklärt werden: Zunächst gab Herr Kadzoev unter Verwendung eines anderen Namens an, in der Republik Tschetschenien geboren zu sein; im Laufe der mehreren Verwaltungsverfahren wurde jedoch neben einem vorläufigen Perso 104

EuGH, Urt. v. 30.11.2009 – Rs. C-357/09 PPU, Slg. 2009, I-11189 – Kadzoev. Der Grund für diese Zuweisung dürfte mit der einleitenden Bemerkung des Generalanwalts Mazák in seinen Schlussanträgen v. 10.11.2009, Rn. 4 f. zu dieser Rechtssache identisch sein: „Die Einführung der Bestimmungen über die Höchstdauer der Inhaftierung gehörte zu den meistdiskutierten Punkten bei der Annahme der Rückführungsrichtlinie, weil die Rechtsordnungen und Praktiken der Mitgliedstaaten sich in dieser Hinsicht erheblich unterschieden und zu einem gewissen Grad immer noch unterscheiden. Da der Gerichtshof erstmals bestimmte Aspekte der Umsetzung von Art. 15 dieser Richtlinie klären soll, kommt dem vorliegenden Vorabentscheidungsverfahren eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zu. Das Ersuchen betrifft den schwierigen und fortdauernden Abwägungsprozess zwischen einerseits dem unbestreitbaren und vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anerkannten Recht eines Staates, die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern auf seinem Gebiet zu kontrollieren, und seinem berechtigten Interesse, Rechtsmissbräuchen auf dem Gebiet der Einwanderung und des Asyls vorzubeugen, und andererseits den Anforderungen eines Rechtsstaats und dem Schutzniveau, das Migranten aufgrund internationalen Rechts, Gemeinschaftsrechts und insbesondere der Menschenrechte und Grundfreiheiten zusteht.“ 105

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2. Teil: Neues Eilvorlageverfahren vor dem EuGH

nalausweis eines tschetschenischen Bürgers namens Kadzoev auch eine Geburtsurkunde der früheren UdSSR vorgelegt. In den fast drei auf seine Inhaftierung folgenden Jahren wurden etliche Verfahren zur Aufhebung der Abschiebungsmaßnahme und zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aus humanitären Gründen (Verdacht auf Folter und erniedrigende und unmenschliche Behandlung im Herkunftsland) durchgeführt, letztlich waren jedoch alle erfolglos. Auch Bemühungen um eine Aufnahme durch einen sicheren Drittstaat – angefragt wurden Österreich, Georgien und die Türkei – scheiterten. Im Rahmen einer von Amts wegen durchgeführten Prüfung der Rechtmäßigkeit der Inhaftierung des Herrn Kadzoev sah sich das Verwaltungsgericht Sofia mit der Auslegung der Richtlinie über die Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger106 konfrontiert. Während die Unterbringung in Abschiebehaft vorher zeitlich nicht begrenzt war, wurde mit der Umsetzung dieser Richtlinie in bulgarisches Recht im Mai 2009 sinngemäß auch deren Art. 15 Abs. 5 und 6 übernommen, die eine Höchsthaftdauer von sechs Monaten vorsehen, welche im Einzelfall nochmals um höchstens zwölf Monate verlängert werden kann, wenn der betroffene Drittstaatsangehörige mangelnde Kooperationsbereitschaft aufweist oder sich die Übermittlung der erforderlichen Unterlagen durch Drittstaaten verzögert. Da sich Herr Kadzoev zum Zeitpunkt der Vorlage bereits seit beinahe drei Jahren in Abschiebehaft befand, befasste das bulgarische Gericht den EuGH mit mehreren Fragen zur Anwendbarkeit und zur Auslegung der betreffenden Richtlinie. Der Gerichtshof entschied, dass auch die vor Inkrafttreten des Umsetzungsgesetzes vollzogene Haft in die Höchsthaftdauer mit einbezogen werden muss; unberücksichtigt können lediglich die Zeiträume bleiben, die zur Prüfung der Asylanträge verstrichen sind107. Eine Möglichkeit zur Inhaftierung der Person aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung – hier etwa weil Herr Kadzoev keine gültigen Dokumente besaß, sich aggressiv verhielt und weder über Unterhaltsmittel noch über Unterkunft verfügte  – ist in der Richtlinie nicht vorgesehen; nach Ablauf der insgesamt höchstens 18 Monate Abschiebehaft, welche die Richtlinie erlaubt, muss die betreffende Person auf jeden Fall unverzüglich freigelassen werden108. 2. Dauer des Eilvorlageverfahrens Für das Urteil in der Rechtssache Kadzoev benötigte der Gerichtshof genau zwölf Wochen: Der EuGH hat das Ersuchen mit dem Antrag auf Anwendung des Eilvorlageverfahrens am 7.  September 2009 erhalten (obwohl es vom vorlegen 106 Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger, ABl.EU 2008 Nr. L 348, S. 98. 107 EuGH, Urt. v. 30.11.2009 – Rs. C-357/09 PPU, Slg. 2009, I-11189, Rn. 39, 48 – Kadzoev. 108 EuGH, Urt. v. 30.11.2009  – Rs. C-357/09 PPU, Slg. 2009, I-11189, Rn.  60, 68, 70  – ­Kadzoev.

C. Erste Erfahrungen mit dem Eilvorlageverfahren

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den Gericht bereits am 10. August 2009 abgefasst wurde) und diesem Antrag am 22.  September 2009 stattgegeben. In der auf das schriftliche Verfahren folgenden mündlichen Verhandlung äußerte sich neben den bereits schriftlich Äußerungsberechtigten  – Herrn Kadzoev, der bulgarischen Regierung und der Kommission – nur noch die litauische Regierung. Nach Anhörung des Generalanwalts erließ der EuGH sein Urteil am 30. November 2009. Angesichts der Zuweisung dieser Rechtssache an die Große Kammer, die eine Abstimmung nicht nur zwischen fünf, sondern zwischen 13 Richtern erforderlich machte, ist es bemerkenswert, dass der Gerichtshof trotzdem in der Lage war, das Verfahren in weniger als drei Monaten abzuschließen. 3. Grund für die „Dringlichkeit“ einer Entscheidung des Gerichtshofs Die für die Anwendung des Eilvorlageverfahrens nach Art.  104b § 1 Abs.  2 VerfO­EuGH nachzuweisende Dringlichkeit einer schnellen Antwort des EuGH ergab sich im vorliegenden Fall aus der Tatsache, dass die vom bulgarischen Gericht begehrte Auslegung der europäischen Richtlinie mitentscheidend dafür war, ob Herr Kadzoev weiterhin in Abschiebehaft bleiben musste oder ob er zu ent­lassen war109. Angesichts seiner bereits knapp dreijährigen Inhaftierung – die im Übrigen ebenfalls Gegenstand einer auf Art. 5 EMRK gestützten Beschwerde vor dem Europäischen Menschengerichtshof ist110 – sollte das Verfahren nicht über lange Dauer anhängig bleiben. V. Rechtssache Detiček

Das letzte in 2009 durchgeführte Eilvorabentscheidungsverfahren in der Rechtssache Detiček111 beschäftigt sich wie das erste mit der widerrechtlichen Verbringung eines Kindes in einen anderen Mitgliedstaat und damit mit der justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen. 1. Sachverhalt Das auf ex-Art. 68 EGV gestützte Vorabentscheidungsersuchen beruhte auf folgendem Sachverhalt: Nach 25 gemeinsam in Rom verbrachten Jahren reichten der italienische Kindesvater und seine slowenische Ehefrau die Scheidung ein, wor 109

EuGH, Urt. v. 30.11.2009 – Rs. C-357/09 PPU, Slg. 2009, I-11189, Rn. 32 – Kadzoev. Beschwerde Saïd Shamilovich Kadzoev/Bulgarien, eingereicht am 20.12.2007; vgl. Mazák, Schlussanträge v. 10.11.2009 – Rs. C-357/09 PPU, Slg. 2009, I-11189, Rn. 25 – Kadzoev. 111 EuGH, Urt. v. 23.12.2009 – Rs. C-403/09 PPU – Detiček. 110

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2. Teil: Neues Eilvorlageverfahren vor dem EuGH

aufhin ein italienisches Gericht im Juli 2007 das alleinige Sorgerecht für die damals fast zehnjährige Tochter, welche die slowenische Staatsangehörigkeit besitzt, vorläufig dem Vater zusprach. Am Tag dieser Entscheidung indes reiste die Mutter mit ihrer Tochter nach Slowenien aus, wo sie immer noch leben. Der Beschluss des italienischen Gerichts wurde im November 2007 und Oktober 2008 von slowenischen Gerichten für vollstreckbar erklärt; das Vollstreckungsverfahren zur Rückführung des Kindes nach Italien läuft. In der Zwischenzeit hatte jedoch die Kindesmutter im Dezember 2008 eine einstweilige Maßnahme zur Übertragung des alleinigen Sorgerechts erwirken können, weil sich die Tochter nun in Slowenien eingelebt habe, ihre Rückkehr nach Italien ihr irreparable körperliche und seelische Schäden zufügen würde und sie außerdem bei ihrer Mutter bleiben wolle. Im Rahmen der Klage des Vaters gegen diesen Beschluss wollte das vorlegende Berufungsgericht letztlich wissen, ob die einschlägige Brüssel IIa-Verordnung dahingehend auszulegen ist, dass sie dem slowenischen Gericht den Erlass einer einstweiligen Übertragung des Sorgerechts auf die Mutter erlaubt, wenn ein italienisches Gericht bereits eine entgegenstehende Verfügung getroffen hat – nämlich die Übertragung des Sorgerechts auf den Vater  –, und diese Entscheidung auch in Slowenien für vollstreckbar erklärt wurde. Da der EuGH verneinend auf diese Frage antwortete, muss die Tochter wieder zum Vater nach Italien gebracht werden. 2. Dauer des Eilvorlageverfahrens Das Vorabentscheidungsverfahren in der Sache Detiček konnte in etwa zwei Monaten bzw. neun Wochen abgeschlossen werden: Nachdem das Ersuchen mit dem Antrag auf Durchführung des Eilvorlageverfahrens nach Art.  104b Verf­OEuGH am 20. Oktober 2009 beim Gerichtshof eingereicht und der Antrag am 27. Oktober 2009 positiv beschieden wurde, fand die mündliche Verhandlung am 7. Dezember 2009 statt. Das Verfahren stieß offenkundig auf großes Interesse bei den Mitgliedstaaten, denn neben den bereits im schriftlichen Verfahren Äußerungsberechtigten – den Eltern, der slowenischen Regierung und der Kommission – beteiligten sich an der mündlichen Verhandlung außerdem Regierungsvertreter von Deutschland, Frankreich, Italien, Lettland, Polen und Tschechien. Nach der separaten Anhörung des Generalanwalts zwei Tage später verkündete die Dritte Kammer des Gerichtshofs am 23. Dezember 2009 das Urteil.

C. Erste Erfahrungen mit dem Eilvorlageverfahren

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3. Grund für die „Dringlichkeit“ einer Entscheidung des Gerichtshofs Wie bereits aus der Rechtssache Rinau112 zu folgern war, hat der EuGH auch im Fall Detiček, bei dem es ebenfalls um die Rückgabe eines widerrechtlich entführten Kindes ging, die für die Anwendung des Eilvorlageverfahrens notwendige „Dringlichkeit“ gesehen. In Sorgerechtsstreitigkeiten solle schließlich stets eine schnelle Entscheidung getroffen werden, um das Verhältnis zwischen dem Kind und dem sorgeberechtigten Elternteil nicht mehr als nötig zu beeinträchtigen; dies gelte umso mehr, als im vorliegenden Fall bislang sowieso nur vorläufige Sorgerechtsentscheidungen getroffen wurden, die nach wie vor zu Rechtsunsicherheit bei allen Beteiligten führe113. Angesichts der sich zudem widersprechenden einstweiligen Anordnungen aus Italien und Slowenien konnte nur der Europäische Gerichtshof hier eine letztverbindliche Entscheidung treffen, um schließlich im Interesse des Kindeswohls zu einer dauernden Sorgerechtsregelung zu gelangen. VI. Rechtssache Gataev und Gataeva

Nicht entschieden wurde das erste Eilvorlageersuchen im Jahr 2010 in der Rechtssache Gataev und Gataeva114, welches der finnische Oberste Gerichtshof am 25. Februar 2010 beim Europäischen Gerichtshof eingereicht hatte. Das Vorabentscheidungsverfahren sollte das Verhältnis zwischen dem Rahmenbeschluss zum Europäischen Haftbefehl und der Asylverfahrensrichtlinie115 klären. Zum Sachverhalt war den Vorlagefragen zu entnehmen, dass es sich bei den Betroffenen um russische Staatsbürger handelte, die mittels eines Europäischen Haftbefehls nach Litauen überstellt werden sollten, weil sie dort eine Haftstrafe von anderthalb Jahren abzuleisten haben. Zeitgleich zum Auslieferungsverfahren lief indes auch ein Asylverfahren des Paares, so dass sich der Oberste Gerichtshof Finnlands vor die Frage gestellt sah, welchem Verfahren Vorrang eingeräumt werden sollte. Zudem wollte er wissen, ob die Vollstreckung eines Haftbefehls auch aus anderen als den im Rahmenbeschluss vorgesehenen Gründen abgelehnt werden dürfe. Im Fall habe nämlich der begründete Verdacht bestanden, dass das litauische Gerichtsverfahren aufgrund einer diskriminierenden Anklage nicht fair gewesen sei. Zudem hätten die Gataevs der Überstellung deshalb widersprochen, weil sie die Abschiebung durch Litauen nach Russland befürchteten. 112

Vgl. zu diesem ersten Eilvorlageverfahren bereits oben in diesem Zweiten Teil unter C. I. Vgl. EuGH, Urt. v. 23.12.2009 – Rs. C-403/09 PPU, Rn. 30 – Detiček. 114 Ersuchen v. 25.2.2010 und Beschl. v. 3.4.2010  – Rs. C-105/10 PPU  – Gataev und Gataeva. 115 Richtlinie 2005/85/EG v. 1.12.2005 über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft (ABl.EU 2005 Nr.  L 326, S. 13). 113

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2. Teil: Neues Eilvorlageverfahren vor dem EuGH

Wenngleich die offiziellen Dokumente des Gerichtshofs nicht zu den Gründen der Anwendung des Eilvorlageverfahrens Stellung nehmen, so ist doch davon auszugehen, dass die Inhaftierung des Paares in Finnland den Ausschlag für die Annahme der Dringlichkeit durch den EuGH gab. Schließlich waren die Gataevs bereits Anfang Januar nur aufgrund des litauischen Haftbefehls festgenommen worden. Das Eilvorlageverfahren wurde indes am 3. April 2010 aus dem Register des Europäischen Gerichtshofs gestrichen, weil die Entscheidungserheblichkeit des Ersuchens entfallen ist116: Litauen hat den Europäischen Haftbefehl zurückgezogen, so dass sich der für das Ersuchen ausschlaggebende Konflikt zwischen dem Auslieferungs- und dem Asylrecht erledigt hat. VII. Rechtssache Povse

Mit dem vom österreichischen Obersten Gerichtshof am 20. April 2010 vor­ gelegten Eil­vorlageersuchen in dem Verfahren Povse117 sollen erneut Fragen zur Auslegung der Brüssel IIa-Verordnung geklärt werden, die sich im Zusammenhang mit der widerrechtlichen Zurückhaltung eines Kindes stellen. 1. Sachverhalt Die Eltern der im Jahr 2006 geborenen Tochter streiten sich um das Sorgerecht und die Rückführung des Kindes, das sich seit Februar 2008 gegen den Willen des Vaters zusammen mit seiner Mutter in Österreich befindet, nach Italien. Im Rahmen des Verfahrens zur Regelung der Ausübung der elterlichen Verantwortung für die Tochter hat ein italienisches Gericht im Juli 2009 ihre Rückführung nach Italien angeordnet. Der von der Mutter gegen die Entscheidung der unteren österrei­ chischen Gerichte, dass die Rückführungsanordnung vollstreckt werden müsse, angerufene Oberste Gerichtshof stellt Auslegungsfragen in Bezug auf die Gründe, unter denen diese Vollstreckung möglicherweise verweigert werden könnte. Der EuGH indes sieht keinen vorgebrachten Grund als Rechtfertigung dafür an, die Rückführung nicht durchzuführen.

116

EuGH, Beschl. v. 3.4.2010 – Rs. C-105/10 PPU – Gataev und Gataeva. EuGH, Urt. v. 1.7.2010 – Rs. C-211/10 PPU – Povse.

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C. Erste Erfahrungen mit dem Eilvorlageverfahren

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2. Dauer des Eilvorlageverfahrens Trotz der verhältnismäßig vielen Erklärungen von acht Mitgliedstaaten und der Europäischen Kommission konnte das Verfahren in der Sache Povse innerhalb von knapp zwei Monaten abgeschlossen werden. Nachdem das Ersuchen am 3. Mai 2010 beim Gerichtshof eingegangen ist, wurde am 11. Mai 2010 beschlossen, das Eilvorlageverfahren anzuwenden. Nach Durchführung des schriftlichen Verfahrens fand am 14. Juni 2010 zunächst die mündliche Verhandlung und am 16. Juni 2010 die Anhörung der Generalanwältin statt. Das Urteil des EuGH erging etwa zwei Wochen später am 1.  Juli 2010. Erstmalig machten allerdings die Kindes­ eltern nicht von ihrem Recht Gebrauch, sich vor dem Gerichtshof schriftlich oder mündlich zu äußern. 3. Grund für die „Dringlichkeit“ einer Entscheidung des Gerichtshofs Wie in den bisherigen Kindschaftsfällen, so ergibt sich auch in der Rechtssache Povse die Eilbedürftigkeit einer Entscheidung des EuGH aus der Tatsache, dass die Kontakte zwischen dem zur Zeit der Vorlage erst dreijährigen Kind und dem Vater unterbrochen sind und eine weitere Verzögerung der Rückführungsvoll­streckung das Verhältnis zwischen Vater und Kind weiter verschlechtern würde. Damit erhöht sich zudem die Gefahr eines seelischen Schadens der Tochter im Fall der Rückführung nach Italien. VIII. Rechtssache McB.

Das Vorabentscheidungsersuchen des irischen Supreme Court vom 30.  Juli 2010 in der Rechtssache McB.118 stellt ebenfalls Auslegungsfragen zur Brüssel IIaVerordnung. 1. Sachverhalt Die Vorlage ergeht im Rahmen eines Rechtsmittelverfahrens, das Herr McB., nicht-ehelicher Vater von drei Kindern, beim Supreme Court in Irland gegen eine unterinstanzliche Entscheidung eingelegt hat. Dort hatte er vergebens beantragt, dass ihm eine Bescheinigung ausgestellt wird, wonach das Verbringen der drei Kinder durch die Mutter ins Vereinigte Königreich im Juli 2009 widerrechtlich im Sinne der Brüssel IIa-Verordnung war und dass ihm zur Zeit des Verbringens ein Sorgerecht zustand. Diese Bescheinigung benötigt Herr McB., um vor einem englischen Gericht erfolgreich die Rückgabe der Kinder zu erwirken. 118

EuGH, Urt. v. 5.10.2010 – Rs. C-400/10 PPU – McB.

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2. Teil: Neues Eilvorlageverfahren vor dem EuGH

Nach irischem Recht verfügt der leibliche Kindesvater, der nicht mit der Kindes­ mutter verheiratet ist, indes nicht kraft Gesetzes über ein Sorgerecht, selbst wenn er mit der Kindesmutter zusammengelebt und sich aktiv an der Erziehung des Kindes beteiligt. Das Sorgerecht kann nur durch eine gerichtliche Entscheidung, welche dem Vater ausdrücklich das Sorgerecht für die gemeinsamen Kinder zu­ erkennt, erlangt werden. Eine solche konnte Herr McB. nicht vorweisen. Mit dem Vorabentscheidungsersuchen möchte das irische Gericht wissen, ob es gegen unionsrechtliche Vorgaben verstößt, dass das irische Recht das Sorgerecht des leiblichen Vaters von einer solchen gerichtlichen Entscheidung abhängig macht. Da der EuGH verneinend auf diese Frage geantwortet hat, war das Ver­ bringen der Kinder ins Ausland – erstmals bei Eilvorlagen – nicht widerrechtlich. 2. Dauer des Eilvorlageverfahrens Auch das Verfahren in der Rechtssache McB. konnte vom Gerichtshof in zwei Monaten beendet werden: Das Ersuchen ging am 6. August 2010 beim EuGH ein, dem Antrag auf Anwendung des Eilvorlageverfahrens wurde am 11. August 2010 stattgegeben und am 5. Oktober 2010 fällte die zuständige Dritte Kammer nach Anhörung des Generalanwalts ihr Urteil. Bei der mündlichen Verhandlung am 20. September 2010 meldete sich neben den bereits im schriftlichen Verfahren ­Äußerungsberechtigten – den Kindeseltern, der irischen Regierung und der Kommission – nur noch ein Vertreter der deutschen Regierung zu Wort. 3. Grund für die „Dringlichkeit“ einer Entscheidung des Gerichtshofs Zur Begründung der „Dringlichkeit“ nach Art.  104b § 1 Abs.  2 VerfOEuGH wurde parallel zur Rechtssache Rinau119 auf den 17. Erwägungsgrund der Brüssel IIa-Verordnung verwiesen, wonach bei widerrechtlichem Verbringen eines Kindes dessen Rückgabe unverzüglich erwirkt werden soll. Die Kinder, die zur Zeit der Vorlage bereits über ein Jahr von ihrem Vater getrennt lebten, waren zudem erst drei, sieben bzw. neun Jahre alt. In diesem Alter kann jede Verlängerung einer möglicherweise widerrechtlichen Lebenssituation die Beziehungen zum Vater ernsthaft beschädigen, so dass es einer raschen Entscheidung bedurfte.

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Vgl. zu diesem ersten Eilvorlageverfahren bereits oben in diesem Zweiten Teil unter C. I.

C. Erste Erfahrungen mit dem Eilvorlageverfahren

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IX. Rechtssache Aguirre Zarraga

Die Vorlage in der Rechtssache Aguirre Zarraga120 ist nicht nur das erste Ersuchen eines deutschen Gerichts, welches im Wege des Eilvorlageverfahrens behandelt wurde, sondern auch der erste Anwendungsfall des Art. 104b § 1 Abs. 3 VerfOEuGH, wonach das neue Verfahren von Amts wegen auf Vorschlag des Präsidenten des Gerichtshofs durchgeführt werden kann. 1. Sachverhalt Herr Aguirre Zarraga, ein spanischer Staatsangehöriger, und Frau Pelz, eine deutsche Staatsangehörige, waren von 1998 bis zur Scheidung in 2009 verheiratet und lebten in Spanien. Aus der Ehe ging im Jahr 2000 die gemeinsame Tochter Andrea hervor. Nach der Trennung wurde das vorläufige Sorgerecht im Mai 2008 dem Vater zugesprochen; die Tochter blieb jedoch auch nach Ende der Sommerferien 2008 bei ihrer inzwischen nach Deutschland umgezogenen Mutter. Im Scheidungsurteil vom Dezember 2009 wurde das Sorgerecht für Andrea auf Herrn Aguirre Zarraga übertragen. Das Oberlandesgericht Celle sah sich nun mit einer Bescheinigung des spanischen Gerichts nach der Brüssel IIa-Verordnung konfrontiert, welche die Rückgabe des Kindes an den Vater anordnete. Diese Bescheinigung ist grundsätzlich ohne eigene Prüfungskompetenz von Amts wegen anzuerkennen und zu vollstrecken. Frau Pelz hatte der Zwangsvollstreckung der mit der Bescheinigung verbundenen Entscheidung jedoch widersprochen und beantragt, sie nicht anzuerkennen, weil das spanische Gericht die Tochter vor Erlass der Entscheidung nicht angehört hatte, wie es sowohl durch die Verordnung selbst als auch durch Art. 24 der Grundrechte-Charta vorgesehen ist. Insofern stellte das Oberlandesgericht dem EuGH die Frage, ob dem Gericht des Vollstreckungsmitgliedstaats ausnahmsweise in Fällen gravierender Grundrechtsverstöße in der zu vollstreckenden Entscheidung eine eigene Prüfungskompetenz zukommt. Nach Ansicht des EuGH ist dies indes nicht der Fall, da für die Beurteilung der Frage, ob ein solcher Verstoß tatsächlich vorliegt, ausschließlich die Gerichte des Ursprungsmitgliedstaats – hier also die spanischen Gerichte – zuständig sind. Die spanische Bescheinigung muss mithin in Deutschland vollstreckt werden.

120

EuGH, Urt. v. 22.12.2010 – Rs. C-491/10 PPU – Aguirre Zarraga.

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2. Teil: Neues Eilvorlageverfahren vor dem EuGH

2. Dauer des Eilvorlageverfahrens Das erste Eilvorlageverfahren der nunmehr zuständigen Ersten Kammer wurde in knapp zehn Wochen erledigt: Eingegangen ist das Ersuchen am 15.  Oktober 2010, bereits vier Tage später ersuchte der Präsident des EuGH um Prüfung der Frage, ob es erforderlich ist, das Ersuchen dem Eilverfahren zu unterwerfen; diese Prüfung endete mit einer positiven Entscheidung am 28. Oktober 2010. Auf die mündliche Verhandlung vom 6. Dezember 2010 mit Erklärungen der Parteien des Ausgangsverfahrens, der Regierungen von Deutschland, Griechenland, Spanien, Frankreich und Lettland sowie der Europäischen Kommission erging das Urteil der Kammer am 22. Dezember 2010. 3. Grund für die „Dringlichkeit“ einer Entscheidung des Gerichtshofs Der Präsident des Gerichtshofs begründete sein Memorandum zur Einleitung des Eilverfahrens von Amts wegen nach Art. 104b § 1 Abs. 3 VerfOEuGH mit den gleichen Erwägungen, die den bisherigen Kindesentziehungsfällen zugrunde liegen121. Es bestünde die Gefahr, dass sich die Beziehungen zwischen Vater und Tochter – die bereits seit zwei Jahren getrennt leben – weiter verschlechterten oder Schaden nähmen und dass ein seelischer Schaden entstehe. Angesichts der Diskrepanzen zwischen den Eltern sei nicht zu erwarten, dass Herr Aguirre Zarraga seine Tochter vor einer endgültigen Entscheidung des Sorgerechtsstreits wiedersehe. Dies könne vor dem Hintergrund einer möglichen Rückkehr nach Spanien nicht hingenommen werden. X. Rechtssache Mercredi

Das in 2010 letzte Ersuchen im Wege des Eilvorlageverfahrens nach Art. 104b VerfO­EuGH in der Rechtssache Mercredi122 hat der englische Court of Appeal am 18. Oktober 2010 beim Gerichtshof eingereicht. Inhaltlich wurden dem EuGH erneut Fragen zur Auslegung der Brüssel IIa-Verordnung vorgelegt. 1. Sachverhalt Aus der nicht-ehelichen Lebensgemeinschaft zwischen Frau Mercredi, einer Französin, und Herrn Chaffe, einem Briten, ging die gemeinsame Tochter Chloé hervor, die im August 2009 geboren wurde. Im Oktober 2009 zog die Mutter nach 121

EuGH, Urt. v. 22.12.2010 – Rs. C-491/10 PPU, Rn. 38 ff. – Aguirre Zarraga. EuGH, Urt. v. 22.12.2010 – Rs. C-497/10 PPU – Mercredi.

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C. Erste Erfahrungen mit dem Eilvorlageverfahren

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der Trennung vom Vater mit der Tochter nach La Réunion. Diese Verbringung war rechtmäßig im Sinne der Brüssel IIa-Verordnung, weil die Mutter zu diesem Zeitpunkt als einzige ein Sorgerecht innehatte. Der Vater beantragte wenige Tage später vor einem englischen Gericht u. a. die Übertragung der elterlichen Verantwortung, so dass in Großbritannien nunmehr über das Sorgerecht für die Tochter entschieden wird. Da sich die Mutter unter Rüge der fehlenden Anhörung gegen diese Entscheidungen zur Wehr setzt, hat der Court of Appeal dem EuGH diverse Fragen zur Brüssel IIa-Verordnung vorgelegt, in denen es um die Auslegung des „gewöhnlichen Aufenthalts“ und die Zuständigkeitsverteilung zwischen englischen und französischen Gerichten geht. 2. Dauer des Eilvorlageverfahrens Auch diese Eilvorlage konnte vom Gerichtshof in gut zwei Monaten beantwortet werden, nachdem sie am 18. Oktober 2010 eingegangen war. Dem Antrag des vorlegenden Gerichts auf Anwendung des Eilverfahrens wurde am 28.  Oktober 2010 stattgegeben. Nach dem schriftlichen Verfahren wurden in der mündlichen Verhandlung am 1. Dezember 2010 die Eltern und die Erklärungen der britischen, deutschen, französischen und irischen Regierung sowie der Kommission gehört, bevor am 22. Dezember 2010 das Urteil erging. 3. Grund für die „Dringlichkeit“ einer Entscheidung des Gerichtshofs Neben den bereits in den anderen Sorgerechtsfällen angestellten Überlegungen kam zur Begründung der „Dringlichkeit“ nach Art. 104b § 1 Abs. 2 VerfOEuGH im vorliegenden Fall vor allem hinzu, dass unklar sei, welches Gericht nach Unionsrecht für Fragen der elterlichen Verantwortung für Chloé zuständig sei123. Bis zu einem Urteil des EuGH könne deshalb keine Entscheidung getroffen werden, die es dem Vater gegebenenfalls erlauben würde, eine Beziehung zu seiner Tochter aufzubauen. Darüber hinaus sei das sehr weit vom Vater entfernt lebende Kind mit knapp anderthalb Jahren in einem für seine Entwicklung bedeutsamen Alter und bereits seit über einem Jahr vom Vater getrennt, so dass auch die künftige Beziehung der beiden ernstlich gefährdet sei.

123

EuGH, Urt. v. 22.12.2010 – Rs. C-497/10 PPU, Rn. 37 ff. – Mercredi.

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2. Teil: Neues Eilvorlageverfahren vor dem EuGH

XI. Abgelehnte Anträge auf Anwendung des Eilvorlageverfahrens

Neben den drei in 2008 erfolgreich durchgeführten Eilvorlageverfahren sah die hierfür bestimmte Kammer bei weiteren drei Anträgen auf Anwendung des neuen Verfahrens die in Art. 104b VerfOEuGH aufgestellten Voraussetzungen als nicht erfüllt an124: Der erste Antrag auf Durchführung des Eilvorlageverfahrens in der Rechtssache Kozłowski wurde – noch vom Präsidenten des Gerichtshofs – abgelehnt, weil der Antrag des Oberlandesgerichts Stuttgart wenige Tage vor Inkrafttreten der Änderungen der Verfahrensordnung einging, d. h. das neue Verfahren ratione temporis noch nicht anwendbar war125. Die Rechtssache betraf die Vollstreckung eines europäischen Haftbefehls aus Polen gegen einen polnischen Staatsangehörigen, der seinerzeit eine Haftstrafe in Deutschland verbüßte, wobei das OLG im Rahmen des Auslieferungsverfahrens die Frage zu beantworten hatte, wie „Wohnsitz“ und „Aufenthalt“ im Sinne des Rahmenbeschlusses zum Europäischen Haftbefehl auszulegen sind. Da jedoch die Eilbedürftigkeit durchaus gegeben war – wegen der deutschen Strafbestimmungen über die Strafaussetzung zur Bewährung wäre eine Haftentlassung von Herrn Kozłowski im September 2008 möglich gewesen126 –, ordnete der Präsident des Gerichtshofs mit Beschluss vom 22. Februar 2008 die Behandlung des Falles im Wege des beschleunigten Verfahrens nach Art. 104a VerfOEuGH an127. 124 Der Jahresbericht des EuGH weist nur die Anzahl der abgelehnten und angenommenen Anträge auf Durchführung des Eilvorlageverfahrens aus, nicht jedoch, um welche Rechtssachen es sich handelt. Da die Beschlüsse der für Eilersuchen zuständigen Kammer zudem nicht ver­öffentlicht werden und der Gerichtshof auch auf Nachfrage nicht mitteilt, bei welchen Rechtssachen ein Antrag auf Anwendung des Verfahrens nach Art. 104b VerfOEuGH abgelehnt wurde, bleibt als einzige Möglichkeit, die Rechtsprechungsdatenbank des EuGH nach dem Stichwort „Art. 104b“ zu durchsuchen. Selbst in den Fällen nämlich, in denen die Durchführung des Eilverfahrens nicht beschlossen wurde, findet sich im Endurteil ein Hinweis auf den entsprechenden Antrag des vorlegenden Gerichts. Diese Vorgehensweise hat jedoch den Nachteil, dass die Ablehnungsgründe unklar bleiben und dass das Urteil erst nach Durchlaufen des normalen Vorabentscheidungsverfahrens – also etwa nach anderthalb Jahren – zur Verfügung steht. 125 EuGH, Beschl. v. 22.2.2008  – Rs. C-66/08, Rn.  5 ff.  – Kozłowski.  – Vollends überzeugen kann diese Ablehnung wegen der Berufung auf Formalitätsgründe indes nicht: Nur zwölf Tage lagen zwischen dem Eingang der Rechtssache beim EuGH und dem Inkrafttreten des neuen Art. 104b VerfOEuGH, ab dem ablehnenden Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs waren es sogar nur acht Tage. Hätten das vorlegende Gericht oder der EuGH mit den entsprechenden Beschlüssen etwas gewartet, hätte die Verfahrensdauer in diesem anerkanntermaßen eil­bedürftigen Fall  – denn der EuGH hat schließlich sogar die Voraussetzung der „außer­ordentlichen Dringlichkeit“ für das beschleunigte Verfahren in Art.  104a VerfOEuGH als ge­geben angesehen, so dass auch die „Dringlichkeit“ für Art. 104b VerfOEuGH vorgelegen hätte – mindestens halbiert werden können (wenn man davon ausgeht, dass jedes Eilvorlageverfahren innerhalb von drei Monaten abgeschlossen werden kann). Warum der EuGH also mit der Behandlung des Antrags nicht bis zum 1.3.2008 gewartet hat, um gute zweieinhalb Monate Verfahrensdauer zu sparen, ist nicht recht einleuchtend. 126 EuGH, Beschl. v. 22.2.2008 – Rs. C-66/08, Rn. 10 – Kozłowski. 127 Das Urteil der Großen Kammer in der Rechtssache C-66/08 erging am 17.8.2008 (Slg. 2008, I-6041), d. h. rund sechs Monate nach Eingang des Vorabentscheidungsersuchens.

C. Erste Erfahrungen mit dem Eilvorlageverfahren

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Erstmals durch die zuständige Kammer abgelehnt wurde die Anwendung des Eilvorlageverfahrens in der Rechtssache Wolzenburg128. Die ursprüngliche Aussetzung einer Freiheitsstrafe zur Bewährung gegen den Deutschen Wolzenburg, der sich nunmehr in den Niederlanden niedergelassen hatte, wurde widerrufen, so dass Deutschland zur Vollstreckung der Strafe mittels eines Europäischen Haftbefehls um seine Überstellung aus den Niederlanden ersuchte. Nach den niederländischen Umsetzungsvorschriften indes kann die Übergabe verweigert werden, wenn es sich um einen Inländer handelt; bei Staatsangehörigen der anderen EU-Mitgliedstaaten ist eine solche Verweigerung u. a. davon abhängig, dass sie sich rechtmäßig fünf Jahre lang ununter­brochen in den Niederlanden aufgehalten haben – dies war bei Herrn ­Wolzenburg noch nicht der Fall. Im Verfahren betreffend die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls rief das Bezirksgericht den EuGH an, um prüfen zu lassen, ob diese unterschiedliche Behandlung von Inländern und Staatsangehörigen anderer EU-Staaten gegen das Diskriminierungsverbot verstößt. Die Luxemburger Richter, die in der Formation der Großen Kammer entschieden haben, sahen diese Ungleichbehandlung aber als gerechtfertigt an, weil sie auf dem Gedanken der möglichen Resozialisierung des Auszuliefernden beruht und deswegen die Verweigerung der Übergabe denjenigen vorbehält, die über ein Mindestmaß an Integration in den Niederlanden verfügen. Da das Ersuchen wegen der Auslegung u. a. des Rahmenbeschlusses zum Europäischen Haftbefehl vom Anwendungsbereich her von Art. 104b VerfOEuGH erfasst gewesen wäre, muss der Gerichtshof keine „Dringlichkeit“ gesehen haben, obwohl Herr Wolzenburg aufgrund des Europäischen Haftbefehls zeitweilig vorläufig festgenommen wurde129. Beim zweiten abgelehnten Antrag auf Durchführung des Eilverfahrens ging es um die Rechtssache Zurita García130. Mit dem Vorabentscheidungsersuchen wollte das vorlegende spanische Gericht geklärt wissen, ob es dem sogenannten Schengener Grenzkodex (Verordnung (EG) Nr. 562/2006) widerspricht, wenn das spanische Recht Drittstaatsangehörige, welche die Voraussetzungen eines Aufenthalts in der Europäischen Union nicht oder nicht mehr erfüllen, nicht zwingend ausweist, sondern die Auferlegung einer Geldstrafe als Alternative vorsieht. Da sich die Fragen auf einen Rechtsakt beziehen, der auf der Rechtsgrundlage des ex-Art. 62 Nr. 1, Nr. 2 lit. a) EGV (jetzt Art. 77 Abs. 2 lit. d) und e) AEUV) ergangen ist, wäre das Eilvorlageverfahren ratione materiae anwendbar gewesen. Allerdings sah die zuständige Dritte Kammer die Voraussetzung der „Dringlichkeit“ nicht als erfüllt an: Der nationale Richter hatte sich auf die große Zahl bei ihm anhängiger

128 Auch diese Rechtssache ist inzwischen  – nach 18,5 Monaten Verfahrensdauer (das Ersuchen ist am 21.3.2008 beim Gerichtshof eingegangen)  – abgeschlossen, vgl. EuGH, Urt. v. 6.10.2009 – Rs. C-123/08, Slg. 2009, I-9621 – Wolzenburg. 129 EuGH, Urt. v. 6.10.2009 – Rs. C-123/08, Slg. 2009, I-9621, Rn. 32 – Wolzenburg. 130 Das Urteil des EuGH in der Rs. C-261/08 ist am 22.10.2009 ergangen (Slg. 2009, I-10143); da das Ersuchen am 19.6.2008 eingereicht wurde, konnte es mithin in etwas unter der durchschnittlichen Verfahrensdauer erledigt werden.

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2. Teil: Neues Eilvorlageverfahren vor dem EuGH

Parallel­verfahren gestützt131; diese Tatsache allein genügte dem EuGH – wie auch bereits für die Durchführung des beschleunigten Verfahrens132 – jedoch nicht. Die dritte Ablehnung in der Rechtssache Pontini u. a. war der Tatsache geschuldet, dass das Ersuchen nicht den Anwendungsbereich des Eilvorlageverfahrens betraf133. Das italienische Gericht hatte in einem Strafverfahren den Vorwurf der Bildung einer kriminellen Vereinigung und des fortgesetzten schweren Betrugs zum Nachteil der europäischen Gemeinschaft durch vermeintlich ungerechtfertigte Inanspruchnahme von europarechtlichen Prämien zu klären, wobei Fragen zur Auslegung von landwirtschaftlichen Verordnungen entscheidungserheblich waren. Außer der Tatsache, dass die Verordnungen nicht auf der Grundlage der Vorschriften zum Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ergangen sind, sah der EuGH auch keine „Dringlichkeit“, obwohl das Strafverfahren bereits seit 2004 in erster Instanz anhängig war und die zuständige nationale Behörde die Auszahlung der nicht unerheblichen EU-Zuschüsse an die Angeklagten ausgesezt hatte. Im Jahr 2009 wurde neben den beiden angenommenen Eilvorlageverfahren ­ adzoev und Detiček nur ein Antrag auf Durchführung des Verfahrens nach K Art. 104b VerfOEuGH abgelehnt134. Dies betraf das Vorabentscheidungsersuchen des Oberlandesgerichts Stuttgart in der Rechtssache Mantello135. Inhaltlich ging es um die Frage der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls für ein Strafverfahren, das die italienischen Behörden gegen Herrn Mantello und weitere Personen eingeleitet hatten, die im Verdacht standen, in Italien von 2004 bis 2005 einen Kokainhandel organisiert zu haben. Da Herr Mantello jedoch für den fraglichen Tatzeitraum bereits wegen des bloßen Kokainbesitzes verurteilt worden war, fragte sich das OLG Stuttgart, ob die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls im konkreten Fall wegen des Doppelbestrafungsverbots abgelehnt werden könne. Wegen der nötigen Auslegung des Rahmenbeschlusses zum Europäischen Haftbefehl wäre auch in dieser Rechtssache der Anwendungsbereich des Eilvorlageverfahrens eröffnet gewesen. Insofern hat anscheinend die Begründung der „Dringlichkeit“ im Antrag – das Bestreben, das von den italienischen Behörden beantragte Übergabeverfahren nicht hinauszuzögern  – den EuGH nicht überzeugt. Eine weitere Überlegung könnte auch darin bestanden haben, dass der gegen Herrn ­Mantello beantragte Europäische Haftbefehl zur Zeit der Vorlage außer Vollzug gesetzt war, der Beschuldigte sich mithin nicht tatsächlich in Haft befand.

131 So die Auskunft der Generalanwältin am EuGH Juliane Kokott, die in diesem Verfahren zuständig war. 132 Siehe dazu oben in diesem Zweiten Teil unter A. I. 1. 133 Vgl. inzwischen EuGH, Urt. v. 24.6.2010 – Rs. C-375/08, Rn. 42 f. – Pontini u. a. Für dieses Urteil benötigte der EuGH ganze 25,5 Monate. 134 EuGH, Jahresbericht 2009, S. 102. 135 Im November 2010 ist – nach 16 Monaten Verfahrensdauer – das Urteil der Großen Kammer ergangen, vgl. EuGH, Urt. v. 16.11.2010 – Rs. C-261/09 – Mantello.

D. Kritik des Eilvorlageverfahrens

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D. Kritik des Eilvorlageverfahrens Die bisher erreichte Durchschnittsdauer des neu eingeführten Eilvorlageverfahrens von insgesamt etwas über zwei Monaten spricht für sich: Das Sonderverfahren nach Art.  104b VerfO­EuGH ist durchaus geeignet, eine schnelle Entscheidung des EuGH in dringenden Haft- oder Auslieferungsfällen zu erlangen und damit der zeitlichen Dimension des Rechts auf effektiven Rechtsschutz besser als alle anderen Varianten des Vorabentscheidungsverfahrens Rechnung zu tragen. In­sofern ist es nicht verwunderlich, dass die zum neu geschaffenen Verfahren veröffentlichten Beiträge in der Literatur die Änderung der Verfahrensordnung als Weg zu einem beschleunigten Rechtsschutz und zu einer angemessenen Verfahrensdauer auf europäischer Ebene prinzipiell begrüßen136. Bei der Ausgestaltung des Eil­verfahrens wurde ersichtlich da­rauf geachtet, die Charakteristika des normalen Vorabentscheidungsverfahrens beizubehalten: So wird die Beschleunigung in erster Linie durch die interne Konzentration bei einer Fünfer-Kammer und durch die Beschränkung der Beteiligten in der schriftlichen Phase, die Vereinfachung der bisherigen Verfahrensabschnitte wie kürzere Stellungnahmefristen, gege­benenfalls gänzlicher Verzicht auf schriftliche Eingaben – die mündliche Verhandlung spielt dadurch eine zentrale Rolle – und durch den verstärkten Rückgriff auf technische Kommunikationsmittel erreicht. Das Eilvorlageverfahren stellt also einen Kompromiss zwischen den gegenläufigen Gesichtspunkten Effizienz und Schnelligkeit des Verfahrens einerseits und Wahrung einer tatsächlichen Beteiligungsmöglichkeit aller Mitgliedstaaten und des Sprachenregimes beim Gerichtshof andererseits dar. Aber kann nun das Eilvorlageverfahren bei Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 104b VerfOEuGH das aufgeworfene Spannungsfeld der Verfahrensdauer bei strafrechtlichen Vorlagen vor dem Hintergrund der menschenrechtlichen, unions­ rechtlichen und verfassungsrecht­lichen Anforderungen des Beschleunigungsgebots zufrieden stellend auflösen? Die Antwort lautet leider – wie im Folgenden zu zeigen sein wird –: Nein. Vor allem der auf den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts beschränkte Anwendungsbereich des Eilvorlageverfahrens führt dazu, dass das Spannungsverhältnis zwischen einer Vorlage an den EuGH und dem Beschleunigungsgebot insbesondere aus Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK nur in eng begrenzten Fällen abgemildert wird.

136 So etwa Kokott/Dervisopoulos/Henze, EuGRZ 2008, 10 ff.; Dörr, EuGRZ 2008, 349, 353 f.; Gardette, EuZW 2008, 98 f.; Kühn, EuZW 2008, 263, 264 ff.; Lumma, EuGRZ 2008, 381, 383 f.; Skouris, ERA Forum 2008, 99, 105 f.; Chevalier, ERA Forum 2009, 591, 598 ff. – Kritischer jedoch Engström, ERA Forum 2009, 487, 490 ff.; Bernard, Europe No. 5/2008, 5, 7: „Bien que [les modalités de la nouvelle procédure d’urgence] puissent se révéler efficaces, ces mesures ne sont vraisemblablement pas à la hauteur de la reforme espérée, qui aurait permis de parvenir à la meilleure protection juridictionnelle possible dans l’espace de liberté, de sécurité et de justice, au moyen du renvoi préjudiciel.“

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2. Teil: Neues Eilvorlageverfahren vor dem EuGH

I. Restriktion des sachlichen Anwendungsbereichs

Das neue Eilverfahren mindert das Spannungsverhältnis zwischen einer europarechtlich gebotenen Vorlage und dem Beschleunigungsgebot nur insoweit, als die auslegungsbedürftige oder zu überprüfende Europarechtsnorm aufgrund der Art. 67 bis 89 AEUV (ex-Art. 29 ff. EUV oder ex-Art. 61 ff. EGV) ergangen ist, also den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts betrifft. Fragen zu anderen Bereichen des Unionsrechts bzw. des ehemaligen Gemeinschaftsrechts – wie etwa den Grundfreiheiten oder sonstigen Verordnungen und Richtlinien, die aufgrund anderer Ermächtigungsgrundlagen als der Art. 67 ff. AEUV erlassen wurden – sind vom neuen Eilverfahren ausgeschlossen. Sie können allenfalls in dem schon bisher existenten beschleunigten Verfahren nach Art. 104a VerfOEuGH beantwortet werden, welches allerdings voraussetzt, dass die dafür erforderliche „außerordentliche Dringlichkeit“ aufgezeigt werden kann; angesichts der bekanntermaßen restriktiven Auslegung dieses Merkmals durch den EuGH137 sollte sich ein nationaler Richter jedoch nicht auf die Anwendbarkeit dieses Verfahrens verlassen. Dass der Anwendungsbereich des Eilvorlageverfahrens auch für Strafverfahren zu eng begrenzt ist, obwohl auf den ersten Blick mit dem Titel V des Dritten Teils des AEUV (ex-Titel VI des EU-Vertrags) die Fragen zur Zusammenarbeit in Strafsachen erfasst sind, liegt an der grundsätzlich umfassenden Möglichkeit des Europarechts, mitgliedstaatliches Straf- und Strafprozessrecht zu beeinflussen, in dessen Folge Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH zwecks Klärung von Auslegungs- oder Gültigkeitsfragen nötig werden können. Um das Ausmaß der vielfältigen Europäisierungsfaktoren – und damit die Begrenztheit des sachlichen Anwendungsbereichs des Eilvorlageverfahrens nach Art. 104b VerfOEuGH – besser aufzeigen zu können, werden im Folgenden die hauptsächlichen Auswirkungen des europäischen Rechts auf die nationalen Rechtsordnungen überblicksartig und mit ausgewählten Beispielen dargestellt. Dabei werden die Europäisierungsfaktoren – da das Eilvorlageverfahren schließlich bereits im März 2008 in Kraft getreten ist – sowohl ausgehend von den früher geltenden Fassungen von EUV und EGV als auch von der seit Dezember 2009 geltenden Rechtslage nach dem Vertrag von Lissabon erörtert. 1. Europäisierung des nationalen Strafrechts Zwar gibt es im Gegensatz zum Zivilrecht und Öffentlichen Recht bisher noch kein „Europäisches Strafrecht“ im Sinne eines supranationalen Strafrechts in seiner eigentlichen Bedeutung, dass eine supranationale Rechtsordnung  – hier die Rechtsordnung der Europäischen Union  – selbst Straftatbestände enthält, die unmittelbar in den jeweiligen Mitgliedstaaten anwendbar sind. Allerdings ist auch auf dem Gebiet des Straf- und Strafverfahrensrechts eine – lange Zeit un 137

Siehe dazu schon oben in diesem Zweiten Teil unter A. I. 1.

D. Kritik des Eilvorlageverfahrens

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bemerkte – zunehmende „Europäisierung“, d. h. die Beeinflussung durch europarechtliche Vorgaben, festzustellen138. Der „Europäisierungssog“139 auch im Strafrecht ist im Wesentlichen auf zwei Gründe zurückzuführen140: Einerseits ist mit der Integration Europas, mit der Einräumung der Grundfreiheiten, mit der Bildung einer Wirtschafts- und Währungsunion und der Beseitigung der Grenzkontrollen an den Binnengrenzen vor dem Hintergrund der verbesserten Informationsund Kommunikationstechnologien ein neuer, riesiger kriminalgeographischer Raum entstanden, der zu einer vermehrten grenzüberschreitenden Kriminalität geführt hat. Andererseits ist die Europäische Union darauf angewiesen, dass die im Zuge des wirtschaftlichen und politischen Zusammenschlusses entstandenen Institutionen und Werte – dabei insbesondere die finanziellen Interessen – von den Mitgliedstaaten auch strafrechtlich geschützt werden. Eine rein nationale Verbrechensbekämpfung und Strafverfolgung stößt bei transnationalen Sachverhalten hingegen unweigerlich an ihre Grenzen, so dass das Bedürfnis zur Europäisierung der mitgliedstaatlichen Strafrechte mittlerweile anerkannt ist141. a) Begriff des Europäischen Strafrechts Zum Begriff des Europäischen Strafrechts in einem weiteren Sinn kann jede rechtliche Regelung europäischer Herkunft gezählt werden, die einen strafrechtlichen Inhalt hat; mithin strafrechtsrelevantes Unionsrecht (inklusive des ehe­ maligen Gemeinschaftsrechts) und Völkerrecht als auch unions- und völkerrechtlich beeinflusstes nationales Strafrecht142. Durch die Europäisierung geprägt sind auf dem Gebiet des materiellen Strafrechts143 insbesondere das deutsche 138

Ohne Differenzierung hinsichtlich der verschiedenen Rechtsgebiete hat Hoppe, EuZW 2009, 168 f. gezeigt, dass europäische Richtlinien, Verordnungen und Primärrecht einen Anteil von etwa 80 % aller in Deutschland geltenden Gesetze ausmachen. – Die Europäisierung bezieht sich spätestens seit den 1990er Jahren auch auf das Strafrecht, seit am 1.11.1993 der Vertrag von Maastricht in Kraft getreten ist, der die Zusammenarbeit in Strafsachen nun primärrechtlich verankerte, vgl. Satzger, Europäisierung, S. 5 ff. 139 So Hecker, Europäisches Strafrecht, § 1 Rn. 1. 140 Siehe dazu Sieber, ZStW 121 (2009), 1, 2 ff.; Dannecker, Jura 2006, 95 f. 141 Vgl. statt aller Dannecker, in: Wabnitz/Janovsky, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, Kap. 2 Rn. 17 ff.; Hecker, Europäisches Strafrecht, § 1 Rn. 32 ff.; Skouris, EuGRZ 2008, 343, 344 f. 142 Vgl. Hecker, Europäisches Strafrecht, § 1 Rn.  5; Satzger, Int. und Eur. Strafrecht, § 2 Rn. 3. – Da die Frage des europäisierten Strafrechts hier vor dem Hintergrund der Rechtsprechungskompetenzen des EuGH erörtert wird, wird im Folgenden nur der unionsrechtliche Einfluss auf das nationale Strafrecht betrachtet. 143 Siehe die Aufzählung bei Dannecker, Jura 2006, 95 und die Übersicht über die Bereiche zulässiger Strafrechtsangleichung bei Hecker, Europäisches Strafrecht, § 11 Rn.  10 ff.  – Infolge der zahlreichen Europäisierungsvorgaben wurden diverse Gesetze zur Umsetzung von Rahmenbeschlüssen oder Richtlinien notwendig (vgl. Lackner/Kühl, StGB, Vorb. Rn. 18), so etwa das 34. (§ 129b StGB), 35. (wegen des Rahmenbeschlusses zur Bekämpfung von Betrug und Fälschung im Zusammenhang mit unbaren Zahlungsmitteln), 37. (§§ 232 ff. StGB) und 41. Strafrechtsänderungsgesetz (Bekämpfung der Computerkriminalität), das Gesetz zur Um-

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2. Teil: Neues Eilvorlageverfahren vor dem EuGH

Steuer-144, Betrugs-145 und Korruptionsstrafrecht146, das Umwelt-147 und Lebensmittelstrafrecht148, die Straftat­bestände zum Schutz vor Kurs- und Marktmanipulationen im Wertpapierwesen149, das Computer- und Internetstrafrecht150, die Geldwäschetatbestände151, das Handelsgesellschafts- und Insolvenzstrafrecht152 und die Tatbestände zur Bekämpfung des Terrorismus153 und der Schleuserkriminalität154. Besonders kontrovers wird indes die Entwicklung auf dem Gebiet des Strafprozessrechts diskutiert  – man denke nur an den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung in seiner Ausgestaltung etwa im Europäischen Haftbefehl oder der Europäischen Beweisanordnung oder an die geplante Europäische Staatsanwaltschaft –, wobei immer wieder angemahnt wird, die individuellen Freiheitsrechte („Schutz vor dem Strafrecht“) nicht zu sehr den Sicherheitsinteressen („Schutz durch das Strafrecht“) zu opfern, ohne zugleich europaweite Beschuldigtenrechte zu gewährleisten155. setzung des Rahmenbeschlusses zur Terrorismusbekämpfung (BGBl. 2003, I-2836), das Gesetz u. a. zur Umsetzung der Richtlinie 2006/24/EG (BGBl. 2007, I-3198), das Gesetz zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses zur Bekämpfung der sexuellen Ausbeutung von Kindern und der Kinderpornographie (BGBl. 2008, I-2149; dazu Hörnle, NJW 2008, 3521 ff.), das Gesetz zur Verfolgung der Vorbereitung von schweren staatsgefährdenden Gewalttaten (BGBl. 2009, I-2437), das Gesetz zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses 2008/913/JI zur strafrechtlichen Bekämpfung bestimmter Formen und Ausdrucksweisen von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit (vgl. BR-Drs. 10/11); siehe auch den Referentenentwurf eines Strafrechtsänderungsgesetzes v. 13.10.2010 zur Umsetzung der Richtlinie über den strafrechtlichen Schutz der Umwelt (vgl. BR-Drs. 58/11). 144 Vogel, in: Volk, Münchener Anwaltshandbuch, § 14 Rn. 78; Krause/Prieß und Köpp, in: Volk, Münchener Anwaltshandbuch, § 31 bzw. § 33. Heger, HRRS 2008, 413 bezeichnet das Steuerrecht als „Motor der […] Europäisierung des deutschen Strafrechts“; vgl. auch Ambos, Internationales Strafrecht, § 11 Rn. 34 (zu § 370 Abs. 6 AO) und als Beispiele aus der Rechtsprechung BGHSt 37, 168; 48, 52; wistra 1991, 29; 1998, 344; NJW 2003, 2842; wistra 2009, 441. 145 Hecker, Europäisches Strafrecht, § 14; ders., Produktwerbung, S. 282 ff. (zu § 263 StGB); Pradel/Corstens/Vermeulen, Droit pénal européen, S. 697 ff.; Braum, Europäische Strafgesetzlichkeit, S. 477 ff. (zu § 264 StGB). 146 Tiedemann, in: ders., Wirtschaftsstrafrecht in EU, S.  279; Braum, Europäische Straf­ gesetzlichkeit, S. 516 ff. 147 Ausführlich dazu Heger, Europäisierung des Umweltstrafrechts; Pradel und Kühl, in: Tiede­mann, Wirtschaftsstrafrecht in EU, S. 295 und S. 301. 148 Dannecker und Höpfel, in: Tiedemann, Wirtschaftsstrafrecht in EU, S. 239 und S. 271; Hecker, Produktwerbung, S. 58 ff.; Heise, Gemeinschaftsrecht und Strafrecht, S. 179 ff. 149 Foffani und Otto, in: Tiedemann, Wirtschaftsstrafrecht in EU, S. 335 und S. 353; Braum, Europäische Strafgesetzlichkeit, S. 491 ff. (zum Insiderhandel). 150 Hecker, Europäisches Strafrecht, § 11 Rn. 97 ff. 151 Braum, Europäische Strafgesetzlichkeit, S. 536 ff. 152 Foffani, in: Tiedemann, Wirtschaftsstrafrecht in EU, S. 311; Dohmen, Verbraucherinsolvenz und Strafrecht, S. 212 ff. 153 Abetz, Justizgrundrechte, S. 307 ff.; Hecker, Europäisches Strafrecht, § 11 Rn. 11 ff. 154 Hecker, Europäisches Strafrecht, § 11 Rn. 120 ff. 155 Vgl. nur Schünemann, GA 2004, 193, 197 f.; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 3 Rn. 20 ff.; Abetz, Justizgrundrechte, S. 336 ff. mit zahlreichen weiteren Nachweisen. Siehe auch die Übersicht zu den bestehenden und geplanten strafverfahrensrechtlichen Maßnahmen

D. Kritik des Eilvorlageverfahrens

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b) Überblick: Strafrechtsbezogene Neuerungen durch den Vertrag von Lissabon Grundsätzlich werden durch den neuen EUV und AEUV die bestehenden strafrechtlichen Programme fortgesetzt und weiterentwickelt, wobei einige Änderungen dazu führen dürften, dass der europäische Einfluss auf das deutsche Strafrecht in Zukunft weiter stetig steigen wird156. Betont wird vor allem der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, der durch verschiedene Kompetenzen zur Harmonisierung der mitgliedstaatlichen Straf- und Strafprozessrechte flankiert wird. Mit der Reform der vertraglichen Grundlagen der Europäischen Union durch den Vertrag von Lissabon wurden die Kompetenzen der Europäischen Union auf dem Gebiet des Strafrechts klargestellt und ausgeweitet157. Wegen der Aufhebung der Säulenstruktur und der fortan einheitlichen Rechtspersönlichkeit der Union als Nachfolgerin der Europäischen Gemeinschaft (Art. 1 Abs. 3 S. 3, Art. 47 EUV) wird die PJZS „vergemeinschaftet“158 und in den AEUV in den Titel „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ – Dritter Teil, Titel V, Kapitel 4 (Art. 82 bis 86 AEUV, „Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen“) – überführt159. Eine weitere strafrechtlich relevante Kompetenz findet sich in Art. 325 Abs. 4 AEUV. Durch die Integration der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen in den AEUV ergeben sich weitreichende Änderungen. So werden etwa die Entscheidungsstrukturen des bisherigen Gemeinschaftsrechts grundsätzlich übernommen160, so dass künftig auch in Strafsachen Rechtsakte prinzipiell nach dem (qualifizierten) Mehrheitsprinzip verabschiedet werden. Außerdem fällt die Beschränkung der Rechtsprechungskompetenz in ex-Art.  35 EUV weg, in­ folgedessen die Rechtskontrolle des EuGH über europäische Sekundärrechtsakte keiner Begrenzung mehr unterliegt.

und den Problemen bei der Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung bei Juppe, Gegenseitige Anerkennung, S. 49 ff., 124 ff. – Eine prinzipielle Annäherung der europäischen Strafrechtsordnungen stellt jedoch Hörnle, ZStW 117 (2005), 801, 825 ff. fest. 156 Zu dem möglichen künftigen Strafrecht in der Europäischen Union siehe den Beschluss des Rates v. 9.10.2009, DOK 14162/09. 157 Die Kompetenzerweiterungen gerade auf dem Gebiet des Strafrechts wurden vom Bundes­ verfassungsgericht in seiner Entscheidung zum Vertrag von Lissabon besonders kritisch untersucht, vgl. BVerfG, Urt. v. 30.6.2009, BVerfGE 123, 267, 357 f., 359 f., 406 ff. 158 Der Begriff der Vergemeinschaftung ist freilich durch das Aufgehen der EG in der nunmehr supranationalen EU überholt; so zutreffend Heger, ZIS 2009, 406, 407. 159 Allerdings besteht die Sonderrolle Großbritanniens und Irlands fort, die sich schon bislang nicht am Schengen-Besitzstand sowie an ex-Titel IV des EGV beteiligt haben. Das Protokoll Nr. 21 (ABl.EU 2010 Nr. C 83, S. 295) führt dieses opt-out weiter; die beiden Länder können sich jedoch im Einzelfall an einer Maßnahme des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts beteiligen. Umfangreiche opt-out-Rechte werden durch das Protokoll Nr. 22 (ABl. EU 2010 Nr. C 83, S. 299) auch Dänemark zugestanden. 160 Streinz/Ohler/Herrmann, Vertrag von Lissabon, S. 157 f.; Satzger, Int. und Eur. Strafrecht, § 7 Rn. 7; Zeder, ERA Forum 2008, 209, 220.

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2. Teil: Neues Eilvorlageverfahren vor dem EuGH

Nichtsdestotrotz bleiben – zumindest übergangsweise – gewisse intergouverne­ mentale Elemente erhalten161: Für fünf weitere Jahre bleibt die Restriktion der EuGH-Kompetenzen entsprechend ex-Art. 35 EUV bestehen. Darüber hinaus behalten die Mitgliedstaaten ihr im Rahmen der ehemaligen dritten Säule der EU be­ stehendes Initiativrecht neben der Kommission; außerdem ist als Rechtsinstrument zur Angleichung der mitgliedstaatlichen Strafrechtsordnungen lediglich der Erlass von Richtlinien vorgesehen (Art. 82 Abs. 2, 83 Abs. 1 und 2 AEUV). Den mitgliedstaatlichen Souveränitätsvorbehalten im Strafrecht ist die Europäische Union zudem durch die „Notbremse“ in Art. 82 Abs. 2, 83 Abs. 3 AEUV und die Mitspracherechte der nationalen Parlamente bezüglich der Wahrung des Subsidiaritätsgrundsatzes teilweise entgegenkommen. 2. Strafrechtssetzungskompetenz der Europäischen Union Eine Strafrechtssetzungskompetenz der Europäischen Union, d. h. die Möglichkeit zum Erlass originären europäischen Kriminalstrafrechts im Sinne eines Freiheits- und Geldstrafe androhenden Strafrechts162, ist die denkbar weitgehendste Kompetenz, welche die Mitgliedstaaten der Union auf dem Gebiet des Strafrechts abtreten können. Wegen des in der Europäischen Union geltenden Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung (jetzt Art. 5 Abs. 1 S. 2, Abs. 2 EUV und Art. 7 AEUV, früher ex-Art. 5 Abs. 1 EGV und ex-Art. 5 EUV) bedürfen die Rechtssetzungsorgane dabei einer ausdrücklichen Kompetenzzuweisung im Primärrecht, um strafrecht­liche Rechtsakte erlassen zu können163. Während die EG  – welche im Gegensatz zur ehemaligen dritten Säule der EU als einzige supranationale Hoheitsgewalt ausüben konnte, die einen unmittelbaren Einfluss auf den mitgliedstaatlichen Hoheitsbereich ermöglichte  – bisher über keine Strafrechtssetzungskompetenz verfügte, dürfte der erste echte supranationale Kriminaltatbestand nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon nur noch eine Frage der Zeit sein. 161

Dazu Zeder, ERA Forum 2008, 209, 221 f.; Streinz/Ohler/Herrmann, Vertrag von Lissabon, S. 158 f. 162 Die Abgrenzung zwischen Kriminalstrafrecht und Strafrecht im weiteren Sinn (punitive Sanktionen oder Verwaltungssanktionen) ist dargestellt bei Böse, Strafen und Sanktionen, S. 36 ff.; Satzger, Europäisierung, S. 58 ff., 72 ff. 163 Eine solche originäre Strafrechtssetzung der ehemaligen EG bzw. der jetzigen EU wäre nur durch den Erlass von  – in allen Mitgliedstaaten unmittelbar anwendbaren  – Verordnungen nach ex-Art. 249 Abs. 2 EGV bzw. nunmehr Art. 288 Abs. 2 AEUV möglich. Bei von der EG/EU verabschiedeten Richtlinien gemäß ex-Art. 249 Abs. 3 EGV bzw. jetzt Art. 288 Abs. 3 AEUV, die nur hinsichtlich ihres Ziels verbindlich sind, den Mitgliedstaaten aber im Rahmen der Umsetzung grundsätzlich die Wahl der Mittel überlassen, verbleibt nämlich die endgültige Entscheidung über die Rechtsänderung bei den nationalen Gesetzgebern. Zwar hat der EuGH auch eine unmittelbare Wirkung von Richtlinien anerkannt, sofern sie sich zugunsten des Einzelnen auswirkt (grundlegend EuGH, Urt. v. 6.10.1970  – Rs. 9/70, Slg. 1970, 825  – Leber­ pfennig); Richtlinien mit Strafrechtsbezug werden jedoch in der Regel zulasten des Betroffenen gehen, so dass eine unmittelbare Wirkung ausscheidet.

D. Kritik des Eilvorlageverfahrens

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a) Bisherige Rechtslage: Keine Strafrechtssetzungskompetenz der Europäischen Gemeinschaft Explizit waren im EG-Vertrag – insbesondere im Kartell- und Agrarrecht – nur Kompetenzen zur Schaffung von punitiven Sanktionen, d. h. Strafrecht im weiteren Sinn, vorgesehen164. Zwar waren die einzelnen Handlungsermächtigungen zur Erreichung bestimmter Ziele im EG-Vertrag mitunter weit genug formuliert, dass ihr Wortlaut auch strafrechtliche Maßnahmen hätte rechtfertigen können165. Gleichwohl bestand sowohl in der Rechtsprechung des EuGH166 und des BGH167 als auch überwiegend in der Literatur168 Einigkeit darüber, dass der Europäischen Gemeinschaft keine originären strafrechtlichen Kompetenzen übertragen waren, sondern vielmehr in der sensiblen Materie des Strafrechts ein aus ex-Art. 6 Abs. 3 164 Zu den verwaltungsstrafrechtlichen Sanktionen zählen Geldbußen (siehe z. B. die Ermächtigungsnorm des Art. 103 Abs. 2 lit. a) AEUV im Kartellrecht, Art. 132 Abs. 3 AEUV oder Art. 27 der Satzung des EuGH), sonstige finanzielle Sanktionen (wie Kautionsverfall, Geldsanktionen oder pauschalierte Rückzahlungsaufschläge) und nichtvermögensmindernde nachteilige Rechtsfolgen (z. B. Entzug von Zulassungen oder Lizenzen bzw. Kürzung oder Streichung von Beihilfen); vgl. Satzger, Int. und Eur. Strafrecht, § 8 Rn. 1 ff. 165 So ließ ex-Art. 83 Abs. 2 lit. a) EGV (jetzt Art. 103 AEUV) zur Durchsetzung der Wettbewerbsregeln des EGV „insbesondere“ die Einführung von Geldbußen zu, ex-Art. 71 Abs. 1 lit. d) EGV (nunmehr Art. 91 AEUV) ermächtigte im Rahmen der gemeinsamen Verkehrspolitik zum Erlass aller „sonstigen zweckdienlichen Vorschriften“ und zum Schutz der Umwelt durfte die Gemeinschaft nach ex-Art. 175 Abs. 1 EGV (jetzt Art. 192 AEUV) umfassend tätig werden. In unvorhergesehenen Fällen, in denen ein Tätigwerden der Gemeinschaft erforderlich war, um ein von ihr zu verfolgendes Ziel zu erreichen, aber keine entsprechende Befugnis im EGV vorhanden war, half die Vertragsabrundungskompetenz des ex-Art. 308 EGV (nunmehr Art. 352 AEUV). 166 EuGH, Urt. v. 14.7.1977 – Rs. 8/77, Slg. 1977, 1495, Rn. 4 – Sagulo; Urt. v. 11.11.1981 – Rs. 203/80, Slg. 1981, 2595, Rn. 27 – Casati; Urt. v. 2.2.1989 – Rs. 186/87, Slg. 1989, 195, Rn. 19 – Cowan/Trésor public; Urt. v. 10.7.1990 – Rs. 326/88, Slg. 1990, 2911, Rn. 17 – Hansen. – Trotz seiner im Übrigen sehr integrationsfreundlichen Auslegung der gemeinschaftsrechtlichen Ermächtigungsgrundlagen hat der EuGH in den genannten Entscheidungen fest­gestellt, dass die Mitgliedstaaten „grundsätzlich zuständig“ für die Schaffung von Strafsanktionen sind. Zuzugeben ist jedoch, dass die Ausführungen des EuGH relativ offen sind, so dass sie interpretationsbedürftig bleiben. Dass der EuGH aber jedenfalls das Kriminalstrafrecht außerhalb der Rechtssetzungskompetenz der EG sah, meinen auch Hecker, Europäisches Strafrecht, § 4 Rn. 68 ff.; Satzger, Europäisierung, S. 96 f.; Dannecker, Jura 2006, 95, 96. – Auf die neueren Tendenzen des EuGH seit dem Urteil zum Umweltstrafrecht-Rahmenbeschluss wird ausführlich in diesem Zweiten Teil, D. I. unter 3. a) eingegangen. 167 Vgl. etwa BGHSt 25, 190, 193 f.; 27, 181, 182; 41, 127, 131 f. 168 Siehe nur Hecker, Europäisches Strafrecht, § 4 Rn. 67 ff.; Satzger, Int. und Eur. Strafrecht, § 8 Rn.  18 ff.; Ambos, Internationales Strafrecht, § 11 Rn.  1 ff.; Jokisch, Gemeinschaftsrecht und Strafverfahren, S. 62 ff., 104 f.; Streinz, FS Otto, S. 1029, 1032; Dannecker, BGH-FG IV, S. 339, 346 ff.; alle m. w. N. – A. A. z. B. Böse, Strafen und Sanktionen, S. 56 ff. m. w. N. Allerdings sollten Strafvorschriften im Gemeinschaftsrecht auch nach der Mindermeinung wegen der Zuständigkeitsbeschränkungen durch die sachlichen Voraussetzungen der Ermächtigungsgrundlagen sowie das Subsidiaritäts- und das Verhältnismäßigkeitsprinzip (ex-Art. 5 EGV) die Ausnahme bleiben.

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2. Teil: Neues Eilvorlageverfahren vor dem EuGH

EUV, ex-Art. 10 EGV abzuleitender „strafrechtsspezifischer Schonungsgrundsatz“ galt169. Begründen ließ sich dies hauptsächlich damit, dass gerade wegen der im Strafrecht zum Ausdruck kommenden gesellschaftlichen und kulturellen Besonderheiten und aus Rücksicht auf den engen Zusammenhang mit dem Souveränitätsverständnis der Mitgliedstaaten eine Übertragung einer so wesentlichen Befugnis wie die Androhung und Verhängung echter Kriminalstrafen ausdrücklich und unmissverständlich hätte geregelt werden müssen. Eine wenngleich bereichsspezifische  – auf den Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaft beschränkte – Kompetenzübertragung war auch nicht aus dem durch den Vertrag von Amsterdam eingefügten ex-Art. 280 Abs. 4 S. 1 EGV abzuleiten, wonach der Rat „Maßnahmen zur Verhütung und Bekämpfung von Betrügereien, die sich gegen die finanziellen Interessen der Gemeinschaft richten“, beschließen konnte; schließlich bestimmte die Vorbehaltsklausel des nächsten Satzes sogleich: „Die An­wendung des Strafrechts der Mitgliedstaaten und ihrer Strafrechtspflege bleiben von diesen Maßnahmen unberührt.“170 Außerdem sprach die Systematik des bisherigen EGund EU-Vertrags gegen eine Strafrechtssetzungskompetenz auf Ebene der Gemeinschaft: Während mit dem Vertrag von Amsterdam einige Teile aus der in der dritten Säule geregelten Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres „vergemeinschaftet“, d. h. in die erste Säule der Europäischen Union überführt wurden, verblieb das Kriminalstrafrecht als Gegenstand „bloßer“ intergouvernementaler Kooperation in der dritten Säule. Dass der Europäischen Gemeinschaft bislang keine Rechtssetzungskompetenz zukam, konnte jedoch nicht bedeuten, dass das nationale Strafrecht jeglichem Einfluss des Gemeinschaftsrechts entzogen war171. Angesichts der an bestimmten Zielvorstellungen ausgerichteten Kompetenzen des EG-Vertrags war eine Ausklam 169

Satzger, Europäisierung, S. 166 ff. Die Interpretation dieses Vorbehalts (wie auch die des gleichlautenden Passus’ in ex-Art. 135 EGV) war indes umstritten: Teilweise wurde unter Betonung des Wortlauts geltend gemacht, dass eben nur die „Anwendung des Strafrechts der Mitgliedstaaten“, nicht aber „die Rechtssetzung im Bereich des Strafrechts“ ausgenommen sein soll; Konsequenz dieser Auffassung wäre gewesen, dass der Europäischen Gemeinschaft eine bereichsspezifische „kriminalstrafrechtliche Ergänzungskompetenz“ zukam, sofern die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen keinen ausreichenden strafrechtlichen Schutz boten. Gegen eine solche Deutung sprachen jedoch die grundsätzliche Kompetenzverteilung, wie sie sich aus einer systematischen Interpretation des bisherigen EG- und EU-Vertrags ergab, und die Tatsache, dass die Vertragsparteien des Amsterdamer Vertrags die Formulierung des ex-Art. 280 Abs. 4 S. 1 EGV nicht als Übertragung von strafrechtlichen Kompetenzen verstanden haben (vgl. die Denkschrift der Bundesregierung zum Vertrag von Amsterdam, BR-Drs. 784/97, S. 159). So wurde auch die explizite Festschreibung einer Rechtssetzungskompetenz bezüglich Straftaten zulasten der finanziellen Interessen der EG in Form eines Art. 280a EGV, wie es die Kommission in ihrem Grünbuch zum strafrechtlichen Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften und zur Schaffung einer Europäischen Staatsanwaltschaft vom 11.12.2001 (KOM (2001) 715 endg., S. 92 f.) u. a. vorgeschlagen hat, nicht verwirklicht. – Ausführlich und m. w. N. dazu Hecker, Europäisches Strafrecht, § 4 Rn. 80; Satzger, Europäisierung, S. 138 ff. 171 So hat bereits der EuGH im Jahr 1972 festgestellt (Urt. v. 21.3.1972 – Rs 82/71, Slg. 1972, 119, Rn. 5 – S. A. I. L.): 170

D. Kritik des Eilvorlageverfahrens

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merung mitgliedstaatlicher Rechtsgebiete wie das des Strafrechts schlechter­dings unmöglich172. Dass manche das genannten Souveränitätsvorbehalte auch gegenüber einer Europäisierung des nationalen Strafrechts geltend machen wollten, hätte den Mitgliedstaaten die Möglichkeit eröffnet, mittels ihres Strafrechts die Grundprinzipien und Ziele des Gemeinschaftsrechts zu unterminieren – besonders gefährdet wären die Grundfreiheiten als Grundlage des gemeinsamen Binnenmarktes gewesen173. Auch das Strafrecht war damit – wie jedes andere Rechtsgebiet der nationalen Rechtsordnungen  – keineswegs eine „unionsrechtliche Tabuzone“174, sondern unterlag um der Effektivität des früheren EG-Rechts willen (sogenannter effet utile, vgl. ex-Art. 10 EGV) dem Einfluss des Europarechts. b) Nach dem Vertrag von Lissabon: Bereichsspezifische Strafrechtssetzungskompetenz Auch nach dem Vertrag von Lissabon bleibt das Straf- und Strafverfahrensrecht prinzipiell weiterhin dem nationalen Gesetzgeber vorbehalten, allerdings kann die Europäische Union im Rahmen der geteilten Zuständigkeit nach Art. 4 Abs. 2 lit. j) AEUV und dem Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung selbst strafrechtliche Regelungen erlassen. Als Kompetenzgrundlagen für die Setzung originär europäischen Kriminalstrafrechts kommen sowohl Art. 79 Abs. 2 AEUV als auch Art. 325 Abs. 4 AEUV in Betracht. Art. 325 Abs. 4 AEUV, der praktisch ex-Art. 280 Abs. 4 S. 1 EGV entspricht, lautet wie folgt: „Zur Gewährleistung eines effektiven und gleichwertigen Schutzes in den Mitgliedstaaten sowie in den Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union beschließen das Europäische Parlament und der Rat gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren nach Anhörung des Rechnungshofs die erforderlichen Maßnahmen zur Verhütung und Bekämpfung von Betrügereien, die sich gegen die finanziellen Interessen der Union richten.“

„Der allgemein gehaltene Artikel 177 [EWG, nunmehr Art. 267 AEUV] unterscheidet nicht danach, ob das innerstaatliche Verfahren, in dem der Vorabentscheidungsantrag gestellt worden ist, ein Strafverfahren oder ein anderes Verfahren ist. Das Gemeinschaftsrecht kann nicht verschiedene Geltung haben, je nachdem auf welchem Gebiet des innerstaatlichen Rechts es seine Wirkungen zeitigen kann.“ Diese Ansicht wird von der ganz h. M. gebilligt, vgl. Satzger, Europäisierung, S. 152 ff.; ­Hecker, Europäisches Strafrecht, § 1 Rn. 1, 6 f.; Ambos, Internationales Strafrecht, § 11 Rn. 14 f.; ­Streinz, FS Otto, S. 1029, 1032 ff. 172 Dies gilt auch weiterhin für den AEUV. – Den Gegensatz zwischen einem finalen, dynamischen Zuständigkeitsgefüge, wie sie der Kompetenzverteilung zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten zugrunde liegt, und einer sachbezogenen, statischen Zuständigkeitsverteilung, wie sie das Grundgesetz für die Aufteilung der Kompetenzen zwischen Bund und Ländern vornimmt, stellt Satzger, Int. und Eur. Strafrecht, § 9 Rn. 2 ff. anschaulich dar. 173 Beispiel bei Satzger, Int. und Eur. Strafrecht, § 9 Rn. 5. 174 Satzger, Int. und Eur. Strafrecht, § 9 Rn. 2.

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2. Teil: Neues Eilvorlageverfahren vor dem EuGH

Neben dem strafrechtlichen Maßnahmen gegenüber offen formulierten Wortlaut („Bekämpfung“) spricht insbesondere die Streichung des bisherigen strafrecht­ lichen Vorbehalts in ex-Art. 280 Abs. 4 S. 2 EGV dafür, den neuen Art. 325 Abs. 4 AEUV als europäische Strafrechtssetzungskompetenz zu begreifen175. Da zudem die zu schaffende Europäische Staatsanwaltschaft gemäß Art. 86 Abs. 1 UAbs. 1 S. 1 AEUV primär für die „Bekämpfung von Straftaten zum Nachteil der finan­ ziellen Interessen der Union“ zuständig sein soll, ist davon auszugehen, dass sie Verstöße gegen supranationales europäisches Strafrecht und nicht nur Verstöße gegen nationales Strafrecht verfolgen soll176. Inhaltlich könnten auf den auslegungsbedürftigen Begriff der Betrügereien europäische Straftatbestände u. a. des Betrugs, der Geldwäsche, der Hehlerei und der Steuerhinterziehung zulasten des EU-Haushalts gestützt werden, aber auch Bestimmungen zum Allgemeinen Teil, um Täterschaft und Teilnahme, Versuch und Rücktritt sowie die Konkurrenzen europaweit einheitlich zu regeln177. Möglicherweise könnte die Ausübung der Rechtssetzungskompetenz der Europäischen Union aus Art.  325 Abs.  4 AEUV jedoch derzeit noch an der fehlenden Erforderlichkeit einer einheitlichen Regelung178 oder dem strafrechtsspezifischen Schonungsgrundsatz179 scheitern180. Ob sich eine weitere bereichsspezifische Strafrechtssetzungskompetenz aus Art. 79 Abs. 2 lit. c) und d) AEUV herleiten lässt, der die Union u. a. zur Bekämpfung von illegaler Einwanderung und illegalem Aufenthalt und zur Bekämpfung des Menschenhandels, insbesondere des Handels mit Frauen und Kindern ermächtigt, ist dagegen umstritten181. Die benutzten Begriffe „illegal“ und „Bekämpfung“ können sicherlich in einen strafrechtlichen Kontext gestellt werden182, allerdings

175 So deswegen – mitunter trotz systematischer Bedenken – auch die h. L., vgl. bereits zu der entsprechenden Regelung im Verfassungsvertrag Weigend, ZStW 116 (2004), 275, 288; Walter, ZStW 117 (2005), 912, 917 f.; zu Art. 325 AEUV Streinz/Ohler/Herrmann, Vertrag von Lissabon, S. 164; Satzger, Int. und Eur. Strafrecht, § 8 Rn. 18 ff. (unter Hinweis auf die dann erforderliche strikte Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips, welches ggf. auch von den nationalen Parlamenten geltend zu machen ist); Ambos, Internationales Strafrecht, § 11 Rn. 13; Ambos/ Rackow, ZIS 2009, 397, 401; Heger, ZIS 2009, 406, 415 f.; Mansdörfer, HRRS 2010, 11, 18. – A. A. jedoch wohl Böse, ZIS 2010, 76, 87 f.; Zöller, ZIS 2009, 340, 344. 176 Streinz/Ohler/Herrmann, Vertrag von Lissabon, S. 164 f.; vgl. auch Mansdörfer, HRRS 2010, 11, 18, der in beiden Regelungen den „Nukleus eines europäischen Strafrechts“ sieht. 177 Satzger, KritV 2008, 17, 25. 178 So Heger, ZIS 2009, 406, 416: Ein europäischer Straftatbestand sei solange nicht erforderlich, wie sich die nationalen Behörden noch um die Verfolgung von Betrügereien zum Nachteil der EU kümmerten. 179 Hecker, Iurratio 2009, 81, 85. 180 Ambos/Rackow, ZIS 2009, 397, 401 sehen sogar die Gefahr, dass das BVerfG eine solche, Kriminalstrafrecht enthaltende Verordnung in Deutschland für verfassungswidrig erklären könnte. 181 Soweit ersichtlich hat sich lediglich Walter, ZStW 117 (2005), 912, 918 f. – für die entsprechende Vorschrift des Verfassungsvertrags – positiv für eine Strafrechtssetzungskompetenz geäußert. Ablehnend hingegen Heger, ZIS 2009, 406, 416; Mansdörfer, HRRS 2010, 11, 18. 182 Vgl. etwa die Benutzung der gleichen Termini in Art. 83 Abs. 1 AEUV.

D. Kritik des Eilvorlageverfahrens

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ist ein solches Verständnis nicht zwingend183. Vielmehr berühren die illegale Einwanderung und der Menschenhandel keine originären Unionsinteressen, sondern primär die Territorialitätsinteressen der Mitgliedstaaten184. Außerdem lässt Art. 83 Abs.  1 UAbs. 2, Abs.  2 AEUV ausdrücklich den Erlass von Mindestvorschriften zur Harmonisierung der strafrechtlichen Bestimmungen zum Menschenhandel zu185. Insofern ist aus systematischen Gründen und angesichts des bei Art. 79 Abs. 2 AEUV fehlenden Vetorechts der Mitgliedstaaten, dem sogenannten „Notbremsrecht“, davon auszugehen, dass die durch Art. 83 AEUV mögliche Mindestharmonisierung ausreichend zur Bekämpfung des Menschenhandels ist186. 3. Strafrechtsharmonisierung Ermächtigungen der Europäischen Union zur Angleichung der mitgliedstaat­ lichen Strafrechtsordnungen gab es bereits vor Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon. Bisher war zu unterscheiden zwischen der Strafrechtsanweisungskompetenz der EG in der ersten Säule der Union und der Strafrechtsharmonisierung nach ex-Art. 29 ff. EUV in der dritten Säule. Im Vordergrund der Ausgestaltung des Europäischen Strafrechts durch den Vertrag von Lissabon steht nunmehr explizit der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung187, der durch verschiedene Kompetenzen zur Harmonisierung der mitgliedstaatlichen Straf- und Strafverfahrensrechte in Art. 83 und 82 Abs. 2 AEUV flankiert wird.

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Mansdörfer, HRRS 2010, 11, 18. Heger, ZIS 2009, 406, 416; Mansdörfer, HRRS 2010, 11, 18. 185 So dass man Art. 83 AEUV als lex specialis gegenüber Art. 79 Abs. 2 lit. d) AEUV ansehen könnte; vgl. Heger, ZIS 2009, 406, 416. 186 So auch Mansdörfer, HRRS 2010, 11, 18; Böse, ZIS 2010, 76, 87 f. – Unabhängig davon würde aufgrund des bereits erlassenen Rahmenbeschlusses zur Harmonisierung des nationalen Menschenhandelsstrafrechts (ABl.EG 2002 Nr. L 203, S. 1) die Ausübung einer etwaigen Strafrechtssetzungskompetenz auch an der Erforderlichkeit scheitern. 187 Art. 82 Abs. 1 UAbs. 1 AEUV: „Die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen in der Union beruht auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Urteile und Entscheidungen und umfasst die Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten in den in Absatz 2 und in Artikel 83 genannten Bereichen.“ Vgl. auch Art. 67 Abs. 3 AEUV, der wie folgt lautet: „Die Union wirkt darauf hin, durch Maßnahmen zur Verhütung und Bekämpfung von Kriminalität sowie von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, zur Koordinierung und Zusammenarbeit von Polizeibehörden und Organen der Strafrechtspflege und den anderen zuständigen Behörden sowie durch die gegenseitige Anerkennung strafrechtlicher Entscheidungen und erforderlichenfalls durch die Angleichung der strafrechtlichen Rechtsvorschriften ein hohes Maß an Sicherheit zu gewährleisten.“ Siehe prinzipiell zur Anwendbarkeit des eigentlich für den Bereich des Binnenmarkts entwickelten Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung im strafrechtlichen Bereich Juppe, Gegenseitige Anerkennung; Hecker, Europäisches Strafrecht, § 12 Rn. 50 ff. 184

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2. Teil: Neues Eilvorlageverfahren vor dem EuGH

a) Bisherige Rechtslage: Unterscheidung zwischen Strafrechtsanweisungskompetenz in erster Säule und Strafrechtsharmonisierung in dritter Säule Zwar konnte die bisherige supranationale Europäische Gemeinschaft kein originäres Kriminalstrafrecht erlassen; sie war jedoch mittels der sogenannten Strafrechtsanweisungskompetenz zumindest dazu berechtigt, die Mitgliedstaaten zu verpflichten, zum Schutz der durch das Gemeinschaftsrecht garantierten Güter und Interessen nationale Strafrechtsnormen zu schaffen188. Bei der Anweisungskompetenz ging es also – im Unterschied zur Rechtssetzungskompetenz – darum, nur zu einer inhaltlichen Annäherung der mitgliedstaatlichen Strafrechtsordnungen zu gelangen189; die Strafbarkeit des Einzelnen folgte nach wie vor aus dem nationalen Recht. Die Harmonisierung der nationalen Rechtsordnungen geschah klassischerweise mittels Richtlinien gemäß ex-Art. 249 Abs. 3 EGV; die Anweisung zur Schaffung von Strafrecht konnte aber auch in einer Verordnung nach ex-Art. 249 Abs.  2 EGV enthalten sein190. Wenngleich über das grundsätzliche Bestehen einer Anweisungskompetenz der Gemeinschaft zur Rechtsangleichung auch der nationalen Strafrechtsordnungen weitestgehend Einigkeit herrschte191, war nichtsdestotrotz ungeklärt, wie weit eine solche Anweisung reichen durfte192. Ausgehend vom Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung war das Bestehen einer Rechtsgrundlage im Primärrecht Voraussetzung für den Erlass einer Richtlinie oder Verordnung, welche die Mitgliedstaaten anweisen sollte, nationales Strafrecht zu erlassen. Aus Rücksicht auf die Souveränitätsvorbehalte der Mitgliedstaaten beschränkten sich die bisherigen EG-Anweisungen darauf, auf die bereits aus dem Loyalitätsgebot des ex-Art. 10 EGV (nunmehr Art. 4 Abs. 3 EUV) abzuleitende Forderung hinzuweisen, bestimmte Verstöße gegen gemeinschaftsrechtliche Interessen durch „geeignete“ oder „erforderliche“ Maßnahmen „wirksam, angemessen und abschreckend“ zu ahnden. Erste diesbezügliche Vorgaben gab 188 Diese sog. Anweisungskompetenz wurde entweder auf die speziellen und allgemeinen Harmonisierungsbefugnisse des früheren EG-Vertrags, auf ex-Art. 10 EGV oder auf die Lehre von den „implied powers“ gestützt, siehe dazu Hugger, Strafrechtliche Anweisungen, S. 53 ff.; Hecker, Europäisches Strafrecht, § 8 Rn. 2, 9 ff., jeweils m. w. N. 189 Braum, Europäische Strafgesetzlichkeit, S.  169 f.; Hecker, Europäisches Strafrecht, § 8 Rn. 2, 5. 190 Enthält eine Verordnung die Aufforderung, einen Verstoß gegen ein Verordnungsgebot oder -verbot mit strafrechtlichen Mitteln zu sanktionieren, so bedarf es also ausnahmsweise auch bei einer Verordnung der Umsetzung in das jeweilige nationale Recht; vgl. dazu Hugger, Strafrechtliche Anweisungen, S. 80. 191 A. A. Moll, Blankettstrafgesetzgebung, S. 207 ff. – Auch die nationalen Regierungen stehen Harmonisierungsbemühungen der Kommission auf dem Gebiet des Strafrechts prinzipiell skeptisch bis ablehnend ge­genüber und beharren auf ihrem Recht, über die Frage des Ob und Wie der Strafbarkeit souverän bestimmen zu können, vgl. Hecker, Europäisches Strafrecht, § 8 Rn. 9. 192 Satzger, Europäisierung, S.  449 ff.; Jokisch, Gemeinschaftsrecht und Strafverfahren, S. 80 ff., 108 ff.; Ambos, Internationales Strafrecht, § 11 Rn. 32.

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es im Nebenstrafrecht; so etwa bei der Insiderstrafbarkeit nach § 38 i. V. m. § 14 WpHG, welche auf die EG-Insiderrichtlinie von 1989193 zurückging, und im Bereich des Lebensmittelstrafrechts194. Im Kernstrafrecht des Strafgesetzbuchs wurden aufgrund solcher Ahndungsanweisungen u. a. § 261 StGB wegen der Geldwäsche-Richtlinie195, § 264 Abs.  7 S.  1 Nr.  2 StGB infolge der Umsetzung des Übereinkommens betreffend den Schutz der finanziellen Interessen der EG196 und § 326 Abs. 2 StGB zur Verwirklichung der EG-Abfallverbringungsord­nung197 geschaffen. Dass die Europäische Gemeinschaft befugt war, die Mitgliedstaaten über bloße Ahndungsanweisungen hinaus sogar explizit zur Schaffung kriminalstrafrechtlicher Normen zu verpflichten, wurde unlängst zuerst für den Bereich des Umweltstrafrechts vom EuGH bejaht198. Zwischenzeitlich wurden deshalb auf der Grundlage von ex-Art. 175 Abs.  1 EGV (nunmehr Art.  192 Abs.  1 AEUV) bzw. ex-Art. 80 Abs. 2 EGV (nunmehr Art. 100 Abs. 2 AEUV) erstmals Richtlinien zur gezielten Strafrechtsharmonisierung erlassen199; darüber hinaus lagen bereits vor Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon weitere Richtlinienvorschläge der Kommission vor200. Eine potenzielle sekundärrechtliche Anweisungskompetenz stand der EG hauptsächlich im Wirtschafts- und Nebenstrafrecht zu, aber auch zur 193 RL des Rates 89/592/EWG v. 13.11.1989 zur Koordinierung der Vorschriften betreffend Insider-Geschäfte, ABl.EG 1989 Nr. L 334, S. 30, siehe insbesondere Art. 13. 194 Vgl. beispielsweise für Vermarktungsnormen für Geflügelfleisch Art. 10 der VO (EWG) Nr. 1906/90 (ABl.EG 1990 Nr. L 173, S. 1), für die gemeinsame Marktorganisation für Wein Art. 49 Abs. 2 der VO (EG) Nr. 1493/1999 (ABl.EG 1999 Nr. L 179, S. 1) und für das Lebensmittelrecht Art. 8 und 17 Abs. 2 S. 3 der VO (EG) Nr. 178/2002 (ABl.EG 2002 Nr. L 31, S. 1). 195 RL 91/308/EWG des Rates der EG v. 10.6.1991 zur Verhinderung der Nutzung des Finanzsystems zum Zwecke der Geldwäsche (ABl.EG 1991 Nr. L 166, S. 77); inzwischen ergänzt durch die sog. Zweite Geldwäscherichtlinie von 2001 (RL 2001/97/EG, ABl.EG 2001 Nr. L 344, S. 76) und die sog. Dritte Geldwäscherichtlinie aus dem Jahr 2005 (RL 2005/60/EG zur Verhinderung der Nutzung des Finanzsystems zum Zwecke der Geldwäsche einschließlich der Terrorismusfinanzierung, ABl.EU 2005 Nr. L 309, S. 15). 196 ABl.EG 1995 Nr. C 316, S. 49. 197 VO (EG) Nr. 259/93 des Rates v. 1.2.1993 zur Überwachung und Kontrolle der Verbringung von Abfällen in der, in die und aus der Europäischen Gemeinschaft, ABl.EG 1993 Nr. L 30, S. 1. 198 EuGH, Urt. v. 13.9.2005 – Rs. C-176/03, Slg. 2005, I-7879 – Kommission/Rat; ausführlich dazu sogleich. 199 RL 2008/99/EG zum strafrechtlichen Schutz der Umwelt (ABl.EU 2008 Nr. L 328, S. 28) und RL 2009/123/EG zur Änderung der Richtlinie 2005/35/EG über die Meeresverschmutzung durch Schiffe und die Einführung von Sanktionen für Verstöße (ABl.EU 2009 Nr. L 280, S. 52). 200 Siehe etwa Kommissionsvorschlag für eine Richtlinie über den strafrechtlichen Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaft auf Grundlage des ex-Art. 280 Abs. 4 EGV (jetzt Art. 325 Abs. 4 AEUV, KOM (2001) 272 endg., abgeändert durch KOM (2002) 577 endg.); Vorschlag für eine Richtlinie über strafrechtliche Maßnahmen zur Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums gestützt auf ex-Art. 95 EGV (jetzt Art.  114 AEUV, KOM (2006) 168 endg.); Richtlinienvorschlag zur Bekämpfung der illegalen Beschäftigung entsprechend ex-Art. 63 Abs. 3 lit. b) EGV (jetzt Art. 79 Abs. 2 lit. c) AEUV, KOM (2007) 249 endg.). – Seit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon gibt es bereits zwei Vorschläge für Richtlinien zur Bekämpfung des sexuellen Kindermissbrauchs (KOM (2010) 94 endg.) sowie zur Bekämpfung des Menschenhandels (KOM (2010) 95 endg.).

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2. Teil: Neues Eilvorlageverfahren vor dem EuGH

Durchsetzung der Gemeinschaftspolitiken und Verhinderung von Wettbewerbsverzerrungen in den Bereichen des Arbeits-, Umwelt- und Verbraucherschutzes, der Lebensmittelsicherheit, der Einwanderung und des Finanzwesens, Wettbewerbs und Rechts der Handelsgesellschaft201. Allerdings wurde die strafrechtliche Anweisungskompetenz durch die dem Europarecht immanenten Rechtsgrundsätze des Subsidiaritätsprinzips (ex-Art. 5 Abs. 2 EGV, ex-Art. 2 Abs. 1 EUV) und des Verhältnismäßigkeitsgebots (ex-Art. 5 Abs.  3 EGV) beschränkt202. Um die fehlende gemeinschaftsrechtliche Strafrechtssetzungskompetenz nicht zu umgehen, durften die Harmonisierungsmaßnahmen nicht so konkret gefasst sein, dass sie den Mitgliedstaaten keinerlei Spielraum bei der Ausgestaltung der Tatbestandsoder – wichtiger noch – der Rechtsfolgenseite ließen203. Im Unterschied zu der gemeinschaftsrechtlichen Anweisungskompetenz waren im Bereich der dritten Säule der Europäischen Union, wie schon am Namen „­Polizeiliche und Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen“ (PJZS) erkennbar, die Befugnisse zur Strafrechtsan­gleichung und ihr Umfang wesentlich deutlicher geregelt. Zur Erreichung des Ziels, „den Bürgern in einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ein hohes Maß an Sicherheit zu bieten“ (ex-Art. 29 S. 1 EUV), wollten die Mitgliedstaaten neben einer engeren Zusammenarbeit der Polizei- und Justizbehörden zur Verhütung und Bekämpfung der organisierten und nichtorganisierten Kriminalität ihre nationalen Strafvorschriften annähern, soweit dies erforderlich war (ex-Art. 29 S. 2 Spiegelstrich 3 EUV). Insbesondere die Mindestangleichung nach ex-Art. 31 Abs. 1 lit. e) EUV führte zu einer spürbaren Beeinflussung des mit­gliedstaatlichen materiellen Strafrechts. Zwar schien der Wortlaut den Handlungsauftrag in ex-Art. 31 Abs. 1 lit. e) EUV auf die schrittweise Annahme von Maßnahmen zur Festlegung von Mindestvorschriften über die Tatbestandsmerkmale strafbarer Handlungen und die Strafen auf die Bereiche der organisierten Kriminalität, des Terrorismus und den illegalen Drogenhandel zu begrenzen; systematisch und historisch gesehen sollten jedoch alle in ex-Art. 29 EUV genannten Kriminalitätsbereiche einer Mindestangleichung offenstehen, sofern in den betreffenden Feldern bereits eine gemeinsame EU-­ Politik entwickelt wurde oder sie von grenzüberschreitender Dimension waren204. Von den in ex-Art. 34 Abs. 2 EUV aufgezählten Handlungsformen kam dem Rahmenbeschluss nach lit. b) für die Harmonisierung des Strafrechts die größte Be-

201 Zu den möglichen Anwendungsbereichen siehe sogleich im Rahmen der entsprechenden Annexkompetenz nach Art. 83 Abs. 2 AEUV in diesem Zweiten Teil, D I. 3. unter b). 202 Vgl. Hecker, Europäisches Strafrecht, § 8 Rn.  48 ff.; weniger restriktiv Satzger, Euro­ päisierung, S. 448 f. 203 Satzger, Int. und Eur. Strafrecht, § 9 Rn. 42 ff.; Dannecker, Jura 2006, 95, 98; allgemein zu den Kompetenzausübungsschranken Hugger, Strafrechtliche Anweisungen, S. 81 ff. m. w. N. – Bezüglich der Sanktionen sollten sich die strafrechtlichen Anweisungen deshalb auf die Vorgabe eines Leitbildes für den gewünschten Ahndungseffekt beschränken. 204 Wasmeier, in: v. d. Groeben/Schwarze, EU-/EGV, Art. 31 EUV Rn. 65 ff.; Satzger, Int. und Eur. Strafrecht, § 9 Rn. 34; Hecker, Europäisches Strafrecht, § 11 Rn. 2.

D. Kritik des Eilvorlageverfahrens

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deutung zu205. Rahmenbeschlüsse waren ähnlich wie Richtlinien konzipiert, d. h. sie waren für die Mitgliedstaaten hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich, überließen ihnen jedoch bezüglich der Umsetzung die Wahl der Form und der Mittel. Der wichtigste Unterschied zwischen beiden Rechtsinstrumenten bestand darin, dass ex-Art. 34 Abs. 2 lit. b) EUV ausdrücklich eine unmittelbare Wirkung von Rahmenbeschlüssen, wie sie der EuGH in bestimmten Fällen für Richtlinien hergeleitet hatte, ausschloss; außerdem unterlagen sie dem Einstimmigkeitsprinzip (ex-Art. 34 Abs. 2 S. 2 EUV)206. Dass aber die Kooperation der Mitgliedstaaten bereits im Rahmen der PJZS über die klassische völkerrechtliche Zusammenarbeit hinausging, machte der EuGH in der Rechtssache Pupino deutlich, indem er die Grundsätze und Grenzen des Gebots der richtlinienkonformen Auslegung207 sinngemäß auch auf Rahmenbeschlüsse angewendet hat208. Die Argumentation des EuGH – wenngleich tragfähig – lief auf eine zunehmende Gleichstellung des EURechts mit dem Gemeinschaftsrecht hinaus209. Da ex-Art. 31 Abs. 1 lit. e) EUV lediglich eine Mindestharmonisierung zuließ, beschränkten sich Rahmenbeschlüsse hinsichtlich der Tatbestandsseite in der Regel da­rauf, die zentralen Tatbestandsmerkmale zu definieren und diejenigen Verhaltensweisen zu umschreiben, die jedenfalls strafbewehrt werden mussten210. Bezogen auf die Rechtsfolgenseite ließ 205 Als praktisch zweitwichtigstes Instrument sind die völkerrechtlichen Übereinkommen zwischen den Mit­gliedstaaten nach Art. 34 Abs. 2 lit. d) EUV zu nennen, welche jedoch den Nachteil hatten, dass sie angesichts der nötigen Ratifizierung durch jeden Mitgliedstaat enorm zeitaufwändig waren. So wurde etwa das Übereinkommen über den Schutz der finanziellen Interessen der EG (sog. „PIF-Konvention“, ABl.EG 1995 Nr. C 316, S. 49) am 26.7.1995 unterzeichnet, konnte aber erst nach sieben Jahren in Kraft treten. 206 Daneben wurde durch ex-Art. 40, 43 EUV aber die Möglichkeit einer verstärkten Zusammenarbeit eröffnet. 207 Dazu sogleich in diesem Zweiten Teil, D. I. unter 4. c). 208 Wegen ihrer Loyalitätsverpflichtung gegenüber der Union (vgl. ex-Art. 1 Abs. 2, Abs. 3 S. 2 EUV) hätte eine unmittelbar aus Unionsrecht abgeleitete Pflicht der mitgliedstaatlichen Gerichte bestanden, die Auslegung des nationalen Rechts „so weit wie möglich an Wortlaut und Zweck des Rahmenbeschlusses aus[zu]richten“, vgl. EuGH, Urt. v. 16.6.2005  – Rs. C-105/03, Slg. 2005, I-5285, Rn. 43 – Pupino. In dem dieser Rechtssache zugrunde liegenden italienischen Strafverfahren hatte das Gericht Zweifel, ob bestimmte einschlägige Vorschriften der italienischen Strafprozessordnung mit dem Rahmenbeschluss 2001/220/JI des Rates vom 15.3.2001 über die Stellung des Opfers in Strafverfahren (ABl.EU 2001 Nr. L 82, S. 1) vereinbar sind. – Das Erfordernis der sog. rahmenbeschlusskonformen Auslegung ist vom BVerfG im Rahmen des Verfahrens über den Europäischen Haftbefehl gebilligt worden, vgl. BVerfGE 113, 273, 347, folgt im Übrigen aber auch aus der aus dem Grundgesetz abzuleitenden völkerrechtsfreundlichen Auslegung. – Zu Anwendungsfeldern der rahmenbeschlusskonformen Auslegung siehe Hecker, Europäisches Strafrecht, § 10 Rn. 77 ff. 209 Streinz, FS Otto, S. 1029, 1045 f. 210 Hecker, Europäisches Strafrecht, § 11 Rn. 3 ff. – Den Mitgliedstaaten war es dann verwehrt, im Wege zusätzlicher Tatbestandsmerkmale zu einer beschränkteren Strafbarkeit zu gelangen; eine Inkriminierung weiterer Verhaltensweisen war indes nicht verboten. Dies hat tenden­ziell zu einer höheren Punitivität des europäisierten Strafrechts geführt. – Neben Mindestvorschriften zur Ausgestaltung des Besonderen Teils konnten aber auch Vorgaben hinsichtlich des Allgemeinen Teils in Rahmenbeschlüssen enthalten sein – insbesondere betreffend die Strafbarkeit von Täterschaft und Teilnahme sowie des Versuchs –, sofern dadurch nicht die Grundlagen der

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die Mindestangleichung u. a. die Festlegung von strafschärfenden und -mildernden Umständen sowie von sogenannten Mindesthöchststrafen zu, wobei der Strafrahmen als Höchststrafe mindestens die festgelegte Sanktion anzudrohen hat211. Die Angleichung der mitgliedstaatlichen materiellen Strafrechte mittels Rahmenbeschlüssen ist bereits weit fortgeschritten212. So wurden bisher Rahmenbeschlüsse in den Kriminalitätsbereichen Organisierte Kriminalität, Geldwäsche, Terrorismus, Menschenhandel, sexuelle Ausbeutung von Kindern und Kinderpornographie, Schlepperei, Drogenhandel, Falschgelddelikte, Straftaten im Zusammenhang mit bargeldlosen Zahlungsmitteln, Computerkriminalität, Bestechung im privaten Sektor und Rassismus und Fremdenfeindlichkeit erlassen213. Darüber hinaus existieren weitere Vorschläge zur Harmonisierung der Strafnormen bezüglich betrügerischen Verhaltens bei der Vergabe öffentlicher Aufträge im gemeinsamen Markt214 und bezüglich des Organhandels215. Zur Verbesserung der strafjustiziellen Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten  – mit Konsequenzen für das nationale Strafprozessrecht – sollten u. a. die auf dem Prinzip der gegenseitigen An­erkennung beruhenden Rahmenbeschlüsse zum Europäischen Haftbefehl, zur Anerkennung von Geldstrafen und Geldbußen und zur Europäischen Beweisanordnung dienen216. Schon einige Zeit vor Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon wurden Strafrechtsharmonisierungsmaßnahmen seltener in der Form von Richtlinien oder Verordnungen in der ersten Säule, sondern häufiger mittels Rahmenbeschlüssen in der dritten Säule der Union vorgenommen217. Dies lag vor allem an einigen – aus Sicht der europäischen Strafrechtsvorgaben grundsätzlich skeptisch gegenüber­ stehenden Mitgliedstaaten – Vorteilen der intergouvernementalen Zusammenarbeit

mitgliedstaatlichen Strafrechtssysteme berührt wurden (Wasmeier, in: v. d. Groeben/Schwarze, EU-/EGV, Art. 31 EUV Rn. 56 f.). Da nicht alle Strafrechtsordnungen der EU-Staaten die Strafbarkeit juristischer Personen oder eine verschuldensunabhängige Strafbarkeit kennen, mussten diesbezügliche Rahmenbeschlussvorgaben den Mitgliedstaaten einen hin­reichend weiten Umsetzungsspielraum belassen, der auch nichtstrafrechtliche Sanktionen ausreichen ließ. 211 Wegen der fehlenden Angleichung der Strafzumessung in den Mitgliedstaaten steht Satzger, Int. und Eur. Strafrecht, § 9 Rn. 45 den Mindesthöchststrafen skeptisch gegenüber. 212 Das Fehlen einer einheitlichen kriminalpolitischen Linie wird indes häufiger bemängelt, vgl. Sieber, ZStW 121 (2009), 1; Zeder, ERA Forum 2008, 209, 226; Ambos/Rackow, ZIS 2009, 397, 402 („aktionistische Tendenzen“); Satzger, KritV 2008, 17, 23 f.; positiver Mansdörfer, HRRS 2010, 11, 12 ff. 213 Detaillierte Beschreibung der einzelnen Rahmenbeschlüsse bei Hecker, Europäisches Strafrecht, § 11 Rn. 10 ff. – Die Rahmenbeschlüsse zum Schutz der Umwelt und vor Meeresverschmutzung wurden vom EuGH für nichtig erklärt, dazu sogleich. 214 ABl.EG 2000 Nr. C 253, S. 3. 215 ABl.EU 2003 Nr.  C 100, S.  27; vgl. zum anvisierten Programm der Kommission auch KOM (2008) 712 endg., Anhang S. 9 f. 216 Ausführlich zu diesen Maßnahmen (und kritisch zum Prinzip der gegenseitigen An­ erkennung) Juppe, Gegenseitige Anerkennung; Satzger, Int. und Eur. Strafrecht, § 10 Rn. 24 ff. m. w. N.; Schünemann, GA 2004, 193, 202 ff. 217 Ambos, Internationales Strafrecht, § 12 Rn. 6.

D. Kritik des Eilvorlageverfahrens

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in der PJZS218. Allerdings wurde der gemeinschaftsrechtliche Besitzstand durch ex-Art. 29 („unbeschadet der Befugnisse der Europäischen Gemeinschaft“) und ex-Art. 47 EUV („lässt der vorliegende Vertrag die Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften […] unberührt“) geschützt, so dass die Mitgliedstaaten etwaige su­pranationale strafrechtliche Kompetenzen nicht mittels bloßer intergouvernementaler Kooperation konterkarieren durften219. Bestand also eine Gemeinschaftskompetenz – insbesondere eine strafrechtliche Anweisungskompetenz  –, war ein Tätigwerden der Mitgliedstaaten im Rahmen der dritten Säule ausgeschlossen. Dass der EuGH grundsätzlich eine strafrechtliche Anweisungskompetenz der EG anerkannt und in dessen Folge auch die Kompetenzverteilung zwischen der ersten und der dritten Säule der Union zugunsten der Euro­päischen Gemeinschaft durchgesetzt hat, zeigen die Urteile zum Rahmenbeschluss über den Schutz der Umwelt durch das Strafrecht220 und zum Rahmenbeschluss zur Verstärkung des strafrechtlichen Rahmens zur Bekämpfung der Verschmutzung durch 218 So hatte ein Rahmenbeschluss ähnliche Rechtswirkungen wie eine Richtlinie, konnte aber nicht unmittelbar wirksam sein; darüber hinaus hatten die Mitgliedstaaten nach ex-Art. 34 Abs. 2 S. 2 EUV neben der Kommission ein Initiativrecht, durch das Erfordernis der Einstimmigkeit konnte im Ernstfall jeder Staat eine Strafrechtsangleichung durch die Verweigerung der Zustimmung verhindern, das Europäische Parlament musste lediglich angehört werden und die Rechtskontrolle der Maßnahmen war durch ex-Art. 35 EuGH schwächer ausgestaltet als in der ersten Säule, insbesondere konnte bei fehlender oder mangelhafter Umsetzung eines Rahmenbeschlusses keine Vertragsverletzungsklage erhoben werden. 219 Wasmeier/Jour-Schröder, in: v. d. Groeben/Schwarze, EU-/EGV, Vorb. zu Art. 29 ff. EUV Rn. 49 ff., Art. 29 EUV Rn. 52 f.; Braum, Europäische Strafgesetzlichkeit, S. 407 ff. 220 Der Rechtssache C-176/03 (EuGH, Urt. v. 13.9.2005  – Slg. 2005, I-7879  – Kommission/Rat) lag eine Nichtigkeitsklage der Kommission gegen den vom Rat erlassenen Rahmenbeschluss 2003/80/JI v. 27.1.2003 (ABl.EU 2003 Nr. L 29, S. 55) zum Schutz der Umwelt zugrunde, der den Mitgliedstaaten aufgab, für bestimmte definierte Umweltstraftaten strafrechtliche Sanktionen vorzusehen. Inhaltlich ähnelte der Rahmenbeschluss einem Richt­ linienvorschlag der Kommission über den strafrechtlichen Schutz der Umwelt vom März 2001 (KOM (2001) 139 endg.), der auf die gemeinschaftsrechtliche Kompetenznorm des ex-Art. 175 EGV gestützt war. Wegen der Kompetenzvorbehalte der Mitgliedstaaten, die unter Berufung auf ihre nationale Souveränität Richtlinienvorschläge mit kriminalstrafrechtlichen Anweisungen öfter zurückweisen, wurde der Kommissionsvorschlag jedoch vom Rat mit überwältigender Mehrheit abgelehnt. Die Kommission machte vor dem EuGH nun geltend, dass ein Tätigwerden im Rahmen der dritten Säule gemäß ex-Art. 47 EUV unzulässig gewesen sei, weil die Regelungen des Rahmenbeschlusses genauso gut auf die Ermächtigungsgrundlage des ex-Art. 175 EGV hätten gestützt werden können und wegen des Primats des Gemeinschaftsrechts auch hätten gestützt werden müssen. Dieser Argumentation und den Schlussanträgen von Generalanwalt Colomer folgend, erklärte der EuGH den Umweltstrafrecht-Rahmenbeschluss mit seinem Urteil für nichtig; die Kernpassage der Entscheidung lautet (Rn. 47 f.): „Grundsätzlich fällt das Strafrecht ebenso wie das Strafprozessrecht auch nicht in die Zuständigkeit der Gemeinschaft […]. Dies kann den Gemeinschaftsgesetzgeber jedoch nicht daran hindern, Maßnahmen in Bezug auf das Strafrecht der Mitgliedstaaten zu ergreifen, die seiner Meinung nach erforderlich sind, um die volle Wirksamkeit der von ihm zum Schutz der Umwelt erlassenen Rechtsnormen zu gewährleisten, wenn die Anwendung wirksamer, verhältnismäßiger und abschreckender Sanktionen durch die zuständigen nationalen Behörden eine zur Bekämpfung schwerer Beeinträchtigungen der Umwelt unerlässliche Maßnahme darstellt.“

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2. Teil: Neues Eilvorlageverfahren vor dem EuGH

Schiffe221. Dass die Argumentation des EuGH zum Primat des Gemeinschaftsrechts nicht nur auf den Bereich des Umweltschutzes angewendet werden konnte, sondern auch für andere EG-Politikbereiche und die Grundfreiheiten verallgemei­ nerungsfähig war, sofern der Gemeinschaft materielle Harmonisierungskompeten­ zen zukamen, hat die Kommission bereits kurz nach der Nichtigerklärung des Rahmenbeschlusses über den Schutz der Umwelt durch das Strafrecht in ihrer „Mitteilung über die Folgen des Urteils“ festgestellt und neue Richtlinieninitiativen angekündigt222. Insofern musste bereits vor Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon selbst in Bereichen, die unter den Handlungsauftrag der ex-Art. 29, 31 Abs.  1 lit. e)  EUV zu fallen schienen, eine etwaige vorrangige Gemeinschaftskompetenz sorgfältig geprüft werden223, so dass sich bereits die Verschiebung von Vor dem Hintergrund, dass das Urteil hauptsächlich auf effet utile-Erwägungen fußte und daraus eine detaillierte kriminalstrafrechtliche Anweisungskompetenz der EG hergeleitet wurde, war es in der deutschen Literatur vielfach auf Kritik gestoßen; sehr kritisch z. B. Satzger, Int. und Eur. Strafrecht, § 9 Rn. 39 f. m. w. N., der das Strafrecht zum bloßen Durchsetzungs­ mechanismus des Europarechts degradiert sah und eine Vorwegnahme des Vertrags von Lissabon feststellte. Kritisch auch Streinz, FS Otto, S. 1029, 1045 f. und Heger, JZ 2006, 310 ff., der zudem darauf hinwies, dass durch die Rechtsprechung des EuGH eine weitere Europäisierung des Umwelt- und Wirtschaftsstrafrechts im Rahmen der ersten Säule der EG faktisch wesentlich erschwert, wenn nicht gar unmöglich gemacht wurde. – Andere dagegen sahen in der Entscheidung des EuGH nur die Bestätigung einer – auch in der Literatur anerkannten – Rechtsangleichungskompetenz der Europäischen Gemeinschaft, die immerhin noch zahlreichen gemeinschaftsrechtlichen Grenzen unterlag; so etwa Hecker, Europäisches Strafrecht, § 8 Rn. 31 m. w. N. 221 In der Rechtssache C-440/05 (EuGH, Urt. v. 23.10.2007 – Slg. 2007, I-9097 – Kommission/Rat) bekam der Europäische Gerichtshof Gelegenheit, seine Rechtsprechung zur Auf­ teilung der strafrechtlichen Kompetenzen zwischen der ersten und der dritten Säule weiter zu konkretisieren. Die Kommission begehrte die Nich­tigerklärung eines Rahmenbeschlusses (RB 2005/667/JI des Rates v. 12.7.2005, ABl.EU 2005 Nr. L 255, S. 164), welcher die mitgliedstaatlichen Strafvorschriften zur Bekämpfung der Meeresverschmutzung durch Schiffe angleichen sollte, weil nach ihrer Ansicht auch hier im Rahmen der gemeinschaftsrechtlichen Verkehrspolitik – auf der Grundlage der Kompetenznorm des ex-Art. 80 Abs. 2 EGV (nunmehr Art. 100 Abs. 2 AEUV) – hätte vorgegangen werden müssen. Wenngleich der EuGH wegen einer bestehenden Gemeinschaftskompetenz auch diesen Rahmenbeschluss für nichtig erklärt hat, so hielt er jedoch einschränkend fest, dass die Entscheidung über Art und Maß der strafrechtlichen Sanktion – anders als von der Kommission vertreten – von dieser Kompetenz nicht gedeckt war und deshalb den Mitgliedstaaten vorbehalten bleiben musste (Rn. 70). – Diese Einschränkung begrüßend und zu den Konsequenzen Zimmermann, NStZ 2008, 662, 665 ff. 222 KOM (2005) 583 endg., Rn.  6 ff., Anhang.  – Außerdem sind nach Ansicht der Kommission – neben den zwei inzwischen für nichtig erklärten Rahmenbeschlüssen – sechs weitere Rahmenbeschlüsse fehlerhafterweise im Rahmen der PJZS ergangen, wo richtigerweise ein Tätigwerden im Rahmen der EG hätte erfolgen müssen. Interessanterweise befinden sich darunter auch Bereiche, in denen die Kommission selbst seinerzeit einen Rahmenbeschluss vor­geschlagen hatte (vgl. etwa RB 2001/413/JI zu Betrug und Fälschung bei unbaren Zahlungsmitteln, ABl.EU 2001 Nr. L 149, S. 1 und RB 2005/222/JI zu Angriffen auf Informationssysteme, ABl.EU 2005 Nr. L 69, S. 67). 223 Fand sich eine solche Kompetenz, bedeutete dies jedoch nicht zwingend, dass die Gemeinschaft auch tätig wurde, denn dafür wäre Voraussetzung gewesen, dass die Mitglied­staaten ihre grundsätzlich ablehnende Haltung gegenüber einer gemeinschaftsrechtlichen Anweisungskompetenz im Strafrecht aufgegeben hätten, vgl. Heger, JZ 2006, 310, 311; Streinz, FS Otto,

D. Kritik des Eilvorlageverfahrens

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der intergouvernementalen Kooperation zur supranationalen Strafrechtsanweisung andeutete224. b) Strafrechtsharmonisierung in materieller Hinsicht Nach dem Vertrag von Lissabon enthält nunmehr Art. 83 AEUV die Möglichkeiten zur Harmonisierung der materiellen Strafrechte der Mitgliedstaaten in Form einer Strafrechtsanweisungskompetenz225. Dabei ergeben sich drei mögliche Ansatzpunkte für eine Strafrechtsangleichung: Erstens ermächtigt Art.  83 Abs.  1 UAbs. 1 AEUV die Union allgemein zur Bekämpfung besonders schwerer, grenzüberschreitender Kriminalität, wobei die angleichungsfähigen Deliktsbereiche abschließend aufgezählt werden. Danach dürfen Mindestvorschriften zur Festlegung von Straftaten und Strafen226 nur zur Bekämpfung des Terrorismus, des Menschenhandels und der sexuellen Ausbeutung von Frauen und Kindern, des illegalen Drogenhandels, des illegalen Waffenhandels, der Geldwäsche, der Korruption, der Fälschung von Zahlungsmitteln, der Computerkriminalität und der organisierten Kriminalität festgelegt werden227. Zweitens bewirkt Art. 83 Abs. 1 UAbs. 3 AEUV eine tatsächliche Kompetenz­ erweiterung228, indem er eine sogenannte Kompetenz-Kompetenz der Europäischen Union vorsieht:

S. 1029, 1042 f. So führte das EuGH-Urteil zum Umweltstrafrecht-Rahmenbeschluss dazu, dass trotz der allseits anerkannten Notwendigkeit des strafrechtlichen Schutzes der Umwelt lange Zeit keine einheitlichen europäischen Regelungen in diesem Bereich existierten; erst Ende 2008 ist schließlich die Richtlinie über den strafrechtlichen Schutz der Umwelt in Kraft getreten. 224 So auch Streinz, FS Otto, S. 1029, 1041. 225 Mansdörfer, HRRS 2010, 11, 15. Vgl. zum Begriff der Strafrechtsanweisungskompetenz bereits oben in diesem Zweiten Teil, D. I. 3. unter a). 226 Zur Reichweite dieser Ermächtigung siehe Heger, ZIS 2009, 406, 412; Böse, ZIS 2010, 76, 86; Hecker, Iurratio 2009, 81, 84; Zeder, ERA Forum 2008, 209, 224; Walter, ZStW 117 (2005), 912, 924 f. (zu der entsprechenden Vorschrift des Verfassungsvertrags). 227 Teilweise sehr kritisch zur bedenklichen Weite einiger Kriminalitätsbereiche Zeder, ERA Forum 2008, 209, 223; Ambos/Rackow, ZIS 2009, 397, 402; zur entsprechenden Norm in der gescheiterten Europäischen Verfassung Dannecker, in: Wabnitz/Janovsky, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, Kap. 2 Rn. 12; Weigend, ZStW 116 (2004), 275, 283, 285 f.; versöhnlicher jedoch Walter, ZStW 117 (2005), 912, 925 ff. – Zur für Deutschland gebotenen verfassungskonformen Auslegung dieser Ermächtigungsnorm nunmehr BVerfGE 123, 267, 406 ff. Nach dem BVerfG sind die strafrechtlichen Kompetenzen im AEUV allesamt eng auszulegen (S. 410); insbesondere läge ein grenzüberschreitender Charakter einer Straftat erst dann vor, wenn sich aus der Art oder den Auswirkungen der Straftat die besondere Notwendigkeit ergebe, die Straftat auf einer gemeinsamen Grundlage zu bekämpfen (S. 410 f.). 228 Denn mit der Auflistung der neun Kriminalitätsbereiche in Art. 83 Abs. 1 UAbs. 1 AEUV ist noch keine wirkliche inhaltliche Neuerung verbunden, neu zu ex-Art. 31 EUV ist lediglich die explizite Nennung der Geldwäsche, der Fälschung von Zahlungsmitteln und der Computer­ kriminalität.

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2. Teil: Neues Eilvorlageverfahren vor dem EuGH

„Je nach Entwicklung der Kriminalität kann der Rat einen Beschluss erlassen, in dem andere Kriminalitätsbereiche bestimmt werden, die die Kriterien [des Art. 83 Abs. 1 AEUV] erfüllen. Er beschließt einstimmig nach Zustimmung des Europäischen Parlaments.“

Der Spielraum dieser dynamischen Blankettermächtigung229 wird indes durch mehrere Faktoren begrenzt: Zum einen muss es sich bei einem neu aufzunehmenden Kriminalitätsfeld bereits dem Wortlaut nach ebenfalls um besonders schwere und grenzüberschreitende Kriminalität handeln230. Zum anderen legt der Wortlaut „je nach Entwicklung der Kriminalität“ nahe, dass mit der Kompetenzerweiterung nur auf neue tatsächliche Entwicklungen und Erscheinungen in der Kriminalität geantwortet werden darf231. Schließlich wird das Erfordernis eines einstimmigen Ratsbeschlusses einer allzu ausufernden Ausweitung entgegenwirken232. Mit der dritten Harmonisierungsmöglichkeit in materieller Hinsicht – der Annexzuständigkeit der Union zur Angleichung des Strafrechts in bereits harmonisierten Politikbereichen gemäß Art.  83 Abs.  2 AEUV  – wird schließlich explizit anerkannt, was der EuGH in seinen Urteilen zum Umweltstrafrecht- und zum Meeresverschmutzung-Rahmenbeschluss bereits entschieden hat233: dass eine strafrechtliche Annexkompetenz aus Gründen des effet utile auch als Durchsetzungsmechanismus in anderen Politikbereichen der Europäischen Union eingesetzt werden kann: „Erweist sich die Angleichung der strafrechtlichen Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten als unerlässlich für die wirksame Durchführung der Politik der Union auf einem Gebiet,

229 Eine nahezu unbeschränkte Kompetenzausweitung befürchtet Weigend, ZStW 116 (2004), 275, 283; vgl. auch Schünemann, GA 2004, 193, 199. 230 Mansdörfer, HRRS 2010, 11, 16, nennt als denkbares Beispiel für eine solche Erweiterung grenzüberschreitende Wirtschafts- und Steuerstraftaten. Hecker, JA 2002, 723, 724 führt transnationale Kfz-Verschiebungen, Verstöße gegen das Lebensmittel- und Arzneimittelrecht sowie illegalen Mülltourismus an. – Nach dem sog. Stockholmer Programm, welches Leitvorgaben für Unionsmaßnahmen auf den Gebieten Justiz, Sicherheit, Unionsbürgerschaft, Asyl und Einwanderung für die nächsten fünf Jahren enthält, müsse auch über eine Harmonisierung derjenigen Delikte nachgedacht werden, bei denen nach den geltenden Rechtshilfeinstrumenten das Erfordernis der beiderseitigen Strafbarkeit entfalle; vgl. Rat der EU, DOK 17024/09, S. 29. Dies könnte also – vgl. Art. 2 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl – u. a. Delikte wie Totschlag, schwere Körperverletzung, Freiheitsberaubung, Diebstahl in organisierter Form oder mit Waffen, illegaler Handel mit Kulturgütern, Produktpiraterie oder Brandstiftung betreffen. 231 So bereits für die entsprechende Bestimmung im Verfassungsvertrag Walter, ZStW 117 (2005), 912, 925 f. Siehe jetzt auch Mansdörfer, HRRS 2010, 11, 16 f. 232 Da sich die Union durch einen solchen Beschluss selbst neue Kompetenzen aneignen kann, hat das Bundesverfassungsgericht die Ausdehnung der Unionskompetenzen dem Gesetzesvorbehalt des Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG unterstellt, so dass der deutsche Vertreter im Rat den Gebrauch der Blankettermächtigung nur nach vorheriger Zustimmung durch Bundestag und Bundesrat billigen darf; vgl. BVerfGE 123, 267, 412 f., 436. 233 Dazu bereits in diesem Zweiten Teil, D. I. 3. unter a). – Oder hat sich der EuGH bei seinen Urteilen vom wortgleichen Art. III-271 Abs. 2 des Verfassungsvertrags leiten lassen? So Zeder, ERA Forum 2008, 209, 223.

D. Kritik des Eilvorlageverfahrens

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auf dem Harmonisierungsmaßnahmen erfolgt sind, so können durch Richtlinien Mindest­ vorschriften für die Festlegung von Straftaten und Strafen auf dem betreffenden Gebiet festgelegt werden.“

Die Annexkompetenz könnte – ebenso wie die Strafrechtsanweisungskompetenz im ehemaligen EG-Vertrag – u. a. im Zusammenhang mit den folgenden speziellen und allgemeinen Harmonisierungsbefugnissen des AEUV angewendet werden234: • Die Umwelt- (Art. 191 bis 193 AEUV, ex-Art. 174 ff. EGV) und Verkehrspolitik (Art. 90 bis 100 AEUV, ex-Art. 70 ff. EGV) wurden bereits in den Urteilen des EuGH angesprochen. Als Maßnahme „zur Verbesserung der Verkehrssicherheit“ könnten aufgrund von Art. 91 Abs. 1 lit. c) AEUV die Straßenverkehrs­ delikte angeglichen werden. • Da Art. 325 Abs. 4 AEUV sogar zum Erlass von originärem Strafrecht ermächtigt, könnte auf diese Norm erst recht eine Richtlinie zum Schutz der finanziellen Interessen der Union gestützt werden. • Naturgemäß muss der Europäischen Union eine kriminalstrafrechtliche Harmonisierungsbefugnis für die von ihr geschaffenen Institutionen wie das Euro-Bargeld (Schutz des Euro gegen Fälschungen, Art. 133 AEUV) und die EU-Marke sowie für den Schutz europäischer Gesellschaftsformen zuerkannt werden. • Im Rahmen der gemeinsamen Agrarpolitik könnte Art. 40 Abs. 2 AEUV (exArt. 34 Abs. 2 EGV) als Ermächtigungsgrundlage zur Bekämpfung von Betrügereien und Unregelmäßigkeiten zulasten der gemeinsamen Marktorganisation und Art. 43 Abs. 2 AEUV (ex-Art. 37 Abs. 2 UAbs. 3 EGV) zur Harmonisierung des Lebensmittelstrafrechts dienen. • Auf Art. 103 Abs. 1 AEUV (ex-Art. 83 Abs. 1 EGV) könnten kriminalstrafrechtliche Anweisungen zur Bewehrung wettbewerbsrechtlicher Verstöße gestützt werden. 234 Zu den folgenden und weiteren potenziellen Tätigkeitsbereichen des Unionsgesetz­ gebers ausführlich Zeder, ERA Forum 2008, 209, 223 f.; Hecker, Europäisches Strafrecht, § 8 Rn. 40 ff.; Dannecker, Jura 2006, 95, 97 f.; Satzger, Int. und Eur. Strafrecht, 3. Aufl., § 8 Rn. 33 (der auch andenkt, dass man Art. 53 Abs. 1 AEUV (ex-Art. 47 Abs. 2 EGV) wegen der Behinderung der Dienstleistungsfreiheit als Grundlage für eine – politisch gleichwohl hochsensible und damit praktisch aussichtslose  – Harmonisierung der Strafvorschriften des Schwangerschaftsabbruchs aktivieren könnte). – Äußerst kritisch zu dieser „uferlosen“ Annexkompetenz BVerfGE 123, 267, 411: „Im Hinblick auf den Bereich der Annexzuständigkeit […] kann das Zustimmungsgesetz nur deshalb als verfassungskonform beurteilt werden, weil diese Zuständigkeit nach dem Vertrag eng auszulegen ist. Hinter der Annexzuständigkeit verbirgt sich eine gravierende Ausdehnung der Zuständigkeit zur Strafrechtspflege im Vergleich zur bislang geltenden Rechtslage.“ – Auch Hecker, Europäisches Strafrecht, § 8 Rn. 48 ff., ging bezüglich der bisherigen Rechtslage und weiterhin davon aus, dass das Subsidiaritätsprinzip der Ausübung der Strafrechtsanweisungskompetenz auf dem Gebiet der Gemeinsamen Politiken in weiten Teilen entgegensteht, weil ausreichender strafrechtlicher Schutz zur Verwirklichung der verfolgten Ziele bereits auf Ebene der Mitgliedstaaten erreicht werden kann. Ähnlich für das neue Recht Heger, ZIS 2009, 406, 412.

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2. Teil: Neues Eilvorlageverfahren vor dem EuGH

• Auch im Bereich der Handelspolitik (Art.  207 AEUV, ex-Art. 133 EGV), der Zollpolitik (Art.  33 AEUV, ex-Art. 135 EGV) und der Migrationspolitik (Art. 77 f. AEUV, ex-Art. 62 f. EGV) könnten strafrechtliche Richtlinien erlassen werden. • Die funktional ausgerichteten allgemeinen Harmonisierungsbefugnisse der Art. 114 ff. AEUV (ex-Art. 94 ff. EGV) kommen zur Herstellung gleicher Wettbewerbsbedingungen in Betracht, wenn sich die Unterschiede in den mitgliedstaatlichen Strafrechtsordnungen negativ auf das Funktionieren des Binnenmarktes auswirken. Die Gewährleistung der vier Grundfreiheiten kann z. B. den Bereich der Produkthaftung, das Betrugs-, Wettbewerbs- und Steuerrecht sowie die Geldwäschebekämpfung und das Waffenrecht betreffen. • Schlussendlich könnte auch noch die Vertragsabrundungskompetenz des Art. 352 AEUV (ex-Art. 308 EGV) herangezogen werden, deren Voraussetzung nach dem Wortlaut lediglich darin besteht, dass ein Tätigwerden der Union erforderlich ist, um ein von ihr zu verfolgendes Ziel zu erreichen, obwohl keine entsprechende Einzelermächtigung im AEUV vorgesehen ist. Die Annexzuständigkeit könnte daher große praktische Bedeutung bekommen235, wobei zusätzlich der im EuGH-Urteil zum Meeresverschmutzung-Rahmenbeschluss noch vorgesehene Vorbehalt, dass die Entscheidung über Art und Maß der strafrechtlichen Sanktion im Prinzip den Mitgliedstaaten vorbehalten bleiben muss, aufgrund der eindeutigen Regelung in Art. 83 Abs. 2 AEUV weggefallen ist236. Als einzige einschränkende Voraussetzung der Annexkompetenz sieht Art. 83 Abs. 2 S. 1 AEUV vor, dass ein „unerlässliches“ Bedürfnis für die Strafrechtsangleichung bestehen muss237.

235 So auch Mansdörfer, HRRS 2010, 11, 17; Ambos/Rackow, ZIS 2009, 397, 403; Schünemann, GA 2004, 193, 195 (zur entsprechenden Regelung in der gescheiterten Verfassung). 236 Heger, ZIS 2009, 406, 413; Hecker, Iurratio 2009, 81, 84; Zimmermann, NStZ 2008, 662, 665. – Nach dem Bundesverfassungsgericht „droht“ deshalb eine „uferlose“ Kompetenz zur Strafrechtssetzung, vgl. BVerfGE 123, 267, 411. 237 Wenngleich diese „Unerlässlichkeit“ als justiziables Tatbestandsmerkmal zu verstehen ist, so ist doch um­stritten, wann sie zu bejahen ist. Das Bundesverfassungsgericht verlangt restriktiv, dass tatsächlich ein gravierendes Vollzugsdefizit besteht, welches nur durch eine Strafandrohung beseitigt werden kann; siehe BVerfGE 123, 267, 411 f.; ihm folgend Ambos/Rackow, ZIS 2009, 397, 403; ähnlich bereits Walter, ZStW 117 (2005), 912, 928 f. („empirisch untermauerte Prognose […], dass ein harmonisiertes Strafrecht Conditio sine qua non“ zur Zielerreichung ist). Zimmermann, NStZ 2008, 662, 664 f. erwartet dagegen vom EuGH nicht mehr als eine Prüfung des effet utile-Grundsatzes. Vermittelnd schlägt Mansdörfer, HRRS 2010, 11, 17 vor, von Unerlässlichkeit dann auszugehen, „wenn erhebliche Strafbarkeitsdifferenzen in den einzelnen Mitgliedstaaten die Gefahr von Strafbarkeitsinseln mit sich führen“. – Siehe zu den allgemeinen Grenzen der Harmonisierungsbefugnisse sogleich unten in diesem Zweiten Teil, D. I. 3. unter d).

D. Kritik des Eilvorlageverfahrens

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c) Strafrechtliche Zusammenarbeit in verfahrensrechtlicher Hinsicht In strafverfahrensrechtlicher Hinsicht schreibt Art. 82 Abs. 1 UAbs. 1 AEUV den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen als Grundlage der Zusammenarbeit der EU-Mitgliedstaaten im Strafrecht nun ausdrücklich im Primärrecht fest. Zur Erreichung dieses Ziels wird in Abs.  2 erstmals238 die Kompetenz zur Harmonisierung des Strafprozessrechts der Mitgliedstaaten mittels Richtlinien mit Mindestvorschriften eröffnet, wobei „die Unterschiede zwischen den Rechtsordnungen und -traditionen der Mitgliedstaaten berücksichtigt“ werden müssen. Ebenso wie zum materiellen Strafrecht sind vorerst zwar nur Harmonisierungsmaßnahmen betreffend die Zulässigkeit von Beweismitteln, die Rechte des Einzelnen im Strafverfahren und die Rechte der Opfer von Straftaten erlaubt; eine Erweiterung des Katalogs auf „sonstige spezifische Aspekte des Strafverfahrens“ durch einstimmigen Ratsbeschluss und Zustimmung des Europä­ischen Parlaments ist jedoch nach Art. 82 Abs. 2 UAbs. 2 lit. d) AEUV möglich239. Schließlich wird – neben der in Art. 85 AEUV bestärkten Rolle von Eurojust als zentraler europäischer Koordinationsbehörde zur Ermittlung und Verfolgung schwerer, grenzüberschreitender Straftaten – durch Art. 86 AEUV die Errichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft als neue europäische Strafverfolgungs­ institution in Aussicht gestellt240. Ihre Kompetenzen wären zunächst auf die Bekämpfung von Straftaten zum Nachteil der finanziellen Unionsinteressen beschränkt, könnten aber nach Art. 86 Abs. 4 AEUV jederzeit auf weitere Bereiche der transnationalen Schwerkriminalität ausgeweitet werden. Zur Erleichterung der zwischenstaatlichen Kooperation der mitgliedstaatlichen Strafverfolgungsbehörden ermächtigt Art.  82 Abs.  1 UAbs. 2 AEUV die Union zudem zum Erlass von Maßnahmen241, um die Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen sicherzustellen, Kompetenzkonflikte zu vermeiden, die nationalen Richter, Staatsanwälte und Justizbedienstete weiterzubilden sowie die Zusammenarbeit in den Bereichen Strafverfolgung, Strafvollstreckung und Strafvollzug zu erleichtern. 238

Heger, ZIS 2009, 406, 411. Angesichts dieser weit formulierten Ermächtigung kann die Europäische Union damit ein Mindestschutzniveau für europäische Strafverfahren einführen. Vgl. zu den möglichen Auswirkungen Mansdörfer, HRRS 2010, 11, 15. – Inzwischen hat die Kommission bereits einen Richtlinienvorschlag über das Recht auf Dolmetsch- und Übersetzungsleistungen in Strafverfahren eingebracht, KOM (2010) 82 endg. 240 Die Vorstellungen der EU-Kommission hinsichtlich einer Europäischen Staatsanwaltschaft sind bereits im Grünbuch zum strafrechtlichen Schutz der finanziellen Interessen der Union und zur Schaffung einer Europäischen Staatsanwaltschaft niedergelegt, vgl. KOM (2001) 715 endg. Siehe dazu auch Radtke, GA 2004, 1 ff.; Mansdörfer, HRRS 2010, 11, 21 f.; Ambos, Internationales Strafrecht, § 13 Rn.  24 ff.; Satzger, Int. und Eur. Strafrecht, § 10 Rn.  21 ff.; ­Dannecker, in: Wabnitz/Janovsky, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, Kap. 2 Rn. 207 ff. 241 Mangels einer Einschränkung dieser „Maßnahmen“ kann sich die Union des gesamten in Art. 288 AEUV genannten Handlungsinstrumentariums bedienen. 239

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2. Teil: Neues Eilvorlageverfahren vor dem EuGH

d) Rechtssetzungsverfahren und sogenanntes Notbremsrecht Trotz der „Vergemeinschaftung“ der PJZS durch den Vertrag von Lissabon gelten  – zumindest übergangsweise  – einige Besonderheiten für das Verfahren zur europäischen Strafrechtssetzung. Vor allem ist durch Art.  82 Abs.  2, 83 Abs.  1 und 2 AEUV als Rechtsinstrument zur Angleichung der mitgliedstaatlichen Strafrechtsordnungen lediglich der Erlass von Richtlinien – die hinsichtlich ihres Ziels verbindlich sind, die konkrete Ausgestaltung aber den mitgliedstaatlichen Gesetzgebern überlassen – und nicht der von unmittelbar anwendbaren Verordnungen vorgesehen. Grundsätzlich wird zum Erlass eines strafrechtlichen Rechtsakts das sogenannte ordentliche Gesetzgebungsverfahren angewendet, wie es in Art. 294 AEUV geregelt ist: Folglich werden künftig auch in Strafsachen Rechtsakte prinzipiell nach dem (qualifizierten) Mehrheitsprinzip verabschiedet242, wobei der Rat und das Europäische Parlament gleichberechtigt sind (Art. 16 Abs. 1 EUV, Art. 289, 294 AEUV). Obwohl das Initiativrecht eigentlich bei der Kommission monopolisiert ist (vgl. Art. 17 Abs. 2 S. 1 EUV, Art. 76 lit. a) AEUV), behalten die Mitgliedstaaten ihr im Rahmen der ehemaligen dritten Säule der EU bestehendes Vorschlagsrecht neben der Kommission, sofern sie das Quorum von einem Viertel bzw. ab Ende 2014 der qualifizierten Mehrheit der Mitglieder (Art. 238 Abs. 2 AEUV) erreichen (Art.  76 lit. b) AEUV)243. Schließlich sind prinzipiell die nationalen Parlamente durch Art. 69 AEUV zum Wächter über den Subsidiaritätsgrundsatz auserkoren, so dass sie innerhalb von acht Wochen nach Information über einen europäischen Rechtssetzungsvorschlag etwaige Subsidiaritätsbedenken vorbringen können244. 242 Was bezüglich der Abstimmung im Rat unter einer „qualifizierten Mehrheit“ zu ver­stehen ist, regelt Art. 16 Abs. 3, 4 und 5 EUV n. F.: Danach ist ab dem 1.11.2014 das Quorum von 55 % und wenigstens 15 der Mit­gliedstaaten, die mindestens 65 % der Gesamtbevölkerung der EU repräsentieren, erforderlich; bis dahin gilt Art. 3 Abs. 3 des Protokolls Nr. 36 über die Übergangsbestimmungen (ABl.EU 2010 Nr. C 83, S. 322, 323), der u. a. eine Mehrheit von zwei Dritteln der Mitgliedstaaten fordert.  – Kann trotz Einführung des Mehrheitsprinzips im Rat keine Einigung über einen Rechtssetzungsakt erzielt werden, so sehen Art. 20 EUV, Art. 326 bis 334 AEUV die Möglichkeit einer verstärkten Zusammenarbeit zwischen mindestens neun Mit­gliedstaaten vor. Da eine solche verstärkte Zusammenarbeit zu einem „Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten“ führt (vgl. so schon für die bisherige Regelung in ex-Art. 43 EUV Blanke, in: Grabitz/Hilf, REU, vor Art. 43–45 EUV Rn. 3, 11), der den Zusammenhalt der gesamten Union negativ beeinträchtigen könnte, ist sie nach Art. 20 Abs. 2 S. 1 EUV n. F. nur als ultima ratio erlaubt. 243 Art. 238 Abs. 2 AEUV versteht unter der qualifizierten Mehrheit bei Initiativen der Mitgliedstaaten ab dem 1.11.2014 eine Mehrheit von 72 % der Mitgliedstaaten, die mindestens 65 % der Gesamtbevölkerung repräsentieren müssen. 244 Gemäß Art.  69 AEUV, Art.  7 Subsidiaritätsprotokoll (Protokoll Nr.  2, ABl.EU 2010 Nr. C 83, S. 206) können die nationalen Parlamente – in Deutschland sowohl der Bundestag als auch der Bundesrat, vgl. Art. 7 Abs. 1 UAbs. 2 S. 2 Subsidiaritätsprotokoll, Art. 23 Abs. 1a GG  – Einfluss auf das Gesetzgebungsverfahren nehmen und nach Art.  8 des Subsidiaritäts­ protokolls gegebenenfalls sogar Klage zum EuGH erheben. – Für Deutschland ist Genaueres in den Gesetzen über die Zusammenarbeit zwischen Bundesregierung und Deutschem Bundestag bzw. Bund und Ländern in Angelegenheiten der Europäischen Union (beide zuletzt ge­ändert am 22.9.2009, BGBl. 2009, I-3026 bzw. I-3031) geregelt.

D. Kritik des Eilvorlageverfahrens

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Zusätzlich hält der AEUV in Art. 82 Abs. 3, 83 Abs. 3 als Ausgleich für die Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips für jeden Mitgliedstaat eine „Notbremse“ unter der Voraussetzung bereit, dass durch eine im Rechtssetzungsverfahren befindliche Richtlinie „grundlegende Aspekte seiner Strafrechtsordnung“ berührt würden245: Danach kann ein EU-Staat verlangen, dass das ordentliche Gesetz­ gebungsverfahren ausgesetzt und der Europäische Rat mit der Sache befasst wird246. Angesichts des Wortlauts ist diese sogenannte Notbremse inhaltlich nur auf Harmonisierungsmaßnahmen nach Art. 82 Abs. 2 – Mindestvorschriften für das Strafverfahren  – und Art.  83 Abs.  1 und 2 AEUV  – Strafrechtsanweisungskompetenz für das materielle Strafrecht – anwendbar, nicht jedoch auf Maßnahmen zur Durchsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung nach Art. 82 Abs. 1 AEUV oder auf die Strafrechtssetzungskompetenz in Art.  325 Abs.  4 AEUV247. Als mög­liche „grundlegende Aspekte“ der deutschen Strafrechtsordnung kommen insbesondere die aus der Verfassung abgeleiteten Prinzipien in Betracht248: das Rechtsgutsprinzip, das Schuldprinzip  – inklusive der Straflosigkeit juristischer Personen  –, das Verhältnismäßigkeitsprinzip, der Bestimmtheitsgrundsatz, das Rückwirkungsverbot sowie die Wortlautgrenze. Als stets zu beachtende prinzipielle Grenze der strafrechtlichen Unionsbefugnisse fungieren schließlich das in Art.  5 AEUV normierte Subsidiaritätsgebot (­ex-Art. 5 Abs. 2 EGV, ex-Art. 2 Abs. 1 EUV) und der Verhältnismäßigkeitsgrund 245

Art. 83 Abs. 3 AEUV lautet (Art. 82 Abs. 3 AEUV ist fast wortgleich formuliert): „Ist ein Mitglied des Rates der Auffassung, dass ein Entwurf einer Richtlinie nach den Absätzen 1 und 2 grundlegende Aspekte seiner Strafrechtsordnung berühren würde, so kann es beantragen, dass der Europäische Rat befasst wird. In diesem Fall wird das ordentliche Gesetzgebungsverfahren ausgesetzt. Nach einer Aussprache verweist der Europäische Rat im Falle eines Einvernehmens den Entwurf binnen vier Monaten nach Aussetzung des Ver­ fahrens an den Rat zurück, wodurch die Aussetzung des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens beendet wird. Sofern kein Einvernehmen besteht, mindestens neun Mitgliedstaaten aber eine Verstärkte Zusammenarbeit auf der Grundlage des betreffenden Entwurfs einer Richtlinie begründen möchten, teilen diese Mitgliedstaaten dies binnen derselben Frist dem Europäischen Parlament, dem Rat und der Kommission mit. In diesem Fall gilt die Ermächtigung zu einer Verstärkten Zusammenarbeit nach Artikel 20 Absatz 2 des Vertrags über die Europäische Union und Artikel 329 Absatz 1 dieses Vertrags als erteilt, und die Bestimmungen über die Verstärkte Zusammenarbeit finden Anwendung.“ Die Formulierung der Notbremse macht deutlich, dass den Mitgliedstaaten bei der Beurteilung dieser Frage ein praktisch nicht zu überprüfender Einschätzungsspielraum zusteht; vgl. dazu Heger, ZIS 2009, 406, 413 ff. 246 Für Deutschland hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass der deutsche Ratsvertreter die Notbremse nur nach Weisung des Bundestags bzw. des Bundesrats ausüben darf; BVerfGE 123, 267, 413 f. Zur Umsetzung dieser Vorgabe siehe § 9 des Integrationsverant­ wortungsgesetzes v. 22.9.2009 (BGBl. 2009, I-3022). 247 Vgl. Mansdörfer, HRRS 2010, 11, 20. – Aus systematischen Erwägungen schlägt Heger, ZIS 2009, 406, 416 vor, das Vetorecht auch auf die originäre Strafrechtssetzungskompetenz des Art. 325 AEUV zu übertragen. 248 So Heger, ZIS 2009, 406, 414 f.

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2. Teil: Neues Eilvorlageverfahren vor dem EuGH

satz (ex-Art. 5 Abs. 3 EGV), die jede einzelne Maßnahme als „erforderlich“ erscheinen lassen müssen249. Zusammen mit Art. 4 Abs. 2 EUV – nach dem die nationale Identität der Mitgliedstaaten zu achten ist – und Art. 67 Abs. 1 AEUV – der zur Rücksicht auf die verschiedenen Rechtsordnungen und Rechtstraditionen der EU-Staaten verpflichtet  – kann man einen sogenannten strafrechtsspezifischen Schonungsgrundsatz auch250 in den Vertrag von Lissabon hineinlesen251. 4. Grundlegende Prinzipien des Europäischen Strafrechts Neben der offensichtlichen Beeinflussung der nationalen Strafrechte durch europäische Strafrechtssetzungs- oder Strafrechtsharmonisierungsakte ergeben sich weitere wichtige Europäisierungsfaktoren aus grundlegenden Prinzipien des Europarechts, die gegebenenfalls Anlass für die Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens zum EuGH geben können. a) Anwendungsvorrang des Unionsrechts So muss von den mitgliedstaatlichen Gerichten, Behörden und Gesetzgebern der Anwendungsvorrang des Unionsrechts beachtet werden252. Wird in einem Strafverfahren mithin eine Kollision zwischen unmittelbar anwendbarem Euro 249

Mansdörfer, HRRS 2010, 11, 19; Hecker, Iurratio 2009, 81, 84 f. Denn ein solcher war bereits nach der bisherigen Rechtslage weitgehend anerkannt; vgl. nur Satzger, Europäisierung, S. 166 ff. – In seiner Entscheidung zum Europäischen Haft­befehl hat auch das BVerfG den Subsidiaritätsgrundsatz betont (BVerfGE 113, 273, 299): „Die in der ‚dritten Säule‘ der Europäischen Union praktizierte Zusammenarbeit einer begrenzten gegenseitigen Anerkennung, die keine allgemeine Harmonisierung der mitgliedstaatlichen Strafrechtsordnungen vorsieht, ist gerade auch mit Blick auf den Grundsatz der Subsidiarität (Art. 23 Abs. 1 GG) ein Weg, um die nationale Identität und Staatlichkeit in einem einheitlichen europäischen Rechtsraum zu wahren.“ 251 Hecker, Iurratio 2009, 81, 85; Heger, ZIS 2009, 406, 410. – Mansdörfer, HRRS 2010, 11, 19 sieht darin nur eine Umschreibung für die aus Art. 5 EUV folgenden allgemeinen Grenzen und konkretisiert den strafrecht­lichen Schonungsgrundsatz wie folgt: „Je massiver einzelne Harmonisierungsmaßnahmen in die nationalen Strafrechtssysteme eingreifen, desto bedeut­ samer müssen sie für die Funktionsfähigkeit der Europäischen Union sein.“ 252 Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH setzt sich unmittelbar geltendes Unions-, früher Gemeinschaftsrecht uneingeschränkt gegen entgegenstehendes nationales Recht, d. h. auch gegen Verfassungsrecht, durch (vgl. nur EuGH, Urt. v. 15.7.1964 – Rs. 6/64, Slg. 1964, 1253, 1269 f. – Costa/ENEL; Urt. v. 9.3.1978 – Rs. 106/77, Slg. 1978, 629, Rn. 17 f. – Simmenthal). So führte der Gerichtshof erstmals in der Entscheidung Costa/ENEL (S.  1270) aus, „dass dem vom Vertrag geschaffenen, somit aus einer autonomen Rechtsquelle fließenden Recht […] keine wie immer gearteten innerstaatlichen Rechtsvorschriften vorgehen können, wenn ihm nicht sein Charakter als Gemeinschaftsrecht aberkannt und wenn nicht die Rechtsgrundlage der Gemeinschaft selbst in Frage gestellt werden soll.“ Der EuGH bejaht den Vorrang des primären und sekundären Unionsrechts vor dem nationalen Recht auch für das Strafrecht, vgl. etwa (noch zum Gemeinschaftsrecht) EuGH, Urt. v. 15.12.1976 – Rs. 41/76, Slg. 1976, 250

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parecht und nationalem Strafrecht festgestellt, so gilt – wie auch sonst –, dass die dem EU-Recht widersprechende Strafnorm zwar nicht ihre Gültigkeit verliert, das Gericht sie im konkreten Fall aber nicht anwenden darf. Diese sogenannte Neutralisierung mitgliedstaatlicher Strafnormen kann sowohl im materiellen Strafrecht als auch im Strafverfahrensrecht auftreten253. Die Unionsrechtswidrigkeit kann zum einen darauf beruhen, dass das einem Straftatbestand zugrunde liegende Verbot gegen EU-Recht verstößt, d. h. die Verhaltensweise vom Primärrecht, insbesondere den Grundfreiheiten, einer EU-Verordnung oder einer  – ausnahms­weise unmittelbar anwendbaren  – Richtlinien­ bestimmung erlaubt und daher rechtmäßig ist: • Zahlreiche Beispiele für eine solche Neutralisierung von Strafnormen finden sich im Lebensmittelstrafrecht254 – so darf etwa wegen der Warenverkehrs­freiheit nach Art. 34 ff. AEUV (ex-Art. 28 ff. EGV) ein Produkt, welches in einem Mitgliedstaat rechtmäßig hergestellt wurde, auch in jedem anderen EU-Staat in Verkehr gebracht werden, selbst wenn es in seiner stofflichen Zusammensetzung oder äußeren Darbietung nicht den nationalen Bestimmungen entspricht255; jede auf einen solchen Sachverhalt gestützte straf- oder bußgeldrechtliche Sanktionierung wäre unionsrechtswidrig. 1921, Rn. 38 f. – Donckerwolcke; Urt. v. 11.11.1981 – Rs. 203/80, Slg. 1981, 2595, Rn. 27 – Casati; Urt. v. 22.9.1983 – Rs. 271/82, Slg. 1983, 2727, Rn. 20 – Auer; Urt. v. 13.3.1997 – Rs. C-358/95, Slg. 1997, I-1431, Rn. 16, 18 – Tommaso Morellato. Auch der BGH ging in seinen Entscheidungen von Anfang an vom Anwendungsvorrang des Europarechts aus, vgl. besonders deutlich BGHSt 37, 168, 175. Das Bundesverfassungsgericht hingegen erkennt lediglich den uneingeschränkten Vorrang des Unionsrechts gegenüber dem einfachen deutschen Gesetzesrecht an. Bezüglich der Vereinbarkeit mit deutschem Verfassungsrecht gesteht es dem Europarecht nur einen begrenzten Vorrang zu, nämlich solange auf europäischer Ebene ein unabdingbarer Grundrechtsstandard generell gewährleistet ist (vgl. den Solange II-Beschluss, BVerfGE 73, 339, 378 ff.). – Ausführlich zum Anwendungsvorrang des Europarechts und zum Rangverhältnis zwischen Unionsrecht und deutschem Verfassungsrecht Oppermann, Europarecht, § 11 Rn. 1 ff.; Streinz, Europarecht, Rn. 190 ff. 253 Während eine Neutralisierung von nationalem Strafrecht nur bei einer echten Kollision mit (objektiv oder subjektiv) unmittelbar anwendbarem Unionsrecht möglich ist, kommt in Deutschland wegen der Bindung der rechtsanwendenden Gewalt an Recht und Gesetz (Art. 20 Abs. 3 GG) in Fällen einer nur scheinbaren Kollision nur die Berücksichtigung des nicht unmittelbar anwendbaren Europarechts im Wege der unionsrechtskonformen Auslegung in Betracht (dazu sogleich unter c) in diesem Zweiten Teil, D. I. 4.). Vgl. zur Neutralisierung von nationalen Strafvorschriften Heise, Gemeinschaftsrecht und Strafrecht, S. 12 ff.; Hecker, Europäisches Strafrecht, § 9 Rn. 10 ff.; Satzger, Europäisierung, S. 478 ff. 254 Hecker, Produktwerbung, S.  78 ff.; Dannecker und Höpfel, in: Tiedemann, Wirtschaftsstrafrecht in EU, S. 239 ff. und S. 271 ff. 255 In der Rechtsprechung wurden in strafrechtlicher Hinsicht diesbezüglich u. a. thematisiert: Essigrezepturen (EuGH, Urt. v. 26.6.1980 – Rs. 788/79, Slg. 1980, 2071 – Gilli) und Bocksbeutelflaschen (EuGH, Urt. v. 13.3.1984 – Rs. 16/83, Slg. 1984, 1299, Rn. 31 ff. – Prantl: Unanwendbarkeit der Strafvorschriften des Weingesetzes). Dieser aus dem Europarecht folgenden Rechtslage trägt im deutschen Recht Art. 54 des Lebensmittel-, Bedarfsgegenstände- und Futter­mittelgesetzbuchs Rechnung.

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2. Teil: Neues Eilvorlageverfahren vor dem EuGH

• Im Fall Sagulo stellte der EuGH fest, dass die in ex-Art. 39 EGV (nunmehr Art. 45 AEUV) gewährleistete Arbeitnehmerfreizügigkeit es verbietet, von Angehörigen der EU-Staaten den Besitz einer allgemeinen Aufenthaltserlaubnis zu verlangen; insofern schied eine Strafbarkeit nach dem deutschen Ausländer­gesetz aus256. • Unter dem Gesichtspunkt der Dienstleistungsfreiheit nach ex-Art.  49 ff. EGV (jetzt Art. 56 ff. AEUV) rückte in letzter Zeit besonders häufig die Vereinbarkeit einer Bestrafung wegen Veranstaltung einer Lotterie bzw. Sportwette über die nationalen Grenzen hinweg (im deutschen Recht §§ 284, 287 StGB) mit dem Europarecht in den Blickpunkt257. • Des Weiteren kann sich das europäische Verbraucherleitbild eines „verständigen und mündigen Verbrauchers“ bei grenzüberschreitenden Tätigkeiten auf den nationalen Täuschungsschutz insofern auswirken, als dass eine Strafbarkeit vor allem aus § 16 UWG oder § 263 StGB verneint werden muss258. • Dass die Unionsrechtswidrigkeit auch aus dem Sekundärrecht folgen kann, belegt die Rechtssache Auer259: Obwohl eine  – jedoch noch nicht umgesetzte  – Richtlinie die Anerkennung aller in der Gemeinschaft erworbenen Diplome vorsah, sollte ein Veterinärmediziner bestraft werden, der sein Diplom in einem anderen Mitgliedstaat erhalten hatte. Der Gerichtshof machte hier und später deutlich, dass das strafrechtliche Milderungsgebot nicht nur dann gilt, wenn eine für 256

EuGH, Urt. v. 14.7.1977 – Rs. 8/77, Slg. 1977, 1495, Rn. 4 ff. – Sagulo. Da die nicht-diskriminierende Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit aus zwingenden Gründen des Allgemeinwohls erlaubt ist, können nach dem EuGH sittliche, religiöse und kulturelle Besonderheiten sowie die sittlich und finanziell schädlichen Folgen für den Einzelnen und die Gesellschaft die in den nationalen Rechtsordnungen vorgesehene Strafbarkeit rechtfertigen, vgl. EuGH, Urt. v. 24.3.1994  – Rs. C-275/92, Slg.  1994, I-1039  – Schindler; Urt. v. 21.9.1999 – Rs. C-124/97, Slg. 1999, I-6067 – Markku Juhani Läärä; Urt. v. 6.11.2003 – Rs.  C-243/01, Slg.  2003, I-13031  – Gambelli; Urt. v. 6.3.2007  – Rs. C-338/04, Slg. 2007, I-1891 – Placanica; für eine Ordnungswidrigkeit jüngst auch Urt. v. 8.9.2009 – Rs. C-42/07, Slg. 2009, I-7633  – Liga Portuguesa. Das OLG München (NJW 2006, 3588 ff.) hat wegen Neutralisierung des § 284 Abs. 1 StGB durch die unionsrechtliche Dienstleistungsfreiheit bereits eine Verurteilung wegen des unerlaubten Veranstaltens einer Sportwette aufgehoben, weil das Staatsmonopol für Sportwetten nicht primär der Bekämpfung der Spielsucht – was die Beschränkung der Grundfreiheit rechtfertigen könnte – diene, sondern der finanziellen Ausstattung des Staates. – Eine Rechtfertigung der Beschränkung der Warenverkehrsfreiheit durch exArt. 30 EGV (jetzt Art. 36 AEUV) nahm der EuGH auch in der Rechtssache Thompson (EuGH, Urt. v. 23.11.1978 – Rs. 7/78, Slg. 1978, 2247) an, der ein englisches Strafverfahren wegen der unzulässigen Ausfuhr von Münzen zugrunde lag, weil der Hintergrund des Ausfuhrverbots im Schutz der öffentlichen Ordnung in Form des Münzrechts zu sehen war. 258 Vgl. etwa den Haarverdicker-Fall in BGHSt 34, 199. – Zu dem daraus resultierenden Problem der Inländerdiskriminierung – denn bei rein nationalen Sachverhalten kommt das bezogen auf eine mögliche Strafbarkeit strengere deutsche Leitbild des flüchtigen und oberfläch­ lichen Verbrauchers zum Tragen – siehe Hecker, Produktwerbung, S. 287, 306 ff. 259 EuGH, Urt. v. 22.9.1983 – Rs. 271/82, Slg. 1983, 2727 – Auer; ähnlich auch die Fälle EuGH, Urt. v. 15.12.1976 – Rs. 41/76, Slg. 1976, 1921 – Donckerwolcke; Urt. v. 5.4.1979 – Rs. 148/78, Slg. 1979, 1629 – Ratti; Urt. v. 10.7.1984 – Rs. 63/83, Slg. 1984, 2689 – Kirk. 257

D. Kritik des Eilvorlageverfahrens

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den Angeklagten günstige Richtlinie vor der Verurteilung hätte um­gesetzt werden müssen, sondern auch, wenn zur Zeit der Verurteilung die Umsetzungsfrist noch nicht abgelaufen war260. Neben dem Tatbestand kann zum anderen die Rechtsfolge unionsrechtswidrig sein, wenn sie hinsichtlich der Sanktionshöhe oder der Sanktionsart nicht mit dem EU-Recht zu vereinbaren ist261. Die Sanktionshöhe kann insbesondere gegen das Diskriminierungsverbot oder den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verstoßen: • Das Verhältnismäßigkeitsprinzip war im Fall Skanavi berührt262 – obwohl eine Griechin lediglich vergessen hatte, ihren griechischen Führerschein in einen deutschen umschreiben zu lassen, wurde sie aufgrund von § 21 Abs.  1 Nr.  1 StVG angeklagt und damit die Verletzung der bloß verwaltungstechnisch er­ forderlichen Umtauschverpflichtung dem Führen eines Kraftfahrzeugs ohne Fahrerlaubnis europarechtswidrig gleichgestellt. • Eine ähnliche Konstellation ist in der Rechtssache Kraus263 aufgetreten: Falls jemand einen im EU-Ausland erworbenen akademischen Titel auch im Inland trägt, ohne das nationale Genehmigungsverfahren durchlaufen zu haben, muss die Sanktionshöhe als gerechtfertigte Beschränkung der Niederlassungsfreiheit diskriminierungsfrei und verhältnismäßig sein. Die Art der Sanktion kann gegen Europarecht verstoßen, wenn sie ihrer Natur nach eine Beschränkung der Grundfreiheiten darstellt. Verständlicherweise bedeutet dies jedoch nicht, dass gegenüber einem Unionsbürger nie eine Freiheitsstrafe – die immerhin die Ausübung der Grundfreiheiten unmöglich macht – verhängt werden darf. Zu fordern ist vielmehr, dass die Beschränkung der Grundfreiheit nicht nur eine notwendige und regelmäßige Begleiterscheinung der verhängten Sanktion, sondern dessen primäres Ziel darstellt264: • Mit dem Unionsrecht kompatibel muss insofern die Verhängung eines Berufsverbots gemäß § 70 StGB sein, weil es gezielt in die Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit des Betroffenen eingreift265. 260

EuGH, Urt. v. 29.10.1998 – Rs. C-230/97, Slg. 1998, I-6781 – Awoyemi; Urt. v. 1.6.1999 – Rs. C-319/97, Slg. 1999, I-3143  – Kortas; Urt. v. 23.11.1999  – Rs. C-369/96, Slg. 1999, I-8453 – Arblade und Leloup; eingehend dazu Dannecker, Jura 2006, 173, 174. 261 Vgl. ausführlich dazu Satzger, Int. und Eur. Strafrecht, § 9 Rn. 17 ff. 262 EuGH, Urt. v. 29.2.1996 – Rs. C-193/94, Slg. 1996, I-929 – Skanavi. 263 EuGH, Urt. v. 31.3.1993 – Rs. C-19/92, Slg. 1993, I-1663 – Kraus; vgl. auch hinsichtlich der Errichtung einer Anwaltskanzlei im EU-Ausland EuGH, Urt. v. 30.11.1995 – Rs. C-55/94, Slg. 1995, I-4165 – Gebhard. 264 So EuGH, Urt. v. 29.5.1997 – Rs. C-299/95, Slg. 1997, I-2629, Rn. 16 – Kremzow: „Zwar ist jeder Freiheitsentzug geeignet, die Ausübung des Rechts des Betroffenen auf Freizügigkeit zu behindern, doch ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofes, dass die rein hypo­ thetische Aussicht auf die Ausübung dieses Rechts keinen Bezug zum Gemeinschaftsrecht herstellt, der eng genug wäre, um die Anwendung der Gemeinschaftsbestimmungen zu recht­ fertigen […].“ 265 Satzger, Int. und Eur. Strafrecht, § 9 Rn. 23.

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2. Teil: Neues Eilvorlageverfahren vor dem EuGH

• Der europarechtlichen Kontrolle unterliegt auch eine Ausweisung, wenn sie nach dem nationalen Recht  – anders als in Deutschland  – als strafrechtliche Sanktion ausgestaltet ist. Unter Hinweis auf die passive Dienstleistungs­freiheit, die ebenfalls von Art.  56 AEUV (ex-Art. 49 EGV) geschützt wird, hat der EuGH deshalb beispielsweise die Ausweisung auf Lebenszeit einer italienischen Staatsangehörigen aus Griechenland als europarechtswidrig verurteilt, weil in dem konkreten Fall das persönliche Verhalten der Angeklagten gerade keine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung im Sinne der Rechtfertigungsnorm des Art. 62 AEUV (ex-Art. 55 EGV) hervorrief266. Schließlich kann der Vorrang des Unionsrechts außer im materiellen Strafrecht auch im Strafverfahren zur Anwendung kommen: • Die mitgliedstaatlichen Gerichte und Strafverfolgungsbehörden haben deshalb darauf zu achten, dass sie nicht nach einer strafprozessualen Regelung verfahren, die zu einer Beeinträchtigung einer unionsrechtlich begründeten Rechts­position führt: So dürfen wegen des Diskriminierungsverbots aus Art. 18 AEUV ­(ex-Art. 12 EGV) in einem Strafprozess EU-Ausländer nicht ohne sachlichen Grund allein wegen ihrer Staatsangehörigkeit anders behandelt werden als Inländer267. Außerdem kann der Verstoß gegen eine unmittelbar anwendbare Richtlinienbestimmung ein europarechtliches Beweisverwertungsverbot nach sich ziehen268. • Auch bei der Ausgestaltung der Strafverfolgung müssen sich die Mitgliedstaaten an unionsrechtlichen Vorgaben orientieren. Zur Durchsetzung der Grundfreiheiten haben die EU-Staaten „ausreichende und geeignete Maßnahmen“ zu ergreifen, wobei im Einzelfall selbst die Einleitung eines Strafverfahrens europarechtlich geboten sein kann269. 266

EuGH, Urt. v. 19.1.1999 – Rs. C-348/96, Slg. 1999, I-11, Rn. 22 ff. – Donatella Calfa. In einem Vorabentscheidungsverfahren (EuGH, Urt. v. 24.11.1998  – Rs. C-274/96, Slg. 1998, I-7637 – Bickel und Franz) entschied der EuGH deshalb, dass die italienische Verfahrensregelung, der deutschsprachigen Bevölkerung in Bozen das Recht auf eine Gerichts­ verhandlung in deutscher Sprache zu gewähren, auch auf deutsche und österreichische Staatsangehörige anzuwenden sei. 268 EuGH, Urt. v. 10.4.2003 – Rs. C-276/01, Slg. 2003, I-3735 – Steffensen. – In der Rechtssache Johannes Martinus Lemmens (EuGH, Urt. v. 16.6.1998  – Rs. C-226/97, Slg. 1998, I-3711) war der Gerichtshof ebenfalls mit der Frage befasst, ob der von einem Alkoholmeter – welcher nicht entsprechend der Mitteilungspflicht in der Richtlinie 83/189/EWG an die Kommission gemeldet wurde – ermittelte Befund in einem nationalen Strafverfahren verwertet werden durfte. Der EuGH entschied, dass das Vorrangprinzip nicht uneingeschränkt gilt, sondern sich dessen Reichweite nach dem Schutzzweck der einschlägigen Europarechtsnormen richtet. Da die Richtlinie lediglich Handelsbeschränkungen zwischen den Mitgliedstaaten verhindern wollte, die durch ein nationales Strafverfahren nicht tangiert werden, durfte das Beweismittel verwertet werden. 269 So waren in dem Urteil des EuGH v. 9.12.1997 (Rs. C-265/95, Slg. 1997, I-6959, Rn. 39, 50 f. – Kommission/Frankreich) französische Behörden nur unzureichend gegen die Behinderung von Agrarimporten durch französische Demonstranten eingeschritten und verstießen deshalb gegen die Warenverkehrsfreiheit aus Art. 34 AEUV (ex-Art. 28 EGV). 267

D. Kritik des Eilvorlageverfahrens

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• Infolge des Vorrangprinzips ist in deutscher strafverfahrensrechtlicher Hinsicht zudem eine Divergenzvorlage gemäß § 121 Abs. 2 GVG an den BGH ent­ behrlich, wenn ein Oberlandesgericht eine europarechtliche Norm in gleicher Weise auslegen will wie der EuGH, dabei aber von der Rechtsprechung eines anderen Oberlandesgerichts abweichen muss270. Dies gilt sogar dann, wenn der EuGH über die streitige Auslegungsfrage noch nicht entschieden hat, denn das aus Art. 267 AEUV (ex-Art. 234 EGV) folgende Recht – bzw. unter Umständen sogar die Pflicht – eines nationalen Gerichts, den Europäischen Gerichtshof anzurufen, darf nicht durch eine innerstaatliche Vorschrift behindert werden, die das mitgliedstaatliche Gericht an die rechtliche Beurteilung eines übergeordneten nationalen Gerichts bindet271. b) Assimilierungsprinzip Aufgrund des vielfachen Auseinanderfallens von sachlich-rechtlicher Regelungskompetenz der Europäischen Union einerseits und kriminalstrafrechtlicher Ahndungskompetenz der Mitgliedstaaten andererseits272 ist die Europäische Union darauf angewiesen, dass die EU-Staaten ihren strafrechtlichen Schutz auf strafwürdige und strafbedürftige Angriffe gegen Unionsinteressen erstrecken und somit zur Durchsetzung europarechtlicher Ge- und Verbote beitragen273. Diese Einbeziehung unionsrechtlicher Schutzgüter in den Anwendungsbereich nationaler Straftatbestände bezeichnet man als Assimilierung274. Vereinzelt existieren primär- und sekundärrechtliche Regelungen, die den Schutzbereich der nationalen Strafrechtsordnungen unmittelbar ausdehnen, indem sie auf nationale Strafgesetze verweisen275. Aufgrund von Verweisungen im primären Unionsrecht sind Eidesverletzungen, die vor dem EuGH oder dem EuG begangen werden (Art. 30 der Satzung des EuGH), sowie der Geheimnisverrat der Be 270

Erstmals BGHSt 33, 76, 79. BGHSt 36, 92, 96. 272 Wenngleich Art. 83 Abs. 2 AEUV nunmehr ausdrücklich die Annexzuständigkeit zur Angleichung des Strafrechts in bereits harmonisierten Politikbereichen anerkennt, schränkt die Voraussetzung der „Unerlässlichkeit“ einer Tätigkeit der Union den Anwendungsbereich der Norm ein; vgl. dazu oben in diesem Zweiten Teil, D. I. unter 3. b). Für die auch nach dem Vertrag von Lissabon bestehen bleibende Bedeutung des Assimilierungsprinzips ebenfalls Hecker, Iurratio 2009, 81, 83. 273 Eine Schutzverpflichtung der Mitgliedstaaten bezüglich der berechtigten Interessen der Union lässt sich mit dem allgemeinen Loyalitätsgebot des Art. 4 Abs. 3 EUV (ex-Art. 10 EGV und speziell für Betrügereien zulasten des früheren EG-Haushalts mit ex-Art. 280 Abs. 2 EGV) begründen, vgl. Hecker, Europäisches Strafrecht, § 7 Rn. 2 ff. 274 Sie wird von Satzger, Int. und Eur. Strafrecht, § 9 Rn. 55, als „deutlichste Form der Europäisierung des Strafrechts“ bezeichnet. 275 Die dogmatische Frage, ob dadurch genuines europarechtliches Strafrecht geschaffen wird, kann hier dahingestellt bleiben. Siehe zu der Diskussion Satzger, Europäisierung, S. 192 ff.; Böse, Strafen und Sanktionen, S. 107 ff. 271

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2. Teil: Neues Eilvorlageverfahren vor dem EuGH

diensteten der Atomüberwachungsbehörde (Art. 194 Abs. 1 S. 2 EAGV) nach den entsprechenden innerstaatlichen Vorschriften strafbar276. Eine Assimilierung durch supranationale Verweisungen findet auch durch mehrere ohne weiteren nationalen Umsetzungsakt geltende Verordnungen statt, die für die Verletzung unionsrechtlicher Normen das inhaltlich entsprechende mitgliedstaatliche Strafrecht für anwendbar erklären277. Das Assimilierungsprinzip liegt umgekehrt auch den nationalen Strafnormen zugrunde, die den Anwendungsbereich der innerstaatlichen Straftatbestände auf unionsrechtliche Rechtsgüter ausweiten oder europarechtliche Verbotsnormen durch Strafgesetze in Bezug nehmen. In einigen deutschen Straftatbeständen hat der Gesetzgeber sogenannte Gleichstellungsklauseln eingefügt, mit denen unionsrechtliche, d. h. ausländische Rechtsgüter den deutschen Rechtsgütern gleichgestellt werden: • § 108d StGB erstreckt den Schutz der Unverfälschtheit von Wahlen in §§ 107– 108c StGB auch auf Wahlen zum Europäischen Parlament. • Gemäß § 108e StGB macht es für die Strafbarkeit keinen Unterschied, ob Ab­ geordnete nationaler Volksvertretungen oder Abgeordnete des Europäischen Parlaments bestochen werden. • Weil die Abschöpfungen und Zölle des Gemeinsamen Zolltarifs in § 3 Abs. 1, Abs. 3 AO und § 12 Abs. 1 S. 1 des Gesetzes zur Durchführung der gemeinsamen Marktorganisationen und der Direktzahlungen den deutschen Steuern gleichgestellt werden, ist deren Hinterziehung genauso nach § 370 AO strafbar. • Der Subventionsbetrugstatbestand des § 264 Abs. 7 S. 1 Nr. 2 StGB, der unter Subventionen explizit auch Leistungen aus öffentlichen Mitteln nach dem Recht der Europäischen Union versteht, schützt das Finanzaufkommen der EU. 276 Hecker, Europäisches Strafrecht, § 7 Rn.  7 ff.  – Dass Falschaussagen vor dem Euro­ päischen Gerichtshof ebenso zu bestrafen sind wie Falschaussagen vor deutschen Gerichten, hat der Gesetzgeber neuerdings in § 162 Abs. 1 StGB klargestellt. 277 So geschehen etwa in Art. 10 Abs. 4 VO (EG) Nr. 1681/94 (ABl.EG 1994 Nr. L 178, S. 43), der den inner­staatlichen Schutz für Berufsgeheimnisse aktiviert und in Art. 10 Abs. 2 VO (EG) Nr. 881/2002 (ABl.EG 2002 Nr. L 139, S. 9), wo der strafrechtliche Schutz von Wirtschaftsembargen in § 34 Abs. 4 Außenwirtschaftsgesetz für anwendbar erklärt wird. Zu den verfassungsrechtlichen Problemen der letzteren Regelung siehe Dannecker, Jura 2006, 95, 100. Weitere Beispiele bei Böse, Strafen und Sanktionen, S. 113 ff. – Von der Praxis, im Wege von Assimilierungsverordnungen unmittelbar auf das mitgliedstaatliche Strafrecht einzuwirken, hatte die EG allerdings bereits einige Zeit vor Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon Abstand genommen, so dass sich die Bedenken hinsichtlich der Zulässigkeit dieses Vorgehens, die sich aus der fehlenden Rechtssetzungskompetenz der Gemeinschaft ergaben, zumindest praktisch erledigt hatten. Satzger, Europäisierung, S. 208 f. entnimmt den noch bestehenden Assimilierungsverordnungen lediglich eine Pflicht der Mitgliedstaaten, ihren nationalen Strafrechtsschutz auszudehnen. Nach dem Vertrag von Lissabon ist für Harmonisierungsmaßnahmen lediglich das Handlungsinstrument der Richtlinie erlaubt; lediglich im Bereich der originären Strafrechtssetzungskompetenz in Art. 325 Abs. 4 AEUV kann die Union nunmehr Verordnungen erlassen.

D. Kritik des Eilvorlageverfahrens

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• § 299 Abs. 3 StGB schließlich dehnt den Anwendungsbereich der Bestechungsdelikte im geschäftlichen Verkehr auf den ausländischen, d. h. auch den europäischen Wettbewerb aus, um die grenzüberschreitende Korruption einzudämmen. Die Gleichstellung für den Bereich der Bestechlichkeit und Bestechung von Amtsträgern (§§ 332, 334–336, 338 StGB) wird durch Art. 2 § 1 Abs. 1 des Gesetzes zum Übereinkommen über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften bewirkt. Wo unionsrechtliche Ge- oder Verbote strafrechtlich bewehrt werden sollen, behilft sich der deutsche Gesetzgeber regelmäßig mit dem Erlass europarechts­ akzessorischen Blankett­strafrechts278. Der vollständige Straftatbestand ergibt sich bei Blankettnormen erst durch das Zusammenlesen mit der in Bezug genommenen außer­strafrechtlichen Ausfüllungsnorm, infolgedessen der Rechtsanwender auch die unionsrechtlichen Auslegungsgrundsätze und die einschlägige Rechtsprechung des EuGH zu berücksichtigen hat279. Blankettstrafgesetze gibt es in zwei Formen  – einer sogenannten statischen Verweisung, die Bezug auf bereits bestehende Normen in einer bestimmten Fassung nimmt, und einer sogenannten dynamischen Verweisung, bei der auf eine EU-Verordnung in der jeweils gültigen Fassung verwiesen wird. Während statische Verweisungen Gefahr laufen, im Falle einer Änderung der blankettausfüllenden Verordnung wegen des lex mitior-Grundsatzes in § 2 Abs. 3 StGB zu Strafbarkeitslücken zu führen, begegnen dynamische Verweisungen vor dem Hintergrund vor allem des Gebots der Normenklarheit als Bestandteil des Bestimmtheitsgebots verfassungsrechtlichen Bedenken280. Nichtsdestotrotz sind zahlreiche Blankettstrafgesetze im Lebensmittel- und Weinstrafrecht (insbesondere §§ 58–62 LFGB, §§ 48–51 WeinG), im Steuer- und Zollstrafrecht (§ 370 Abs.  6 AO), im Außenwirtschaftsstrafrecht (§ 34 Abs.  4 AWG), im Naturschutzstrafrecht (§§ 69, 71, 72 BNatSchG), im Arzneimittelstrafrecht (§§ 95 Abs.  1 Nr.  11, 96 Nr.  20, 97 Abs.  2 Nr.  31–36 AMG) und im Markenstrafrecht (§§ 143a, 144 Abs. 2 MarkenG) enthalten281. Eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Ausweitung ihres nationalen Strafrechts bei Verstößen gegen Unionsrecht kann sich auch aus dem Grundsatz der 278

Das Erfordernis für diese Gesetzgebungstechnik ergibt sich daraus, dass die Wiederholung einer Verhaltensvorschrift aus einer unmittelbar anwendbaren Verordnung (Art.  288 Abs. 2 AEUV, ex-Art. 249 Abs. 2 EGV) im nationalen Recht überflüssig und sogar europarechtlich unzulässig ist, so dass dem mitgliedstaatlichen Gesetzgeber nichts anderes übrig bleibt, als unmittelbar auf die europäische Verordnung Bezug zu nehmen, vgl. Satzger, Int. und Eur. Strafrecht, § 9 Rn. 57. – Soweit die Verhaltensvorschrift in einer Richtlinie (Art. 288 Abs. 3 AEUV, ex-Art. 249 Abs. 3 EGV) enthalten ist, erübrigt sich das Problem insofern, als dass die Richtlinie ohnehin zunächst in innerstaatliches Recht umgesetzt werden muss. 279 Hecker, Europäisches Strafrecht, § 7 Rn. 76 ff. 280 Ausführlich zu dem Problemkreis Moll, Blankettstrafgesetzgebung, S. 63 ff.; Satzger, Int. und Eur. Strafrecht, § 9 Rn. 58 ff.; Hecker, Europäisches Strafrecht, § 7 Rn. 79 ff. 281 Zu diesen und weiteren Beispielen siehe Moll, Blankettstrafgesetzgebung, S. 49 ff.; Satzger, Europäisierung, S.  589 ff.; Hecker, Europäisches Strafrecht, § 7 Rn.  83 ff.; Dannecker, BGH-FG IV, S. 339, 371 ff.

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2. Teil: Neues Eilvorlageverfahren vor dem EuGH

Unionstreue aus Art. 4 Abs. 3 EUV (ex-Art. 10 EGV) ergeben282. Das Loyalitätsgebot fordert nach der Rechtsprechung des EuGH im Fall Griechischer Mais283 zweierlei: Zum einen müssen die Mitgliedstaaten für die Durchsetzung des Euro­ parechts sorgen, indem sie Verletzungen von EU-Recht oder Unionsrechtsgütern durch die Androhung von wirksamen, verhältnismäßigen und abschreckenden Sanktionen vorbeugen (sogenannte Mindesttrias). Falls im innerstaatlichen Recht Sanktionen für nach Art und Schwere vergleichbare Zuwiderhandlungen vorge­ sehen sind, müssen von den Mitgliedstaaten zum anderen Verstöße gegen Unionsrecht nach ähnlichen sachlichen und verfahrensrechtlichen Regeln verfolgt werden wie Verstöße gegen nationales Recht (sogenanntes Gleichstellungserfordernis). Damit steckt der EuGH den europarechtlichen Rahmen für Strafgesetze im Dienst des Unionsrechts wie folgt ab: Das Gleichstellungserfordernis und die Mindesttrias bilden die Untergrenze für Sanktionierungspflichten, die Obergrenze ergibt sich aus den Grundfreiheiten und allgemeinen Rechtsgrundsätzen wie dem Verhältnismäßigkeitsprinzip und dem Diskriminierungsverbot284. Als Gegenstand der strafrechtlichen Schutzverpflichtung kam nach bisherigem Recht vor allem der EG-Finanzhaushalt in Betracht, wie sich an der speziellen Ausprägung des Effi­ zienz- und Gleichstellungsgebots in ex-Art. 280 EGV ablesen ließ. Nunmehr lässt sich das Loyalitätsgebot bezüglich aller Rechtsgüter und rechtlich geschützter Interessen der Europäischen Union geltend machen, die für die Existenz und Funktionsfähigkeit der Union und für die Durchsetzung ihrer Politiken von Bedeutung sind285. In diesem Sinne schutzbedürftig und schutzwürdig sind vor allem die Unbestechlichkeit der EU-Beamten, die Wahrung von Dienstgeheimnissen, die Integrität der europäischen Rechtspflege, die Realisierung der Grundfreiheiten und Gemeinschaftspolitiken z. B. auf den Gebieten der Marktorganisation, des Wett­ bewerbs, des Verbraucherschutzes und des Umweltschutzes286.

282 Satzger, Europäisierung, S. 330 ff.; Hecker, Europäisches Strafrecht, § 7 Rn. 24 ff.; Pradel/ Corstens/Ver­meulen, Droit pénal européen, S. 681 ff. 283 EuGH, Urt. v. 21.9.1989 – Rs. 68/88, Slg. 1989, 2965 – Kommission/Griechische Republik. Diese Rechtsprechung wurde immer wieder bestätigt, vgl. nur EuGH, Urt. v. 2.10.1991 – Rs.  C-7/90, Slg. 1991, I-4371  – Vandevenne; Urt. v. 9.12.1997  – Rs. C-265/95, Slg. 1997, I-6959  – Kommission/Frankreich; Urt. v. 12.6.2003  – Rs. C-112/00, Slg. 2003, I-5659  – Schmidberger. 284 Dazu Hecker, Europäisches Strafrecht, § 7 Rn. 41 ff.; Pradel/Corstens/Vermeulen, Droit pénal européen, S.  685 ff.; Heise, Gemeinschaftsrecht und Strafrecht, S.  19 ff.  – Der so ab­ gesteckte Rahmen belässt den Mitgliedstaaten einen relativ breiten Ermessensspielraum, so dass es ihnen z. B. frei steht, eine Strafbarkeit juristischer Personen oder eine verschuldens­ unabhängige strafrechtliche Verantwortlichkeit einzuführen oder nicht. Dem Assimilierungserfordernis kann unter Umständen bereits durch eine unionsrechtskonforme Auslegung nationaler Sanktionsnormen Genüge getan werden, sofern deren Voraussetzungen vorliegen (dazu sogleich unter c) in diesem Zweiten Teil, D. I. 4.). 285 So Satzger, Europäisierung, S. 348. 286 Vgl. die Aufzählung bei Hecker, Europäisches Strafrecht, § 7 Rn. 105.

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c) Unionsrechtskonforme Auslegung Die unmittelbare Durchgriffswirkung des Europarechts auf das nationale Strafrecht zeigt sich neben dem Anwendungsvorrang in der Pflicht der Träger öffent­ licher Gewalt in den Mitgliedstaaten (also auch der Gerichte, Staatsanwaltschaften, Verwaltungsbehörden) zur unionsrechtskonformen  – insbesondere richtlinien­ konformen  – Auslegung. Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH resultierte bereits aus der Gemeinschaftstreuepflicht des ex-Art. 10 EGV – und für die der Trans­formation von Richtlinien dienenden Vorschriften aus der Umsetzungsverpflichtung in ex-Art. 249 Abs. 3 EGV – der Grundsatz, dass das nationale Recht in Übereinstimmung mit dem gesamten Gemeinschaftsrecht auszulegen und im Lichte des Europarechts fortzubilden war287. Dies gilt jetzt mit der Loyalitätsverpflichtung in Art. 4 Abs. 3 EUV und Art. 288 Abs. 3 AEUV für das gesamte Unions­recht. Unter mehreren denkbaren Auslegungsvarianten für eine nationale Strafnorm ist deshalb stets diejenige zu wählen, welche dem Unionsrecht am besten gerecht wird. Da so eine Kollision mit dem EU-Recht und damit eine Neutralisierung des nationalen Rechts vermieden wird, trägt die Anpassung der innerstaatlichen Rechtsanwendung an die Wertungsvorgaben des Europarechts im Wege der unionsrechts- und richtlinienkonformen Auslegung auch zur Schonung der nationalen Rechtsordnungen bei288. Voraussetzung für eine unionsrechtskonforme Auslegung im Strafrecht ist jedoch, dass einerseits die verfassungsrechtlich gesetzten Auslegungsgrenzen nicht überschritten werden, d. h. die aus dem Gesetzlichkeitsprinzip (Art. 103 Abs. 2 GG, § 1 StGB) folgende Wortlautgrenze beachtet wird, und dass andererseits die europarechtlichen Grenzen der allgemeinen Rechtsgrundsätze, insbesondere der Grundsatz der Rechtssicherheit und das Rückwirkungsverbot, gewahrt bleiben289. Die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung als wichtigster Unterfall der unionsrechtskonformen Auslegung beginnt – falls zur Umsetzung der Richtlinie nationale Transformationsvorschriften erlassen wurden  – mit dem Inkrafttreten dieser Bestimmungen; bei Fehlen solcher Transformationsgesetzgebung setzt sie jedenfalls mit dem Ablauf der Umsetzungsfrist ein290. Vor Ablauf der Umsetzungs 287 So die Leitentscheidungen EuGH, Urt. v. 10.4.1984 – Rs. 14/83, Slg. 1984, 1891, Rn. 26 – von Colson und Kamann; Urt. v. 10.4.1984 – Rs. 79/83, Slg. 1984, 1921, Rn. 28 – Harz; Urt. v. 13.11.1990 – Rs. C-106/89, Slg. 1990, I-4135, Rn. 8 – Marleasing; vgl. explizit für das Strafrecht erstmals EuGH, Urt. v. 8.10.1987 – Rs. 80/86, Slg. 1987, 3969, Rn. 12 f. – Kolpinghuis Nijmegen. – Ausführlich dazu Satzger, Europäisierung, S. 518 ff.; Heise, Gemeinschaftsrecht und Strafrecht, S. 80 ff.; Schröder, Europäische Richtlinien, S. 321 ff.; Jokisch, Gemeinschaftsrecht und Strafverfahren, S. 47 ff., 89 ff.; Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 291 ff. 288 Satzger, Int. und Eur. Strafrecht, § 9 Rn. 108. 289 EuGH, Urt. v. 8.10.1987 – Rs. 80/86, Slg. 1987, 3969, Rn. 12 f. – Kolpinghuis Nijmegen; siehe dazu auch Hecker, Europäisches Strafrecht, § 10 Rn. 33 ff. 290 Hecker, Europäisches Strafrecht, § 10 Rn. 28 ff.; Satzger, Europäisierung, S. 559 f. – Die richtlinienkonforme Auslegung bei vorhandenem Transformationsgesetz ergibt sich bereits aus dem nationalen Auslegungskanon: Da davon auszugehen ist, dass der Gesetzgeber die Richt­

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2. Teil: Neues Eilvorlageverfahren vor dem EuGH

frist besteht nach überwiegender Ansicht keine Pflicht zur Berücksichtigung einer noch nicht transformierten Richtlinie, sondern lediglich ein Recht zur Interpretation pro communitate, sofern die nationale Dogmatik dies zulässt und das Gestaltungsermessen des Gesetzgebers dadurch nicht eingeschränkt wird291. In Strafsachen ist der EuGH grundsätzlich sehr zurückhaltend mit dem Prinzip der unionsrechtskonformen Auslegung: Weder kann aus ihm eine die Straf­ barkeit des Unionsbürgers begründende Wirkung einer nicht fristgemäß umgesetzten Richtlinie abgeleitet292, noch dürfen unbestimmte nationale Strafgesetze durch Richtlinien konkretisiert bzw. unbestimmte Richtlinien zur Auslegung herange­ zogen werden293. Allerdings kann die unionsrechtskonforme Auslegung – sofern sie sich innerhalb des nach nationaler Dogmatik zulässigen Interpretationsspielraums bewegt – unter Umständen auch zu einer Strafbarkeitserweiterung führen, weil ein Beschuldigter nicht darauf vertrauen kann, dass eine frühere günstigere Auslegungspraxis weiterhin bestehen bleibt294. Der BGH hat implizit die ehemals gemeinschafts-, jetzt unionsrechtskonforme Auslegung erstmals in seinem „Pyrolyse“-Urteil in den Kanon der strafrechts­ relevanten Interpretationsmethoden aufgenommen, als es um die Auslegung des Tatbestandsmerkmals „Abfall“ in § 326 Abs. 1 StGB ging295. Neben den Umweltdelikten (§§ 324a Abs. 1, 325 Abs. 1 und 2, 325a Abs. 1 und 2 StGB) kann die unionsrechtskonforme Auslegung beispielsweise bei der Amtsanmaßung (§ 132 StGB), beim Verwahrungsbruch (§ 133 StGB) und Siegelbruch (§ 136 Abs.  2 StGB), beim Vorenthalten von Sozialbeiträgen (§ 266a Abs.  1 StGB)296, bei den Aussagedelikten (§§ 153 ff. StGB), den Urkundsdelikten (§§ 267, 271, 274, 348 StGB), im Rahmen der Feststellung der Sorgfaltspflichtverletzung bei den Fahrlässigkeitsdelikten und schließlich für die Bestimmung der Schuld im Sinne des § 46 Abs. 1 StGB bei der Strafzumessung zur Anwendung kommen297. linie korrekt umsetzen wollte, ist bereits im Rahmen der historischen und teleologischen Interpretation auf die Richtlinie zurückzugreifen. 291 Zur Diskussion siehe Hecker, Europäisches Strafrecht, § 10 Rn. 29 ff. m. w. N. 292 EuGH, Urt. v. 8.10.1987 – Rs. 80/86, Slg. 1987, 3969, Rn. 9 – Kolpinghuis Nijmegen; Urt. v. 26.9.1996 – Rs. C-168/95, Slg. 1996, I-4705, Rn. 36 f. – Arcaro; Urt. v. 12.12.1996 – Rs. C-74/95, Slg. 1996, I-6609, Rn. 23 – Telecom Italia. 293 EuGH, Urt. v. 12.12.1996 – Rs. C-74/95, Slg. 1996, I-6609, Rn. 24 ff. – Telecom Italia. 294 Bereits das Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 18, 224, 240; siehe auch BGHSt 41, 101, 111) hat entschieden, dass eine für den Angeklagten ungünstige Rechtsprechungsänderung nicht dem verfassungsrechtlichen Rückwirkungsverbot unterfällt. Die Rechtsprechungsänderung kann zugunsten des Angeklagten ausreichend bei der Prüfung eines Verbotsirrtums gemäß § 17 StGB berücksichtigt werden. So auch auf das europäische Recht bezogen die h. L., vgl. nur Satzger, Europäisierung, S. 555 ff.; Heise, Gemeinschaftsrecht und Strafrecht, S. 116 ff. 295 BGHSt 37, 333, 336; ausführlich dazu Heger, Europäisierung des Umweltstrafrechts, S. 38 ff. 296 Dazu BGHSt 51, 124. 297 Ausführlich und mit weiteren Beispielen Heise, Gemeinschaftsrecht und Strafrecht, S. 167 ff.; Hecker, Europäisches Strafrecht, § 10 Rn. 63 ff.; Satzger, Europäisierung, S. 571 ff.; Schröder, Europäische Richtlinien, S. 410 ff.

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5. Konsequenzen für den Anwendungsbereich des Eilvorlageverfahrens Wenngleich die Strafrechtsangleichung im Bereich der justiziellen und polizeilichen Zusammenarbeit in Strafsachen (Art. 82 bis 89 AEUV, der bisherigen dritten Säule der Europäischen Union) am deutlichsten geregelt ist, hat der Überblick über die weiteren Europäisierungsfaktoren gezeigt, dass auch andere Bestimmungen des AEUV (bzw. ehemals des EG-Vertrags, wie zuletzt die EuGH-Urteile zum Umweltstrafrecht- und Meeresverschmutzung-Rahmenbeschluss deutlich machten) und unionsrechtliche Sekundärrechtsakte wie Richtlinien und Verordnungen einen nicht zu unterschätzenden Anteil an der Europäisierung des nationalen Strafrechts haben. Stellen sich nun in einem nationalen Strafverfahren Auslegungsoder Gültigkeitsfragen bezüglich des nicht den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts betreffenden Unionsrechts, so kommt die Durchführung eines Eilvorlageverfahrens nach Art.  104b VerfOEuGH mangels Anwendbarkeit ratione materiae nicht in Frage, mag sich der Angeklagte nun in Untersuchungshaft be­ finden oder die Entscheidung wegen der drohenden Verletzung des Beschleunigungsgebots sonst außergewöhnlich dringlich sein. Selbstverständlich gibt es Vorlagen, die von ihrer Thematik her in den An­ wendungsbereich des Eilvorlageverfahrens fallen. Von deutschen Strafgerichten wurden von Mai 1999 (d. h. seit Inkrafttreten des Vertrags von Amsterdam) bis April 2011 beispielsweise folgende Vorabentscheidungsersuchen vorgelegt298: • Das Oberlandesgericht Köln, der fünfte Strafsenat des Bundesgerichtshofs und das Landgericht Regensburg sahen sich vor der eigentlichen Beurteilung der Strafbarkeit ihrer Angeklagten vor die Frage gestellt, ob der europaweite Ne bis in idem-Grundsatz aus Art. 50 GRCh bzw. Art. 54 SDÜ ein Verfahrenshindernis darstellt299. 298 Resultat einer Suche unter mit den Stichwörtern „Strafverfahren“, „Deutschland“ und der Begrenzung des Zeitraums auf Urteile seit dem 1.5.1999. – Da auch die Auslieferung teilweise Züge des Strafrechts trägt – zum einen werden Maßnahmen wie die Auslieferungshaft verhängt, über die die Strafrechtsbehörden nach strafrechtlichen Grundsätzen entscheiden, zum anderen dient die Auslieferung der Durch­ führung eines Strafverfahrens in einem anderen Land  – soll hier der Vollständigkeit halber noch die Vorlage des OLG Stuttgart erwähnt werden, welches in einem Auslieferungsverfahren die Frage zu beantworten hatte, wie „Wohnsitz“ und „Aufenthalt“ im Sinne des Rahmen­ beschlusses zum Europäischen Haftbefehl zu bestimmen sind, vgl. EuGH, Urt. v. 17.7.2008 – Rs. C-66/08, Slg. 2008, I-6041 – Kozłowski. Ebenfalls mit Auslegungsfragen anlässlich einer Überstellung aufgrund eines Europäischen Haftbefehls befasste sich die Vorlage des OLG Stuttgart in der Rechtssache Mantello (EuGH, Urt. v. 16.11.2010 – Rs. C-261/09), vgl. dazu bereits in diesem Zweiten Teil unter C. XI. 299 EuGH, Urt. v. 11.2.2003  – Rs. C-187/01, Slg. 2003, I-1345  – Gözütok (Vorlage des OLG Köln); Urt. v. 18.7.2007  – Rs. C-288/05, Slg. 2007, I-6441  – Kretzinger (Vorlage des BGH); Urt. v. 11.12.2008  – Rs. C-297/07, Slg. 2008, I-9425  – Bourquain (Vorlage des LG Regensburg). – Der Schengen-Besitzstand wurde durch das Schengen-Protokoll zum Vertrag von Amsterdam in die Europäische Union einbezogen und teilweise in ex-Titel IV des EG-

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2. Teil: Neues Eilvorlageverfahren vor dem EuGH

• Während sich die genannten Entscheidungen auf Auslegungsfragen zum Strafverfahrensrecht bezogen, legte das Oberlandesgericht Karlsruhe eine Frage zu einer Entscheidung aus dem Bereich Visa, Asyl, Einwanderung (ex-Art. 61 ff. EGV) vor, um zu beurteilen, ob sich ein Drittstaatsangehöriger, der im Besitz einer schweizerischen Aufenthaltserlaubnis war, wegen unerlaubter Einreise und unerlaubten Aufenthalts in Deutschland gemäß § 95 Abs. 1 Nr. 3 und Abs. 2 des Aufenthaltsgesetzes strafbar gemacht hat, weil er ohne Visum eingereist war300. Allerdings beziehen sich die Mehrzahl der in Strafverfahren aufgetauchten europarecht­lichen Auslegungs- oder Gültigkeitsfragen gerade nicht auf den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (Art. 67 ff. AEUV bzw. ex-Art. 29 ff. EUV, 61 ff. EGV). Angesichts der Tatsache, dass die Rechtsprechungskompetenz des EuGH für den Bereich Justiz und Inneres bzw. den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts erst mit dem Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrags im Jahr 1999 begründet wurde, hatten natürlich alle vor Mai 1999 durchgeführten Vorabentscheidungsverfahren, die aus einem Strafverfahren resultierten, einen EG-rechtlichen Bezug301. Unter diesen Verfahren mit Strafrechtshintergrund befinden sich sogar einige Grundsatzurteile des EuGH, die sich – wie die Entscheidungen in den Fällen Dassonville, Keck und Mithouard, Henn und Darby und Prantl – mit der Warenverkehrsfreiheit nach Art. 34 bis 37 AEUV (ex-Art. 28 ff. EGV) beschäftigen302 oder – wie die Rechtssache Ratti – die unmittelbare Wirkung von Richtlinien begründen303. Betrachtet man wiederum die Vorlagen in deutVertrags, teilweise in die dritte Säule überführt. Der Rat hat nach Art. 2 Abs. 1 UAbs. 2 S. 2 des Protokolls am 20.5.1999 im Beschluss 1999/436/EG für die Art. 54 bis 58 SDÜ als Rechtsgrundlage die ex-Art. 34 und 31 EUV festgelegt, so dass der EuGH im Rahmen des ex-Art. 35 EUV für die Beantwortung von Fragen zum europäischen Verbot der Doppelbestrafung zu­ ständig war. 300 EuGH, Urt. v. 2.4.2009 – Rs. C-139/08, Slg. 2009, I-2887 – Kqiku. 301 Ein Vorabentscheidungsersuchen wurde in Strafverfahren besonders häufig notwendig, wenn vor dem deutschen Ausgangsgericht ein lebensmittelstrafrechtlicher Vorwurf (siehe z. B. EuGH, Urt. v. 27.2.1986 – Rs. 238/84, Slg. 1986, 795 – Röser zur gemeinsamen Marktorganisation für Wein; Urt. v. 9.2.1999 – Rs. C-383/97, Slg. 1999, I-731 – van der Laan zur Warenverkehrsfreiheit) oder eine Verkehrsstraftat mit Beteiligung von EU-Ausländern verhandelt wurde (so etwa das auf Vorlage des Amtsgerichts Tiergarten erlassene Urteil zu den europarechtlich erlaubten Sanktionen bei nicht umgetauschtem Führerschein eines anderen EU-Mitgliedstaats v. 29.2.1996 – Rs. C-193/94, Slg. 1996, I-929 – Skanavi). – Bekanntere Beispiele für deutsche Strafverfahren mit europäischen Auslegungsfragen, in denen es dann jedoch nicht zu einer Vorlage an den EuGH gekommen ist, bilden das „Pyrolyse“-Urteil und der „PCB“-Fall des BGH zum Umweltstrafrecht, wo die Auslegung von Richtlinien in Frage stand, die auf der Grundlage von ex-Art. 94 und 308 bzw. von ex-Art. 175 EGV (jetzt Art. 115 und 352 bzw. Art. 192 AEUV) erlassen wurden; vgl. BGHSt 37, 333 und 43, 219. 302 EuGH, Urt. v. 11.7.1974 – Rs. 8/74, Slg. 1974, 837 – Dassonville; Urt. v. 24.11.1993 – Rs. C-267/91 und 268/91, Slg. 1993, I-6097  – Keck und Mithouard; Urt. v. 14.12.1979  – Rs. 34/79, Slg. 1979, 3795 – Henn und Darby; Urt. v. 13.3.1984 – Rs. 16/83, Slg. 1984, 1299 – Prantl. 303 EuGH, Urt. v. 5.4.1979 – Rs. 148/78, Slg. 1979, 1629 – Ratti.

D. Kritik des Eilvorlageverfahrens

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schen Strafverfahren seit Mai 1999, die keinen Bezug zum Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts haben, so finden sich folgende Vorabentscheidungsersuchen304: • Der fünfte Strafsenat des BGH stellte im Rahmen eines Strafverfahrens wegen Umsatzsteuerhinterziehung nach § 370 AO (erstmals) ein Vorabentscheidungsersuchen zur Auslegung der auf die Ermächtigungsgrundlage der Art. 99, 100 EWG (jetzt Art. 113, 115 AEUV, ex-Art. 93, 94 EGV) gestützten Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern (Bereich Steuerrecht)305. Ebenfalls zum Gemeinsamen Mehrwertsteuersystem wurde 2009 eine weitere Vorlage des BGH anhängig306. • In einem Vorabentscheidungsersuchen des Bayrischen Obersten Landesgerichts ging es um die Frage, ob die Warenverkehrsfreiheit, genauer das Verbot von Ausfuhrbeschränkungen aus ex-Art. 29 f. EGV (nunmehr Art.  35 f. AEUV), einer Verurteilung wegen Kennzeichenmissbrauchs gemäß § 22 StVG entgegensteht307. Die möglichen Auswirkungen der Warenverkehrsfreiheit auf eine Strafbarkeit wegen Beihilfe zum unerlaubten Verbreiten urheberrechtlich geschützter Werke nach § 106 Urhebergesetz sollen mit einem Ersuchen des BGH gekärt werden.308 • Das Amtsgericht Frankenthal, das Oberlandesgericht München, das Amtsgericht Landau/Isar, das Landgericht Siegen und das Landgericht Mannheim riefen den EuGH zur Auslegung der Richtlinie 91/439/EWG des Rates vom 29. Juli 1991 über die gegenseitige Anerkennung von Führerscheinen innerhalb der EG (Bereich Niederlassungsfreiheit) an, um die Strafbarkeit der Angeklagten wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis gemäß § 21 Abs. 1 Nr. 1 StVG beurteilen zu kön-

304 So wiederum das Ergebnis einer Suche unter mit den Stichwörtern „Strafverfahren“, „Deutschland“ und der Begrenzung des Zeitraums auf Urteile seit dem 1.5.1999. – Zu Vorlagen zum Strafrecht im weiteren Sinn kann man das Urteil des EuGH v. 10.4.2003 – Rs. C-276/01, Slg. 2003, I-3735 – Steffensen zählen, welches auf Ersuchen des Amtsgerichts Schleswig in einem Bußgeldverfahren wegen eines Verstoßes gegen das LFGB a. F. ergangen ist. 305 EuGH, Urt. v. 3.4.2003 – Rs. 144/00, Slg. 2003, I-2921 – Hoffmann. – Auch prinzipiell stellt sich das Steuerstrafrecht als „Motor der […] Europäisierung des deutschen Strafrechts“ dar, vgl. Heger, HRRS 2008, 413. Die Strafgerichte können sich hinsichtlich der Vereinbarkeit des deutschen Steuerrechts mit dem Europarecht vielfach auch auf Urteile des EuGH stützen, die auf Vorabentscheidungsersuchen der deutschen Finanzgerichte zurückgehen: So hat allein der Bundesfinanzhof mit 272 Ersuchen über die Jahre fast genauso viele EuGH-Vorlagen eingereicht wie alle anderen obersten Bundesgerichte – 327 Ersuchen – zusammen; siehe EuGH, Jahresbericht 2010, S. 111. Als Beispiel für eine solche Inbezugnahme siehe z. B. BGH wistra 1998, 344. 306 EuGH, Urt. v. 7.12.2010 – Rs. C-285/09 – Strafverfahren gegen R. 307 EuGH, Urt. v. 2.10.2003 – Rs. 12/02, Slg. 2003, I-11585 – Grilli. 308 Ersuchen des BGH eingereicht am 6.1.2011 – Rs. C-5/11 – Donner.

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2. Teil: Neues Eilvorlageverfahren vor dem EuGH

nen309. Mit dieser Richtlinie und der Neufassung durch die Richtlinie 2006/126/ EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Dezember 2006 über den Führerschein beschäftigen sich auch die Vorlagen des Landgerichts Gießen und des Landgerichts Baden-Baden310. • Im Rahmen eines Strafverfahrens wegen Inverkehrbringens von Lebens­mitteln unter einer irreführenden Bezeichnung gemäß § 11 Abs.  1 LFGB stellte das Amtsgericht Büdingen ein Vorabentscheidungsersuchen zur Auslegung der auf die Rechtsangleichungsvorschrift des Art.  114 AEUV (ex-Art. 95 EGV bzw. Art.  100a EWG) gestützten Richtlinie 89/397/EWG des Rates vom 13.  Juni 1989 über die amtliche Lebensmittelüberwachung311. • In einem Strafverfahren wegen der Verbringung von Abfällen vor dem Amtsgericht Bruchsal stellen sich Auslegungsfragen zur EG-Abfallverbringungsverordnung und EG-Abfallausfuhrverwahrensverordnung, die im Rahmen der gemeinsamen Umweltpolitik nach ex-Art. 175 EGV (jetzt Art. 192 AEUV) erlassen wurden312. • Um die Strafbarkeit der Angeklagten wegen Mitgliedschaft in einer terroristi­ schen Vereinigung ging es in einem Verfahren vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf, wobei die Auslegung der aufgrund von ex-Art. 60, 301 und 308 EGV (nunmehr Art.  75, 215 und 352 AEUV) erlassenen Verordnung (EG) Nr. 2580/2001 über spezifische, gegen bestimmte Personen und Organisationen gerichtete res­triktive Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus klärungs­ bedürftig war313. Festzustellen ist damit, dass in dem betrachteten Zeitraum von zwölf Jahren ab Mai 1999 aus Deutschland mehr als dreimal so viele strafrechtsbezogene Vorabentscheidungs­ersuchen an den EuGH gestellt wurden, die nicht unter den Anwendungsbereich des neuen Eilvorlageverfahrens nach Art. 104b VerfOEuGH fallen. Mithin ergibt sich aus der Tatsache, dass das Strafrecht explizit im Rahmen des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (bzw. der ehemaligen dritten Säule der EU) behandelt wird, nicht zwingend, dass sich in Strafverfahren nur Auslegungsfragen stellen, die sich auf diesen Bereich beziehen. Insofern 309 EuGH, Urt. v. 29.4.2004 – Rs. C-476/01, Slg. 2004, I-5205 – Kapper (Vorlage des AG Frankenthal); Beschl. v. 28.9.2006 – Rs. C-340/05, Slg. 2006, I-98 – Kremer (Vorlage des OLG München); Beschl. v. 3.7.2008 – Rs. C-225/07, Slg. 2008, I-103 – Möginger (Vorlage des AG Landau/Isar); Urt. v. 20.11.2008 – Rs. C-1/07, Slg. 2008, I-8571 – Weber (Vorlage des LG Siegen); Urt. v. 19.2.2009 – Rs. C-321/07, Slg. 2009, I-1113 – Schwarz (Vorlage des LG Mannheim). 310 Ersuchen des LG Gießen v. 28.9.2010 – Rs. C-467/10 – Akyüz; Ersuchen des LG BadenBaden v. 10.5.2010 – Rs. C-224/10 – Apelt. 311 EuGH, Beschl. v. 19.5.2009 – Rs. C-166/08, Slg. 2009, I-4253 – Weber. 312 Ersuchen des AG Bruchsal v. 10.8.2010 – Rs. C-405/10 – Garenfeld. 313 EuGH, Urt. v. 29.6.2010, siehe auch den Beschluss des EuGH, die Vorlage dem beschleunigten Verfahren nach Art.  104a VerfOEuGH zu unterwerfen, Beschl. v. 1.3.2010  – Rs. C-550/09 – Strafverfahren gegen E und F.

D. Kritik des Eilvorlageverfahrens

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offenbart das Eilvorlageverfahren für das hier untersuchte Problem des effektiven Rechtsschutzes in Strafsachen vor dem Hintergrund des Beschleunigungsgebots aus insbesondere Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK eine empfindliche Anwendungs­ lücke314. Die festgestellte Lücke im Anwendungsbereich des neuen Eilvorlageverfahrens für die effektive Wahrung des Beschleunigungsgebots wurde auch nicht durch den Vertrag von Lissabon geschlossen. Der Vertrag selbst hat an dem von Art. 104b Abs. 1 VerfOEuGH festgelegten Anwendungsbereich nichts geändert; und im Zuge der Anpassung der Verfahrensordnung des Gerichtshofs an die neuen vertraglichen Grundlagen ist nur die formale Änderung des Anwendungsbereichs auf den Titel V des Dritten Teils des AEUV („Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“, Art. 67 bis 89 AEUV) erfolgt, mit der keine inhaltliche Ausweitung verbunden ist. Diese Feststellung kann auch nicht durch Art. 83 Abs. 2 AEUV widerlegt werden: Erstens begründet diese Norm selbst keine neuen Kompetenzen, sondern stellt nur klar, dass strafrechtliche Regelungen im Wege der Annexkompetenz auch in anderen Politikbereichen der Europäischen Union getroffen werden können, mit der Konsequenz, dass die Ermächtigungsgrundlage für den betreffenden europäischen Rechtsakt nicht im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, sondern in der Harmonisierungsvorschrift des jeweiligen Politikbereichs zu finden ist. Und zweitens betreffen nationale Vorabentscheidungsersuchen in Strafverfahren mitnichten nur Fragen bezüglich strafrechtlicher Regelungen; besonders offensichtlich ist dies etwa bei Vorlagen zur Vereinbarkeit einer innerstaatlichen Strafrechtsnorm mit den Grundfreiheiten. Um alle denkbaren Vorlagen in Strafverfahren zu erfassen, bieten sich zwei Möglichkeiten an: Entweder das Eilvorlageverfahren wird grundsätzlich für alle Vorabentscheidungsersuchen eröffnet, indem die Restriktion auf Titel V des Dritten Teils des AEUV gestrichen wird, wobei dann die Eilbedürftigkeit jeweils nach den Umständen des Einzelfalls und der konkreten Situation des Betroffenen entschieden werden müsste315, oder man knüpft die Anwendbarkeit des Eilvorlageverfahrens (zumindest auch) an die Klassifikation des vorlegenden Gerichts als Strafgericht. Gegen den zweiten Vorschlag spricht aus der Sicht der Initiatoren des Eilvorlageverfahrens, dass bei einer Antragsberechtigung nur der 314 Primär bezogen auf inhaftierte Beschuldigte kritisch auch Engström, ERA Forum 2009, 487, 491 f.: „There are several considerations that cast doubt on whether the urgent preliminary reference really makes a major contribution to effective judicial protection for individuals in need of an urgent answer to a preliminary ruling. First, one could inquire whether it is justified to limit the availability of urgent preliminary references to matters arising in relation to Titel VI of the European Union Treaty or Title IV of Part three of the EC Treaty […]. We have recently experienced that acts that concern criminal law can also be adopted under Community law, i. e. as first pillar instruments and this increases the possibility of national courts needing an urgent answer on how to interpret EU law when a person is in custody even outside the scope of the aforementioned areas.“ 315 In diese Richtung Engström, ERA Forum 2009, 487, 492.

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2. Teil: Neues Eilvorlageverfahren vor dem EuGH

mitgliedstaat­lichen Strafgerichte dann wiederum andere Vorlagen, die für eilbedürftig gehalten werden, nicht unter das neue beschleunigende Verfahren fallen würden316. Bliebe folglich nur eine zusätzliche Ausweitung des Anwendungsbereichs auch auf Vorlagen von Strafgerichten; prinzipiell gegen einen erweiterten Anwendungsbereich – und damit auch gegen die erste erwogene Abhilfemöglichkeit – hat sich jedoch implizit der Gerichtshof schon im Rechtssetzungsverfahren ausgesprochen317: „Die mit der Einführung dieser neuen Form von Vorabentscheidungsverfahren notwendig werdende Beschleunigung lässt sich erreichen, wenn nur sehr wenige Rechtssachen betroffen sind, doch könnte sie rasch zu einer Quelle erheblicher Schwierigkeiten für den Gerichtshof werden, sollte von dem Verfahren in dem betreffenden Bereich allgemein Gebrauch gemacht werden. Es bedürfte nicht nur einer nahezu ständigen Anwesenheit der Mitglieder des Gerichtshofs, damit ein Zusammentreten und das Erreichen der Quoren, die für den Erlass naturgemäß dringender Entscheidungen erforderlich sind, jederzeit gewährleistet sind; auch die Behandlung der anderen Rechtssachen des Gerichtshofs könnte dadurch beeinträchtigt werden.“318

Eine baldige Lösung zur Schließung der Lücke im Anwendungsbereich des Eilvorlageverfahrens bezogen auf Vorlagen von Strafgerichten, die nicht den Raum der Freiheit, der Sicherheit oder des Rechts betreffen, ist also angesichts des deutlich geäußerten Willens der Initiatoren nicht ersichtlich. Wenn eine Verletzung des Beschleunigungsgebots droht, aber dennoch eine Vorlage, die nicht den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts betrifft, an den EuGH gerichtet werden muss, bleibt den mitgliedstaatlichen Gerichten lediglich die Möglichkeit, die Durchführung eines beschleunigten Verfahrens nach Art. 104a VerfOEuGH zu beantragen319. Zumindest für inhaftierte Beschuldigte soll der Vertrag von Lissabon jedoch zu einer merklich rascheren Urteilsfindung des EuGH führen, weil Art. 267 Abs. 4 AEUV bestimmt: „Wird eine [Vorabentscheidungs-]Frage in einem schwebenden Verfahren, das eine in­ haftierte Person betrifft, bei einem einzelstaatlichen Gericht gestellt, so entscheidet der Gerichtshof innerhalb kürzester Zeit.“

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Das betrifft insbesondere Vorlagen, bei denen das europäische oder das nationale Recht strikte Fristen für die Behandlung der Rechtssachen festsetzt, wie etwa im Familienrecht, vgl. dazu schon oben in diesem Zweiten Teil unter B. II. 317 EuGH, Entwurf eines Ratsbeschlusses v. 10.7.2007, abgedruckt bei Rat der EU, DOK 11759/07, S. 9 f. 318 Das Argument wird vom EuGH also in dem Sinne verwendet, dass eine Ausweitung auf alle Vorabentscheidungsverfahren innerhalb des durch § 104b Abs. 1VerfOEuGH begrenzten Anwendungsbereichs (also nur Fragen zum Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts) verhindert werden muss. Damit dürfte der EuGH jedoch auch allgemein gegen eine Erweiterung des Anwendungsbereichs des Eilvorlageverfahrens sein. 319 Dass der EuGH bei der Bejahung der „außerordentlichen Dringlichkeit der Entscheidung“ aber äußerst zurückhaltend ist, wurde schon oben in diesem Zweiten Teil  unter A. I. 1.  dar­ gestellt. Vgl. aber jüngst die vier erfolgreichen Anträge auf Anwendung des beschleunigten Verfahrens in 2010 (Rs. C-149/10, C-188/10, C-189/10, C-296/10).

D. Kritik des Eilvorlageverfahrens

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Wie ein schnelles Urteil jedoch erreicht werden soll, wenn der Anwendungsbereich des Art.  104b VerfOEuGH nicht eröffnet ist, steht noch nicht fest. Außerdem wäre damit nur dem besonderen Beschleunigungsgebot aus Art.  5 Abs.  3 EMRK Genüge getan; nicht aber dem allgemeinen Recht des nicht inhaftierten Angeklagten auf Entscheidung innerhalb angemessener Frist aus Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK320. II. Übergangsweise Fortgeltung der Vorlagebeschränkungen in ex-Art. 35 EUV und ex-Art. 68 EGV

Selbst wenn eine strafrechtliche Vorlagefrage zu dem statistisch gesehen einen Viertel gehört, in dem der Bereich des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts thematisiert wird, kann sich ein weiteres Problem aus den nicht unwesentlichen Rechtsschutzbeschränkungen in diesem Bereich ergeben. Immer wieder wird zwar empfohlen, eine notwendige Vorlage an den Europäischen Gerichtshof so früh wie möglich im Verfahren durchzuführen321; dieser Forderung kann bzw. konnte aufgrund der fakultativen Zuständigkeit des EuGH zur Überprüfung von Rechtsakten im Rahmen der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen nach ex-Art. 35 EUV und der früheren Restriktion der vorlageberechtigten Gerichte in Visa-, Asyl- und Einwanderungsrechtssachen durch ex-Art. 68 EGV jedoch nur unzu­reichend nachgekommen werden. Da die bisherigen Jurisdiktionsbeschränkungen eigentlich diametral zum „Charakter der Union als Rechts- und Wertegemeinschaft“322 standen, sind sie mit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon erfreulicherweise weggefallen: Nach Art. 267 Abs. 1 AEUV ist der Gerichtshof der Europäischen Union nunmehr prinzipiell zuständig, auf Vorlage von mitgliedstaatlichen Gerichten gleich welcher Instanz „im Wege der Vorabentscheidung a) über die Auslegung der Verträge [und] b) über die Gültigkeit und die Auslegung der Handlungen der Organe, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Union“ zu entscheiden. Die Zuständigkeit des Gerichtshofs 320 Bezeichnenderweise war bei den deutschen Strafverfahren, in denen Vorlagen an den EuGH gestellt wurden, deren Auslegungsfrage nicht dem Bereich des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts angehörte, nur ein einziger Angeklagter in Untersuchungshaft (Strafverfahren vor dem OLG Düsseldorf wegen Mit­gliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, vgl. EuGH, Urt. v. 29.6.2010 – Rs. C-550/09 – Strafverfahren gegen E und F). Das liegt vor allem daran, dass sich die Europäisierung insbesondere im Bereich des Steuer-, Umwelt-, Wirtschafts- und Nebenstrafrechts bemerkbar macht; Beschuldigte, denen die Begehung eines dieser Delikte vorgeworfen wird, werden kaum in Untersuchungshaft genommen. 321 Vgl. BVerfG NJW 1989, 2464 mit der Forderung, dass in jedem Stadium des Strafverfahrens eine Pflicht der Gerichte besteht, mit besonderer Sorgfalt zu prüfen, ob eine Vorlage an den EuGH veranlasst ist. – Siehe auch Jokisch, Gemeinschaftsrecht und Strafverfahren, S. 197; Satzger, Europäisierung, S. 667; Rennert, EuGRZ 2008, 385, 386; wohl auch Hugger, in: Ahlbrecht u. a., Internationales Strafrecht, Rn. 583 f. Ausführlich zum Zeitpunkt einer Vorlage im Dritten Teil unter D. I. 1. b). 322 Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Handbuch Rechtsschutz, § 10 Rn. 36.

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2. Teil: Neues Eilvorlageverfahren vor dem EuGH

betreffend den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts entfällt dann gemäß Art.  276 AEUV nur für die „Überprüfung der Gültigkeit oder Verhältnis­ mäßigkeit von Maßnahmen der Polizei oder anderer Strafverfolgungsbehörden eines Mitgliedstaats oder der Wahrnehmung der Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit“. Nichtsdestotrotz bleiben die bisherigen Restriktionen für zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Vertrags von Lissabon bereits geltende Sekundärrechtsakte der ehemaligen PJZS übergangsweise noch weitere fünf Jahre wirksam323. Die neue Regelung über Vorabentscheidungsverfahren kann folglich nur für Auslegungsfragen hinsichtlich erst nach dem Inkrafttreten des Lissabonner Vertrags ergangenen Sekundär­rechts im strafrechtlichen Bereich zur Anwendung kommen324. Hinsichtlich des Großteils der Rechtssachen betreffend den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts wird damit die folgende miss­liche Situation noch mindestens fünf weitere Jahre bestehen bleiben: Für den Bereich der ehemaligen PJZS ist die Zuständigkeit des Gerichtshofs gemäß der Fakultativklausel des ex-Art. 35 Abs.  2 EUV von einer auch bezüglich des Umfangs im Ermessen stehenden Anerkennungserklärung der Mitgliedstaaten abhängig. Erstens kann jeder EU-Staat grundsätzlich entscheiden, ob er die Juris­diktionsbefugnis des EuGH über Rahmenbeschlüsse, sonstige Beschlüsse und Übereinkommen325 nach ex-Titel VI des Unionsvertrags anerkennt. Von dieser opt-in-Möglichkeit haben 19 der 27 Mitgliedstaaten – darunter Deutschland – Gebrauch gemacht326. Zweitens kann der Mitgliedstaat mit der Erklärung gleichzeitig festlegen, ob nur letztinstanzliche Gerichte, ex-Art. 35 Abs. 3 lit. a) EUV, oder 323

Vgl. Art. 10 des Protokolls Nr. 36 zum Vertrag von Lissabon über die Übergangsbestimmungen, ABl.EU 2010 Nr. C 83, S. 322, 325 f. 324 Der andere theoretisch mögliche Anwendungsfall bei Vorlagefragen betreffend das Primärrecht kann praktisch nicht eintreten, weil der Regelungsbereich des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts keine primärrechtlich unmittelbar anwendbaren Gewährleistungen enthält; vgl. dazu Müller-Graff, EuR 2009, Beiheft 1, 105, 113. 325 Wenngleich der Wortlaut des ex-Art. 35 EUV hinsichtlich des Gegenstands von Vorabent­ scheidungen eingeschränkt formuliert war, hat der EuGH bereits judiziert, dass auch Fragen zur Auslegung oder Gültigkeit von vermeintlich nicht erfassten gemeinsamen Standpunkten vorgelegt und von den Luxemburger Richtern entschieden werden können, sofern sie Rechtswirkungen gegenüber Dritten erzeugen sollen; so erstmals für gemeinsame Standpunkte zur Bekämpfung des Terrorismus EuGH, Urt. v. 27.2.2007 – Rs. C-354/04 P, Slg. 2007, I-1579, Rn.  53 f.  – Gestoras Pro Amnistía u. a./Rat; Urt. v. 27.2.2007  – Rs. C-355/04 P, Slg. 2007, I-1657, Rn. 53 f. – Segi u. a./Rat. 326 Vgl. ABl.EU 2010 Nr. L 56, S. 14 (Stand: März 2010): Danach haben Bulgarien, Dänemark, Estland, Irland, Malta, Polen, die Slowakei und das Vereinigte Königreich die Zuständigkeit des EuGH nicht anerkannt. – Für Deutschland siehe das Gesetz betreffend die Anrufung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens auf dem Gebiet der polizeilichen Zusammenarbeit und der justiziellen Zusammen­ arbeit in Strafsachen nach Art. 35 des EU-Vertrags (EuGH-Gesetz) v. 6.8.1998, BGBl. 1998, I-2035.

D. Kritik des Eilvorlageverfahrens

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Gerichte aller Instanzen, ex-Art. 35 Abs. 3 lit. b) EUV, vorlegen dürfen327. Drittens kann nur im jeweiligen nationalen Recht die Pflicht begründet werden, dass letztinstanzliche Gerichte bei der Beanstandung von Unionsrecht eine Vorabent­ scheidung des EuGH zwingend einzuholen haben328. Erst wenn diese drei Voraussetzungen kumulativ gegeben sind – wie es derzeit nur bei einem guten Drittel der EU-Staaten, nämlich zehn Mitgliedern, der Fall ist329 –, entspricht der Rechtsschutz im Rahmen der ehemaligen PJZS der von Art.  267 AEUV (ex-Art.  234 EGV) für nunmehr das gesamte Europarecht getroffenen Regelung. Während die Rechtsschutzbeschränkung im Rahmen der früheren dritten Säule von jedem einzelnen Mitgliedstaat ausgeräumt werden kann, hätte die Restriktion im vergemeinschafteten Bereich in ex-Art. 68 Abs. 1 EGV durch einstimmigen Beschluss des Rates (vgl. ex-Art. 67 Abs. 2 EGV) aufgehoben werden müssen. Da dies jedoch nicht geschehen ist330, konnten bis zum Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon nur Gerichte, deren Entscheidungen nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden konnten, Fragen zur Auslegung von Sekundärrecht, welches aufgrund des Titels zu Visa, Asyl, Einwanderung und anderen Politiken betreffend den freien Personen­verkehr ergangen ist, vorlegen. Konsequenterweise musste der Europäische Gerichtshof deshalb alle von nichtletztinstanzlichen Gerichten eingereichten Vorabentscheidungsersuchen als unzulässig abweisen331. Die Jurisdiktionsbeschränkungen des EuGH bezüglich des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts sind nur vor dem Hintergrund seiner Entstehungs 327 Von den 19 Mitgliedstaaten, die die Zuständigkeit des EuGH anerkannt haben, hat nur Spanien die Möglichkeit zur Vorlage auf letztinstanzliche Gerichte beschränkt, vgl. ABl.EU 2010 Nr. L 56, S. 14 (Stand: März 2010). 328 Vgl. Erklärung Nr. 10 zu Artikel 35 (ex-Art. K.7) des Vertrags über die Europäische Union (der Schlussakte des Vertrags von Amsterdam beigefügt). Von den 19 Mitgliedstaaten, die die Zuständigkeit des EuGH anerkannt haben, sehen nur elf diese Vorlagepflicht letzt­instanzlicher Gerichte vor, nämlich: Deutschland, Österreich, Belgien, Spanien, Frankreich, Italien, Luxemburg, Niederlande, Tschechische Republik, Rumänien, Slowenien; vgl. ABl.EU 2010 Nr. L 56, S. 14 (Stand: März 2010). 329 Dabei handelt es sich um alle in der vorstehenden Fußnote Genannten bis auf Spanien, welches nur letztin­stanzlichen Gerichten ein Vorlagerecht einräumt (das sich damit gleichzeitig als Vorlagepflicht darstellt). 330 Obwohl die Kommission diese Änderung eingefordert hat, siehe Mitteilung der Kommission über die Anpassung der die Zuständigkeit des Gerichtshofs betreffenden Bestimmungen des Titels IV des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft im Hinblick auf die Gewährleistung eines effektiveren gerichtlichen Rechtsschutzes v. 28.6.2006, KOM (2006) 346 endg. 331 So erging es z. B. auch einer Vorlage des AG Löbau, welches zur Beurteilung der Strafbarkeit der rumänischen Angeklagten wegen unerlaubter Einreise nach und unerlaubten Aufenthalts in Deutschland entsprechend dem Ausländergesetz eine Frage zur Auslegung einer auf der Ermächtigungsgrundlage des ex-Art. 62 Nr. 2 lit. b) EGV (jetzt Art. 77 Abs. 2 AEUV) erlassenen Verordnung stellte; vgl. EuGH, Beschl. v. 31.3.2004 – Rs. C-51/03, Slg. 2004, I-3203 – Georgescu.

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2. Teil: Neues Eilvorlageverfahren vor dem EuGH

geschichte zu verstehen332. Angesichts der sensiblen Bereiche Justiz und Inneres standen und stehen die Mit­gliedstaaten einer Übertragung von diesbezüglichen Hoheitsrechten auf die Europäische Union sehr skeptisch gegenüber. Da jedoch die Schaffung des gemeinsamen Binnenmarktes und die Gewährung der Grundfreiheiten an die Unionsbürger auch negative Aspekte der Freizügigkeit, insbesondere die grenzüberschreitende Kriminalität, mit sich brachte, wurde eine gemeinsame europäische Politik zur Wahrung der Sicherheit der Bevölkerung ebenso in Fragen der Justiz und des Inneren nötig. Um die nationale Souveränität trotz einer europäischen Zusammenarbeit weitestgehend zu schützen, wurden die Bereiche Justiz und Inneres zunächst dem Rahmen der intergouvernementalen Kooperation in der ehemaligen dritten Säule der EU zugewiesen. Im Interesse einer Effektivierung der Zusammenarbeit wurde der Bereich Visa, Asyl und Einwanderung allerdings mit dem Vertrag von Amsterdam durch Überführung in die erste Säule vergemeinschaftet; allein das Strafrecht verblieb in der dritten Säule. Die eingeschränkte Zuständigkeit des EuGH in Strafsachen durch ex-Art. 35 EUV ist damit sicherlich der Befürchtung einiger Mitgliedstaaten geschuldet, dass eine ex-Art. 234 EGV entsprechende Regelung einen zu wirksamen Durchsetzungsmechanismus für die Kompetenzen der Europäischen Union auf dem Gebiet des Strafrechts bereitgestellt hätte333. Hinsichtlich der Begrenzung des Vorlagerechts auf letztinstanzliche Gerichte in ex-Art. 68 EGV kam ferner die Überlegung hinzu, dass die Anzahl der Vorlagen in Grenzen gehalten werden sollte, um den EuGH nicht noch weiter zu überlasten334. Unübersehbar wird durch solche Vorlagebeschränkungen aber die Funktion des Vor­abentscheidungsverfahrens, für eine gleichmäßige und einheitliche Anwendung und Auslegung des europäischen Rechts Sorge zu tragen, unterlaufen335. Im Hinblick auf das in dieser Arbeit problematisierte Spannungsfeld zwischen der Dauer von Vorabentscheidungsverfahren und dem kriminalstrafrechtlichen Beschleunigungsgebot allerdings könnte man argumentieren, dass die noch weitere fünf Jahre fortgeltende eingeschränkte Jurisdiktionszuständigkeit des EuGH in exArt. 35 EUV von Vorteil für die Wahrung einer angemessenen Prozessdauer ist: Immerhin können nicht vorlageberechtigte Gerichte Fragen zum Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, die sie ansonsten dem Gerichtshof vorgelegt hätten, selbst entscheiden und „sparen“ somit etwa anderthalb Jahre Prozessdauer. Diese Sichtweise ist jedoch aus verschiedenen Gründen kurzsichtig: Zum einen ist hinsicht­lich von Gültigkeitsfragen zu beachten, dass nationale Gerichte nicht befugt sind, Handlungen von Unions­organen für ungültig zu erklären. Kam es für die Beurteilung der Strafbarkeit eines Angeklagten mithin auf die Gültigkeit eines 332

Bernard, Europe No. 5/2008, 5 f.; Skouris, EuGRZ 2008, 343, 344 f. Chevalier, ERA Forum 2009, 591, 604. 334 Graßhof, in: Schwarze, EU-Komm, Art.  68 EGV Rn.  4; Schmahl, in: v. d. Groeben/ Schwarze, EU-/EGV, Art. 68 EGV Rn. 2; Chevalier, ERA Forum 2009, 591, 604. 335 Skouris, ERA Forum 2008, 99, 103 f.; Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Handbuch Rechtsschutz, § 10 Rn. 36; Dörr, EuGRZ 2008, 349, 351. 333

D. Kritik des Eilvorlageverfahrens

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Sekundärrechtsakts an, der aufgrund des früheren Titels IV des Dritten Teils des EG-Vertrags erlassen wurde, so musste nur deswegen der Rechtsweg bis in die letzte Instanz ausgeschöpft werden – mit den entsprechenden Zeit- und Kostenfolgen –, um schließlich eine Vorlage an den EuGH richten zu können. Vergleichbares gilt für Rechtsakte im Rahmen der ehemaligen dritten Säule auch weiterhin; dort allerdings mit dem Unterschied, dass in Mitgliedstaaten, die die EuGH-Zuständigkeit nicht anerkannt haben, die Gerichte sogar selbst die Nichtanwendbarkeit einzelner Rechtsakte für ihr Land anordnen können336. Aber auch bei Auslegungsfragen ist mitunter nur deshalb ein Gang durch den kompletten nationalen Instanzenzug notwendig, um schließlich in der letzten Instanz eine Entscheidung des EuGH einholen zu können. Wiederum können die Gerichte, denen nicht einmal letztinstanzlich eine Vorlagebefugnis zum EuGH ein­geräumt wurde, bei Rechts­ akten der bisherigen dritten Säule ihre eigene Auslegung zugrunde legen, ohne dass der EuGH je die Möglichkeit bekommt, über diese nationale Auffassung zu judizieren337. Daraus ergibt sich der zweite Nachteil der Jurisdiktionsbeschränkungen, die nämlich zu einer unterschiedlichen Auslegung des europäischen Rechts in den einzelnen Mitgliedstaaten und damit zu einem Verlust an Rechtssicherheit für die Unionsbürger gerade in den grundrechtlich sensibelsten Bereichen der EU führen, der sich auch negativ auf das Funktionieren des Binnenmarktes auswirken könnte. Mithin ist der derzeitige Stand sowohl aus nationaler und erst recht aus euro­päischer Sicht unbefriedigend, wiewohl er sich Ende 2014 endgültig erledigen wird. III. Abhängigkeit von Beurteilung der Dringlichkeit durch den Gerichtshof der Europäischen Union

Erfüllt ein strafrechtliches Vorabentscheidungsersuchen schließlich die Anforderungen des Eilvorlageverfahrens hinsichtlich des Vorlagegegenstands und des vorlegenden Gerichts, so ist damit immer noch nicht sicher, dass auf Antrag des mitgliedstaatlichen Gerichts das neue Verfahren auch zur Anwendung kommt: Schließlich ist die Entscheidung darüber, ob die von Art. 104b § 1 Abs. 2 Verf­OEuGH geforderte „Dringlichkeit“ vorliegt, dem EuGH vorbehalten. Der Grund für dieses einschränkende Kriterium liegt darin, eine Überflutung des EuGH mit Anträgen auf Entscheidung im Wege des Eilvorlageverfahrens zu verhindern338. Schließlich hat der Gerichtshof keinen Einfluss auf die Zahl der ein 336

Böse, in: Schwarze, EU-Komm, Art. 35 EUV Rn. 4; ähnlich Wasmeier, in: v. d. Groeben/ Schwarze, EU-/EGV, Art. 35 EUV Rn. 11. 337 Dass sich einzelne Mitgliedstaaten der Jurisdiktionsgewalt des EuGH innerhalb der ehemaligen dritten Säule vollständig entziehen können, kritisiert auch Middeke, in: Rengeling/ Middeke/Gellermann, Handbuch Rechtsschutz, § 10 Rn. 36. 338 Sofern in der Literatur überhaupt zu diesem Punkt Stellung genommen wird, überwiegt denn auch die Anzahl mahnender Stimmen  – obwohl nach drei Jahren Erfahrung mit dem neuen Eilvorlageverfahren keine Anzeichen für eine übermäßige Inanspruchnahme desselbigen festgestellt werden können; siehe jedoch etwa Dörr, EuGRZ 2008, 349, 353: „Zu befürch-

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2. Teil: Neues Eilvorlageverfahren vor dem EuGH

gehenden Rechtssachen, so dass ihm zumindest über das Recht, Zulässigkeitsvoraussetzungen – wie eben das Merkmal der „Dringlichkeit“ – flexibel und autonom auszulegen, die Möglichkeit gegeben werden muss, der Schwankungen in der Zahl der Fälle gerecht werden zu können339. Der Nachteil dieser Konstruktion ist indes, dass sich ein vorlegendes Gericht nicht da­rauf verlassen kann, dass sein Ersuchen im Wege des Eilvorlageverfahrens behandelt wird – und damit mit einem Urteil des Gerichtshofs innerhalb von höchstens drei Monaten anstatt nach anderthalb Jahren zu rechnen ist. Die Abhängigkeit von der Beurteilung der „Dringlichkeit“ durch den EuGH ist umso misslicher, als bisher wegen der spärlichen Verfahrenspraxis und den knappen Ausführungen in den Urteilsgründen kaum vorherzusagen ist, ob der Gerichtshof die drohende Verletzung des Beschleunigungsgebots aus der EMRK bzw. der Grundrechte-Charta als ebenso dringlich betrachten wird wie die Vorlage bei einem inhaftierten Angeklagten. Hinzu kommt, dass weder die Anträge auf noch die Beschlüsse über die Durchführung des Eilvorlageverfahrens veröffentlicht werden340, so dass für die nationalen Gerichte ein Vergleich ihrer „Dringlichkeits“-Situation mit früheren gescheiterten oder erfolgreichen Anträgen nicht möglich ist. Bei Vorlagen zum früheren Titel IV des Dritten Teils des EG-Vertrags standen die mitgliedstaatlichen Gerichte angesichts der Beschränkung der Vorlageberechtigung in ex-Art. 68 EGV auf letztinstanzliche Gerichte zudem bis Dezember 2009 vor der schwierigen Aufgabe, den EuGH von der „Dringlichkeit“ ihrer Vorlagefrage zu überzeugen, obwohl vorher bereits Monate und Jahre im Zuge der Instanzen vergangen waren341. Die weitere Rechtsprechungspraxis wird erst noch zeigen müssen, wie der EuGH die in Art. 104a und 104b VerfOEuGH vorgesehenen Dringten bleibt allerdings, dass allzu viele nationale Gerichte, die schnell eine ‚Antwort aus Luxemburg‘ haben wollen, nun auf den neuen Zug aufspringen und einen Antrag nach Art. 104b § 1 VerfOEuGH stellen werden. Auch der Gerichtshof selbst scheint eine solche Gefahr durchaus zu sehen (in seinen ergänzenden ‚Hinweisen‘ zum Eilvorlageverfahren weist der Gerichtshof unter Ziffer 7 ausdrücklich darauf hin, dass das Eilverfahren nur beantragt werden soll, ‚wenn es nach den Umständen absolut erforderlich ist‘). Der Erfolg des neuen Verfahrens wird somit auch davon abhängen, wie großzügig die zuständige Kammer die Verfahrensvoraussetzung der ‚Dringlichkeit‘ bestimmt.“ 339 So ist auch die Stellungnahme des Rechtsausschusses im Europäischen Parlament zum Eilvorlageverfahren zu verstehen (Bericht v. 21.11.2007, S. 7): „[Es ist] wichtig, dass der Gerichtshof hinreichend Spielraum hat, um selber zu entscheiden, welche Rechtssachen im Rahmen des Eilverfahrens behandelt werden sollen.“ 340 Diese Beschlüsse werden nach Auskunft der Generalanwältin am EuGH Kokott aus Beschleunigungsgründen sogar nicht einmal für die gerichtsinterne Kommunikation schriftlich begründet; die in Art. 104b § 2 Abs. 2 S. 1 VerfOEuGH vorgesehene Zustellung der Entscheidung hat daher eher den Charakter einer Information. – Eine Beeinträchtigung der prozessualen Garantie der Transparenz sieht auch Generalanwalt Colomer, Schlussanträge v. 5.3.2009 – Rs. C-14/08, Slg. 2009, I-5439, Rn. 26 Fn. 16 – Roda Golf & Beach Resort. 341 Engström, ERA Forum 2009, 487, 492; Kokott/Dervisopoulos/Henze, EuGRZ 2008, 10, 13. – Zur Verteidigung des EuGH ist allerdings daran zu erinnern, dass insgesamt sieben der zehn bisher angenommenen Eilvorlageverfahren Fragen zum Bereich Visa, Asyl und Einwanderung aufwarfen.

D. Kritik des Eilvorlageverfahrens

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lichkeitsgrade  – „Dringlichkeit“ zur Durchführung des Eilvorlageverfahrens in Art. 104b § 1 Abs. 2 VerfOEuGH, „außerordentliche Dringlichkeit“ zur Anwendung des beschleunigten Verfahrens in Art.  104a Abs.  1 VerfO­EuGH, „äußerste Dringlichkeit“ in Art. 104b § 4 VerfOEuGH, um auf die schriftliche Phase im Eilvorlageverfahren zu verzichten – abzustufen gedenkt. Zu hoffen bleibt, dass sich der Gerichtshof jedenfalls nicht an der äußerst restriktiven Praxis zur Anwendung des beschleunigten Verfahrens nach Art.  104a VerfOEuGH orientiert, denn ansonsten dürfte die Bedeutung des Eilvorlage­verfahrens so marginal bleiben, dass es seinem Ziel, eine rasche Entscheidung dringender Vorlageersuchen zu ermöglichen, nicht gerecht werden kann342. Die bisherige Auslegungspraxis bis Ende 2010 hat, verglichen mit den Anträgen auf Anwendung des beschleunigten Verfahrens, zumindest zu einem über­wiegenden Verhältnis zwischen angenommenen – zehn – und abgelehnten Anträgen auf Durchführung des Eilvorlageverfahrens – derer fünf – geführt343. Bei drohender Verletzung des strafrechtlichen Beschleunigungsgebots nützt jedoch selbst ein ausgewogenes Verhältnis wenig, wenn der Gerichtshof einen Antrag auf Durchführung des Eilverfahrens ablehnt. Anzuraten ist dem Gerichtshof eher – wie es im Übrigen seiner ständigen Praxis bei den Zulässigkeitsvoraussetzungen eines normalen Vorabentscheidungsverfahrens, z. B. der Frage der Entscheidungserheblichkeit, entspricht344 –, seiner Beurteilung der „Dringlichkeit“ in Art.  104b § 1 Abs.  2 VerfOEuGH grundsätzlich die Einschätzung des antragstellenden mitgliedstaat­lichen Gerichts zugrunde zu legen und nur in Ausnahmefällen die Anwendung des Eilvorlageverfahrens am Kriterium der „Dringlichkeit“ scheitern zu lassen345.

342 Nach drei Jahren Erfahrung mit dem Eilvorlageverfahren kann festgestellt werden, dass es jedenfalls nicht so restriktiv wie das beschleunigte Verfahren nach Art. 104a VerfOEuGH gehandhabt wird; auf der anderen Seite ist es mit insgesamt zehn Anwendungsfällen bisher auch nicht übermäßig häufig zur Anwendung gekommen (im Jahr 2008 haben die Eilvorlagen mit 3 von 288 Rechtssachen knapp über ein Prozent, im Jahr 2009 bei 2 von 302 Fällen nicht einmal 0,7 % der gesamten Vorabentscheidungsverfahren ausgemacht; 2010 lag der Prozentsatz mit 5 von 385 Rechtssachen bei etwa 1,3 %). 343 Im Jahr 2010 wurden so viele Eilvorlageverfahren durchgeführt wie in den zwei vorigen Jahren zusammen, nämlich fünf. 344 Vgl. m. w. N. aus der Rechtsprechung Karpenstein, in: Grabitz/Hilf, REU, Art. 234 EGV Rn. 25. 345 So meint auch Karpenstein, in: Grabitz/Hilf, REU, Art. 234 EGV Rn. 88a, dass es der grundsätzlichen Rollenverteilung zwischen den nationalen Gerichten und dem EuGH entspreche, „dass der Gerichtshof einen Antrag auf Eilvorlage nur bei offenkundigem Missbrauch des Art. 104b VerfOEuGH zurückweist“. – Insoweit erstaunt die doch sehr formale Ablehnung des Antrags des OLG Stuttgart auf Anwendung des Eilverfahrens im Fall Kozłowski (Rs. C-66/08): Der Antrag scheiterte nämlich nicht an mangelnder „Dringlichkeit“ (im Gegenteil, wie die nachfolgende Durchführung des beschleunigten Verfahrens zeigt), sondern daran, dass der Gerichtshof über den vorausschauend gestellten Antrag acht Tage vor Inkrafttreten des neuen Eilvorlageverfahrens entschied. Siehe dazu schon oben in diesem Zweiten Teil unter C. XI.

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2. Teil: Neues Eilvorlageverfahren vor dem EuGH

IV. Verzögerung anderer Rechtssachen infolge des Eilvorlageverfahrens

Schließlich soll kurz zu der verbreiteten Behauptung Stellung genommen werden, dass sich das neue Eilvorlageverfahren – im Gegensatz zum beschleunigten Verfahren nach Art. 104a VerfOEuGH – nicht verfahrensverlängernd auf andere beim Gerichtshof anhängige Rechtssachen auswirke. So schreibt beispielsweise Vassilios Skouris, der derzeitige Präsident des EuGH: „Alors que la procédure accélérée consiste essentiellement à raccourcir, et donc à accélérer, toutes les étapes d’une procédure préjudicielle ordinaire, au possible détriment du traitement d’autres affaires pendantes, la procédure d’urgence sacrifie des étapes et suit un circuit distinct des autres affaires.“346

Dass Eilvorlageverfahren jedoch nicht zulasten anderer schwebender Verfahren gehen, ist rein logisch kaum vorstellbar: Da keine neuen personellen Ressourcen geschaffen wurden und davon auszugehen ist, dass die Richter am EuGH bereits vor Einführung des Eilvorlageverfahrens ihre volle Arbeitskraft der Bearbeitung der anhängigen Rechtssachen gewidmet haben, muss die Bearbeitung einer Rechtssache, die ohne das Eilvorlageverfahren erst Monate später behandelt worden wäre, notgedrungen zu einer späteren Bearbeitung anderer Verfahren führen347. Denn die Eilvorlageverfahren kommen schließlich zu den normalerweise zu bearbeitenden Rechtssachen hinzu. Wenn sich durch den Wegfall der Vorlagebeschränkungen in ex-Art. 68 EGV und ex-Art. 35 EUV infolge des Vertrags von Lissabon in spätestens fünf Jahren zudem die Zahl der Vorabentscheidungsersuchen zum Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – wie zu erwarten ist – erhöht, könnte sich ebenfalls die verfahrensverzögernde Wirkung der Eilvorlageverfahren verstärken348.

346 Skouris, ERA Forum 2008, 99, 106. So ebenfalls Kraus, EuR 2008, Beiheft 3, 109, 121 (Das neue Eilvorlageverfahren soll „dem EuGH ermöglichen, innerhalb von ca. drei Monaten zu entscheiden, und zwar ohne dass die Bearbeitung der anderen anhängigen Verfahren darunter leidet.“); Dörr, EuGRZ 2008, 349, 353; Chevalier, ERA Forum 2009, 591, 599. Vgl. im Umkehrschluss auch Erwägungsgrund 2 zur Änderung der VerfO­EuGH, ABl.EU 2008 Nr. L 24, S. 39. 347 Drastisch Generalanwalt Colomer, Schlussanträge v. 5.3.2009 – Rs. C-14/08, Slg. 2009, I-5439, Rn. 26 Fn. 16 – Roda Golf & Beach Resort: „Das […] neue Eilverfahren für Vorabentscheidungsersuchen kann neben den zweifelsohne vorhandenen Risiken für die Kohärenz und Einheitlichkeit der Rechtsprechung (um nicht von der Beeinträchtigung grundlegender prozessualer Garantien wie derjenigen, die mit der Transparenz im Zusammenhang stehen, zu sprechen) auch die Arbeitsfähigkeit des Gerichts­ hofs gefährden, wenn es in der Zukunft (möglicherweise) zu einer Verfahrenslawine kommt.“ Vgl. in diesem Sinne auch die Stellungnahme des Rechtsausschusses im Europäischen Parlament zum Eilvorlageverfahren (Bericht v. 21.11.2007, S. 7): „Wenn nämlich eine zu hohe Zahl von Rechtssachen nach [dem Eilvorlageverfahren] behandelt wird, könnten andere Rechts­ sachen unnötig verzögert werden.“ 348 So richtigerweise auch Engström, ERA Forum 2009, 487, 493.

D. Kritik des Eilvorlageverfahrens

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Eine solche spätere Bearbeitung anderer Rechtssachen wird indes nicht zwangsläufig auch zu einer längeren Verfahrensdauer führen. Immerhin wäre die Eil­ vorlage sonst im Wege des normalen Vorabentscheidungsverfahrens zu behandeln gewesen. Dass der EuGH durch die Möglichkeit des Eilvorlageverfahrens insgesamt weniger Fälle ausführlich zu bearbeiten hat, beschleunigt auch die normalen Vorabentscheidungsverfahren  – bzw. führt bei steigenden Fallzahlen zumindest nicht zu einer Erhöhung der durchschnittlichen Verfahrensdauer349. Und selbst wenn es zu einer – angesichts der geringen Fallzahlen höchstens minimalen – Verfahrensverlängerung durch die Eilvorlagen kommen sollte, so kann diese Verfahrensverlängerung im Verhältnis zu der deutlichen Verfahrensverkürzung bei dringenden Verfahren auf jeden Fall hingenommen werden. V. Weitere Kritikpunkte

Neben den bisher erwähnten Kritikpunkten, die sich konkret bei der Unter­ suchung des Eilvorlageverfahrens als möglicher Lösung für das Problem der Verfahrensdauer bei strafrechtlichen Vorabentscheidungsverfahren vor dem Hinter­ grund des Beschleunigungsgebots ergeben haben, soll hier noch kurz auf die weiteren, im Schrifttum vorgebrachten Bedenken gegen das neue Verfahren nach Art. 104b VerfOEuGH eingegangen werden. 1. Festhalten am Vielsprachigkeitsgebot Die Vereinigung von 27 Mitgliedstaaten mit 23 verschiedenen Amtssprachen in der Europäischen Union führt wegen des Vielsprachigkeitsgebots  – d. h. der Gleichberechtigung aller Sprachen der Mitgliedstaaten  – dazu, dass Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof theoretisch in 506 möglichen Sprachkombina­ tionen stattfinden können350. Im Rahmen der Einführung des neuen Eilvorlageverfahrens wurde am Vielsprachigkeitsgebot grundsätzlich festgehalten, weshalb Gardette anmerkt: „Das Eilverfahren stellt den EuGH jedenfalls vor erhebliche Herausforderungen, nicht zuletzt deswegen, weil die beschlossenen Änderungen strikt an der Vielsprachigkeit des Gerichtshofs festhalten. Es wird daher dem EuGH obliegen, nicht nur für eine sachdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen, sondern auch für die zeitige Übersetzung des Akteninhalts und des Urteilsentwurfs zu sorgen.“351 349 Dies betont der EuGH in seinen jährlichen Rechtsprechungsberichten, vgl. Jahresbericht 2008, S. 10 und Jahresbericht 2009, S. 11. 350 Da Irland zurzeit auf Übersetzungen in die eigene Amtssprache verzichtet, reduziert sich die Zahl der möglichen Sprachkombinationen auf 462; vgl. Art. 2 der VO 920/2005 (ABl.EU 2005 Nr. L 156, S. 3 f.). 351 Gardette, EuZW 2008, 98 f. Auch der Gerichtshof sieht in den notwendigen Überset­ zungen „Sachzwänge“, vgl. EuGH, Entwurf eines Ratsbeschlusses v. 10.7.2007, abgedruckt in Rat der EU, DOK 11759/07, S. 18.

202

2. Teil: Neues Eilvorlageverfahren vor dem EuGH

Abgesehen von der prinzipiellen Berechtigung der Vielsprachigkeit in Europa, um die Integration trotz der verschiedenen sozialen und kulturellen Besonderheiten der Mitgliedstaaten zu ermöglichen352, wird der Übersetzungsaufwand im Rahmen eines Eilvorlageverfahrens dennoch merklich reduziert: Während des gesamten schriftlichen Verfahrens ist aufgrund des beschränkten Kreises von Beteiligungsberechtigten eine Übersetzung nur von der Sprache des Mitgliedstaats, aus dem die Vorlage stammt, in die Arbeitssprache des Gerichtshofs notwendig. Die anderen Mitgliedstaaten bekommen zudem zwar das Vorabentscheidungsersuchen in ihrer jeweiligen Amtssprache zugestellt; die weiteren Verfahrensunterlagen wie die eingereichten schriftlichen Erklärungen aber nur in der Verfahrenssprache und der Arbeitssprache des Gerichtshofs. Schließlich wird zur Beschleunigung das Urteil zunächst nur in die Verfahrenssprache übersetzt, so dass es verkündet und damit wirksam werden kann, bevor es danach auch in die weiteren Amtssprachen der Union übersetzt wird353. Insofern führt die Beibehaltung des Vielsprachigkeits­ gebots – jedenfalls während der Dauer eines Eilvorlageverfahrens – nicht zu unverhältnismäßigen Verzögerungen. 2. Eingriff in die Rollenverteilung zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof der Europäischen Union Eine bedeutende Neuerung in der Rollenverteilung zwischen dem EuGH und den mit­gliedstaatlichen Gerichten sieht Chevalier in der dem Gerichtshof ein­ geräumten Möglichkeit, das Eilvorlageverfahren von Amts wegen anzuwenden354. Bisher nämlich war das vorlegende mitgliedstaatliche Gericht für die Feststellung der Tatsachen und die konkrete Subsumtion unter das Recht allein zuständig; der EuGH judizierte lediglich abstrakt über die Auslegung des europäischen Rechts unter Zugrundelegung der mitgeteilten Fakten. Mit der Möglichkeit, das Eilvorlageverfahren per Beschluss von Amts wegen anzuordnen, wird diese klare Zuständigkeitstrennung teilweise aufgehoben, indem der Gerichtshof dazu ermächtigt wird, die Tatsachenwürdigung des nationalen Gerichts – das vielleicht keine besondere Dringlichkeit gesehen hat, um das Eilverfahren zu beantragen – durch seine eigene zu ersetzen. Trotz der ähnlichen Funktion des beschleunigten Verfahrens nach Art.  104a VerfOEuGH ist eine Anwendung dieses Verfahrens von Amts wegen unter Revision der Tatsachenwürdigung des vorlegenden Gerichts dort nicht vorgesehen. Um der nunmehr veränderten Rollenverteilung gerecht werden zu können, müssen am EuGH diverse organisatorische Vorkehrungen ge 352

Streinz, Europarecht, Rn. 272. Diese Übersetzung kann indes einige Zeit in Anspruch nehmen. Die deutsche Übersetzung des Urteils im Eilvorlageverfahren Detiček (EuGH, Urt. v. 23.12.2009 – Rs. C-403/09 PPU) ist beispielsweise erst drei Monate nach Verkündung des Urteils zugänglich gewesen. 354 Chevalier, ERA Forum 2009, 591, 599, 606 f. 353

D. Kritik des Eilvorlageverfahrens

203

troffen werden355: Jedes neue Vorabentscheidungsersuchen zum Bereich des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts muss unverzüglich auf seine Eilbedürftigkeit untersucht werden, was unter anderem eine rasche Übersetzung in die Arbeitssprache des Gerichtshofs und die ständige Anwesenheit zumindest eines Richters voraussetzt. Der von Chevalier beschriebene Paradigmenwechsel sollte jedoch nicht überbewertet werden. Der Hintergrund der Regelung, dass auch der EuGH die Anwendung des Eilvorlageverfahrens beschließen kann, ist wohl vielmehr darin zu sehen, dass offensichtlich eilbedürftige Vorlagefragen nicht nur deshalb im normalen Vorabentscheidungsverfahren behandelt werden sollen, weil das vorlegende Gericht – etwa aus Unkenntnis des neuen Verfahrens  – die entsprechende Antragstellung versäumt hat. Dadurch bekommt der Gerichtshof zudem die Chance, auch selbst für die Gewährleistung eines effektiven Rechtsschutzes zu sorgen356. Und welches mitgliedstaatliche Gericht wird sich beschweren, wenn es die Antwort aus Luxemburg schneller bekommt als erwartet? 3. Bedeutung des mündlichen Verfahrens Infolge der Beschränkung der Beteiligten, die schriftlich zu einer Eilvorlage Stellung nehmen dürfen, bekommt die mündliche Verhandlung im Eilvorlage­ verfahren eine herausgehobene Bedeutung357. Über die damit einhergehenden Herausforderungen für die Prozessführungstaktik der nicht im schriftlichen Verfahren äußerungsberechtigten Mitgliedstaaten macht sich Lumma Gedanken358: Wegen der Ungenauigkeit des gesprochenen  – und außerdem gedolmetschten  – Wortes befürchtet er, dass der Gerichtshof Entscheidungen im Eilvorlageverfahren auf einer unvollständigeren Entscheidungsgrundlage treffen muss, weil die meisten Mitgliedstaaten die Auswirkungen einer bestimmten Entscheidung des Gerichtshofs auf die nationalen Rechtsordnungen nicht so ausführlich mitteilen können, wie es bei einer schriftlichen Stellungnahme der Fall wäre. Dies sei besonders misslich, als im Bereich des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts regelmäßig neuartige Rechtsprobleme auftauchten. Diese Befürchtungen werden jedoch nicht von allen geteilt. So weist etwa ­ ennert da­rauf hin, dass manche Mitgliedstaaten gerade im mündlichen Gespräch R die Rechtsprobleme erschöpfender und sogar zielführender besprechen können359. Dass die europäischen Organe zudem davon ausgehen, dass auch nur mittels einer mündlichen Verhandlung ein gerechtes Urteil gefällt werden kann, zeigt die dem 355

Chevalier, ERA Forum 2009, 591, 599. Das sieht auch Chevalier, ERA Forum 2009, 591, 607. 357 So meint z. B. Lumma, EuGRZ 2008, 381, 384: „Das Eilvorlageverfahren bekommt dadurch grosso modo den Charakter eines mündlichen Anhörungsverfahrens.“ 358 Lumma, EuGRZ 2008, 381, 384. 359 Rennert, EuGRZ 2008, 385, 387. 356

204

2. Teil: Neues Eilvorlageverfahren vor dem EuGH

EuGH in Art. 104b § 4 VerfOEuGH eingeräumte Möglichkeit, in Fällen äußerster Dringlichkeit ganz von der Durchführung der schriftlichen Phase abzusehen360. Da ferner gerade die Beschränkung der in der schriftlichen Phase Äußerungs­ berechtigten wesentlich zum Beschleunigungseffekt des Eilvorlageverfahrens beiträgt361 und trotzdem die Balance mit den Beteiligungsinteressen der Mitgliedstaaten gewahrt bleibt362, sollten vielmehr Vorgehensweisen entwickelt werden, wie dieser Schwerpunktverlagerung zum mündlichen Verfahren Rechnung ge­tragen werden kann. Vorschläge dafür gibt es bereits: Der Gerichtshof beispielsweise könnte seine prozessleitende Funktion stärker wahrnehmen, indem er den Parteien im Vorfeld Fragen mitteilt, auf welche die Ausführungen konzentriert werden sollen; und die Vertreter der Mitgliedstaaten könnten die Kernpunkte ihrer Argumentation schriftlich festhalten und der zuständigen Kammer übergeben, damit diese gegebenenfalls auch später noch die jeweiligen Positionen nachvollziehen kann363. VI. Zwischenbilanz

Wenn vorgehend das neue Eilvorlageverfahren vor dem EuGH kritisiert wurde, so ist das nur unter dem Gesichtspunkt des in dieser Arbeit aufgeworfenen Problems des effektiven Rechtsschutzes in Bezug auf die Wahrung des Beschleunigungsgebots in Strafsachen geschehen. Unabhängig davon ist die Einführung des Verfahrens als weitere Möglichkeit zur Verfahrensbeschleunigung und damit zur Effektivierung des Rechtsschutzes auf europäischer Ebene prinzipiell zu begrüßen. Jedoch wurde festgestellt, dass das Eilvorlageverfahren gemäß Art. 104b VerfOEuGH das Konfliktpotenzial zwischen der Dauer eines strafrechtlichen Vor­abentscheidungsersuchens beim EuGH und der Beachtung des Beschleunigungsgebots aus der Menschenrechtskonvention, der Grundrechte-Charta und dem Grundgesetz nicht zufrieden stellend auflösen kann  – dies liegt erstens an der Restriktion des Anwendungsbereichs auf Vorlagefragen zum Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, zweitens an der Abhängigkeit von der Beurteilung der „Dringlichkeit“ durch den Gerichtshof und drittens an der weiterhin übergangsweise geltenden Jurisdiktionsbeschränkung des ex-Art. 35 EUV. Dementsprechend muss nach alternativen Lösungen für das Spannungsverhältnis gesucht werden. 360

Im normalen Vorabentscheidungsverfahren ist das genau andersherum: Dort kann unter den Voraussetzungen des Art. 104 § 4 VerfOEuGH auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet werden. 361 Dörr, EuGRZ 2008, 349, 353. 362 Dazu ausführlich schon oben in diesem Zweiten Teil unter B. V. Dies sieht im Übrigen auch Lumma, EuGRZ 2008, 381, 384 so. 363 EuGH, Ergänzung zum Reflexionspapier über die Behandlung von Vorlagefragen, die den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts betreffen v. 22.12.2006, DOK 17013/06, S. 10 i. V. m. S. 6; Lumma, EuGRZ 2008, 381, 384.

Dritter Teil

Lösungsmöglichkeiten für das Spannungsfeld zwischen Vorabentscheidungsverfahren und dem Beschleunigungsgebot 3. Teil: Lösungsmöglichkeiten Es ist mithin zu überlegen, was einem nationalen Strafrichter zu raten ist, wenn er sich widersprechenden Anordnungen aus europarechtlicher bzw. menschenund verfassungsrecht­licher Sicht gegenübersieht; wenn ihm einerseits Art.  267 AEUV nahelegt bzw.  – weil sich das Strafverfahren bereits in der letzten Instanz befindet oder es sich um ein Gültigkeitspro­blem handelt  – sogar gebietet, eine euro­parechtliche Frage dem Europäischen Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorzu­legen, andererseits er aber durch das völker- bzw. menschenrecht­liche (Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK), europarechtliche (Art. 47 Abs. 2 GRCh) und verfassungsrechtliche (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG) Beschleunigungsgebot und das richterliche Selbstverständnis dazu verpflichtet ist, das wegen des Instanzenzugs möglicherweise schon etliche Jahre dauernde Verfahren nicht noch mindestens weitere anderthalb Jahre zu verzögern. Denn: „Setzt einen die Rechtsordnung gegenläufigen Befehlen aus, so mag man sich achsel­ zuckend in sein Schicksal fügen und nach pragmatischen Auswegen suchen. Für den Dogmatiker darf diese Agonie nicht sein. Er sucht nicht nach einem Ausweg, sondern nach einer rechtlichen Lösung. Sie darf auch praktikabel sein.“1

A. Vorverständnis hinsichtlich der zu erarbeitenden Lösung Bevor die Möglichkeiten zur Milderung des Spannungsfeldes zwischen der Dauer von Vorabentscheidungsverfahren und dem Beschleunigungsgebot in Strafsachen untersucht und ein eigener Lösungsvorschlag unterbreitet werden, sollen die Eckpunkte für die Eingrenzung des möglichen Lösungsspektrums fest­gehalten werden.



1

Rennert, EuGRZ 2008, 385.

206

3. Teil: Lösungsmöglichkeiten

I. Systemimmanente Lösung im europäischen Recht

Treffen mehrere gegenläufige Prinzipien aufeinander – wie hier das durch die Möglichkeit bzw. Pflicht zur Vorlage konkretisierte Unionsinteresse an der einheitlichen Anwendung und Auslegung des Unionsrechts sowie das Menschenund Grundrecht des Angeklagten auf Einhaltung einer angemessenen Verfahrensdauer –, so muss ein Kompromiss gefunden werden, der die beteiligten Grundsätze möglichst umfassend zur Geltung bringt. Im Interesse einer baldigen Umsetzung einer solchen Lösung sollte sie bestenfalls ohne größere Änderung des geltenden Rechts auskommen, um den Unsicherheitsfaktor einer solchen Rechtsanpassung zu umgehen. Auf der anderen Seite wird ein zufrieden stellendes Konzept ganz ohne Änderungen nicht möglich sein, denn sonst wäre es schließlich nicht zur Existenz des Spannungsfeldes gekommen. Die Lösung sollte sich auch  – angesichts der latent angespannten und derzeit durch die Weltwirtschaftskrise noch verstärkt beanspruchten Finanzlage der Mitgliedstaaten der Europäischen Union – nicht nur in der Forderung nach besserer Ausstattung der Justiz beschränken, wenngleich etwa eine deutliche Erhöhung der Richterstellen (bzw. zumindest der Mitarbeiter­ stellen) am Europäischen Gerichtshof eine durchaus erfolgversprechende Maßnahme zur Wahrung des Beschleunigungsgebots wäre2. Da es in der vorliegenden Abhandlung um eine mögliche Verletzung des Beschleunigungsgebots durch Vorabentscheidungsverfahren geht, ist den Möglichkeiten zur Verfahrensbeschleunigung zudem nur auf europäischer und nicht auf nationaler Ebene nachzugehen. Wie das nationale Strafverfahren beschleunigt durchgeführt werden kann, soll mithin nicht untersucht werden3. Vielmehr sind Gegenstand der Überlegungen das – im weitesten Sinne – Prozessrecht des Gerichtshofs der Europäischen Union und die Regelung der Vorlagebefugnis und Vorlagepflicht in Art. 267 AEUV4.

2 So etwa die Schlussfolgerung von Ottaviano, Rechtzeitiger Rechtsschutz, S. 261; Brück, Vorabentscheidungsverfahren, S. 232 ff.; vgl. auch für die nationale Justiz Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 268; Schlette, Entscheidung in angemessener Frist, S. 16 f. 3 Zu diesem rechtspolitischen Dauerbrenner, jüngst bezüglich Absprachen im Strafprozess (die neuen §§ 257b, 257c StPO) vgl. Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 17 Rn. 7 ff.; Pfeiffer/Hannich, KK-StPO, Einl. Rn. 29a ff.; Meyer-Goßner, StPO, Einl. Rn. 119 ff.; allgemein Scheffler, Überlange Dauer, S.  49 ff.; Berz, NJW 1982, 729, 730 ff.; Küng-Hofer, Beschleunigung des Strafverfahrens, S. 105 ff. 4 Vgl. auch Schulze/Walter, EuGRZ 2008, 341: „Das Prozessrecht der Europäischen Gerichte erscheint technisch und allenfalls für die forensische Praxis bedeutsam. Die Erfahrungen der letzten Jahre zeigen aber, dass der Aspekt effektiven Rechtsschutzes als Kernbestandteil rechtsstaatlicher Anforderungen auf europäischer Ebene zu Unrecht vernachlässigt wurde. Auch beim Gerichtshof der Europäischen [Union] und beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte besteht natürlich ein sehr enger Zusammenhang zwischen der konkreten Ausgestaltung des Prozessrechts und dem Gebot effektiven Rechtsschutzes. Vor allem die Verfahrensdauer, bislang ein häufiger Kritikpunkt des EGMR gegenüber den Mitgliedstaaten, wird für beide europäischen Gerichte ein Problem.“

A. Vorverständnis

207

II. Ausklammerung der problemnegierenden Stimmen

Angesichts der hier vertretenen Auffassung, dass Vorabentscheidungsverfahren sowohl für sich allein als auch bei der Begutachtung des gesamten nationalen Strafverfahrens zu einem Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot vor allem aus Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK (auf das sich auch das unionsrechtliche und deutsche verfassungsrechtliche Beschleunigungsgebot beziehen) führen können5, vermag Literaturstimmen, die das Spannungsfeld negieren oder problemlos akzeptieren, nicht zugestimmt werden. 1. Keine wertende Betrachtung der Verzögerungsgründe Dies betrifft zum einen die Meinung, wonach die durch ein Vorabentscheidungsverfahren verstrichene Zeit schon gar nicht in die nach Art. 6 EMRK auf ihre Angemessenheit zu prüfende Verfahrensdauer einberechnet werden soll6. In eine ähnliche Richtung gehen Dörrs Überlegungen: Seiner Meinung nach müsse die Dauer einer aufgrund von Art. 267 Abs. 3 AEUV obligatorischen Vorlage an den EuGH deshalb unberücksichtigt bleiben, weil diese Verzögerung ihre Ursache im autonomen Unionsrecht und somit außerhalb des entscheidenden Gerichts habe7; eine nicht europarechtlich  – wenn auch nach der Rechtsprechung des BVerfG verfassungsrechtlich – gebotene Vorlage könne hingegen zu einer konventionswidrigen Überlänge führen8. Allerdings kann schon Dörrs Ausgangspunkt nicht überzeugen, denn auch die durch ein obligatorisches Vor­ abentscheidungsverfahren entstandene Verfahrensverlängerung ist aus zwei Gründen dem nationalen Staat zuzurechnen: Erstens ist das Vorlageverfahren beim EuGH als Inzidentverfahren Bestandteil des nationalen Strafverfahrens9; deshalb ist auch der EuGH bei einer national oder europarechtlich gebotenen Vorlage als gesetzlicher Richter im Sinne von Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG anzusehen. Und zweitens kann sich kein Mitgliedstaat durch die Übertragung von Hoheitsrechten auf eine neue supranationale Organisation der Verpflichtung zur Achtung der Konventionsrechte entledigen10. Doch selbst wenn man davon absieht, führt Dörrs Ansicht zumindest im Strafrecht zu einer vor dem Hintergrund des Rechts des Angeklagten auf Aburteilung innerhalb angemessener Frist unlogischen Konsequenz:

5



6

Zur Begründung dieser Ansicht siehe ausführlich oben Erster Teil, E. II. Zu den Vertretern dieser Ansicht und warum sie abzulehnen ist, wurde bereits im Ersten Teil unter E. II. 3. ausführlich dargelegt. 7 Dies müsste dann auch für Gültigkeitsvorlagen gelten, für die der EuGH schließlich auch eine europarechtliche Vorlagepflicht hergeleitet hat. 8 So Dörr, Europäisierter Rechtsschutzauftrag, S. 232 f. in Bezug auf einen möglichen Konflikt mit der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG. 9 Statt aller Waßmer, ZStW 118 (2006), 159, 176; weitere Nachweise siehe oben im Ersten Teil, E. II. 3. b). 10 Ausführlich dazu auch schon im Ersten Teil unter E. II. 3. d).

208

3. Teil: Lösungsmöglichkeiten

Wenn nur die europarechtlich gebotene Vorlage bei der Ermittlung der Verfahrensdauer nicht berücksichtigt wird, müssten die Gerichte ein Interesse daran haben, das Strafverfahren bis in die letzte Instanz zu führen, um eine Klärung der unionsrechtlichen Frage zu erreichen11. Diese – möglicherweise vermeidbare – nationale Verfahrensverlängerung steht diametral zum Anliegen etwa des Bundesverfassungsgerichts, welches mit der Statuierung einer Vorlagepflicht unter Umständen bereits für Instanzgerichte12 gerade die Ausschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs bis zur letzten Instanz zu vermeiden sucht13. Eine Verletzung des Beschleunigungsgebots zu verhindern, indem vor einer Vorlage an den EuGH noch möglichst viele Instanzen durchlaufen werden, kann als Lösung nicht überzeugen. 2. Strafvollstreckungslösung unzureichend Eine Problemlösung kann auch nicht darin bestehen, auf die Strafvollstreckungs­ lösung des BGH14 zu verweisen15. Zwar ist die Reduzierung der zu vollstreckenden Strafe bis hin zur Einstellung des Verfahrens wegen einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung als Möglichkeit zur Vermeidung eines drohenden Verstoßes gegen das Beschleunigungsgebot  – auch vom EGMR  – anerkannt. Diese Kompensation als nachträgliche Reaktion auf eine überlange Verfahrensdauer kann aber nur für den Einzelfall und nicht zur Lösung eines strukturellen Problems gedacht sein16. Darüber hinaus bringt die Kompensation nach verpflichtenden Vorabentscheidungsersuchen nicht zum Ausdruck, dass die Verzögerung des Verfahrens „europarechtlich determiniert und damit für die nationale Strafjustiz unvermeidbar“ war17. Insofern vermag die Strafvollstreckungslösung des BGH als letztes Mittel zur Wahrung der Konventionsrechte einen „pragmatischen Ausweg“18 aus dem Spannungsfeld von Vorabentscheidungsverfahren und dem Beschleunigungsgebot darstellen, als grundsätzliche Lösung zum Ausgleich der gegenläufigen euro­parechtlichen und menschenrechtlichen Anforderungen ist sie hingegen ungeeignet.

11 Zwar können die Gerichte ein Verfahren nicht selbst in die höhere Instanz befördern; indem sie aber die europarechtliche Auslegungsfrage vollständig ignorieren, sollte es möglich sein, die Verteidigung zur Einlegung eines Rechtsmittels zu bewegen. 12 BVerfG NJW 1989, 2464. 13 Heger, Europäisierung des Umweltstrafrechts, S. 46. 14 Vgl. dazu Erster Teil, C. II. 3. b). 15 So tendenziell Dannecker, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Handbuch Rechtsschutz, § 38 Rn. 44; Satzger, Europäisierung, S. 668 f. 16 Satzger, Europäisierung, S. 669 bezweifelt deshalb zu Recht, „ob auf lange Sicht ein bloßer Ausgleich der Verfahrensverzögerung auf [2001 noch] strafzumessungsrechtlicher Ebene hingenommen werden kann“. 17 Heger, Europäisierung des Umweltstrafrechts, S. 45. 18 Vgl. Rennert, EuGRZ 2008, 385.

B. Lösungen zur Erweiterung der Kapazität des EuGH

209

III. Ansatzpunkte für eine rechtliche Lösung aus europarechtlicher Sicht

Versucht man also, für das Spannungsfeld zwischen dem Beschleunigungs­ gebot und dem Entscheidungsmonopol des EuGH eine rechtliche Lösung zu finden, die nicht zu einem unangemessen lange dauernden nationalen Strafverfahren führt, so ergeben sich auf der Ebene des europäischen Rechts zwei grundsätzliche Ansatzpunkte19: Um prinzipiell eine schnellere Entscheidung des EuGH sicherzustellen20, könnte man einerseits auf eine Kapazitätserweiterung beim Gerichtshof hinwirken, indem entweder die Zahl der Richter erhöht oder eine effizientere Arbeitsweise durch eine Straffung des Verfahrens und der Organisation ermöglicht wird21. Andererseits wäre zu überlegen, ob die Anzahl der Vorabentscheidungsersuchen beim Gerichtshof gesenkt werden könnte, indem die Voraussetzungen des Art. 267 AEUV (ex-Art. 234 EGV) und ihre Interpretation durch die Luxem­burger Richter einer kritischen Untersuchung im Hinblick auf ihre Zeitgemäßheit unterzogen werden22.

B. Lösungen zur Erweiterung der Kapazität des Gerichtshofs der Europäischen Union B. Lösungen zur Erweiterung der Kapazität des EuGH

Das Spannungsfeld zwischen der Dauer von Vorabentscheidungsverfahren vor dem Hintergrund des Beschleunigungsgebots in Strafsachen kann möglicherweise durch eine Erweiterung der Kapazität am Gerichtshof der Europäischen Union abgemildert werden, weil dann zu hoffen wäre, dass der EuGH stets zu einer raschen Entscheidung der Vorabentscheidungsersuchen in der Lage wäre. I. Entlastung der Richter des Gerichtshofs der Europäischen Union

Eine schnellere Bearbeitung von Vorabentscheidungsersuchen ließe sich zum einen dadurch erreichen, dass die Richter des Europäischen Gerichtshofs ent­lastet werden.



19



20

So auch Jacobs, FS Zuleeg, S. 204, 205; Skouris, EuGRZ 2008, 343, 347. Dem EuGH obliegt schließlich auch eine Rechtspflicht zu Beschleunigungsbemühungen; dies betont Rennert, EuGRZ 2008, 385, 386. 21 Dazu Abschnitt B. in diesem Dritten Teil. 22 Dazu Abschnitt C. in diesem Dritten Teil.

210

3. Teil: Lösungsmöglichkeiten

1. Institutionelle Maßnahmen: Erhöhung der Richterzahl oder Verkleinerung der Spruchkörper Eine Entlastung der Richter und damit eine Erhöhung der Arbeitskapazität des EuGH könnte durch institutionelle Maßnahmen wie etwa die Erweiterung der Richterschaft am Gerichtshof oder die Verkleinerung der Spruchkörper bewerkstelligt werden, um mehr Kammern zur Verfügung zu haben23. Wie schon bisher (in ex-Art. 221 Abs.  1 EGV), so wird auch durch den Vertrag von Lissabon durch Art. 19 Abs. 2 S. 1 EUV bestimmt: „Der Gerichtshof besteht aus einem Richter je Mitgliedstaat.“24 Zu einer Erhöhung der Richterstellen kommt es damit nur, wenn neue Mitgliedstaaten in die Europäische Union aufgenommen werden. Mit den Ost-Erweiterungen der EU in den Jahren 2004 und 2007 hat sich deshalb die Anzahl der Richter am Gerichtshof von 15 auf 27 erhöht. Aller­dings führt die Aufnahme neuer Mitgliedstaaten auch dazu, dass sich die Anzahl der potenziellen Vorabentscheidungsverfahren und der zu berücksichtigenden unterschiedlichen Rechtssysteme erhöht; außerdem potenziert sich mit jeder neuen Amtssprache die Anzahl der denkbaren – schon jetzt sind es 462 – Sprachkombinationen, die teilweise bereits heute so außergewöhnlich sind, dass eine Übersetzung von einer Sprache in die andere nicht mehr direkt, sondern nur noch mittels einer Relaissprache möglich ist – mit den daraus resultieren Kosten- und möglichen Übersetzungsfehlerfolgen25. Schließlich ist auch darauf hinzuweisen, dass eine Erhöhung der Richterzahl nur bedingt zweckdienlich ist, wenn die Aufgabe des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren unter anderem darin besteht, die Einheitlichkeit der Rechtsprechung zu gewährleisten26. Je mehr Richter nämlich am Gerichtshof tätig sind, desto größere interne Anstrengungen müssen unternommen werden, um für eine kohärente Rechtsprechung des EuGH zu sorgen. So hat die Erhöhung der Richterstellen infolge der EU-Osterweiterungen dazu geführt, dass Entscheidungen im Plenum von allen 27 Richtern faktisch nicht mehr gefällt werden, sondern dass der praktisch größte Spruchkörper des EuGH die Grande

23

Rennert, EuGRZ 2008, 385, 386 nennt als weitere Maßnahmen noch die Auslagerung der Entscheidungsvorbereitung vom Berichterstatter auf einen Generalanwalt und alternativ zur Erhöhung der Richterstellen die Möglichkeit, die Zahl ihrer Mitarbeiter zu erweitern, obwohl er dies nur für eine Notlösung hält („zur größten Not“), die beim EuGH im Übrigen auch schon ausgeschöpft sei. – Seit dem Vertrag von Lissabon kann nach Art. 252 Abs. 1 S. 2 AEUV die Zahl der Generalanwälte durch einstimmigen Beschluss des Rats auf Antrag des Gerichtshofs erhöht werden. In der dem Vertrag beigefügten Erklärung Nr. 38 (ABl.EU 2010 Nr. C 83, S. 350) ist festgelegt, dass der Rat eine Erhöhung um drei Generalanwälte auf dann insgesamt elf auch beschließen wird, wenn der Gerichtshof dies beantragt. 24 Auch für das Gericht (ehemals Gericht erster Instanz) bleibt es bei der Regelung, dass aus jedem Mitgliedstaat „mindestens“ ein Richter entsandt wird (Art. 19 Abs. 2 UAbs. 2 EUV; ­ex-Art. 224 Abs. 1 S. 1 EGV). Wenngleich die Formulierung „mindestens“ die Bestellung mehrerer Richter zulassen würde, so wurde bislang auch für das Gericht an der Regelung „ein Richter pro Mitgliedstaat“ festgehalten. 25 Vgl. Skouris, EuGRZ 2008, 343, 347. 26 Skouris, EuGRZ 2008, 343, 347.

B. Lösungen zur Erweiterung der Kapazität des EuGH

211

Chambre mit 13 Richtern ist. Für die nötige intra-institutionelle Koordination soll deshalb die personelle Verknüpfung zwischen der Großen Kammer und den vier Fünfer-Kammern sorgen27: Denn die Präsidenten der Fünfer-Kammern sind neben dem Präsidenten des Gerichtshofs ständige Mitglieder der Großen Kammer, während die übrigen Richter rotieren (Art. 11b § 1 VerfOEuGH). Nichtsdestotrotz bedeutet die Vergrößerung des Gerichtshofs, dass schon heute nicht mehr alle Richter an Entscheidungen von grundsätzlicher Bedeutung beteiligt sind. Aus diesem Grund ist auch Skepsis gegenüber einer weiteren Verkleinerung der über Vorabentscheidungsverfahren entscheidenden Kammern angebracht. Nach der derzeitigen Regelung entscheidet im Normalfall eine Fünfer-Kammer über ein Vorabentscheidungsersuchen; nur wenn sich die vorgelegte Frage als relativ einfach bzw. ungewöhnlich kompliziert darstellt, ist eine Verweisung an eine Dreier- respektive an die Große Kammer möglich (Art. 44 § 3 Abs. 1 bzw. für Eilvorlageverfahren Art. 104b § 5 Abs. 2 S. 1, Abs. 3 S. 1 VerfO­EuGH). Eine weitere Verkleinerung der Kammern – etwa bis hin zur Entscheidung eines einzelnen Richters28 – sollte vermieden werden, um die Vielfalt der europäischen Rechtsordnungen auch in der Rechtsprechung des EuGH zur Geltung bringen zu können29. Mithin ist festzustellen, dass die institutionellen Möglichkeiten zur Entlastung der Richter und damit zur Erhöhung der Arbeitskapazität des Europäischen Gerichtshofs bereits weitestgehend ausgeschöpft sind. 2. Verlagerung von Vorabentscheidungsverfahren auf das Gericht Ebenfalls zu einer Entlastung der EuGH-Richter würde eine Verlagerung von bestimmten Vorabentscheidungsersuchen auf das Gericht (ehemals Gericht erster Instanz) führen. Zwar soll der Gerichtshof, der für die einheitliche Anwendung des Unionsrechts zu sorgen hat, im Grundsatz auch weiterhin für Vorabentscheidungsersuchen zuständig sein, allerdings wurde eine neue Zuständigkeitsverteilung sowohl von den europäischen Gerichten als auch von der im Vorfeld der Regierungskonferenz von Nizza eingesetzten Expertengruppe empfohlen, um den EuGH von allzu spezialisierten oder untergeordneten Vorlagefragen zu entlasten30. Deshalb

27



28

Lumma, EuGRZ 2008, 381, 382. Die Entscheidung eines Einzelrichters soll zur Entlastung des noch viel stärker beanspruchten EGMR eingeführt werden, vgl. Art. 26 f. EMRK in der Fassung des 14. Zusatzprotokolls, welches wegen der lange Zeit fehlenden Ratifikation Russlands erst am 1. Juni 2010 in Kraft getreten ist. Mitte 2009 wurde diese Neuerung aber bereits durch einen Beschluss des Ministerkomitees und das Zusatzprotokoll Nr. 14bis herbeigeführt; siehe dazu EGMR, Annual Report 2009, S. 5 f. 29 Rennert, EuGRZ 2008, 385, 386; Ottaviano, Rechtzeitiger Rechtsschutz, S. 205; Haase, Faires Gerichtsverfahren, S. 410 ff. 30 Due-Report über die Zukunft des Gerichtssystems der Europäischen Gemeinschaften, S. 22 f., 29 ff.; vgl. auch Dauses, Gutachten D, S. 80 ff., 95 ff.

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3. Teil: Lösungsmöglichkeiten

bestimmt seit dem Vertrag von Nizza ex-Art. 225 Abs. 3 EGV, mit dem Vertrag von Lissabon nunmehr Art. 256 Abs. 3 AEUV, dass Vorlagen zu bestimmten, in der Satzung noch festzulegenden Sachgebieten dem Gericht zur Entscheidung übertragen werden können. Dass eine solche Zuständigkeitsübertragung bisher noch nicht erfolgt ist und auch in absehbarer Zukunft nicht erfolgen wird31, hat seinen Grund in diversen praktischen Schwierigkeiten. Erstens ist der tatsächliche Entlastungseffekt einer solchen Zuständigkeitsteilung zwischen dem Gericht und dem Gerichtshof wohl eher als gering anzusehen32. Schließlich muss sichergestellt werden, dass der Gerichtshof in wichtigen Fällen selbst entscheidet. Aus diesem Grund wird es zum einen dem Gericht erlaubt sein, das Verfahren an den EuGH zu verweisen, wenn es der Auffassung ist, dass die Rechtssache eine Grundsatzentscheidung erfordert, weil ansonsten die Einheit oder die Kohärenz des Unionsrechts berührt wäre (Art. 256 Abs. 3 UAbs. 2 AEUV). Zum anderen ist ein gerichtsinterner Rechts­ mittelzug vorgesehen (Art. 256 Abs. 3 UAbs. 3 AEUV); der Erste Generalanwalt soll eine Überprüfung des vom Gericht in erster Instanz gefällten Urteils über das Vorlageersuchen durch den EuGH vorschlagen können, wenn er die Einheitlichkeit des Europarechts gefährdet sieht33. Als zweites Umsetzungsproblem erweist sich die Frage, über welche Vorlagen das Gericht eigentlich entscheiden soll. Immerhin ist die Monopolisierung der Vorabentscheidungsverfahren beim Gerichtshof entscheidend für eine kohärente Unionsrechtsprechung34. Dementsprechend sollte der Gerichtshof auch künftig zumindest für alle Verfahren grundsätzlicher und verfassungsstreitähnlicher Art zuständig bleiben, um die Rechtsmittelein­legung an den EuGH auf ein Minimum an Fällen zu beschränken. Klare Abgrenzungskriterien sind indes noch nicht in Sicht35; vorgeschlagen wird aber auch die Übertra

31 So der Präsident des Gerichtshofs Skouris, EuGRZ 2008, 343, 347. – Nach Art. 281 Abs. 2 AEUV erfordert eine Satzungsänderung einen Beschluss des Europäischen Parlaments und des Rates gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren (Art. 294 AEUV). 32 Skouris, EuGRZ 2008, 343, 347; Rennert, EuGRZ 2008, 385, 386 f.; Lipp, NJW 2001, 2657, 2662. 33 Nach Art. 62 ff. EuGH-Satzung ist allerdings über die Verweisungen an den Gerichtshof „im Wege eines Eilverfahrens“ (Art. 62a Abs. 1 EuGH-Satzung) zu entscheiden. Welches Eilverfahren damit gemeint ist, bleibt unklar: Art. 104b VerfOEuGH wird aufgrund des begrenzten Anwendungsbereichs nur in ausgewählten Fällen angewendet werden können; damit bleibt eigentlich im Normalfall nur die Anwendung des beschleunigten Verfahrens nach Art.  104a VerfOEuGH (vgl. Heß, RabelsZ 2002, 470, 492). 34 Lumma, EuGRZ 2008, 381, 382. 35 Selbst die Teilnehmer der Regierungskonferenz in Nizza im Dezember 2000 konnten sich lediglich auf die gemeinsame Erklärung einigen, dass der EuGH und die Kommission auf­ gefordert werden, entsprechende Vorschläge zu unterbreiten (soweit ersichtlich, gibt es keine diesbezüglichen Vorschläge). Lenarts, in: Pernice/Kokott/Saunders, European Judicial System, S. 211, 233 weist zudem darauf hin, dass fast jede Rechtssache auch Fragen zum „Verfassungsrecht“ der Europäischen Union aufwirft. – Inwieweit eine solche Übertragung der Zuständigkeit auf das EuG überhaupt sinnvoll ist, wird auch in der Literatur sehr unterschiedlich beurteilt, siehe dazu Thiele, Europäisches Prozessrecht, § 2 Rn. 55 m. w. N. – Vgl. aber die Vor-

B. Lösungen zur Erweiterung der Kapazität des EuGH

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gung von Zuständigkeiten auf das EuG im Bereich der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen36. Drittens ist eine Zuständigkeitsübertragung auf das EuG deshalb so umstritten, weil die Kapazität des Gerichts selbst nicht unbegrenzt ist. Durch den Vertrag von Nizza wurde dem EuG bereits zusätzlich eine bestimmte Gruppe von Nichtigkeitsklagen übertragen37. Diese Verlagerung hat ihre Berechtigung deshalb, weil das Gericht zu einer genaueren Überprüfung der dem Rechtsstreit zugrunde liegenden Tatsachen in der Lage ist und einen besseren Rechtsschutz gewähren kann, der sich unter anderem in der Möglichkeit zur Einlegung eines Rechtsmittels zum EuGH zeigt38. Solche Vorteile könnten sich jedoch beim Vorabentscheidungsverfahren nicht realisieren: Das vorlegende Gericht teilt bereits alle relevanten Fakten mit, so dass eine Beweisaufnahme nicht mehr nötig ist; im Gegenzug möchte es zügig eine verbindliche Antwort, ohne gegebenenfalls noch eine weitere Instanz mit der Frage zu beschäftigen. Hinzu kommt, dass die Verfahrensdauer auch beim EuG selbst äußerst bedenkliche Züge trägt39, obwohl es Ende 2005 durch die Errichtung des Gerichts für den Öffent­lichen Dienst entlastet wurde. Eine Übertragung von Zuständigkeiten für bestimmte Vorabentscheidungsersuchen würde daher das Problem nur vom Gerichtshof auf das Gericht verlagern40 und keine wesentliche Beschleunigung – sondern durch das Rechtsmittelverfahren unter Umständen sogar eine Verlängerung – des Verfahrens bringen. 3. Verlagerung von Vorabentscheidungsverfahren auf dezentrale Unionsgerichte Statt Vorabentscheidungsverfahren auf das Gericht vom Europäischen Gerichtshof zu übertragen, wird zudem diskutiert, unterhalb der europäischen Gerichtsbarkeit nationale oder regionale Unionsgerichte zu errichten, welche mit der Behandlung von Vorabentscheidungsersuchen der Gerichte aus ihrem territorialen schläge bei Everling, EuR 2003, Beiheft 1, 7, 21; Grabenwarter, EuR 2003, Beiheft 1, 55, 61 ff.; Ottaviano, Rechtzeitiger Rechtsschutz, S.  214 f. und Malferrari, Zurückweisung von Vorabentscheidungsersuchen, S. 250 ff. 36 Due-Report über die Zukunft des Gerichtssystems der Europäischen Gemeinschaften, S. 33; Pechstein, EU-/EG-Prozessrecht, Rn. 788. 37 Vgl. Lenz, EuGRZ 2001, 433, 434.  – Mit Beschluss vom 26.4.2004 wurden dem Gericht erster Instanz erneut bestimmte Direktklagen zusätzlich übertragen, wie es ex-Art. 225 Abs. 1 S. 2 EGV [nunmehr Art. 256 Abs. 1 UAbs. 1 S. 2 AEUV] vorsieht; vgl. näher Beschluss 2004/407/EG, ABl.EU 2004 Nr. L 132, S. 5. – Vgl. auch die durch den Vertrag von Lissabon erweiterte Fassung von Art. 263 Abs. 4 AEUV im Verhältnis zum früheren Art. 230 Abs. 4 EGV. 38 Jacobs, FS Zuleeg, S. 204, 208. 39 So betrug die durchschnittliche Verfahrensdauer beim EuG im Jahr 2010 in Verfahren betreffend das geistige Eigentum 20,6 Monate, betreffend staatliche Beihilfen 32,4 Monate, den Wettbewerb betreffend 45,7 Monate, bei sonstigen Klagen 23,7 Monate sowie bei Rechtsmittel­ entscheidungen 16,6 Monate, vgl. EuGH, Jahresbericht 2010, S. 193. 40 Skouris, EuGRZ 2008, 343, 347; Jacobs, FS Zuleeg, S. 204, 208; Lipp, NJW 2001, 2657, 2662; Due-Report über die Zukunft des Gerichtssystems der Europäischen Gemeinschaften, S. 22.

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3. Teil: Lösungsmöglichkeiten

Zuständigkeitsbereich betraut würden41. Zweckmäßigerweise wären die untergeordneten europäischen Gerichte bei den obersten Gerichten des jeweiligen Mitgliedstaats anzusiedeln, um die Kosten etwaiger neuer Gerichte zu umgehen42. In Deutschland hätte dann etwa ein Senat der Bundesgerichte über die Vorabentscheidungsersuchen der Gerichte des entsprechenden Gerichtszweigs zu entscheiden43. Eine Entscheidung könnte indes nur bei Auslegungsfragen getroffen werden; bei Gültigkeitsfragen hätte weiterhin stets der EuGH zu urteilen44. Allerdings müsste auch bei der Einrichtung dezentraler Unionsgerichte – wie bei der Verlagerung von Vorabentscheidungsverfahren auf das EuG – dafür gesorgt werden, dass die angerufenen Gerichte bei grundsätzlichen Fragen zum Europarecht oder möglichen Divergenzen die Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union weiterleiten bzw. dass eine Überprüfungsmöglichkeit durch den EuGH in zweiter Instanz geschaffen wird45. Neben einer Entlastung des EuGH von unwesentlichen Fragen zum Europarecht hätte diese Lösung immerhin den Vorteil, dass – zumindest bei nationalen untergeordneten Unionsgerichten  – sämtliche Übersetzungen wegfielen46. Dem steht jedoch vor allem die Überlegung gegenüber, dass die Einrichtung dezen­traler Unionsgerichte eine große Gefahr für die Einheitlichkeit und Kohärenz des Europarechts darstellen würde47. Befürchtet wird, dass diese regionalen oder nationalen Gerichte verschiedene Rechtsprechungen entwickeln und es somit zu einer unterschiedlichen Auslegung und Anwendung des gemeinsamen Rechts in der Euro­ päischen Union kommt48. Gerade für das Funktionieren des Binnenmarktes wären signifikante Rechtsprechungsdivergenzen äußerst kontraproduktiv. Im Hinblick auf die Verfahrensdauer bei strafrechtlichen Vorabentscheidungsverfahren vor dem Hintergrund des Beschleunigungsgebots kommt noch hinzu, dass mit der Verlagerung von Vorabentscheidungsersuchen auf dezentrale Unionsgerichte nicht unbedingt eine kürzere, sondern eventuell sogar eine längere Verfahrensdauer zu erwarten ist: Zwar würde eine Antwort des BGH in Strafsachen voraussichtlich weniger Zeit in Anspruch nehmen, als es derzeit beim EuGH der 41 Grundlegend Jaqué/Weiler, CMLRev. 1990, 185, 192 ff.; vgl. auch Hirsch, ZRP 2000, 57, 59 f.; EuGH, Reflexionspapier v. 28.5.1999, EuZW 1999, 750, 755; Due-Report über die Zukunft des Gerichtssystems der Europäischen Gemeinschaften, S. 20 f.; Hakenberg, ZEuP 2000, 860, 864 m. w. N. 42 Hirsch, ZRP 2000, 57, 59; Ottaviano, Rechtzeitiger Rechtsschutz, S. 107. 43 Hirsch, ZRP 2000, 57, 59. 44 So auch Hirsch, ZRP 2000, 57, 59; Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Handbuch Rechtsschutz, § 10 Rn. 103. 45 Hirsch, ZRP 2000, 57, 60; Ottaviano, Rechtzeitiger Rechtsschutz, S. 110. 46 Due-Report über die Zukunft des Gerichtssystems der Europäischen Gemeinschaften, S. 20; Ottaviano, Rechtzeitiger Rechtsschutz, S. 108 ff. 47 EuGH, Reflexionspapier v. 28.5.1999, EuZW 1999, 750, 755; Due-Report über die Zukunft des Gerichtssystems der Europäischen Gemeinschaften, S.  20 f.; Malferrari, Zurück­ weisung von Vorabentscheidungsersuchen, S. 257 f.; Lenz, EuGRZ 2001, 433, 439. 48 Skouris, EuGRZ 2008, 343, 348.

B. Lösungen zur Erweiterung der Kapazität des EuGH

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Fall ist49. Wegen des nötigen Instanzenzugs hinge die tatsächliche Entlastung des EuGH indes davon ab, wann das zur Vorabentscheidung angerufene Gericht seinerseits zu einer Vorlage an den Europäischen Gerichtshof verpflichtet wäre. Insofern wäre auch bei diesem Vorschlag über eine deutliche Beschränkung der Vorlagepflicht der obersten Gerichte zu befinden50. Jedenfalls bei wesentlichen Fragen zum Unionsrecht  – bei denen das untergeordnete Unionsgericht die Vorlage an den EuGH abzugeben hätte  – würde sich das Ausgangsverfahren allein durch das Durchlaufen einer zusätzlichen Instanz erheblich verzögern51. Darüber hinaus könnte die Einführung einer dem nationalen Richter vertrauteren Entscheidungsinstanz zu einem Anstieg der Vorlagebereitschaft führen52, die sich ebenfalls negativ auf die Dauer der Beantwortung des Ersuchens auswirken würde. Mithin empfiehlt sich die Verlagerung von Vorlagen auf dezentrale Unionsgerichte zur Auflösung des Spannungsfeldes zwischen Vorabentscheidungsverfahren und dem Beschleunigungsgebot in Strafsachen nicht. II. Effektivierung von Verfahren und Organisation am Gerichtshof der Europäischen Union

Erscheint mithin eine Kapazitätserweiterung beim EuGH durch eine direkte oder mittelbare Erhöhung der Richterstellen nicht aussichtsreich, so muss über die Effektivierung der Verfahrens- und Organisationsabläufe beim Gerichtshof nachgedacht werden. 1. Ausschöpfung der verfahrensrechtlichen Möglichkeiten Allerdings hat der EuGH, der sich des Problems der lange dauernden Verfahren schließlich auch bewusst ist, in den vergangenen Jahren bereits einige Anstrengungen dahingehend unternommen, die verfahrensrechtlichen und verfahrens­ praktischen Möglichkeiten, welche die Verfahrensordnung und die Satzung des Gerichtshofs zur Beschleunigung bieten, auszuschöpfen bzw. zu erweitern53. Für dringliche Fälle wurden etwa das beschleunigte Verfahren nach § 104a ­VerfOEuGH und neuerdings das Eilvorlageverfahren nach § 104b VerfOEuGH geschaffen. Zur 49 Vgl. die Angaben zur Dauer von Verfahren beim BGH in der Statistik des BGH in Strafsachen 2010, S. 5. 50 Lipp, NJW 2001, 2657, 2663; vgl. zu einer Beschränkung der Vorlagepflicht in diesem Dritten Teil unter C. III. 4. 51 Ottaviano, Rechtzeitiger Rechtsschutz, S. 110 f. 52 Schwarze, DVBl. 2002, 1297, 1311. 53 Vgl. zu den bisherigen Beschleunigungsbemühungen beim EuGH schon Zweiter Teil, A. I. – Hinzu kommt, dass sich der EuGH auch intern auf äußerst kurze Bearbeitungsfristen etwa für den Vorbericht des berichter­stattenden Richters, für die Schlussanträge des Generalanwalts und für die Abfassung des Urteilsentwurfs geeinigt hat; vgl. Hirsch, ZRP 2000, 57, 58 Fn. 3.

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3. Teil: Lösungsmöglichkeiten

Beschleunigung eines normalen Vorabentscheidungsverfahrens kann der Gerichtshof zudem gemäß Art. 55 § 2 VerfOEuGH die mündliche Verhandlung mit Vorrang behandeln, gemäß Art.  104 § 4 VerfOEuGH ohne mündliche Verhandlung oder in einfach gelagerten Fällen nach Art. 104 § 3 VerfOEuGH im sogenannten vereinfachten Verfahren sogar ohne Schlussanträge des Generalanwalts und per Beschluss entscheiden54. Auch können den Beteiligten vom Gerichtshof bestimmte Bearbeitungsfristen oder zu diskutierende Themen vorgegeben werden. Allerdings stellen die anzufertigenden Übersetzungen die größte Herausforderung für eine schnelle Bearbeitung der Vorabentscheidungsersuchen dar; immerhin sieben Monate der Verfahrensdauer bei einem normalen Vorabentscheidungsverfahren sind den nötigen Übersetzungen geschuldet55. Vor dem Hintergrund der momentanen Ausgestaltung des Vorabentscheidungsverfahrens kann nach Einschätzung des Präsidenten des Gerichtshofs eine Vorlage keinesfalls in weniger als etwa 18 Monaten abgeschlossen werden56. Insofern lässt schon ein Vergleich mit der derzeit erreichten durchschnittlichen Dauer von Vorabentscheidungsverfahren – 16,1 Monate  – erkennen, dass die Beschleunigungsmöglichkeiten, die das Prozessrecht dem EuGH bietet, durchaus ausgeschöpft werden57. Eine weitere substantielle Beschleunigung des Vorabentscheidungsverfahrens ist daher mit dem bestehenden Prozessrecht nicht zu erreichen. 2. Anpassung des Anwendungsbereichs des Eilvorlageverfahrens Eine passgenaue Lösung für das Spannungsfeld zwischen der Dauer von Vorabentscheidungsverfahren und dem Beschleunigungsgebot in Strafsachen wäre es, den Anwendungsbereich des neuen Eilvorlageverfahrens dahingehend zu ändern, dass es bei allen von Strafgerichten eingereichten Ersuchen angewendet werden könnte58. Die Realisierung einer derartigen Änderung erscheint jedoch äußerst unwahrscheinlich:

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Interessanterweise setzt ein Verzicht auf die Schlussanträge des Generalanwalts nach Art. 20 Abs. 5 der EuGH-Satzung voraus, dass die Rechtssache „keine neue Rechtsfrage aufwirft“. Wenn dem so ist, war also die Vorlage an sich schon überflüssig, vgl. Rennert, EuGRZ 2008, 385, 387 Fn. 20. 55 Edward, Liber Amicorum Slynn, S. 119, 125 f.; vgl. auch Hirsch, ZRP 2000, 57, 58 und Everling, EuR 2003, Beiheft 1, 7, 32, der schätzt, dass die Übersetzungen ein Drittel der Verfahrensdauer oder mehr ausmachen (da im Jahr 2003 die durchschnittliche Verfahrensdauer bei 25,5 Monaten lag, wären das also sogar etwa acht Monate, die allein für die Übersetzung be­ nötigt werden). 56 Vgl. Rennert, EuGRZ 2008, 385, 387. 57 Dass die von Skouris genannten 18 Monate unterschritten wurden, liegt daran, dass in die Berechnung der durchschnittlichen Verfahrensdauer nicht nur die normalen Vorabentscheidungsverfahren eingehen, sondern auch die wesentlich kürzer dauernden vereinfachten, beschleunigten und Eilverfahren. 58 Zu einem ähnlichen Ergebnis würde die Forderung von Schomburg, NJW 2000, 1833, 1839 führen, einen Spezialspruchkörper für Strafsachen einzuführen.

B. Lösungen zur Erweiterung der Kapazität des EuGH

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Nicht nur, dass dies eine zeitaufwändige59 und  – wegen des Erfordernisses der qualifizierten Mehrheit nach Art.  281 Abs.  2, 294 Abs.  13 AEUV60  – ungewisse Entscheidung des Rates zur Änderung der Satzung des EuGH voraussetzt, da nach Art.  23a das Eilvorlageverfahren lediglich bei Fragen betreffend den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts angewendet werden darf. Außerdem stehen – neben den EU-Mitgliedstaaten – auch die Richter des EuGH, die ihre Verfahrensordnung schließlich ebenfalls ändern müssten, einer weiteren Ausweitung des Anwendungsbereichs des § 104b VerfOEuGH skeptisch gegenüber, wie sich erneut an der nur formalen Anpassung an den Vertrag von Lissabon gezeigt hat61. Weiterhin kommt hinzu, dass die Entscheidung über die Anwendung des Eilvorlageverfahrens immer noch bei den Richtern des Gerichtshofs bliebe. Das nationale Gericht kann lediglich einen Antrag auf dessen Anwendung stellen. Sieht der EuGH jedoch die von § 104b VerfOEuGH vorausgesetzte „Dringlichkeit“ als nicht gegeben an, würde das Ersuchen den Gang eines normalen Vorabentscheidungsverfahrens  – mit der daraus resultierenden langen Verfahrensdauer  – nehmen. Diese Unsicherheit würde nur umgangen, falls in § 104b VerfO­EuGH die Durchführung des Eilvorlageverfahrens bei strafrechtlichen Ersuchen verpflichtend würde. Dass sich der EuGH der Filtermöglichkeit des DringlichkeitsKriteriums begeben wird, ist indes noch weniger vorstellbar, als es bereits die Ausweitung des Anwendungsbereichs auf sämtliche Strafsachen ist. Ferner ist zu beachten, dass zwar mit der Anwendung des Eilvorlageverfahrens das Urteil des Gerichtshofs verhältnismäßig schnell erreicht würde, aber zu dessen Dauer die Zeit noch hinzukäme, die einerseits zur Einleitung des Vorabentscheidungsersuchens und andererseits zum Wiedereinstieg in das nationale Verfahren benötigt würde. Mithin könnte im Einzelfall auch durch diese Variante ein Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot eintreten. 3. Annahmeverfahren, insbesondere das Certiorari-Verfahren Eine weitere Überlegung, wie das Prozessrecht des Europäischen Gerichtshofs geändert werden könnte, um eine schnellere Bearbeitung von Vorabentscheidungsersuchen zu erreichen, geht dahin, dass man eine Vorlagefrage von der Annahme

59 So hat die Einführung des Eilvorlageverfahrens fast dreieinhalb Jahre gedauert: Erstmals gefordert wurde es im Haager Programm vom November 2004, in Kraft getreten ist es im März 2008. Ausführlich zur Entstehungsgeschichte des Art. 104b VerfOEuGH bereits oben im Zweiten Teil unter A. II. 60 Nach dem bisherigen Recht war gemäß ex-Art. 245 Abs. 2 EGV sogar Einstimmigkeit zur Satzungsänderung erforderlich. 61 Vgl. Rat der EU, DOK 11759/07, S. 9 f. und Änderung der Verfahrensordnung v. 13.4.2010, ABl.EU 2010 Nr. L 92, S. 12, 13. – Dazu schon oben im Zweiten Teil unter D. I. 5. a. E.

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3. Teil: Lösungsmöglichkeiten

durch den EuGH abhängig macht62. Im Vordergrund steht dabei der Vorschlag, die Annahmepraxis des EuGH nach dem Vorbild des Supreme Court der Vereinigten Staaten von Amerika umzubilden63. Der Supreme Court kann sich aufgrund des sogenannten Certiorari-Verfahrens nach freiem Ermessen die Fälle aussuchen, über die er in der Sache entscheiden möchte, und die übrigen Verfahren zurückweisen. Übertragen auf den Europäischen Gerichtshof und Vorabentscheidungsersuchen bedeutete dies, dass sich die Richter von den eingehenden Vorlagen nur die zur Bearbeitung heraussuchten, bei denen sie eine Rechtsfrage von allgemeiner Bedeutung für das Europarecht entdeckten oder sich eine Gültigkeitsfrage stellte. Alle anderen Ersuchen würden abgewiesen und müssten von den vorlegenden Gerichten allein entschieden werden, wobei der Gerichtshof gegebenenfalls noch Informationen mitgeben könnte, um den nationalen Gerichten bei der Lösung der vorgelegten Frage weiterzuhelfen. Wenngleich sich ein solches Filtersystem vor dem Hintergrund des Beschleunigungsgebots als sehr effektiv erweisen würde, beinhaltet es doch erhebliche Gefahren für das auf Kooperation und Dialog beruhende Verhältnis zwischen den Unions- und den mitgliedstaatlichen Gerichten64: Diese Zusammenarbeit würde durch eine allzu restriktive Annahmepraxis des EuGH, die allein nach der Bedeutung der Rechtsfrage für das Unionsrecht differenziert, empfindlich gestört. Schließlich würde in all den Fällen, in denen der Gerichtshof das Vorabentscheidungsersuchen nicht annimmt, das nationale Gerichtsverfahren umsonst für mehrere Monate ausgesetzt, wenn das mitgliedstaatliche Gericht am Ende doch allein entscheiden muss. Daran erkennt man, dass ein Filtersystem besser in hierarchisch organisierten Gerichtsstrukturen funktioniert  – denn dort entscheidet das untere Gericht den Rechtsstreit, und nur die Rechtskraft dieser Entscheidung hängt 62 So wurde etwa beim ebenfalls stark beanspruchten BVerfG im Jahr 1993 § 93a BVerfGG geändert, so dass eine Verfassungsbeschwerde nur noch dann angenommen wird, wenn ihr grundsätzliche Bedeutung zukommt oder wenn sie zur Durchsetzung der Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechte „angezeigt“ ist; vgl. dazu Graßhoff, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu, BVerfGG, § 93a Rn. 3 ff.; 81 ff. – Eine ähnliche Entwicklung kann man auch beim überlasteten EGMR beobachten. Das 14. Zusatzprotokoll zur EMRK (welches allerdings wegen der bislang fehlenden Ratifikation Russlands erst im Juni 2010 in Kraft getreten ist) sieht eine Änderung von Art. 35 Abs. 3 EMRK dahingehend vor, dass der EGMR eine Individualbeschwerde für unzulässig erklären kann, „wenn er der Ansicht ist, dass dem Beschwerdeführer kein erheblicher Nachteil entstanden ist, es sei denn, die Achtung der Menschenrechte, wie sie in dieser Konvention und den Protokollen dazu anerkannt sind, erfordert eine Prüfung der Begründetheit der Beschwerde, und vorausgesetzt, es wird aus diesem Grund nicht eine Rechtssache zurückgewiesen, die noch von keinem innerstaatlichen Gericht gebührend geprüft worden ist.“ 63 Hakenberg/Stix-Hackl, Handbuch EuGH, Bd. 1, S. 35, die zudem feststellen: „Die generelle Vision geht wohl dahin, dass der EuGH […] die Rolle eines obersten Verfassungsgerichtes übernimmt, während ein vergrößertes [Europäisches Gericht erster Instanz] zusammen mit den spezialisierten Gerichtlichen Kammern die Details der verschiedenen materiellen Bereiche abdeckt.“ 64 Due-Report über die Zukunft des Gerichtssystems der Europäischen Gemeinschaften, S. 21 f.; Lipp, NJW 2001, 2657, 2662; Hirsch, ZRP 2000, 57, 59; Rösler, ZRP 2000, 52, 56.

B. Lösungen zur Erweiterung der Kapazität des EuGH

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davon ab, dass das höhere Gericht keine Überprüfung vornimmt65. Darüber hinaus würde das Certiorari-Verfahren nicht allen Funktionen des Vorabentscheidungsverfahrens gerecht, weil nur die objektive Funktion der Fortbildung des Europarechts erhalten bliebe, nicht jedoch die Komponente der Gewährung individuellen Rechtsschutzes im Einzelfall66. Insofern erscheint eine Übertragung des ­Certiorari-Verfahrens auf das Vorabentscheidungsverfahren wegen der erheblichen Unterschiede zwischen dem amerikanischen Gerichtssystem und der Unionsgerichtsbarkeit als wenig wünschenswert67. 4. Green-Light-Verfahren Interessiert aufgenommen wurde indes die vom früheren Generalanwalt beim EuGH Jacobs vorgeschlagene sogenannte Green-Light-Procedure – ins Deutsche übersetzt das Grüne-Ampel-Verfahren68. Danach würde jedes vorlegende Gericht zusammen mit dem Vorabentscheidungsersuchen einen begründeten Antwort­ vorschlag unterbreiten. Soweit dem Gerichtshof die vorformulierte Antwort angemessen erscheint, würde er diesem Vorschlag im vereinfachten Beschlussverfahren zustimmen, ohne eine eigene Entscheidung formulieren zu müssen. Wird der Vorlage eines mitgliedstaatlichen Gerichts damit „grünes Licht“ gegeben, ist die Durchführung eines normalen Vorabentscheidungsverfahrens entbehrlich. Jacobs stellt darüber hinaus zur Diskussion, ob der Gerichtshof auch solchen Vorlagen „grünes Licht“ geben könnte, deren Fragen aus seiner Sicht nicht so wichtig für

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Jacobs, FS Zuleeg, S. 204, 209. Skouris, EuGRZ 2008, 343, 348; Ottaviano, Rechtzeitiger Rechtsschutz, S. 83 f.; Rösler, ZRP 2000, 52, 56. 67 Noch weiter geht deshalb die Idee, das amerikanische Supreme Court-Modell komplett auf den EuGH zu übertragen. Das Vorabentscheidungsverfahren würde abgeschafft, die mitgliedstaatlichen Gerichte entschieden eigenständig über sämtliche Fragen des Unionsrechts. Stattdessen würde den am Ausgangsrechtsstreit beteiligten Parteien die Möglichkeit gegeben, in einer Art Kassationsverfahren beim EuGH ein Rechtsmittel gegen die innerstaatliche Entscheidung einzulegen und die Verletzung des Unionsrechts zu rügen. Damit würde das Kooperationsverhältnis zwischen der europäischen und nationalen Gerichtsbarkeit indes zugunsten eines hierarchischen Systems beseitigt. Eine solche Änderung bedürfte zudem einer wenig realistischen Vertragsanpassung. Vgl. dazu Due-Report über die Zukunft des Gerichtssystems der Europäischen Gemeinschaften, S. 13 f. – Eine andere Idee zur Filterung von Vorlagen unterbreitet Rennert, EuGRZ 2008, 385, 389: Er schlägt vor, dass die unbedingte Vorlagepflicht der nationalen letztinstanzlichen Gerichte bestehen bleibt, aber dem EuGH die Befugnis ein­ geräumt wird, eine Vorabentscheidung bei Fragen, die keinen „Klärungsbedarf zum [Unions]recht von hinlänglichem Gewicht“ (S.  387) aufweisen, für entbehrlich zu erklären und die Sache an das vorlegende Gericht zurückzuverweisen. Das Ausgangsgericht könnte dann die Auslegungsfrage selbstständig entscheiden; natürlich mit Wirkung nur für den anhängigen Rechtsstreit. Die genannten Kritikpunkte beim Certiorari-Verfahren lassen sich indes auf Rennerts Vorschlag übertragen. – Auch sonstige Annahmeverfahren ähnlich dem § 93a Abs. 2 BVerfGG hätten wegen der zu prüfenden Voraussetzungen nur einen geringen Entlastungs­effekt; vgl. Ottaviano, Rechtzeitiger Rechtsschutz, S. 81 f. 68 Grundlegend Jacobs, FS Zuleeg, S. 204, 210 ff.

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3. Teil: Lösungsmöglichkeiten

die Entwicklung des Europarechts sind, als dass eine Entscheidung des EuGH nötig wäre69. Jacobs’ Vorschlag eines Green-Light-Verfahrens verspricht – je nach der konkreten Ausgestaltung70 – eine deutliche Entlastung des EuGH und damit eine spürbare Beschleunigung der Vorabentscheidungsverfahren. Dies gilt natürlich insbesondere für die Vorlagen, bei denen der Gerichtshof mit dem Antwortvorschlag des nationalen Gerichts einverstanden ist und damit keine eigenen Recherchen durchführen und Begründungen ausarbeiten muss. Aber auch für die verbleibenden normalen Vorabentscheidungsverfahren würde sich eine Beschleunigung dadurch ergeben, dass der EuGH insgesamt weniger Fälle ausführlich zu bearbeiten hat. Darüber hinaus würde durch das Grüne-Ampel-Verfahren die „europäische“ Funktion der mitgliedstaatlichen Gerichte gestärkt: Schließlich müsste sich ein innerstaatliches Gericht, wenn es zusätzlich zur Vorlage einen fundierten Antwortvorschlag unterbreiten möchte, eingehend mit den Fragen der Auslegung des Europarechts unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des EuGH und ge­ gebenenfalls der Entscheidungen anderer nationaler Gerichte auseinandersetzen. Dementsprechend würde zum einen die europarechtliche Kompetenz der mitgliedstaatlichen Gerichte verbessert und ihnen zum anderen eine echte Möglichkeit zum Dialog mit den Luxemburger Richtern und damit zur aktiven Beeinflussung der Auslegung des Unionsrechts durch den Gerichtshof eingeräumt: „[T]he green light system would enable national courts to contribute more directly and substantially in the development of Community law by encouraging them not merely to identify and pass on the relevant questions of Community law which arise before them, but also to contribute their own analysis of those questions which might then be endorsed by the Court of Justice. That would be a particular advantage in the case of the highest national courts, which might be able to contribute substantially to the development of Community law but which may currently see themselves having the role of a judicial post-box.“71

Im derzeit geltenden europäischen Prozessrecht und in der Prozesspraxis gibt es bereits Ansätze, die im Sinne des Green-Light-Systems weiter ausgebaut ­werden

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Jacobs, FS Zuleeg, S. 204, 211. – Später könnte das Green-Light-System dann zu einem Red-Light-System umfunktioniert werden, bei dem das mitgliedstaatliche Gericht selbstständig den anhängigen Fall mit europarechtlichen Implikationen entscheidet und gleichzeitig ein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH stellt. Antwortet der Gerichtshof innerhalb einer bestimmten, festzulegenden Zeitspanne nicht auf die Vorlage, wird das nationale Urteil mit der dort getroffenen Auslegung des Unionsrechts rechtskräftig, vgl. Jacobs, FS Zuleeg, S. 204, 211 f. 70 Zu den unterschiedlichen Beschleunigungseffekten selbst Jacobs, FS Zuleeg, S.  204, 213. – Dauses, Gutachten D, S. 131 bestreitet den Entlastungseffekt: „Es ist vielmehr zu erwarten, dass [die Unionsgerichtsbarkeit] in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle wie gewohnt in eine detaillierte Prüfung der aufgeworfenen Rechtsfragen eintreten wird, um zu verhindern, dass durch eine vorbehaltlose Unbedenklichkeitsbescheinung der Rechtsauffassung des vor­legenden Gerichts faktische Präjudizwirkung verliehen würde.“ 71 Jacobs, FS Zuleeg, S. 204, 212.

B. Lösungen zur Erweiterung der Kapazität des EuGH

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könnten. So ermutigt der Gerichtshof die mitgliedstaatlichen Gerichte in seinen Hinweisen zur Vorlage von Vorabentscheidungsersuchen dazu, einen eigenen Antwortvorschlag zu unterbreiten: „Schließlich kann das vorlegende Gericht, wenn es meint, dass es dazu in der Lage ist, knapp darlegen, wie die zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen seines Erachtens beantwortet werden sollten.“72

Für Vorlagen, die mit einem Antrag auf Anwendung des Eilverfahrens nach Art. 104b VerfO­EuGH verbunden sind, hat der Gerichtshof diesen Hinweis noch weiter konkretisiert: „Soweit möglich, gibt das vorlegende Gericht knapp an, wie die vorgelegte Frage oder Fragen beantwortet werden sollten. Diese Angabe erleichtert die Stellungnahme der Parteien und sonstigen Verfahrensbeteiligten sowie die Entscheidung des Gerichtshofs und trägt damit zur Schnelligkeit des Verfahrens bei.“73

Außerdem ist es dem Gerichtshof schon jetzt möglich, über ein Vorabentscheidungsersuchen mittels eines begründeten Beschlusses zu entscheiden, nämlich im Rahmen des vereinfachten Verfahrens gemäß Art.  104 § 3 VerfOEuGH. Um das vereinfachte Verfahren anwenden zu können, muss die Antwort auf das Ersuchen jedoch entweder klar sein, weil über die vorgelegte Frage bereits früher entschieden wurde bzw. weil die Antwort eindeutig aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs abgeleitet werden kann, oder aber die Beantwortung der Frage darf keinen Raum für vernünftige Zweifel lassen. Diese Voraussetzungen dürften bei dem Grüne-Ampel-Verfahren, wie es Jacobs entworfen hat, kaum einmal ge­geben sein74. Einer de facto-Einführung der Green-Light-Procedure stehen auch noch andere unge­klärte Fragen entgegen. Zum Beispiel müsste entschieden werden, inwieweit der Generalanwalt eingebunden werden soll und wann der Gerichtshof „grünes Licht“ geben kann: ob gleich nach Eingang des Ersuchens bei Gericht, so dass das zeitaufwändige schriftliche Verfahren ausgelassen wird, oder ob zusätzlich zum Antwortvorschlag des vorlegenden Gerichts auch die Mitgliedstaaten Gelegenheit zur Stellungnahme bekommen sollen und nur das mündliche Verfahren eingespart wird – letzteres ist beim bisherigen vereinfachten Verfahren vor­gesehen. Fraglich ist darüber hinaus, ob die Gerichte verpflichtet werden sollten, einen Antwortvorschlag zu unterbreiten, oder ob man sie dazu nur auffordern sollte. Bei einer Verpflichtung besteht nämlich die Gefahr, dass innerstaatliche Gerichte, die sich nicht in der Lage fühlen, einen begründeten Antwortvorschlag zu erarbeiten,

72 ABl.EU 2009 Nr. C 297, S. 4 (so auch schon in den vorherigen Hinweisen, vgl. ABl.EU 2005 Nr. C 143, S. 4). – Die deutschen Gerichte fügen bereits häufig ihrem Ersuchen auch Ausführungen zu ihrer vermuteten Auslegung des Europarechts bei, vgl. Jacobs, FS Zuleeg, S. 204, 210 f. 73 ABl.EU 2009 Nr. C 297, S. 5 (bisher: ABl.EU 2008 Nr. C 64, S. 2). 74 Denn ansonsten hätte das vorlegende Gericht sogar nach der Acte-clair-Doktrin von einer Vorlage an den EuGH absehen und die betreffende Frage selbst entscheiden können.

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3. Teil: Lösungsmöglichkeiten

von einer Vorlage absehen, obwohl eine Entscheidung des EuGH geboten wäre75. Auch müsste vermieden werden, dass bei den mitgliedstaatlichen Gerichten der Eindruck entsteht, das auf Kooperation angelegte Vorabentscheidungsverfahren würde hierarchisiert wie in einem traditionellen Instanzensystem: Immerhin beinhaltet die Entscheidung, einem Vorabentscheidungsersuchen „grünes Licht“ zu geben, letztendlich eine Bewertung darüber, ob die vom innerstaatlichen Gericht vorgeschlagene Auslegung des Unionsrechts zutreffend ist76. Um die einheitliche Anwendung und Auslegung des Europarechts zu gewährleisten, sollten die Vor­ lagen, die im Wege des Green-Light-Verfahrens zur Entscheidung an die nationalen Gerichte zurückgegeben werden, schließlich auch veröffentlicht werden77. Insgesamt handelt es sich bei dem Vorschlag eines Green-Light-Systems mithin um eine bedenkenswerte Idee, die je nach der konkreten Ausgestaltung zu einer substantiellen Beschleunigung des Vorabentscheidungsverfahrens führen könnte78. Wie man jedoch bei den Vorbereitungen für das neue Eilvorlage­verfahren in Art. 104b VerfOEuGH gesehen hat, stehen die Mitgliedstaaten einer Beschränkung ihrer Beteiligungsrechte im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens sehr skeptisch gegenüber79. Insofern ist nicht zu erwarten, dass der Rat der Europäischen Union, der eine notwendige Änderung zumindest der Verfahrensordnung des EuGH nach Art. 253 Abs. 6 AEUV billigen müsste, einer Regelung zustimmen würde, wonach eine Kammer des Gerichtshofs – vielleicht noch nach Anhörung des Generalanwalts – sofort nach Eingang einer Sache selbst über die Erteilung „grünen Lichts“ entscheiden dürfte. Dementsprechend kann der Beschleunigungseffekt des Green-Light-Verfahrens und damit seine Tauglichkeit zur Lösung des Spannungsfeldes zwischen Vorabentscheidungsverfahren und dem Beschleunigungsgebot in Strafsachen derzeit nicht eingeschätzt werden.



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76

Jacobs, FS Zuleeg, S. 204, 213. Skouris, EuGRZ 2008, 343, 348. Diesem Einwand entgegnet Jacobs, FS Zuleeg, S. 204, 213, dass alle Richter an juristische Meinungsverschiedenheiten gewöhnt sind, so dass sich eine andere als die vorgeschlagene Antwort aus Luxemburg nicht negativ auf das auf Kooperation und Dialog angelegte Verhältnis zwischen den nationalen Gerichten und dem EuGH auswirken sollte. Darüber hinaus hätte dieses Argument geringere Bedeutung, falls es dem Gerichtshof auch gestattet würde, solchen Vorlagen „grünes Licht“ zu geben, die keine große Relevanz für die Entwicklung des Unionsrechts haben und deswegen von den mitgliedstaat­ lichen Gerichten selbstständig entschieden werden können; in diesem Fall träfe der EuGH keine Entscheidung über die Korrektheit der vorgeschlagenen Antwort. 77 Jacobs, FS Zuleeg, S. 204, 213 f. stellt sich etwa eine Veröffentlichung im Internet vor. 78 Ähnlich wie beim Certiorari-Verfahren bliebe aber der Nachteil, dass Verfahren, denen „grünes Licht“ gegeben wird, umsonst ausgesetzt werden für die Zeit, die der Gerichtshof für seine Entscheidung braucht. 79 Vgl. oben Zweiter Teil, A. II. 2.

B. Lösungen zur Erweiterung der Kapazität des EuGH

223

III. Zwischenergebnis

Insgesamt zeigt sich also, dass die vorgeschlagenen Möglichkeiten zur Ka­ pazitätserweiterung beim Gerichtshof – sei es durch die (direkte oder indirekte) Erhöhung der Richterzahl oder eine effizientere Arbeitsweise, die durch eine Straffung des Verfahrens und der Organisation erreicht wird – nicht geeignet sind, um eine baldige Lösung des Spannungsfeldes zwischen der Dauer von Vorabentscheidungsverfahren und dem Beschleunigungsgebot zu Wege zu bringen. 1. Nachteile der in Betracht gezogenen Lösungen Vielmehr hat die Untersuchung gezeigt, dass jede Variante zur Entlastung des EuGH ihre individuellen Nachteile aufweist: sei es etwa die Gefahr für die Einheitlichkeit der Rechtsprechung bei der Erhöhung der Richterzahl am Gerichtshof oder bei der Einfügung zusätzlicher Instanzen in das Vorabentscheidungsverfahren – so bei der Verlagerung von Vorlagen auf das Gericht oder neu zu schaffende untergeordnete dezentrale Unionsgerichte –, sei es die mögliche Beeinträchtigung des auf Kooperation und Dialog angewiesenen Verhältnisses zwischen den mitgliedstaatlichen Gerichten und dem EuGH wie bei einem Annahme-Filtersys­tem ähnlich dem Certiorari-Verfahren. Insofern überrascht es nicht, dass keiner der Vorschläge bei den Verfassungsvertragsverhandlungen oder im Vorfeld des Vertrags von Lissabon eine Mehrheit gefunden hat. Entscheidend ist jedoch, dass bei fast allen angedachten Varianten auch ab­ gesehen von den jeweiligen einzelnen Schwächen der vorgeschlagenen Lösungen der Beschleunigungseffekt äußerst fraglich wäre. Allein ein Annahme-Filtersystem nach dem Vorbild des US-ameri­kanischen Supreme Court würde – wenn konsequent ausgeübt  – zu einem deutlichen Entlastungseffekt beim Gerichtshof führen, allerdings mit dem gerade im Hinblick auf das Beschleunigungsgebot unangenehmen Nebeneffekt, dass viele nationale Verfahren vollkommen umsonst für mehrere Monate ausgesetzt würden, wenn der Gerichtshof die Vorlage nicht annähme. Darüber hinaus ist allen vorgeschlagenen Möglichkeiten gemein, dass sie zu ihrer Verwirklichung eine Änderung des AEUV oder zumindest der Satzung oder Verfahrensordnung des Gerichtshofs voraussetzen. Durch dieses Erfordernis ergibt sich jedoch eine große Unsicherheit hinsichtlich der Frage, ob überhaupt und wenn ja, wann eine Realisierung möglich wäre80. Insbesondere dieser Aspekt spricht gegen das Green-Light-Verfahren, denn wegen der nötigen Zustimmung zumindest des Rates der Europäischen Union – und damit der Mit­gliedstaaten – zu einer Satzungsänderung ist zu befürchten, dass das Beschleunigungspotenzial dieser Lösung durch ein Beharren auf den Beteiligungsrechten der EU-Staaten erheb

80

Jacobs, FS Zuleeg, S. 204, 209 f.

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3. Teil: Lösungsmöglichkeiten

lich verringert wird. Eine Lösung des bereits bestehenden Problems zwischen der Dauer von Vor­abentscheidungsverfahren und dem Beschleunigungsgebot sollte indes möglichst auf der Grundlage der geltenden Rechtslage und den tatsächlichen Verhältnissen erreicht werden. 2. Verschärfung des Problems durch steigende Arbeitsbelastung beim Gerichtshof Verschärfend kommt hinzu, dass für die Zukunft ein wachsender Konflikt bezüglich der Einhaltung des Beschleunigungsgebots droht, weil infolge steigender Fallzahlen eine stärkere Arbeitsbelastung beim Gerichtshof zu erwarten ist. Viele Anzeichen sprechen dafür, dass sich der generelle Trend hin zu einer steigenden Zahl von Vorabentscheidungsersuchen und Rechtssachen insgesamt beim EuGH81 fortsetzen und damit letztendlich eine Überforderung82 des Gerichtshofs ein­treten wird. Zum einen entwickelt sich das gesamte Europarecht  – in Rechtssetzung und Rechtsprechung  – zunehmend weiter und führt dazu, dass bisher nicht europä­ isierte Rechtsbereiche Gegenstand von Vorabentscheidungsersuchen werden können. Im Zusammenhang mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon und der Ausweitung der Rechtsprechungsbefugnisse des EuGH lassen sich etwa Vorabentscheidungsverfahren betreffend die Anwendbarkeit der europäischen GrundrechteCharta oder im Zusammenhang mit der Aufgabe der Säulenstruktur antizipieren; darüber hinaus werden den Gerichtshof auch in Zukunft noch verhältnismäßig neue europäisierte Rechtsgebiete wie die justizielle Zusammenarbeit in Zivil- und Strafsachen sowie das Ausländer- und Asylrecht beschäftigen83. Zwar ist die Kommission gleichzeitig bemüht, das bereits bestehende Europarecht zu deregulieren und zu verschlanken84. Der Entlastungseffekt dieser Maßnahmen wird jedoch den stetigen Anstieg der Europäisierung kaum ausgleichen können, zumal eine Deregulierung denklogisch nur in Bereichen von untergeordneter Bedeutung in Frage kommt, um vor allem das Funktionieren des Binnenmarktes weiterhin gewähr­ leisten zu können. Insofern wird durch den Wegfall dieser Vorschriften wohl kein wesentlicher Teil der Vorabentscheidungsersuchen entbehrlich werden. Zum anderen ist anerkannt, dass das Vorlagenpotenzial – d. h. die Zahl der innerstaatlichen Rechtssachen mit europarechtlichem Bezug, in denen eine Vorlage

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82

Siehe dazu EuGH, Jahresbericht 2010, S. 89, 109 f. So der derzeitige Präsident des Gerichtshofs, Skouris, EuGRZ 2008, 343, 347; vgl. auch Lenarts, in: Pernice/Kokott/Saunders, European Judicial System, S.  211, 212 ff.; Everling, EuR 2003, Beiheft 1, 7, 12 ff.; Hirsch, ZRP 2000, 57, 58; Rasmussen, CMLRev. 2000, 1071, 1079 ff.; Hakenberg, ZEuP 2000, 860 f.; Brück, Vorabentscheidungsverfahren, S. 192 f. 83 Lenarts, in: Pernice/Kokott/Saunders, European Judicial System, S.  211, 216; Skouris, ­EuGRZ 2008, 343, 346. 84 Vgl. Europäische Kommission, Strategische Ziele 2005–2009, S. 5 f., 8. 

B. Lösungen zur Erweiterung der Kapazität des EuGH

225

nach Art. 267 AEUV zulässig oder sogar geboten ist – erheblich über der aktuellen Zahl der eingehenden Vorabentscheidungsersuchen liegt. Viele nationale Gerichte rufen den Gerichtshof etwa selbst dann nicht im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens an, wenn eine Vorlage eigentlich nach Art. 267 Abs. 3 AEUV geboten wäre85. Die zunehmende Aufmerksamkeit jedoch, die das Unionsrecht in der Öffentlichkeit und auch der Juristenausbildung erfährt, wird die Vertraut­heit mit dem europäischen Recht und die Akzeptanz des Vorabentscheidungsverfahrens unter den Juristen weiter wachsen lassen86. Als mögliche Folge kann die verstärkte Kenntnis des Europarechts und das Vertrauen in den Gerichtshof dazu führen, dass europarechtliche Bezüge eines Rechtsstreits häufiger erkannt und deshalb mehr Vorlageverfahren eingeleitet werden87. Auf jeden Fall sollte jedoch davon ausgegangen werden, dass auch die Gerichte der neuen Mitgliedstaaten mit wachsender Vertrautheit und Einarbeitung ins Europa­recht zunehmend von der Möglichkeit einer Vorlage an den EuGH Gebrauch machen werden. Selbst wenn sich die Gerichte der seit 2004 neu in die Europäische Union aufgenommenen zwölf Staaten bisher nicht besonders häufig an den Gerichtshof gewendet haben88, so ist eigentlich kein Grund ersichtlich, warum sie nicht irgendwann entsprechend proportional ihren Anteil an den gesamten Vorabentscheidungsersuchen einnehmen sollten. Alles in allem ist demnach davon auszugehen, dass der Gerichtshof in der Zukunft doppelt so viele Rechtssachen wie heutzutage bearbeiten muss89, wobei der mögliche EU-Beitritt weiterer Staaten noch nicht berücksichtigt ist90. Da sich eine steigende Fallbelastung typischerweise in einem Anstieg der Verfahrensdauer bemerkbar macht, lässt sich unschwer voraussehen, dass der Konflikt mit dem Beschleunigungsgebot zukünftig noch größer werden wird.

85 Karpenstein, Praxis des EG-Rechts, Rn. 360. Insbesondere berufen sich die mitgliedstaatlichen Gerichte oft auf die Acte-clair-Doktrin, vgl. nur Schima, Vorabentscheidungsverfahren, S. 67; ausführlich dazu sogleich in diesem Dritten Teil unter C. III. 2. 86 Haase, Faires Gerichtsverfahren, S. 383 ff.; Skouris, EuGRZ 2008, 343, 346. 87 Andererseits erscheint es aber auch vorstellbar, dass sich im Europarecht besser ausgebildete Juristen zunehmend eine eigene Beurteilung und Auslegung des Unionsrechts zutrauen. Sofern sie aber einer Vorlagepflicht unterliegen, müssen sie trotzdem vorlegen, selbst wenn sie meinen, das unionsrechtliche Problem selbst lösen zu können. 88 Von 2004 bis einschließlich 2010 haben die zwölf neuen Mitglieder der EU zusammen erst 157 Vorabentscheidungsersuchen eingereicht, vgl. EuGH, Jahresbericht 2010, S.  109 f. Dennoch lässt sich bereits eine steigende Tendenz feststellen, denn in den beiden letzten Jahren des genannten Zeitraums haben die neuen Mitgliedstaaten mit 48 (2009) bzw. 54 Vorlagen (2010) fast so viele Ersuchen wie in den Jahren 2004 bis 2008 zusammen (55) gestellt. 89 So die Einschätzung des derzeitigen Präsidenten des EuGH, Skouris, in: EuGRZ 2008, 343, 349, unter der Annahme, dass sich die neuen EU-Mitgliedstaaten voll in das Rechtsschutzsystem der EU eingliedern werden. 90 Die offizielle EU-Website benennt etwa Kroatien, Mazedonien und die Türkei als Kandidatenländer und Albanien, Bosnien und Herzegowina, Kosovo, Montenegro, Serbien und Island als potenzielle Beitrittskandidaten, vgl. .

226

3. Teil: Lösungsmöglichkeiten

C. Lösungen zur Beschränkung von Vorabentscheidungsersuchen Da sich die Vorschläge zur Erweiterung der Kapazität des Gerichtshofs der Europäischen Union als nicht zielführend zur Lösung des Spannungsverhältnisses zwischen der Dauer von Vorabentscheidungsverfahren und dem Beschleunigungsgebot erwiesen haben und die verfahrensrechtlichen und verfahrenspraktischen Beschleunigungsmöglichkeiten bereits weitgehend ausgeschöpft sind, sollen im Folgenden die Varianten dargestellt werden, die im weitesten Sinne zu einer Beschränkung der Ersuchen, die an den EuGH gerichtet werden, führen. I. Verzicht auf Vorlage

Eine radikale Lösung zur Wahrung einer angemessenen Dauer des nationalen Strafverfahrens wäre es, in eilbedürftigen Fällen prinzipiell von der Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens zum EuGH abzusehen. Auf diese Weise könnte  – jedenfalls bezogen auf das Vorabentscheidungsverfahren  – schließlich kein Konflikt mit dem Beschleunigungsgebot entstehen91. Ein Verzicht auf die Vorlage an den EuGH wurde bisher hauptsächlich für summarische Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes in den anderen Prozessarten diskutiert92, vor allem für eilbedürftige Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes im Verwaltungsrecht. Teilweise wird vertreten, dass die Durchführung eines Vor­abentscheidungsverfahrens und die damit verbundene Aussetzung „mit der Wesensart [von Eilverfahren] unvereinbar“ sei93. Wenn man allein an die Eil­ 91 Soweit ersichtlich existieren jedoch keine so weitgehenden Äußerungen für das Strafrecht. Gleiches gilt für den vergleichbaren Fall einer gebotenen Vorlage im Wege der konkreten Normenkontrolle gem. Art. 100 Abs. 1 GG an das BVerfG wegen der präsumtiven Nichtigkeit einer für das Strafurteil entscheidenden Norm. – Für Verfahren des vorläufigen verwaltungs­ gerichtlichen Rechtsschutzes, die sich ebenfalls durch besondere Dringlichkeit auszeichnen, wird im Fall einer Kollision der Eilbedürftigkeit (abgeleitet aus dem Recht auf effektiven Rechtsschutz in Art. 19 Abs. 4 GG) und der Vorlagepflicht nach Art. 100 Abs. 1 GG aber teilweise ein uneingeschränkter Vorrang des Art. 19 Abs. 4 GG mit der Folge einer Entbehrlichkeit der Vorlage an das BVerfG vertreten; vgl. eingehend und m. w. N. dazu Schmitt, Richtervorlagen, S. 280 ff. Das BVerfG hat indes dem Verfahren nach Art. 100 Abs. 1 GG den Vorrang gegeben, so dass trotz der Eilbedürftigkeit des Verfahrens eine Richtervorlage eingeleitet werden muss, wenn das Gericht von der Verfassungswidrigkeit eines entscheidungserheblichen Gesetzes überzeugt ist oder die Hauptsache vorweggenommen wird; vgl. BVerfGE 46, 43, 51; 63, 131, 141 f.; a. A. VG Hamburg NVwZ 1985, 514, 516; OVG Münster NJW 1979, 330 f. 92 Zum einstweiligen Rechtsschutz im Verwaltungsrecht etwa von Fragstein, Einwirkungen des EG-Rechts, S. 133 ff.; Schmitt, Richtervorlagen, S. 377 ff. – Zum einstweiligen Rechtsschutz im Zivilrecht siehe Heß, ZZP 1995, 59, 90 ff. 93 So etwa das OLG Frankfurt NJW 1985, 2901, 2903 innerhalb eines zivilrechtlichen Antrags auf Erlass einer einstweiligen Verfügung, mit der dem Antragsgegner aufgegeben werden sollte, die kostenlose Abgabe von EG-Butter an private Handelsunternehmen zu unterlassen. – Vgl. zur Vorlage im Rahmen vorläufigen Rechtsschutzes im Verwaltungsrecht auch Redeker/ von Oertzen, VwGO, § 80 Rn. 50, § 123 Rn. 18; Schmitt, Richtervorlagen, S. 383 f. m. w. N.

C. Lösungen zur Beschränkung von Vorabentscheidungsersuchen

227

bedürftigkeit anknüpft, erscheint aber eine Übertragung auf Strafverfahren nicht fernliegend: Ein Strafverfahren insgesamt kann etwa besonders eilbedürftig sein, weil es bereits lang gedauert hat und ein Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot aus – vor allem – Art. 6 EMRK demnächst droht; und sogar typischerweise besonders eilbedürftig sind richterliche Entscheidungen im Ermittlungsverfahren94. Allein mit dem Argument der Eilbedürftigkeit des Verfahrens oder der zu treffenden Entscheidung kann eine Vorlagepflicht oder auch die grundsätzliche Vorlagebefugnis nach Art. 267 AEUV indes nicht ausgeschlossen werden95. Der Vertrag zur Arbeitsweise der Europäischen Union ist immerhin geltendes und folglich bindendes Recht und billigt jedem Gericht unabhängig von der Verfahrensart das Vorlagerecht zu bzw. erlegt ihm eine Vorlagepflicht auf. Auch der Europäische Gerichtshof hat wiederholt bestätigt, dass weder die Dringlichkeit noch der vorläufige Charakter eines nationalen Verfahrens die Befugnis der Richter zur Vorlage an den EuGH beschränken können96. Die Dringlichkeit des Ausgangsverfahrens kann jedoch den Erlass vorläufiger Maßnahmen rechtfertigen. Dies gilt sogar für Gültigkeitsfragen: Der EuGH hat entschieden, dass wegen der Eilbedürftigkeit ein nationales Gericht das auf einem Unionsrechtsakt beruhende Rechtsverhältnis unter engen Voraussetzungen vorläufig selbst gestalten darf, wenn es im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ernsthafte Zweifel an der Gültigkeit des zugrunde liegenden europäischen Rechtsakts hat97. Da das mit­gliedstaatliche Gericht die Gültigkeitsfrage trotzdem dem EuGH zur endgültigen Entscheidung vorlegen muss, kann dessen Verdikt dann nämlich im Rahmen des Hauptverfahrens ausreichend berücksichtigt werden. Trotz der unter dem Gesichtspunkt der Eilbedürftigkeit vergleichbaren Problemlage gibt es in der EuGH-Rechtsprechung bisher keine parallele Ausnahme von der Vorlagepflicht für strafrechtliche (insbesondere Ermittlungs-)Verfahren98. Trotzdem kann auch in Strafverfahren die Befugnis bzw. Pflicht zur Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens nicht ausgeschlossen werden99. Vor allem am

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Vgl. ausführlich zur Vergleichbarkeit in diesem Dritten Teil unter D. I. 2. b). Diese Meinung hat sich inzwischen weitestgehend durchgesetzt, vgl. etwa von Fragstein, Einwirkungen des EG-Rechts, S. 140 f.; Lieber, Vorlagepflicht, S. 60 ff.; Nachweise für Strafverfahren sogleich. 96 So erstmals EuGH, Urt. v. 24.5.1977 – Rs. 107/76, Slg. 1977, 957, Rn. 4 – HoffmannLa Roche. 97 Grundlegend EuGH, Urt. v. 24.5.1977 – Rs. 107/76, Slg. 1977, 957, Rn. 5 f. – HoffmannLa Roche; bestätigt u. a. in EuGH, Urt. v. 27.10.1982  – Rs. 35 und 36/82, Slg. 1982, 3723, Rn. 8 ff. – Morson; Urt. v. 21.2.1991 – Rs. C-143/88 und C-92/89, Slg. 1991, I-415, Rn. 16 ff. – Süderdithmarschen; Urt. v. 9.11.1995 – Rs. C-465/93, Slg. 1995, I-3761, Rn. 51 – Atlanta. 98 Ausführlich zur möglichen Übertragbarkeit der Lösung des EuGH für den einstweiligen Rechtsschutz auf Strafverfahren siehe unten in diesem Dritten Teil, D. I. 2. 99 Böse, in: Schwarze, EU-Komm, Art. 35 EUV Rn. 4 (für das strafprozessuale Beschleunigungsgebot); Jokisch, Gemeinschaftsrecht und Strafverfahren, S. 187, 191 f., 196; Hecker, Europäisches Strafrecht, § 6 Rn. 19, 22; Dannecker, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Handbuch Rechtsschutz, § 38 Rn. 50.

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3. Teil: Lösungsmöglichkeiten

Beispiel der Ermittlungsverfahren lässt sich noch ein Grund erkennen, warum die Befugnis der mitgliedstaatlichen Gerichte zur Anrufung des EuGH nicht aufgrund der Dringlichkeit eines Verfahrens ausgeschlossen werden sollte: Könnten Auslegungs- oder Gültigkeitsfragen des Ermittlungsrichters prinzipiell nicht vor­ gelegt werden, würden zentrale Rechtsbereiche, die im Rahmen der Hauptverhandlung keine oder nur noch eine untergeordnete Rolle spielen – wie insbesondere das Haftrecht und das Recht der Ermittlungsmaßnahmen  –, nie durch den EuGH auf ihre Vereinbarkeit mit dem europäischen Recht geprüft werden100. Eine solche faktische Ausgliederung ganzer Bereiche aus dem Vorabentscheidungsverfahren würde die Zwecke des Art.  267 AEUV, für die einheitliche und gleich­ mäßige Anwendung des europäischen Rechts in der Union zu sorgen und individuellen Rechtsschutz zu gewähren, erheblich gefährden. Folglich kann das Recht bzw. sogar die Pflicht des Strafrichters, eine Auslegungs- oder Gültigkeitsfrage zum europäischen Recht nach Art. 267 AEUV an den EuGH vorzulegen, nicht ohne Weiteres durch die Eilbedürftigkeit des Strafverfahrens – in welchem Stadium es sich auch befinden mag – beschränkt werden. Allerdings muss beachtet werden, dass nicht nur die Regelung des Art. 267 AEUV den Richter bindet, sondern auch das aus der EMRK, der Europäischen Grundrechte-Charta und der deutschen Verfassung resultierende Beschleunigungsgebot. Genauso wenig wie eine Lösung des Konflikts zwischen der Vorlageregelung im AEUV und dem Beschleunigungsgebot ausschließlich zulasten des Unionsrechts gelöst werden kann, sollte die Lösung ausschließlich zulasten des Beschleunigungsgebots erfolgen; denn in beiden Fällen liefe die jeweils andere Vorschrift leer. Zwar kann eine Verletzung des Beschleunigungsgebots im äußersten Fall durch einen Strafabschlag vermieden werden, jedoch gibt es auch gegen eine Verletzung der Vorlagepflicht Rechtsschutzmöglichkeiten101. Insofern sollte vielmehr versucht werden, einen angemessenen Ausgleich zwischen den beiden konfligierenden Interessen – korrekte und einheitliche Anwendung des Unionsrechts einerseits, Wahrung einer angemessenen Verfahrensdauer andererseits – herbeizuführen. Der Vorlageverpflichtung können sich die mitgliedstaatlichen Gerichte demnach nicht ohne Weiteres durch eine einschränkende Auslegung dahingehend, dass in Eilfällen die Vorlagepflicht nicht beachtet werden müsse, entziehen. Zur Änderung der Auslegung des Art. 267 AEUV kann es nur kommen, wenn der EuGH seine diesbezügliche Rechtsprechung  – insbesondere zu den Ausnahmen von der Vorlagepflicht – ändert102 oder von den Mitgliedstaaten eine Vertragsänderung initiiert wird. 100 Jokisch, Gemeinschaftsrecht und Strafverfahren, S. 187; Hecker, Europäisches Strafrecht, § 6 Rn. 22. 101 Etwa die Möglichkeit, auf Staatshaftung nach der Köbler-Rechtsprechung des EuGH zu bestehen oder Verfassungsbeschwerde nach Art.  101 Abs.  1 S.  2 GG wegen Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter einzulegen; vgl. ausführlich zu den Konsequenzen in diesem Dritten Teil, C. unter III. 2. 102 Dazu sogleich mehr in diesem Dritten Teil, C. unter III. 4.

C. Lösungen zur Beschränkung von Vorabentscheidungsersuchen

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II. Beschränkung des Vorlagerechts auf letztinstanzliche Gerichte

Zu einer deutlichen Reduktion der zu bearbeitenden Vorabentscheidungsersuchen würde auch eine Regelung führen, wonach nur noch letztinstanzliche Gerichte Fragen an den Gerichtshof vorlegen dürften. Die Vorlagen deutscher Gerichte beispielsweise stammen nur zu etwa einem Drittel von den Bundesgerichten103. Zwar entscheiden nicht nur die Bundesgerichte letztinstanzlich; bei Strafverfahren, die beim Amtsgericht beginnen, bildet das Oberlandesgericht die Revisions- und damit letzte mögliche Instanz. Doch auch wenn man die Vorlagen der Oberlandesgerichte mit einbezieht, ergäbe sich immer noch mehr als eine Halbierung der anfallenden deutschen Vorabentscheidungsverfahren beim EuGH104. Der aus dem Jahr 2000 stammende Bericht der Reflexionsgruppe über die Zukunft des Europäischen Gerichtssystems geht sogar davon aus, dass unionsweit gesehen drei Viertel aller Vorlagen entfallen würden105. Wegen dieser – scheinbaren – deutlichen Entlastung des Gerichtshofs ist es nicht verwunderlich, dass der Vorschlag, die Vorlagebefugnis auf letztinstanzliche Gerichte der Mitgliedstaaten zu beschränken, schon oft diskutiert wurde106. Diese Idee war sogar im bisherigen Europarecht bereits teilweise verwirklicht: ex-Art.  68 Abs.  1 EGV beschränkte die Vorlagebefugnis zu Fragen zum Titel Visa, Asyl, Einwanderung und andere Politiken betreffend den freien Personenverkehr auf letztinstanzliche Gerichte. Eine Beschränkung war  – nach Wahl der Mitgliedstaaten  – ferner nach ex-Art. 35 EUV möglich. Mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon sind diese Spezialregelungen jedoch wieder entfallen. Dass sich der Vorschlag zur Beschränkung der Vorlageberechtigung – trotz der diesbezüglichen Bemühungen der deutschen Regierung107  – nicht durchsetzen 103 Nach der Rechtsprechungsstatistik des EuGH für das Jahr 2010 wurden seit der Gründung des Gerichtshofs 599 von insgesamt 1802 Ersuchen von Bundesgerichten eingereicht; für andere Länder liegt der Prozentsatz teilweise erheblich niedriger, vgl. EuGH, Jahresbericht 2010, S. 111 ff. 104 Eine Durchsuchung der Datenbank des EuGH nach Vorabentscheidungsverfahren, die im Jahr 2009 von Oberlandesgerichten eingereicht wurden, ergab fünf Treffer (Rs. C-127/09, C-261/09, C-274/09, C-550/09, C-554/09). Bei 59 deutschen Ersuchen insgesamt stellten die Oberlandesgerichte folglich knapp achteinhalb Prozent der Vorlagen. Im Jahr 2008 lag der Prozentsatz mit acht von 71 Ersuchen noch bei gut elf Prozent (Rs. C-66/08, C-139/08, C-206/08, C-366/08, C-404/08, C-409/08, C-434/08, C-451/08). 2010 wurde nur ein Ersuchen gestellt (Rs. C-491/10 PPU). 105 Due-Report über die Zukunft des Gerichtssystems der Europäischen Gemeinschaften, S. 13. 106 So bereits Lenz, NJW 1993, 2664 (der eine Beschränkung aber ablehnt); Rasmussen, CMLRev. 2000, 1071, 1104 ff.; Lipp, NJW 2001, 2657, 2662; zu dem anderen vorgebrachten Argument der Vermeidung von Rechtsunsicherheit durch unterinstanzliche Vorlagen vgl. ­Ottaviano, Rechtzeitiger Rechtsschutz, S. 90. 107 So berichten es Dauses, Gutachten D, S. 121; Lenz, NJW 1993, 2664; Jacobs, FS Zuleeg, S. 204, 208.

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3. Teil: Lösungsmöglichkeiten

konnte, liegt insbesondere auch daran, dass sich eine solche Restriktion gerade vor dem Hintergrund des Beschleunigungsgebots kontraproduktiv auswirken kann: Ist wegen einer noch nicht entschiedenen oder umstrittenen Auslegungs- oder Gültigkeitsfrage eine Entscheidung des EuGH wünschenswert, so müsste das Verfahren zwingend durch Einlegung von Rechtsmitteln in die letzte Instanz geführt werden. Da häufig bereits von vornherein klar ist, dass ein Vorabentscheidungsverfahren durchgeführt werden muss108, würde die mangels eines Vorlagerechts der unteren Instanzen erforderliche Ausschöpfung des Gerichtszugs unnötig Zeit und Geld kosten und außerdem die Rechtsmittelgerichte überflüssigerweise beschäftigen109. Insofern ist es keineswegs sicher, dass der Entlastungseffekt so deutlich zu spüren wäre wie behauptet; möglicherweise würden den EuGH die Ersuchen, die zurzeit von den unteren Instanzen eingereicht werden, nur später – wenn das Verfahren bis in die letzte Instanz geführt wurde – erreichen110. Hinzu kommt, dass die mitgliedstaatlichen Gerichte ohne die benötigte Auslegung des europäischen Rechts kaum eine sinnvolle Entscheidung fällen könnten111, so dass auch die einheitliche Anwendung des Unionsrechts gefährdet wäre112. Den Instanzgerichten ihr Vorlagerecht zu nehmen, würde zudem einen wesentlichen Teil der Idee des Vorabentscheidungsverfahrens zunichte machen, nämlich seinen dialoghaften und kooperativen Charakter113. Gerade bei Ersuchen von nicht letztinstanzlich entscheidenden Gerichten offenbart eine freiwillige Vorlage den Willen zur Kooperation zwischen den nationalen Gerichten und dem EuGH, denn sie sind schließlich nicht zur Anrufung des Gerichtshofs verpflichtet114. Im Übrigen sind viele Leitentscheidungen des EuGH als Antworten auf optionale Vorlagen von nicht-letztinstanzlichen Gerichten ergangen115 – beispielsweise Costa/ENEL (zum Vorrang des Unionssrechts)116, Van Gend en Loos (zur Eigen­ständigkeit und zum Vorrang des Unionsrechts)117, Stauder (zu den Grundrechten)118, Geb­ hard (zu den Voraussetzungen einer Grundfreiheitenbeschränkung)119, Francovich

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Skouris, EuGRZ 2008, 343, 348. Ottaviano, Rechtzeitiger Rechtsschutz, S. 91; Due-Report über die Zukunft des Gerichtssystems der Europäischen Gemeinschaften, S. 13; Jacobs, FS Zuleeg, S. 204, 208. 110 Due-Report über die Zukunft des Gerichtssystems der Europäischen Gemeinschaften, S. 13; Schwarze, DVBl. 2002, 1297, 1311; Skouris, EuGRZ 2008, 343, 348. 111 Skouris, EuGRZ 2008, 343, 348. 112 Lenz, EuGRZ 2001, 433, 439. 113 Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Handbuch Rechtsschutz, § 10 Rn. 99; DueReport über die Zukunft des Gerichtssystems der Europäischen Gemeinschaften, S. 13; Hakenberg, ZEuP 2000, 860, 863 f.; Jacobs, FS Zuleeg, S. 204, 208; Hirsch, ZRP 2000, 57, 59. 114 Skouris, EuGRZ 2008, 343, 348. 115 Haltern, Europarecht, Rn.  491; Skouris, EuGRZ 2008, 343, 348; Jacobs, FS Zuleeg, S. 204, 208. 116 EuGH, Urt. v. 15.7.1964 – Rs. 6/64, Slg. 1964, 1253 – Costa/ENEL. 117 EuGH, Urt. v. 5.2.1963 – Rs. 26/62, Slg. 1963, 1 – Van Gend en Loos. 118 EuGH, Urt. v. 12.11.1969 – Rs. 26/69, Slg. 1969, 419 – Stauder. 119 EuGH, Urt. v. 30.11.1995 – Rs. C-55/94, Slg. 1995, I-4165 – Gebhard. 109

C. Lösungen zur Beschränkung von Vorabentscheidungsersuchen

231

(zur Staatshaftung)120, Köbler (zur Staatshaftung auch bei Justizunrecht)121 und ­Grzelczyk (zu Unionsbürgerschaft und sozialen Rechten)122. Vor allem wegen seines zweifelhaften Beschleunigungseffekts kann die Beschränkung des Vorlagerechts auf letztinstanzliche Gerichte der Mitgliedstaaten demnach nicht zur Lösung des Spannungsverhältnisses zwischen Vorabentscheidungsverfahren und dem Recht auf eine angemessene Verfahrensdauer heran­ gezogen werden. III. Anpassung der Acte-clair-Doktrin /  Weitere Ausnahmen von der Vorlagepflicht

Möglicherweise kann das Spannungsfeld zwischen der Dauer von Vorabentscheidungsverfahren und dem Beschleunigungsgebot jedoch durch eine Anpassung der Acte-clair-Doktrin bzw. CILFIT-Rechtsprechung gemildert werden123. Die Berufung auf die Acte-clair-Doktrin bietet nämlich den letztinstanzlichen Gerichten die Möglichkeit, von einer eigentlich verpflichtenden Vorlage an den EuGH abzusehen124.

120

EuGH, Urt. v. 19.11.1991 – Rs. C-6/90 und C-9/90, Slg. 1991, I-5357 – Francovich. EuGH, Urt. v. 30.9.2003 – Rs. C-224/01, Slg. 2003, I-10239 – Köbler. 122 EuGH, Urt. v. 20.9.2001 – Rs. C-184/99, Slg. 2001, I-6193 – Grzelczyk. 123 Dass die Acte-clair-Doktrin aus Rechtssicherheitsgründen in strafrechtlichen Fällen nicht anwendbar sei (so Satzger, Europäisierung, S. 662 f.; ihm folgend auch Hecker, Europäisches Strafrecht, § 6 Rn. 6; kritisch nur für den Fall einer Verurteilung des Angeklagten Vogel, in: Volk, Münchener Anwaltshandbuch, § 14 Rn. 102), überzeugt nicht: Wenn die Antwort auf eine europarechtliche Auslegungsfrage offensichtlich ist, warum soll dann ein eigentliches überflüssiges Vor­abentscheidungsverfahren beim EuGH durchgeführt werden, welches das nationale Verfahren  – und die damit einhergehenden Belastungen beim Beschuldigten  – unnötig verlängert? Wie selbstverständlich gehen deshalb u. a. auch BGHSt 48, 52, 65; 48, 109, 117 und Jokisch, Gemeinschaftsrecht und Strafverfahren, S. 174 von der Anwendbarkeit der Acteclair-Doktrin im Strafprozess aus. Wenn Hugger, in: Ahlbrecht u. a., Internationales Strafrecht, Rn. 573 vor der Berufung auf die Acte-clair-Doktrin in „zweifelhaften Auslegungs- und Gültigkeits­fragen“ warnt, so liegt darin keine Ablehnung der Acte-clair-Doktrin für Strafverfahren, denn bei uneindeutigen Europarechtsfragen ist die Offenkundigkeit voraussetzende Acte-clair-Doktrin schlicht nicht anwendbar. 124 Neben der Acte-clair-Doktrin hat der EuGH zwei weitere Ausnahmen von der Vorlagepflicht entwickelt: Eine Vorlage ist demnach entbehrlich, wenn die aufgeworfene Frage bereits in einem gleichgelagerten Fall vorgelegt und durch den EuGH beantwortet wurde (EuGH, Urt. v. 27.3.1963 – Rs. 28–30/62, Slg. 1963, 63 – Da Costa), sowie dann, wenn eine gesicherte unionsrechtliche Rechtsprechung zu dieser Frage vorliegt, durch welche die betreffende Rechtsfrage geklärt ist (EuGH, Urt. v. 6.10.1982 – Rs. 283/81, Slg. 1982, 3415, Rn. 14 – ­CILFIT). – Sofern die übrigen Voraussetzungen für die Einleitung eines Vorabentscheidungsersuchens gegeben sind, versuchen die mitgliedstaatlichen Gerichte mitunter auch, über die Verneinung der Entscheidungserheblichkeit der europarechtlichen Frage für die Beurteilung des nationalen Falles von einer Vorlage absehen zu können; vgl. Thiele, Europäisches Prozessrecht, § 9 Rn. 48. 121

232

3. Teil: Lösungsmöglichkeiten

1. Theorie: Voraussetzungen der Acte-clair-Doktrin Tatsache ist, dass die Voraussetzungen, die der Gerichtshof für die Anwend­ barkeit der Acte-clair-Doktrin aufgestellt hat, praktisch kaum zu erfüllen sind125. Nach dem EuGH entfällt die Vorlagepflicht nämlich nur, „wenn die richtige Anwendung des [Unions]rechts derart offenkundig ist, dass keinerlei Raum für vernünftige Zweifel an der Entscheidung der gestellten Frage bleibt“126. Um sich auf die Acte-clair-Doktrin berufen zu können, muss der nationale Richter die Überzeugung gewinnen, dass sowohl der Europäische Gerichtshof als auch alle Gerichte der anderen Mitgliedstaaten die europarechtliche Frage in derselben Weise beantworten würden; dabei hat er die Eigenheiten und Schwierigkeiten der Auslegung des Unionsrechts (mehrere gleich verbindliche Sprachfassungen, eigenständige Terminologie und Rechtsbegrifflichkeit, die von den verschiedenen nationalen Begrifflichkeiten abweichen können, Gesamtzusammenhang und Entwick­lungsstand des Europarechts) und die aus der selbstständigen Entscheidung resultierende Gefahr divergierender Gerichtsentscheidungen in den Mitgliedstaaten angemessen zu berücksichtigen127. In der Theorie muss also ein nationaler Richter, der sich auf die Acte-clair-Doktrin berufen will, zu der Überzeugung kommen, dass die Antwort auf das fragliche europarechtliche Problem auch für die Gerichte aller übrigen 26 Mitgliedstaaten offensichtlich wäre. Dazu ist zumindest ein Vergleich der ausschlaggebenden europarechtlichen Vorschrift in sämtlichen Amtssprachen nötig128. Dass diese Voraussetzung von den mitgliedstaat­ lichen Richtern überhaupt jemals erfüllt werden konnte, muss bezweifelt werden. Denn selbst im Jahr 1982, als der EuGH das CILFIT-Urteil fällte, galt das Gemeinschaftsrecht der zehn Mitgliedstaaten in sieben gleichberechtigten Amtssprachen. Es ist aber unrealistisch, davon auszugehen, dass die nationalen Richter damals Deutsch, Französisch, Italienisch, Niederländisch, Englisch, Dänisch und Griechisch beherrschten. Dass jemand alle 23 Amtssprachen versteht, die in der heutigen Union mit 27 Mitgliedstaaten anerkannt sind, ist umso mehr ausgeschlossen. Und wie soll ein Gericht zu der Überzeugung gelangen, dass die Gerichte 125 Von „schier unüberwindbaren hohen Hürden“ sprechen Rennert, EuGRZ 2008, 385, 386 und Lieber, Vorlagepflicht, S. 115. Generalanwalt beim EuGH Colomer nennt die CILFIT-Kriterien „unsinnig“, Schlussanträge v. 30.6.2005 – Rs. C-461/03, Slg. 2005, I-10513, Rn. 52 – Gaston Schul. 126 Grundlegend EuGH, Urt. v. 6.10.1982 – Rs. 283/81, Slg. 1982, 3415, Rn. 16 – CILFIT. 127 EuGH, Urt. v. 6.10.1982 – Rs. 283/81, Slg. 1982, 3415, Rn. 16 – CILFIT. 128 Entgegen Kokott/Henze/Sobotta, JZ 2006, 633, 634 f. lässt sich dem EuGH-Urteil Intermodal Transports (Urt. v. 15.9.2005 – Rs. C-495/03, Slg. 2005, I-8151, Rn. 33) nicht entnehmen, dass zukünftig zur Begründung der Offensichtlichkeit auf die eingehende Analyse der unterschiedlichen Sprachfassungen verzichtet werden könnte; so auch Rennert, EuGRZ 2008, 385, 388 Fn. 33; Haltern, Europarecht, Rn. 449. Zwar wird der Vergleich der Sprachfassungen nicht explizit erwähnt, jedoch ist er auch im CILFIT-Urteil (EuGH, Urt. v. 6.10.1982 – Rs. 283/81, Slg. 1982, 3415, Rn. 17 f.) nur als Unterpunkt zu den „Eigenheiten des [Unions]­ rechts und der besonderen Schwierigkeiten seiner Auslegung“ genannt, die wiederum auch im Urteil Intermodal Transports aufgezählt werden.

C. Lösungen zur Beschränkung von Vorabentscheidungsersuchen

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der anderen EU-Staaten – neben dem EuGH – zur selben Auslegung der streitigen Rechtsnorm gelangen würden? Der Grund für diese strengen Voraussetzungen lässt sich mit der damaligen Situation des Europäischen Gerichtshofs erklären. Im Jahr 1982 war der Entwicklungsstand der (früheren) Europäischen Gemeinschaft noch nicht so weit fort­geschritten, wie das heutzutage der Fall ist129: Weder war der Binnenmarkt vollendet noch das Rechtsschutzsystem zufrieden stellend entwickelt. In dieser Lage war der EuGH bemüht, möglichst viele Rechtssachen an sich zu ziehen, um seine Position zu festigen und für die Weiterentwicklung des gemeinsamen Rechts zu sorgen130. Deshalb knüpfte der Gerichtshof die Ausnahme des acte clair auch an einen objektiven Offensichtlichkeitsbegriff: Durch die Aufstellung möglichst objektiver Kriterien für die Feststellung der Offenkundigkeit, die unabhängig von der subjektiven Sichtweise des vorlagepflichtigen Richters angewendet werden können, sollte eventuellen Missbrauchsmöglichkeiten vorgebeugt werden131. Als weitere Überlegung des Gerichtshofs kam hinzu, dass bereits damals die Vorlagepflicht von den nationalen letztinstanzlichen Gerichten zunehmend missachtet wurde132. Insofern wollte der EuGH mit seinem CILFIT-Urteil den mitgliedstaatlichen Gerichten das grundsätzliche Bestehen der Vorlagepflicht noch einmal vor Augen führen133. Indem er eine Vorlage nur dann für entbehrlich erklärte, wenn eine umfassende und rechtsvergleichende Untersuchung von Wortlaut, Systematik und Sinn und Zweck zu einem eindeutigen Ergebnis führten, hat der EuGH de facto mitgeteilt, dass er sich ein Absehen von der Vorlage – bis auf seltene Aus­ nahmefälle – nicht vorstellen kann.

129 Jacobs, Schlussanträge v. 10.7.1997 – Rs. C-338/95, Slg. 1997, I-6495, Rn. 60 – Wiener; Heß, RabelsZ 2002, 470, 493. – Nach von Danwitz, EuR 2008, 769, 772 f. liegt auch heutzutage noch ein Problem mit der Akzeptanz des Europarechts vor. 130 Hummert, Acte-clair-Doktrin, S. 38; Malferrari, Zurückweisung von Vorabentscheidungsersuchen, S. 227 f.; Rasmussen, CMLRev. 2000, 1071, 1107 f. 131 Tizzano, Schlussanträge v. 21.2.2002 – Rs. C-99/00, Slg. 2002, I-4839, Rn. 63 f. – Lyckeskog; Dauses, Vor­abentscheidungsverfahren, S. 117; Hummert, Acte-clair-Doktrin, S. 35 f. 132 Vor allem französische Gerichte hatten schon vor der CILFIT-Entscheidung des EuGH die Acte-clair-Doktrin angewendet (vgl. z. B. die Entscheidungen des französischen Conseil d’Etat in den Rechtssachen Shell Berre und Cohn Bendit, dargestellt bei Lieber, Vorlagepflicht, S. 126 ff.); die Acte-clair-Doktrin entstammt schließlich auch dem französischen Recht, vgl. zu diesem historischen Hintergrund Dauses, Vorabentscheidungsverfahren, S. 114. Die Gerichte anderer Mitgliedstaaten sind der eigenmächtigen Auslegung der französischen Gerichte jedoch auch teilweise gefolgt (so z. B. BVerwGE 31, 279, 284 – die Rechtsprechung wurde aber aufgegeben – und BFHE 133, 470, 471 f.; 143, 383 – letztere Entscheidung wurde durch BVerfGE 75, 223 ff. aufgehoben). 133 Dauses, Vorabentscheidungsverfahren, S. 117.

234

3. Teil: Lösungsmöglichkeiten

2. Praxis: Umgehung der Vorlagepflicht Nähmen die mitgliedstaatlichen Gerichte die Voraussetzungen der Acte-clairDoktrin ernst, hätte sie in der Praxis wohl fast keinen Anwendungsbereich. Trotz der hohen Anforderungen der CILFIT-Rechtsprechung berufen sich die mitgliedstaatlichen Gerichte indes vergleichsweise häufig auf die als Ausnahme von der Vorlagepflicht konzipierte Offensichtlichkeit der Antwort, um von einem Er­suchen an den Gerichtshof absehen zu können134. Zwar gibt es keine diesbezügliche Statistik, allerdings kann aus der Zahl der tatsächlich beim EuGH eingehenden Vorabentscheidungsersuchen geschlossen werden, dass längst nicht alle Fragen zur Auslegung des europäischen Rechts vorgelegt werden. Schließlich stammten von den im Jahr 2010 eingereichten 385 Vorabentscheidungsersuchen nur etwa ein Viertel135, d. h. etwa 95 Fragen von den in jedem Fall vorlagepflichtigen obersten Gerichten der Mit­gliedstaaten. Berücksichtigt man die Bedeutung, die das europäische Recht mittlerweile für die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen erreicht hat136, so ist es kaum vorstellbar, dass in der ganzen Europäischen Union nur um die 95 Rechtssachen bei den obersten Gerichtshöfen eingegangen sind, die Auslegungsfragen zum gemeinsamen Recht aufwarfen. Insofern überrascht es auch nicht, dass die Kommission in der stichpunktartigen Überprüfung der mit­gliedstaatlichen Urteile für die jährlichen Berichte über die Anwendung des Europarechts immer wieder Entscheidungen findet, in denen nach ihrer Ansicht eine Vorlage an den EuGH unterblieben ist, obwohl sie wegen der Uneindeutigkeit der fraglichen europarechtlichen Norm geboten gewesen wäre137. Dass die Kriterien der Acte-clair-Doktrin in der Entscheidungspraxis der mitgliedstaatlichen Gerichte nicht befolgt werden, zeigt sich unter anderem auch an der oftmals bloß formel­ 134

Vgl. EuGH, Urt. v. 13.1.2004 – Rs. C-453/00, Slg. 2004, I-837, Rn. 18 – Kühne und Heitz; für Strafsachen etwa jüngst BGH NStZ 2010, 30, 32; BGHSt 48, 52, 65; 48, 109, 117; LG Hannover NStZ-RR 2004, 378, 380; Hummert, Acte-Clair-Doktrin, S. 40 ff.; Broberg, CMLRev. 2008, 1383, 1384; Vogel, in: Volk, Münchener Anwaltshandbuch, § 14 Rn. 102; Karpenstein, Praxis des EG-Rechts, Rn. 360; Thiele, Europäisches Prozessrecht, § 9 Rn. 72; Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 284. – Zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten bestehen indes wiederum erhebliche Unterschiede in der Vorlagepraxis, vgl. dazu Jacobs, Schlussanträge v. 10.7.1997 – Rs. C-338/95, Slg. 1997, I-6495, Rn.  62  – Wiener; Dauses, Vorabentscheidungsverfahren, S. 51 f. 135 So allgemein der Due-Report über die Zukunft des Gerichtssystems der Europäischen Gemeinschaften, S. 13. 136 Für Deutschland hat Hoppe, EuZW 2009, 168 f. ohne Differenzierung hinsichtlich der verschiedenen Rechtsgebiete einen Anteil der europäischen Richtlinien, Verordnungen und des Primärrechts von etwa 80 % an allen geltenden Gesetzen ermittelt; vgl. auch Satzger, Euro­ päisierung, S. 1. 137 Siehe jeweils Anhang 6 der jährlichen Berichte der Kommission über die Anwendung des Unionsrechts, der sich mit der Beachtung des Unionsrechts durch die nationalen Gerichte beschäftigt. – Der Verstoß gegen die Vorlagepflicht kann zum einen daraus resultieren, dass die nationalen Gerichte eine Vorlage überhaupt nicht erwägen, oder zum anderen daraus, dass sie eine Vorlage fälschlicherweise mit dem Hinweis auf die in diesem Fall nicht bestehende Vor­ lagepflicht ablehnen, vgl. Hummert, Acte-clair-Doktrin, S. 42 f.

C. Lösungen zur Beschränkung von Vorabentscheidungsersuchen

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haften Wiedergabe der vom Gerichtshof im CILFIT-Urteil gewählten Formulierung; ohne eingehende Prüfung von Wortlaut, Systematik und Sinn und Zweck wird einfach festgestellt, dass die Auslegung der fraglichen europäischen Norm derart offensichtlich sei, dass auf eine Vorlage an den EuGH verzichtet werden könne138. Den mitgliedstaatlichen Gerichten wird die Missachtung der Vorlagepflicht jedoch auch insofern besonders leicht gemacht, als die Vorlage an den EuGH mangels einer effektiven Sanktionierung nicht erzwungen werden kann139. Zwar gibt es sowohl auf europäischer als auch auf nationaler Ebene Möglichkeiten, die Verletzung der Vorlagepflicht zu beanstanden: Auf EU-rechtlicher Ebene kann ein Verstoß von der Kommission mittels des Vertragsverletzungsverfahrens nach Art. 258 AEUV (ex-Art. 226 EGV) gerügt werden und bei einem hinreichend qualifizierten Verstoß sogar zu einem unionsrechtlichen Staatshaftungsanspruch führen140. Nach der EMRK besteht für den Prozessbeteiligten nach Ausschöpfung des inner­ staatlichen Rechtwegs die Möglichkeit, beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Individualbeschwerde gemäß Art. 34 unter Berufung auf Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) einzulegen141. Auf nationaler Ebene schließlich hat das Bundesverfassungsgericht den EuGH als gesetzlichen Richter im Sinne von Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG anerkannt142, so dass eine Verfassungsbeschwerde angestrengt werden kann. Keine der Rügemöglichkeiten führt indes zu einer wirksamen Sanktionierung der Vorlagepflichtverletzung durch die mitgliedstaatlichen Gerichte: Ein Vertragsverletzungsverfahren endet bestenfalls mit der Feststellung, dass das betreffende nationale Gericht gegen Europarecht verstoßen hat143, ändert jedoch nichts an der bereits eingetretenen Bestandskraft des nationalen Urteils; und auch ein möglicher europarechtlicher Staatshaftungsanspruch würde lediglich den Mitgliedstaat zur Zahlung einer bestimmten Summe verpflichten, nicht aber nachträglich eine Vorlage erzwingen können. Ein stattgebendes Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte wäre ebenfalls nur ein Feststellungsurteil dahingehend, dass die Vorlagepflicht willkürlich miss­ achtet wurde. Zwar gibt es in Deutschland gemäß § 359 Nr. 6 StPO144 die Möglich 138

Hummert, Acte-clair-Doktrin, S. 42 f. Hummert, Acte-clair-Doktrin, S. 46 ff.; Kokott/Henze/Sobotta, JZ 2006, 633, 635 ff. 140 EuGH, Urt. v. 30.9.2003 – Rs. C-224/01, Slg. 2003, I-10239 – Köbler. 141 Vgl. EGMR, Entsch. v. 4.10.2001 – Nr. 60350/00 – Canela Santiago/Spanien; ähnlich bereits EKMR, Entsch. v. 28.6.1993 – Nr. 15669/89 – F. S. und N. S./Frankreich; Kokott/Henze/ Sobotta, JZ 2006, 633, 637; Léger, Schlussanträge v. 8.4.2003  – Rs. C-224/01, Slg. 2003, I-10239, Rn. 147 – Köbler. 142 So erstmals BVerfGE 75, 223. 143 Mangels spürbarer Konsequenzen wird die Durchführung eines Vertragsverletzungsverfahrens als dem Ansehen des EuGH schadend betrachtet (vgl. Hummert, Acte-clair-Doktrin, S. 47 f.), so dass die Kommission bisher überhaupt nur zwei Vorverfahren wegen Verstoßes gegen die Vorlagepflicht eingeleitet hat, ohne dass diese jemals beim EuGH zur Entscheidung gelandet wären (im Jahr 1990 gegen Deutschland, 2003 gegen Schweden). 144 Zum StPO-Wiederaufnahmeverfahren vgl. Marxen/Tiemann, Wiederaufnahme, Rn. 272 ff. – Auch die Vorschriften der ZPO und der VwGO sehen eine Wiederaufnahme vor, vgl. § 580 Nr. 8 ZPO, § 153 VwGO. 139

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3. Teil: Lösungsmöglichkeiten

keit, nach einem eine Konventionsverletzung feststellenden Urteil des EGMR die Wiederaufnahme des Verfahrens zu betreiben, in dessen Rahmen Art. 267 AEUV zu beachten wäre. Allerdings stellt der EGMR mit dem Erfordernis einer willkürlichen Vorlagepflichtverletzung hohe Voraussetzungen an die Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren, welche bisher noch in keinem Fall als gegeben angesehen wurden145. Außerdem würde die nationale Rechtssache nach einer erfolgreichen Wiederaufnahme komplett neu verhandelt, so dass eine Vorlagepflicht wieder erst in der Revisionsinstanz bestünde. Am effektivsten hinsichtlich einer Sank­ tionierung der Vorlagepflichtverletzung ist noch eine stattgebende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts: Nach § 95 Abs.  2 BVerfGG kann bei einer erfolgreichen Verfassungsbeschwerde das rechtsverletzende Urteil aufgehoben werden. Das letztinstanzliche Gericht, welches zunächst nicht den EuGH angerufen hatte, müsste die Vorlage dann während der erneuten Verhandlung einreichen. Indes begreift sich das Bundesverfassungsgericht – welches schließlich selbst auch nicht für seine Vorlagefreudigkeit bekannt ist146  – nicht als Vorlagen-KontrollInstanz, so dass es Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG erst bei einem willkürlichen Verstoß gegen die Vorlageverpflichtung als verletzt ansieht147, d. h. nur bei grundsätzlicher Verkennung der Vorlagepflicht, bewusstem Abweichen von der Rechtsprechung des EuGH ohne Vorlagebereitschaft oder Unvollständigkeit der Rechtsprechung. Diese restriktiven Voraussetzungen werden bei einem Absehen von der Vorlage an den EuGH unter Berufung auf die Acte-clair-Doktrin kaum gegeben sein148. Mit Blick auf die gesamte Europäische Union kommt hinzu, dass die Möglichkeit, mittels eines Rechtsbehelfs die Aufhebung des unter Verstoß gegen die Vorlagepflicht ergangenen Urteils zu erreichen, in den meisten anderen Mit­gliedstaaten nicht gegeben ist149. Die restriktive Handhabung der Sanktionierung der Vorlagepflichtverletzung sowohl auf europäischer als auch auf nationaler Ebene führt mithin dazu, dass die ursprünglich versäumte Vorlage an den EuGH in den meisten Fällen nicht nachgeholt wird. Aufgrund der unzureichenden Sanktionierung eines Verstoßes gegen die Vorlagepflicht verbleibt der Umfang der Reichweite der Acte-clair-Doktrin de facto 145

Kokott/Henze/Sobotta, JZ 2006, 633, 637; vgl. etwa die eine Verletzung negierenden Entscheidungen EGMR, Entsch. v. 12.5.1993 – Nr. 20631/92 – Divagsa/Spanien; Entsch. v. 25.1.2000 – Nr. 44861/98 – Moosbrugger/Österreich; Entsch. v. 4.10.2001 – Nr. 60350/00 – Santiago/Spanien. 146 Das BVerfG hat noch nie ein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH gerichtet. Kritisch dazu vor dem Hintergrund des Konfliktpotenzials, welches das BVerfG durch seine Entscheidung zum Vertrag von Lissabon aufgebaut hat („ultra-vires-Kontrolle“) Böse, ZIS 2010, 76, 90. 147 Vgl. die Systematisierung der Rechtsprechung in BVerfGE 82, 159, 194 ff. Dort wurde als Prüfungsmaßstab etwa gefragt, ob die „Vorlagepflicht mit sachlich einleuchtender Begründung verneint“ wurde, oder ob der Beschwerdeführer eine Argumentation vortragen kann, die der Auffassung des angegriffenen Gerichts eindeutig vorzuziehen ist. 148 Heß, ZZP 1995, 59, 83 f.; Hummert, Acte-clair-Doktrin, S. 56 ff. 149 Hummert, Acte-clair-Doktrin, S. 54; Kokott/Henze/Sobotta, JZ 2006, 633, 637.

C. Lösungen zur Beschränkung von Vorabentscheidungsersuchen

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weitestgehend dem Ermessen der mitgliedstaatlichen Gerichte überlassen150. Ob ein letztinstanzliches Gericht von einer Vorlage an den EuGH absieht, wird deshalb häufig anhand einer Kosten-Nutzen-Abwägung entschieden151: Verglichen werden die Schwierigkeit und Bedeutung der zu entscheidenden europäischen Auslegungsfrage mit dem Aufwand der Durchführung eines Vorabentscheidungsverfahrens, d. h. insbesondere der damit einhergehenden Verzögerung des Ausgangsverfahrens. 3. Schlussfolgerung: Anpassung des acte clair erforderlich Der Widerspruch zwischen den theoretischen Anforderungen und der prak­ tischen Anwendung der Acte-clair-Doktrin ist dogmatisch unbefriedigend und zu eklatant, als dass er weiter hingenommen werden sollte152. Eine Anpassung der Acte-clair-Doktrin wird deshalb vielfach gefordert153. Schließlich werden durch die inkonsequente Umsetzung des vom EuGH auf­ gestellten Maßstabs die Grundgedanken des Vorabentscheidungsverfahrens in Frage gestellt: Mit ihrer großzügigen Handhabung der Acte-clair-Doktrin beeinträchtigen die mitgliedstaatlichen Gerichte – wenn auch im Interesse eines effektiven Rechtsschutzes durch zügige Verfahren – mitunter an falscher Stelle sowohl die Kooperation mit dem Europäischen Gerichtshof als auch die Einheit der europäischen Rechtsordnung154. Hinzu kommt, dass die einstige Rechtfertigung für wenige Ausnahmen von der Vorlagepflicht heutzutage überholt ist155: Der EuGH hat sich schließlich als feste europäische Institution etabliert und mittlerweile zu vielen Bereichen des Unionsrechts eine ausgefeilte und anerkannte Rechtsprechung entwickelt, so dass er nicht mehr um seine Position bangen muss. Darüber hinaus verfügt der Europäische Gerichtshof aufgrund seiner stark angestiegenen Beanspruchung nicht mehr über die Ressourcen, unbegrenzt viele Rechtssachen an sich zu ziehen. Musste er im Jahr 150

Heß, ZZP 1995, 59, 82 ff.; Hummert, Acte-clair-Doktrin, S. 73. Hummert, Acte-clair-Doktrin, S. 44 f., 73; vgl. auch Everling, Vorabentscheidungsverfahren, S. 77 f. (entscheidend seien Gründe „der Praktikabilität und der Effektivität“). 152 Pointiert Generalanwalt Colomer in den Schlussanträgen v. 30.6.2005  – Rs. C-461/03, Slg. 2005, I-10513, Rn. 84 – Gaston Schul: „Jedenfalls erreicht die Lehre vom ‚acte clair‘ aufgrund der strengen Voraussetzungen, denen sie unterliegt, einen Abstraktionsgrad, der sie in die Sphäre des theoretischen Symbolismus verweist.“ 153 Vgl. nur Haltern, Europarecht, Rn.  451; Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Handbuch Rechtsschutz, § 10 Rn. 63; Wegener, in: Calliess/Ruffert, EGV/EUV, Art. 234 EGV Rn. 28; Thiele, Europäisches Prozessrecht, § 9 Rn. 72; Schima, Vorabentscheidungsverfahren, S. 66 und die Nachweise unten in diesem Dritten Teil, C. III. unter 4. c). 154 Hummert, Acte-clair-Doktrin, S. 151; Lipp, NJW 2001, 2657, 2662. 155 Generalanwalt Colomer, Schlussanträge v. 30.6.2005 – Rs. C-461/03, Slg. 2005, I-10513, Rn. 42, 52, 58 – Gaston Schul; Haltern, Europarecht, Rn. 455; Hummert, Acte-clair-Doktrin, S. 38; Wegener, in: Calliess/Ruffert, EGV/EUV, Art. 234 EGV Rn. 28. 151

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3. Teil: Lösungsmöglichkeiten

des CILFIT-Urteils (1982) noch 129 Vorabentscheidungsersuchen beantworten, so waren im Jahr 2010 mit 385 Vorlagen dreimal so viele Rechtssachen zu be­ arbeiten156. Auf der anderen Seite zeigt sich an der zunehmenden Zahl von mitgliedstaatlichen Urteilen mit europäischen Bezügen, dass die nationalen Gerichte durchaus zu einer selbstständigen Anwendung des europäischen Rechts im Stande sind157. Gerade vor dem Hintergrund der Überlastung des EuGH ist eine Anpassung der Kriterien des acte clair zudem geboten. Schließlich kann dem Europäischen Gerichtshof selbst gar nicht an der wörtlichen Einhaltung der CILFIT-Recht­sprechung gelegen sein, weil er ansonsten noch viel mehr Rechtssachen zu bearbeiten hätte, die unweigerlich zu einer weiteren Verlängerung der Verfahrensdauer führen würden158. Dabei ist der EuGH schon heutzutage weit von dem von ehemaligen Richtern und Generalanwälten gesteckten Ziel entfernt, Vorabentscheidungsverfahren innerhalb von einem Jahr zu beantworten159. Dass es aber Ausnahmen von der nach dem Wortlaut des Art. 267 Abs. 3 AEUV unbe­grenzten Vorlagepflicht geben muss, lässt sich bereits der insoweit richtigen Begründung der Acte-clair-Doktrin im CILFIT-Urteil entnehmen. Darin betont der Europäische Gerichtshof den Charakter des Vorabentscheidungsverfahrens als Instrument zur Zusammenarbeit zwischen mitgliedstaatlichem und europäischem Gericht160 und erkennt an, dass zur sachgerechten Anwendung der Vorlagepflicht bestimmte Auslegungsfragen auch „in eigener Verantwortung“ der nationalen Gerichte und in einer die Rechtseinheit wahrenden Form gelöst werden können161. Insofern würde eine an die realistischen Verhältnisse angepasste Neuformulierung der Acte-clair-Doktrin ein Entgegenkommen gegenüber den nationalen Gerichten und damit ein echtes Kooperationsangebot bedeuten. Dieser Ansatz wird auch durch das in der Europäischen Union geltende Subsidiaritätsprinzip unterstützt (vgl. Art. 5 Abs. 1 S. 2, Abs. 3 EUV n. F.)162. Nicht umsonst werden die mitgliedstaatlichen Gerichte auch als „funktionale Unions­ gerichte“ bezeichnet163; denn die Europäische Union ist darauf angewiesen, dass 156

EuGH, Jahresbericht 2010, S. 107 f. Hummert, Acte-clair-Doktrin, S. 45 f. 158 Jacobs, Schlussanträge v. 10.7.1997 – Rs. C-338/95, Slg. 1997, I-6495, Rn. 58, 60 – Wiener; Lipp, NJW 2001, 2657, 2658, 2662; Hummert, Acte-clair-Doktrin, S. 45; Heß, ZZP 1995, 59, 84; Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 284 f. 159 Due-Report über die Zukunft des Gerichtssystems der Europäischen Gemeinschaften, S. 7; vgl. auch Wägenbaur, EuGH VerfO, Art. 23 Satzung EuGH Rn. 28. 160 EuGH, Urt. v. 6.10.1982 – Rs. 283/81, Slg. 1982, 3415, Rn. 7 – CILFIT. 161 EuGH, Urt. v. 6.10.1982 – Rs. 283/81, Slg. 1982, 3415, Rn. 16 – CILFIT. So auch Haltern, Europarecht, Rn. 455; Thiele, Europäisches Prozessrecht, § 9 Rn. 46. 162 Haase, Faires Gerichtsverfahren, S. 428 f.; Hummert, Acte-clair-Doktrin, S. 151; vgl. auch Lipp, NJW 2001, 2657, 2660; Groh, Auslegungsbefugnis, S. 198 ff. 163 Vgl. statt aller Thiele, Europäisches Prozessrecht, § 2 Rn.  58; Dauses, Gutachten D, S. 13. 157

C. Lösungen zur Beschränkung von Vorabentscheidungsersuchen

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die nationalen Gerichte dem Europarecht aufgeschlossen gegenüberstehen und ihm dadurch zur Durchsetzung verhelfen. Eine zweckdienliche Handhabung der Acte-clair-Doktrin müsste dieser Arbeitsteilung zwischen dem EuGH und den nationalen Gerichten gerecht werden und sollte nicht die Kooperationsbereitschaft der mitgliedstaatlichen Gerichtsbarkeit durch die Aufstellung unerfüllbarer Kriterien gefährden. Das zur Kooperation nötige Vertrauensverhältnis zwischen den nationalen Gerichten und dem Europäischen Gerichtshof setzt vielmehr ein gewisses Maß an Eigenständigkeit der mit­gliedstaatlichen Gerichtsbarkeit voraus. Gegen eine Lockerung der Vorlagepflicht wird indes immer wieder das Argument der Gefahr für die einheitliche Anwendung des Europarechts vorgebracht164. Die Ausnahmen von Art.  267 Abs.  3 AEUV müssten äußerst restriktiv gehandhabt werden, weil letztinstanzliche Gerichte in Einzelfällen nicht nur eine Vorlage an den EuGH unterlassen hätten, sondern auch einer offensichtlich falschen Auslegung des Europarechts gefolgt seien165. Dagegen ist vor allem zu sagen, dass auf nationaler Ebene in jeder mitgliedstaatlichen Rechtsordnung mit mehreren Gerichtsinstanzen Unterschiede bei der Auslegung des nationalen Rechts widerspruchsfrei toleriert werden. Im deutschen Recht etwa ist allein die Anwendung von Bundesrecht in einem Rechtsstreit kein hinreichender Revisionsgrund, ohne dass dadurch die Einheit der deutschen Rechtsordnung gefährdet wäre; ebenso wenig kann deshalb die Anwendung von Unionsrecht an und für sich die Durchführung eines Vorabentscheidungsverfahrens recht­fertigen166. Entscheidend für die Einheit der europäischen Rechtsordnung ist nicht, dass der EuGH jede Frage zum Unionsrecht beantwortet, sondern dass er die wichtigen Fragen zur Entscheidung vorgelegt bekommt. Sollte es trotz weiterer Ausnahmen von Art. 267 Abs. 3 AEUV zu Verletzungen der Vorlagepflicht durch die nationalen Gerichte kommen – und infolgedessen eine europarechtswidrige nationale Rechtsprechung entstehen –, so bestünden außerdem zwei Korrekturmöglichkeiten167: Erstens könnte 164

Siehe KOM (2000) 109 endg., S. 5 f.; Ottaviano, Rechtzeitiger Rechtsschutz, S.  97 ff.; Schima, Vorabentscheidungsverfahren, S. 66; Thiele, Europäisches Prozessrecht, § 9 Rn. 72. 165 Vgl. Capotorti, Schlussanträge v. 13.7.1982  – Rs. 283/81, Slg. 1982, 3415, Rn.  4  – ­CILFIT. 166 Rennert, EuGRZ 2008, 385, 387. So auch Generalanwalt Jacobs (Schlussanträge v. 10.7.1997  – Rs. C-338/95, Slg. 1997, I-6495, Rn.  20, 64  – Wiener), der es unverhältnismäßig findet, „eine allgemeine Theorie zu Art. 177 [EWG, nunmehr Art. 267 AEUV] auf vereinzelte Fälle einer möglicherweise unzutreffenden Anwendung zu stützen. Eine solche Theorie wird das Problem sowieso dann nicht lösen, wenn das nationale Gericht bewusst eine andere Auffassung vertritt. Diese Theorie würde mit Kanonen schießen, ohne den Spatz zu treffen.“ – Dass gewisse Unterschiede in der Auslegung des europäischen Rechts hingenommen werden können, lag auch der Beschränkung des Vorlagerechts auf letztinstanzliche Gerichte in ex-Art. 68 EGV und der liberalen Regelung zur Vorlageberechtigung und -verpflichtung in ex-Art. 35 EUV zugrunde; vgl. Lipp, NJW 2001, 2657, 2658. 167 Due-Report über die Zukunft des Gerichtssystems der Europäischen Gemeinschaften, S. 16. – Jacobs, FS Zuleeg, S. 204, 210 weist zudem auf die Möglichkeit hin, etwaige Schäden aus der Nicht-Vorlage entsprechend der Köbler-Rechtsprechung des EuGH im Wege der Staatshaftung geltend zu machen.

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3. Teil: Lösungsmöglichkeiten

die betreffende Frage durch eine Vorlage eines anderen Gerichts jederzeit trotzdem vor den EuGH gebracht werden, und zweitens könnte die Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gegen den Mitgliedstaat betreiben, dessen Gericht das Europarecht nicht beachtet hat168. Angesichts des ohnehin abweichenden praktischen Umgangs mit der theo­ retisch unbe­grenzten Vorlagepflicht und mangels durchgreifender Gegenargumente ist es mithin vorzugswürdig, die Frage der Vorlagepflichtigkeit der nationalen letzt­instanzlichen Gerichte wieder in rechtliche Bahnen zurückzuführen und damit wieder nachvollziehbar zu gestalten. Eine Anpassung der Acte-clair-Doktrin an die praktischen Verhältnisse wird der Einheit und Kohärenz des Unionsrechts besser als der gegenwärtige Widerspruch zwischen Theorie und Praxis gerecht werden169 und außerdem den Kooperationscharakter des Vorabentscheidungsverfahrens und das Subsidiaritätsprinzip stärker zur Geltung bringen. Gibt es insgesamt weniger Vorlagen, kommt es zudem zu einer Verkürzung der Verfahrensdauer, die auch eine allgemeine Verbesserung des Rechtsschutzes auf der Ebene der Euro­päischen Union bewirkt. 4. Neues Kriterium: Unionsrechtliche Klärungsbedürftigkeit Doch wie könnte eine Neubestimmung der Acte-clair-Doktrin aussehen? Sowohl in der Praxis als auch in der Wissenschaft sind viele Anregungen entstanden. a) Auffassungen der Generalanwälte beim Gerichtshof In den Schlussanträgen zu den Rechtssachen Wiener, Lyckeskog, Intermodal Transports und Gaston Schul haben sich die Generalanwälte beim EuGH Jacobs, Tizzano, Stix-Hackl und Colomer zu einer Anpassung der Kriterien der Acte-clairDoktrin geäußert. Bereits im Jahr 1997 stellte Generalanwalt Jacobs in seinen Schlussanträgen zum Verfahren Wiener die Frage, ob angesichts der Entwicklung der Europäischen 168 Wenngleich ein Vertragsverletzungsverfahren nicht die Verletzung der Vorlagepflicht beseitigen kann (dazu bereits in diesem Dritten Teil, C. III. unter 2.), so geht von der Einleitung eines solchen Verfahrens doch eine erhebliche politische Wirkung aus, die auch die nationalen Gerichte zu größerer Sorgsamkeit hinsichtlich der Beachtung der Vorlagepflicht anhalten wird. – Falls die genannten zwei Abhilfemöglichkeiten den EU-Mitgliedstaaten nicht aus­ reichen sollten, könnte der Kommission als „Hüterin der Verträge“ die Befugnis eingeräumt werden, dem Gerichtshof vermeintlich unrichtig entschiedene Auslegungsfragen selbstständig vorzulegen, um für die Zukunft die richtige und einheitliche Anwendung des gemeinsamen Rechts sicherzu­stellen; so der Vorschlag des sog. Due-Reports über die Zukunft des Gerichtssystems der Europäischen Gemeinschaften, S. 16 f. 169 Lipp, NJW 2001, 2657, 2662.

C. Lösungen zur Beschränkung von Vorabentscheidungsersuchen

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Union der Gerichtshof wirklich über jede sich stellende Frage zum europäischen Recht entscheiden müsse. Seiner Meinung nach sei eine Vorlage der letztinstanzlichen Gerichte vielmehr nur dann nötig, wenn eine qualifizierte Auslegungsfrage von allgemeiner Bedeutung zu begutachten sei, welche die einheitliche An­ wendung des Rechts innerhalb der Europäischen Union fördere170. Dies begründet Jacobs unter anderem mit der zunehmenden Konkretisierung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, die sich teilweise nicht mehr auf die Auslegung des Europarechts beschränke, sondern schon eine – unzulässige – Entscheidung des konkreten Falles darstelle171. Dadurch könne jede Anwendung einer euro­ päischen Rechtsvorschrift Anlass zu einer Auslegungsfrage geben172. Aus der Tatsache, dass der EuGH jedoch eine Gefahr für die einheitliche Auslegung und Anwendung des gemeinsamen Rechts erst sieht, wenn sich „in einem Mitgliedstaat eine nationale Rechtsprechung herausbildet, die mit den Normen des [Unions]rechts nicht im Einklang steht“173, schlussfolgert Jacobs indes, dass der Gerichtshof wegen der Bezugnahme auf „eine nationale Rechtsprechung“ an eine allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Auslegungsfrage gedacht haben müsse174. Der EuGH sei nämlich einer – infolge der Ausweitung des Europarechts drohenden  – übermäßigen Inanspruchnahme des Vorabentscheidungsverfahrens nicht gewachsen, so dass die Qualität, Kohärenz und Effektivität der europäischen Rechtsprechung gefährdet seien175. Generalanwalt Jacobs weist zudem darauf hin, dass der EuGH selbst, obwohl er über ein viel besseres Informationssystem als die nationalen Gerichtsbarkeiten verfüge, nur selten die fragliche Europarechtsnorm in allen Amtssprachen vergleichend auslege, wie er es im CILFIT-Urteil von den mitgliedstaatlichen Gerichten verlange176. Keinen Änderungsbedarf an der Acte-clair-Doktrin sah Generalanwalt Tizzano im Jahr 2002 in der Rechtssache Lyckeskog. Das vorlegende schwedische Gericht ersuchte den Gerichtshof um Beantwortung der Frage, ob ein letztinstanzliches 170 Jacobs, Schlussanträge v. 10.7.1997  – Rs. C-338/95, Slg. 1997, I-6495, Rn.  20, 64  – ­Wiener. 171 Jacobs, Schlussanträge v. 10.7.1997  – Rs. C-338/95, Slg. 1997, I-6495, Rn.  12  – Wiener. – Die vom Bundesfinanzhof im Fall Wiener vorgelegte Auslegungsfrage ist auch besonders ­skurril: Der BFH wollte wissen, ob „der Begriff ‚Nachthemden‘ im Sinne […] des Gemeinsamen Zolltarifs dahin auszulegen [ist], dass er ausschließlich ‚andere‘ Unterkleidung erfasst, die aufgrund ihrer Beschaffenheit eindeutig dazu bestimmt ist, nur als Nachtkleidung getragen zu werden, oder […] auch Erzeugnisse, die nach ihrer Aufmachung zwar nicht nur, aber im wesentlichen zum Tragen im Bett bestimmt sind“. 172 Jacobs, Schlussanträge v. 10.7.1997 – Rs. C-338/95, Slg. 1997, I-6495, Rn. 15 – Wiener. 173 EuGH, Urt. v. 24.5.1977  – Rs. 107/76, Slg. 1977, 957, Rn.  5  – Hoffmann-La Roche; Urt. v. 27.10.1982 – Rs. 35 und 36/82, Slg. 1982, 3723, Rn. 8 – Morson. 174 Jacobs, Schlussanträge v. 10.7.1997 – Rs. C-338/95, Slg. 1997, I-6495, Rn. 55 – Wiener. 175 Jacobs, Schlussanträge v. 10.7.1997 – Rs. C-338/95, Slg. 1997, I-6495, Rn. 60 – Wiener. 176 Jacobs, Schlussanträge v. 10.7.1997 – Rs. C-338/95, Slg. 1997, I-6495, Rn. 65 – Wiener. Weil die nationalen Gerichte mit einem Vergleich aller sprachlichen Fassungen der in Frage stehenden Norm noch viel mehr überfordert wären, erachtet Jacobs einen solchen nicht als verpflichtend.

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3. Teil: Lösungsmöglichkeiten

Gericht auch dann von der Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens absehen könne, „wenn ihm klar ist, wie die in dem Verfahren aufgeworfenen [unions]rechtlichen Fragen zu entscheiden sind, auch wenn sie nicht unter die Lehre vom ‚acte clair‘ […] fallen“. Gegen den Vorschlag, auf die subjektive Überzeugung des nationalen Richters abzustellen, dass er in der Lage ist, eine Frage selbstständig zu entscheiden, argumentiert Tizzano vor allem mit dem Wortlaut von ex-Art. 234 Abs. 3 EGV (nunmehr Art. 267 Abs. 3 AEUV), der immerhin eine unbedingte Vorlagepflicht statuiere177. Eine weitere Aufweichung der Ausnahme könnte seiner Meinung nach zu einem Zerfall der Einheit und Einheitlichkeit des Europarechts führen und seinen Vorrang vor nationalem Recht gefährden178. Dabei ist jedoch zu beachten, dass Generalanwalt Tizzano davon ausgeht, dass die Acte-clair-Doktrin den letztinstanzlichen Gerichten bereits „einen nicht unbeachtlichen Ermessensspielraum“ zugestehen würde179: Das Erfordernis der „Offenkundigkeit“ sei vielmehr lediglich eine Qualifizierung des „vernünftigen Zweifels“, mit der sichergestellt werden solle, dass ein Zweifel tatsächlich und nicht nur rein subjektiv gegeben sein müsse. Darüber hinaus sei auch kein Vergleich sämtlicher Sprachfassungen der auszulegenden Bestimmungen nötig, sondern das nationale Gericht solle sich nur bewusst werden, dass es eine Norm anzuwenden habe, die in allen Übersetzungen die gleiche Rechtswirkung entfalte180. Nach dem Verständnis der Generalanwältin Stix-Hackl in der Rechtssache Inter­ modal Transports aus dem Jahr 2005 wiederum sei die Beurteilung, ob die Auslegung einer Norm offenkundig und zweifelsfrei sei, bereits nach der bisherigen Acte-clair-Doktrin keine objektive, sondern vielmehr eine subjektive des nationalen Gerichts, weil die Verobjektivierung eines Auslegungsvorgangs nur beschränkt möglich sei181. So seien deshalb auch die CILFIT-Kriterien „nicht als eine Art schematisch anzuwendende Entscheidungsanleitung für nationale letztinstanzliche Gerichte“ anzusehen; insbesondere könnten die mitgliedstaatlichen Gerichte nicht verpflichtet werden, eine europarechtliche Vorschrift in jeder Amtssprache zu prüfen182. Statt einer Modifizierung der Acte-clair-Doktrin erwägt Stix-Hackl, zu einer unbedingten Vorlageverpflichtung der nationalen letztinstanzlichen Ge 177

Tizzano, Schlussanträge v. 21.2.2002  – Rs. C-99/00, Slg. 2002, I-4839, Rn.  64  – ­Lyckeskog. 178 Tizzano, Schlussanträge v. 21.2.2002  – Rs. C-99/00, Slg. 2002, I-4839, Rn.  65  – ­Lyckeskog. – Der EuGH selbst brauchte zu dieser Frage nicht mehr Stellung zu nehmen, weil er entschied, dass das vorlegende schwedische Gericht gar kein letztinstanzliches Gericht war, insofern also schon prinzipiell keiner Vorlagepflicht unterlag. 179 Tizzano, Schlussanträge v. 21.2.2002  – Rs. C-99/00, Slg. 2002, I-4839, Rn.  71  – ­Lyckeskog. 180 Tizzano, Schlussanträge v. 21.2.2002  – Rs. C-99/00, Slg. 2002, I-4839, Rn.  75  – ­Lyckeskog. 181 Stix-Hackl, Schlussanträge v. 12.4.2005  – Rs. C-495/03, Slg. I-8151, Rn.  101  – Inter­ modal Transports. 182 Stix-Hackl, Schlussanträge v. 12.4.2005  – Rs. C-495/03, Slg. I-8151, Rn.  99 f.  – Inter­ modal Transports.

C. Lösungen zur Beschränkung von Vorabentscheidungsersuchen

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richte zurückzukehren. Schließlich ergebe sich aus Art. 104 Abs. 3 VerfOEuGH die Möglichkeit, Ersuchen, die eigentlich unter die CILFIT-Rechtsprechung fielen, im vereinfachten Verfahren zu bescheiden183. Sie gesteht jedoch selbst zu, dass auch die vereinfachte Behandlung von Vorabentscheidungsersuchen Zeit kostet, obwohl der Gerichtshof der wachsenden Europäischen Union zunehmend überlastet ist; dementsprechend müsse doch darüber nachgedacht werden, wie die Arbeitsteilung zwischen den mitgliedstaatlichen Gerichten und dem EuGH neu austariert werden könne184. Dass eine Anpassung der Acte-clair-Doktrin an die geänderten Verhältnisse notwendig sei, befand hingegen Generalanwalt Colomer in seinen Schlussanträgen zum Verfahren Gaston Schul im Jahr 2005. Seine inhaltlichen Argumente lassen sich gut hören185: Die historische Situation im Jahr 1982, welche die Aufstellung der Acte-clair-Doktrin rechtfertigte, habe sich insbesondere wegen der gestiegenen Bedeutung und Bekanntheit des Europarechts grundlegend gewandelt186; auch könne sich der EuGH die strengen CILFIT-Kriterien aufgrund seiner Überlastung nicht mehr leisten, so dass es vielmehr zu einer „Neuordnung des Dialogs“ zwischen dem EuGH und den mitgliedstaatlichen Gerichten kommen müsse187. Interessant sei zudem, dass der Gerichtshof selbst in den Fällen, in denen er die Acte-clair-Doktrin erwähne, nur feststelle, dass die richtige Anwendung des ­Unionsrechts so offenkundig sein müsse, dass keinerlei Raum für einen vernünftigen Zweifel bestehe, ohne auch die Voraussetzung zu nennen, dass das mitgliedstaatliche Gericht zu der Überzeugung gelangen müsse, dass die Gerichte der anderen EU-Staaten und der EuGH zur selben Auslegung der streitigen Rechtsnorm gelangen würden188. Letzteres Erfordernis fehle auch in den vom Gerichtshof herausgegebenen – zwar nicht verbindlichen, aber immerhin praktisch relevanten – „Hinweisen zur Vorlage von Vorabentscheidungsersuchen durch die nationalen Gerichte“189. Nach Meinung des Generalanwalts Colomer sollte der EuGH des 183 Stix-Hackl, Schlussanträge v. 12.4.2005  – Rs. C-495/03, Slg. I-8151, Rn.  106  – Inter­ modal Transports. 184 Stix-Hackl, Schlussanträge v. 12.4.2005  – Rs. C-495/03, Slg. I-8151, Rn.  107  – Inter­ modal Transports. 185 Denn sie entsprechen größtenteils den bereits in diesem Dritten Teil, C. III. unter 3. genannten Gründen. 186 Colomer, Schlussanträge v. 30.6.2005  – Rs. C-461/03, Slg. 2005, I-10513, Rn.  42, 52, 58 – Gaston Schul. 187 Colomer, Schlussanträge v. 30.6.2005  – Rs. C-461/03, Slg. 2005, I-10513, Rn.  59  – ­Gaston Schul. 188 Colomer, Schlussanträge v. 30.6.2005  – Rs. C-461/03, Slg. 2005, I-10513, Rn.  53  – ­Gaston Schul. 189 Colomer, Schlussanträge v. 30.6.2005  – Rs. C-461/03, Slg. 2005, I-10513, Rn.  54 f.  – Gaston Schul. – Tatsächlich bestimmt Nr. 12 der Hinweise (ABl.EU 2009 Nr. C 297, S. 2; wie auch schon nach der alten Fassung in ABl.EU 2005 Nr. C 143, S. 2) lediglich: „Ein Gericht, dessen Entscheidungen nicht mehr mit nationalen Rechtsmitteln angefochten werden können, ist […] grundsätzlich verpflichtet, dem Gerichtshof eine solche Frage vorzulegen, es sei denn, […] die richtige Auslegung der fraglichen Rechtsnorm ist offenkundig.“

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3. Teil: Lösungsmöglichkeiten

halb nur noch Auslegungsfragen entscheiden, die von „allgemeiner Bedeutung“ seien190. Im konkreten Fall war es für den Gerichtshof allerdings ein Leichtes, die Argumentation des Generalanwalts zu verwerfen, weil es sich in der Rechts­sache Gaston Schul nicht um eine Auslegungsfrage handelte – wie für die Anwendung der Acte-clair-Doktrin vorausgesetzt –, sondern um eine Gültigkeitsfrage. Schon eine Ausdehnung der Acte-clair-Doktrin  – geschweige denn eine noch liberalere Auslegung derselben – auch auf Gültigkeitsfragen würde aber das aus guten Gründen bestehende Verwerfungsmonopol des EuGH nach der Foto-Frost-Recht­ sprechung191 beseitigen. Insofern ist es nachvollziehbar, warum der Gerichtshof in der Gaston Schul-Entscheidung nicht von den CILFIT-Kriterien abrückt192. Zusammenfassend ist festzustellen, dass alle vier Generalanwälte, die sich eingehender zur Acte-clair-Doktrin geäußert haben, den letztinstanzlichen mitgliedstaatlichen Gerichten einen Entscheidungsspielraum bei der Frage zugestehen wollen, ob sie eine europarechtliche Auslegungsfrage dem EuGH vorlegen oder nicht, so bereits nach dem CILFIT-Urteil Generalanwalt Tizzano und General­ anwältin Stix-Hackl, zumindest in evolutiver Auslegung nach den Generalanwälten Jacobs und Colomer. Wenngleich der EuGH diesen Ansichten nicht weiter nachgegangen ist, spricht doch die Tatsache, dass sogar die Generalanwälte als äußerst er­fahrene Europarechtler der CILFIT-Rechtsprechung kritisch gegenüberstehen, sehr für eine Anpassung der Acte-clair-Doktrin an die geänderten Umstände beim Gerichtshof und in der Europäischen Union193. b) Bericht der Reflexionsgruppe über die Zukunft des Gerichtssystems Auch im Rahmen der von der Kommission eingesetzten „Reflexionsgruppe über die Zukunft des Gerichtssystems der Europäischen Gemeinschaften“ wurde eine Arbeitsentlastung des EuGH mittels Anpassung der Acte-clair-Kriterien angedacht. Die Reflexionsgruppe ist der Ansicht, dass die letztinstanzlichen mitgliedstaatlichen Gerichte nur dann zur Vorlage an den Gerichtshof verpflichtet sein sollten, wenn die zu klärenden europarechtlichen „Fragen ‚eine hinreichende Bedeutung für das [Unions]recht‘ aufweisen und ihre Beantwortung nach Prüfung durch die Gerichte Raum für einen ‚vernünftigen Zweifel‘ lässt“194. Eine Be­ fassung des EuGH mit Vorabentscheidungsersuchen sei nämlich einerseits nicht 190 Colomer, Schlussanträge v. 30.6.2005  – Rs. C-461/03, Slg. 2005, I-10513, Rn.  59  – ­Gaston Schul. 191 EuGH, Urt. v. 22.10.1987 – Rs. 314/85, Slg. 1987, 4199 – Foto-Frost. 192 Haltern, Europarecht, Rn. 453, 455 f. 193 So auch Broberg, CMLRev. 2008, 1383, 1389. Außerdem sieht Fredriksen, Berliner Online-Beiträge zum Europarecht, Nr.  26, S.  49, 61 ff. zumindest Ansatzpunkte für eine „in­ formale und indirekte Lockerung der Vorlagepflicht durch eine zunehmende richterliche Selbstbeschränkung seitens des EuGH“. 194 Due-Report über die Zukunft des Gerichtssystems der Europäischen Gemeinschaften, S. 15 f.

C. Lösungen zur Beschränkung von Vorabentscheidungsersuchen

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erforderlich, wenn die betreffende Frage keine wirkliche Bedeutung für das EURecht habe; dies entspreche auch dem allgemeinen Rechtsgrundsatz „minima non curat praetor“195. Andererseits bestehe kein „vernünftiger (Auslegungs-)Zweifel“, wenn sich die Antwort auf die gestellte Frage bereits aus dem europäischen Recht ergebe196. Einer Gefahr für die einheitliche Anwendung des Europarechts könne wegen der bestehenden Korrekturmöglichkeiten – in Form einer Vorlage durch andere Gerichte oder eines Vertragsverletzungsverfahrens durch die Kommission – wirksam entgegen gewirkt werden197. c) Vorschläge im Schrifttum und ihre Gemeinsamkeit Darüber, wie eine Erweiterung der Ausnahmen von Art. 267 Abs. 3 AEUV außer der Acte-clair-Doktrin aussehen könnte, gibt es verschiedene Vorschläge aus der Literatur198. Ihnen allen ist gemein, dass sie eine Vorlagepflicht an den EuGH nur 195

Due-Report über die Zukunft des Gerichtssystems der Europäischen Gemeinschaften, S. 15. Due-Report über die Zukunft des Gerichtssystems der Europäischen Gemeinschaften, S. 15. 197 Due-Report über die Zukunft des Gerichtssystems der Europäischen Gemeinschaften, S. 16. 198 Siehe etwa – ohne Anspruch auf Vollständigkeit: – Broberg, CMLRev. 2008, 1383 ff.: Vorlagepflicht nur bei wirklichem Bedürfnis nach einheitlicher Auslegung und über den Einzelfall hinausgehender Bedeutung; – Canaris, EuZW 1994, 417: Vorlage nur bei Divergenzen zwischen den mitgliedstaatlichen Gerichtsentscheidungen und abhängig von der Gefährdung der europäischen Rechtseinheit; – Fredriksen, Berliner Online-Beiträge zum Europarecht, Nr.  26, S.  48: Vorlage geboten, wenn die Einheit oder Kohärenz des Unionsrechts gefährdet, eine Fortbildung des Gemeinschaftsrechts zu erwarten oder ein Rechtsschutzdefizit zu beseitigen ist; – Groh, EuZW 2002, 460, 464 in Zusammenspiel mit Groh, Auslegungsbefugnis des EuGH, S. 40 ff.: Vorlagepflicht nur bei gemeinschaftsrechtlichem Auslegungsbedürfnis; – Haase, Faires Gerichtsverfahren, S. 428 ff.: Vorlagepflicht nur bei begründeten Zweifeln bezüglich einer bedeutenden Europarechtsnorm; – Hakenberg, ZEuP 2000, 860, 862 f.: Auslegungsfrage ist evident eindeutig zu beantworten, für die Fortbildung des Unionsrechts nachrangig oder betrifft spezifische Details; – Haltern, Europarecht, Rn. 451: Vorlage nur bei Vorliegen eines „vernünftigen“ Zweifels; – Heger, Europäisierung des Umweltstrafrechts, S. 46 f. fordert eine Ausweitung der Ausnahmen von der Vorlagepflicht auf Fälle, in denen das letztinstanzliche nationale Gericht keine vernünftigen Zweifel an der richtigen Auslegung hat; – Heß, RabelsZ 2002, 470, 494 ff.; ders., ZZP 1995, 59, 84 ff.: Vorlagepflicht nur bei grundsätzlicher Bedeutung; – Hirsch, RabelsZ 2002, 615, 618: Vorlage nur bei gewichtiger Frage oder wenn die Rechtseinheit gefährdet ist; – Hummert, Acte-clair-Doktrin, S.  129 ff.: Vorlagepflicht nur bei gemeinschaftsrechtlicher Klärungsbedürftigkeit; – Lipp, NJW 2001, 2657, 2662: Beschränkung des Vorlagerechts auf letztinstanzliche Gerichte, die nur bei grundlegenden Fragen vorlegen dürfen bzw. vorlegen müssen, wenn sie von der Entscheidung eines obersten Gerichts eines anderen Mitgliedstaates abweichen möchten; – Malferrari, Zurückweisung von Vorabentscheidungsersuchen, S. 266: Vorlagepflicht nur bei Beeinträchtigung der Einheitlichkeit und Kohärenz des Europarechts (allerdings unter der Geltung eines vollkommen neuen Systems des Vorabentscheidungsverfahrens); 196

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3. Teil: Lösungsmöglichkeiten

dann befürworten, wenn sich dem mitgliedstaatlichen Gericht eine europarecht­ liche Auslegungsfrage von hinlänglichem Gewicht stellt, die hier im Folgenden als „unionsrechtliche Klärungsbedürftigkeit“199 bezeichnet werden soll. Dieser prinzipielle Ansatz stimmt mit den Ansichten der Generalanwälte Jacobs und Colomer überein und überzeugt bereits allgemein aus den genannten Gründen200. Dies gilt jedoch auch im Besonderen für das in dieser Arbeit untersuchte Spannungsfeld zwischen der Dauer von Vorabentscheidungsverfahren und dem Beschleunigungsgebot: Beide grundlegenden Prozessrechtsprinzipien  – Rechtsschutzgarantie und angemessene Verfahrensdauer  – können derzeit beim Europäischen Gerichtshof nicht immer gleichzeitig erfüllt werden, so dass eine Kompromisslösung gefunden werden muss, die möglichst zu einem ausgewogenen Verhältnis zwischen beiden Grundsätzen führt. Die theoretisch unbedingte Vorlagepflicht letztinstanzlicher mitgliedstaatlicher Gerichte  – d. h. zu einem Zeitpunkt, in dem das Verfahren schon mehrere Instanzen durchlaufen und dementsprechend bereits erhebliche Zeit gedauert hat  – kann vor dem Hintergrund des Beschleunigungsgebots nicht in jedem Fall gerechtfertigt werden. Angesichts der hohen Arbeitsbelastung des Gerichtshofs der Europäischen Union, die absehbar noch weiter steigen wird, sollte sich der EuGH deshalb in Zukunft auf das – im wahrsten Sinne des Wortes  – Urteilsvermögen der nationalen Gerichte verlassen, wenn sich eine Auslegungsfrage von nur untergeordneter Bedeutung für das Europarecht stellt. d) Kriterien zur Ermittlung der unionsrechtlichen Klärungsbedürftigkeit Um den allgemeinen Begriff der eine Vorlagepflicht auslösenden „unionsrechtlichen Klärungsbedürftigkeit“ für die Praxis handhabbar zu machen, sollen im Folgenden Vorschläge unterbreitet werden, an denen sich die nationalen Richter orientieren könnten. Diese Leitlinien sind nicht im Sinne eines verbindlich abzuarbeitenden Katalogs zu verstehen, weil sie sich ansonsten nicht von den heute als unpraktisch erkannten CILFIT-Kriterien des EuGH unterscheiden würden, sondern sollen vielmehr Anhaltspunkte für die von den Gerichten zu ermittelnde Antwort auf die Frage des (Nicht-)Bestehens der unionsrechtlichen Klärungs­ – Meij, CMLRev. 2000, 1039, 1044 f.: Vorlage nur bei Gefahr für Einheit und Kohärenz des Unionsrechts; – Rennert, EuGRZ 2008, 385, 387 f.: Vorlagepflicht nur bei Klärungsbedarf von hinläng­ lichem Gewicht. Diese Vorschläge beziehen sich allesamt nur auf Auslegungsfragen, eine Relativierung der Vorlagepflicht bei Gültigkeitsfragen (außer hinsichtlich der Aussetzung des Ausgangsverfahrens bis zur Entscheidung des EuGH in Situation des einstweiligen Rechtsschutzes, dazu unten unter D. I. 2. a) in diesem Dritten Teil) wird – soweit ersichtlich – nicht gefordert. 199 Begriff angelehnt an Hummert, Acte-clair-Doktrin, S. 129 ff. 200 Siehe oben in diesem Dritten Teil, C. III. unter 3. 

C. Lösungen zur Beschränkung von Vorabentscheidungsersuchen

247

bedürftigkeit bieten201. Die Kriterien orientieren sich dabei an den Funktionen des Vorabentscheidungsverfahrens, d. h. insbesondere an der Frage, wann eine Vorlage zur Sicherung der einheitlichen Auslegung des Europarechts bzw. zur Möglichkeit der Rechtsfortbildung durch den EuGH wirklich erforderlich ist202. • Grundvoraussetzung ist stets, dass die Auslegung der betreffenden europäischen Norm unklar ist, d. h. insbesondere noch keine gesicherte Rechtsprechung des EuGH vorliegt. Eine Norm kann trotz verschiedener Auslegungsvarianten klar sein, wenn die richtige Auslegung nach grammatischer203, systematischer und teleologischer Betrachtung offensichtlich ist. Vorgelegt werden muss aber, wenn das mitgliedstaatliche Gericht von einer bestehenden EuGH-Recht­sprechung abweichen möchte204 bzw. die naheliegende Möglichkeit besteht, dass der EuGH seine Rechtsprechung fortentwickeln wird205. • Neben der Unklarheit der Norm muss ein Bedürfnis dafür bestehen, die Bedeutung der Rechtsnorm vom EuGH feststellen zu lassen. Ein solches Bedürf 201

Dass die Begrenzung auf „grundsätzliche Fragen“ eine gewisse Unschärfe aufweist (so die Kritik z. B. bei Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 286 ff.), ist zuzugeben; allerdings hat das Vorabentscheidungsverfahren eine revisionsähnliche Funktion, und im Revisionsrecht wird eine Rechtssache auch nur dann zur Entscheidung angenommen, wenn ihr eine grundsätzliche Bedeutung zukommt (vgl. § 543 Abs. 2 ZPO, § 132 Abs. 2 VwGO); vgl. dazu bereits Heß, ZZP 1995, 59, 84 ff. 202 Eine Orientierung an der subjektiven Funktion des Vorabentscheidungsverfahrens – dem Individualschutz  – ist dagegen nicht unbedingt zielführend, weil sie streng genommen dazu führt, dass jede europarechtliche Auslegungsfrage vorgelegt werden muss. Aus in diesem Dritten Teil, C. III. unter 2. genannten Gründen – insbesondere der Überlastung des EuGH – muss jedoch eine Einschränkung der den EuGH erreichenden Vorlagen angestrebt werden. Eine Konzentration auf die objektiven Ziele des Vorabentscheidungsverfahrens ist auch vor dem Hintergrund gerechtfertigt, dass sich die individualschützende Funktion nur mittelbar ergibt. Deshalb hat der Bürger in einem Gerichtsprozess keinen Anspruch auf Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens. Hinzu kommt, dass schon die nationalen Gerichte in ihrer Funktion als funktionelle europäische Gerichte dem Einzelnen effektiven Rechtsschutz gewährleisten; den Be­teiligten wird durch die Übertragung von Auslegungskompetenzen auf letztinstanzliche Gerichte keine Rechtsschutzebene genommen. Als „Hauptziel“ des Vorabentscheidungsverfahrens bezeichnet deshalb auch Skouris, EuGRZ 2008, 343, 348 die „Wahrung der Einheitlichkeit bei der Auslegung und Anwendung des Unionsrechts“. – Ausführlich zu den Funktionen des Vorabentscheidungsverfahrens im Ersten Teil, E. I. 2. 203 Zwar kann von den nationalen Gerichten kein Vergleich der betroffenen Rechtsnorm in allen Amtssprachen der EU verlangt werden; allerdings müssen sich die Richter die Möglichkeit voneinander abweichender Formulierungen bewusst machen und etwa zumindest eine weitere Fassung in ihre Betrachtung mit einbeziehen. 204 So schon nach der bisherigen Rechtsprechung, vgl. EuGH, Urt. v. 27.3.1963 – Rs. 28– 30/62, Slg. 1963, 63, 81 – Da Costa; Urt. v. 6.10.1982 – Rs. 283/81, Slg. 1982, 3415, Rn. 14 – CILFIT. 205 Groh, Auslegungsbefugnis, S.  110 f.; Fredriksen, Berliner Online-Beiträge zum Europarecht, Nr. 26, S. 48. So auch schon die st. Rspr. des BVerfG im Rahmen der Prüfung einer willkürlichen Vorlagepflichtverletzung, vgl. BVerfGE 82, 159, 195 f.; NVwZ 1993, 883, 884; EuZW 1998, 728, 729; NJW 2001, 1267, 1268; NJW 2002, 1486, 1487; NVwZ 2005, 572, 574.

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3. Teil: Lösungsmöglichkeiten

nis besteht vor allem bei Fragen, die über den Einzelfall hinaus von allgemeiner Bedeutung sind, und bei denen deshalb die Gefahr einer unterschiedlichen Auslegung in den Mitgliedstaaten besteht206. Denn – so hat es der Europäische Gerichtshof wiederholt ausgedrückt – das Bestehen der Vorlagepflicht soll verhindern, „dass sich in einem Mitgliedstaat eine nationale Rechtsprechung herausbildet, die mit den Normen des [Unions]rechts nicht im Einklang steht“207. Die Gefahr einer europarechtswidrigen „nationalen Rechtsprechung“ besteht jedoch nur bei Auslegungsfragen, die eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung aufweisen. Im Umkehrschluss und bezogen auf die gesamte Euro­ päische Union bedeutet das, dass nicht jede (potenziell) uneinheitliche Auslegung verhindert werden muss, sondern nur mehr als geringfügige Beeinträchtigungen der Einheitlichkeit208. Existiert etwa bereits eine EuGH-Rechtsprechung zu ähnlichen Themen, aus denen Wertungen und Anhaltspunkte für den zu entscheidenden Fall extrahiert werden können, so kann eine Vorlage entbehrlich sein209. • Hinzukommen muss außerdem, dass sich die Vorlagefrage auf eine bedeutende Vorschrift bezieht. Als Indizien für eine solche grundsätzliche Bedeutung können der Rang der auszulegenden Vorschrift  – Auslegung von primärem oder sekundärem Europarecht  –, ihre Relevanz für das Funktionieren des Binnenmarktes sowie die Berührung von europäischen Grundrechten herangezogen werden210. Daraus ergibt sich beispielsweise, dass Fragen zu längst ausgelaufenem Recht, welches im gegenwärtig geltenden Europarecht keine Entsprechung mehr findet, nicht vorgelegt werden müssen211. • Vorgelegt werden sollte zudem immer dann, wenn besondere, aus den spezi­ fischen Eigenschaften des Europarechts resultierende Schwierigkeiten bei der Auslegung von Normen auftreten, welche die nationalen Gerichte nicht eigenständig lösen können. Dies betrifft z. B. Divergenzen zwischen den gleich 206 Broberg, CMLRev. 2008, 1383, 1389 f.; Jacobs, Schlussanträge v. 10.7.1997 – Rs. C-338/95, Slg. 1997, I-6495, Rn. 20, 64 – Wiener; Hummert, Acte-clair-Doktrin, S. 131; Groh, EuZW 2002, 460, 463; Hirsch, RabelsZ 2002, 615, 618; Malferrari, Zurückweisung von Vorabentscheidungsersuchen, S. 266. 207 St. Rspr., vgl. u. a. EuGH, Urt. v. 24.5.1977 – Rs. 107/76, Slg. 1977, 957, Rn. 5 – Hoffmann-La Roche; Urt. v. 4.11.1997 – Rs. C-337/95, Slg. 1997, I-6013, Rn. 25 – Parfums Christian Dior; Urt. v. 4.6.2002 – Rs. C-99/00, Slg. 2002, I-4839, Rn. 14 – Lyckeskog. 208 Groh, EuZW 2002, 460, 462 f. 209 So auch Groh, Auslegungsbefugnis, S. 73 ff.; ders., EuZW 2002, 460, 463 (unter Hinweis auf die kritikwürdige, weil immer neue Vorlagefragen hervorrufende, zunehmend detaillierte Rechtsprechung des EuGH); Hummert, Acte-clair-Doktrin, S. 133. 210 Vgl. teilweise zu diesen Kriterien auch Hummert, Acte-clair-Doktrin, S.  131 ff.; Heß, ­RabelsZ 2002, 470, 495 (der die wiederholte Benutzung eines bestimmten Begriffs in Sekundärrechtsakten als weiteren Anhalts­punkt nennt); Groh, Auslegungsbefugnis, S.  93 ff., 118; ders., EuZW 2002, 460, 464 (Urteil des EuGH nötig, wenn die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits zu einer schweren und irreparablen Verletzung eines hochwertigen Rechtsguts führen kann). 211 Rennert, EuGRZ 2008, 385, 388.

C. Lösungen zur Beschränkung von Vorabentscheidungsersuchen

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verbindlichen Sprachfassungen, komplexe Regelungsbereiche, die keine Entsprechung im nationalen Recht finden, die (Weiter-)Entwicklung allgemeiner Rechtsgrundsätze oder Fragen von Gerichten neuer Mitgliedstaaten während einer Übergangszeit212. Dabei darf jedoch nicht vergessen werden, dass die mitgliedstaatlichen Gerichte funktionell auch als europäische Gerichte fungieren und damit prinzipiell zur Beantwortung europarechtlicher Auslegungsfragen berufen sind. Zusammenfassend sollte also nur dann ein Vorabentscheidungsersuchen zum EuGH eingeleitet werden müssen, wenn sich eine unionsrechtliche Auslegungsfrage stellt, welche die Einheit des gemeinsamen Rechts erheblich berührt und eine bedeutende Vorschrift betrifft, oder wenn deren Auslegung erhebliche europarechtsspezifische Schwierigkeiten mit sich bringt. Eine Vorlage ist zudem weiterhin dann geboten, wenn sich eine Gültigkeitsfrage stellt. e) Praktische Umsetzung der erweiterten Ausnahmen von der Vorlagepflicht Der Vorschlag, die Vorlagepflicht letztinstanzlicher Gerichte nur dann eingreifen zu lassen, wenn die aufgeworfene Frage unionsrechtlich klärungsbedürftig ist, lässt sich bereits de lege lata umsetzen213: Zwar wurde der Begriff der „Frage“ in Art. 267 Abs. 3 AEUV bisher – und so auch für die Entwicklung der ursprünglichen Acte-clair-Doktrin  – im Sinne eines Zweifels über den Sinn und die Tragweite einer europarechtlichen Vorschrift ausgelegt214. Jedoch ist auch eine zielorientierte Deutung des Begriffs dahingehend möglich, dass eine vorlegungswürdige „Frage“ nur dann vorliegt, wenn sie unionsrechtlich klärungsbedürftig ist: Schließlich praktiziert gerade der Europäische Gerichtshof im Bereich insbesondere des primären Unionsrechts eine Auslegung, die von systematischen und vor allem teleologischen Erwägungen geprägt ist, um dem dynamischen Charakter der Europäischen Union als einem sich entwickelnden Integrationsprozess gerecht zu werden215. 212

Groh, EuZW 2002, 460, 463 f. Dezidiert dazu Hummert, Acte-clair-Doktrin, S. 101 ff. 214 EuGH, Urt. v. 6.10.1982 – Rs. 283/81, Slg. 1982, 3415, Rn. 16 – CILFIT; Dauses, Vorabentscheidungsverfahren, S.  113; Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Handbuch Rechtsschutz, § 10 Rn. 60; vgl. zu einer anderen möglichen Wortlautauslegung jedoch Groh, Auslegungsbefugnis, S. 193 ff. 215 Dauses, Vorabentscheidungsverfahren, S.  77 ff.; Pernice/Mayer, in: Grabitz/Hilf, REU, Art.  220 EGV Rn.  42; Gaitanides, in: v. d. Groeben/Schwarze, EU-/EGV, Art.  220 EGV Rn.  52 ff.; Wegener, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art.  220 EGV Rn.  12 ff.; Middeke, in: Rengeling/­Middeke/Gellermann, Handbuch Rechtsschutz, § 4 Rn. 5; Jacobs, Schlussanträge v. 10.7.1997 – Rs. C-338/95, Slg. 1997, I-6495, Rn. 65 – Wiener; Heß, ZZP 1995, 59, 87. – Im CILFIT-Urteil (EuGH, Urt. v. 6.10.1982 – Rs. 283/81, Slg. 1982, 3415, Rn. 7) hat der EuGH selbst betont, dass die Reichweite der Vorlageverpflichtung anhand der Ziele des damaligen Art.  177 EWG (heute Art.  267 AEUV), insbesondere der Wahrung der Einheit des gemein­ samen Rechts, zu beurteilen sei. 213

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3. Teil: Lösungsmöglichkeiten

Sowohl neuere216 systematische – der Subsidiaritätsgedanke des Art. 5 Abs. 1 S. 2, Abs. 3 EUV n. F. – als auch teleologische Überlegungen – u. a. der Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes, die Überlastung des EuGH, die Funktion der mitgliedstaatlichen Gerichte als Unionsgerichte217 – sprechen aber dafür, den Europäischen Gerichtshof nur mit den wirklich wichtigen Fragen zum Europarecht zu befassen und die Vorlagepflicht bloß dann eingreifen zu lassen, wenn es die Bedeutung der Frage für die Ziele des Vorabentscheidungsverfahrens rechtfertigt. Die hier aufgezeigte, den praktischen Verhältnissen angepasste Erweiterung der Acte-clair-Doktrin kann aufgrund ihrer Beschränkung auf eine Interpretation von Art. 267 Abs. 3 AEUV folglich ohne vorherige Vertragsänderung in die Praxis umgesetzt werden218.

D. Eigener Lösungsvorschlag für Strafgerichte Bevor im Folgenden ein umfassender Lösungsvorschlag für das Spannungsfeld zwischen der Dauer eines Vorabentscheidungsverfahrens vor dem Euro­päischen Gerichtshof und dem menschenrechtlichen, europarechtlichen und verfassungsrechtlichen Beschleunigungsgebot dargestellt wird, soll noch einmal kurz das Ergebnis der bisher untersuchten Lösungsansätze zusammengefasst werden, die allgemein zu einer Beschleunigung des europäischen Rechtsschutzes angedacht wurden: Der EuGH hat bereits einige Schritte unternommen, um eine Senkung der durchschnittlichen Verfahrensdauer in Vorabentscheidungsverfahren durch eine effizientere Organisation der Verfahrensabläufe zu erreichen. Zu weiteren Erfolgen könnten die Ausweitung des sachlichen Anwendungsbereichs des Eilvorlagever 216 Denn der Subsidiaritätsgedanke war im Jahr 1982 beim Erlass des CILFIT-Urteils noch nicht wie heute (und seit dem Vertrag von Maastricht in ex-Art. 5 EGV) kodifiziert; angesichts der stetig fortschreitenden Entwicklung der Europäischen Union ist jedoch anerkannt, auch neuere Änderungen bei der Auslegung des Primärrechts zu berücksichtigen. 217 Ausführlich dazu bereits in diesem Dritten Teil, C. III. unter 3.  218 Zuzugeben ist jedoch  – wenn man von der theoretisch bestehenden Möglichkeit einer entsprechenden Vertragsänderung durch die Mitgliedstaaten einmal absieht  –, dass eine solche Änderung der Auslegung von Art.  267 Abs.  3 AEUV in verbindlicher Weise nur durch den Euro­päischen Gerichtshof möglich ist, der allein zur autoritativen Auslegung des Unionsrechts befugt ist. Im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens durch ein letztinstanzliches Gericht müsste deshalb die Frage zur angemessenen Aufgabenverteilung zwischen dem EuGH und den nationalen Gerichten gestellt werden. Wenngleich diese Frage für den Ausgangsrechtsstreit nicht entscheidungserheblich wäre, beantwortet der EuGH regelmäßig auch Fragen zur Auslegung von Art. 267 AEUV, um die praktische Handhabung des Vorabentscheidungsverfahrens regeln zu können; vgl. etwa EuGH, Urt. v. 6.10.1982 – Rs. 283/81, Slg. 1982, 3415 – CILFIT; Urt. v. 4.11.1997 – Rs. C-337/95, Slg. 1997, I-6013 – Parfums Christian Dior; Urt. v. 4.6.2002 – Rs. C-99/00, Slg. 2002, I-4839  – Lyckeskog. – Auch ohne eine entsprechende Vorabentscheidung des EuGH kann das hier dargelegte Kriterium der unionsrechtlichen Klärungsbedürftigkeit jedoch für nicht-letztinstanzliche Gerichte von Nutzen sein, die bei Vor­ liegen einer europarechtlichen Auslegungsfrage zu entscheiden haben, ob sie von ihrem Vorlageermessen Gebrauch machen oder nicht. Siehe dazu ausführlich sogleich in diesem Dritten Teil unter D. I. 1.

D. Eigener Lösungsvorschlag für Strafgerichte

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fahrens auf alle Strafverfahren bzw. die Einführung eines Green-Light-Verfahrens führen; allerdings ist eine Realisierung dieser Vorschläge nicht absehbar. Eine erweitert formulierte Acte-clair-Doktrin, welche zusätzliche Ausnahmen von der Vorlagepflicht aus Art.  267 Abs.  3 AEUV vorsieht, sofern die Auslegungsfrage keine unionsrechtliche Klärungsbedürftigkeit aufweist, mildert das Spannungsverhältnis zwischen der Dauer von Vorabentscheidungsverfahren und dem Beschleunigungsgebot in Strafsachen nur für letztinstanzliche mitgliedstaatliche Gerichte in Auslegungsfragen. Deshalb ist nunmehr ein Konzept zu entwickeln, welches einerseits zwischen nicht-letztinstanzlichen und letztinstanzlichen Gerichten und andererseits zwischen Fragen mit Vorlagebefugnis und Fragen mit Vorlagepflicht unterscheidet und für einen angemessenen Ausgleich der widerstreitenden Aspekte des effek­ tiven Rechtsschutzes sorgt. I. Empfehlung für nicht-letztinstanzliche Gerichte

Für nicht-letztinstanzlich entscheidende Gerichte, die im Regelfall zwar zur Vorlage einer strittigen unionsrechtlichen Frage befugt (Art. 267 Abs. 2 AEUV), jedoch nur bei Gültigkeitsfragen auch zur Einleitung eines Vorabentscheidungsersuchens verpflichtet sind, sollte im Fall einer möglichen Verletzung des Beschleunigungsgebots Folgendes gelten: 1. Bei Vorlagebefugnis: Ermunterung zur eigenständigen Entscheidung a) Grundsatz: Vorlage nur bei unionsrechtlicher Klärungsbedürftigkeit Prinzipiell sollten die nationalen nicht-letztinstanzlichen Gerichte weiter dazu ermuntert werden, eine unionsrechtliche Auslegungsfrage, die sich ihnen in Ausübung ihrer richterlichen Tätigkeit stellt, selbstständig zu entscheiden. Diese Möglichkeit ist schließlich durch die bloße Vorlagebefugnis in Art. 267 Abs. 2 AEUV vom Primärrecht grundsätzlich auch so vorgesehen219; das Unionsrecht traut den nationalen Richtern durchaus zu, selbst schwierige Auslegungsfragen zum euro­ päischen Recht in eigener Verantwortung zu lösen, und räumt ihnen darum diese Befugnis explizit ein220. Dieses Vertrauen in die mitgliedstaatlichen Richter ist 219 Für ein stärkeres Selbstbewusstsein der nationalen Gerichte auch der Due-Report über die Zukunft des Gerichtssystems der Europäischen Gemeinschaften, S. 14 f. 220 Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Handbuch Rechtsschutz, § 10 Rn. 53; Dauses, Vorabentscheidungsverfahren, S. 44; Lieber, Vorlagepflicht, S. 75 f.; Thiele, Europäisches Prozessrecht, § 9 Rn. 44, 52.

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3. Teil: Lösungsmöglichkeiten

auch zunehmend deshalb gerechtfertigt, weil sich die Ausbildung nicht nur der deutschen Juristen auf dem Gebiet des Europarechts in den letzten Jahren erheblich verbessert hat221. Festzustellen ist nichtsdestotrotz, dass der Gerichtshof durch das grundsätzlich freie Vorlagerecht der nationalen unterinstanzlichen Gerichte mitunter mit geradezu Belanglosigkeiten befasst wird, welche die mitgliedstaat­ lichen Gerichte durchaus in eigener Verantwortung lösen könnten222. Um die durch eine Vielzahl solcher Vorlagefragen eintretende unnötige Überlastung des EuGH zu vermeiden, hat der Europäische Gerichtshof selbst folgenden Hinweis an die nationalen Gerichte erlassen223: „[E]in Gericht, dessen Entscheidungen noch angefochten werden können, [kann] insbesondere dann, wenn es sich durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs für ausreichend unterrichtet hält, selbst über die richtige Auslegung des Unionsrechts und seine Anwendung auf den von ihm festgestellten Sachverhalt entscheiden. Ein Vorabentscheidungsersuchen kann sich jedoch im richtigen Verfahrensstadium als besonders nützlich erweisen, wenn es sich um eine neue Auslegungsfrage handelt, die von allgemeiner Bedeutung für 221

Wenngleich die Ausstattung der Gerichtsbibliotheken mit europäischer Literatur und die Fortbildung der Richter auf dem Gebiet des Europarechts durchaus noch verbessert werden können; vgl. dazu auch neuerdings Art. 82 Abs. 1 UAbs. 2 lit. c) AEUV, der Maßnahmen zur Förderung der Weiterbildung von Richtern, Staatsanwälten und Justizbediensteten autorisiert, und Thiele, Europäisches Prozessrecht, § 9 Rn. 52. 222 Ein klassisches und vielzitiertes Beispiel für eine solche Vorlagefrage bietet die Rs. C-338/95 (EuGH, Urt. v. 20.11.1997 – Slg. 1997, I-6495, Rn. 9 – Wiener), in welcher der BFH den EuGH fragte: „Ist der Begriff ‚Nachthemden‘ im Sinne […] des Gemeinsamen Zolltarifs […] dahin auszulegen, dass er ausschließlich ‚andere‘ Unterkleidung erfasst, die aufgrund ihrer Beschaffenheit eindeutig dazu bestimmt ist, nur als Nachtkleidung getragen zu werden, oder umfasst er auch Erzeugnisse, die nach ihrer Aufmachung zwar nicht nur, aber im Wesentlichen zum Tragen im Bett bestimmt sind?“ In einem dänischen Strafverfahren stellte sich z. B. folgende skurrile Vorlagefrage (vgl. EuGH, Urt. v. 3.12.1998 – Rs. C-67/97, Slg. 1998, I-8033, Rn. 9 – Bluhme): „Ist Artikel 30 [EGV] so auszulegen, dass ein Mitgliedstaat unter bestimmten Voraussetzungen Vorschriften erlassen kann, die das Halten  – und damit die Einfuhr  – aller anderen Bienen außer der Art Apis mellifera mellifera (braune Læsø-Biene)  auf eine bestimmte Insel in dem betreffenden Land verbieten, z. B. eine Insel von 114 km², die zur Hälfte aus Dörfern und kleinen Hafenorten besteht, die für den Fremdenverkehr oder landwirtschaftlich genutzt werden, während die andere Hälfte aus unbestellten Flächen besteht, d. h. aus Wäldern, Heiden, Wiesen, Marschen und eigentlichen Strand- und Dünenflächen, und die am 1. Januar 1997 eine Bevölkerung von 2365 Personen hatte, wobei es sich um eine Insel handelt, auf der die Erwerbsmöglichkeiten im allgemeinen beschränkt sind, die Bienenzucht jedoch aufgrund der besonderen Flora der Insel und des hohen Anteils unbestellter und extensiv genutzter Flächen eine der wenigen Erwerbsmöglichkeiten darstellt?“ Interessant sind auch die in französischen Strafverfahren aufgeworfenen Vorlagefragen in den verbundenen Rechtssachen C-106/94 und C-139/94 (EuGH, Urt. v. 14.12.1995 – Slg. 1995, I-4759, Rn. 9 – Colin und Dupré), wo es u. a. um die genaue zollrechtliche Einordnung von roten und grünen „Pulmoll“-Pastillen geht. 223 EuGH, Hinweise zur Vorlage von Vorabentscheidungsersuchen durch die nationalen Gerichte, ABl.EU 2009 Nr. C 297, S. 2; Hervorhebungen von Verf.

D. Eigener Lösungsvorschlag für Strafgerichte

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die einheitliche Anwendung des Unionsrechts in allen Mitgliedstaaten ist, oder wenn die vorhandene Rechtsprechung auf einen noch nicht vorgekommenen Sachverhalt nicht anwendbar erscheint.“

Damit spricht der EuGH zugleich auch den Maßstab für die Ausübung des Vorlageermessens der mitgliedstaatlichen Gerichte an. Aus Gründen der Kohärenz empfiehlt es sich für nicht-letztinstanzliche Gerichte dabei ebenso, das bereits entwickelte Kriterium der unionsrechtlichen Klärungsbedürftigkeit für die Beurteilung der Frage heranzuziehen, ob die Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens im Hinblick auf die aufgeworfene europarechtliche Frage sachgerecht ist224. Ein Vorabentscheidungsersuchen zum EuGH sollte mithin nur dann eingeleitet werden, wenn sich eine unionsrechtliche Auslegungsfrage stellt, welche die Einheit des gemeinsamen Rechts erheblich berührt und eine bedeutende Vorschrift betrifft, oder wenn deren Auslegung erhebliche europarechtsspezifische Schwierigkeiten mit sich bringt. b) Exkurs: Zeitpunkt einer Vorlage an den Europäischen Gerichtshof Muss ein nicht-letztinstanzliches Gericht in einem nicht eilbedürftigen Strafverfahren eine unionsrechtlich klärungsbedürftige Auslegungsfrage beantworten, so stellt sich die Frage, ob sich aus dem Beschleunigungsgebot auch Anforderungen bezüglich des richtigen Zeitpunkts einer Vorlage an den Europäischen Gerichtshof ergeben. Der EuGH gibt in seinen Hinweisen zum Vorabentscheidungsverfahren dazu folgenden Rat225: „Das nationale Gericht kann eine Vorabentscheidungsfrage an den Gerichtshof richten, wenn es feststellt, dass es für die Entscheidung des Rechtsstreits auf die Auslegung oder die Gültigkeit des Unionsrechts ankommt. In welchem Verfahrensstadium eine solche Frage vorzulegen ist, kann das betreffende Gericht selbst am besten beurteilen. Es ist jedoch wünschenswert, dass die Vorlage erst in einem Verfahrensstadium erfolgt, in dem das Gericht in der Lage ist, den tatsächlichen und rechtlichen Rahmen des Pro­blems zu bestimmen, damit der Gerichtshof über alle Informationen verfügt, die er benötigt, um gegebenenfalls prüfen zu können, ob das Unionsrecht auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbar ist. Es kann außerdem im Interesse einer geordneten Rechtspflege liegen, die Vorabentscheidungsfrage erst nach streitiger Verhandlung vorzulegen.“

In einem Urteil hat der EuGH sogar entschieden, dass es erforderlich ist, die rein innerstaatlichen Rechtsfragen vor Erlass eines Vorabentscheidungsersuchens zu

224

So auch Groh, Auslegungsbefugnis, S. 233; ähnlich Jacobs, Schlussanträge v. 10.7.1997 – Rs. C-338/95, Slg. 1997, I-6495, Rn. 20 – Wiener; Due-Report über die Zukunft des Gerichtssystems der Europäischen Gemeinschaften, S. 14 f. – Ausführlich zur Begründung des Konzepts der unionsrechtlichen Klärungsbedürftigkeit oben in diesem Dritten Tei unter C. III. 4.  225 ABl.EU 2009 Nr. C 297, S. 3.

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3. Teil: Lösungsmöglichkeiten

klären, um sicher zu gehen, dass die Vorlagefrage auch tatsächlich entscheidungserheblich ist226. Auf der anderen Seite hat das Bundesverfassungsgericht betont, dass ein Strafgericht in jedem Stadium des Strafverfahrens – auch schon im Zwischenverfahren – mit besonderer Sorgfalt prüfen muss, ob in einer entscheidungserheblichen Frage Zweifel bei der Auslegung des Unionsrechts bestehen und deshalb eine Vorlage an den EuGH erforderlich ist227. Eine allgemein gültige Lösung gibt es – wie so häufig – nicht. Ein unterinstanz­ liches Gericht ist bei der Ausübung seines Ermessens bezüglich der Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens grundsätzlich frei228; lediglich folgende Eckpunkte sollten berücksichtigt werden: Bildet die unionsrechtlich klärungsbedürftige Frage den einzigen Streitpunkt, so muss eine Vorlage frühzeitig eingeleitet werden, um nicht das Beschleunigungsgebot zu verletzen, weil eine ohnehin unausweichliche Vorlage erst von einem höheren oder sogar dem obersten Gericht eingeleitet wird229. Schließlich verschärft sich das Problem der Einhaltung einer angemessenen Gesamtverfahrensdauer mit jeder weiteren Instanz, so dass eine Verschleppung einer entscheidungserheblichen und unionsrechtlich klärungsbedürftigen Frage in die höhere Instanz durch eine rechtzeitige Vorlage an den Europäischen Gerichtshof vermieden werden sollte. Bereitet die Anwendung des nationalen Rechts mithin keine Probleme, so dass es nur auf die Auslegung oder Gültigkeit des Unionsrechts ankommt, spricht für eine möglichst frühzeitige Vorlage der auch vom Beschleunigungsgebot verfolgte Individualrechtsschutz, um die Belastung des Beschuldigten durch einen Strafprozess möglichst gering zu halten230. So liegt es etwa, wenn die Frage nach der Auslegung des Unionsrechts auf alle Fälle relevant ist, weil sich der Beschuldigte mit Sicherheit strafbar gemacht hat und die Beantwortung der unionsrechtlich klärungsbedürftigen Frage nur für die Strafhöhe entscheidend ist231. Gibt es jedoch neben der Auslegungsfrage zum Unionsrecht weitere Tat- oder nationale Rechtsfragen, so dass noch nicht sicher

226

EuGH, Urt. v. 16.7.1992 – Rs. C-83/91, Slg. 1992, I-4871, Rn. 25 f. – Meilicke. BVerfG NJW 1989, 2464. 228 St. Rspr. des EuGH, vgl. etwa EuGH, Urt. v. 27.6.1991 – Rs. C-348/89, Slg. 1991, I-3277, Rn. 48 f. – Mecanarte-Metalúrgica; Urt. v. 11.6.1987 – Rs. 14/86, Slg. 1987, 2545, Rn. 10 f. – Pretore di Salò; Urt. v. 10.3.1981  – Rs. 36/80 und 71/80, Slg. 1981, 735, Rn.  5–9  – Irish Creamery. 229 Rennert, EuGRZ 2008, 385, 386. 230 Deswegen prinzipiell für eine frühe Vorlage Jokisch, Gemeinschaftsrecht und Strafverfahren, S. 197; Hecker, Europäisches Strafrecht, § 6 Rn. 19. – Dannecker, in: Rengeling/Middeke/ Gellermann, Handbuch Rechtsschutz, § 38 Rn. 43 meint hingegen, dass eine Vorlage in Strafverfahren unterbleiben könne und die nationalen Fragen vorab geklärt werden müssten, wenn von der unionsrechtlichen Auslegungsfrage abhänge, ob die Strafbarkeit überhaupt bestehe. Dazu aus Individualschutzgründen zu Recht kritisch Hugger, in: Ahlbrecht u. a., Internatio­nales Strafrecht, Rn. 583 f. 231 Dannecker, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Handbuch Rechtsschutz, § 38 Rn.  43; Hugger, in: Ahlbrecht u. a., Internationales Strafrecht, Rn. 583; Vogel, in: Volk, Münchener Anwaltshandbuch, § 14 Rn. 102. 227

D. Eigener Lösungsvorschlag für Strafgerichte

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abzusehen ist, ob der unionsrechtliche Einfluss überhaupt entscheidungserheblich ist, so sollte eine Vorlage vorerst unterbleiben, um zunächst die innerstaatlichen Rechtsfragen zu klären232. c) Bei Eilbedürftigkeit: Eigenständige Entscheidung Sollten die unterinstanzlichen mitgliedstaatlichen Gerichte bereits prinzipiell ein stärkeres Selbstbewusstsein bei der Beurteilung von europarechtlichen Fragen an den Tag legen und nur bei unionsrechtlich klärungsbedürftigen Auslegungs­fragen ein Vorabentscheidungsverfahren anstrengen, so gilt das erst recht, wenn das betreffende Gericht eine eilbedürftige Entscheidung zu treffen hat: Eilbedürftige Entscheidungen – etwa weil es sich um eine Maßnahme im Ermittlungsverfahren handelt oder eben auch weil ein Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot droht – dulden keinen längeren Aufschub, mitunter nicht einmal die Verzögerung, welche die Durchführung des neuen Eilvorlageverfahrens nach Art. 104b VerfOEuGH in Anspruch nehmen würde. Obliegt also einem nicht-letztinstanzlichen Gericht in einem solchen eilbedürftigen Fall lediglich eine Vorlagebefugnis, so darf und sollte es eine eigenständige Entscheidung bezüglich der europarechtlichen Auslegungsfrage treffen, selbst wenn die Frage unionsrechtlich klärungsbedürftig ist233. Im Fall einer bloßen Vorlagebefugnis eines unterinstanzlichen nationalen Gerichts kann – wie zudem Art. 267 Abs. 2 AEUV impliziert – dem Beschleunigungsinteresse Vorrang vor dem mit einem Vorabentscheidungsverfahren bezweckten Interesse an der Einheit des Unionsrechts eingeräumt werden. Die Vorlageberechtigung wird dadurch nicht ausgeschlossen, so dass sich das mitglied­staatliche Gericht sogar in eilbedürftigen Fällen für eine Vorlage an den EuGH entscheiden kann, wenn es dies für erforderlich hält234. Sofern jedoch die Eilbedürftigkeit daher rührt, dass es sich um eine Entscheidung im Ermittlungsverfahren handelt, ist zusätzlich zu beachten, dass Ermittlungsmaßnahmen (wie die Durchsuchung, Telefonüberwachung, Beschlagnahme, Inhaftierung eines dringend Tatverdächtigen etc.) in der Regel ihre praktische Wirksamkeit verlieren, wenn über sie nicht binnen kurzer Zeit entschieden wird. Insofern kann das Ermittlungsverfahren nicht bis zur Beantwortung des eingeleiteten Vorabentscheidungsersuchens durch den Europäischen Gerichtshof ausgesetzt werden235. Vielmehr muss der Ermittlungsrichter über die beantragte Zwangsmaßnahme – wenn 232 Vogel, in: Volk, Münchener Anwaltshandbuch, § 14 Rn. 102; Rennert, EuGRZ 2008, 385, 386. 233 Ähnlich Jokisch, Gemeinschaftsrecht und Strafverfahren, S. 187 f.; Dannecker, in: Rengeling/Middeke/Gel­lermann, Handbuch Rechtsschutz, § 38 Rn. 49 f. 234 Vgl. dazu bereits oben in diesem Dritten Teil unter C. I. – Das Gericht sollte dann in jedem Fall jedoch die Anwendung des neuen Eilvorlageverfahrens bzw. – falls Art. 104b VerfOEuGH nicht einschlägig ist – des beschleunigten Verfahrens nach Art. 104a VerfOEuGH beantragen. 235 Dannecker, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Handbuch Rechtsschutz, § 38 Rn. 50.

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3. Teil: Lösungsmöglichkeiten

sie ihre spezifische Funktion erfüllen soll  – sofort unter Zugrundelegung seiner eigenen Auslegung des Unionsrechts entscheiden236. Die letztverbindliche Aus­ legung des EuGH237 kann dann zwar nicht mehr bei der Entscheidung über die konkrete Ermittlungshandlung, jedoch bei der Frage nach den Rechtsfolgen einer ge­gebenenfalls rechtswidrigen Zwangsmaßnahme berücksichtigt werden238. Wenngleich ein Strafverfahren auch dann besonders eilbedürftig ist, wenn ein Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot droht, so ist es wegen der richterlichen Unabhängigkeit bedenklich, auch in diesem Fall – wie bei Ermittlungsverfahren – die Vorlagebefugnis der nationalen Gerichte dahingehend zu beschränken, dass sie parallel zu einer Vorlage an den EuGH das Ausgangsverfahren weiterführen müssen239. Möchte ein mitgliedstaatlicher Richter ein Vorabentscheidungsverfahren trotz möglichem Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot durchführen, so gebietet der Konflikt zwischen den widerstreitenden Interessen zumindest, dass nur unionsrechtlich klärungsbedürftige Fragen vorgelegt werden, verbunden mit einem Antrag auf Anwendung des Eilvorlageverfahrens gemäß Art.  104b VerfOEuGH oder, so sich die Frage nicht auf den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts bezieht, des beschleunigten Verfahrens nach Art. 104a VerfOEuGH. In diesem Fall kann nämlich die Konsequenz einer durch das Vorabentscheidungsverfahren eingetretenen kompensierungspflichtigen Verfahrensverzögerung, die im Extremfall zur Einstellung des nationalen Strafverfahrens führt, vor dem Hintergrund der Rechtssicherheit und der Einheitlichkeit des Unionsrechts gerechtfertigt werden, zu der die endgültige Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs beiträgt. Nichtsdestotrotz sollte ein mitgliedstaatlicher Strafrichter, der eine drohende Verletzung des Beschleunigungsgebots erkennt, möglichst zu einer eigenständigen Entscheidung der strittigen Europarechtsfrage kommen, um im Fall der Verurteilung eine adäquate Bestrafung des Beschuldigten ohne eine von Art. 6 EMRK gebotene Kompensation durch Strafabschlag bzw. Vollstreckt-Erklärung zu er­ möglichen.

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Dannecker, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Handbuch Rechtsschutz, § 38 Rn. 50. Streng genommen entfällt die Zuständigkeit des EuGH für das eingereichte Vorabentscheidungsersuchen, sobald über die Ermittlungsmaßnahme entschieden ist. Dann nämlich ist das Ausgangsverfahren vor dem nationalen Richter eigentlich abgeschlossen (vgl. EuGH, Urt. v. 4.10.1991 – Rs. C-159/90, Slg. 1991, I-4685, Rn. 12 – Grogan). Eine solche Sichtweise greift jedoch zu kurz: Zwar ist der konkrete Eingriff durchgeführt und abgeschlossen, jedoch dient die Ermittlungsmaßnahme der Durchführung des Strafverfahrens insgesamt, so dass das Ausgangsverfahren erst mit dem rechtskräftigen Abschluss des Strafverfahrens als beendet anzusehen ist; vgl. Jokisch, Gemeinschaftsrecht und Strafverfahren, S. 189 f.; Dannecker, in: Rengeling/Midde­ke/Gellermann, Handbuch Rechtsschutz, § 38 Rn. 51. 238 Dannecker, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Handbuch Rechtsschutz, § 38 Rn.  52. Genauer dazu so­gleich in diesem Dritten Teil, D. I. unter 2. c). 239 Schon gegen die Beschränkung der Vorlagebefugnis von Ermittlungsrichtern kritisch Hugger, in: Ahlbrecht u. a., Internationales Strafrecht, Rn. 581; Hecker, StV 2002, 71, 73. 237

D. Eigener Lösungsvorschlag für Strafgerichte

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2. Bei Vorlagepflicht: Übertragung der beim einstweiligen Rechtsschutz anerkannten Lösung Jedoch sind auch nicht-letztinstanzliche Gerichte in manchen Fällen zu einer Vorlage an den Europäischen Gerichtshof verpflichtet, nämlich dann, wenn die Gültigkeit organgeschaffenen Unionsrechts, d. h. einer europäischen Sekundärrechtsnorm, vom nationalen Gericht verneint wird240. In diesem Fall bietet es sich an, die vom EuGH für Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes entwickelte Lösung für den Konflikt zwischen der Vorlagepflicht und der Dringlichkeit einer Entscheidung auf eilbedürftige Strafverfahren zu übertragen. a) Gültigkeitsfragen in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes Grundsätzlich besteht eine Vorlagepflicht auch dann, wenn ein mitgliedstaatliches Gericht die Vollziehung eines auf einem präsumtiv ungültigen Unionsrechtsakt beruhenden nationalen Verwaltungsakts im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes aussetzen will241. Gleiches gilt auch für den Erlass einstweiliger Anordnungen (§ 123 VwGO, § 114 FGO) oder Verfügungen bzw. Arrest (§§ 916, 935, 940 ZPO), wenn die einstweilige Maßnahme zur Nichtanwendung des Unionsrechts führt oder zur vorläufigen Regelung eines durch vermeintlich rechtswidriges Europarecht geschaffenen Rechtszustandes erforderlich ist242. Allerdings darf das mitgliedstaatliche Gericht das auf einem Unionsrechtsakt beruhende Rechtsverhältnis ausnahmsweise unter folgenden Voraussetzungen selbst vorläufig gestalten243: (1) Das Gericht muss im Ergebnis erhebliche Zweifel an der Gültigkeit des Unions­rechtsakts haben. (2) Eine unverzügliche Entscheidung muss notwendig sein, um dem Antragsteller einen schweren und nicht wiedergutzumachenden Schaden zu ersparen.

240 Zu dieser ungeschriebenen, aber aus Gründen der Einheitlichkeit des Unionsrechts und der Rechtssicherheit gebotenen Vorlagepflicht bereits im Ersten Teil, E. I. 4. – Zu einer Prüfung und positiven Feststellung der Gültigkeit eines Unionsrechtsakts sind die mitgliedstaatlichen Gerichte ohne vorherige Anrufung des EuGH berechtigt; denn in diesem Fall wird die einheitliche Geltung des Unionsrechts schließlich nicht beeinträchtigt. 241 EuGH, Urt. v. 21.2.1991 – Rs. C-143/88 und C-92/89, Slg. 1991, I-415, Rn. 33 – Süderdithmarschen; Urt. v. 9.11.1995 – Rs. C-465/93, Slg. 1995, I-3761, Rn. 36, 51 – Atlanta. 242 Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Handbuch Rechtsschutz, § 10 Rn. 54; Heß, ZZP 1995, 59, 90 ff. 243 Grundlegend EuGH, Urt. v. 21.2.1991 – Rs. C-143/88 und C-92/89, Slg. 1991, I-415 – ­Süderdithmarschen; Urt. v. 9.11.1995 – Rs. C-465/93, Slg. 1995, I-3761, Rn. 36 – Atlanta; Urt. v. 8.2.2000 – Rs. C-17/98, Slg. 2000, I-675 – Emesa Sugar; ausführlich dazu Schmitt, Richtervorlagen in Eilverfahren, S. 378 ff.; von Fragstein, Einwirkungen des EG-Rechts, S. 93 ff.

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3. Teil: Lösungsmöglichkeiten

(3) Das Gericht muss das Unionsinteresse an einer einheitlichen Anwendung des gemeinsamen Rechts hinreichend berücksichtigen. (4) Das Gericht muss zudem bei der Prüfung dieser Voraussetzungen die EuGHRechtsprechung zur Rechtmäßigkeit des jeweiligen Rechtsakts sowie einstweilige – auf Unionsebene ergangene – Anordnungen gebührend berücksichtigen. (5) Gleichzeitig mit der Entscheidung im einstweiligen Rechtsschutz muss schließlich der EuGH angerufen werden, damit dessen endgültige Entscheidung im Hauptsacheverfahren berücksichtigt werden kann. Begründet wurde diese EuGH-Rechtsprechung vor allem damit, dass es dem Rechtsschutz des Bürgers abträglich wäre, wenn die nationale Gerichtsbarkeit in jedem Fall verpflichtet wäre, vor einer Aussetzung eines Verwaltungsakts oder ähnlichem die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs abzuwarten244: Schließlich könne jeder Bürger im Rahmen einer Nichtigkeitsklage vorläufigen Rechtsschutz vom EuGH selbst entsprechend Art. 279 AEUV (ex-Art. 243 EGV) erhalten; da aber ein Vorabentscheidungsverfahren zur Beurteilung einer Gültigkeitsfrage ebenso wie die Nichtigkeitsklage eine Form zur Rechtmäßigkeitskon­trolle der Handlungen der Unionsorgane sei, müsse bei Vorabentscheidungsverfahren der vorläufige Rechtsschutz eben durch die mitgliedstaatlichen Gerichte gewährt werden. Außerdem rechtfertige die Vorläufigkeit der Maßnahmen einstweiligen Rechtsschutzes eine zunächst eigene Entscheidung der nationalen Gerichte245: Die Vorlageverpflichtung nach Art. 267 Abs. 3 AEUV solle schließlich nur greifen, wenn die Entscheidung ansonsten endgültig sei; bei Maßnahmen des vorläufigen Rechtsschutzes bestehe indes die Möglichkeit einer erneuten tatsächlichen oder auch nur rechtlichen Überprüfung der Lage im Rahmen des Haupt­sacheverfahrens. Damit hat der EuGH anerkannt, dass bei der Bestimmung der Vorlagepflichtigkeit der mitgliedstaatlichen Gerichte neben den Zielen des Vorabentscheidungsverfahrens auch nationale Verfahrenszwecke  – hier das Rechtsschutzbedürfnis des Bürgers – berücksichtigt werden können246. Da es zudem nicht zwingend zu einem Hauptsacheverfahren kommen muss und dann auch die einzuleitende Vorlage gegenstandslos wird, kann man dieser Rechtsprechung des EuGH außerdem entnehmen, dass in besonders dringlichen Fällen bestimmte Ziele des Vorabentscheidungsverfahrens  – wie vor allem das Einheitlichkeitspostulat  – hinter der Einhaltung einer angemessenen Verfahrensdauer zurückstehen müssen247. 244 EuGH, Urt. v. 21.2.1991 – Rs. C-143/88 und C-92/89, Slg. 1991, I-415, Rn. 16 f. – Süderdithmarschen. 245 EuGH, Urt. v. 24.5.1977 – Rs. 107/76, Slg. 1977, 957, Rn. 5 f. – Hoffmann-La Roche (vgl. auch Capotorti, Schlussanträge v. 5.5.1977, Rn.  5); bestätigt in EuGH, Urt. v. 21.2.1991  – Rs. C-143/88 und C-92/89, Slg. 1991, I-415, Rn. 15 ff. – Süderdithmarschen. 246 Vgl. Dannecker, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Handbuch Rechtsschutz, § 38 Rn. 54; Jokisch, Gemeinschaftsrecht und Strafverfahren, S. 193. 247 Groh, Auslegungsbefugnis, S. 69.

D. Eigener Lösungsvorschlag für Strafgerichte

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b) Vergleichbarkeit der Problemlage in eilbedürftigen Strafverfahren Gerade die Eilbedürftigkeit einer Entscheidung  – wie sie für den vorläufigen Rechtsschutz typisch ist – kann aber auch im Strafverfahren auftreten: zum einen, weil das Strafverfahren bereits lang gedauert hat und durch die Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens ein Verstoß gegen das menschen-, europa- und verfassungsrechtliche Beschleunigungsgebot demnächst droht, und zum anderen bei richterlichen Entscheidungen im Ermittlungsverfahren. Die Parallelität zwischen Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes und richterlichen Entscheidungen im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren rührt daher, dass eine schnelle Verfahrensdurchführung bei der Frage der Zulässigkeit eines bestimmten Zwangsmittels ebenso erforderlich ist wie bei der vorläufigen Sicherung von Ansprüchen oder Rechtszuständen im einstweiligen Rechtsschutz248. Aus diesem Grund hat auch das Bundesverfassungsgericht die Einschaltung des Richters im Ermittlungsverfahren als „summarische[s] und eilbedürftige[s], dem Hauptverfahren vorgeschaltete[s] Eilverfahren“ eingestuft249. An dem grundsätz­ lichen Bestehen der Vorlagepflicht ändert die Eilbedürftigkeit von richterlichen Entscheidungen im Ermittlungsverfahren zwar nichts250. Jedoch kann es im Ermittlungsverfahren der Grundsatz der Effektivität der Strafrechtspflege rechtfertigen, einen Unionsrechtsakt vorläufig als ungültig zu behandeln251, so wie im Verwaltungsrecht der nationale Verfahrenszweck des Rechtsschutzes der Bürger eine zunächst eigene Entscheidung des mitgliedstaatlichen Gerichts erlaubt. Da ansonsten der Verfahrenszweck und die Wirksamkeit des Ermittlungsverfahrens völlig leerlaufen würden, muss auf die Eilbedürftigkeit der Entscheidungen über die Zulässigkeit eines bestimmten Zwangsmittels Rücksicht genommen werden252. Außerdem kann der Abschluss des Strafprozesses deshalb eilbedürftig sein, weil ein Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot infolge der Dauer des Vorabent­ scheidungsverfahrens droht. In diesem Fall konfligieren u. a. zwei Unionsinte­ ressen miteinander – das Vorlagegebot um der Einheitlichkeit des gemeinsamen Rechts willen und das europarechtliche Beschleunigungsgebot aus Art. 47 Abs. 2 S.  1 GRCh und Art.  6 Abs.  3 EUV. Da nun einerseits die richterliche Vorlagepflicht bei Gültigkeitsfragen nicht ausgeschlossen werden sollte, andererseits aber ein Abwarten der Entscheidung des EuGH aufgrund der drohenden Verletzung des Beschleunigungsgebots nicht angemessen erscheint, muss ein Kompromiss gefunden werden, der sowohl den Erfordernissen des Unionsrechts als auch denen des 248 Jokisch, Gemeinschaftsrecht und Strafverfahren, S. 185; Hecker, Europäisches Strafrecht, § 6 Rn. 21. 249 BVerfG, Beschl. v. 14.9.1992, Az. 2 BvR 1214/92, Rn. 7. 250 Siehe dazu bereits in diesem Dritten Teil unter C. I. 251 So auch – wenn auch im Anschluss an die ältere Rechtsprechung des EuGH unter Verneinung der Vorlagepflicht – BVerfG, Beschl. v. 14.9.1992, Az. 2 BvR 1214/92; Dannecker, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Handbuch Rechtsschutz, § 38 Rn. 54. 252 Jokisch, Gemeinschaftsrecht und Strafverfahren, S. 193, 187 f.

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3. Teil: Lösungsmöglichkeiten

Menschen- und Grundrechtsschutzes gerecht wird. Die beim vorläufigen Rechtsschutz gefundene Kombination der selbstständigen Entscheidung des nationalen Gerichts mit einer gleichzeitigen Vorlage an den EuGH, deren Ergebnis im späteren Verfahrensverlauf berücksichtigt wird, lässt sich – wegen der vom Gerichtshof gebilligten Beeinträchtigung des Einheitlichkeitsgrundsatzes zugunsten der Wahrung des Beschleunigungsgebots  – ebenso bei einem absehbaren Verstoß gegen das Recht auf angemessene Verfahrensdauer anwenden: Da auf alle Instanzen des Strafprozesses (Ermittlungsverfahren, Zwischenverfahren, Hauptverfahren), die nicht die im konkreten Fall letzte Instanz darstellen, stets eine weitere folgt bzw. durch die Einlegung von Rechtsmitteln die nächste folgen kann, wäre eine eigenständige Entscheidung der Gültigkeitsfrage durch das nationale Gericht nur vorläufig. Zudem kann die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs – sollte sie von der Beurteilung des mitgliedstaatlichen Gerichts abweichen – in der nächsten Instanz noch berücksichtigt werden253. c) Sinngemäße Übertragung der im einstweiligen Rechtsschutz entwickelten Konzeption auf eilbedürftige Strafverfahren Wegen der Vergleichbarkeit der Problemlagen beim vorläufigen Rechtsschutz und in bestimmten Stadien des Strafprozesses unter dem Gesichtspunkt der Eilbedürftigkeit ist eine Übertragung der für das Verwaltungs- und Zivilprozessrecht entwickelten Lösung zumindest sinngemäß geboten. Ein nationales Strafgericht sollte also unter folgenden Voraussetzungen berechtigt sein, seiner eigenen Aus­ legung des Unionsrechts zu folgen, ohne die Beantwortung der Vorlagefrage durch den EuGH abzuwarten254: (1) Das Gericht muss erhebliche Zweifel an der Gültigkeit des Unionsrechtsakts haben255. (2) Die Entscheidung muss dringlich sein, entweder weil sie für das Ermittlungsverfahren unerlässlich ist, oder weil eine unverzügliche Entscheidung notwen 253

Zu den möglichen Konsequenzen bei unterschiedlicher Beurteilung der Gültigkeitsfrage durch das nationale Gericht und den EuGH sogleich in diesem Dritten Teil, D. I. 2. unter c). 254 Teilweise ähnlich Jokisch, Gemeinschaftsrecht und Strafverfahren, S. 193 f.; Dannecker, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Handbuch Rechtsschutz, § 38 Rn. 54. 255 Da die Außerachtlassung eines präsumtiv ungültigen Unionsrechtsakts zugunsten oder zulasten des Ange­klagten wirken kann, sollte hinsichtlich der Anforderung an den „Zweifel“ weiter differenziert werden: Für den Fall, dass die Nichtanwendung des Unionsrechtsakts negative Wirkungen für den Beschuldigten hat (etwa weil dann sein Verhalten strafbar war bzw. mit einer höheren Strafe geahndet werden kann), so sollte das mitgliedstaatliche Gericht bei seiner Beurteilung der Gültigkeit des Unionsrechtsakts erst einmal davon ausgehen, dass dieser gültig ist. Um die Vermutung der Gültigkeit zulasten des Beschuldigten zu widerlegen, ist mithin ein erhöhter Begründungsaufwand zu fordern. Gänzlich gegen die Übertragung der Lösung für den einstweiligen Rechtsschutz auf strafrechtliche Gültigkeitsfragen zulasten des Beschuldigten Hugger, in: Ahlbrecht u. a., Internationales Strafrecht, Rn. 581.

D. Eigener Lösungsvorschlag für Strafgerichte

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dig ist, um eine Verletzung des Rechts des Angeklagten auf eine angemessene Verfahrensdauer zu verhindern. (3) Das Gericht muss das Unionsinteresse an einer einheitlichen Anwendung des gemeinsamen Rechts hinreichend berücksichtigen, d. h. insbesondere prüfen, ob dem möglicherweise rechtswidrigen Unionsrechtsakt nicht jegliche prak­tische Wirksamkeit genommen wird, wenn er nicht sofort angewendet wird. (4) Das Gericht muss zudem bei der Prüfung dieser Voraussetzungen die Unionsrechtsprechung zur Rechtmäßigkeit des jeweiligen Rechtsakts einschließlich etwaiger einstweiliger Anordnungen des EuGH gebührend berücksichtigen. (5) Gleichzeitig mit der Entscheidung im Strafverfahren muss schließlich dem EuGH der in Frage stehende Unionsrechtsakt zur Vorabentscheidung über die Gültigkeit der Bestimmung vorgelegt werden, damit dessen endgültige Entscheidung im späteren Verlauf des Prozesses berücksichtigt werden kann. Um eine möglichst schnelle Antwort aus Luxemburg zu erhalten, sollte mit dem Ersuchen ein Antrag auf Anwendung des Eilvorlage- oder des beschleunigten Verfahrens gestellt werden. Die selbstständige Auslegung durch das nationale Gericht kann dazu führen, dass die Berücksichtigung einer gegebenenfalls abweichenden Entscheidung des EuGH – d. h. der Bestätigung des fraglichen Unionsrechtsakts – im Rahmen des Ermittlungsverfahrens oder einer darauffolgenden Instanz, die nicht die letzte darstellt, nicht mehr möglich ist. Wegen des innerstaatlichen Rechtsmittelsystems ist eine eigenständige Entscheidung der europarechtlichen Frage indes nur vorläufig. Sollte sich aus dem Urteil des Gerichtshofs ergeben, dass die nationale Entscheidung unzutreffend war, so muss das nunmehr zuständige Gericht prüfen, welche Konsequenzen hieraus zu ziehen sind. Dafür ist wiederum zu differenzieren zwischen den beiden möglichen eilbedürftigen Konstellationen im Straf­ verfahren: Rührte die Eilbedürftigkeit der Entscheidung daher, dass ein Richter im Er­ mittlungsverfahren über die Zulässigkeit einer Zwangsmaßnahme zu befinden hatte, so muss das Urteil des EuGH im Hauptverfahren berücksichtigt – und damit gegebenenfalls unter Aussetzung des Verfahrens abgewartet – werden256. Ein etwaiges Abwarten der EuGH-Entscheidung im Hauptverfahren ist aus dem Grund zumutbar, dass die Eilbedürftigkeit der ermittlungsrichterlichen Entscheidung nun nicht mehr vorliegt, aber im Hauptverfahren einer unter Umständen unions­ rechtswidrigen Ermittlungsmaßnahme Rechnung getragen, wenn sie schon nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Wurde etwa ein Beweisstück nicht unionsrechtskonform erlangt, so liegt die Annahme eines Beweisverwertungs­verbots 256 So auch Jokisch, Gemeinschaftsrecht und Strafverfahren, S.  192, 188; Hecker, Euro­ päisches Strafrecht, § 6 Rn. 23.

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3. Teil: Lösungsmöglichkeiten

nahe257. Ansonsten kommt die Gewährung einer finanziellen Entschädigung für unrechtmäßige Strafverfolgungsmaßnahmen in Betracht258, entweder nach §§ 2, 4 des Gesetzes über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen259 oder nach den allgemeinen Regeln der Staatshaftung260. Zusätzlich kann der Betroffene sein Rehabilitationsinteresse nachträglich durchsetzen, weil ihm durch § 304 StPO bzw. analog § 98 Abs. 2 S. 2 StPO die Möglichkeit gegeben ist, die Rechtswidrigkeit des durch einen Richter angeordneten abgeschlossenen Grundrechtseingriffs bzw. die Art und Weise dessen Durchführung gerichtlich feststellen zu lassen261. 257 Vgl. zur grundsätzlichen Möglichkeit von Beweisverwertungsverboten unmittelbar aus dem Unionsrecht folgend EuGH, Urt. v. 10.4.2003  – Rs. C-276/01, Slg. 2003, I-3735, Rn.  60 ff.  – Steffensen; Jokisch, Gemeinschaftsrecht und Strafverfahren, S.  247 f.; Hecker, Europäisches Strafrecht, § 6 Rn. 23. 258 So Jokisch, Gemeinschaftsrecht und Strafverfahren, S. 189 (für den Fall einer bloßen Vorlagebefugnis); Hecker, Europäisches Strafrecht, § 6 Rn. 23. 259 „§ 2 – Entschädigung für andere Strafverfolgungsmaßnahmen: (1) Wer durch den Vollzug der Untersuchungshaft oder einer anderen Strafverfolgungsmaßnahme einen Schaden erlitten hat, wird aus der Staatskasse entschädigt, soweit er freige­ sprochen oder das Verfahren gegen ihn eingestellt wird oder soweit das Gericht die Er­ öffnung des Hauptverfahrens gegen ihn ablehnt. (2) Andere Strafverfolgungsmaßnahmen sind 1. die einstweilige Unterbringung und die Unterbringung zur Beobachtung nach den Vorschriften der Strafprozessordnung und des Jugendgerichtsgesetzes, 2. die vorläufige Festnahme nach § 127 Abs. 2 der Strafprozessordnung, 3. Maßnahmen des Richters, der den Vollzug des Haftbefehls aussetzt (§ 116 der Straf­ prozessordnung), 4. die Sicherstellung, die Beschlagnahme, der Arrest nach den §§ 111d und 111o der Strafprozessordnung sowie die Vermögensbeschlagnahme nach § 111p der Strafprozessordnung und die Durchsuchung, soweit die Entschädigung nicht in anderen Gesetzen geregelt ist, 5. die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis, 6. das vorläufige Berufsverbot. (3) Als Strafverfolgungsmaßnahmen im Sinne dieser Vorschrift gelten die Auslieferungshaft, die vorläufige Auslieferungshaft, die Sicherstellung, die Beschlagnahme und die Durch­ suchung, die im Ausland auf Ersuchen einer deutschen Behörde angeordnet worden sind.“ „§ 4 – Entschädigung nach Billigkeit: (1) Für die in § 2 genannten Strafverfolgungsmaßnahmen kann eine Entschädigung gewährt werden, soweit dies nach den Umständen des Falles der Billigkeit entspricht, 1. wenn das Gericht von Strafe abgesehen hat, 2. soweit die in der strafgerichtlichen Verurteilung angeordneten Rechtsfolgen geringer sind als die darauf gerichteten Strafverfolgungsmaßnahmen. (2) Der strafgerichtlichen Verurteilung im Sinne des Absatzes 1 Nr. 2 steht es gleich, wenn die Tat nach Einleitung des Strafverfahrens nur unter dem rechtlichen Gesichtspunkt einer Ordnungswidrigkeit geahndet wird.“ 260 Die Staatshaftung auch für richterliche Handlungen wurde vom EuGH in der Rs. ­Köbler (Urt. v. 30.9.2003 – Rs. C-224/01, Slg. 2003, I-10239) als auch unmittelbar aus dem Europarecht folgend anerkannt; siehe dazu Haltern, Europarecht, Rn.  788 ff.; Streinz, Europarecht, Rn. 417 ff. m. w. N. 261 So jetzt auch BVerfGE 96, 27; vgl. dazu Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 29 Rn. 17 ff.; Beulke, Strafprozessrecht, Rn. 326 ff.; Meyer-Goßner, StPO, § 98 Rn. 23. Das für die nachträgliche Feststellung der Rechtswidrigkeit stets erforderliche „besondere Rechtsschutzinteresse“ (vgl. nur Beulke, Strafprozessrecht, Rn. 327 m. w. N.) folgt in diesem Fall unmittelbar

D. Eigener Lösungsvorschlag für Strafgerichte

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Hat das nationale Gericht von der Vorlage an den Europäischen Gerichtshof abgesehen, weil ein Verstoß gegen das menschen-, europa- und verfassungsrecht­ liche Beschleunigungsgebot infolge der Dauer des Vorabentscheidungsverfahrens drohte, so bleibt diese Eilbedürftigkeit weiterhin bestehen. Insofern muss das Verfahren parallel zum Vorabentscheidungsverfahren weitergeführt werden, solange bis ein Urteil des EuGH ergangen ist oder bis sich das Verfahren in der letzten Instanz befindet262. Sobald eine Entscheidung des EuGH über die Gültigkeitsfrage gefallen ist, ist dessen Rechtsauffassung für den weiteren Verfahrensverlauf zugrunde zu legen. Etwaige Nachteile, die dem Angeklagten als Folge von abweichenden Auffassungen des nationalen und des europäischen Gerichts entstanden sind, sind nach den §§ 2, 4 des Gesetzes über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen – gegebenenfalls analog – oder nach den allgemeinen Regeln der Staatshaftung auszugleichen263. 3. Zusammenfassende Empfehlung für nicht-letztinstanzliche Strafgerichte Strafgerichten, die nicht in letzter Instanz entscheiden, ist also Folgendes zu empfehlen, um den Konflikt zwischen der Dauer von Vorabentscheidungsverfahren und dem Beschleunigungsgebot zu mildern: Sofern ihnen – wie regelmäßig – lediglich nach Art. 267 Abs. 2 AEUV eine Befugnis zur Vorlage einer Auslegungsfrage zusteht, sollten sie die europarecht­liche Frage eigenständig entscheiden, insbesondere wenn die betreffende Frage keine unionsrechtliche Klärungsbedürftigkeit aufweist. Geht es um die Gültigkeit eines Unionsrechtsakts, so kann ausnahmsweise das Abwarten des EuGH-Urteils im Vorabentscheidungsverfahren entbehrlich sein, wenn eine Entscheidung dringlich ist, entweder, weil sie für das Ermittlungsverfahren unerlässlich ist, oder weil eine unverzügliche Entscheidung notwendig ist, um eine Verletzung des Rechts des Angeklagten auf eine angemessene Verfahrensdauer zu verhindern264. aus dem Unionsrecht; vgl. Jokisch, Gemeinschaftsrecht und Strafverfahren, S. 189 (für den Fall einer bloßen Vorlagebefugnis); Hecker, Europäisches Strafrecht, § 6 Rn. 23. 262 Zu Gültigkeitsfragen in der letzten Instanz sogleich in diesem Dritten Teil, D. unter II. 2. 263 Vgl. auch zu den Überlegungen, einen Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot statt mit einer Anrechnung auf die Strafvollstreckung mit einer geldwerten Entschädigung auszugleichen Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 16 Rn. 12; Scheffler, ZIS 2008, 269, 277 f.; Paeffgen, StV 2007, 487, 494; Kühne, in: Karl, IntKommEMRK, Art. 6 Rn. 343. – Im April 2010 hat nunmehr auch das Bundesjustizministerium einen Gesetzentwurf vorgeschlagen, mit dem eine Entschädigungsklage in §§ 198 ff. GVG geschaffen werden soll: Eine überlange Verfahrensdauer soll danach mit 100 Euro pro verzögertem Monat ausgeglichen werden. Vgl. dazu Bundesregierung, Entwurf eines Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren vom 12.8.2010. 264 Zwar ist die Umsetzung dieser Lösung letztverbindlich nur durch eine entsprechende Entscheidung des EuGH möglich; angesichts der vergleichbaren Problematik bei eilbedürftigen Verfahren im Verwaltungs- und Zivilrecht ist jedoch eine Übertragung dieses EuGH-Konzepts auch auf Strafverfahren naheliegend.

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3. Teil: Lösungsmöglichkeiten

II. Empfehlung für letztinstanzliche Gerichte

Letztinstanzliche Gerichte unterliegen sowohl bezüglich Auslegungs- als auch Gültigkeitsfragen prinzipiell der Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV. Droht jedoch durch die Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens eine Verletzung des Beschleunigungsgebots, so ergeben sich nach dem geltenden Recht folgende Möglichkeiten: 1. Anwendung der erweiterten Acte-clair-Doktrin bei Auslegungsfragen Neben den bereits bisher anerkannten – aber theoretisch äußerst seltenen – Ausnahmen von der Vorlagepflicht letztinstanzlicher Gerichte kann die neuformulierte Acte-clair-Doktrin bei europarechtlichen Auslegungsfragen eine Vorlage entbehrlich machen. Danach muss eine Frage nur dann dem EuGH im Wege des Vor­ abentscheidungsverfahrens vorgelegt werden, wenn sie unionsrechtlich klärungsbedürftig ist, d. h. wenn sich eine Auslegungsfrage stellt, welche die Einheit des gemeinsamen Rechts erheblich berührt und eine bedeutende Vorschrift betrifft, oder wenn deren Auslegung erhebliche europarechtsspezifische Schwierigkeiten mit sich bringt265. 2. Vorlagepflicht nur bei Fragen von unionsrechtlicher Klärungsbedürftigkeit und Gültigkeitsfragen Erst soweit eine Auslegungsfrage so bedeutend ist, dass sie auch nach der erweiterten Acte-clair-Doktrin vorgelegt werden muss, bzw. wenn sich dem letzt­ instanzlichen Gericht eine Gültigkeitsfrage stellt, die aus seiner Sicht zu verneinen ist, muss das Beschleunigungsgebot gegenüber den Unionsinteressen an der einheitlichen Auslegung des gemeinsamen Rechts zunächst zurückstehen. Bei derartigen, für die Geltung und Anwendung des Europarechts grundlegenden Fragen muss der Europäische Gerichtshof als letztverbindlich Entscheidender die Möglichkeit haben, zur Rechtsfrage Stellung zu nehmen, auch wenn das Vorabentscheidungsverfahren bereits lange gedauert hat und ein Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot droht. Eine eigenmächtige Entscheidung der europarechtlichen Frage durch das mit­gliedstaatliche Gericht kann dann nicht mehr gerechtfertigt werden; vielmehr muss zwingend ein Vorabentscheidungsverfahren eingeleitet und die Entscheidung des EuGH abgewartet werden266. 265

Ausführlich zur Begründung dieser erweiterten Ausnahme von der Vorlagepflicht bereits in diesem Dritten Teil unter C. III. 4. 266 Besteht das Verfahren aus mehreren Verfahrensteilen, so kann die bisherige Praxis des BGH weitergeführt werden, Verfahrensbestandteile, die nicht von der Vorlagefrage betroffen

D. Eigener Lösungsvorschlag für Strafgerichte

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Das nationale Gericht sollte jedoch den Europäischen Gerichtshof auf eine möglicherweise drohende Verletzung des Beschleunigungsgebots aufmerksam machen und die Durchführung des neuen Eilvorlageverfahrens nach Art. 104b VerfOEuGH beantragen, sofern sich die Frage auf eine Rechtsnorm aus dem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts bezieht. Da das Recht auf angemessene Verfahrensdauer auch im europäischen Recht als Grundrecht anerkannt ist, sollte eine drohende Menschenrechtsverletzung die weitere Voraussetzung der Dringlichkeit einer Entscheidung begründen267. Für den Fall, dass die Vorlagefrage nicht unter den sachlichen Anwendungsbereich des Eilvorlageverfahrens fällt, weil sie sich nicht auf den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts bezieht, kann vom mitgliedstaatlichen Gericht zumindest die Durchführung eines beschleunigten Verfahrens nach Art. 104a VerfOEuGH beantragt werden268. Doch selbst wenn auch die Anwendbarkeit des beschleunigten Verfahrens vom EuGH verneint wird, sollte es infolge der erweiterten Acte-clair-Doktrin insgesamt zu einer Reduktion der Vorlagen und damit zu einer generellen Verkürzung der Verfahrensdauer bei der europäischen Gerichtsbarkeit kommen, so dass sich die Verzögerung – wie von ehemaligen Richtern und Generalanwälten beim EuGH angestrebt – auf höchstens ein Jahr begrenzt269. Kann indes eine beschleunigte Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs nicht herbeigeführt werden und treten infolge des Vorabentscheidungsverfahrens rechtsstaatswidrige Verzögerungen des Rechts des Angeklagten auf Einhaltung einer angemessenen Verfahrensdauer auf, so müssen diese im nationalen Strafverfahren ausgeglichen werden. Im Fall Deutschlands müsste eine Kompensation also – neuerdings – entsprechend der Vollstreckungslösung des BGH erfolgen270: Analog § 51 Abs. 1 S. 1, Abs. 4 S. 2 StGB ist in der Urteilsformel auszusprechen, dass ein Teil  der nach allgemeinen Strafzumessungsgesichtspunkten ermittelten Strafe als vollstreckt angesehen wird. In besonders gravierenden Fällen, in denen das gebotene Maß der Kompensation die schuldangemessene Strafe übersteigt, kommt darüber hinaus statt der Anrechnung eine Verwarnung mit Strafvorbehalt

sind, abzutrennen und selbstständig zu entscheiden, um diese Teile nicht auch um die Dauer des Vorabentscheidungsverfahrens zu verlängern, vgl. etwa BGH wistra 2000, 219, 226 f.; wistra 2004, 475 f. (für eine vertikale, sich auf selbstständige Taten eines vollumfänglich angefochtenen Urteils beziehende Teilentscheidung); BGHSt 49, 209, 211 ff. (für eine horizontale Teil­ entscheidung). 267 Sicher ist dies jedenfalls bei inhaftierten Angeklagten der Fall, vgl. dazu Art. 267 Abs. 4 AEUV und oben Zweiter Teil, B. II. 268 Wenngleich die Voraussetzungen für die Anwendbarkeit dieses Verfahrens vom EuGH sehr restriktiv gehandhabt werden, vgl. bereits oben im Zweiten Teil, A. I. 1. 269 Due-Report über die Zukunft des Gerichtssystems der Europäischen Gemeinschaften, S. 7. Vgl. auch Wägenbaur, EuGH VerfO, Art. 23 Satzung EuGH Rn. 28 und die EGMR-Rechtsprechung, wonach jede Instanz nur ein Jahr dauern dürfe, erstmals EGMR, Urt. v. 20.2.2003 – Nr. 50272/99, Rn. 79 – Hutchison Reid/Vereinigtes Königreich. 270 Ausführlich zum Wechsel von der Strafzumessungs- zur Strafvollstreckungslösung oben im Ersten Teil, C. II. 3. b).

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3. Teil: Lösungsmöglichkeiten

(§ 59 StGB), ein Absehen von Strafe (§ 60 StGB) oder eine Verfahrenseinstellung nach Opportunitätsgrundsätzen (§§ 153 ff. StPO) bzw. gar wegen eines Verfahrenshindernisses in Betracht. 3. Zusammenfassende Empfehlung für letztinstanzliche Strafgerichte Letztinstanzlichen Strafgerichten, die einerseits eine europarechtlich unklare Frage zu beurteilen haben, andererseits aber eine drohende Verletzung des menschen-, europa- und verfassungsrechtlichen Beschleunigungsgebots erkennen, ist mithin Folgendes zu empfehlen: Von einer Vorlage an den Europäischen Gerichtshof kann abgesehen werden, wenn die Frage durch den EuGH bereits entschieden wurde, wenn die Rechtslage klar ist oder wenn es sich um eine unionsrechtlich nicht klärungsbedürftige Auslegungsfrage handelt. Ein Vorabentscheidungsverfahren muss hingegen bei unionsrechtlich klärungsbedürftigen Fragen sowie bei Gültigkeitsfragen durchgeführt werden, um dem Unionsinteresse an der einheit­ lichen Auslegung und Anwendung des gemeinsamen Rechts Rechnung zu tragen. Sofern sich dann trotz der im europäischen Prozessrecht gegebenen Möglichkeiten zur Beschleunigung einer Vorlage infolge des Vorabentscheidungsverfahrens eine Verletzung des Beschleunigungsgebots ergibt, muss diese im nachfolgenden nationalen Verfahren kompensiert werden.

Schluss: Ergebnisse 1. Das Beschleunigungsgebot, welches aus Individual- und Allgemeinschutzgründen die zügige und effiziente Durchführung strafrechtlicher Verfahren fordert, ist als wesentlicher Prozessrechtsgrundsatz in Deutschland und Europa anerkannt: Auf völkerrechtlicher Ebene normiert Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK das Recht auf angemessene Verfahrensdauer ausdrücklich. In Deutschland gilt Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK im Rang eines einfachen Bundesgesetzes; daneben sieht das Bundesverfassungsgericht den Beschleunigungsgrundsatz auch durch Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG als verfassungsrechtlich garantiert an. Auf der Ebene der Europäischen Union könnte es durch einen EU-Beitritt zur Menschenrechtskonvention in Zukunft ebenfalls zu einer direkten Bindung an Art. 6 EMRK kommen; bis dahin wird das europarechtliche Beschleunigungsgebot durch Art. 47 Abs. 2 GRCh und über Art. 6 Abs. 3 EUV durch das vom Europäischen Gerichtshof entwickelte ungeschriebene Unionsgrundrecht auf Entscheidung innerhalb angemessener Frist gewährleistet. 2. Obwohl das Beschleunigungsgebot auf unterschiedlichen Rechtsebenen geregelt ist, so dass jeweils unterschiedliche Gerichte  – der EGMR, das BVerfG und der EuGH – für die letztverbindliche Auslegung zuständig sind, hat eine An­ gleichung der Rechtsprechungen an die Judikatur des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und dessen Auslegung von Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK stattgefunden. Folglich muss sich ein Strafverfahren bei einer Gesamtabwägung seiner Bedeutung für den Beschuldigten, der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage, der Behandlung durch die zuständigen Behörden sowie des Verhaltens des Betroffenen als innerhalb angemessener Frist durchgeführt darstellen. Die Frist beginnt mit dem Zeitpunkt, in dem der Beschuldigte erstmals von den gegen ihn laufenden Ermittlungen in Kenntnis gesetzt wird; sie endet mit dem endgültigen Abschluss des Verfahrens. Das Beschleunigungsgebot verlangt sowohl, dass jeder Verfahrensabschnitt ohne Verzögerung durchgeführt wird, als auch, dass das Verfahren insgesamt eine angemessene Gesamtdauer nicht überschreitet. 3. Neben den bereits auf nationaler Ebene vorgesehenen Instanzen besteht zunehmend die Möglichkeit, dass ein Strafverfahren durch die fakultative oder bei letztinstanzlichen Ausgangsgerichten sogar obligatorische Einlegung eines Vorabentscheidungsersuchens an den Europäischen Gerichtshof gemäß Art.  267 AEUV unangemessen verzögert wird. Eine Vorlage an die Luxemburger Richter zur Klärung von unionsrechtlichen Auslegungs- oder Gültigkeitszweifeln kann nötig werden, weil die Durchdringung der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen durch das Recht der Europäischen Union inzwischen auch das Straf- und

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Schluss: Ergebnisse

Straf­verfahrensrecht erfasst hat: Seit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon verfügt die Europäische Union erstmalig über eine eigene supranationale Strafrechtssetzungskompetenz zum Schutz der finanziellen Unionsinteressen (Art. 325 Abs.  4 AEUV), darüber hinaus kommen ihr zahlreiche Harmonisierungsbefugnisse im materiellen (Art. 83 AEUV) und prozessualen Strafrecht (Art. 82 Abs. 2 AEUV) zu. Weitere Pönalisierungspflichten zum Schutz von Unionsrechtsgütern können sich aus dem Assimilierungsprinzip ergeben. Daneben müssen wegen des Anwendungsvorrangs des gesamten Unionsrechts jegliches Strafrecht hinsichtlich von Tatbestand und Rechtsfolge und das Strafverfahrensrecht mit den Primärverträgen und dem Sekundärrecht vereinbar sein; eine drohende Neutralisierung einer unionsrechtswidrigen nationalen Rechtsvorschrift kann indes möglicherweise über eine unionsrechtskonforme Auslegung verhindert werden. 4. Die Dauer eines Vorabentscheidungsverfahrens ist richtigerweise in die für die Wahrung des Beschleunigungsgebots entscheidende Frist des Art.  6 EMRK mit einzurechnen. Das Vorlageverfahren ist als Inzidentverfahren, in welchem der EuGH den mitgliedstaatlichen Richtern bei der Auslegung des Unionsrechts hilft, ähnlich der unzweifelhaft zu berücksichtigenden konkreten Normenkontrolle an das Bundesverfassungsgericht nach Art. 100 Abs. 1 GG konzipiert, so dass es als integraler Bestandteil nicht losgelöst vom nationalen Ausgangsverfahren beurteilt werden kann. Da sich die Vertragsstaaten der EMRK nicht durch die Übertragung von Hoheitsrechten auf supranationale Zusammenschlüsse von ihren konventionsrechtlichen Verpflichtungen befreien können, bleiben sie für die vom Gerichtshof der Europäischen Union verursachten unangemessenen Verzögerungen verantwortlich. Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass eine dauernde Überlastung der Justiz eine lange Verfahrensdauer nicht rechtfertigen kann, liegt der Konflikt zwischen dem Beschleunigungsgebot und Vorabentscheidungsverfahren bei einer durchschnittlichen Erledigungszeit von knapp anderthalb Jahren  – die Tendenz war im Jahr 2009 erstmals seit 2003 wieder steigend – und absehbar weiter zu­ nehmender Inanspruchnahme des EuGH auf der Hand. 5. Außer einer drohenden Überlänge des Vorabentscheidungsverfahrens an sich kann dieser Verfahrensteil, selbst wenn er sich selbst noch im Rahmen des An­ gemessenen hält, des Weiteren zu einer unangemessenen Länge des Strafverfahrens insgesamt führen. Immerhin werden Vorlagen an den EuGH hauptsächlich in den vom Europarecht am meisten beeinflussten Bereichen des Steuer-, Wirtschafts- und Umweltstrafrechts eingeleitet, die typischerweise in Fällen der kleinen bis mittleren Kriminalität auftreten und bei denen meist bereits die tatsäch­ lichen Feststellungen aufwändig sind. Stellt sich bei einem solchen Verfahren mit verhältnismäßig geringem Tatvorwurf in letzter Instanz eine unionsrechtliche Auslegungsfrage, so kann die Vorlageverpflichtung aus Art.  267 Abs.  3 AEUV die Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens gebieten, obwohl abzusehen ist, dass – um einen Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot zu kompensieren – ein Teil  der letztendlich zu verhängenden Strafe als vollstreckt anzusehen oder im Extremfall sogar das Verfahren einzustellen ist.

Schluss: Ergebnisse

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6. Um in solchen und ähnlichen dringenden Fällen zu einer raschen Entscheidung in der Lage zu sein, hat der Gerichtshof der Europäischen Union zum 1. März 2008 die Einführung eines neuen Eilvorlageverfahrens in Art. 104b seiner Verfahrensordnung erreicht, welches die praktischen Verfahrensschritte des Vorabentscheidungsverfahrens auf Antrag des vorlegenden Gerichts oder von Amts wegen strafft und kürzt. Danach werden dringliche Vorlagefragen, die den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (Art. 67 bis 89 AEUV) betreffen, von einer designierten Fünfer-Kammer am Gerichtshof behandelt, wobei die Beteiligungsmöglichkeit der Mitgliedstaaten weitgehend auf die mündliche Verhandlung beschränkt ist, viele Übersetzungen nur in die Verfahrenssprache und die Arbeitssprache des Gerichtshofs erfolgen und zahlreiche, gegenüber dem normalen Verfahren deutlich verkürzte Fristen zu einer Beschleunigung beitragen. Die bis Ende 2010 abgeschlossenen neun Eilvorlageverfahren, bei denen sich die Dringlichkeit aus der Inhaftierung des Betroffenen bzw. der familienrechtlich unzulässigen Zurückhaltung eines Kindes ergab, konnten so in durchschnittlich etwas über zwei Monaten abgeschlossen werden. 7. Das aufgezeigte Spannungsverhältnis zwischen der Dauer von Vorabent­ scheidungsverfahren und dem Beschleunigungsgebot wird durch das Eilvorlageverfahren jedoch nur begrenzt aufgelöst. Dies liegt vor allem an der Restriktion des Anwendungsbereichs auf Fragen zum Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Exemplarisch kann für Deutschland festgestellt werden, dass weniger als ein Viertel aller Ersuchen in Strafverfahren Fragen zu den Art. 67 bis 89 AEUV aufwerfen, mithin in über drei Viertel der Fälle das neue Eilvorlageverfahren vom Anwendungsbereich gar nicht einschlägig ist. Zu einer weiteren Begrenzung führt die noch bis November 2014 fortgeltende Jurisdiktionsbeschränkung des EuGH durch ex-Art.  35 EUV (Vorlageberechtigung von Anerkennungserklärung der Mitgliedstaaten abhängig). Neben diesen sachlichen Restriktionen führt das Erfordernis eines positiven Beschlusses der für Eilvorlagen zuständigen Kammer zu einer Abhängigkeit von der Beurteilung der Dringlichkeit durch den Europäischen Gerichtshof. Da der EuGH durchaus von seinem diesbezüglichen Entscheidungsspielraum Gebrauch macht, bleibt für das vorlegende mitglied­staatliche Gericht die Unsicherheit, ob das Ersuchen nach höchstens drei Monaten oder erst nach durchschnittlich anderthalb Jahren beantwortet wird. Eine Ausweitung des Anwendungsbereichs des Eilvorlageverfahrens auf alle dringlichen Ersuchen oder zumindest auf solche von Strafgerichten, wodurch das Konfliktpotenzial mit dem Beschleunigungsgebot aufgelöst werden könnte, wird vom Gerichtshof abgelehnt. 8. Zur Milderung des Spannungsfeldes zwischen Vorabentscheidungsverfahren und dem menschen-, europa- und verfassungsrechtlichen Beschleunigungsgebot bleiben aus europarechtlicher Sicht zwei grundsätzliche Anknüpfungspunkte: Um prinzipiell eine schnellere Entscheidung des EuGH sicherzustellen, kann man einerseits auf eine Kapazitätserweiterung beim Gerichtshof hinwirken; andererseits ist zu überlegen, ob die Anzahl der Vorabentscheidungsersuchen beim Ge-

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Schluss: Ergebnisse

richtshof gesenkt werden kann, indem die Voraussetzungen des Art. 267 AEUV und ihre Interpretation an die geänderten Verhältnisse angepasst werden. 9. Die Möglichkeiten zur Kapazitätserweiterung weisen jeweils Nachteile auf, welche die Beschleunigungseffekte überwiegen: Die Kohärenz der Rechtsprechung würde bei der Erhöhung der Richterzahl am Gerichtshof oder bei der Ein­ fügung zusätzlicher Instanzen in das Vorabentscheidungsverfahren gefährdet (so bei der Verlagerung von Vorlagen auf das Gericht oder untergeordnete dezen­ trale Unionsgerichte), bei einem Annahme-Filtersystem wäre eine Beeinträchtigung des auf Kooperation und Dialog angewiesenen Verhältnisses zwischen den mitgliedstaatlichen Gerichten und dem EuGH zu befürchten, und gegen das sogenannte Green-Light-Verfahren sprechen schließlich dessen geringe Realisierungschancen. 10. Bei den Varianten, die zu einer Beschränkung der beim EuGH eingehenden Vorab­entscheidungsersuchen führen, müssen der Vorschlag, eine Vorlage in eilbedürftigen Fällen zu unterlassen, wegen der Gesetzesbindung der Richter an Art. 267 AEUV, und die Idee, das Vorlagerecht auf letztinstanzliche Gerichte zu beschränken, wegen des zweifelhaften Beschleunigungseffekts abgelehnt werden. Überzeugen kann hingegen eine Erweiterung der in der Praxis ohnehin unterschiedlich befolgten Acte-clair-Doktrin und damit eine Neubestimmung der Vorlagepflicht mittels einer teleologischen und systematischen Auslegung des Begriffs „Zweifel“ in Art. 267 Abs. 3 AEUV. Während bei Fragen hinsichtlich der Gültigkeit von Unionsrecht stets vorzulegen ist, sollte in Auslegungsfragen nur dann ein Vorabentscheidungsverfahren zum EuGH eingeleitet werden, wenn sich eine unions­rechtlich klärungsbedürftige Frage stellt, d. h. eine Frage, welche die Einheit des gemeinsamen Rechts erheblich berührt und eine bedeutende Vorschrift betrifft, oder deren Auslegung erhebliche unionsrechtsspezifische Schwierigkeiten mit sich bringt. 11. Dass von den grundsätzlichen Beschleunigungsmaßnahmen auf europäischer Ebene nur eine erweitert formulierte Acte-clair-Doktrin befürwortet werden konnte, führt dazu, dass zwar zusätzliche Ausnahmen von der Vorlagepflicht aus Art.  267 Abs.  3 AEUV gestattet werden, damit jedoch nur das Spannungs­ verhältnis zwischen der Dauer von Vorabentscheidungsverfahren und dem Beschleunigungsgebot für letztinstanzliche Gerichte in Auslegungsfragen gemildert wird. Deshalb umfasst der entwickelte Lösungsvorschlag auch konkrete Vorgehensweisen für nicht-letztinstanzliche Gerichte und Gültigkeitsfragen, um insgesamt für alle denkbaren Konstellationen in Strafverfahren zu einem angemessenen Ausgleich zwischen den widerstreitenden Aspekten des effektiven Rechtsschutzes zu gelangen. 12. Danach ist Strafgerichten, die nicht in letzter Instanz entscheiden, grundsätzlich zu empfehlen, eine europarechtliche Auslegungsfrage eigenständig zu entscheiden, sofern ihnen – wie regelmäßig – lediglich nach Art. 267 Abs. 2 AEUV eine Befugnis zur Vorlage zusteht. Dies gilt insbesondere, wenn die betreffende

Schluss: Ergebnisse

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Frage keine unionsrechtliche Klärungsbedürftigkeit aufweist. Geht es um die Gültig­keit eines Unionsrechtsakts, so kann  – angelehnt an die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zur Entbehrlichkeit einer Vorlage in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes – ausnahmsweise das Abwarten des EuGH-Urteils im Vorabentscheidungsverfahren entbehrlich sein, wenn eine Entscheidung dringlich ist, entweder, weil sie für das Ermittlungsverfahren unerlässlich ist, oder weil eine unverzügliche Entscheidung notwendig ist, um eine Verletzung des Rechts des Angeklagten auf eine angemessene Verfahrensdauer zu verhindern. 13. Letztinstanzlichen Strafgerichten, die einerseits eine europarechtlich unklare Frage zu beurteilen haben, andererseits aber eine drohende Verletzung des Beschleunigungsgebots erkennen, ist auf der Grundlage der an die geltenden Verhältnisse angepassten Auslegung des Art. 267 Abs. 3 AEUV anzuraten, von einer Vorlage an den Europäischen Gerichtshof abzusehen, wenn die Frage durch den EuGH bereits entschieden wurde, wenn die Rechtslage klar ist oder wenn es sich um eine unionsrechtlich nicht klärungsbedürftige Frage handelt. Ein Vorab­ entscheidungsverfahren muss hingegen bei unionsrechtlich klärungsbedürftigen Fragen sowie bei Gültigkeitsfragen durchgeführt werden, um dem Unionsinteresse an der einheitlichen Auslegung und Anwendung des gemeinsamen Rechts Rechnung zu tragen. Das vorlegende Gericht sollte dann den EuGH auf den drohenden Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot hinweisen und die Durchführung des Eilvorlageverfahrens nach Art.  104b VerfOEuGH beantragen. Ergeben sich infolge des Vorabentscheidungsverfahrens trotz der im europäischen Prozessrecht vorgesehenen Möglichkeiten zur Beschleunigung einer Vorlage unangemessene Verfahrensverzögerungen, müssen diese im nachfolgenden nationalen Verfahren kompensiert werden.

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Sachwortverzeichnis Acte-clair-Doktrin  231–245 –– Auffassungen der Generalanwälte  240 –– Bericht der Reflexionsgruppe über die Zukunft des Gerichtssystems  244 –– Erforderlichkeit der Anpassung  237 –– Praxis  234 –– unionsrechtliche Klärungsbedürftigkeit siehe Klärungsbedürftigkeit, unionsrechtliche –– Voraussetzungen  84, 232 –– Vorschläge im Schrifttum  245 Anwendungsvorrang des EU-Rechts  176 –– hinsichtlich der Rechtsfolge  179 –– Sanktionsart  179 –– Sanktionshöhe  179 –– hinsichtlich des Strafverfahrensrechts  180 –– hinsichtlich des Tatbestandes  177 Assimilierungsprinzip  181 Auslegung, europarechtskonforme –– rahmenbeschlusskonforme Auslegung  165 –– richtlinienkonforme Auslegung  185 –– unionsrechtskonforme Auslegung  185 Beitritt der EU zur EMRK  67 Beschleunigtes Verfahren, Art. 104a VerfOEuGH  105 Beschleunigungsgebot –– Allgemeininteressen  31 –– Bedeutung  29 –– Individualschutz  29 –– Konflikt mit anderen Prozessgrundsätzen  32 Beschleunigungsgebot im deutschen Recht  48 –– Abwägungskriterien  53 –– Annäherung deutscher Gerichte an EGMR  51 –– Auslegung  50 –– Konsequenzen eines Verstoßes  55 –– Strafprozessrecht  48 –– Verfassungsrecht  49

Beschleunigungsgebot im Recht der EU  61 –– Annäherung europäischer Gerichte an EGMR  70 –– Art. 6 EUV  67 –– Art. 47 GRCh  64 –– Art. 267 Abs. 4 AEUV  68 –– Auslegung  69 –– Beschleunigungsbemühungen EuGH 105– 107, 215 –– ex-Art. 6 EUV  62 –– Konsequenzen eines Verstoßes  73 –– Prozessrecht des EuGH  69 –– Rechtssache Baustahlgewebe  72 Beschleunigungsgebot in der EMRK  35 –– Abwägungskriterien  42 –– Anforderungen an „angemessene Frist“  40 –– Art. 5  36 –– Art. 6  35 –– Auslegung  37 –– Fristbeginn  39 –– Fristende  39 –– Konsequenzen eines Verstoßes  45 –– „strafrechtliche Anklage“  38 Eilvorlageverfahren  104–201 –– abgelehnte Anträge  148 –– Abschiebehaft  137 –– Anhörung des Generalanwalts  124 –– Antrag  118 –– Anwendungsbereich  116, 152, 187 –– Art. 104b VerfOEuGH  114 –– bisherige Beschleunigungsbemühungen  105–108 –– Dauer  126, 128 –– Dringlichkeit  117, 130, 133, 136, 139, 141, 143, 144, 146, 147, 197 –– Entscheidung über Anwendung  120 –– Entstehungsgeschichte  104–112 –– Entwurf des EuGH zur Änderung der VerfO  112

Sachwortverzeichnis –– Europäischer Haftbefehl  131, 134, 141 –– Häufigkeit  127, 128 –– Kindesentziehung  129, 139, 142, 143, 145, 146 –– Kritik  151–201 –– mündliche Phase  124, 203 –– Rechtssache Aguirre Zarranga  145 –– Rechtssache Detiček  139 –– Rechtssache Gataev und Gataeva  141 –– Rechtssache Kadzoev  137 –– Rechtssache Leymann und Pustarov  134 –– Rechtssache McB.  143 –– Rechtssache Mercredi  146 –– Rechtssache Povse  142 –– Rechtssache Rinau  129 –– Rechtssache Santesteban Goicoechea  131 –– Reflexionspapier des EuGH  111 –– Rollenverteilung zwischen EuGH und nationalen Gerichten  202 –– schriftliche Phase  122 –– Stellungnahme der Kommission  113 –– Stellungnahme des Europäischen Parlaments  113 –– Stellungnahme des Rates  112 –– Urteil  126 –– Verzögerung anderer Rechtssachen  200 –– Vielsprachigkeitsgebot  201 –– Zuständigkeit  120 Europäische Staatsanwaltschaft  173 Europäisierung des nationalen Strafrechts  152–182 –– Begriff  153 –– grundlegende Prinzipien siehe  Anwendungsvorrang des EU-Rechts; Assimilierungsprinzip; Auslegung, europarechtskonforme –– Harmonisierung siehe Strafrechtsharmonisierung der EU –– Neuerungen durch Vertrag von Lissabon  155 –– Rechtssetzungskompetenz siehe Strafrechtssetzungskompetenz der EU Grundrechte-Charta der Europäischen Union  64 Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung  173

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Klärungsbedürftigkeit, unionsrechtliche  240– 246, 264 –– Kriterien  246 –– Umsetzung  249 –– und Vorlagerecht  251 Konflikt des Vorabentscheidungsverfahrens mit dem Beschleunigungsgebot  89–103, 224 –– Beschleunigungsgebot als anerkannter EU-Rechtsgrundsatz  97 –– Charakter als Inzidentverfahren  96 –– Gültigkeitsfragen im einstweiligen Rechtsschutz  257 –– Kriterien der Gesamtbetrachtung  101 –– Lösungsmöglichkeiten siehe  Reformvorschläge EuGH –– Rechtsprechung des BGH  93 –– Rechtsprechung des EGMR  91 –– Verantwortlichkeit der EU-Mitgliedstaaten für Handlungen der Unionsorgane  98 –– Vergleichbarkeit mit Vorlage ans BVerfG  94 –– Verhältnis des EGMR zum EuGH  99 Reformvorschläge EuGH  205–263 –– Annahmeverfahren  217 –– Anpassung des Anwendungsbereichs des Eilvorlageverfahrens  216 –– Ausnahmen von der Vorlagepflicht siehe Acte-clair-Doktrin –– Ausweitung des Anwendungsbereichs des Eilvorlageverfahrens  191 –– Beschränkung des Vorlagerechts auf letztinstanzliche Gerichte  229 –– eigener Lösungsvorschlag  250–263 –– eigenständige Entscheidung  251 –– letztinstanzliche Gerichte  264 –– nicht-letztinstanzliche Gerichte  251 –– Erhöhung der Richterstellen  210 –– Green-Light-Verfahren  219 –– Kompensation durch Strafabschlag  208 –– Reformbedarf  104, 224 –– Verkleinerung der Spruchkörper  211 –– Verlagerung von Zuständigkeiten auf dezentrale Unionsgerichte  213 –– Verlagerung von Zuständigkeiten auf EuG  211

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Sachwortverzeichnis

–– Verzicht auf Vorlage  226 –– wertende Betrachtung der Verzögerungsgründe  207 Schonungsgrundsatz, strafrechtsspezifischer  157, 175 Strafrechtsharmonisierung der EU  161 –– ex-Art. 29 ff. EUV  164 –– Konflikt zwischen EG und EU  166 –– materiell  169 –– Annexkompetenz  170 –– Bekämpfung schwerer, grenzüberschreitender Kriminalität  169 –– Kompetenz-Kompetenz  169 –– Notbremsrecht  175 –– Rechtssetzungsverfahren  174 –– Strafrechtsanweisungskompetenz  162 –– verfahrensrechtlich  173 Strafrechtssetzungskompetenz der EU  156 –– nach dem Vertrag von Lissabon  159 –– vor dem Vertrag von Lissabon  157 Strafvollstreckungslösung  58, 208 Strafzumessungslösung  56 Vereinfachtes Verfahren, Art. 104 §3 VerfOEuGH  107 Verfahrensdauer –– Deutschland  33 –– EGMR  36

–– Vorabentscheidungsverfahren  76 Vertrag von Lissabon  65, 67, 79, 155, 159, 161 Vorabentscheidungsverfahren  74–89 –– Art. 267 AEUV  79 –– Bedeutung  76 –– Dauer  76, 109 –– ex-Art. 35 EUV  80, 194 –– ex-Art. 68 EGV  195 –– ex-Art. 234 EGV  80 –– Funktionen  77 –– Konflikt mit Beschleunigungsgebot  89 –– Kooperationsverhältnis des EuGH mit nationalen Gerichten  74 –– Verfahren  85 –– Vorlagebeschränkungen  193 –– Vorlagepflicht  82 –– Vorlagerecht  81 –– Zuständigkeiten  79 –– Zuständigkeitsverteilung zwischen EuGH und EuG  109, 211 Vorlagen deutscher Gerichte in Strafsachen  76, 187 Vorlagepflicht –– Ausnahmen  83 –– betroffene Gerichte  82 –– Sanktionen  84, 235 Zeitpunkt einer Vorlage  193, 253