Von Sens bis Strassburg: Ein Beitrag zur kunstgeschichtlichen Stellung der Strassburger Querhausskulpturen [Reprint 2016 ed.] 9783110848014, 9783110050127


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Table of contents :
Vorwort
Inhalt
Einleitung
I. Die Frage nach der Herkunft des Straßburger Bildhauerateliers in der bisherigen Forschung
II. Sens und Straßburg. Vermutungen über das ursprüngliche Fassadenprogramm von St. Etienne in Sens
III. Sens und Chartres. Die Herkunft des Meisters der Königsköpfe
IV. Die Querhausportale von Chartres und der Stilwandel in der französischen Hüttenplastik zu Beginn des 13. Jh.
V. Die Nachfolgewerke in Burgund
VI. Straßburg um 1220
Abkürzungen
Literaturverzeichnis
Ortsregister
Nachtrag
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Von Sens bis Strassburg: Ein Beitrag zur kunstgeschichtlichen Stellung der Strassburger Querhausskulpturen [Reprint 2016 ed.]
 9783110848014, 9783110050127

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S A U E R L Ä N D E R · V O N SENS BIS S T R A S S B U R G

WILLIBALD

SAUERLÄNDER

YON SENS BIS STRASSBURG EIN BEITRAG Z U R K U N S T G E S C H I C H T L I C H E N DER S T R A S S B U R G E R

STELLUNG

QUERHAUSSKULPTUREN

1966

WALTER

DE

GRUYTER

& CO. /

BERLIN

VORMALS G . I . G Ö S C H E N ' S C H E V E R L A G S H A N D L U N G - J . G U T T E N T A G , VERLAGSB U C H H A N D L U N G - G E O R G REIMER • KARL J . T R Ü B N E R - V E I T & C O M P .

Mit 232 Abbildungen auf 75 Tafeln

Archiv-Nr. © 1966 by

3559661

W a l t e r de Gruyter & C o . , vormals G . J . Göschen'sche V e r l a g s h a n d l u n g — J. G u t t e n t a g ,

Verlagsbuch-

h a n d l u n g — G e o r g Reimer — K a r l J. T r ü b n e r — V e i t Sc C o m p . , 1 Berlin 30, G e n t h i n e r Str. 13. A l l e Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. O h n e ausdrückliche G e n e h m i g u n g des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch, oder T e i l e daraus, auf photomechanischem W e g e (Photokopie, Mikrokopie) z u v e r v i e l f ä l t i g e n . (Printed in G e r m a n y ) Satz u n d D r u c k : O t t o v o n H o l t e n , Berlin 30

CATHERINE UND LOUIS GRODECKI DEN PARISER UND STRASSBURGER FREUNDEN

VORWORT Die Vorarbeiten zu dieser mit einiger Verspätung vorgelegten Studie liegen um mehrere Jahre zurück. Eine kürzere Fassung des Textes wurde 1960/61 in Marburg geschrieben. Während dieser ersten Niederschrift standen mir die Bestände des Bildarchivs Photo Marburg mit ihrer noch immer einzigartigen Dokumentation zur französischen Kunst des Mittelalters zur Verfügung. Dem Direktor des kunstgeschichtlichen Instituts in Marburg, Herrn Prof. Κ. H. Usener habe ich nicht nur für die Eröffnung dieser Arbeitsmöglichkeiten, sondern auch für mancherlei wissenschaftliche Beratung zu danken. Herrn Prof. Hamann-MacLean, Marburg, habe ich für ein fruchtbares Gespräch über die Grabmäler in Lèves zu danken, welches zu einer kritischen Modifizierung meiner eigenen Ansichten und Ergebnisse führte. Bei der Durchführung meiner Studien in Frankreich fand ich freundlichste Unterstützung durch Mr. Schimpf und seinen Mitarbeiter Mr. Jost vom Service d'Architecture de l'Oeuvre Notre-Dame in Strasbourg, durch Mr. Hans Haug vom Musée des Beaux Arts ebenda und vor allem durch seinen jetzigen Nachfolger Mr. Victor Beyer, der meine Arbeit an Ort und Stelle stets in jeder Weise erleichtert hat. In Sens verpflichteten mich Mr. Parruzot, Chargé des Musées und der Abbé Leviste, Trésorier der Kathedrale. In Beaune halfen mir Mlle. M. Masson von der Bibliothèque municipale und Mr. L. Perriaux, der Leiter des Musée du Beffroi. Mr. Pierre Quarré, Konservator des Museums in Dijon, ließ mir Auskünfte zukommen. Herr Prof. H. Reinhardt, Basel hat mich aus seiner umfassenden Kenntnis vor allem der Straßburger und oberrheinischen Verhältnisse wiederholt beraten. Prof. R. Branner, Columbia University, New York hat Auskünfte über baugeschichtliche Fragen erteilt, Miss Rosalie Greene und Miss Isa Ragusa vom Index of Christian Art haben mir, ebenso wie mein Freiburger Kollege Dr. A. Weis, ihren Rat in ikonographischen Fragen zukommen lassen. Prof. K. Bauch, Freiburg und Prof. E. Panofsky, Princeton haben die erste Fassung der Arbeit im Manuskript gelesen und mich durch zahlreiche Hinweise und Verbesserungsvorschläge verpflichtet. Der

Deutschen Forschungsgemeinschaft habe ich für die Gewährung von Reisezuschüssen und eines halbjährigen Forschungsstipendiums zu danken. Die Widmung an Catherine und Louis Grodecki soll einer Dankesschuld allgemeinerer Art Ausdruck verleihen. Ihre wissenschaftliche Hilfe und Kritik wie ihre freundschaftliche Anteilnahme haben meine Studien auf dem Gebiete der französischen Kunstgeschichte des Mittelalters während des letzten Jahrzehnts stets begleitet und entscheidend beeinflußt. Schließlich danke idi dem Verlage Walter de Gruyter &. Co. und namentlich Herrn Dr. Wenzel, der immer bemüht war, Wünschen und Vorschlägen des Autors bereitwillig entgegenzukommen. Freiburg, den 7. VHI. 1965. Willibald Sauezländei

INHALT Vorwort

VII

Einleitung

ι

I Die Frage nach der Herkunft des Straßburger Bildhauerateliers in der bisherigen Forschung

7

II Sens und Straßburg. Vermutungen über das ursprüngliche Fassadenprogramm von St. Etienne in Sens

19

III Sens und Chartres. Die Herkunft des Meisters der Königsköpfe

.

34

IV Die Querhausportale von Chartres und der Stilwandel in der französischen Hüttenplastik zu Beginn des 13. Jh

51

V Die Nachfolgewerke in Burgund

102

ι. Die Skulpturen der Kathedrale St.-Cyr in Nevers

.

.

2. Die Figurengalerie in Mailly-le-Chäteau 3. Nachträge zu Dijon und verwandte Reste in Beaune

102 113

.

.

.

116

4. Ein Magdalenenrelief u. andere Skulpturen in Semur-en-Auxois

120

VI Straßburg um r22o

128

Abkürzungen

142

Literaturverzeichnis

143

Ortsregister

149

Nachtrag

152

VON SENS BIS STRASSBURG EIN BEITRAG ZUR KUNSTGESCHICHTLICHEN STELLUNG DER STRASSBURGER QUERHAUSSKULPTUREN

EINLEITUNG »Der gotische Geschmack«, so sagte Wilhelm Vöge einmal, »bewegt sich in Gegensätzen«1. Vöges Dictum weist auf Phänomene, welche neuerdings als die »Antinomien der Kathedrale« benannt und geschildert worden sind2. Für das Studium der gotischen Skulptur, für die Erforschung ihrer Geschichte kommt der Beachtung soldier kontradiktorischer Züge erhellende Bedeutung zu. Eine voraufgehende Arbeit suchte zu zeigen, wie in den Pariser Bildhauerateliers des beginnenden 13. Jh. ein Formenideal von neuer Klarheit und Reinheit sich Geltung verschaffte3. Die Erscheinimg der Figur wird dabei auf das feierlich Getragene hin gestimmt. Das Aufrechte und Geradlinige werden an der Haltung des Körpers, am Fall des Gewandes betont und bis zum Eindruck des Starren gesteigert. Von »cubisme gothique« hat ein französischer Gelehrter treffend gesprochen4. Hinzu tritt bei der Prägung des Antlitzes der Charakter des Ebenmäßigen und Makellosen, welches nicht frei ist von einem Anflug von Nüchternheit. Das Hauptwerk jener strengen Richtung sind die ab 1220 unter Heranziehung von Pariser Bildhauern ausgeführten Westportale der Kathedrale von ι W. Vöge, Zur gotischen Gewandung und Bewegung. Das Museum (Spemann) VIII. 1903. Jetzt in: Bildhauer des Mittelalters, Berlin 1958, S. 124. Arbeiten Vöges werden hier stets unter Beifügung des ursprünglichen Erscheinungsortes und Publikationsdatums nach dem Sammelband von 1958 zitiert. Unser Zitat zieht einen etwas ausführlicheren Satz zusammen. Er liest sich: »Man sieht, für den gotischen Geschmack ein Schlagwort zu finden, ist nicht einfach, er bewegt sich in Gegensätzen!« 2 H. Sedlmayr, Die Entstehung der Kathedrale, Zürich 19SO, vor allem S. 161 ff. 3 W. Sauerländer, Die kunstgeschichtliche Stellung der Westportale von Notre-Dame in Paris, Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft XVII (1959) S. 1—56. Zu ähnlichen Fragen und zwar mit speziellem Hinweis auf die Westportale von Notre-Dame in Paris nimmt auch O. Hombuiger in einer seiner letzten Arbeiten Stellung. Vgl. Zur Stilbestimmung der figürlichen Kunst Deutschlands und des westlichen Europa im Zeitraum zwischen 1190 und 1250. In: Formositas Romanica, Beiträge zur Erforschung der romanischen Kunst, Joseph Gantner zugeeignet. Frauenfeld (1958), S. 31 ff. 4 L. Grodedd, Sculpture gothique, Art de France I, Paris 1961, S. 271. I

Amiens8. Chöre und Girlanden von Figuren sind hier an den Wandungen von Portalen und Strebepfeilern, an den Krümmungen der Bogenläufe zu einem planvoll durchdachten Bildersystem geordnet. Eine »close interrelation of form and meaning« konstatiert an solchen Portalen die ikonographische Forschung®. Vielsdiichtige inhaltliche Beziehungen stufen und gliedern den Zyklus, führen zu komplizierten, numerischen Entsprechungen. So ist der Bilderkreis der monumentalen Skulptur, sind seine Figuren nach Prinzipien organisiert, welche sich kaum wesentlich unterscheiden von den abstrakten Schemata der mittelalterlichen Schulbücher7. Die formalen Mittel der Bildhauerkunst, welche zu diesem Eindruck einer vollkommenen Geschlossenheit der Portalkomposition führen, sind die Egalisierung langer Figurenreihen, ihre Isokephalie, sind die Wiederholungen in den Gesten, den Formationen des hartbrüchigen, die Leiber verdeckenden Gewandzeugs8. Man hat sehr richtig beobachtet, »daß diese Bildwerke das Gesetz der gotischen Architektur in sich tragen« und auch auf jene eigentümlich widerspruchsvolle Situation hingewiesen, in welcher die monumentale Skulptur auf die Ausbildung der vollen, körperhaften Erscheinung der »Rundfigur« hindrängt, sich aber gleichzeitig dem übergreifenden Gerüst der architektonischen Portalgliederung mit Unbedingtheit unterwirft. »Das künstlerische Problem für diese Bildhauer unter der Herrschaft des Architekten«, so ist gesagt worden, »lag in dem Ausgleich der Spannung zwischen vorgegebener Form und sinnerfüllter Figurenbildung«8. In der Bildhauerschule von Amiens, 5 Der Zusammenhang zwischen den Bildhauerateliers v o n Paris und Amiens wurde zuerst erkannt v o n Felix de Vemeilh, La cathédrale de Cologne, Annal. Archéol. VII, 1847, S. 232. Außerdem u. a. P. Clemen, Studien zur Geschichte der französischen Plastik. Teil I. Der Skulpturenschmudc

der Kathedrale v o n

Amiens u n d

die Bildhauersdiule

der Ile-de-

France. Z . f. dir. Κ. V, 1892, bsdrs. S. 324. W. Vöge, V o m gotischen Schwung und den plastischen Schulen des 13. Jh. R. £. K w . XXVII, 1904. In: Bildhauer des Mittelalters, S. 102. W. Medding, D i e Westportale der Kathedrale v o n Amiens und ihre Meister, Augsburg (1930), bes. S. 69s. Hier die These allerdings in Meisterwanderung entartet. 6 A . Katzenellenbogen, T h e prophets of the west facade of the Cathedral at Amiens, G. Β. Α., 6 e pér., XL, (1952) S. 246. 7 Uber Schemata

vgl.

in Erwartung

einer angekündigten, zusammenfassenden

Unter-

suchung H. Bober, A n illustrated medieval school-book of Bede's »De Natura Rerum«, T h e Journal of the Walters Art Gallery 1956/1957, S. 65 fi. 8 Vgl. zur Charakterisierung der Amienser Bildhau erschule Vöge, V o m gotischen Schwung, Bildhauer S. ro2. Ders. D i e Kathedrale v o n Amiens, Beilage zur Allgemeinen Zeitung, München 1902, S. 201 ff., und vor allem Ders. Niklas Hagnower, Freiburg 1930, S. 54. Vöges Beobachtungen gelten vor allem der Posierung und Gewandbehandlung. 9 H. Jantzen, D i e Kunst der Gotik, Hamburg (1957J.

2

wie in den ihr unmittelbar voraufgehenden Pariser Werken ist diese Problematik im Sinne der Subordination aller individuellen Formen unter den Gesamtzusammenhang und aller spezifisch bildhauerischen Anliegen unter die Postulate des architektonischen Systems gelöst worden. Jene Denkmälergruppe, welche in der gegenwärtigen Arbeit hauptsächlich vorgeführt werden soll, nimmt angesichts der gleichen Problematik eine gerade entgegengesetzte Position ein. In ihr dominiert der Wille des Bildhauers, jede einzelne Szene, ja jede einzelne Figur als eine »res se ipsa singularis« zu behandeln und der gotischen Kathedralarchitektur ein äußerstes Maß an Freiheit der bildnerischen Entfaltung abzutrotzen. Solche Intentionen führen zur Auflösung der strengen Portalgliederung und treiben zu kühnen, ungewöhnlichen Formen der Statuenaufstellung an Fensterpfosten und Freipfeilern. Ihnen entspricht die lebhafte, bewegungsreiche Posierung der Figur, welche sich mit einem geschärften Interesse an ihrer individuellen, körperlichen Erscheinung verbindet, wie denn nicht zufällig gerade diese Schulrichtung die wohl singulare Erscheinung nahezu lebensgroßer, mittelalterlicher Aktstatuen hervorgebracht hat. Nach der Seite des Ausdrucks gehört hierher die Fähigkeit durch bewegte Formen seelische Vorgänge zur Darstellung zu bringen und das Charakteristische an Stelle des Typischen vor Augen zu führen. Faßbar wird diese Strömung zuerst in jenem Bildhaueratelier, welches gegen Ende des 12. Jh. an der Westfassade der Kathedrale von Sens zu arbeiten beginnt. Von Sens aus erreicht sie vermutlich im zweiten Jahrzehnt des 13. Jh. Chartres. Die wichtigsten Teile ihres Chartreser Oeuvres hat Wilhelm Vöge schon vor einem halben Jahrhundert entdeckt, in ihrer Einzigartigkeit erkannt, jedoch in historisch nicht völlig überzeugende Perspektiven gerückt10. Etwa um 1225 scheint sie dann aus der Sphäre der großen nordfranzösischen Kathedralen zu verschwinden. Ihr Entfaltungsbereich werden nunmehr die intimeren gotischen Kirchen am Ostrand des Berry und in Burgund und mit einer einzigen hochbedeutenden Werkgruppe reicht sie bis in die Franche-Comté und ins Elsaß herüber. Um 1240/50 schließlich verlieren sich ihre Spuren. Die Hochgotik des Rronlandes, die herrschende Kunst des Jahrhunderts, tritt an ihre Stelle. Von der ganzen Bewegung läßt sich sagen, was Jantzen über ihre Chartreser Etappe geschrieben hat. Sie bleibt »unzeitgemäß«, »nur in den Falten der 10 Vöge, Die Bahnbredier des Naturstudiums um 12c», Z. f. b. K., N. F. 25,1914, S. 193 ff. Jetzt audi Bildhauer, S. 63 ff. 3

Kathedrale keimen solche Möglichkeiten auf« 11 . Verglichen mit der sozusagen offizielleren Kunst von Amiens, welche so völlig der Hierarchie des hochgotischen Systems sich unterstellt hat, ist ihre Eigenwilligkeit zugleich altertümlicher und naturnäher. Ihr Formenrepertoire leitet sich her aus der freieren, bewegteren Kunst des 12. Jh. und wird variiert im Sinne zunehmender Annäherung an die Natur. Daher scheinen ihre Werke — ähnlich wie etwa jene des Nikolaus von Verdun oder wie die großartigen Illustrationen des Weingartner Berthold-Missales — in einem eigentümlichen Zwielicht zwischen Spätromanik und Protorenaissance zu stehen12. Und ebensowenig wie jene ungewöhnlichen Ansätze in der Goldschmiedekunst oder in der Malerei eine eigentliche Nachfolge fanden, hat jene von Sens ausgehende Bildhauerschule sich auf die Dauer gegen die allgemeine Verbreitung der hochgotischen Konventionen zu behaupten vermocht. Spezieller Anlaß dieser Untersuchung war die noch immer nicht befriedigend beantwortete Frage nach der kunstgeschichtlichen Stellung der Skulpturen am südlichen Querhaus des Münsters in Straßburg. Versuche, ihre stark ausgeprägte künstlerische Eigenart durch das Mitsprechen lokaler Komponenten zu erklären oder sie auf kunstlandschaftliche Gegensätze zwischen Burgund und der Ile-de-France zurückzuführen, haben keine gültigen Resultate gezeitigt. So ergab sich die Aufgabe, einer von der Forschung an einzelnen Punkten bereits erfaßten Nebenströmung der gotischen Skulptur Burgunds und der Ilede-France bis auf die Wurzeln nachzugehen und sie in ihrem ganzen Umfange zu erschließen. An der augenscheinlichen und oft beobachteten Tatsache, daß der Straßburger Figurenzyklus wie ein Gegenbild zu manchen der strengen Figurensysteme an den kronländischen Kathedralen wirken kann, änderte sich nichts. Aber es erwies sich, daß dieser Gegensatz weniger aus kunstlandschaftlichen oder stammesmäßigen Voraussetzungen sich erklärt, als in der von Vöge mit der eingangs zitierten Äußerung paraphrasierten Polarität der kronländischen Skulptur selbst beschlossen liegt. Ii Jantzen, a.a.O. S. 119. 11 Beide Termini »Spätromanik« wie «Protorenaissance« bleiben unbefriedigend. Wir verwenden den Terminus »Spätromanik«, da er, anders als der an einen eng umgrenzten historischen Bereich geknüpfte Begriff »nordfranzösische Frühgotik«, auf den Zusammenhang der hier behandelten Denkmäler der Kathedralskulptur mit einer europäischen Stillage um 1200 weist. Die gleiche Problematik berührt Homburger, a.a.O., S. 31 u. S. 42. Zur Fraglichkeit des »Protorenaissance-Begriffes vgl. die grundlegenden Ausführungen bei E. Panofsky, Renaissance and Renascences, Stockholm (i960) S. 42S., und auch W. Paatz, Renaissance und Renovatio, Beiträge zur Kunst des Mittelalters, Berlin 1950, S. i6ff.

4

Die Bildwerke am Querhaus der Kathedrale zu Chartres dabei nochmals i m Ganzen einer stilkritischen, vor allem die verschiedenen Ateliers und führenden Meister unterscheidenden Analyse zu unterziehen, erschien zur Absicherung der vorgetragenen These, vor allem aber zur genauen Eingrenzung der v o n Sens her kommenden u n d später nach Burgund und Straßburg weiterwirkenden Arbeiten ratsam. A u c h legte der augenblickliche Stand der Forschung, die Divergenz zwischen dem Fazit der jüngsten, 1 9 4 3 erschienenen stilkritischen Untersuchung Schlags u n d den zuerst 1 9 5 1 publizierten, bauarchäologischen Ergebnissen Grodeckis einen solchen Versuch ohnedies nahe 1 3 . 13 G. Schlag, Die Skulpturen des Querhauses der Kathedrale von Chartres. W-R-Jb. 12/13 (1943), S. 115. Zu diesem letzten und eigentlich einzigen umfassenden Versuch einer stilkritischen Behandlung der Chartreser Querhausportale wird man folgende seither erschienene, jeweils durch einzelne Hinweise nützliche Arbeiten hinzufügen: S. AbdulHak, La sculpture des porches du transept de la cathédrale de Chartres, Paris 1942. Aubert, La sculpture française au moyen-âge, Paris 1946. M. Aubert, La cathédrale de Chartres, Paris/Grenoble, s. d. E. Mâle, Notre-Dame de Chartres, Paris 1948. W. Sauerländer, Beiträge zur Geschichte der »frühgotischen« Skulptur, Z. f. Kg. 20, 1956, S. iff. L. Grodecki, La sculpture française autour de 1200, Bull. Mon. 115 (1957), S. H9ff. P. Kidson, Sculpture at Chartres, London 1958. Κ. M. Swoboda, Zur Frage nach dem Anteil des führenden Meisters am Gesamtkunstwerk der Kathedrale von Chartres. Festschrift Hans R. Hahnloser, Basel und Stuttgart 1961, S. 37fif. L. Grodecki, Chartres, Paris 1963. W. Sauerländer, Tombeaux Chartrains du premier quart du 13 e siècle, Information d'Histoire de l'Art 9 (1964), S. 47IÏ. Die bedeutendste Veröffentlichung über die Querhausportale von Chartres seit den grundlegenden Studien Vöges ist die ikonographische Arbeit von A. Katzenellenbogen, The sculptural programs of Chartres Cathedral, Baltimore (1959). — Zur Baugeschichte der Querhausfassaden ist grundlegend: L. Grodecki, The Transept Portals of Chartres Cathedral: The Date of their construction according to Archaeological Data, Α. Β. XXXIII (1951), S. issff. Grodeckis Resultate bleiben, was das Querhaus angeht, unberührt von P. Frankl. The chronology of Chartres Cathedral. Α. Β. XXXIX (1957), S. 33fif. Siehe contra: L. Grodecki, Chronologie de la cathédrale de Chartres. Bull. Mon. ir6 (1958), S. 9iff. S. audi H. Kunze, Die Baugeschichte der Kathedrale von Chartres nebst Rekonstruktion ihres Urentwurfs. Kunstchronik 11, 1958, S. 293! Ders. Der Westchor des Doms zu Worms. Z. f. Kw. XIV, 1960, S. 8iff. besonders aber Anm. 21/22 und Abb. 13. Man wird erst nach Erscheinen des hier Anm. 4 angekündigten Buches »Das Fassaden- und Turmproblem der Gotik im Rahmen des Gesamtentwurfs« kritisch zu Kunzes Ansichten Stellung nehmen können. Zu der Ansicht, Teile der Südquerhausportale seien für eine geplante und vor der Ausführung aufgegebene Westfassade gefertigt worden, vermag ich mich angesidits der Kunze'sthen Rekonstruktionszeichnung einstweilen nicht zu bekehren. Die wesentliche Voraussetzung aller Kunze'schen Rekonstruktionen, nämlich, daß eine Fassade des frühen 13. Jh. stets exact die Geschoßeinteilung des hinter ihr liegenden Baues spiegle, ja, weitgehend seine Einzelformen wiederhole, wird durch den Befund an noch erhaltenen Bauten eher widerlegt als bestätigt. Sie kommt

5

W i r hoffen, daß es uns dabei gelungen ist, die noch immer unvollständige Erforschung des bildhauerischen Riesenwerkes a m Querhaus v o n

Chartres

wenigstens an einigen Stellen weiter voranzutreiben. Die Erörterungen des letzten Abschnittes schließlich, welche sich mit der Frage einer Straßburger Lokalüberlieferung befassen u n d aus dem Bereich der westeuropäischen Kunst des frühen 1 3 . Jh. herausführen, sollen vor allem die hier erarbeiteten Ergebnisse gegenüber einer Anschauungsweise festigen, welche den Straßburger Skulpturenzyklus wesentlich aus lokalen Voraussetzungen hervorgehen lassen will 1 4 .

[13] vom Reißbrett her. Dodi bleibt für das Einzelne, wie gesagt, die umfassende Veröffentlichung der Kunze'schen Ansichten abzuwarten. Während der Drucklegung erschien: J. van der Meulen, Historie de la construction de la cathédrale Notre-Dame de Chartres après ir94, Bull, de la Soc. archéol. d'Eure-et-Loir ro9 (1965), S. 8r ff. Dieser als »rapport préliminaire« zu einer großen Publikation vorgelegte Text konnte nicht mehr berücksichtigt werden. r4 Die hier in extenso vorgelegten Ergebnisse wurden in stark abgekürzter Form vorgetragen auf dem Achten Deutschen Kunsthistorikertag in Basel. Vgl. W. Sauerländer, Von Sens bis Straßburg, Kunstdironik 13 (r96o), S. 2790. Gegen diese Kurzfassung erhoben Widerspruch M. Gosebruch, in einer Bespr. von M. Maier, Oberrhein, Zeitschrift für Kunstgeschichte 24 (1961), S. 83ft, und H. Reinhardt, Sculpture française, et sculpture allemande au XIIIe siècle. Information d'Histoire de l'Art 7 (1962), S. 174ÎÏ. Eine Diskussion wird erst fruchtbar sein, nachdem von unserer Seite alle Argumente ausgebreitet worden sind. Bis jetzt konnten ja gegen unsere Auffassung nur ganz allgemeine Zweifel angemeldet, aber noch keine detaillierte Kritik an ihr geäußert werden. 6

I

DIE FRAGE NACH DER HERKUNFT DES STRASSBURGER BILDHAUERATELIERS IN DER BISHERIGEN FORSCHUNG Die wissenschaftliche Literatur über die historische Stellung der Straßburger Querhausskulpturen setzt 1894 mit einer kurzen Notiz ein, welche Wilhelm Vöge für das Repertorium für Kunstwissenschaft schrieb15. Sie galt einem Buche Meyer-Altonas, welches sich in der Art eines beschreibenden Inventars mit den Skulpturen des Straßburger Münsters befaßte, in seinen kunsthistorischen Erörterungen aber kaum mehr gab als eine Wiederholung der einst von Franz Xaver Kraus mitgeteilten Beobachtungen1®. Zwei Gesichtspunkte sind es, welche zu diesem frühen Zeitpunkt Vöges freilich nur aus knappen Andeutungen erkennbare Anschauungen bestimmen: angesichts des Marientodes betont er, daß die byzantinische Kunst der Ausgangspunkt dieser Darstellung gewesen sei, und fährt dann fort: »die Frage, inwieweit französische Einflüsse hier eingewirkt haben, will ich einstweilen offen lassen; sicher scheint mir, daß diese hochbedeutende Skulpturengruppe das Werk eines einheimischen Ateliers ist17.« Beide Gesichtspunkte: die Auffassung, daß ein Teil des Straßburger Oeuvres byzantinischen Einschlag erkennen lasse und die Ansicht, daß die Straßburger Werkstatt eine einheimische sei, haben die spätere Forschung beeinflußt. Die besondere Lage der Straßburger Kunst um 1200 legte nahe, daß diese beiden Gesichtspunkte miteinander verknüpft wurden und dann 15 W. Vöge, Bespr. Ernst Meyer-Al tona, Die Sculpturen des Straßburger Münsters. I. Teil: Die älteren Sculpturen bis 1789. Straßburg 1894. In: R. f. Kw. XVII, S. i 8 i f . 16 E. Meyer-Altona, Die Skulpturen des Straßburger Münsters, Straßburg 1894. Besonders die Unterscheidung einer älteren, »nodi in engerem Ansdiluß an die Antike« befindlichen und einer jüngeren, »selbständig vorgehenden« Richtung innerhalb der Querhausskulpturen (S. iof.) scheint F. X. Kraus Ansicht von einer »antikisierenden« und einer »entschieden germanischen« Tendenz innerhalb des Straßburger Ateliers wieder aufzugreifen. Vgl. F. X. Kraus, Kunst und Altertum im Unterelsaß, Beschreibende Statistik, Straßburg 1876, S. 463. 17 Vöge, Repertorium 1894, S. 281. Die Ansicht, daß die Straßburger Darstellung des Marientodes byzantinisierende Züge aufweise, findet sich bereits bei A. DUMONT, La Cathédrale de Strasbourg, Paris 1 8 1 1 , S. 6ff.

7

eine jener Positionen bezeichneten, welche angesichts der kunstgeschichtlichen Fragen um die Straßburger Querhausskulpturen bis in die Gegenwart herein immer wieder bezogen wurden. Wenige Jahre zuvor hatte Dehio in einem bahnbrechenden Aufsatz den Nachweis geführt, daß bei dem Ubergang von der älteren zur jüngeren Gruppe der BambergerDomskulpturen »der entscheidende Anstoß zum Stilumschwung von außen«, und zwar von der Kathedrale von Reims »herzukam«18. Dehio Schloß den Bericht über seine sensationelle Entdeckung mit der Aufforderung, nun auch »die thüringisch-sächsische Schule auf etwaige französische Anregungen hin, sei es direkte, sei es indirekte, in neue Untersuchung zu stellen«19. Schon 1898 reichte dann einer seiner Schüler, Karl Franck-Oberaspach, an der Straßburger Universität eine Preisschrift über das Thema »Geschichte der deutschen Bildhauerkunst des 13. Jh. mit besonderer Berücksichtigung ihres Verhältnisses zur französischen Kunst« ein20. Das wichtigste Resultat seiner Arbeit deutete Franck-Oberaspach im folgenden Jahre mit einigen Sätzen einer Abhandlung im Repertorium für Kunstwissenschaft an: »So hat Straßburgs Skulpturengruppe am Südportal und am Engelspfeiler mit Chartreser Werken so eingehende Beziehungen - wie ich demnächst nachweisen werde - , daß ich sie als Arbeiten derselben Schule erklären muß«21. Damit schien Dehios Anregung auch für den Straßburger Zyklus Bedeutung gewonnen zu haben, zugleich aber war eine den Vögeschen Anschauungen weitgehend entgegengesetzte These entwickelt worden. Die Diskussion über diese Fragen beschäftigt die Forschung bis heute. Vöge hat Franck-Oberaspach sofort entgegengehalten, daß er mit seiner schroffen Behauptung, die Chartreser und die Straßburger Bildwerke seien Erzeugnisse derselben Schule, den bestehenden Sachverhalt ungebührlich ver18 G. Dehio, Zu den Skulpturen des Bamberger Domes. Jb. pr. KS. XI, 1890, S. 194—199, und Ders. Marienstatue im Ostdior des Bamberger Domes. Jb. pr. KS. XII, 1891, S. 156 f. 19 G. Dehio, 1890, S. 199. 20 Hierüber Franck-Oberaspach im Vorwort zu: Der Meister der Ekklesia und Synagoge am Straßburger Münster, Düsseldorf 1903, S. III. 21 K. Franck-Oberaspach, Zum Eindringen der französischen Gothik in die deutsdie Skulptur. R. f. Kw. XXII, 1899, S. i05ff. bes. S. 106. K. Moritz-Eichbom, Der Skulpturenzyklus in der Vorhalle des Freiburger Münsters, Straßburg 1899 vertrat ähnliche Ansichten — freilich mit mehr Bedacht. Er äußert sich S. 377f., Anm. 137, skeptisch über Vöges Annahme byzantinisierender Anklänge, sucht S. 377, Anm. 135, »mit Entschiedenheit die französische Herkunft des Straßburger Portals festzustellen« und weist auch schon auf das Querhaus in Chartres hin, bes. S. 90.

8

einfache. »Ich habe selbst«, so schrieb er, »besonders angesichts der Statue der Ste. Modeste, wohl einmal das Gleiche vermuthet, aber ich war zugleich von dem Gegensatz der beiden Gruppen zu sehr überzeugt als daß ich dem nachgespürt hätte. Denn mag sich der Straßburger Meister in Chartres gewisse Grundlagen seines Stiles und seiner Technik, z. Th. auch die Anregungen zu seinen Kompositionen geholt haben, seine Kunst ist doch eine straßburgischlokale22.« Und dann folgt eine beredte Apologie des Eigencharakters der Straßburger Bildwerke, welcher wir eine noch immer unübertroffene Schilderung der künstlerischen Individualität des Ekklesiameisters verdanken23. Schließlich aber lenkt Vöge zurück auf seine früher geäußerte Ansicht von Zusammenhängen mit der byzantinischen Kunst und sucht sie an den Engeln des Marienkrönungstympanons, aber auch an dem Relief des Marientodes zu präzisieren. Entsprechend lautet das Resumé dieser 1901 erschienenen Darlegungen: »Wir haben in Straßburg ein Durcheinandergehen byzantinischer und französischer Elemente wie in Norddeutschland, wie in Bamberg34.« Franck-Oberaspachs Behauptung war also nicht geradewegs zurückgewiesen, aber Vöge hatte versucht, sie zu differenzieren und auf die eigenen Anschauungen abzustimmen. Als Franck-Oberaspach dann 1904 seine Ergebnisse in einer gesonderten Schrift publizierte und zu begründen suchte, war für dieses Gespräch eine neue Grundlage geschaffen25. Franck-Oberaspach neigte zwar weiter zu einer provozierenden Überspitzung seiner Anschauungen. Er vermutete in den Figuren der Modestia und des Potentian Chartreser Jugendwerke des Straßburger Meisters und erwog sogar, ob die Ritterheiligen Theodor und Georg an der südlichen Querhausfassade in Chartres nicht Arbeiten des im Alter vom Oberrhein nach Frankreich Zurückgekehrten sein könnten26. Seine Vorstellung von der Chartreser Bildhauerkunst war eine merkwürdig farblose. Sie schien ihm so eintönig, »daß man auf den ersten Blick versucht wäre, wenn die Masse es erlaubte, alles einer einzigen Hand zuzuschreiben«27. Aber für die enge Ver22 W . Vöge, Uber die Bamberger Domskulpturen. R. f. Kw. XXIV, 1901. Jetzt: Bildhauer des Mittelalters, S. i43f. 23 Etwa: »Jene fein organisierten Naturen glauben wir vor uns zu sehen, deren tief erregbares Seelenleben am Körper zu zehren scheint«. 24 Vöge, Bildhauer, S. 145. 25 Franck-Oberaspach, op. cit. Anm. 20. 26 Franck-Oberaspach, op. cit. S. 85, S. 89, S. i02f. 27 Franck-Oberaspach, op. cit. S. 29.

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bindung zwischen Chartres und Straßburg brachte er nun doch eine Reihe überzeugender Belege und Beobachtungen bei28. Vöge zeigte sich denn auch von der Richtigkeit dieser Feststellung durchaus überzeugt. Er hat 1904 in einer im übrigen äußerst kritischen Besprechung des Franck-Oberaspach'schen Buches an diesen Resultaten keinen Zweifel geäußert, und auch seine frühere, byzantinische These dahingehend modifiziert und abgeschwächt, daß er nun nur noch von östlichen Anregungen sprach, welche den kronländischen und den oberrheinischen Werken gemeinsam zugrunde lägen29. Später ist er in der gleichen Richtung noch weiter gegangen. In seinem 1914 erschienenen Aufsatz über »Die Bahnbrecher des Naturstudiums um 1200« schreibt er unter Berufung auf Franck-Oberaspach: »die Schöpfungen des Straßburger Meisters setzen die schönsten Bildwerke der Chartreser Vorhallen voraus« und erweitert Franck-Oberaspachs Beobachtungen um den wichtigen Hinweis auf die »béatitudes célestes« an den Ardiivolten der nördlichen Vorhalle30. Es schien, als sei die Frage nach der künstlerischen Abkunft des Ekklesiameisters nun abschließend geklärt. Noch 1924 sprach Erwin Panofsky von dem »Meister derEkklesia und Synagoge, der, wie seit Franck-Oberaspachs schöner Untersuchung nicht mehr bezweifelt werden kann, seine Schulung der jüngeren Chartreser Werkstatt verdankt«81. Und im gleichen Jahre äußerte sich Otto Schmitt in der Einleitung zu seinem Corpus der Münsterskulpturen: »Der Bildhauer der Straßburger Ekklesia ist aus der Chartreser Hütte hervorgegangen wie der Bamberger aus den Ateliers von Reims32.« So mußte es überraschen als Hans Jantzen 1925 Vöges anfänglichen Zweifel an der Gültigkeit der Franck-Oberaspach'schen Resultate wieder aufgriff und ein völlig neues Bild von der historischen Stellung der Straßburger Skulpturen entwarf33. Jantzens Bestreben war auf Erhellung der spezifischen und unver28 So vor allem den Hinweis auf die Modestia, den Vergleich zwischen dem Sockelrelief der Modestia und der Straßburger Assumptio Mariae nach dem Stich von Isaak Brunn und die Feststellung, daß die Anordnung von Figuren um einen kantonierten Pfeiler im Straßburger Querhaus in Chartres vorgebildet war, sonst aber völlig singular ist. 29 Vöge, Vom gotischen Schwung, jetzt Bildhauer, S. 98fi. Vöge spricht jetzt von der »byzantinischen Tradition, die, wie ich aussprach, für diesen ganzen Kunststrom gewiß als Ausgangspunkt in Frage ist«, und bezieht diese Äußerung nun ebenso auf Laon und Braisne wie auf Straßburg. 30 31 32 33

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Vöge, Bahnbrecher. Jetzt Bildhauer S. 70 und S. 70 3 1 . E. Panofsky, Die deutsche Plastik des 1 1 . bis 13. Jh. München (1924), S. 1 6 3 ! O. Schmitt, Gotische Skulpturen des Straßburger Münsters, Frankfurt 1924, Bd. 1, S. 11. H. Jantzen, Deutsche Bildhauer des 13. Jh. Leipzig 1925, S. ioff. u. S. 27off.

wechselbaren Züge im Oeuvre des Straßburgers gerichtet und es gelang ihm, von der Individualität des Straßburger Bildhauerateliers eine Vorstellung zu gewinnen, deren Eindringlichkeit über die Anschauungen der vorausgehenden Forschung weit hinausführte. So beobachtete er erstmals: »Daß der Straßburger Meister in der Bevorzugung der Motive axialer Körperdrehung einem bei ihm besonders ausgeprägten Stilprinzip folgt« und verwies dafür nicht nur auf die großen Statuen am Engelspfeiler und am Südportal, sondern ging den »kontrastierenden Formenzügen« auch an den zuvor wenig beachteten »Tragsteinfiguren« nach. Und unmittelbar mit diesen Beobachtungen an der Einzelfigur hing die weitere wichtige Einsicht in die besondere Art der Verbindung von Bild- und Bauwerk zusammen: »In der strengen und großartigen Disziplin nordfranzösischer, frühgotischer Skulptursysteme, in denen das Einzelne sich ausrichtet nach der stärker betonten dekorativen Einheit des Ganzen, hätte der Straßburger nicht atmen können. Jedes seiner Bildwerke lebt mehr für sich, beansprucht sein eigenes Maß84.« Der Straßburger Zyklus trat in solcher Sicht den Schöpfungen des Kronlandes als eine Formation durchaus eigenen Charakters gegenüber. Jantzen zog aus seinen Beobachtungen die kunsthistorischen Folgerungen. Teile des Straßburger Oeuvres, die Apostelköpfe vom Portalgewände, klammerte er ganz aus der vermuteten Beziehung zu Chartres aus und suchte sie aus der lokalen Uberlieferung zu erklären. Für Engelspfeiler, Ekklesia und Synagoge wurden Zusammenhänge mit Chartres zwar nicht bestritten, aber doch als von nebensächlicher Bedeutung hingestellt. Zum ersten Mal schließlich klang die Frage nach sekundären, westlichen Quellen in den Straßburg benachbarten Landschaften, zumal in Burgund an35. 3 4 Jantzen, op. cit. S. 4 3 , S. 44, S. 70. In ähnlichem Sinne bereits Panofsky, Deutsche Plastik, S. 166Í.,

über die Figuren a m Engelspfeiler u n d vor allem über das Verhältnis z u r Archi-

tektur: »Die Plastik m a c h t hier gleichsam den Versuch, sich selbst als raumbestimmendes Element den baulichen Gliedern gegenüberzusetzen u n d in dieser Eigenschaft eine dem L e b e n des eigentlichen, architektonischen Organismus fremde, ja, widerstreitende Bewegungstendenz z u m A u s d r u d e z u bringen.« In z w e i A b h a n d l u n g e n — über die Dormitio u n d über den Engelspfeiler — A r c h i v f ü r Elsässische Kirchengeschichte 1 9 2 6 , S. 327ÉE. u n d r 9 2 7 , S. 3 6 7 0 . , suchte Franz Stoehr ebenfalls die V e r b i n d u n g m i t Chartres in ihrer Bedeutung f ü r Straßburg abzuschwächen. 35 Jantzen erwägt Z u s a m m e n h ä n g e m i t Burgund einmal angesichts des Straßburger Portaltypus: C e w ä n d e f i g u r e n o h n e Baldachine, keine Archivoltenâguren, unter der Kämpferlinie angebrachter Türsturz, sodann i n Anbetracht der besonderen Darstellungsform der M a r i e n k r ö n u n g — M a r i a sitzt zur L i n k e n Christi — u n d schließlich w e g e n der sehr engen Antikenbeziehung, welche er »in keinerlei Berührung m i t Chartres« sieht. M a g auch v o n diesen Erwägungen n u r die zweite i m exakten Sinne zutreffen, so ist doch der H i n w e i s auf Burgund ein entscheidendes Verdienst Jantzens.

II

Diesen extremen Schlußfolgerungen ist von verschiedenen Seiten scharf und zu einem großen Teile mit Recht widersprochen worden. Otto Schmitt suchte die Behauptung von der Eigenständigkeit der Apostelköpfe durch den Nachweis zu erschüttern, daß sie von falschen, bauarchäologischen Voraussetzungen ausgehe38. Beenken und Panofsky äußerten die gleichen Bedenken und unterstrichen zudem beide mit Nachdruck wiederum die Beziehungen zu Chartres. Sie hielten Jantzen entgegen, daß er das Andersartige und Trennende dem Verbindenden gegenüber allzu schroff betont habe und Beenkens Hinweis auf eine Chartreser »beatitudo« als ein vielleicht eigenhändiges Werk des Straßburgers schien hier von besonderem Gewicht zu sein37. Und doch steckte in Jantzens tiefem Mißtrauen gegen die simplifizierende These Franck-Oberaspachs der eigentlich fruchtbare Ansatzpunkt, der die Diskussion um Straßburg wieder in Fluß brachte und dem auch wir uns noch dankbar verpflichtet fühlen. Jantzen erst hat den Blick für den spezifischen Charakter des Straßburger Ateliers geschärft und so die Grundlagen für die Bestimmung seiner konkreten historischen Stellung geschaffen. Jantzen korrigierend und ergänzend hat die Erforschung der Quellen für Straßburg in den folgenden Jahren große Fortschritte gemacht. [35] Zu erwähnen ist nodi O. Homburgeis Versuch, die Straßburger Bildwerke in einen lokalen, oberrheinisch-lothringischen Kunstkreis um die Wende des 12. Jh. einzuordnen. Oberrh. K. I, 1925, S. 5ff. Homburger vergleicht schreitende Figuren aus dem Hortus mit dem Matthäus vom Engelspfeiler (vgl. S. 7, Anm. 2). Die Ähnlichkeiten liegen aber allenfalls im Motiv des »vorgestellten Beines«. Die künstlerische Behandlung ist hier und dort eine völlig verschiedenartige. Bei Homburgers zweitem Vergleich zwischen der Madonna des Mettlacher Kreuzreliquientriptychons und der Madonna des Straßburger Krönungstympanons (S. 1 1 , Anmkg. i), liegt in der Tat eine stilistische Parallele vor. Freilich kann solche Parallele nicht als ein Anzeichen für das Bestehen einer spezifisch »lothringischen Kunstschule um 1200« gewertet werden, da die Straßburger wie die Mettlacher Figur östliche Ableger der Kathedralgotik sind. Dabei ist dann noch zu unterscheiden: Während nämlich die Straßburger Figur, um einstweilen bei den Franckschen Resultaten zu bleiben, am ehesten an Chartres denken läßt, weist die stattliche Mettlacher Madonna mit ihrer reichen und breit entwickelten Gewandung auf die Goldschmiedearbeiten »entre Sambre et Meuse« und im Bereich der Monumentalskulptur am ehesten auf die Anfänge der Bildhauerschule von Reims. Der Nachweis, daß die Straßburger Skulpturen regionale Schöpfungen sind, daß ihr Stil in einer oberrheinisch-»lothringischen Kunstschule« wurzle, scheint also nicht gelungen. Vollauf zu begrüßen aber ist die Feststellung, daß sie der Stillage nach von der Kunst um 1200 herkommen. Vgl. hierzu auch unten S. 129, Anm. 217. 36 O. Schmitt, Die Querschiffportale des Straßburger Münsters und der Ekklesiameister. Oberrh. Κ. 1 (192s), S. 82ff. 37 H. Beenken. Ζ. f. Β. Κ. S9 (1925/26), Die Kunstliteratur, S. 29. E. Panofsky, R. f. Kw. 47 (1926), S. S4&.

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Auf zwei verschiedenen Wegen ist man damals zu einer wesentlichen Modifizierung der überkommenen Anschauungen gelangt. Einmal erkannte Kautzsch in den Fragmenten vom Portal von Ste. Madeleine in Besançon »ein frühes Werk des Meisters der Straßburger Ekklesia«38. Damit hatte sich die Vermutung Jantzens anscheinend bestätigt: es gab mindestens in der dem Elsaß benachbarten Franche-Comté Skulpturen, welche mit Straßburg enger zusammenhingen als die Bildwerke in Chartres. Als dann 1930 Panofsky ein ebenfalls mit Straßburg überraschend verwandtes Fragment aus Dijon publizierte, schien auch eine burgundische Vorstufe nachgewiesen zu sein39. Chartres rückte in größere Entfernung, Chartresisches schien in einer spezifisch burgundischen Einfärbung dem Straßburger Atelier zugeflossen zu sein. Von einer anderen Seite her hat gleichzeitig Kurt Bauch »Francks alte These von der ausschließlichen und direkten Verbindlichkeit des Chartreser Gesamtstiles« einer Uberprüfung unterzogen und wesentlich modifiziert40. Die Beziehungen zwischen Chartres und Straßburg wurden spezifischer gefaßt als bei Franck-Oberaspach, eingeengt auf das Werk des von Vöge entdeckten und charakterisierten »Meisters der Königsköpfe«, in dem Bauch einen dem straßburgisch-burgundischen Kreise kongenialen Bildhauer zu erkennen vermochte. Was bei Franck-Oberaspach doch nur in allgemeiner und äußerlicher Weise als eine Anwendung ähnlicher Motive in Erscheinung getreten war, vermochte Bauch jetzt als »den Weg eines Stils« anschaulich zu machen. Noch, wo seinen historischen Schlußfolgerungen so weitgehend widersprochen wurde, bewährte sich die Eindringlichkeit von Jantzens Stilanalyse. Erst auf Grund der von Jantzen hervorgehobenen Eigentümlichkeiten wurde es möglich, im Chartreser Meister der Königsköpfe etwas wie einen Mentor des Straßburger Bildhauerateliers zu erkennen41. 38 R. Kautzsdi, Ein frühes Werk des Meisters der Straßburger Ekklesia, Oberrh. K. III (1928), S. 1 3 3 f t Kautzsdi erkannte erstmals die Bedeutung der Besançoner Fragmente. Für frühere Veröffentlichungen vgl. J . Gauthier, L'ancienne collégiale de SainteMadeleine de Besançon et son portail à figures, Bull, archéol. 1895, S. i58ff. Weiter: E. M. Blaser, Gotisdie Bildwerke der Kathedrale von Lausanne, Basel 1918, S. 52 und S. 8if. Tournier, Les églises comtoises, Paris 1954, S. 26sl. Ders. L'Eglise de la Madeleine à Besançon, C. A . C X V i n (i960), S. 80 39 E. Panofsky, Zur künstlerischen Abkunft des Straßburger »Ecclesiameisters«, Oberrh. Κ. IV (i93o), S. 124ff. 40 Κ. Baudh, Straßburg und Chartres, Oberrh. Κ. IV (1930), Berichte, S. 33ff. 41 Κ. Baudi hat den ganzen Komplex noch einmal behandelt in: Zur Chronologie der Straßburger Münsterplastik im XIII. Jh., Oberrh. Κ. VI, 1931, S. 3ff. Hier brachte er vor allem

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So hatte sidb. um 1930 ein ganz neues Bild ergeben. Eine sehr eigenwillige Gruppe französischer Skulpturen, anhebend mit dem ungewöhnlichen und in Chartres isoliert stehenden Werk des Königskopfmeisters, sich fortsetzend in Burgund, bildete jetzt die Folie für Straßburg. Ein sinnvoller historischer Zusammenhang war hergestellt. Dieses Bild hat dann Lisa Schiirenberg 1937 noch einmal bereichert und den ganzen Komplex zusammenfassend behandelt42. Als sachliche Information war vor allem ihr Hinweis auf die Konsolfiguren an Notre-Dame in Dijon wichtig. Damit schien es möglich, audi die früher publizierten Fragmente aus dem archäologischen Museum in Dijon mindestens mit großer Wahrscheinlichkeit mit diesem Bau aus der ersten Hälfte des 13. Jh. in Verbindimg zu bringen. In einem Nebensatz streifte sie auch »die kleinen Figuren am Trifolium der Kathedrale von Nevers« und nannte damit erstmals ein Zentrum, das, wie wir zeigen werden, in diesem Kunstkreis eine gewisse Rolle gespielt hat. Abschließend aber versuchte sie, die burgundischen Entdeckungen von Kautzsch und Panofsky und die chartresischen und burgundischen Beobachtungen von Bauch in einer einzigen, freilich als Frage formulierten Schlußfolgerung zusammenzuziehen. Angesichts des Umstandes, daß burgundische Werke bei diesen stilkritischen Untersuchungen immer stärker in den Vordergrund getreten waren, meinte sie: »Und warum sollte der Meister der Königsköpfe, dessen ausdrucksstarke Kunst innerhalb der Plastik der Ile-de-France fast revolutionär und befremdend wirkt, nicht selbst aus Burgund gekommen sein? Warum wirken nur seine Werke und nicht die der übrigen Chartreser Meister auf Dijon, Besançon und Straßburg? Wer beweist die Priorität von Chartres vor der von NotreDame in Dijon? Liegt es da nicht näher, die Zusammenhänge zwischen Burgund und Oberrhein, die auch in anderen Äußerungen mittelalterlicher Kultur und Geschichte nicht zu verkennen sind, so zu erklären, daß eben das Artverwandte des Meisters der Königsköpfe es war, was neben unbedingt direkten Anregungen von Dijon auf die Kunst des Ekklesiameisters wirkte?« Die künstlerischen Differenzen zwischen der strengen Chartreser Bauplastik einerseits und der dramatischeren Gruppe Königskopfmeister/Burgund/Straß[41] aus Dijon ein weiteres Belegstück bei und spradi die Vermutung aus, daß die Fragmente im Musée archéologique in Dijon von der Kirche Notre-Dame daselbst stammen könnten. 42 L. Sdiürenberg, Spätromanisdie und frühgotisdie Plastik in Dijon und ihre Bedeutung für die Skulpturen des Straßburger Münsterquerschiffs, Jb. d. pr. KS. 58 (1937), S. 138. Vgl. Naditrag.

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burg andererseits schienen sich einleuchtend in die Gegensätze zwischen Stammescharakteren aufzulösen43. Und doch war diese in das Gebiet der Stammeskunde abschweifende Vermutung nur eine Verdunkelung des eigentlichen kimsthistoiischeii Problems. Der entscheidende Einwand gegen diese verführerische These liegt in der einfachen Tatsache, daß wir eine burgundische Skulptur um 1200, wie sie hier vorausgesetzt wird, nicht kennen. Daß die Portale der Kirche Notre-Dame in Dijon, deren Baubeginn allgemein und auch von Schtirenberg um 1200 angesetzt wird, wobei die Arbeiten an den Ostteilen begannen und nach Westen hin fortschritten, jenen von Chartres zeitlich nachfolgen, darf heute als erwiesen gelten44. Aber auch an anderer Stelle wollen sich, zum mindesten beim gegenwärtigen Stand unserer Kenntnisse, auf dem Boden der Bourgogne wirklich vergleichbare Denkmäler nicht nachweisen lassen. So überragend die Stellung dieser Landschaft für die Geschichte der vorromanischen und romanischen Skulptur etwa von der Jahrtausendwende bis zur Mitte des 12. Jh. gewesen war, so wenig scheint es nach 1150 hier eine autochthone Bildhauerkunst mehr gegeben zu haben. Schon die nach Ansicht der neuesten Forschung noch vor 1147 entstandenen Portalsskulpturen von St. Bénigne in Dijon zeigen nur noch geringen Zusammenhang mit der lokalen, von Cluny III ausgehenden Uberlieferung, weisen aber um so deutlicher die Rezeption der neuen Kunst der Ile-de-France — St. Denis/Chartres-West — aus. Bereits Vöge hatte das klar erkannt und noch in jüngster Zeit hat Pierre Quarré an Hand neu aufgetauchter Denkmäler Vöges Ergebnisse zu präzisieren vermocht45. St. Bénigne in Dijon hat vielleicht einige lokale Ableger gehabt, etwa die Skulpturen in Til-Chatel oder die mit Ausnahme eines Exemplares verlorenen Gewändefiguren der Westportale von St. Lazare in Avallon und das Portal von Vermenton, aber zur Formation einer jüngeren, burgundischen Schule ist es 43 Schtirenberg, op. cit. S. 25 f. Ähnlich äußerte sich die V. in der Z . f. Kg. 7 (1938), S. 87, in einer Besprechung der Arbeit Hans Reinhardts über das Langhaus des Straßburger Münsters. Vgl. audi Κ. Bauch, Straßburg, Berlin 1941, S. i8f., der Schürenbergs Vermutungen aufnimmt. 44 Für die Chronologie von Notre-Dame in Dijon ist zu vgl. R. Branner, Burgundian Gothic Architecture, London 1960, S. 132. Dort heißt es: »The gothic chevet was begun about i n o and the transept and eastern bays of the nave were under way about 1230«. 45 Vöge, Anfänge des monumentalen Stils im Mittelalter, Straßburg 1894. P. Quarré, La sculpture des anciens portails de St.-Bénigne de Dijon, G. Β. Α., 6 e période, L (1957), S. 1 7 7 f t A. Lapeyre, Des facades occidentales de Saint-Denis et de Chartres aux portails de Laon. s. 1.1960, S. ioiff.

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nicht mehr gekommen4®. Als etwa in den 70er und 80er Jahren des 12. Jh. die Skulpturen für das Grab des hl. Lazarus in Autun ausgeführt wurden, geschah das in einem Stil, der sowohl von der älteren, durch Cluny begründeten und gerade in Autun aufgenommenen Tradition wie auch von der kronländisch gefärbten Gruppe um St. Bénigne in Dijon abweicht. Er ist von Richard Hamann-MacLean treffend als eine »eklektische« Verarbeitung »heterogenster Elemente« aus den verschiedenen Kunstprovinzen des romanischen Frankreich beschrieben worden47. Konkret müßten für die von Lisa Schürenberg ausgesprochene Vermutung nun aber vor allem Skulpturen von Interesse sein, welche sich gegen Ende des 12. Jh. an den frühesten gotischen Bauten Burgunds finden. Gerade in diesem Bereich scheint es nun freilich an größeren, bauplastischen Zyklen ganz zu fehlen. So beschränkt sich der bildhauerische Schmuck an den frühgotischen Teilen der Madeleine in Vézelay allein auf wenige figürliche Schlußsteine. Am Gewölbe des Kapitelsaals, dessen Errichtung in der letzten monographischen Bearbeitung der Abtei bereits in die ersten Jahre der Amtszeit des Abtes Guillaume de Mello, also zwischen 1161 und 1165 gerückt wurde, ist auf einem Schlußstein der Matthäusengel zu erkennen (Abb. i)48. Es ist ein Figürchen von einer gewissen kapriziösen Keckheit: über dem aus einem Wolkenband herausragenden, zierlichen Körper, an dessen Schultern spitze Flügel ansetzen, erscheint ein auffallend großes, rundliches Köpfchen. Das Antlitz, welches unter einer Haube von schneckenförmig aufgedrehten Locken sitzt, zeigt eine muntere Lebhaftigkeit der Formbildung in der Stellung der Augen, der Schürzung des Mundes zwischen schwellenden Wangen, über dem Polster des Kinns. Dieser kindliche Zauber erinnert weder unmittelbar an die ältere Skulptur von Vézelay, ihre expressive Erregtheit noch an St. Bénigne in Dijon 46 Über Til-Chatel vgl. jetzt P. Quarré, op. cit. S. 181. Uber Vermenton M. Aubert, Die gotische Plastik Frankreichs 1140—1225, München (1929), S. 63, mit Datierung ins 3. V. des 12. Jh. und Ders. in C. A. C X V I (1958), S. 278:8. Lapeyre, op. cit. S. 138ÉE. Der Versuch H. Giesaus, Stand der Forschung über das Figurenportal des Mittelalters, in: Beiträge zur Kunst des Mittelalters, Berlin 1950, S. i i 9 f f v die burgundischen Portale und damit audi Avallon zeitlich vor die Initialwerke in der Ile-de-France zu rücken, muß zurückgewiesen werden. Vgl. jetzt vor allem J. Vallery-Radot, L'iconographie et le style des trois portails de St.-Lazare d'Avallon, G. B. A. 6e période, LH (1958), S. 23ÎÏ. 47 R. H. L. Hamann, Das Lazarusgrab in Autun, Marburger Jb. f. Kw. 8/9 (1936), S. i82ff., u. bes. S. 291. Vgl. Nachtrag. 48 F. Salet, La Madeleine de Vézelay, Melun 1948, S. 92. Diese Datierung übernommen von Branner, op. cit. S. 193.

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oder das Lazarusgrab in Autun. Man denkt eher schon an das jugendlich Schwungvolle mancher Werke der Ile-de-France aus den 70er Jahren, ζ. B. Senlis48. Etwa in diese Richtung scheint ja auch der lebhaft bewegte Kurvenstil der Gewandbehandlung zu weisen, wie ein Vergleich mit einer Konsolfigur unter dem Türsturz von Senlis belegen kann (Abb. 2). Freilich fehlt dem zarteren burgundischen Werke das plastisch Pralle der Bildhauerkunst von Senlis, aber daß es zu jener Strömung der Ile-de-France in irgendeiner Beziehung steht, ist wohl außer Zweifel. Zieht man einen zweiten, inhaltlich noch nicht entzifferten und im 19. Jh. wohl an der Oberfläche übergangenen Schlußstein aus dem Kapitelsaal in Vézelay (Abb. 3) hinzu, so werden diese Zusammenhänge noch deutlicher. Man vergleiche besonders die Gewandbildung, das sonderbare Umschnüren des Leibes mit dicht gefältetem, strammgezogenen Tuchzeug und die verwandten Erscheinungen an der Konsolfigur aus Senlis. Es ist für die burgundische Situation im späteren 12. Jh. charakteristisch, daß wir etwa drei Jahrzehnte später an einem Schlußstein der Scheitelkapelle des Chorumganges von Vézelay wiederum einen völlig anderen und ebenfalls nicht autochthon burgundischen Stil finden. Jener eigentümlicherweise seit Viollet-le-Duc nie wieder beachtete Schlußstein mit der Darstellung eines Paradiesesflusses (Abb. 4) muß nämlich geradezu als eines der herrlichsten Werke der diampagnesken Skulptur aus der frühgotischen Periode angesehen werden, welche uns erhalten geblieben sind60. Als charakteristisch für seinen Stil kann das Schwelgen in Rundungen gelten, welches sich ebenso an der melodischen Bewegung des umrankenden Blattwerks wie an der Formung des Gefäßes und den Drehungen des Leibes erkennen läßt. Ein Fragment von einem Kapitell mit der Darstellung der Hochzeit zu Kanaa (Abb. 5) aus dem sogenannten Kreuzgangszyklus von Notre-Dame-en-Vaux in Châlons-surMarne, entstanden wohl um 1180, mag in etwa den Herkunftsbereich aufzeigen51. Die »porte romane« der Reimser Kathedrale gehört dem gleichen 49 W. Sauerländer, Die Marienkrönungsportale von Senlis und Mantes, W-R-Jb. XX (1958), S. 115IÏ. L. Grodecki, La »Première sculpture gothique«. Wilhelm Vöge et l'état actuel des problèmes, Bull. Mon. CXVII (1959), S. 265S. 50 Der Schlußstein erwähnt und abgebildet bei Viollet-le-Duc, Dictionnaire raisonné de l'Architecture, Paris 186j&. Bd. ΙΠ, S. 262. 51 Für Châlons-sur-Marne zu vgl. W. Sauerländer, Skulpturen des 12. Jh. in Châlons-surMarne. Z. f. Kg. 25 (1961), S. 97 ff. A. A. Paillard-Pradie, Le cloître de Notre-Dame-enVaux de Châlons-sur-Marne, Mémoires de la Société d'agriculture, commerce, sciences et arts du département de la Marne LXXVII (1962), S. 6iff. L. Pressouyre, Sculptures du premier art gothique à Notre-Dame-en-Vaux de Châlons-sur-Marne, Bull. Mon CXX

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Kreise an und nodi zu Beginn des 13. Jh. zeigen beispielsweise die Skulpturen von St.-Yved in Braisne dieselben sinnlich weichen, blühenden Formen52. So wird man abschließend gegen Schürenbergs Vermutung sagen dürfen, daß Burgund genau wie alle andernen europäischen Landschaften die neue Bildhauerkunst als ein Geschenk der Ile-de-France empfangen hat. Dabei bleibt es während der ganzen zweiten Hälfte des 12. Jh. bei durchaus vereinzelten Ubernahmen. Die bildhauerische Tätigkeit scheint geringen Umfanges gewesen zu sein. A n keiner Stelle kommt es zur Bildung einer lokalen Schule oder eines regionalen Stiles83. Dieses Bild ändert sich erst nach 1220, als an einer Reihe von burgundischen Kirchen nun tatsächlich große, bauplastische Zyklen auftreten. Aber auch ihr künstlerischer Stil ist dann kein indigener, sondern, wie wir im Laufe dieser Untersuchung zu zeigen hoffen, eine regionale Fixierung einer bestimmten Stilstufe und einer ganz bestimmten künstlerischen Strömung des Kronlandes. Nichts also erlaubt die Kunst des Königskopfmeisters von Chartres mit burgundischen Voraussetzungen zu verknüpfen oder auch nur ihr einen spezifisch burgundischen Charakter zu attribuieren. Die Lösung der kunstgeschichtlichen Fragen, welche durch das Werk dieses Bildhauers aufgeworfen werden und durch die Skulpturen in Straßburg, in Besançon und in Dijon gestellt sind, muß in einer anderen Richtung gesucht werden. Damit treten wir in den Gang unserer eigenen Untersuchung ein. [51] (196a), S. 59ff. W. Sauerländer, Twelfth Century sculpture at Châlons-sur-Mame, Studies in Western Art I (Acts of the XXth International Congress of the History of Art), Princeton 1963, S. 1 1 9 ff. 5a Für die »Porte romane« vgl. W. Sauerländer, Beiträge zur Geschichte der »frühgotischen« Skulptur, Z . f. Kg. XX, (1956), S. ifi. R. Hamann-MacLean, Reims als Kunstzentrum im ia. und 13. Jh. Kunstchronik 9 (1956), S. 1878. Für Braisne vgl. A. Boinet, C. A. LXXVIII (1911), Bd. Π, S. a59ff. Der Schlußstein in Vézelay ist allerdings kein völlig vereinzeltes Absprengsei jener nördlichen Werke, doch, was sidi ihm vergleichen läßt, sind Werke außerhalb der Bourgogne. Die Türsturzkonsolen an den Portalen von St. Pierre-le-Moutier im Bourbonnais und von Germigny-PExempt im Berry sind ihm nahezu wörtlich vergleichbar, und zwar nach Stil und Darstellungsgegenstand. 53 So scheint auch der wohl u m 1 2 1 5 begonnene Chor der Kathedrale von Auxerre nicht Anlaß für die Ausführung eines größeren Skulpturenzyklus gewesen zu sein. Die Skulpturen an der Westfassade der Kathedrale wurden zwar meist zu spät datiert, gehören aber doch erst der Zeit nach 1250 und dem Ausstrahlungsbereich der Reimser Hochgotik an. Die sehr restaurierten Konsolköpfe im Chorumgang von Auxerre und auch einige vorzügliche und unberührte Sdilußsteine ebenda — z. B. ein Samson und ein Jonas Langchorseitenschiff/Südseite — scheinen in keinerlei Stilzusammenhang mit dem hier behandelten Kreise zu stehen. Die ersten großen Skulpturenzyklen in der Bourgogne dürften im 13. Jh. Dijon und Beaune gewesen sein. Ihnen gesellt sich in der Franche-Comté Besançon zu.

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π SENS UND STRASSBURG. VERMUTUNGEN UBER DAS URSPRUNGLICHE FASSADENPROGRAMM VON ST. ETIENNE IN SENS Das eigentümlich Unzeitgemäße und in gewisser Weise Abseitige der Kunst sowohl des Chartreser Königskopfmeisters wie des Straßburgers war einst Bauch bei seinen Forschungen über »Chartres und Straßburg« aufgefallen. Vom Königskopfmeister meinte er: »Typisch für diesen Stil ist das im Ausdrucksmäßigen so außerordentlich Differenzierte und Fortschrittliche und dagegen die Gebundenheit in den Hauptproblemen« und von Straßburg hieß es mit einem Seitenblick auf die »gleichzeitigen, fortschrittlicheren, ganz andersartigen Stiltendenzen« : »Gegenüber Reims, Amiens und den entsprechenden deutschen Stilen ist der in Straßburg kulminierende Stil eine Sackgasse«64. An solche Erwägungen möchten wir anknüpfen. In der historischen Schichtung der kronländischen Skulptur an der Wende von der Früh- zur Hochgotik, so wollen wir zu zeigen versuchen, liegt die Erklärung für die Sonderstellung sowohl des Königskopfmeisters wie des Straßburgers. Um solche Vermutungen zu belegen, wird es allerdings erforderlich sein, über den bisher von der Forschung in Betracht gezogenen Denkmälerkreis hinauszugehen. Es muß vor allem versucht werden, zeitlich bis auf jene Stufe zurückzugelangen, auf welcher die für den Königskopfmeister wie für Straßburg charakteristischen Formgedanken Gestalt anzunehmen begannen. Die Bildhauerateliers am Querhaus in Chartres scheinen hier als der eigentliche Ausgangspunkt nicht in Frage zu kommen, sondern nur die Rolle einer allerdings höchst bedeutsamen und für die Formulierimg, die Artikulation des spezifischen Straßburger Stiles, der bildhauerischen Handschrift des »Ekklesiameisters« bestimmenden Durchgangsstation gespielt zu haben. Indem wir zunächst die beiden äußersten Stationen — Anfang und Ende — der hier verfolgten, künstlerischen Bewegung miteinander in Vergleich setzen, überspringen wir den tatsächlichen, durch 54 K. Bauch, Oberrh. Κ. IV (1930), Berichte S. 3 4 I

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zwei oder gar drei Dezennien sich hinziehenden Gang der Ereignisse in der Absicht, durchgehende formale Grundmotive, wie sie nur dieser Strömung eigentümlich zu sein scheinen und von ihr unter aller der allgemeinen Stilentwicklung folgenden Veränderung der Oberflächenzeichnung stets beibehalten werden, herauszuarbeiten. Damit rücken wir zugleich von Anfang an das zentrale formgeschichtlidie Problem unserer Untersuchung ans Licht. 1184, so berichtet das Chronicon Autissiodonense, wurde die Stadt Sens von einem Brande heimgesucht56. Manches spricht dafür, daß nach diesem Brande mit dem Bau der Westfassade der Kathedrale und der Ausführung ihres Skulpturenschmuckes begonnen wurde56. Vor 1210 wird im Nordturm der Fassade ein Michaelsaltar gestiftet. 1221 erfolgt die Einrichtung einer Vincentiuskapelle im ersten Obergeschoß des Südturmes6T. Die Entstehung der drei Westportale muß also etwa in dem Zeitraum zwischen 1185 und 1210/15 erfolgt sein. An den Obergeschossen der Fassade, welche ebenfalls bildhauerischen Schmuck trugen, wird noch länger — mindestens bis in das 3. Jahrzehnt des 13. Jh. — gearbeitet worden sein68. Von dem einst umfangreichen Skulpturenzyklus der Fassade sind uns nach dem Einsturz des Südturmes im Jahre 1268 und nach den Zerstörungen während der ersten Hälfte des 18. Jh. und während der französischen Revolution nur bescheidene Reste erhalten geblieben. Es sind die Bildwerke des Nordportals mit Ausnahme der Gewändestatuen, 5 S »Anno domini MCLXXXIV civitas Senonensis igne cremata est cum ecclesia beate protomartyiis Stephani, et multi viri et feminae combustae, vigilia Seti Johannis Baptistae.« Breve Chronicon Autissiodonense in: Martène, Thesaurus Anecdot. T. III, col. 1385. 56 Vgl. dazu Sauerländer, Sens and York: An Inquiry into the sculpture from St. Mary's Abbey in the Yorkshire Museum. Journal of the Archaeological Association XII (1958), S. 530. bes. S. 66ί. 57 E. Chartraire, La cathédrale de Sens, Paris s. d. S. 17, Anm. 1. 58 Chartraire a.a.O., S. 17, Anm. 1. schreibt: »Ces tours dataient des dernières années du XII e siècle.« Damit kann aber nur das Datum des Baubeginns gemeint sein. Die von Chartraire in der gleichen Anmerkung mitgeteilten Daten beweisen ja, daß die Bauarbeiten in den Obergeschossen sidi bis ins dritte Jahrzehnt des 13. Jh. hinzogen. Audi nach Ausweis der Skulpturen am Obergeschoß des Nordturms und den dort begegnenden ardiitektonischen Formen muß an diesen oberen Teilen noch nach 1220 gearbeitet worden sein. Branner, Burgundian Gothic Architecture schreibt S. i8r: »By r 195—1200 the west facade and the towers were under construction«, setzt also sogar den Beginn der Bauarbeiten erst an das Ende des Jahrhunderts. Nadi mündlicher Mitteilung ist Branner ebenfalls der Auffassung, daß die Arbeiten sich bis ins dritte Jahrzehnt hinzogen. Für die Baugeschichte der Kathedrale von Sens vgl. audi F. Salet, La cathédrale de Sens et sa place dans l'architecture mediévale, Academie des Inscriptions et Belles-Lettres, Compte-Rendus des Séances de l'Année 1955, S. 122ft.

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jene des Mittelportals mit Ausnahme der Gewändestatuen und des Tympanons, ferner eine Reihe von Konsolfiguren an den Obergeschossen des Nordturmes69. Hinzu kommen eine Reihe von Fragmenten in den Senser Museen. Es soll dargelegt werden, daß die Bildwerke in Sens der Ausgangsort für den über Chartres nach Burgund und nach Straßburg wandernden Stil gewesen sind. Im Bildhaueratelier von Sens nämlich scheinen ältere Formeln für die Posierung und die Bewegung einer Figur, welche auf St. Denis, ja, letzten Endes auf den romanischen Südwesten zurückgehen, in eine vergleichsweise natürliche Gestalt umgeschmolzen worden zu sein, an welche sowohl der Königskopfmeister wie — im mittelbaren Sinne — auch der Straßburger anknüpfen konnten. Eine Virtusstatuette aus den Archivolten des mittleren Westportals in Sens (Abb. 6 u. 8) überrascht durch ihre Verwandschaft mit der Straßburger Ekklesia (Abb. 7 u. 9). Jene stolze Pose, welche bei der Straßburger Kirchenfigur dem Thema des Triumphes so beredten Ausdruck verleiht, scheint in Sens vorweggenommen. Wir meinen das kühn aufgerichtete, man möchte sagen, hochfahrende Stehen mit charakteristischer Uberlängung der unteren Leibeshälfte, während der Oberkörper über der eng gegürteten, ja, eingeschnürten Taille stolz zurückgenommen ist und die vom Rumpf gelösten Arme durch das frei herabhängende Tuch eines vor der Brust geschlossenen Mantels verdeckt wer59 Über die Zerstörungen in der Revolution und die Wiederherstellung der Fassade unter dem Architekten Robinet vgl. Chartraire, a.a.O., S. 33ff. Weiter Ders. La sculpture du grand portail de la cathédrale de Sens, Bull, archéol. 1914, S. 499s. besonders S. 502®. — Zum Einsturz des Nordturmes Julliot, Chronique de l'Abbaye St.-Pierre-le-Vif à Sens rédigé vers la fin du XIIIe siècle par Geoffroy de Courlon, Sens 1876. Hier heißt es S. 536: »Anno millesimo C bis LV cum duodeno in Domini cena, Senonum turris cumena incepit cadere, per quam pluries peñere; Inde die trina fuit huius tota ruina«. Am Johannesportal befanden sich bis 1789: Statuen des Elias, Jeremias, Johannes des T. und »trois autres, celles d'un roi et d'une reine, et celle de leur fille qui tenait une pierre dans sa main pour indiquer, disait on, que c'était-elle qui, avait posé la première pierre de cet édifice. On a conjecturé que ces figures étaient celles de Clovis, de Clothilde et de Théodéchilde leur fille«. Vgl. Th. Tarbé, Description de l'église métropolitaine de Sens, Sens/Paris 1841. Es erscheint schwierig auf Grund dieses Textes die drei letzteren Figuren zu identifizieren. Auszuschließen ist die von F. Salet, Les sculptures de Sainte-Marie de York, Bull. Mon. CXVIII (r96o), Chronique, S. 314, ausgesprochene Vermutung, die im Musée municipal zu Sens verwahrten Statuen der Freien Künste stammten vom Johannesportal. Allein die Maße dieser Figuren, die sich unter 1 m halten, schließen eine solche Annahme aus. Am Gewände des Mittelportals standen nach Crosnier, C. A. XIV (1847), S. 103, die Apostel »ayant« wie Crosnier behauptet, »de lions sous les pieds«.

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den. Hier wie dort ist diese ungewöhnliche Bravour des Standmotivs verbunden mit einem rhetorischen Pathos in der Haltung der ganzen Figur. Die Einzelheiten der Formensprache, die Handschrift, sie haben zwar in dem um Jahrzehnte jüngeren Straßburger Werk eine unbestreitbare Verschärfung erfahren, aber es hat sich auf dem Boden des Kronlandes Verwandteres für die Straßburger Ekklesia noch nicht nachweisen lassen. Die einst von Vöge und später wiederum von Beenken herangezogene Chartreser Beatitudo führt in den Einzelheiten des gelösten Faltenspiels, in der Artikulation einer Armbiegung näher noch an die Straßburger Ekklesia heran. Im Aufbau der ganzen Figur, den Proportionen, der triumphalen Allure, welche in die Posierung hineingetragen wird, ist es die Senser Virtusstatuette, in welcher die prägenden Formgedanken des jüngeren, oberrheinischen Werkes erstmals angelegt sind80. An Eigentümlichkeiten der Posierung aber kann man noch weiterhin die Zusammenhänge zwischen Sens und Straßburg aufzeigen, das Fortbestehen der gleichen Grundmotive. An manchen Statuen des Straßburger Engelspfeilers etwa läßt sich die von Jantzen hervorgehobene Neigung zu starker, achsialer Körperdrehung mit besonderer Klarheit erkennen61. Die wichtigsten Züge führt sehr eindringlich einer der großen Posaunenengel vor Augen (Abb. n ) : Uberlängung der Körperproportionen, vor allem eine starke Dehnung der unteren Leibeshälfte, verbindet sich dem Motiv des Schreitens mit überkreuzten Beinen ohne jede Andeutung einer Beweglichkeit in den Gelenken. Gerade dieses letztere Detail ist bedeutsam. Es verleiht der Bewegung den Charakter des Gestauten, von innen her Drängenden und ist künstlerisches Mittel, die Erscheinung der Figur ins ausdrucksreich Mächtige zu steigern. So scharf nun hier der Gegensatz zu dem gefaßten und schönheitlich beruhigten Wesen der gleichzeitigen, hochgotischen Skulptur Pariserischer oder Amiensischer Prägung ist, so führt doch auch diese eigenwillige Form der Posierung Ansätze der Kathedralskulptur allerdings früherer Stufe weiter. Ein Blick wiederum auf die Archivolten des mittleren Westportals von Sens, abermals auf eine der Virtusstatuetten, mag davon überzeugen (Abb. 10). Denn hier haben wir, wenn auch noch in den für Sens charakteristischen weichen und fülligen Formen, jene eigentümliche Uberlängung der unteren Leibeshälfte 60 Vgl. Vöge, Bahnbrecher, jetzt Bildhauer S. 70. Beenken, op. cit. S. 29. Zur Ikonographie der Senser Virtus-Figuren A . Katzenellenbogen, Allegories of the virtues and vices in medieval art, London 1939, S. 77. 61 Jantzen, Deutsche Bildhauer, S. 26.

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und weiter das besondere, gleichsam schleppende Schreiten mit nicht gebogenen Gelenken. Ein zweiter Vergleich kann das noch deutlicher ans Licht setzen. Stellt man nämlich dem Straßburger Matthäus (Abb. 13) eine weitere Archivoltenstatuette von Sens gegenüber (Abb. 12), so sind zwar alle Details, zumal die Zeichnung des Gewandes, bei den in einem zeitlichen Abstand von zwei bis drei Jahrzehnten entstandenen Werken von Grund auf verschieden. Das Verbindende aber ist wiederum die Posierung: das zögernde Schreiten auf sehr langen, sehr geraden Beinen. Und von diesen Vergleichen aus wird nun auch erkennbar, daß die besondere Posierung der Straßburger Figuren, jene von Jantzen so treffend beobachtete »Tendenz zu axialer Drehung des Körpers«, nichts Anderes ist als die Umbildung von schon der romanischen Kunst des französischen Südwestens geläufigen, expressiven Bewegungsformeln. Unter den frühgotischen Bildhauerateliers vom Ende des 12. Jh. scheint ja eben jenes von Sens noch in einer besonders engen Verbindung mit den allerersten Anfängen der monumentalen Skulptur im französischen Kronlande zu stehen62. Vergleicht man etwa die zuvor genannte Senser Archivoltenstatuette (Abb. 12) mit einer Archivoltenfigur aus dem linken Westportal der Abteikirche von St. Denis (Abb. 14), so wird erkennbar, daß gerade die auffallendsten Züge des Senser Bildwerkes, nämlich die Uberlängung der Körperproportionen, das Schreiten mit überkreuzten Beinen auf die alte, noch romanisch bewegte Kunst von St. Denis zurückgehen®3. Schon Vöge aber hatte auf die engen Zusammen62 Die Herleitung des Stils der Skulpturen von Sens ist vor allem wegen ihrer fragmentarischen Erhaltung nicht ganz einfadi. Es kommt hinzu, daß das ältere Johannesportal und das offensichtlich jüngere Mittelportal zwar mancherlei gemeinsame, aber dann auch wieder abweichende Züge erkennen lassen. Der Stil des Johannesportals ist seit längerem schon von Bony überzeugend mit den Westportalen der Kollegiatkirche in Mantes und der Porte des Valois am nördlichen Querhaus in St. Denis in Zusammenhang gebracht worden. Vgl. J. Bony, La collégiale de Mantes, C. A. 104 (1947), S. 202. Dann auch Sauerländer. W-R-Jb., S. S3, und Ders. The Journal of the Archaeol. Assoc., S. 53, wegen der in diesen Kreis gehörenden Säulenstatuen mit Darstellungen der freien Künste. Der Stil des Senser Mittelportals ist nicht allein aus dieser Quelle abzuleiten und auch der hier gegebene Hinweis auf St. Denis West ist zwar wichtig, genügt aber nicht. Für eine Verbindung mit St. Denis West spricht allerdings außer den mehr allgemeinen Ubereinstimmungen in der Figurenbewegung auch der Typus des Portals und speziell die Disposition der Türpfosten. 63 Die abgebildete Figur stammt aus der äußeren Archivolte des linken Westportals. Sämtliche Figuren dieser Archivolte sind alt, allerdings wurden sämtliche Köpfe im 19. Jh. während der Debret'schen Restaurierung erneuert. Die präziseste Beschreibung des Er-

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hänge zwischen den Sugerschen Westportalen von St. Denis und der romanischen Skulptur der Languedoc hingewiesen. Man kann in der Tat audi die hier aufgestellte Reihe schreitender Figuren aus Straßburg, Sens und St. Denis in überzeugender Weise um ein Beispiel wie den Jeremias vom Türpfeiler des Südportals an St. Pierre in Moissac erweitern (Abb. is)64. Es wird dann erkennbar, daß in Sens wie noch in Straßburg Bewegungsformeln und Figurenproportionen, welche in die Epoche vor der Gotik zurückreichen und von den Hauptschulen der Kathedralskulptur ausgeschieden wurden, in die vollkörperliche und schärfer artikulierende Formensprache der neuen Zeit übersetzt sind. Und es wird auch sichtbar, daß die spiritualisierte, ekstatische Erscheinung der Straßburger Matthäusfigur, welche in einem so entschiedenen Gegensatz zur Gemessenheit, zu dem disziplinierten Formenkanon der gotischen Bildwerke der gleichzeitigen Hauptschulen steht, in eben diesen weiter zurückreichenden historischen Zusammenhängen ihre Voraussetzungen haben dürfte. Das Straßburger Atelier aber gewinnt diesen komplizierten Bewegungsmotiven seinen besonderen Reichtum an Ausdrucksmöglichkeiten ab. An der sogenannten »Kleinen Ekklesia«, welche nach der ansprechenden Vermutung Fridtjof Zschokkes vielleicht als Königin von Saba identifiziert werden kann (Abb. 17), sind alle Formen gelöst, der Fluß der Gewänder ist ein sanfter65. Es ist ein Bildwerk, welches man zart und seelenvoll nennen kann. Kronländische Figuren der gleichen Zeitstufe, man denke etwa an die Amienser Königin von Saba, heben sich durch ihre aufgesteifte und tadellose Formvollendung dagegen ab. Wenn man jedoch eine Senser Archivoltenstatuette (Abb. 16) — abermals eine virtus — zum Vergleiche heranzieht, zeigen sich Ubereinstimmungen. Der verhaltene Schritt, der weite, offene Mantel, das Gewand, welches behutsam den Körper umspielt, sie sind beiden Figuren zu eigen. Die [63] haltungszustandes der Westportale von S t Denis gibt gegenwärtig E. von Borries, Die Westportale von St. Denis. Versuch einer Rekonstruktion, Hamburger Dissertation 1955. 64 Vgl. Vöge, Anfänge S. 86fl. Uber die Figur in Moissac vgl. weiter M. S diapiro, The Romanesque Sculpture of Moissac, Α. Β. XIII (193 t), S. 249fr., S. 4648^ besonders S. 525!!., wo es übrigens gerade von diesen Trumeaufiguren heißt: »They suggest certain kings, with legs crossed, engaged to the columns of St. Denis and Chartres, more than their prototypes in Aquitania.« Uber den nicht ganz einwandfreien Erhaltungszustand der Trumeaufiguren in Moissac auch A . Anglès, L'abbaye de Moissac, Paris s. d. S. 29, A m . 1. 65 Vgl. Schmitt, Got. Skulpturen 36 c. V. Beyer, La sculpture mediévale du Musée de l'Œuvre Notre-Dame, Strasbourg 1956, S. 20, Nr. 7 1 . F. Zschokke, Die romanischen Glasgemälde des Straßburger Münsters, Basel 1942, S. 23, Anm. 1 1 .

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Straßburgerin wandelt Motive der Senser Statuette ab, ist ihr wahlverwandt in der Durchseeltheit der Form. Wiederum ist es ein Werk der Zeit um 1200 aus dem altertümlichen Atelier von Sens, welches der Straßburger Statuette ihren geschichtlichen Ort zuweist. Zu jenen Besonderheiten des Straßburger Ateliers, auf welche Jantzen als erster mit Nachdruck hingewiesen hat, gehören die »in kontrastierenden Formzügen« lebhaft bewegten Tragefiguren. Für »ihren überraschend freien Stil« wie für die »Wahl fast nackter Figuren« schienen sich wirklich überzeugende Vorstufen im Kronland nicht nachweisen zu lassen und gerade diese Bildwerke bewogen Jantzen, die Möglichkeit von direkten Zusammenhängen mit der Antike zu erwägen6®. In der Tat, wenn man etwa an die Atlanten der Reimser Kathedrale denkt, so wird man sich erinnern, daß die Absicht dort, wenn man von seltenen Ausnahmen absieht, nicht so sehr auf das Sichtbarmachen frei bewegter und entkleideter Körperformen gerichtet ist als auf die Vermummung der Figur unter schwerem, deckenden Gewandzeug. Wenn man aber eine der schönsten Straßburger Konsolfiguren (Abb. 18) aus dem Südtransept des Münsters mit einer Figur am Trumeausockel des mittleren Westportals der Kathedrale von Sens (Abb. 19) vergleicht, so wird erkennbar: hier liegen die Ausgangspunkte für die Straßburger Konsolfiguren. Die Bewegung, das etwas Volle und Plumpe der nackten Körperglieder, die hängenden Gewandteile, das alles ist durchaus vergleichbar. Das gezeigte Figürchen aus Sens ist freilich kein Atlant. Es entstammt dem nur noch höchst unvollständig erhaltenen und daher inhaltlich kaum mehr bestimmbaren Figurenschmuck am Sockel des Türpfeilers mit der Stephansstatue. Nun darf aber nicht übersehen werden, daß gerade an der Fassade der Senser Kathedrale die Tragefigur eine besondere, trotz der Zerstörungen und Restaurierungen noch heute klar erkennbare Rolle spielte. Es gehörte nämlich offenbar zu den Besonderheiten der Senser Westfassade, daß hier der bildhauerische Schmuck in einer singulären, allenfalls später in Reims noch übertrumpften Weise auf die Obergeschosse der Fassade übergriff. Nach dem Einsturz des Südturmes im Jahre 1268, den Zerstörungen der Revolution und den Erneuerungen Robelins ab 1837 kann man sich von dieser ungewöhnlichen Tatsache freilich nur noch an Hand erhaltener Überbleibsel am Nordturm und auf Grund einiger, nicht mehr am ursprünglichen Versetzungsort 66 Jantzen, Deutsche Bildhauer, S. 45.

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verwahrter, sondern zur Zeit der Restaurierung im Erdgeschoß des Palais Synodal deponierter Fragmente Rechenschaft ablegen. So zeigt das oberste Geschoß des Nordturmes (Abb. 20, 21, 22 und 23) auf allen drei freistehenden Seiten — auf der Nord- und Ostseite durch die Restaurierungen kaum berührt — eine Gliederung durch gekoppelte, schlanke Säulen, welche auf Konsolfiguren aufruhen®7. Die Ausführung der lebhaft bewegten, auf dem Rücken von Löwen stehenden Figuren ist außerordentlich summarisch, wenn auch nicht durchweg so krude, wie bei den hier gezeigten, nur auf Grund der begrenzten Möglichkeit zu photographischen Aufnahmen ausgewählten Beispielen (s. Abb. 22, 23). Auf der Nordseite vor allem finden sich freier agierende Gestalten, teils ähnlich wie das Figürchen vom Sockel des Türpfeilers (Abb. 19) mit lose hängenden Tüchern als einziger Bekleidung, in einigen Fällen aber auch als reine Aktstatuen. So wie schon die Neigung, die wenig bekleidete oder gar völlig nackte Tragefigur als eine im freien Gliederspiel bewegte zu geben, von dem die Schwere der Tragefigur betonenden, blockhaften und klotzigen Stil der Reimser Atlanten wesenhaft verschieden ist, so auch die ihr entsprechende besondere Art des Versetzungszusammenhanges. Die Reimser Atlanten beugen sich bekanndich unter der Last des schwer und massiv gegebenen Traufgesimses der Hochschiffwand. Die frei bewegten Senser Tragefiguren hingegen sitzen charakteristischerweise unter Vorlagen, und zwar unter Vorlagen von außerordentlich schlanker Proportion. Die lebhafte Bewegtheit, die ungewöhnlich freie, das architektonische Formengerüst mehr belebende als ihm sich unterordnende Art der Versetzung und das antikische Motiv der Nacktheit sind zusammengehörige Aspekte eines bestimmten Typus und einer bestimmten stilistischen Ausprägung der Tragefigur. Wir werden später bei Behandlung der unmittelbar oder mittelbar von Sens abhängigen Bauplastik von St.-Cyr in Nevers dem gleichen Typus und derselben stilistischen Ausprägung der Tragefigur begegnen. Die Straßburger Konsolfiguren, an denen Jantzen der »überraschend freie Stil« und die »Wahl fast nackter Figuren« aufgefallen waren, gehen von diesem Sensischen Typus der in freiem Gliederspiel lebhaft agierenden und keinem strengen Versetzungszusammen67 Diese Tragefiguren werden in der älteren Literatur versdiiedentlidi erwähnt. Siehe vor allem E. Viollet-le-Duc, Diet. I, S. 102, und Abb. 18. Detaillierte Angaben in den handschriftlichen Aufzeichnungen de Guilhermys Bibl. Nat. Nouv. acqu. fr. 6109, fol. 153. Für die ins Palais Synodal verbrachten Karyatiden vgl. Montaiglon, Antiquités et curiosités de la ville de Sens, G. Β. Α., 2 e per., XXII (1880), S. 1 3 4 ! Die Höhe der im Palais abgestellten Tragefiguren beträgt 1,27/1,28 m.

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hang unterworfenen Tragefigur aus und wandeln ihn im Sinne schärfer artikulierender, Chartresisch gefärbter Formensprache ab. Wieviel aber läßt sich sonst noch über den ursprünglichen bildhauerischen Dekor der Obergeschosse der Senser Fassade in Erfahrung bringen? A m südlichen, also der Fassadenmitte zugewandten Strebepfeiler des Nordturmes ist in der Sockelzone einer der Blendarkaden ein großes figürliches Medaillon angebracht, welchem sich von links her eine in der folgenden Blendarkade versetzte, kniende Figur zuwendet (Abb. 24, 25). Das Medaillon und die kniende Figur gehen in ihrer gegenwärtigen Erscheinung offensichtlich auf die Restaurierung unter Robelin zurück. Aber handelt es sich hier um eine völlig freie Erfindimg des Restaurators? Es besteht Grund, daran zu zweifeln. Im Erdgeschoß des Palais Synodal nämlich, wo auch einige der unter Robelin ausgewechselten Tragefiguren abgestellt wurden (vgl. Abb. 23), stößt man auch auf zwei Reliefs, welche sich unschwer als die auf Geheiß Robelins ausgetauschten Originalstücke von dem Südstrebepfeiler des Nordturmes identifizieren lassen (Abb. 26 u. 27)®". Die vielfigurige, in ein Medaillon gefaßte Szene, welche unter Robelin irrtümlich als eine Monstranzaussetzung erneuert wurde, gibt sich hier als eine Darstellung der auf einer Säule erhöhten 68 Zur Restaurierung der Obergeschosse der Westfassade der Kathedrale von Sens außer der Anm. s8 angeführten Literatur zu vergleichen: M. Quantin, Le grand portail de la cathédrale de Sens, Annuaire de l'Yonne 1850, S. 3I3ÉÍ. Weiter de Guilhermy, a.a.O. fol. 143 v. Ch. Porrée, C. A. LXXIV (1907), S. 221. Die neuen Bildwerke der Obergeschosse stammen von Maindron, einem Bildhauer, welcher für den Jardin de Luxembourg die Velléda schuf. Er hatte lokale Hilfskräfte. Nach Chartraire, La cathédrale de Sens, Paris, s. d. S. 34, hat Robelin 1837 ein Restaurationsprojekt für die Fassade genehmigen lassen, das sich auch auf die beiden Türme erstreckte. Die Ausführung dieses Programms findet ihren Abschluß 1848 mit der Zerstörung des hölzernen Dachstuhls auf dem Nordturm, mit der Aufstellung der Erzbischofsstatuen von Maindron am Südturm und »des groupes, œuvre d'un artiste sénonais, Déligand«. Eine Lithographie von Bachelier, welche in der Bibl. Nat. im Cab. des Estampes (Topographie de la France, Yonne, I er arr. Sens Va 416) und ebenso im Musée Cousin in Sens zu finden ist, zeigt eine Schrägansicht der Fassade vor den Restaurierungen des 19. Jh. Hier ist eindeutig zu erkennen, daß das Medaillon und die Figur des Meldiisedech schon damals an der gleichen Stelle am Nordturm versetzt waren. Das Inventaire des Dépôt lapidaire im Palais Synodal vom 1. Januar 1936, welches der Abbé Leviste mir freundlicherweise zur Einsicht überließ, vermerkt unter Nr. 637 das Medaillon mit der Ehernen Schlange und gibt als Provenienz ausdrücklich die Tour de Plomb, d. h. also den Nordturm der Westfassade, an. Bei dem unter Nr. 377 verzeichneten Melchisedech ist die Provenienz dagegen nicht erwähnt. Der Durchmesser des Medaillons mit der Ehernen Schlange beträgt 1,26 m. Die Platte mit dem Melchisedech ist 1,09 m hoch und 0,85 m breit.

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Ehernen Schlange zu erkennen. Ein Vergleich etwa mit dem entsprechenden Medaillon des Mosesfensters im Chorumgang von St. Denis (Abb. 28) zeigt, daß wenigstens die allgemeine Anlage der Komposition: die drachenförmige Schlange auf der Säule im Zentrum und die Figurengruppen auf beiden Seiten ungefähr übereinstimmten. Über weitere Einzelheiten sich ein Urteil zu bilden, erlaubt der Erhaltungszustand des Senser Medaillons nicht mehr89. Hingegen scheint es möglich, auch das zweite Relief, das vom Südstrebepfeiler der »Tour de Plomb« der Senser Westfassade abgenommen und im Erdgeschoß des Palais Synodal deponiert wurde, zu identifizieren. Bei dieser knienden Figur, welche in der vorgestreckten linken Hand einen Kelch hält, kann es sich wohl nur um den Priesterkönig Melchisedech handeln (s. Abb. 27). Vermutlich hielt die heute verschwundene Rechte das Brot. Man vergleiche zur Ergänzung des ursprünglichen Bestandes die Melchisedechdarstellung auf dem Tragaltar von Mönchen-Gladbach (Abb. 29). An den Stirnen der Strebepfeiler der »Tour de Plomb« schließlich hat man bei der Restauration große, stehende Figuren auf Rädern angebracht. Auch hier handelt es sich nicht um freie Erfindung der Erneuerer, sondern wiederum wohl nur um eine Entstellung des ursprünglichen, ikonographischen Befundes. Die Räder nämlich haben sich im Erdgeschoß des »Palais Synodal« erhalten und scheinen zu beweisen, daß tatsächlich schon zum Programm des frühen 13. Jh. Kolossalfiguren an den Stirnen der Turmstrebepfeiler gehörten (Abb. 30). Es darf darüber hinaus vermutet werden, daß mindestens die Figur am südlichen Strebepfeiler des Nordturmes wohl einen Cherub darstellte70. Aus diesen bescheidenen Resten läßt sich für das ursprünglich an den Obergeschossen der Senser Westfassade ausgebreitete Programm um so weniger erschließen, als es sich um eine durchaus singuläre Disposition zu handeln scheint. Zudem wurde der Urzustand im Zentrum der Fassade und am Südturm ja bereits 1268 zerstört. Die Erneuerungen des späten 13. Jh. aber sind nicht nur ihrerseits untergegangen, wir haben auch keine Gewähr, daß sie getreu dem älteren Programm folgten. Vermutlich entsprachen den typologi69 Uber die Darstellung der Ehernen Schlange s. U. Diehl, Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte IV, Spalte 817ÎÏ. Das Senser Relief gehört zu dem von Diehl herausgearbeiteten Kathedraltypus, welcher den Drachen auf der Säule zeigt. Über das Medaillon in St. Denis vgl. L. Grodecki, Les vitraux allégoriques de St. Denis, Art de France I (1961), S. 19ÎÏ. 70 Das abgebildete Fragment hat keine Inventarnummer. Es ist 1,20 m hoch. Auch das in der Einzelform etwas abweichende Rad, das jetzt unter der Figur am Nordstrebepfeiler der »Tour de Plomb« kopiert ist, hat sidi im Palais Synodal erhalten.

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sehen Darstellungen a m Strebepfeiler der »Tour de Plomb « ebensolche an der »Tour de Pierre«, u n d es ist weiter anzunehmen, daß auch die Cherubfigur an der Strebepfeilerstirn am N o r d t u r m sich auf der Südseite wiederholte. Das ganze Programm muß auf eine Hauptdarstellung in der M i t t e unter dem Fassadengiebel sich bezogen haben. Ihr müssen ebenso die Cherubim flankierend zugeordnet gewesen sein, wie sie den Antitypus zu den Darstellungen der Ehernen Schlange u n d des Melchisedech gebildet haben muß. Bei der Erneuerung nach r268 wurde hier ein figürliches Ensemble angebracht, von dem wir, seit es seinerseits r 7 3 r einer U h r weichen mußte, nicht mehr wissen, als es habe »La majesté divine accompagnée d'anges en adoration« dargestellt 71 . Ob diese damit n u r g a n z allgemein bezeichnete Darstellung die Ikonographie des Urzustandes v o n 1 2 2 0 / 3 0 spiegelte, bleibt freilich durchaus offen. Immerhin ist zu bedenken, daß an den Westportalen unten das zentrale T h e m a des Gerichtes von A n f a n g an gefehlt z u haben scheint, und so wird m a n nicht ausschließen, daß unter dem Fassadengiebel schon u m 1220/30 eine M a j estas oder doch ein thronender Christus erschien, flankiert v o n typologischen Darstellungen und Cherubim 7 2 . Für den besonderen Gesichtspunkt unserer Untersuchung aber ist bedeutsam, daß w i r gerade in Sens auf eine so 71 Vgl. darüber Tarbé, a.a.O., S. 97. Audi M. Quantin, Notice historique sur la cathédrale de Sens, Auxerre 1843, S. 6. 72 Zwar meint Chartraire, La cathédrale de Sens, S. 68: »le tympan primitif, brisé sans doute en 1268, a été remplacé vers la fin du XIIIe siècle. On suppose qu'il représentait le Christ du jugement demier«, aber diese Auffassung ersdieint als äußerst unwahrscheinlich. Richtig ist zwar, daß das Senser Mittelportal mit den Gerichtsportalen von St. Denis/West, Paris, Amiens und später Auxerre, die Anordnung der Klugen und Törichten Jungfrauen an den Türpfosten gemeinsam hat. Es fehlt jedodi jegliche Andeutimg der Gerichtsikonographie in den Archivolten. Die Gerichtsportale seit St. Denis West haben aber alle das Weltgerichtsbild — besonders die Höllen- und Paradiesdarstellung, gelegentlich auch die Auferstehenden — in die Archivolten hinein ausgedehnt. In Sens ist davon, wie gesagt, keine Rede. Das erhaltene Ardiivoltenprogramm mit den Tugenden und den thronenden Märtyrern läßt ebenso wie die Trumeaufigur fast mit Sicherheit darauf schließen, daß schon das ursprünglidie Bogenfeld genau wie jenes des späten 13. Jh. ein Stephansmartyrium und eben kein Gerichtsbild enthielt. Wichtig ist in diesem Zusammenhang das mit Sens ja auch stilistisch zusammenhängende nördlidie Querhausportal der Kathedrale in Meaux mit einem Stephansmartyrium im Türsturz. Die Klugen und Töriditen Jungfrauen, obwohl sie gewiß mit der Geriditsvorstellung aufs engste zusammenhängen, können dodi auch wieder ganz allgemein auf die Bedeutung des Portals bezogen werden. Die Rolle des Geriditsduistus hätte dann im Senser Programm jene Figur oben am Giebel übernommen, deren hochgotísche Wiederholung man im 18. Jh. als »majesté divine« beschrieben hat. Ober die gotischen Gerichtsportale und ihre Ikonographie bereitet V. eine eigene Abhandlung vor.

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eigenwillige, dem architektonischen Gliedergerüst sich nur locker verbindende Weise der Versetzung eines bauplastischen Zyklus stoßen. Wir werden immer wieder in der hier verfolgten bildhauerischen Strömung Zyklen begegnen, welche sich strenger tektonischer Einfügung entziehen. Auf die initiierende Rolle, welche dabei das Senser Atelier anscheinend gespielt hat, wird zurückzukommen sein. Im Augenblick müssen wir nochmals die Vergleiche zwischen einzelnen Bildwerken in Sens und in Straßburg aufnehmen, um dieses grundlegende Thema unserer Untersuchung noch etwas breiter auszuführen. Wir hatten eine Straßburger Konsolfigur (Abb. 18) mit einem Stehenden am Senser Trumeau (Abb. 19) verglichen wegen der ähnlichen Bewegtheit, wegen des hier und dort begegnenden Motivs der fast nackten Figur, ja, auch wegen einer bei aller Verschiedenheit der Einzeldurchführung doch grundsätzlich verwandten, ins Plumpe gehenden Körperbildung. Man kann ähnliche Beobachtungen noch an anderen Beispielen aus Sens und Straßburg machen. Vergleicht man etwa den knienden Zacharias aus den Archivolten des linken Seitenportals in Sens (Abb. 31) mit dem Thomas aus dem Tympanon der gleichnamigen Kirche in Straßburg (Abb. 32,), so ist auch hier nicht nur die komplizierte und variationsreiche Bewegtheit der Figuren nahezu übereinstimmend, sondern auch das Durchscheinen fülliger Körper unter dem Tuche der Gewandung. Charakteristisch hierfür ist, daß der Leib nicht von einem engmaschigen Netz von Falten völlig übersponnen wird, wie das etwa für die Figuren an den beiden Hauptportalen des Querhauses in Chartres so überaus bezeichnend ist, sondern daß die Stoffe sich an manchen Stellen glatt und faltenlos den gerundeten Gliedern anschmiegen. Zwei sehr fragmentarisch erhaltene Stücke in Sens und in Straßburg können gerade diese Eigentümlichkeit und Gemeinsamkeit noch weiterhin veranschaulichen. Im Frauenhaus zu Straßburg befindet sich der Torso einer stehenden Figur aus dem Münster. Ihre ursprüngliche Bestimmung ist unbekannt, der Torso ist zeitweise im Münster als Piscine verwendet worden. Stilistisch aber gehört dieser Torso ganz ohne Zweifel mit den übrigen Querhausskulpturen zusammen (Abb. 33)73. In Sens hat sich im Erdgeschoß des Palais Synodal ein Fragment erhalten, das mutmaßlich von einer der zerstörten Gewändefiguren der 73 Schmitt, Münsterskulpturen 36b. Schmitt denkt offenbar an eine eigenhändige Arbeit des Ekklesiameisters. V. Beyer, La sculpture medievale, Nr. 72.

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Westportale stammen dürfte (Abb. 34). Hier wie dort umfließt das Gewand wie ein leise bewegter Schleier die Glieder des Leibes, laufen seine Linien sachte und unregelmäßig aus, schließen sich nicht zu einem festen ornamentalen System zusammen. Auch wenn man sich hüten wird aus dem Vergleiche solcher Bruchstücke allzu weitreichende Schlüsse zu ziehen, so bleibt doch die Verwandtschaft, die Zugehörigkeit zu einem Stilkreis erkennbar. An den Straßburger Figuren sind ja eben diese Züge immer wieder mit Bewunderung besonders hervorgehoben worden. »Die zarte Behandlung der Gewänder, die wie ein Schleier die schlanken Formen umkleiden«, rühmte schon Vöge, und sah gerade darin einen entscheidenden Unterschied zu den am Chartreser Querhaus auftretenden Hauptrichtungen74. Vöge hatte bei seinen Worten den Marientod im Auge, aber seine Feststellung gilt auch für die großen Figuren von Ekklesia und Synagoge. Vergleicht man nun aber diese Figuren (s. Abb. 7,9 und 38) mit dem wunderbaren Sockelrelief mit der Darstellung der Largitas am Senser Johannesportal (Abb. 37), so treten gerade in der Wiedergabe eines leichten, den Körper zart überfließenden Gewandzeugs erstaunliche Verwandschaften zutage. Man sehe wie die Gewandung leicht und durchscheinend um die eng gegürtete Taille liegt, wie etwa bei der Ekklesia und der Largitas unter dem Gürtel die Wölbung des Leibes in leiser Rundung hervortritt oder wie bei Synagoge und Largitas Gewandfalten die Oberarme zart umspielen. Sagt man zuviel mit der weiteren Behauptung, daß in der triumphalen Haltung, den schlanken und stolz aufgerichteten Formen der Senser Largitas — ähnlich wie in der Pose der Abb. 6 und 8 wiedergegebenen Virtusstatuette — etwas vom Adel und der Grazie der Straßburger Statuen vorweggenommen scheint? Freilich wird man dann einschränkend hinzufügen, daß das Sensische nur durch Chartres verwandelt — in Chartres formal wie inhaltlich geschärft — der Ausgangspunkt für Straßburg gewesen ist. Die einzige große Statue, welche uns in Sens erhalten geblieben ist, eignet sich wenig für Vergleiche mit Straßburg. Wir meinen den Stephan vom Trumeau des Mittelportals (Abb. 41), welcher eben als Trumeaufigur besonderen Bedingungen unterliegt, indem der Versetzungszusammenhang hier auf die ruhige, feierliche Ausbreitung der Formen lenkt. Vielleicht aber mag nach den anderen hier angeführten Vergleichen eine Gegenüberstellung mit einer der Engelsfiguren vom Straßburger Weltgerichtspfeiler nicht als ein bloßes eitles 74 Vöge, Uber die Bamberger Domskulpturen jetzt Bildhauer, S. 144.

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Spiel erscheinen (Abb. 42). Etwas Verwandtes scheint nämlich doch in der Art zu liegen, wie das Gewand in leiser Schwingung mit glattem, durch lange Faltenzüge angedeutetem Fall über den Leib gleitet. Man wird freilich auf solchem Vergleiche nicht allzu sehr bestehen wollen. Was Zeitstil und was spezifische Ähnlichkeit ist, wird man hier reinlich kaum zu unterscheiden vermögen. Immerhin gegenüber den Chartreser Hauptrichtungen — den Bildhauern, welche an den Mittelportalen des Chartreser Transepts tätig waren und gar gegenüber den modernsten Ateliers des frühen 13. Jh., den Parisern — treten die beiden Statuen dami doch als aus einer Stilströmung hervorgegangene, durch eine verwandte Formbehandlung verbundene Werke zusammen. Für eine solche engere Verbindung scheint auch der Vergleich von Köpfen, einmal des Senser Stephan, zum anderen des Straßburger Engels mit der Dornenkrone (Abb. 39 u. 40) zu sprechen. Die Ähnlichkeiten im Umriß des leise gesenkten Hauptes liegen auf der Hand. Es gibt mancherlei verwandte Einzelheiten sogar: das kleine und fliehende Kinn, die Art, wie der Rücken der Nase völlig glatt aus der Stirn hervorgeht und daraus resultierend der wenig ausgesprochene akzentlose Charakter des Physiognomischen. In Sens freilich ist die Vortragsweise weicher, blütenhafter, in Straßburg die Einzelform spröder und — wie etwa die Umrißlinie des Auges zeigt — geradliniger, herber. Die hochgotische Formenverschärfung spielt hier, wie immer in Straßburg, mit herein. Noch ein Vergleich zwischen einem Senser und einem Straßburger Kopfe mag hier wenigstens angedeutet sein. Im Palais Synodal hat sich ein bärtiger Kopf erhalten, von welchem schon Vöge annahm, daß er von einer der Statuen des Senser Mittelportals stammen möchte (Abb. 3 5 Jτβ. Ihn mag man mit einem jener Köpfe aus dem Straßburger Frauenhaus vergleichen, welche von den Gewändeaposteln der Südportale stammen (Abb. 36)76. Sind auch die Behandlung des Haares, Form und Stellung der Augen, der Bau der Stirn sehr verschieden, so tritt doch auch eine Verwandtschaft sogleich sehr deutlich hervor. Sie liegt in der Art wie von der Mitte des Antlitzes aus alle Formen, die Augen, der Mund, die Wangen nach den Seiten hin absinken. Stimmungsmäßig teilt das den Köpfen einen unverwechselbaren, melancholischen Zug mit. In Sens verbindet er sich mit einer milden Schönheitlichkeit, in Straßburg aber mit einem 75 Vöge, Bahnbredier, jetzt Bildhauer S. 72., Anm. 34. 76 Schmitt, Münsterskulpturen 13 a, V. Beyer, La sculpture Nr. 65.

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schmerzlichen Pathos, das in die schärferen, expressiveren Formen gelegt ist. Aber es sind ähnliche Grundformen, welche hier und dort zu einem Reichtum des seelischen Ausdrucks führen wie ihn die großen Werke der »BaumeisterBildhauer« an den Hauptportalen in Chartres, in Paris und Amiens nie erkennen lassen77. Auch in diesem Falle wurzelt die Straßburger Bildhauerkunst ersichtlich in der Frühgotik von Sens, ihrem den anderen Hauptateliers der französischen Hüttenplastik gegenüber freieren Wesen. Wir hoffen mit diesen Vergleichen gezeigt zu haben, daß die Frage nach der Sonderstellung der Straßburger Bildhauerkunst in der Zeit gegen 1230 vor allem historisch beantwortet werden muß. Straßburg ist eine — und sicher die bedeutendste — der Endstationen einer Kunstströmung, welche sich bereits vor 1200, vor dem Anbrach der Hochgotik formiert hatte. Dabei führen anscheinend alle erkennbaren Voraussetzungen zurück auf das Senser Atelier mit seiner Aufnahme und Umdeutung älterer Bewegungsformeln und Motive, von denen einzelne in ihrer Entstehung noch vor die Schwelle der Gotik zurückreichen. Und doch befinden wir uns mit diesen ersten Beobachtungen noch weit entfernt von einer Beantwortung aller hier zu stellenden Fragen. Alle diese Vergleiche zwischen Sens und Straßburg waren ja als extreme Vergleiche zu verstehen, welche Anfang und Endpunkt einer, wie wir zu zeigen hoffen, weit verzweigten, künstlerischen Strömung miteinander in Zusammenhang brachten. Die Beobachtungen, welche Franck-Oberaspach, Vöge, Beenken und Bauch in Chartres gemacht haben, die Feststellungen, welche Kautzsch, Panofsky und Schürenberg in Burgund gelangen, sind durch den Hinweis auf Sens nicht einfach hinfällig geworden. Es muß also nach den Zwischengliedern gefragt werden, die eine Wanderung des Stils von Sens nach Straßburg überhaupt erst verstehbar machen können. Es müssen aber auch jene Parallelen zu Straßburg untersucht werden, welche auf den Reichtum an Straßburg verwandten Motiven weisen, wie sie in dieser Kunstströmung offenbar weiter als man bisher annahm, verbreitet waren. Die erste Frage, die sich dabei stellt, ist jene nach den Beziehungen zwischen Sens und Chartres. Sie führt uns auf ein einst von Vöge begangenes Feld, denn im Zentrum dieser Probleme steht der von Vöge entdeckte und gefeierte »Meister der Königsköpfe«.

77 Für die Bezeichnung »Baumeister-Bildhauer« vgl. Vöge, Bahnbrecher, jetzt Bildhauer S. 67.

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m SENS UND CHARTRES. DIE HERKUNFT DES MEISTERS DER KÖNIGSKÖPFE Es gehört zu den wichtigsten Verdiensten Wilhelm Vöges, die großen Wendepunkte in der Geschichte der Kathedralskulptur Frankreichs als die Taten von schöpferischen Individuen dargestellt zu haben. Vöge hat so bestimmte Stredcen der mittelalterlichen Kunstgeschichte dem Dunkel der künstlerischen Anonymität entrissen. Bedeutende Bildhauer wie der »Chartreser Hauptmeister« oder der »Reimser Josephsmeister« sind erst durch sein Ingenium zu einem neuen Leben als ausgeprägte Gestalten und Heroen der französischen Kunstgeschichte des 12. und 13. Jh. erweckt worden. Unter den Bildhauern am Chartreser Querhaus aber hat er im »Meister der Königsköpfe« denjenigen aufgespürt, der an Reichtum der bildschaffenden, erzählerischen Phantasie, an Seele und Gemüt alle anderen übertraf. Er hat ihn in seinem Aufsatz »Die Bahnbrecher des Naturstudiums um 1200«, mit Jantzen zu reden, »als einen Donatello des 13. Jh. analysiert«78. So scharfsichtig nun dabei die spezifischen künstlerischen Charakterzüge eines eigenwilligen Bildhauers erfaßt wurden, so sehr das Differenzierte, das zugleich Zarte und Leidenschaftliche, auch das Wirklichkeitszugewandte dieses Meisters zu Recht Erwähnimg fanden, so blieb doch andererseits der geschichtliche Ort dieser Kunst bei Vöge im Dunkel. Manche der Vöge'schen Wendungen lassen vermuten, daß er im Königskopfmeister auch im historischen Sinne vor allem und im Grunde ausschließlich den »Bahnbrecher« zu sehen nicht abgeneigt war. Was jedenfalls auf keine Weise zur Sprache kommt, ist der Umstand, daß gerade das Charakteristische, Singuläre — und in gewisser Weise auch Neue — dieser Bildhauerkunst, ihre formale Bewegtheit, ihre inhaltliche Dramatik von Voraussetzungen ausgehen, die im Sinne der Zeit um 1215 als altertümlich, als bereits von moderneren, zukunftsträchtigeren Strömungen überholt gelten müssen. So scheint uns die geschichtliche Position des Königskopfmeisters gerade umge78 Jantzen, Kunst der Gotik, S. 118. 34

kehrt zu liegen als Vöges Wort vom »Bahnbrecher« zunächst vermuten läßt. Machen wir uns diesen Sachverhalt an einem einzigen Beispiel klar, bevor wir in die spezielle, kunstgeschichtliche Erörterung der Frage nach der Herkunft des Königskopfmeisters eintreten. Unter den Gewändestatuen hat der Salomo (Abb. 43) Vöge besonders gefesselt. Er war ihm Beweis, daß den Meister auch das »Problem des statuarischen Gleichgewichts« beschäftigte und in der Tat wird man kaum leugnen können, daß die Salomo-Statue, wie Vöge sagt, »in der Festigkeit und Freiheit des Standmotivs über alles Zeitgenössische hinausgeht« und auch die treffliche Beobachtung: »das Problem des Kontrapostes ist angedeutet. . . Eine Ausladung der Hüfte über dem stärker belasteten linken Fuße ist versucht, obschon mehr mit Hilfe der Falten bedeutet als wirklich gegeben« wird man nur unterstreichen wollen79. Aber als Ergänzung zu Vöges Beobachtungen ist es dann wichtig zu erkennen, daß der Aufbau dieser Figur, die enorme Uberlängung ihrer unteren Leibeshälfte und mehr noch die an eine Wespentaille erinnernde Einschnürung ihrer Hüfte, ja auch der höchst willkürliche Fall des Gewandes außerhalb des Naturstudiums liegende, stilgeschichtliche Voraussetzungen in der Kunst des 12. Jh. haben. Stellt man nämlich dem Salomo eine »Törichte Jungfrau« vom Türpfosten des Mittelportals in Sens gegenüber (Abb. 44), so wird sichtbar, daß gerade spezifische und, wie wir sagen würden, weniger natürliche als einer bestimmten Manier folgende Züge der Chartreser Statue: die willkürliche Einschnürung der Hüfte, die Schwellung einzelner Körperpartien, ja anscheined auch die von Vöge hervorgehobene Biegung der Ellbogen- und Handgelenke hier ein unmittelbares Vorbild hatten. Und die Senser Bildwerke bieten Gelegenheit, diesen Vergleich noch breiter auszuführen. Sowohl die Virtusstatuette (Abb. 6 und 8) wie das Largitasrelief (Abb. 37) lassen sich mit Gewinn neben den Chartreser Salomo stellen. Doch möchten wir in diesen zunächst nur auf das Grundsätzliche gerichteten Betrachtungen sogleich noch einen Schritt weiter gehen und an einem beliebigen Beispiel aus dem Bereich der romanischen Skulptur, in diesem Fall einer Archivoltenfigur aus Argenton-Chäteau (Abb. 45) darlegen, daß ein solcher Kanon der Figurenbildung eine noch weiter zurückreichende Vorgeschichte hat. Denn es ist ja augenscheinlich, daß die romanische Figur von Argenton-Chäteau bei völlig verschiedener Stilbildung im Einzelnen doch 79 Vöge, Bahnbrecher, jetzt Bildhauer S. 84,

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in der überlängten Proportionierung und der artiflziellen Einschnürung der Hüfte bereits mit denselben Formeln arbeitet, welche noch der »Königskopfmeister« anwendet. Man wird also sagen dürfen, daß eine Statue wie der Chartreser Salomo zu verstehen ist als eine sich der Natur annäherende und, was das Standmotiv angeht, gewissermaßen auf die Erde geholte Umdeutung höchst altertümlicher Stilisierungsformeln. Und eben in diesem Umstände, in der Uminterpretation bewegter und ausdrucksreicher Motive, die letzten Endes der romanischen Kunst entstammen, liegt auch schon der Ansatz zu jener größeren Freiheit, Vielfalt und Dramatik, welche den Königskopfmeister vor den strengen »gotischeren« Hauptrichtungen der Chartreser Bildhauerkunst auszeichnet. Darin liegt auch das Geheimnis seiner, wie gerade die Salomo-Statue sehr schön zeigt, in feinstem Sinne künstlichen Natürlichkeit. Vermittelt aber wurden diese altertümlicheren und zugleich freieren Formen dem Königskopfmeister durch das Senser Atelier. Es spricht alles dafür, daß der Königskopfmeister selbst, ebenso wie andere, ihm im Stil verwandte Bildhauer, gegen 1 2 1 5 von Sens aus nach Chartres zugewandert ist. Für diese Annahme läßt sich eine Fülle von anschaulichen Belegen ins Feld führen. Die vom Königskopfmeister verwendete Tympanon- und Archivoltenkomposition knüpfte an das Senser Johannesportal an. Auffallend ist ja am Chartreser Salomoportal, daß die Archivolten mit Figurengruppen und zwar mit reich bewegten Figurengruppen gefüllt sind (Abb. 46). Dem hierarchisch stufenden Aufbau des hodigotischen Portals, an dem lange Reihen feierlich und unbewegt thronender Assistenzfiguren das Tympanon umkränzen, widerspricht ein solches Anordnungsschema zutiefst. A m Senser Johannesportal aber (Abb. 47) war es unmittelbar vorgebildet: der dreifache Kranz der Archivolten, der gefüllt ist mit gedrängten, lebhaft agierenden Gruppen betont gerundeter Figürchen. Sogar im Aufbau der einzelnen Gruppen, in der Einfügung mehrerer stehender, sitzender und kniender Figuren in die Nische der Archivoltenwandung scheint noch eine direkte Verbindung erkennbar zu sein. Auch in derTympanonkomposition wie sie am Salomoportal, vor allem aber andern stilistisch verwandten, östlichen Südportal, dem Bekennerportal (Abb. 48) erscheint, tritt der gleiche Zusammenhang hervor. Charakteristisch ist, daß über mehrflgurigen, erzählenden Gruppen im Scheitel des Bogenfeldes die Büste Christi umgeben von zwei Engelsbüsten erscheint. Dieses sehr ungewöhnliche Kompositionsschema aber ist wiederum am Senser Johannesportal (Abb. 49) vorgebildet. Auch hier bringen die Chartreser Portale nur eine — allerdings

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weitgehende — Umdeutung auf Straffheit und Konzentration hin, wandeln das ältere Schema hochgotisch ab. Jene Archivolten sind der Schauplatz für die großartige, erzählerische Kunst des Königskopfmeisters. Auch diese erzählerische Kunst aber gewinnt ihre von Leidenschaft erfüllte Sprache durch eine nun freilich wahrhaft geniale Umbildung eines im Grunde altertümlichen Stiles. Der erblindende Tobit (Abb. 50) wandelt Motive eines lesenden Philosophen in Sens (Abb. 51) ab. Aber, was in Sens nur schüttere, gelöste Form im Sinne allgemeiner, nicht an besondere Inhalte gebundener Stilisierung war, das ist in Chartres umgedeutet in eine spezifische Aussage über das mimosenhaft Tastende, Erzitternde des Blinden. Der Königskopfmeister hat die vielfältig bewegten Formen der Kunst des späten 12. Jh., wie er sie im Atelier von Sens kennenlernte, einem neuen Wirklichkeitsbezug unterworfen. Auf diesem Wege gewann er den Reichtum und die Differenziertheit seiner Erzählkunst, welche die biblischen Vorgänge auf eine von der Bildhauerkunst der Kathedralen nirgends sonst erreichte Weise sowohl menschlich ergreifend wie in ihrer ganzen heilsgeschichtlichen Sinntiefe und Geheimnishaftigkeit darzustellen vermag80. Ein anderer Senser Philosoph (Abb. 52) wurde unter seinen Händen zum Bilde des über das hereingebrochene Unglück sinnenden Tobit (Abb. 53). Der Vortrag wird dabei konzentrierter: die Stellung eines Beines oder die Neigung des Hauptes, die Gesten der Hände gewinnen an Schwere und Sinnfälligkeit. Das ornamentale Formenspiel der Frühgotik ist verwandelt in ein unser Gemüt bewegendes Bild der Betrübnis und Umnachtung. Der Königskopfmeister liebte die kraftvolle Figur mit reich verschränkten Gliedmaßen. Als "imbued with inner life, because of their energy-filled yet controlled attitudes, their swelling forms and the deliberate differentiation of body volumes" hat Adolf Katzenellenbogen seine Figuren beschrieben81. Zeugnis davon legen die Figuren der Zuhörer beim Salomonischen Urteil im Tür80 Vgl. die nicht nur für das ikonographiscbe Programm wichtigen, sondern a u d i für die besondere — gleichzeitig dramatische und verhaltene — Erzählweise des Königskopfmeisters bedeutsamen Resultate Katzenellenbogens, T h e sculptural programs, S. 6γ&. Die verschiedenen, alttestamentarischen Zyklen dieses Portals, so zeigt Katzenellenbogen " m e a n to prove typologically the truth about Christ and his body, the Church, w h o was to endure hardships but will achieve victory in the end" (S. 73). Die Blindheit des Tobias, wie Katzenellenbogen ausführt, nach Beda, In librum beati patris Tobiae allegorica interpretatio P. L. X C I , Col. 926 typologisch zu beziehen auf die Blindheit des Volkes Israel vor der A n k u n f t des Messias (S. 72 und S. r 3 3 , A n m . 89). 81 A . Katzenellenbogen, T h e sculptural programs, S. 94.

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Sturz des Portales ab (Abb. 55). Unmittelbar Verwandtes aber findet sich wiederum am Senser Mittelportal (Abb. 56) in einer ikonographisch noch nicht bestimmten Figur in der Sockelzone des linken Gewändes. Nun reicht aber dieser Typus der Figur mit kompliziert verschränkten Gliedmaßen geschichtlich noch weiter zurück und Sens trägt ihn bereits in einer abgemilderten, der anfänglichen Heftigkeit entbehrenden Formulierung vor. Das Senser Atelier formierte sich, wie zuerst Jean Bony gezeigt hat, aus Bildhauern, welche von Mantes her kamen82. Dort finden wir in den herrlichen Archivoltenfiguren des Mittelportals die gleichen Motive mit einer ungestümen, ornamentalen Heftigkeit vorgetragen, einer Heftigkeit, die, verdichtet und kristallisiert auf eine spezifische, inhaltliche Aussage hin, zuweilen im Oeuvre des Königskopfmeisters wieder hervorbricht. Eine Figur (Abb. 54) aus jener äußersten Archivolte des Mittelportals in Mantes, welche nach Mâles überzeugendem Vorschlag einen Zodiakuszyklus allerdings eigenartiger Prägung bringt, steht den Zuhörern des Salomo-Urteiles vielleicht näher noch als die Figur vom Sockel in Sens83. Es ist das eng gedrängte Sitzen mit verschränkten Beinen unter sich spannenden Gewändern, was wir hier wie dort beobachten. In Mantes ist es im Sinne einer vorherrschend ornamentalen Formenauffassung gegeben und daher auch fast unterschiedslos auf alle Archivoltenfiguren anwendbar. In Chartres aber wird es nicht nur mit einer ganz anderen, weit natürlicheren Behandlung des Gewandes verknüpft, sondern vor allem auch inhaltlich auf die einmalige dramatische Situation, den Ausdruck staunender Furcht vor dem von Gottesweisheit erfüllten Könige bezogen. Solche sitzenden Figuren mit gespannt verschränkten Gliedmaßen finden sich wiederholt auch in den Archivolten des Bekennerportals in Chartres. Schon Vöge war an diesen Archivoltenfiguren der Zusammenhang mit dem Oeuvre des Königskopfmeisters aufgefallen und er hatte höchst anschaulich von »ein paar wahrhaft eisernen Königsköpfen« in diesen Bogenläufen gesprochen84. Dort jedenfalls gibt es einen thronenden König (Abb. 57), welcher nahezu wörtlich der vorhin gezeigten Figur am Sockel des Mittelportals in Sens (Abb. 56) entspricht. 82 Vgl. oben Anm. 62. Die Zusammenhänge Mantes/Sens übrigens vorher schon angedeutet durch die Abb. 32/33 bei R. Hamann-MacLean, Antikenstudium in der Kunst des Mittelalters, Marburger Jb. f. Kw. 13,1949/50, S. I57Ö. 83 E. Mâle, Le Portail de Senlis et son influence in: Art et artistes du Moyen Age, Paris 1928, S. 209ff. bes. S. 2 i 6 £ 84 Vöge, Bahnbrecher, jetzt Bildhauer, S. 89, Anm. 67.

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Von Sens kann man dann wieder zurücklenken auf Mantes, wo wir wiederum von einer Figur derZodiakusarchivolte (Abb. 58) solche bewegliche, von expressiver Unruhe erfüllte Sitzhaltung mit einer besonderen Verve vorgetragen sehen. Vöge hat eine eigenhändige Mitarbeit des Königskopfmeisters am Bekennerportal nicht annehmen wollen und damit sicher richtig erkannt, daß hier zwar eine engste Stilverwandtschaft zu erkennen ist, der erzählerische Tiefsinn der Tobiasgeschichte oder die verhaltene Dramatik des Salomo-Urteils jedoch nicht begegnen. Vielleicht ist gerade deswegen an einzelnen Archivoltenfiguren des Bekennerportales der Zusammenhang mit Sens besonders deutlich, bis in die Einzelmotive hinein besonders genau zu fassen. Es fehlt hier jene letzte genialische Freiheit des Umdeutens, der Verwandlung, wie sie für die Tobiasgeschichte oder das Salomo-Urteil charakteristisch sind. Jener König aus den Archivolten des Bekennerportals (Abb. 57) und der Sitzende vom Senser Sockel (Abb. 56), sie könnten von einer Hand sein. Sobald man in den engsten Kreis des Königskopfmeisters zurückkehrt, stellen sich die gleichen Zusammenhänge komplizierter dar, steht man einer bewußteren und ungleich differenzierteren Uminterpretation der übernommenen Formvokabeln gegenüber. Auch der Salomo aus der Urteilsszene im Türsturz des Salomo-Portals (Abb. 59) ist, wie eine Figur aus der Wurzel Jesse in Mantes belegen kann (Abb. 60), von jenem altertümlichen, ornamental bewegten und ornamental verschlungenen Typus der Sitzfigur aus entwickelt. DerKönigskopfmeister aber kristallisiert alle übernommenen, in einem allgemeinen und ornamentalen Sinne expressiven Formeln, wie Schlag gelegentlich zutreffend bemerkt hat, um einen »Handlungskern«8®. Man mag sogar sagen, daß er eben in solcher Verdichtung, Kristallisation vorgefundener und ihrer Erfindung nach Jahrzehnte zurückreichender Darstellungsmittel auf einen im psychischen wie im physischen Sinn natürlichen Darstellungszusammenhang als ein in der französischen Hüttenplastik des frühen 13. Jh. schlechterdings unvergleichlicher Künstler sich erweist. Während die Meister der Chartreser Hauptportale, während der höchst bedeutende Meister des Pariser Marienkrönungsportales und die ihm folgenden, unter Robert de Luzarches wirkenden Amienser sich anschickten, alle Einzelheiten, jeden Faltenzug und jede Geste im Sinne der großen, geschlossenen Portalsysteme zu egalisieren und zu schematisieren, die Vielfalt, das Feuer, das 85 Schlag, op. cit. S. 133. 39

stürmisdie Pathos, wie sie die Bauplastik noch der frühgotischen Periode gezeigt hatte, zugunsten einer vor allem durch ihre Gemessenheit charakterisierten Einförmigkeit zu beseitigen, tritt hier ein Bildhauer auf, welcher gerade aus der Tiefe, dem Reichtum, der Farbigkeit der voraufgehenden Epoche schöpft. Von dem Feuer, welches der Königskopfmeister bewegter Form mitzuteilen weiß, hat Vöge mit Eindringlichkeit gesprochen. Er hat auch darin, wenn wir ihn recht verstehen, vor allem eine bahnbrechende Tat des Meisters gesehen. Es scheint aber, daß gerade das »Leidenschaftliche« an dieser Kunst, ihre Erregung und ihr Ungestüm das anverwandelte Erbe einer glutvolleren Vergangenheit und nicht so sehr die völlig neue Errungenschaft des beginnenden 13. Jh. sind. Das Komplizierte und das Heftige der Salomofigur (Abb. 59), das Ineinandergekrümmte der dann jäh nach vorn ausbrechenden Glieder, das alles entstammt dem altertümlichen, ornamental bewegten Kurvenstil von Mantes (Abb. 60). Das Expressive, Leidenschaftliche der Form ist gerade das vom frühen 13. Jh. her gesehen bereits Uberholte, Vergangene. Neu, unerhört und in der Tat bahnbrechend ist die Umdeutung dieser Formenerregung auf jeweils besondere, jeweils mit einem einmaligen menschlichen Gehalte, einer spezifischen Gestimmtheit erfüllte Vorgänge. Eine Figur aus der Wurzel Jesse in Mantes (Abb. 61) ist im ganzen stürmisch aufrauschende Form. Der Königskopfmeister greift dieses Vorbild auf, gestaltet daraus die geheimnisvoll und zart bewegte Szene wie König Ahasvérus Esther erwählt und krönt (Abb. 62). Eine andere Figur aus jener Wurzel Jesse in Mantes (Abb. 63), die — ähnlich wie vorher schon die Figurenfolge des gleichen Themas in Senlis — die Ahnen nicht feierlich thronend, sondern durchweg ekstatisch bewegt gibt, zerrt in einer zwischen Sitzen und Tanzen schwankenden Haltung das Tuch des Gewandes um den gerundeten Leib. Auch hier ist vor allem die Heftigkeit der kurvenden, schraubenden Bewegung das Charakteristische. Greift der Königskopfmeister nach einem solchen Motiv (Abb. 64), so wird solche Bewegtheit in einer ganz bestimmten Haltung, einem ganz bestimmten Augenblick, ja einem ganz bestimmten menschlichen und heilsgeschichtlichen Bedeutungszusammenhang angehalten, gesammelt. Es entsteht ein unmittelbar ergreifendes, von einem ganz neuen Wirklichkeitsgehalt erfülltes Bild der in ihrer Kammer sich mit einem Sack bekleidenden, sich Asche aufs Haupt streuenden und zum Herrn schreienden Judith. Vielleicht noch erstaunlicher erscheint diese Möglichkeit, das bewegte Formenvokabular der Frühgotik mit einem neuen Sinngehalt zu erfüllen, zum Medium der Darstellung menschlicher Leidenschaften 40

und Empfindungen zu erheben, wenn man eine weitere Figur aus der Wurzel Jesse in Mantes (Abb. 65) heranzieht und erkennt, wie aus einem durch das Gewand und das gesenkte Haupt sich hinziehenden freien Kurvenspiel unter der Hand des genialen Chartreser Meisters der Ausdruck des Aufbegehrens und des verzweifelten UberredungsVersuches geworden ist: Hiobs Weib, welche den vom Aussatz Geschlagenen auffordert, von Gott abzulassen (Abb 66). Die Beweglichkeit, Lebhaftigkeit der frühgotischen Skulptur von Mantes spiegelt sich auch noch in den vom Königskopfmeister geschaffenen Köpfen, wogegen sonst am Chartreser Querhaus und zumal an den beiden Mitteleingängen eine Beruhigung und leise Schematisierung, ja Verödung des Physiognomischen zu bemerken ist. Von den Köpfen der Figuren des Manter Mittelportals ist uns allerdings nur Weniges erhalten. Das Haupt des Moses (Abb. 67), der einst als Gewändestatue am Mitteleingang zu sehen war, ist charakterisiert durch eine reiche Bewegtheit der Gesichtsoberflächen, der spielenden Locken des Bartes, durch eine flammende Erscheinung des ganzen Antlitzes. Nicht zu übersehen ist auch der höchst eigentümliche, aus mehreren, über das Haar gelegten Reifen und Ringen bestehende Kopfputz. Der Königskopfmeister hat diesen Moseskopf sich zum Vorbild erwählt für die Häupter der von Gideon gefangenen Midianiterkönige Sebah und Zalmuna (Abb. 68). Sogar der Kopfputz ist in seiner Form zwar nicht identisch, aber doch deutlich von einem Exemplum in der Art des Manter Moses abhängig. Die Archivolten und Gewändestatuen des Manter Mittelportals dürften in den Jahren um und unmittelbar nach rr8o entstanden sein88. Der Königskopfmeister und die ihm nahestehenden Bildhauer des Bekennerportales aber sind keinesfalls vor 121a nach Chartres zugewandert87. An eine unmittelbare Verbindung zwischen Mantes und den mehr als drei Dezennien später in Chartres auftretenden Künstlern ist also kaum zu denken. Es ist vielmehr daran festzuhalten, daß die Verbindungen über Sens liefen. Die Senser Portale lassen 86 Bony, CA, 1946, S. 179 schreibt: »l'étage inférieur de la collégiale présente une extrême homogénéité de style: cette partie de l'édifice a du être montée dans un laps de temps assez bref vers 1180.« Allerdings nimmt Bony S. r78 und S. 201 noch an, daß das Tympanon wie die Archivolten des Mittelportals nicht zu diesem gegen 1180 abgeschlossenen Bauabschnitt gehörten, sondern nachträglich »peu après 1190« entstanden. Vgl. hingegen Sauerländer, Marienkrönungsportale, S. 147. 87 Uber i m als vermutlichen terminus post für die südlichen Querhausportale von Chartres vgl. unten S. 56 und Anm. 1 1 3 .

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sich, wie wir zuvor referierten, mit einiger Wahrscheinlichkeit in den Zeitraum zwischen 1184 als terminus a quo und 1210 als terminus ante datieren88. Von Sens aus sind der Königskopfmeister und die Bildhauer des östlichen Südportals, des Bekennerportals, nach Chartres gekommen, zu den dort bereits tätigen Werkstätten gestoßen. Dafür scheinen auch die anschaulichen Gegebenheiten zu sprechen. Die höchst persönliche Formensprache des Königskopfmeisters entzieht sich zwar im letzten jedem allzu eng gefaßten, Motivisches aufrechnenden Ableitungsversuche. So könnte man meinen, daß gerade die nur allgemeinste Voraussetzungen seiner schöpferischen Stilbildung andeutenden Vergleiche mit den altertümlichen Bildwerken in Mantes die in einem solchen Falle angemessene Distanz hielten. Indes bleibt unbestreitbar, daß die Mantes gegenüber späteren Senser Bildwerke eine Stilstufe erkennen lassen, die näher an das Oeuvre des großen Chartresers heranführt. Am Senser Johannesportal war, wie wir sahen, seine Archivoltendisposition vorgebildet. Vergleichen wir noch einmal den erblindenden Tobit (Abb. 50) aus den Bogenläufen des Salomo-Portals zu Chartres mit einer Sockelfigur vom Mittelportal in Sens, der Dialektik aus der Reihe der »Artes Liberales« (Abb. 69), so erkennen wir eine Nähe, wie sie bei den Vergleichen mit Mantes nie festzustellen war. Sie ist jetzt nicht nur an rein ornamentalen Linienzügen abzulesen, sondern reicht in die besondere Art der Gewandbehandlung mit dem losen, schlaffen Fall des Tuches, mit den wenig gestrafften Säumen, welche an die Ränder abgerissenen Löschpapiers erinnern. Die Umdeutung eines solchen, seiner persönlichen Handschrift nahe verwandten Vokabulars durch den Königskopfmeister, diese höchst bewußte, von einer charakterisierenden Sensibilität gelenkte Anwendung des in Sens noch ganz beliebig aufgebotenen Motivrepertoires auf den einmaligen Inhalt von Müdigkeit, Schlaf, Erblindung bleibt auch angesichts des enger gefaßten Vergleiches nicht weniger erstaunlich. Es gibt Fälle, wo wir in dem arg dezimierten Bestand der Senser Bildwerke Einzelstücke finden, die dem Oeuvre des Königskopfmeisters noch näher zu stehen scheinen. Hierher gehört das freilich nur noch in den allgemeinsten Umrissen erkennbare Relief eines Löwenbändigers vom Sockel des Senser Mittelportals (Abb. 70), welches durch eine pathetische Behandlung des Vorwurfes, das Aufzeigen jäher Bewegung, fliegender Haare und flatternden Manteltuches charakterisiert ist und mit solchen Zügen sich in einem entschiedenen Gegensatz 88 Vgl. oben S. 20.

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befindet zu jener Formendisziplinierung und Formenerkaltung, wie sie die Hochgotik der ersten Jahre des 13. Jh. anderswo erkennen läßt — an dem Chartreser Gerichtsportal ebenso wie an der Pariser Marienkrönungspforte. Der Königskopfmeister aber ging von solcher ungestümer, pathoserfüllter Darstellungsweise aus bei seiner Gruppe des vom Engel begleiteten, erschrockenen Tobias, welcher den Fisch bei den »Floßfedern« faßt und aus den Wassern des Tigris zieht (Abb. 71), knüpfte daran an um der dramatischen Lebhaftigkeit der Erzählung willen. Schließlich, um ein letztes Beispiel zu geben, des Königskopfmeisters Gruppe von Mardochai und Hathach (Abb. 72) kombiniert Ausprägungen der schreitenden Figur, wie wir ihnen schon in Sens begegneten. Mardochai in dem langen gegürteten Gewände mit dem eigentümlichen Schleppschritt — jenem Motiv, das uns schon im vorigen Kapitel bei den Vergleichen zwischen Sens und Straßburg beschäftigte — gleicht nahezu wörtlich einer Virtusstatuette vom Senser Mittelportal (Abb. 73). Hathach aber hat der Königskopfmeister dargestellt, indem er auf einen in Sens immer wieder verwendeten Typus der Figur in kurzem Leibrock zurückgriff. Der Scharfrichter aus der Szene der Enthauptung Johannes des Täufers aus dem Tympanon des Johannesportals in Sens (Abb. 74) mag das veranschaulichen. Die locker breitbeinige Stellung einer untersetzten Figur, die Beine mit den schwellenden Waden, die in kurzen, derben Stiefeln steckenden Füße, das alles stimmt überein. Freilich ist die stilistische Ausprägung am Senser Johannesportal, dem ältesten Skulpturenensemble, welches uns dort erhalten ist, altertümlicher mit stärkerer Hervorkehrung des Gekurvten und Gebogenen89. Am jüngeren Mittelportal begegnet der gleiche Figurentypus verschiedentlich in dem am Sockel dargestellten Kalender, etwa beim März (Abb. 75) und nähert sich hier auch in der Gewandbehandlung, dem Sitz des Gürtels dem Hathach des Chartreser Meisters an. An der sensischen Herkunft des Königskopfmeisters dürfte im Lichte all dieser verschiedenen Gegenüberstellungen ein Zweifel kaum erlaubt sein. Im Senser Atelier lernte jener geniale Bildhauer das ganze reiche Ausdrucksinstrumentarium der frühgotischen Figurendarstellung kennen, über Sens flöß ihm zu, was jene ungestüme und überschwängliche Bildhauerei des 12. Jh. — in Mantes, in St. Denis, in Senlis — an Feuer, an expressiver Unrast der

89 Von den beiden wenigstens fragmentarisdi im Urzustand überlieferten Portalen ist das Portail Saint-Jean ohne Zweifel das ältere. »La porte de gaudie, consacrée à Saint JeanBaptiste, est la plus ancienne des deux« sagt audi M. Aubert, La sculpture française, S. 278.

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Fonn enthalten hatte. Er hat es nicht, wie die anderen führenden Meister des beginnenden 13. Jh., die übrigen Chartreser, die Pariser, die Amienser, der hochgotischen Formensystematisierung geopfert, sondern in das Medium einer völlig neuen, ja man mag sagen, im Bereiche der französischen Kathedralplastik einmaligen, menschlich-dramatischen Darstellungskunst umgeschmolzen. Es hat außerhalb des Bereiches der französischen Gotik in der ersten Hälfte des 13. Jh. das Fortleben und Verwandeln altertümlichen, spätromanischen Formenüberschwanges gegeben — an den Bamberger Chorsdiranken, in der sächsischen Skulpturengruppe von Freiberg, Wechselburg, Braunschweig. Nirgendwo aber ist jene Umschmelzung älterer ornamentaler Bewegtheit in ein Ausdrucksinstrumentarium, welches die ganze Breite der die Seele des Menschen bewegenden und bestürmenden Affekte zu spiegeln vermag, auf eine ähnlich schlackenlose Weise vollzogen worden wie im Oeuvre des Königskopfmeisters. Einen »Unzeitgemäßen« hat Jantzen den großen Bildhauer in seiner über Vöge hinaus Wesentliches treffenden, weite historische Perspektiven erschließenden Analyse der Chartreser »Tobiasgeschichte« genannt. Man liest sie in einem Kapitel mit der Uberschrift: »Die Entdeckung des seelischen Ausdrucks90.« Das Oeuvre des Königskopfmeisters, das hat schon Vöge empfunden, scheint über die Grenzen des Mittelalters, die Intoleranz mittelalterlicher Formensystematik hinauszuweisen. A n der Stilwende vom 12. zum 13. Jh. leuchtet solche Möglichkeit im großen, übergreifenden Zusammenhang der Bauplastik auf — ehe die entscheidende Wendung zur Hochgotik, welche nicht nur die Architekturformen geometrisierte, sondern auch Antlitz und Geste und Gewand der menschlichen Gestalt einem kunstvollen System von formalistischen Konventionen unterwarf, alles beherrschend sich durchgesetzt hatte 91 . 90 Jantzen, Kunst der Gotik, S. n 8 f . 91 Für die Geschichte der Literatur wird gelegentlich Ähnliches konstatiert. Vgl. was E. R. Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern 1954 (2), S. 1 3 4 ! über den Rosenroman schreibt. Er spricht von Jean de Meun als charakteristisch für eine Epoche, die »das Erbe antikischer Schönheit« — wie es im Protohumanismus des 12. Jh. lebendig gewesen war — »in die Scheidemünze akademischer Begriffsklauberei umgewechselt hatte«. Wichtig in diesem Zusammenhang auch die Ausführungen von G. Weise, Italien und die geistige Welt der Gotik, Halle 1939 besonders S. 38ff. »Nur ein Durchgangsstadium von beschränkter zeitlicher Dauer, das sich zwischen Auflösung der romanischen Stiltradition und die Ausprägung eines neuen, für nahezu zwei Jahrhunderte maßgebenden Formenkanons schiebt, ist die Periode jener engeren Fühlung mit der Wirklichkeit gewesen.« Allerdings würde man sich bei Weise solche Darlegungen gern fester auf das Studium der Denkmäler gegründet wünschen.

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Abschließend müssen wir nochmals auf Tympanon und Archivolten des Bekennerportales zurückkommen, an denen die Zusammenhänge mit Sens kaum weniger deutlich zu fassen sind als am Salomoportal und als deren Urheber wir mit dem Königskopfmeister werkstattgleiche, vermutlich mit ihm zusammen nach Chartres zugewanderte Bildhauer annehmen müssen. Fehlt auch hier jene nervige Kraft der Charakterisierung, wie sie an den bedeutendsten Partien des Salomoportales zu bemerken ist, so heben sich doch auch diese oberen Teile des Bekennerportales vom Oeuvre der »Baumeister-Bildhauer«, der Verfertiger des Skulpturenschmucks an den Chartreser Haupteingängen eigenwillig genug ab. So gehört es zu den Besonderheiten dieses Portals, daß das architektonische Gerüst von Tympanon und Archivolten, dessen Betonung für die »Baumeister-Bildhauer« und vor allem für den Meister des Chartreser Gerichtsportals ein nicht anzutastendes ästhetisches Gesetz gewesen war, in den bildhaft erzählerischen Zusammenhang einbezogen wird. Die Felderteilung des Tympanons (Abb. 48) täuscht Innenräume vor. Die Archivolten verwandeln sich bei der Darstellung der Legende des Heiligen Aegidius in eine Waldlandschaft (Abb. 76 und 77). Die Hochgotik hat an den Portalen meist selbst den Pflanzenwuchs in eine strenge, architektonische Rahmung gefaßt — die Pflanzen an den Pfosten neben den Gewänden des Pariser Marienkrönungsportales oder am Trumeau des Amienser Weltgerichtsportales bezeugen es92. An den strengen und disziplinierten Chartreser Haupteingängen kommt derlei Beiwerk gleich gar nicht vor. Das Landschaftsambiente und die Figuren der Aegidiuslegende vom Bekennerportal sind aus der Frühgotik von Sens entwickelt. Der Einsiedler Aegidius wandelt Figuren wie jene schon früher erwähnten Philosophen (Abb. 51, 52) ab, welche übrigens ebenfalls schon auf kleinen, welligen Hügeln meditierten. Der im Walde reitende König gehört zusammen mit jenen kompliziert bewegten, thronenden Figuren in den Archivolten des Bekennerportals (Abb. 57), deren Deszendenz wir über Sens (Abb. 56) bis auf Mantes (Abb. 58) zurückverfolgt haben. Vor allem aber geht die Art, wie diese stolze Königsfigur dargestellt ist: an einem Eichbaum mit astigem Stamm vorbei, über klumpiges Erdreich hinweg, 92 Für die Pflanzen am Pariser Marienkrönungsportale vgl. Sauerländer, Kunstgeschichtliche Stellung, S. 21. L. Behling, Die Pflanzenwelt der mittelalterlichen Kathedralen, Köln/Graz 1964, S. 55ff. Allerdings sind die hier auf S. 60 besprochenen und auf Tafel LXIX abgebildeten Pflanzen vom Trumeau des Pariser Marienkrönungsportales freie Erfindungen der Restauratoren des r9. Jh.

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der Höhle des Heiligen Aegidius entgegenleitend—auf die noch nicht architektonisch verfestigte, frühgotische Reliefauffassung von Sens zurück. In dem Senser Kalenderzyklus bildet die Darstellung des Mai — ein vornehmer Reiter mit kostbarem, kunstvollen Zaumzeug, auf der ausgestreckten Linken den Falken tragend — (Abb. 79), das unmittelbare, von dem Chartreser Bildhauer nur auf eine gestrafftere, kernigere Formensprache hin abgewandelte Vorbild. Jener von zwei Hunden begleitete Bogenschütze schließlich, welcher aus Unbedacht den Pfeil auf den Eremiten abschießt, vertritt den gleichen Typus der Figur im kurzen, gegürteten Leibrock wie der Hathach des Salomoportales (Abb. 72) und geht von den gleichen Vorstufen (Abb. 74,75) aus. In Sens zeigte die Märzdarstellung aus dem Kalender (Abb. 75) die freie Verbindung von bewegter Figur und landschaftlichem Ambiente. Unter den Herbstmonaten finden sich ausgeprägtere Beispiele noch — das Oktoberbild etwa (Abb. 78) — und solche Darstellungen müssen es gewesen sein, welche die Vorstufe für das Chartreser Archivoltenrelief mit dem im Walde stehenden Jagdknecht abgaben. Der Sockel des Mittelportalgewändes in Sens, wo neben dem Kalender die Artes erscheinen und unter Kalender und Artes sich die Darstellungen der Monstra und fernen Völkerschaften ausbreiten, wo eine an Edelmetallkunst gemahnende, preziose Ornamentik die reich bewegte Figurenwelt umschließt, ist letzter, kostbarer Nachklang einer vom Protohumanismus des 12. Jh. angewehten Kunst. Wenige Jahre später, am Mittelportal der Notre-Dame in Paris, werden an einem Sockel von regelmäßiger, geglätteter Gliederung nur noch Tugenden über Lastern dargestellt sein. Aus der farbigen Darstellungswelt jenes altertümlichen Senser Sockels, aus der bilderreichen Kalenderfolge aber hat ein dem Königskopfmeister wahlverwandter Bildhauer das poesievolle, von vielfältiger Stimmung durchzogene, mit der Waldlandschaft verwobene Geschehen der Aegidiuslegende herausgesponnen. Eigenwillig ist es über die Nahtstellen des hochgotischen Portalgerüstes hinweg als frei sich entfaltende Szenerie ausgebreitet. Legendendarstellungen füllen an diesem Portale auch Tympanon und Türsturz, wobei die Formgebung sich jeweils als Abwandlung der Sensischen Vorstufen erweist. Um ein einziges Beispiel zu geben: bei jener Szene rechts im Türsturz, welche vor Augen führt, wie Nikolaus in die Kammer des mit seinen drei Töchtern in Verlegenheit geratenen Nachbarn einen Klumpen Goldes wirft (Abb. 80), geht die Figur des Heiligen in der freien, weich schwingenden Bewegtheit ziemlich wörtlich auf Archivoltenstatuetten des Senser 46

Mittelportals zurück (Abb. 81). Es ist hier offensichtlich eine Hand am Werk, welche in der Abwandlung der Sensischen Vorlagen, in ihrer Verknüpfung mit verändertem, der Phantasie reichere Nahrung gewährendem Fabelstoff weit weniger Ingenium zu entfalten weiß als der Königskopfmeister oder der Bildhauer der Aegidiuslegende. Die Bindung an Sens bleibt hier enger, bis in die Motive hinein ängstlich genau. Die Szene im Inneren der Kammer mit dem auf seinem Lager ruhenden Alten und den Hände ringenden Töchtern kann mit älteren szenischen Reliefs in Sens, etwa der Darstellung der Geburt des Täufers aus den Archivolten des Johannesportals (Abb. 82) verglichen werden. Der stilistische Abstand ist hier — wie der chronologische — bedeutender. Die heftige Bewegtheit der Figuren aber, der Aufruhr der hinund herwogenden Körperformen und Faltenlinien geht offensichtlich auf jenen frühgotischen Kurvenstil zurück, wie ihn ein im Vorwurf verwandtes Werk, die Senser Johannesgeburt, vor Augen führt. Die Umsetzung durch den Chartreser Bildhauer ist in diesem Falle schematisch und spröde. Die Formen verhärten sich und das gespreizte Gehabe spiegelt nicht — wie die Figuren der Tobiasgeschichte am Salomoportal oder die würdig stille Erscheinung des Eremiten Aegidius — die zarteren Regungen des Gemütes. Etwas von der hochgotischen Verschärfung steckt in den spitzen Gestalten der Töchter. Erwähnt sei am Ende noch, daß jene Sensischen Anregungen auch in die bildhauerischen Arbeiten an dem im 18. Jh. zerstörten Chartreser Lettner hereinspielten. Es sind jene Teile des Lettners, die Bunjes als das Oeuvre des »Verkündigungsmeisters« zusammenstellte und die auch Jean Mailion jetzt einer Hand, dem »Maître de la Gésine« zuschrieb, sicherlich die ältesten Partien des umfangreichen Ensembles, welche dem Kreise der hier besprochenen, aus Sens zugewanderten Bildhauer entstammen93. Die Platte, welche die Magier vor Herodos zeigt (Abb. 83), wiederholt Formen aus Tympanon und Türsturz des Salomoportals ohne freilich Gesten und Gewänder mit jener gärenden, raschelnden Unruhe zu erfüllen, wie sie die eigenhändigen Arbeiten des »Königskopfmeisters« erkennen lassen. Es ist Schülerwerk,

93 H.. Bunjes, Der gotische Lettner der Kathedrale von Chartres, W-R-Jb. 12/13, 1943, S. 7off., bes. S. 82£f. Für die Fragen der Rekonstruktion, Ikonographie ist Bunjes Arbeit jetzt überholt durch J. Maillon, Le jubé de la cathédrale de Chartres, Société Archéologique d'Eureet-Loir 1964. Audi Maillon weist S. i8iff. für die Werke des »Maître de la Gésine« auf Sens ohne jedoch überzeugende Vergleidisbeispiele zu nennen und sieht daneben Anregungen von Laon und — höchst erstaunlich — der Reimser Heimsuchung!

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das man hier vor Augen hat, Schülerwerk, welches nicht ohne korrekte Steifheit auftritt. Die Magier wandeln Motive ab, die der »Königskopfmeister« bei den Freunden Hiobs gebracht hatte. Herodes ist mit einer eigentümlichen Armhaltung gegeben, welche der Königskopfmeister als eine einmalige, pathetische Geste der scheltenden, zänkisch auffahrenden Mutter des toten Kindes beim Salomourteil hatte zukommen lassen. Im übrigen ist dieser Herodes ein weiteres Beispiel für die thronende Figur mit gespannt verschränkten Gliedern, wie wir sie über die Zuhörer beim Salomourteil (Abb. 55) - das unmittelbare Vorbild wohl -, die thronenden Könige in den Archivolten des Bekennerportals (Abb. 57) nach Sens (Abb. 56) und Mantes (Abb. 84) zurückverfolgen können. Noch unter der beginnenden hochgotischen Erstarrung von Gesten und Gewandflächen bleiben die komplizierten, expressiven Formeln der beschwingteren, feurigeren Kunst aus der zweiten Hälfte des 12. Jh. erkennbar. Daß die Lettnerplatte mit der Geburt Christi (Abb. 85) dem Werk des Königskopfmeisters nahesteht, hatte einst schon Kurt Bauch gesehen94. Diese Platte der gleichen Hand zuzuschreiben, wie die Darstellung der Magier vor Herodes, beide Werke mit Bunjes dem »Verkündigungsmeister« zu attribuieren, geht nicht an. Audi Maillon sagt ganz richtig: »Une certaine raideur dans la scène des Mages devant Hérode laisserait supposer qu'elle est d'un artiste du moindre talent«98. Künstlerisch steht die Platte mit der Geburtsszene auf einer Höhe, wie sie unter den aus Sens zugewanderten Bildhauern nur der Königskopfmeister selbst und vielleicht die Figuren der Aegidiuslegende erreichen. Bauch hat sogar an ein eigenhändiges Werk des Königskopfmeisters gedacht. Die anschaulichen Ubereinstimmungen mit der Gestalt von Hiobs Weib aus dem Salomoportal (Abb. 66) bestehen, es ist nicht von der Hand zu weisen und die kostbare Judithfigur am Gewände des Salomoportals gehört zu der gleichen Gruppe zartgliedriger und anmutig bewegter Frauengestalten. Dem Geburtsrelief aber scheint doch das besondere Pathos des Königskopfmeisters, der »Zug von Leidenschaft« zu fehlen, der durch sein ganzes Oeuvre geht. So wird man an den Königskopfmeister selbst nicht denken wollen, son94 Bauch, Oberrh. Κ. IV (1929/30), Berichte S. 33ff. Er schrieb sogar: »ist der Schöpfer des Reliefs der Geburt Christi der Königskopfmeister.« 95 Bunjes, op. cit. S. 83 »Von dem ersten Meister« — gemeint ist der audi für die Geburt angenommene Verkündigungsmeister — »wieder stammt die Gruppe der Könige vor Herodes«. Maillon op. cit. 181.

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dem nur an einen zu seinem Kreise gehörenden Künstler. In unserem Zusammenhange aber ist wichtig, daß auch die Marienfigur des Geburtsreliefs — in ihren sowohl zarten wie eigenwillig bewegten Formen — Senser Vorbilder abwandelt. Der hölzernen Marienfigur, welche heute im Inneren der Kathedrale steht (Abb. 86), fehlt das Gespannte, die edle Prägnanz der Formen, wie sie die Erscheinung der Chartreser Marienfigur bestimmen96. Aber die enge Verwandtschaft zwischen den beiden Figuren ist am Verhältnis von Schultern und Haupt, an Umriß und leiser Neigimg des Kopfes unverkennbar und bringt hier wie dort den der hochgotischen Formensystematisierung fremden Ton einer ganz unverwechselbaren, schlichten Innigkeit hervor. Auch bei den Anfängen des Chartreser Lettners also scheinen die aus Sens zugewanderten Bildhauer mitgetan zu haben. Für die Entfaltung der Bildhauerkunst an der Chartreser Kathedrale bildeten überhaupt nächst Laon die Senser Werkstätten den wichtigsten Ausgangspunkt. Und über die Chartreser Werkstätten liefen offensichtlich auch die Fäden von Sens nach Straßburg. Vöge hat gelegentlich Laon und Sens als die in der Zeit um 1200 »wichtigsten Quellpunkte der in Kurvenlinien schwelgenden Stilisierung« bezeichnet87. Am Chartreser Transept haben sich im zweiten Jahrzehnt des 13. Jh. Künstler aus beiden Zentren zur Ausführung des umfangreichsten Portalwerks zusammengefunden, welches im Bereich der französischen Hüttenplastik bis zu diesem Zeitpunkt überhaupt in Auftrag gegeben worden war. Während gleichzeitig in Paris, am Pariser Marienkrönungsportal, die Probleme der Figurendarstellung von Grund auf neu formuliert wurden, während dort jener aller Antikennähe, allem Gelöst-Bewegten abschwörende Stil vorbereitet wird, aus dem die führenden Meister des späteren 13. Jh. — die Bildhauer des Reimser Philippe Auguste und Joseph ebenso wie der Naumburger — hervorgehen, gelangen in Chartres noch einmal alle künstlerischen Möglichkeiten der Jahrhundertwende zu einer höchsten Entfaltung und triumphalen Steigerung. An dem Riesenbau von Chartres, welcher zum ersten Male das architektonische Konzept der hochgotischen Kathedrale vor Augen stellt, den großen 96 Uber diese Grappe, den sog. »Calvaire de la Belle Croix«, der sich ehemals im Faubourg St. Pregts befand vgl. u. a. Thoby, Le Cruxifix des origines au concile de Trente, Nantes 1959, S. 1 5 1 , wo der Christus riditig nach der Mitte des 13. Jh. datiert wird, während die Marien- und die Johannesfigur ebenfalls zutreffend »vers le début du siècle« angesetzt werden. 97 Vöge, Bahnbrecher, jetzt Bildhauer S. 71.

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Maßstab mit simplifizierender Schroffheit der Einzelformen verbindet, werden auch für den Bildhauer neue Maßstäbe gesetzt und neue Ansprüche gestellt. Die Werkstätten, welche aus Laon kamen, haben in Chartres eine Straffung, eine Festigung der bauplastischen Zusammenhänge angestrebt, ein Bemühen, dessen Ergebnisse uns am deutlichsten in der starr feierlichen Komposition des Gerichtsportals vor Augen stehen. Beruhigung, gleichmäßige Dämpfung der figürlichen Erscheinung bei ausgesprochener Zurückdrängung aller bewegten, tiefere Erregung spiegelnden Motive kennzeichnet die von Bildhauern der Laonnischen Werkstatt geschaffenen Statuen an den Freipfeilern der nördlichen Vorhalle. Die später eingetroffenen Senser, denen nur noch Seitenportale und an der nördlichen Vorhalle weniger die Statuen als das kleinfigurige Beiwerk zufielen, haben gerade umgekehrt in der Richtung auf die Vertiefung der spezifisch bildhauerischen und der inhaltlich-darstellerischen Probleme über die Möglichkeiten an der Jahrhundertwende hinausgedrängt. Die überragende Gestalt ist dabei der Meister der Königsköpfe gewesen, der das Salomoportal geschaffen hat. Angelegt waren die Differenzen schon in den Herkunftswerkstätten, d. h. seihon die Bildwerke in Laon gaben sich kühler, disziplinierter, mit einem Anhauch von klassizistischem Wohllaut, während die vollere, üppigere Bildhauerkunst von Sens die Formen freier, gelöster sich ausbreiten ließ. In Chartres erwachsen daraus jene Gegensätze zwischen »Baumeister-Bildhauern« und »ernsten Suchern der Form«, welche Vöge beim Studium der Transeptportale einst besonders gefesselt hatten98. Das zuweilen des Dramatischen nicht entbehrende Zusammenspiel der beiden Werkstätten wirft Fragen auf, deren Beantwortung nicht nur für die Kenntnis des historischen Ablaufs, sondern auch für das Wesensverständnis der französischen Kathedralplastik Bedeutung hat. Ihnen nachzugehen, die Ergebnisse der Stilkritik, der hier neu aufgewiesenen Beziehungen zu Sens mit den überlieferten Daten und vor allem den bauarchäologischen Resultaten der französischen Forschung zu koordinieren, soll auf den folgenden Seiten wenigstens flüchtig versucht werden.

98 Vöge, Bahnbrecher, jetzt Bildhauer S. 67.

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IV DIE QUERHAUSPORTALE VON CHARTRES UND DER STILWANDEL IN DER FRANZÖSISCHEN HUTTENPLASTIK ZU BEGINN DES 13. JH. Der baugeschichtliche Vorgang ist von Louis Grodecki 1951 nochmals zusammenfassend dargelegt worden". Eine erste Planung sah danach lediglich Einzelportale ohne Vorhallen im Zentrum der Nord- wie der Südfassade vor. Untersuchungen des Mauerbefundes im Zustand vor der letzten Restaurierung und eine Rekonstruktion der ursprünglichen Abmessungen der Strebepfeiler, welche bei Errichtung der Vorhallen in ihrer Breite wie in ihrer Tiefe erheblich beschnitten wurden, führen zu dem Schluß, daß dieser Planzustand I bei Beginn der Bauarbeiten an der Nordfassade tatsächlich zur Ausführung gekommen ist. Nach Grodecki kann diese Planung bis in das Brandjahr 1194 zurückreichen, doch erscheint es auf Grund allgemeiner baugeschichtlicher Erwägungen nicht plausibel, mit dem Beginn von Arbeiten am Querhaus vor der Jahrhundertwende zu rechnen100. Die Annenstatue am Türpfeiler des mittleren Nordportals scheint eine Reliquientranslation aus dem Jahre 1204 vorauszusetzen101. Für die Westportale der Kathedrale von Laon kann möglicherweise eine urkundliche Nachricht aus dem Jahre 12,05 als eine Art Abschlußdatum in Anspruch genommen werden102. Aus Laon kamen, wie die Forschung seit Franck-Oberaspach im einzelnen darzulegen versucht hat, die Bildhauer des ersten, am Chartreser Querhaus arbeitenden Ateliers103. Die Aus99 Grodecki, The Transept Portal of Chartres Cathedral: The Date of their construction according to archaeological data. Α. Β. XXXIII (1951), S. issff. Vgl. im übrigen Anm.13. 100 Grodecki, The Transept Portals »As can be deduced from general progress of the construction, it is most unlikely that the transept was undertaken before 1200«. Siehe audi Ders. »A propos de la sculpture française autour de 1200« Bull. Mon. C X V (1957), S. 12s. ι ο ί E. de Lépinois u. L. Merlet, Cartulaire de Notre-Dame de Chartres, Chartres 1862—65, T. ΠΙ, S. 89 u. S. 179. Riant, Exuviae sacrae constantinopolitanae, Genf 1877/78, T. 1. S. 73. 102 Vgl. für die Daten von Laon H. Adenauer, Die Kathedrale von Laon, Düsseldorf 1934, S. 27. M. Aubert, la sculpture française, S. 214. E. Lambert, Les portails sculptés de la cathédrale de Laon. G. B. A. 6e pér. 17 (1937) S. 830. W . Sauerländer, Beiträge S. 20. 103 Franck-Oberaspach, Der Meister, S. io8ff. Weiter audi Vöge, Vom gotischen Schwung, jetzt Bildhauer, S. 106. Sauerländer, Beiträge, S. 21ft. mit weiterer Literatur.

SI

führung des mittleren Nordportals, der Marienkrönungspforte, fällt danach vermutlich in das erste Jahrzehnt des 13. Jh. Ob die Reliquientranslation von 1204 den Beginn der Arbeiten an diesem ersten Chartreser Portale bezeichnet oder ob die Annenstatue während der Ausführung des Portals ergänzend zu einem ursprünglichen Programm hinzutrat, läßt sich mit letzter Sicherheit nicht mehr ausmachen. Die Skulpturen dieses Portales lassen, wie verschiedentlich betont worden ist, untereinander stilistische Differenzen erkennen104. Solche Differenzen brauchen jedoch nicht notwendig auf einen zeitlichen Abstand in der Ausführung zu weisen. Sie mögen sich aus der Zusammenarbeit verschiedener Hände innerhalb eines auf dieser ersten Stufe noch nicht mit jener letzten Straffheit organisierten Ateliers erklären, wie sie wenig später das völlig uniforme Gerichtsportal auszuweisen scheint. Eine einheitliche Entstehung des Krönungsportales zwischen 1204 — Reliquientranslation — und 1212 — terminus a quo für die Stifterfiguren am Gerichtsportal — scheint im Augenblick von allen möglichen Hypothesen jedenfalls die wahrscheinlichste zu sein. Die seit langem erkannten Zusammenhänge zwischen der Werkstatt von Laon/West und der ersten Chartreser Transept-Werkstatt nochmals eigens nachzuweisen, besteht kein Anlaß. Wir kommen auf diese Fragen nur zurück unter jenem Aspekt des Stilwandels um 1200, der schon bei dem Blick nach Sens und Mantes unsere Aufmerksamkeit forderte. Zwischen Laon und Chartres, ja noch zwischen den mehr altertümlichen und den im Lichte der späteren Entwicklung fortschrittlicheren Bildwerken innerhalb des Chartreser Portales selbst, zeichnen sich Wandlungen ab, welche durch ein Auslöschen 104 Sdion von Vöge, Bahnbrecher, jetzt Bildhauer S. 71 und S. 71 Anm. 33. Dann eingehend von Schlag, S. 126ff. Offen ist die Frage, ob man die erheblichen stilistischen Differenzen zwischen den einzelnen Bildwerken dieses Portals als das Ergebnis eines Nebeneinanderwirkens verschiedener Bildhauer oder als Anzeichen zeitlichen Nacheinander deuten soll. Schlag, op. cit. S. 157 rechnet mit einem längeren zeitlichen Abstand sogar zwischen den Gewändefiguren links und rechts. Mâle, Notre-Dame de Chartres, S. 46 und Aubert, La sculpture S. 224 rechnen jedenfalls mit der nachträglichen Zufügung der Annenstatue. Ich selbst habe früher, s. Z. f. Kg. X X (1956), S. 20 mit einem Arbeitsbeginn bald nach 1 1 9 4 gerechnet und damit ebenfalls die nachträgliche Entstehung der Annenstatue impliziert. Grodecki hat sich — s. Bull Mon. C X V (1957), S. i26f. — mit guten Gründen gegen so frühe Datierung gewandt, scheint aber auch die Annahme einer Zufügung der Annenstatue während der Ausführung des Portals nicht auszuschließen. Wie ich im Text ausspreche, halte ich heute eine Ansetzung des Arbeitsbeginns ab 1204 für das Wahrscheinlichste. Die Annenstatue würde den terminus post abgeben, die Figuren am linken Gewände wären nicht älter, sondern nur stilistisch altertümlicher.

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der Nuancen, ein Zurückweichen der zarteren, melodisch-gelösten Linienschwünge vor einer mehr schematischen Zeichenweise, ein Entschwinden der seelenvolleren, affekterfüllten Züge aus den Gesichtern charakterisiert sind. Es ist ein systematisierender, das Gesetz der hochgotischen Architektur mit sich tragender Stil, welcher die Vielfalt, die Beweglichkeit, den leisen, zauberhaften Wiederschein des Antikischen, wie er am Ende des 12,. Jh. über den kostbaren Laoner Bildwerken noch gelegen hatte, nicht ohne hochmütige Strenge von sich weist. Ausgehen muß man dabei in Chartres von jenen Figuren, welche den neuen Stil eigentlich formulieren — etwa den Statuen der rechten Wandung — in Laon wiederum von denjenigen Bildwerken, welche diesen Chartreser Stil am unmittelbarsten vorbereiten — den Archivoltenstatuetten des linken Seiteneinganges105. Die nicht eindeutig identifizierte Archivoltengruppe von diesem Laoner Portal, welche gelegentlich als Isaak und sein Zweitgeborener Jakob angesprochen wurde (Abb. 87), steht dem Simeon des Chartreser Portales (Abb. 88) so nahe, daß man an die gleiche ausführende Hand denken könnte108. Doch in Laon ist das Spiel der Glieder, die Bewegung freier und der Fluß der Gewandung, der Zug der Faltenlinien strömt in schönen, sanft kurvenden Bögen um gerundete Körperformen. Die Chartreser Statue erscheint dagegen wie im Banne der das Gewände bespannenden Architektursäulen: der ganze Leib einer raffenden Formenkontraktion unterworfen, flacher und steifer, die Zeichnung der Gewandlinien schärfer und graphischer, zu einem uniformen, schematischen Netze sich zusammenziehend. Jener Anhauch stilisierter Natürlichkeit, welcher die aus der Archivoltenwandung hervortretende Statuettengruppe zu Laon durchzieht, ist einer Auffassung gewichen, welche das Tektonische, die starre Achse mehr als das Leibhafte und in jeder Einzelfigur das gedankliche Gerüst des Programmes mehr als die Spiegelung seelischer Regung, den Ausdruck innerer Anteilnahme betont. Die Gesichter lehren das noch deutlicher: an dem Kopf im Laoner Museum (Abb. 91) sind nicht nur alle Umrisse fließend und sinkend bewegt, es geht ein Zug seelenvoller Schwermut durch das gelöste Antlitz. Chartreser Prophetenköpfe, wie der Jesaias (Abb. 92), zeigen daran gemessen eine Verödung des Physiognomischen. Das scheibenhaft flache Gesicht verrät kein aus der Tiefe 105 Vgl. Sauerländer, Beiträge, S. 26Ì. 106 Vgl. für die Identifizierung dieser Gruppe L. Broche, La cathédrale de Laon, Paris 1926, S. 69 und Katzenellenbogen, The sculptural programs, S. 130, Anm. 55.

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kommendes Leben. Die Andeutung mimischer Bewegung ist nur als Formel, als ein Netz von Linien mit fast mechanischer Gleichmäßigkeit darauf aufgetragen. Auch wo man zu bedeutendsten Beispielen greift, bleiben diese Differenzen. Es sind nur Nuancen, welche das wie eine Blüte geneigte Haupt des träumenden Nebukadnezar (Abb. 89) aus den Archivolten des linken Portales zu Laon von der pointierten Stilisierung des Christuskopfes aus dem Chartreser Marienkrönungstympanon trennen (Abb. 90). Jedoch mit diesen Nuancen zerstob jener Zauber belauschten Lebens, wie ihn der Laoner Bildhauer in den graziösen Schwung seiner Kurvenlinien zu legen wußte. Es entschwand vor allem das sinnliche Element, welches bei aller Verfeinerung, aller zerbrechlichen Zartheit für den anmutigen Laoner Königskopf doch so wesentlich bleibt. Bei dem Chartreser Christus sind die Gesichtsformen scheibenhaft flach und weit auseinandergezogen, steil in die Höhe gespannt. Es ist wieder ein Antlitz ganz ohne mimische Bewegung, ohne spezifischen Akzent, ohne Tiefe, sieb erschöpfend in der Formel, einer Formel von der höchsten Noblesse zwar. Doch es herrscht ja an diesem ältesten der in Chartres während des 13. Jh. errichteten Portale noch nicht durchweg jener hochgotisch systematisierende und disziplinierende Zug vor. Vielmehr ist es das für den Historiker beim Studium der Marienkrönungspforte eigentlich Fesselnde, daß hier in dem Zusammenspiel verschiedener Bildhauer etwas von den Gegensätzen und Widersprüchen der großen Stilwende zu Beginn des 13. Jh. an den Wandungen eines einzigen Portales aufzubrechen scheint. Hält man dem zuvor genannten Jesaiashaupt (Abb. 92) jenes des Samuel (Abb. 93) aus der gleichen Prophetenreihe entgegen, so wird erkennbar werden, was es mit solcher Bemerkung auf sich hat. In Samuels Haupt nämlich sind ja alle jene Züge aufs eindringlichste hervorgehoben, welche die hochgotischen Systematiker gerade zu unterdrükken trachteten: das mimisch Bewegte und Ausdrucksreiche mit züngelnden Locken über einer von der Spur der Gedanken bewegten Stirn, das Sinnende, Schicksalserfüllte des prophetischen Blickes. Es ist ein Haupt voll augenblicklichen Aufruhrs, vielfältig in den Einzelzügen, nicht — wie jenes des Jesaias — aus dem uniformen Muster des linearen Ornaments abgezogen. Der gelängte Umriß des Kopfes mit der hohen, schmalen Stirn und dem spitzen Barte, die Virtuosität in der Wiedergabe solch naturalistischer Details wie der kleinen Schläfenlöckchen, der Fältchen in den äußeren Winkeln der Augen oder an der Wurzel der Nase, der feine Strich der unregelmäßig gegebenen Stirnrun54

zeln sind Eigentümlichkeiten, die an einen engen Zusammenhang mit östlichen Vorbildern denken lassen. Jedoda solche weiterreichenden Fragen aufzugreifen, ist im Augenblick nicht unser Anliegen. Es kommt hier nur darauf an, festzuhalten, daß im Haupte des Samuel, wie auch bei den mit dieser Statue stilgleichen und von der Forschung stets als altertümlich angesprochenen Figuren von David, Moses und Abraham jene den augenblicklichen Ausdruck und das prophetische Pathos unterdrückende Egalisierung noch nicht eingetreten ist, wie sie das Oeuvre des am Rrönungsportale führenden und auf die Zielsetzungen der Hochgotik sich ganz anders einlassenden Meisters zu erkennen gibt107. Vergleicht man die beiden Portalwandungen im ganzen (Abb. 95, 96), so lassen sich solche Einsichten noch vertiefen108. Es ist ja die ganze Organisationsweise am Gewände hüben und drüben eine höchst verschiedene. So wie im Antlitz des Samuel eine von aufwallender, innerer Erregung kündende Vielfalt des Mienenspiels zu lesen stand, so scheinen ja an der linken Wandung überhaupt die Propheten beim augenblicklichen Vollzuge bedeutungsschwerer Handlungen dargestellt zu sein, treten sie hier als inhaltsvoll bewegte Gestalten auf. Bei der Komposition des Gewändes aber ist ganz entsprechend nicht die gleichförmige Reihung der Statuen angestrebt, sondern das vielfältige Nebeneinander frei agierender Einzelakteure. In der Darstellung von »Gewandung und Bewegung« (Vöge) herrscht ein ungebundeneres Wesen, Lebhaftigkeit der Gestikulation, die Gewänder sind unruhevoll und werden zumal bei Abraham und Moses von der augenblicklichen Körperwendung hin- und hergerissen. A m Rande sei vermerkt, daß die Grundlage auch für diesen freieren, seinem künstlerischen Range nach nicht an den führenden Meister des Krönungsportales heranreichenden Figurenstil in Laon zu finden ist. Auch dort erscheinen an der Seite jenes aufs äußerste verfeinerten, durch die zarte Dämpfung der Formen charakterisierten Stiles, wie man ihn in den Archivolten des linken Portales sieht, Richtungen, welche durch einen unbekümmerteren Umgang mit der Form ihre Eigenart auswei107 Der Unterschied zwischen den Figuren an den beiden Wandungen bereits sehr klar gesehen bei Vöge, Bahnbrecher, jetzt Bildhauer S. 7 1 , Anm. 33. Vgl. audi Schlag, op. cit. ia6f. Wir greifen diese Unterscheidung hier, wie gesagt, nur um der weiterführenden Gesichtspunkte willen noch einmal auf. 108 Ich sehe davon ab, daß am rechten Gewände die Täuferfigur eine gewisse Sonderstellung einnimmt.

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sen. Eine knieende Gestalt aus dem rechten Vorhallengiebel der Laoner Westfassade (Abb. 94) kann beispielsweise genannt werden. Man vergleiche das lose schleppende Tuch des weiten Umhanges mit dem Abraham am Chartreser Gewände. Die Differenzen, welche sich zur rechten Wandung hin erkennen lassen, reichen wesentlich tiefer als für gewöhnlich die Unterschiede zwischen den Werken zweier ausführender Hände innerhalb eines Ateliers. Die Systematisierung des Formzusammenhanges, die Zurückdrängung des lebensvollen, natürlich bewegten Elementes in der Erscheinimg der Statue, das Erlöschen des Mienenspieles auf den Gesichtern, sie stehen im Zusammenhang einer ebenso der Laoner Frühgotik wie noch dem Davidgewände gegenüber veränderten künstlerischen Zielsetzung. Es ist, um einen vor anderen Denkmälern des 13. Jh. geprägten Begriff Jantzens aufzugreifen, der Charakter des »Attributhaften«, der jetzt in der Erscheinung jeder einzelnen Statue, eines ganzen Statuengewändes, ja schließlich des ganzen Portales hervortritt und sich an die Stelle einer während der letzten Phase der Frühgotik zuweilen in der Bildhauerkunst der mittelalterlichen Kathedralen aufrauschenden, unmittelbaren Lebendigkeit setzt108. Die Verarmung, Erkaltung der bildhauerischen Einzelform, wie sie zwischen Laon und Chartres zu beobachten ist, war der Preis, welcher für die neue, hierarchisch geschlossene Gesamterscheinung des hochgotischen Portales zu entrichten war. Die Chartreser Marienkrönungspforte ist das erste, glanzvolle Beispiel hochgotischer Portalkomposition. *

Zu Füßen des Christus am Türpfeiler des mittleren Portales der Chartreser Südquerhausfassade sind mehrere Figuren bei der Brotverteilung an die Armen dargestellt, welche seit langem vermutungsweise als Pierre de Dreux und Alix de Bretagne mit ihrer Dienerschaft identifiziert worden sind110. Pierre Mauclerc, Graf von Dreux hat Alix de Thouars, Erbin der bretonischen Grafschaft, 1212 gefreit 111 . 1217 setzen die Stiftungen für die Glasfenster der Südquerhausfassade ein 112 . Die Erstellung des Weltgerichtsportals im Zentrum der Südfassade in den Jahren ab 1212 erscheint aus äußeren Gründen folglich 109 110 in 112

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Jantzen, Deutsche Bildhauer, S. 170. Vgl. R. Merlet, La cathédrale de Chartres, Paris s. d. S. s8£E. Vgl. E. Mâle, Notre-Dame de Chartres, S. 50. Vgl. Y. Delaporte, und E. Houvet, Les vitraux de la cathédrale de Chartres, Chartres 1926, Bd. ι, S. 429s.

als das Wahrscheinliche113. Von der Stilkritik her besteht kein Anlaß, gegen dieses Datum Einspruch zu erheben. Es hat jene Wendung vom Szenischen, von der bewegten Handlung zu einem um starre Achsen geordneten Darstellungssystem an diesem zweiten der in Chartres während des 13. Jh. errichteten Portale, der Weltgerichtspforte, den Höhepunkt erreicht. Katzenellenbogen rührt an den Kern der Sache, wenn er hier von der Organisation des ganzen Portals nach dem zuerst an den Chartreser Westportalen beobachteten »principle of an ideographic central axis« spricht114. Ein Blick auf das Haupt des Apostels Andreas (Abb. 97) und zurück zu dem Antlitz des Propheten Jesaias (Abb. 92) zeigt, wie die Ausrichtung der Formen auf ein starreres Achsengerüst bis in die Prägung der einzelnen Physiognomie hinein hier zu erkennen ist. Das Gekurvte, Geschwungene des Jesaiashauptes ist einer schärferen Trennung der Teile, einer Betonung der Geraden in der Linie des Mundes, dem Ansatz von Stirn und Haarkappe gewichen. Das ganze Gesicht zeigt eine festere Fügung, einen Aufbau wie nach getrennten Geschossen. Nun sind allerdings zu diesem Vergleiche gewisse Einschränkungen zu machen. Zwar scheint die Grundlage für die Stilbildung am Gerichtsportal durchweg in den Bildwerken der wenig älteren Chartreser Marienkrönungspforte gegeben, aber es geht nicht an, die physiognomischen Eigentümlichkeiten der Apostelstatuen — das Breite und Gedrungene der Gesichtsformen — als eine Abwandlung der scheibenhaft flachen, weit auseinandergezogenen Prophetenköpfe vom rechten Gewände des Marienkrönungsportales anzusprechen. Vielmehr sind es die kräftigeren, gröber geschnittenen Köpfe aus den Archivolten des Nordportales, von welchen der Typus der Apostelhäupter ganz offensichtlich ausgeht. Ein Vergleich zwischen dem Haupt eines thronenden Propheten (Abb. 99) und jenem des Apostels Thomas (Abb. 98) mag das verdeutlichen. Spezifische Züge der Apostelköpfe — die breiten Münder, die niederen Stirnen, die in spitzem Winkel an die Nasenwurzel auflaufenden Brauenlinien — sind an den genannten Archivoltenstatuetten unmittelbar vorgebildet. Doch der Apostelkopf zeigt nicht mehr die Weich1 1 3 Mâle, Cathédrale de Chartres, S. so schreibt: »ce portail du Jugement dernier . . . devait être en place en 1212«. Schlag op. cit. S. 157 datiert ebenfalls »1200—1210«. U. E. urteilt Katzenellenbogen, Sculptural programs S. 54 vernünftiger, wenn er schreibt »when in about r 2 i 3 the south facade was started«. Die Stiftung, die ja frühestens 1 2 1 2 erfolgt sein kann, sollte wohl nidit als das Abschlußdatum, sondern als der Zeitpunkt des Beginns der Arbeiten am Portal angesehen werden. 1 1 4 Katzenellenbogen, The sculptural programs, S. 87.

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heit, die fleischige Fülle, die Rundungen, wie sie in den Bogenläufen des Nordportales zu sehen sind. Die Linien sind schärfer gezogen, die Umrisse des Kopfes in härtere Kanten gefaßt, das Tektonische ist mehr als das Leibhafte und Sinnliche betont. Einer tektonischen Gesetzlichkeit unterliegt auch die Komposition der Statuenreihe an diesem Weltgerichtsportale. War am Davidgewände des Marienkrönungsportales (Abb. 95) jede Figur einzeln bewegt gewesen, waren die Statuen des Jesaiasgewändes (Abb. 96) an der Portalwandung gleichmäßig dekorativ nebeneinander aufgereiht wie an einer Bühnenfront, so zeigt das Paulusgewände des Weltgerichtsportales (Abb. 100) abermals eine veränderte, weiter verfestigte Organisationsweise. Unter den Händen der »Baumeister-Bildhauer« (Vöge) gliedert sich die Reihe der Säulenstatuen in einer strengen Folge, welche an die rechtwinkligen Mauertreppen des rein architektonisch geformten Stufenportales erinnert. Die achsenhaft starren Apostelfiguren sind nämlich hier hintereinander — Schulter an Schulter — aufgereiht. Sie sind alle in der gleichen, unbewegten und feierlichen Haltung auf das gleiche Ziel, alle auf die eine Gestalt in der Achse des Einganges gerichtet. Die das Leblose streifende Starrheit des formalen Stiles, die Tilgung des Details steht im Dienste hierarchischen Komponierens. Das »principle of an ideographic central axis« durchwaltet den ganzen figürlichen Apparat. Die Raffung, Kontraktion auf übergipfelnde, zentrale Motive ist konsequent durchgeführt. Unter den hochgotischen Portalaufbauten aus den ersten Jahrzehnten des 13. Jh. sind nur die Pariser Marienkrönungspforte und die weit ausgreifende Anlage der Amienser Westportale in der systematischen Konsequenz der Figurenvereinigung dem Chartreser Weltgerichtstor vergleichbar. Jene mittlere Achse, welche vom Christus am Türpfeiler über den Michael derPsychostasis und den richtenden Christus bis zu dem im Scheitel desBogenfeldes erscheinenden Kreuzeszeichen emporragt, stellt dabei doch nur einen, wenn auch wohl den zentralen Gedanken der Komposition dar (Abb. 101). Vöge sprach von der Gravität dieser Komposition115. Zu seiten der senkrechten Hauptachse entfalten sich die Figurenchöre in die Breite, spannen sich friesähnlich über die ganze Bucht des Portales hinweg. Schon in der Reihe der Apostelfiguren am Gewände tritt neben der »vertikalischen Starre« (Vöge) der Einzelfigur der horizontale Zusammenschluß des ganzen Figurenchores energisch hervor. Die Richtungen sind gegeneinander ausgewogen. Nicht Ben s Vöge, Bahnbrecher, jetzt Bildhauer S. 1 1 5 .

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schwingtheit und aufstrebende Leichtigkeit, sondern Bestimmtheit, gesetzte Festigkeit der Erscheinung werden angestrebt. Das gleiche Thema ist dann in der Türsturzzone ein zweites Mal angeschlagen, wo der Zug der Seligen und Verdammten von der Mitte her durch das ganze Portal bis in die äußersten Bogenläufe hinein ausgebreitet wird. Der entwerfende Meister des Gerichtsportals geht auch der für gotische Portale charakteristischen, das Bogenfeld wie mit Girlanden umkränzenden Anordnung der Archivolten aus dem Wege. Er ordnet nach Geschossen, gliedert die Darstellung in Zonen, rafft die Figurenbewegung in jeder Zone auf die Mitte hin oder läßt sie von der Mitte her auseinandertreten. Richter, Fürbittende und Engel mit den Arma Christi sind im Bogenfeld in hierarchisch stufender Gruppierung dargestellt, welche in der Mitte, im Kreuz zu Häupten des Judex gipfelt (Abb. 102). Die stufende Gruppierung aber setzt sich in den Archivolten fort (Abb. 103/104). Die daraus entstehende ganz einmalige Verknüpfung von Richter, Fürbittenden und Auferstehung darf man als den bedeutendsten Gedanken derChartreser Gerichtskomposition bezeichnen. Katzenellenbogen hat angesichts der ChartreserTympanongruppe, der starken Betonung der Fürbittfiguren von der »new emphasis on mercy« gesprochen, welche hier dem Gerichtsthema zugeführt werde11®. Bestimmend für die Erscheinung der Chartreser Tympanongruppe ist die unmittelbare Zuwendung der Fürbittfiguren an den Richter, von Angesicht zu Angesicht. Jene »new emphasis on mercy« aber spricht sich noch bewegender in dem bisher nie beachteten Umstände aus, daß hier die Auferstehenden, angeführt von den Fürbittenden, vor das Antlitz des Richters treten. Das nämlich ist der tiefere Sinn jener eigentümlichen Anordnung, nach welcher die Resurrectio hier nicht wie gewöhnlich zu Füßen des Richters stattfindet, sondern in die Bogenläufe versetzt worden ist. Die Gruppen der Auferstehenden, in gestaffelter Anordnung, und zwar vom Zentrum zu den Rändern hin an Höhe abnehmend, setzen die stufende Gruppierung des Bogenfeldes fort, reihen sich hinter Maria und Johannes. Alle wenden sich aufblickend oder betend der Richtergestalt und dem über ihrem Haupte am Himmel erscheinenden Kreuze zu. Die Raffung auf das Zentrum beherrscht diese Komposition ebenso wie sie die Gliederung der Apostelgewände bestimmt hatte. An der Spitze der aus den Gräbern sich erhebenden Scharen aber erscheint in der allerinnersten Archivolte zur Linken wie zur Rechten eine 1 1 6 Katzenellenbogen, The sculptural programs, S. 84.

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betend auferstehende Einzelgestalt. Jene hinter Johannes ist männlich, die andere auf der Marienseite weiblich. Man wird nicht ausschließen können, daß hier — vielleicht in Anknüpfung an jene Form der Etimasia, welche Adam und Eva zu Füßen des Kreuzes zeigt — die Stammeltern als Anführer der auferstehenden Menschheit erscheinen und jenen Zug anführen, der sich zur Linken wie zur Rechten hinter den Fürbittfiguren aufreiht" 7 . Giebelförmig spannt sich diese Darstellung von »Deesis« und Resurrectio durch die ganze Portalbucht, steigt von den äußersten Gruppen der Auferstehenden hinan bis zu dem im Scheitel schwebenden Kreuz. Selten ist das »crux micat in caelis« der Carmina Sangallensia ähnlich feierlich und zugleich menschlich bewegend zur Darstellung gekommen. Hochgotisch-raffende Kompositionsweise hat das dramatische Geschehen des Jüngsten Gerichtes, das viele einzelne Vorgänge in sich beschließt, zusammengezogen auf e i n inhaltliches Hauptmotiv hin. Richter, Fürbittende, Arma Christi und Auferstehung der Toten sind zu einem einzigen Kompositionsgefüge vereinigt. Tilgung der Details ist nicht nur für die bildhauerische Formensprache im einzelnen, sondern auch für den inhaltlichen Aufbau, die Ordnung des ganzen Portales charakteristisch. Der Gesamtentwurf dürfte am ehesten von jenem strenge Zucht der Form übenden Bildhauer stammen, welcher das Tympanon, vielleicht auch die Türpfeilerstatue, meißelte. Er wird uns noch an anderer Stelle wiederbegegnen. Seine Richterfigur (Abb. 105), von gedrungener Proportion, starr feierlicher Gebärde, noch in der Zeichnung des Antlitzes mehr auf die große hieratische Form als auf bewegtes Mienenspiel hin angelegt, spiegelt den Charakter des ganzen Portals. Der Nimbus sitzt ungewöhnlich tief, bleibt hinter dem Haupte nahezu verborgen. Der gerundeten Form, den Kurven und Bögen war der Meister nicht zugeneigt. Er wollte die kantigen, eckigen Umrisse sprechen lassen. Die Silhouette der Richterfigur ist den Kanten des rechteckigen Steinblocks angeglichen. Das Gliedern nach starren Achsen spielt bei ihm auch in die Figurenprägung herein. Haltung und Pose des Richters, ja noch der strenge Schnitt 1 1 7 Für die Etimasia mit A d a m und Eva, welche u. a. im Hortus Deliciarum und in Torcello begegnet und i n dem verlorenen Freiburger Musterbudi enthalten gewesen sein muß ; vgl. O. Gillen, Ikonographisdie Studien zum Hortus Deliciarum, Berlin 1 9 3 1 , S. 15Í. Die Beisdirift im Hortus lautet: » A d a m per crucem redemptus, crucem adorat. Eva per crucem redempta crucem adorat.« Der Titulus im Freiburger Musterbuch lautet: »Ubi species crucis et liber vite inter duos angelos«, dann »Adam et Eva procumbentes«. Vgl. Flamm, Eine Miniatur aus dem Kreise der Herrad von Landsberg. R. f. Kw. 3 7 (1915), S. 123ff. Einen Uberblick über die neueren Forschungen z u m »Freiburger Musterbuch« findet man bei R. W . Scheller, A Survey of Medieval Model Books, Haarlem 1963, S. 73ff. Ich werde

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seines Antlitzes, nehmen etwas von der Form des Kreuzes auf, welches die Engel über seinem Haupte tragen. Unter den Chartreser »Baumeister-Bildhauern« nimmt der Gerichtsmeister die erste Stelle ein. Keiner hat sich so entschieden wie er von den Zielsetzungen der Kunst des 12. Jh. abgewandt. Wollte man das Zusammenwirken der Künstler am Chartreser Querhaus auf antithetische Positionen hin pressen, müßte man in seinem Oeuvre den eigentlichen Gegenpol zum Werk des »Königskopfmeisters« sehen. *

Aus den Untersuchungen am Bau hat sich ergeben, daß bei der Errichtung der südlichen Querhausfassade von Anfang an drei Portale eingeplant waren 118 . Beim Ubergang von der Nord- zur Südfassade also, vermutlich etwa zu Beginn des 2. Jahrzehnts, erfolgte eine erste Erweiterung des ursprünglichen Programms für die Querhausportalanlage: jetzt sollten sechs an Stelle der ursprünglich vorgesehenen zwei Eingänge errichtet, allerdings noch keine Vorhallen angefügt werden119. Manches spricht dafür, daß der »Gerichtsmeister« bei der Planung der Gesamtanlage der Südportale seine Hand im Spiele gehabt haben könnte. An der achsenhaft starren Anordnving der Gewändefiguren beispielsweise wird über alle künstlerischen Differenzen im einzelnen hinweg an allen sechs Wandungen energisch festgehalten. Eine Betonung der Mittelachse ist auch an den Bogenfeidern der Seitenportale zu beobachten: zur Linken durch den stehenden Christus mit der Märtyrerkrone und der Palme, zur Rechten durch die — heute zerstörte — Wiedergabe des Stadttores von Amiens im Türsturz, durch den Architekturaufbau darüber, welcher die Martins- und die Nikolausszene im Bogenfeld zu trennen hat (vgl. Abb. 48) und schließlich durch die Christusbüste im Tympanonscheitel. Die untersten Bogenlauf figuren sind auch an den Seiteneingängen friesartig zusammengezogen. Links ist die Figurenfolge der Stephanssteinigung in der untersten Archivoltenschicht quer durch die ganze Portalbucht ausgebreitet. Rechts sind die beiden Hauptbegebenheiten der Aegidiuslegende im erzählerischen Nebeneinander zu Seiten des Türsturzes in den Bogenläufen entrollt. Ordnungsprinzipien, welche am Hauptportal ihre klarste Formulierung gefunden, dort an einer speziellen Thematik sich kristallisiert hatten, [117] die ikonographischen Fragen des Chartreser Geriditsportals in der Anm. 72 angekündigArbeit näher behandeln. 118 Grodedd, Α. Β. XXXIII, 1931, S. 164. 119 Siehe Grodedd, op. cit. S. 160, Grundriß D.

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scheinen so in die Figurenanordnung der Seiteneingänge hineinzuwirken. Die Planung der Dreiportalanlage an der Südfassade bezeichnet in der Entstehungsgeschichte der Chartreser Querhausportale dasjenige Stadium, in welchem solche auf umfassende, systematische Gliederung abzielenden Tendenzen sich am stärksten Geltung verschafften. Die anschaulichen Gegebenheiten sprechen dafür, daß der »Gerichtsmeister« dabei die treibende Kraft gewesen sein möchte. Er scheint bestrebt gewesen zu sein, die Gesetzlichkeit achsenhaft starrer Gliederung der ganzen Dreiportalanlage an der Südfront aufzuzwingen. Von ihm stammte vermutlich der Gesamtentwurf für die Portale an der südlichen Querhausfassade. Die Ausführung des linken Seiteneinganges, des Märtyrerportals, wurde, wie in der Forschung bereits wiederholt betont worden ist, Bildhauern überantwortet, welche dem unmittelbaren Schulkreis des Gerichtsmeisters entstammten120. Die Tympanonkomposition mit dem stehenden Christus im Zentrum ist ein matter Versuch, mit der energisch zusammenfassenden Gliederung des mittleren Bogenfeldes gleichzuziehen. Die Säulenstatuen, zumal jene der rechten Wandung, Vincentius, Dionysius und Piatus, zeigen die gleichen starren Physiognomien wie die Apostelfiguren des Mittelportals. Für den besonderen Gesichtspunkt unserer Untersuchung, der auf die Gegensätze und Spannungen in der Chartreser Hüttenplastik zu Beginn des 13. Jh. gerichtet ist, ergibt sich aus dem Skulpturenschmuck des Märtyrerportals nichts Neues. Die eigentlichen Probleme treten in den künstlerisch weit bedeutenderen Skulpturen des Gerichtsportales klarer zu Tage und wurden oben erörtert. Am rechten Eingang aber erweist sich gerade im Gegenteil jener für so viele bedeutende Unternehmungen der Kunst des Hochmittelalters charakteristische Umstand, daß die systematisierenden Absichten einer Gesamtplanung und der bei ihrer Verwirklichung an den Tag tretende Hang zur Versenkung ins Detail miteinander in Widerspruch geraten. Der äußere Anlaß dafür kann nur vermutet werden, aber solche Vermutung hat einige Wahrscheinlichkeit für sich. Die oben erwähnte Planerweiterung von einem zweitürigen Anfangsprojekte zu einer sechstorigen Anlage wird die Notwendigkeit einer Vergrößerung der 1 2 0 Vgl. Schlag, op. cit. S. 157Í.

Mâle, Notre-Dame de Chartres, S. 50. P. Vitry, D i e gotische

Plastik Frankreichs 1226—1270, München 1929, S. 86, nimmt für die Gewändefiguren gerade dieses Portals Zusammenhänge mit Sens an. Schlag, op. cit. S. 1 2 6 , A n m . 9, greift diesen Hinweis zögernd auf, betont aber gleichzeitig, daß die wichtigsten Anregungen v o m Weltgerichtsportal kamen. U . E. hat das Märtyrerportal nidit das Geringste mit Sens zu tun, sondern stammt von der Werkstatt des Geriditsmeisters.

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anfänglichen, aus Laon angeworbenen Bildhauerwerkstatt im Gefolge gehabt haben. So kam es, daß am rechten Eingange der Südseite, in der unmittelbaren Nachbarschaft des Gerichtsmeisters, Bildhauer auf den Plan traten, welche ein seiner hochgotisch-systematisierenden Auffassung gerade entgegengesetztes Ideal vertraten. Die Tympanongliederung paßt sich zwar mit der durchgehenden, mittleren Vertikalachse noch dem vom Mittelportal her bestimmten Gesamtentwurf an, zielt aber im übrigen nicht auf Raffung und hieratische Stufung, sondern auf das lockere Nebeneinander erzählerisch bewegter Einzelszenen (s.Abb. 48). Und was die einzelnen Darstellungen angeht, so stammen die Legende von Aegidius und der Hirschkuh (Abb. 77), die Martins- und die Nikolausgeschichte (Abb. 48, 80), wie wir im vorigen Kapitel sahen, von Bildhauern, welche nicht die tektonisch gestraffte Form, sondern die inhaltsvoll belebte, mit reichem Beiwerk ausgeschmückte Darstellung von Vorgängen zu geben trachteten. Bei den Archivoltenfiguren wird nicht das feierlich steife Thronen, sondern die komplizierte, eigenwillige Gliederstellung gesucht, das Herrische der Pose gerade bei der Einzelfigur (Abb. 57). Nur das Gerüst der Figurenanordnung also, das Skelett der Gliederung, scheint hier noch auf die allgemeinen Anweisungen des Gerichtsmeisters zurückzugehen. Die ausführenden Bildhauer aber füllten es mit einem dramatischen Leben, einem Reichtum eigenwilliger Bewegung, von denen im Oeuvre des Gerichtsmeisters nichts zu spüren war. So wird die Einheit, Geschlossenheit derChartreser Bildhauerwerkstätten in eben dem Augenblick gesprengt, als der Gerichtsmeister bei der Planung der Südfassade ihr systematische Vollendung angedeihen lassen wollte. Tympanongliederung und bildhauerische Form in Bogenfeld und Archivolten des Bekennerportals weisen, wie wir oben gezeigt haben, auf Senser Voraussetzungen. Am Bekennerportal scheint die im Augenblick der Planerweiterung herbeigerufene Senser Werkstatt ihre Tätigkeit zuerst aufgenommen zu haben. Von diesem Augenblick an, da vermutlich kurz nach 12,12 Senser Bildhauer der älteren Laonnischen, auf die Gesetze der Bauplastik eingeschworenen Werkstatt an die Seite traten, nimmt der Gang der bildhauerischen Arbeiten an dem Chartreser Querhaus einen ungleich komplizierteren Verlauf, entfaltet er sich in Spannungen und Gegensätzen. In den fundamentalen stilistischen Differenzen zwischen den Seiteneingängen der Nordseite treten sie schroff zu Tage. Die verschwenderische Formenvielfalt des nördlichen Portikus, welche noch niemals einer systematischen, stilkritischen Durchforschimg unterzogen worden ist, ergibt sich aus der Zusammenarbeit 63

der älteren Laonnischen und der später zugewanderten Sensischen Werkstatt. Die künstlerische Problematik der von uns noch nicht besprochenen Gewändestatuen des Bekennerportals hat Emile Mâle mit dem Blick auf die redite Wandung, wo nebeneinander Martin, Hieronymus und Gregor stehen (Abb. 106), folgendermaßen gekennzeichnet: « trois de ces figures ne sont plus des types, mais expriment des caractères Überraschend ist in der Tat schon der sprunghafte Wechsel der Größe von Figur zu Figur. Eigenwilligkeit bezeugt die Komposition des Gewändes durch die Achsenverschiebungen von Statue zu Statue. War der Gerichtsmeister bei seiner Gewändekomposition ausgegangen von der völlig egalisierten Figurenreihe, so daß sich seine Apostelbilder aneinanderschlossen wie die Mauertreppen eines Stufenportals (vgl. Abb. 100), so geht der Bildhauer des Martinsgewändes gerade umgekehrt aus von der differenzierenden Entfaltung der Einzelstatue. Von daher ergibt sich die Möglichkeit, bei Behandlung des Physiognomischen nicht ausschließlich einem fixierten und stereotyp wiederholten Typus zu folgen, sondern individualisierend vorzugehen. Es kann weiterhin, wie die Statue Gregors des Großen zeigt, die Gewändefigur aus dem — am Gerichtsportal wie am Märtyrerportal stets beibehaltenen — feierlich ruhigen, attributiven Zustand in einen erzählerischbewegten übergeführt werden. Die Gregorfigur nämlich, in ergriffen lauschender Haltung mit der inspierenden Taube auf der rechten Schulter und dem beobachtenden Schreiber unter ihren Füßen, ist Legendendarstellung in statuarischer Form. Jene Werkstatt, die in Tympanon und Archivolten zu lebhaft bewegten, erzählenden Gruppen drängte, Legenden mit landschaftlichen Details auszuschmücken liebte und auch die Haltung der einzelnen Archivoltenstatuette nach Möglichkeit zu aktivieren trachtete, gestaltete also auch die Gewändefigur nicht nach dem Prinzip der Reihung, sondern nach jenem der Individualisierung. Damit aber tritt, so sehr auch die Stilbildung im einzelnen eine von Grund auf verschiedene ist, eine Tendenz wieder hervor, welche in Chartres an der altertümlichsten aller Portalwandungen, dem Davidgewände (Abb. 95) des Marienkrönungsportales geherrscht hatte und welcher die mit dem Jesaiasgewände des gleichen Portales (Abb. 96) einsetzende und an den Wandungen des Weltgerichts- und Märtyrerportals (Abb. 100) sich vollendende Entwicklung dann gerade mit aller Entschiedenheit entgegenzuwirken bestrebt gewesen war. Die Gregorstatue nimmt ein Anliegen wieder 121 E. Mâle, Notre-Dame de Chartres, S. 52. 64

auf, das gerade an jenen altertümlichsten Figuren des Davidgewändes, am Samuel, am Abraham, am Moses (Abb. 95) eindrucksvoll zu erkennen gewesen war: die eigentümliche Verbindung des Statuarischen mit dem Szenisch-Bewegten. Ein Antlitz wie jenes des ergriffen lauschenden Papstes, das eine von innerer Bewegung, von Inspiration kündende Mimik erkennen läßt, hatte man bei Samuel (Abb. 93) aber nicht mehr bei den späteren, fortgeschritteneren Chartreser Gewändefiguren gesehen, den Werken der »Baumeister-Bildhauer«. So wird man auch gegen Mâles oben zitierte Feststellung einwenden müssen, daß die ihr zu Grunde liegende Vorstellung vom Stilwandel am Chartreser Querhaus zu abstrakt, zu blaß bleibt — ein lineares Entwicklungsschema — und nicht mit dem Ineinandergreifen ganz verschiedenartiger Werkstätten, der Verzahnung der historischen Schichten rechnet. Ihrer eigenwilligen Formensprache nach gehören die Kirchenväterstatuen von Martin, Hieronymus und Gregor zusammen mit den Tympanon- und Archivoltenfiguren des Bekennerportales122. Das Gewichtige ihrer Erscheinung geht hervor aus Sprödigkeit, Kargheit in der Wiedergabe von Gewandung und Bewegung. Die Rhetorik der Linie, in welcher die aus Laon übernommenen Werkstätten glänzten, ist ihnen fremd. Ihre Gesten sind ohne dekorative Grazie, aber die Bewegung dieser groß, ja mächtig gegebenen Arme und Hände ist von einer eindrucksvoll beharrlichen Kraft und Gesammeltheit. Die Linie ist auch bei der Zeichnung des Antlitzes zurückgedrängt. Die »gotischen« Locken, wie sie noch die Häupter der Märtyrerfiguren am linken Seiteneingange der Südfassade umspielten, sind an den Kirchenväterstatuen nirgends zu entdecken. Es ist das Knochengerüst des Schädels, welches der Bildhauer der Martin-, Hieronymus- und Gregorstatue stattdessen in einer ebenso schroffen wie markanten Weise zu betonen sucht, seinen Statuen dadurch Charakter aufprägend. Das Schroffe und Energische, die Absage an die linearen Floskeln, war auch für die Königsfigur aus den Archivolten (Abb. 57] oder den reitenden Herrscher aus der Aegidiuslegende (Abb. 76) bezeichnend gewesen. Ein stolzes und selbstbewußtes Wesen, das sich aus eigenwilliger Steifheit und Sperrigkeit der Form ergibt, teilen die Kirchenväterstatuen mit den Herrscherfiguren in den Archivolten. Das steile Sitzmotiv bei einem Heiligen im Mönchsgewand (Abb. 107), die steife Geste des rechten Armes, überhaupt die Vorliebe für das Aufgerichtete der Glieder, zeigt in aller Deutlichkeit, daß die Archivol122 Das ist schon gesehen von G. Schlag, op. cit. S. 124Í.

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tenfiguren des Bekennerportals und die Kirchenväterstatuen von den gleichen Bildhauern gearbeitet worden sind. Der Typus des Hauptes bei jener Archivoltenfigur von schmächtiger, hagerer Erscheinung, knochig und kantig, ist der auch für die Kirchenväter charakteristische. Der zelebrierende Aegidius und der knieende König aus der rechten Hälfte der Aegidiuslegendendarstellung (Abb. 109) stehen den Wandungsfiguren sogar noch näher: das Hagere der ganzen Körperproportion, das Spröde und Störrische in Bewegung und Faltenzügen, erweisen diese Figuren als Werke der gleichen Hand, die audi eine Figur wie den Hieronymus schuf. — Von jenen Archivoltenfiguren, vonderTympanongliederung oder auch den erzählenden Reliefs derNikolausund Aegidiuslegende ließen sich die Fäden zurückverfolgen nach Sens, dem Ausgangsort der am Chartreser Bekennerportal arbeitenden Bildhauer. Für die Kirchenväterstatuen, die ohne Zweifel in den gleichen Atelierzusammenhang gehören, ist dieser Zusammenhang mit ähnlicher Deutlichkeit nicht mehr aufzuweisen. Ein nur fragmentarisch erhaltener Papstkopf im Palais Synodal in Sens (Abb. 108) läßt sich allenfalls motivisch, aber nicht seiner Stilbildung nach mit den Chartreser Statuen vergleichen. Die sinnliche Üppigkeit seiner Formengepflogenheiten der Frühgotik eben überwunden und die neue Typik nung jener Chartreser Charakterfiguren in einem ausgesprochenen Gegensatz. In Sens freilich, so hat man immer zu bedenken, sind uns nur bescheidene Reste eines ehedem weit ausgebreiteten Ensembles erhalten123. Um so mehr fällt ins Gewicht, daß uns in einem völlig vereinzelten Königskopfe des Senser Museums (Abb. 110) eine frühere Version jenes hageren, durch die Krone turmartig überhöhten Kopftypus erhalten ist, wie ihn der Bildhauer der Chartreser Kirchenväterstatuen zu geben liebte. Der Zusammenhang mit dem Kopf des Martin von Tours (Abb. r 12) ist unmittelbar deutlich. Freilich sind die Formen des Senser Kopfes von dem Chartreser Bildhauer völlig neu gedeutet, auf eine charakterisierende Aussage hin: das Asketische, Unsinnliche eines Hauptes mit hageren Wangen und weit zurücktretenden Augen, in welchem der Akzent ganz auf der gebieterisch hervortretenden Stirn liegt. Umdeutung älterer Stilformen im Sinne eines neuen Wirklichkeitsbezuges kennzeichnet das künstlerische Schaffen der Senser Bildhauer in Chartres — die drei Kirchenväterstatuen legen davon kaum weniger eindrucksvoll Zeugnis ab als das Oeuvre i î 3 Eine Figur in liturgischer Gewandung wurde vor einigen Jahren durch R. Branner in der alten Abtei Sainte-Colombe-lès-Sens entdeckt. Vgl. R. Branner, Une statue inconnue de Sens, Bull. Mon. CXVÏÏI (i960), S. 207^.

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des Königskopfmeisters. Spätere gotische Wandungsfiguren in pontifikaler Gewandung bleiben oft akzentlos. Die Amienser und sogar die Reimser Westfassade geben darüber in ihrem Statuenwerk Aufschluß. Das Formelhafte, das Konventionelle als ein Wesenszug gotischer Portalskulptur überhaupt trat bei der Wiedergabe kirchlicher Würdenträger besonders sichtbar zutage Die Chartreser Kirchenväterstatuen bleiben in ihrer, das Individuelle betonenden Charakterisierung durchaus exzeptionell, großartige Zeugnisse jener besonderen künstlerischen Situation zu Beginn des 13. Jh., als die ornamentalisierenden Formengeflogenheiten der Frühgotik eben überwunden und die neue Typik der Hochgotik noch nicht fixiert war. Mâle hat den oben zitierten Satz ausdrücklich auf die rechte Wandung des Bekennerportales bezogen wissen wollen. An der Ausführung der Statuen der linken Wandung ist jener hochbedeutende Bildhauer, der Martin, Hieronymus und Gregor schuf, sicher nicht beteiligt. Ambrosius und Nikolaus (Abb. i n ) gehören freilich in den gleichen weiteren Atelierzusammenhang. Es herrscht an ihnen die gleiche Sparsamkeit in der Ausbreitung des Details und der gleiche feierlich ernste Zug, der sich nirgends in die schönläufigen Formenfloskeln geschwungener Faltenzüge oder spielerischer Locken verliert. Von völlig anderer Erscheinung aber ist die Statue Leos des Großen. Sie zeigt nicht nur schlankeren Wuchs, sondern in den Umrissen des Leibes wie in den feinlinigen Plissierungen des Gewandes eine Vorliebe für die flüssige Kurvenführung, welche zu den übrigen Statuen der linken wie der rechten Wandung im größten Gegensatze steht. Charakteristisch ist beispielsweise die Form der Tiara: glockenförmig geschwungen, lang ausgezogen und gekurvt, wogegen jene des Gregor kegelförmig gebildet gewesen war. Fragt man nach dem Bildhauer dieser Statue, so stößt man auf ein ebenso überraschendes wie für die Chartreser Hüttenzusammenhänge aufschlußreiches Resultat. Ein Vergleich zwischen dem Haupte der Maria des Krönungsportales im Zentrum der Nordfassade (Abb. 113) und dem Haupte des Leo (Abb. 1x4) läßt nämlich aufs deutlichste erkennen, daß wir es hier mit Werken der gleichen Hand zu tun haben. Das langgestreckte Oval des Antlitzes mit dem Zug ins Spitze, den schlitzförmigen Augen, der vornehm geschwungenen Nase, diese aristokratisch überzüchteten und aristokratisch leeren Formen — nichtssagend in ihrem spezifischen menschlichen Gehalt — sie stammen ganz ohne Zweifel von demselben höchst virtuosen Bildhauer. Die letzte stilkritische Untersuchung über die Chartreser Querhausportale ist von der Annahme einer starren Rangordnung 67

in den Bildhauerwerkstätten und einer entsprechenden, rangmäßig abgestuften Verteilung der Arbeit ausgegangen124. Die tatsächlichen Verhältnisse scheinen sehr viel flexibler, vor allem sehr viel mehr von dem zufälligen Fortschreiten der Arbeit, den Anforderungen des Augenblicks bestimmt gewesen zu sein. Der Bildhauer, der am Marienkrönungsportal als der Meister desTympanons auftrat, dort wahrscheinlich die ganze Portalkomposition bestimmte, wurde später mit der Ausführung einer Einzelstatue an einem der zusätzlichen Seiteneingänge betraut, als die sich vergrößernden Aufgaben nach einer Anspannung aller verfügbaren Kräfte riefen. Die Beobachtung ist aber auch für die Chronologie der Chartreser Querhausportale nicht ohne Interesse. Die Tatsache, daß der Hauptmeister des Marienkrönungsportals kaum gewandelt als einer der Bildhauer der Wandungsstatuen des Bekennerportals wiedererscheint, spricht für einen raschen Fortgang der Arbeiten. Sie mögen sich in einem kürzeren Zeitraum zusammengedrängt haben als die Forschung meist angenommen hat. War der »Marienkrönungsmeister« an der Südfassade beschäftigt und wirkte er dort in einer unveränderten Formensprache, besteht um so mehr Anlaß, mit dem Rrönungsportal nicht über die Reliquientranslation von 1204 hinaufzugehen. Die Seiteneingänge der Südseite dürften andererseits nicht lange nach 12Γ5 vollendet gewesen sein128. In ein einziges Jahrzehnt würden sich dann die Arbeiten am Haupteingang der Nordseite und an den drei Eingängen der Südfront zusammendrängen. Es besteht Anlaß zu der Annahme, daß die Ausführung nicht nur der Seitenportale, sondern auch der Vorhallenskulpturen an der Nordfassade sich unmittelbar und in rascher Folge angeschlossen haben. *

Die Gewändestatuen des Bekennerportals lassen sich durch Heranziehung weiterer Werke, die in den unmittelbaren Umkreis der Chartreser Bauplastik gehören, noch enger und überzeugender mit den Ateliers von Sens in Zusammenhang bringen. Wir denken an jene Fragmente von Grabmälern aus der 124 Schlag, op. cit. Die Fragestellung Sdilags: »Zusammensetzung und Arbeitsorganisierung einer Hüttenwerkstatt« ist ebenso interessant wie sie, nachdem nun einmal urkundliche Anhaltspunkte nicht gegeben sind, unbeantwortbar bleibt. Sdilags Lösungsvorschlag, S. 1520. — Abb. 106 nodi durdi graphische Darstellungen schablonisiert — ist daher denn audi mit allen Unsicherheiten und Unzulänglichkeiten belastet, die nun einmal den Ergebnissen rein stilkritischer Untersuchungen anhaften. Das Resultat berührt eher pedantisch als überzeugend. 125 1217 werden ja bereits die Glasfenster für die Fassade des Südquerhauses gestiftet. Vgl. oben Antri. 1 1 2 .

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Abtei Josaphat vor Chartres, welche der Abbé Métais einst entdeckt hatte und über deren stilgeschichtliche Stellung wir bereits an anderer Stelle gehandelt haben12®. Hier geht es darum, diese Fragmente nochmals im Zusammenhang und unter den besonderen Gesichtspunkten der vorliegenden, weiter ausgreifenden Untersuchung vorzuführen, auch ist neues Material hinzugekommen und schließlich haben kritische Bedenken Richard Hamann-MacLeans zu einer Modifizierung unserer Anschauungen über die eine Gruppe der Grabmalsfragmente in Lèves — Bischofs- und Klerikergräber — geführt127. 191 r publizierte Métais einen Bischofskopf (Abb. 115), welcher während der kurz zuvor durchgeführten Ausgrabungen unter den Ostteilen der in der Revolution niedergelegten Abteikirche Josaphat zum Vorschein gekommen war128. Die Verwandtschaft zwischen diesem herrlichen Haupte und den Chartreser Kirchenväterstatuen, vor allem dem Kopfe des Martin von Tours (Abb. 112) ist schlagend. Es ist derselbe große Formgedanke hier und dort, nach welchem das von der Mitra gekrönte Haupt des Kirchenfürsten in einen steilen, an hochgotische Fenster- und Arkadenbildungen erinnernden Umriß gefaßt wird. Die natürlichen Formen des menschlichen Antlitzes scheinen dadurch auf eine ähnliche Weise verwandelt, von jeder irdischen Schwere gelöst wie in den Bauten der gotischen Architekten die Säulen und Dienste. An dem Lèver Kopf freilich sind — anders als bei dem Martinshaupt und den übrigen Chartreser Wandungsfiguren — die leise bewegten Oberflächen wie von zarten Schleiern verhängt, wodurch sie den Eindruck des Aetherischen, des durchsichtig Vergeistigten hervorrufen. Man denkt nicht zufällig an solche Werke des 14. Jh. wie das Grabmal des Friedrich von Hohenlohe im Bamberger Dome, wo ähnliche Wirkungen freilich ohne den Adel, den formalen Takt des Lèver Hauptes und mit ungleich vehementeren, schrilleren Mitteln angestrebt sind. Die Abtei Josaphat war während der zweiten Hälfte des 12. und in der ersten 126 Vgl. hierzu C. Métais, Église Notre-Dame de Josaphat, Chartres 1908, Ders. La crosse et le tombeau de Renaud de Moucon, Revue de l'art chrétien LXI (1911), S. 2 i i f f . W. Sauerländer, Tombeaux Chartrains du premier quart du XIIIe siècle, Information d'Histoire de l'Art 9 (1964), S. tfä. 127 Die Anm. 1 auf S. 49, Sp. 2, meines Aufsatzes Tombeaux Chartrains unterstellt Richard H a m a n n - M a r l e n zu Unrecht Unkenntnis der örtlichen Literatur. Herr Prof. HamannMacLean hat midi nachträglich darauf hingewiesen, daß er zu seinem Schluß über den Lèver Bischofskopf unter voller Kenntnis der Argumentation Métais gekommen ist. Eine begrenzte Vortragszeit gestattete ihm lediglich nicht, sich mit dieser Argumentation eigens auseinanderzusetzen. Vgl. Hamann-MacLean Reims als Kunstzentrum im 12. und 13. Jh., Kunstchronik 9 (1956), S. 287fE. 128 C. Métais, Rev. de l'Art chrétien zit. Anm. 126.

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Hälfte des 13. Jh. die Grablege der Bischöfe von Chartres. Es wurden dort seit 1149 nicht weniger als sechs Chartreser Bischöfe bestattet128. Métais hat 1911 den als Einzelstück im Südarm des Querschiffs gefundenen Kopf zu identifizieren versucht und ihn von der Fundstelle ausgehend mit dem Grabmal des T217 verstorbenen Bischofs Renaud de Mouçon in Verbindung gebracht. Gleichzeitig wies er auf die enge stilistische Verwandtschaft mit den Kirchenväterfiguren am Südquerhaus der Kathedrale hin und schloß diesen Vergleich mit dem Satz: » On peut croire qu'elles ont été sculptées sur le même modèle, par le même artiste et simultanément «1S0. Diese Auffassung haben wir in unserer voraufgehenden Arbeit aufgegriffen und mit den weiteren stilgeschichtlichen Zusammenhängen — Hinweis auf Sens — sowie der Chronologie der Chartreser Querhausportale abzustimmen versucht131. Einen ganz anderen Vorschlag hatte 1956 Richard Hamann-MacLean unterbreitet. Er bringt den Kopf mit dem in Lèves erhaltenen Sarkophag des 1180 verstorbenen Erzbischofs Jean de Salisbury zusammen, datiert ihn wenig nach 1180 und sieht die stilgeschichtlichen Voraussetzungen für dieses Lèver Fragment in den Skulpturen der sog. Porte Romane der Reimser Kathedrale132. Während nun eine Datierung des Lèver Kopfes in die achtziger Jahre des 12. Jh. offensichtlich auszuschließen ist und auch ein Zusammenhang mit Reims sich kaum erweisen läßt, verdient ein mündlicher Einwand Hamann-MacLeans, der Lèver Kopf sei deutlich altertümlicher als die Chartreser Kirchenväterstatuen, Beachtung. Tatsächlich steht das von Métais entdeckte Bruchstück dem Königshaupte im Senser Museum (Abb. no) näher als die im Detail energischer artikulierten Köpfe der Kirchenväterstatuen. Seine zerfließenden Formen, die charakteristischen, nach außen hin absinkenden Augen, die einen melancholischen Zug vortäuschen, erinnern deutlicher als die gestrafften Köpfe der Kirchenväter an Senser Vorgänger wie den Stephan (Abb. 39), den Kopf im Palais Synodal (Abb. 35) oder das zuvor erwähnte Bruchstück von einer Papstfigur (Abb. 108). Mit anderen Worten: es liegt noch ein Anflug von Frühgotik über dem Lèver Bischofshaupt, welcher bei den Kirchenväterstatuen nicht mehr zu erkennen ist. Man wird die stilgeschichtliche Stellung des Lèver Kopfes daher genauer nicht bezeichnen kön129 C. Métais, Rev. de l'Ait chrétien, zit. A run. 126, S. a u f . 130 Revue de l'Art chrétien, zit. Anm. 126, S. 214. 1 3 1 Information d'Histoire de l'Art, S. 49 f. Audi der Katalog der Ausstellung Cathédrales, Musée du Louvre, 1962, folgt in dei Notiz zu Nr. 54 der Identifizierung Métais. 1 3 2 R. Hamann-MacLean, Reims als Kunstzentium, S. 288.

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nen als mit dem Hinweis, daß seine Abkunft von einem Werk in der Art des Senser Königshauptes offensichtlich (Abb. no), andererseits die ganz unmittelbare Vorbereitung der eigentümlichsten und unverwechselbarsten Züge der Kirchenväterstatuen — zumal des Martin von Tours — nicht weniger augenscheinlich sei. Dieser letztere Zug — die Nähe zu den Kirchenväterstatuen — ist sogar so charakteristisch ausgeprägt, daß man aus Métais' oben zitiertem Satze guten Gewissens nur das »simultanément«, aber nicht unbedingt die Vermutimg »par le même artiste« streichen kann. Es könnte sich bei dem Lèver Bischofskopf sehr wohl um eine frühere Arbeit des gleichen Bildhauers handeln, welcher später die Statuen an der rechten Wandung des Bekennerportales der Kathedrale von Chartres schuf. Fraglich wird freilich die Identifizierung dieses Kopfes, wie sie von Métais vorgeschlagen und später von uns aufgegriffen worden ist. Die Fundstelle erlaubt keinen ganz eindeutigen Schluß133. Die Chronologie der Chartreser Kathedrale, ganz besonders die Glasfensterstiftung für die südliche Querhausfassade, legt eine Datierung der Kirchenväterstatuen etwa zwischen 1 2 1 2 und 1 2 1 7 nahe. Renaud de Mouçon ist erst 1 2 1 7 gestorben. Will man nicht annehmen, daß er sein Grabmal zu Lebzeiten vorbereiten ließ, so wird man schließen müssen, daß der Lèver Kopf — seine Entstehung wird am ehesten im ersten Jahrzehnt des 13. Jh. liegen — von einem der voraufgehenden Bischofsgrabmäler stamme. Eine genauere Bestimmung zu geben, scheint nicht mehr möglich. Es besteht Raum für die verschiedensten Vermutungen. Die Verbindung zwischen den Kirchenväterstatuen und den Ateliers von Sens wird durch den Lèver Kopf klarer erkennbar. Er nimmt eine Art Mittlerstellung ein zwischen den altertümlicheren Senser Bruchstücken und der Statuenreihe am Chartreser Bekennerportal. Möglicherweise haben Senser Bildhauer zuerst in der Abtei Josaphat an den Grabmälem von Chartreser Bischöfen und Klerikern gearbeitet und wurden hernach zur Mitwirkung an den Seitenportalen der Kathedrale mit herangezogen. Was uns in Lèves an weiteren 1 3 3 Métais, Revue de l'Art chrétien 1 9 1 1 , S. ari. Die »diapelle Saint-Nicolas et des Anges«, in welcher sich das Grabmal des Renaud de Moucon befunden haben soll — absolute Sicherheit scheint schon darüber nicht zu bestehen —, wurde bereits im hundertjährigen Krieg zerstört und später mehrmals verändert. Die Grabfiguren wurden im 16. Jh. von den Hugenotten in mehrere Stücke zerschlagen. Der Kopf schließlich wurde als Einzelfragment gefunden, allerdings am Fußende des vermutungsweise auf Renaud de Moucon getauften Grabmals. Man muß der mündlich geäußerten Ansicht Hamann-MacLeans zustimmen, daß mit der Fundlage kein Staat mehr zu machen ist.

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Bruchstücken erhalten ist, was sich aus den Zeichnungen der Collection Gaignères erschließen läßt, gehört jedenfalls durchweg in jenen weiteren Werkstattzusammenhang, der von Sens bis zu den Chartreser Seitenportalen — Salomoportal und Bekennerportal — sich erstreckt. Métais hat ein Bruchstück von einer Grabfigur in priesterlicher Gewandung (Abb. Ii6) vermutungsweise mit dem Grabmal des 1216 verstorbenen Erzdiakons Philippe de Lèves zusammengebracht134. Diese Vermutung ist von uns zunächst aufgegriffen worden, aber auch hier ergeben sich von der Stilkritik her chronologische Bedenken135. Das Fragment ist dem Bischofskopf (Abb. 115) unmittelbar verwandt. Einzelheiten wie die sehr charakteristische Augenbildung mag man identisch nennen. Auch hier steht einer Datierung nach 1216 die Nähe zu Frühgotischem entgegen, wie sie in der ungestrafften, gelöst stimmungsvollen Formensprache erkennbar wird. Die Verwandtschaft mit erhaltenen Senser Werken ist unmittelbar deutlich. Man könnte auf den Stephan (Abb. 39) verweisen. Näher noch steht das Haupt jenes trauernden Johannes (Abb. 117), der als Gegenstück zu der früher erwähnten und mit dem Geburtsrelief des Chartreser Lettners verglichenen Marienfigur (Abb. 86) im Inneren der Senser Kathedrale sich befindet. Sensisches spielt also hier sehr augenscheinlich herein. Der zuvor besprochene Bischofskopf (Abb. 115) wird über dieses zweite Fragment enger noch mit Sens verknüpft und damit werden auch die Sensischen Voraussetzungen der Kirchenväterstatuen nochmals deutlicher. Als fraglich, wie gesagt, aber muß auch hier die vorgeschlagene Identifizierung auf Philippe de Lèves gelten, da sie zur mutmaßlichen Entstehungszeit des Kopfes — etwa im ersten Jahrzehnt des 13. Jh. — in Widerspruch steht. Gaignères hat durch seine Nachzeichnungen eine weitere Grabfigur aus der Abtei Josaphat (Abb. 118) überliefert, welche in ihrer ganzen Erscheinung — den Proportionen, der eigenwilligen Formung des Hauptes — an die Kirchenväterstatuen erinnert, und zwar am ersichtlichsten an den Hieronymus (Abb. 106). Gaignères hat den Grabstein als jenen des 1183 verstorbenen Bischof Petrus Cellensis bezeichnet, eine Identifizierung, welche schon Métais wegen der fehlenden bischöflichen Insignien in Zweifel gezogen hat 138 . Wie 134 Métais, Eglise Notre-Dame de Josaphat, S. 42. 135 Information d'Histoire de l'Art, S. 51Í. Das Fragment muß übrigens audi von den Statuen des Märtyrerportals, mit denen idi es dort zusammenbrachte, abgerückt werden. Es gehört in den Sensischen Kreis, mit weldiem das Märtyrerportal, wie gesagt, nichts zu tun hat. 136 Métais, Notre-Dame de Josaphat, S. 36.

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dem auch sei, jedenfalls scheint hier, soweit man den stets eine gewisse Flüchtigkeit der Ausführung zeigenden Nachzeichnungen für Gaignères vertrauen kann, die Wiedergabe eines weiteren Gisants erhalten zu sein, der den Kirchenväterfiguren aufs nächste verwandt war. Glücklicherweise aber brauchen wir uns nicht ausschließlich an solche Nachzeichnung zu halten, vielmehr können wir an erhaltenen Grabplatten erweisen, daß Bildhauer des Bekennerportals und der Königskopfmeister für die Grablege in Lèves gearbeitet haben. Der Typus dieser Grabplatten aber, welche als die vielleicht bedeutendsten Zeugnisse für die Grabmalkunst im französischen Kronland zu Beginn des 13. Jh. angesehen werden müssen, scheint wiederum auf Vorstufen in Sens zurückzugehen. Der Grabstein eines als jugendlich gekennzeichneten Mannes (Abb. 119) ist ohne Zweifel das Werk eines Bildhauers, welcher auch in den Archivolten des Bekennerportals am Südquerhaus der Chartreser Kathedrale gearbeitet hat 137 . Die prallen Körperformen, die Lebhaftigkeit der Bewegungen, das eng und straff anliegende Gewandzeug, weisen unmittelbar auf eine Hand, die man etwa in einer der Halbfiguren von Heiligen in der innersten Archivolte des Bekennerportals (Abb. 120) oder in einem thronenden König ebendort in der dritten Archivolte von innen her (Abb. 121) wiedererkennt. Es gibt Details, welche hier und dort völlig identisch sind, ζ. B. die breit eingekerbten Faltenzüge in den abgewinkelten Ellbogen oder das zwischen den Beinen auseinandergeschlagene Tuch des Leibrockes, die sehr schmalen Gürtel um die stark eingezogenen Hüften. Vor allem aber ist die ungewöhnliche Bewegtheit der Grabfigur mit dem weit abgewinkelten Spielbein, ist das starke Hervortreten der plastisch-figürlichen Formen, welche die architektonische Gliederung der Platte, ihre Rahmung unbekümmert überspielen, den spezifischen Zügen des Bekennerportals verwandt. Man erinnere sich der Archivoltenkomposition mit der Darstellung der Aegidiuslegende, die mit erzählerisch bewegten Figuren und Landschaftsrequisiten die Trennlinien der architektonischen Portal1 3 7 Vgl. Métais, Notre-Dame de Josaphat, S. 105. Die hier gegebenen Maße: Höhe 1,30 m. Breite am oberen Rand 0,72 m. Breite am unteren Rand 0,55 m. Sicher falsch ist Metais' Annahme, daß die Grabfigur »peut-être une femme« darstelle. Das Kostüm mit dem vorne aufgesdilagenen Leibrock ist unzweifelhaft männlich. Vgl. auch Information d'Histoire de l'Art, S. 54ÎÏ. Dort als ein Werk des Königskopfmeisters angesprochen. Ich würde heute mit solcher Annahme zurückhaltender sein, meine allerdings, daß hinter dem von Vöge entdeckten und richtig als eine geschlossene künstlerische Individualität beschriebenen Œuvre ohnedies mehrere ausführende Hände stecken. Das ist aber eine Differenzierung, welche weiter zu verfolgen weder möglidi noch fruditbar sein dürfte.

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gliederung aufzuheben suchte um der bildhaften Wirkung willen (vgl. Abb. 76, 77 u. 109). Der Preis unter jenen in Lèves erhaltenen Grabsteinen aber gebührt nicht dieser Platte mit einem männlichen Gisant, sondern einer zweiten Platte mit einer weiblichen Figur (Abb. i22) 138 . Es scheint, daß wir es hier mit einer eigenhändigen Arbeit des vonVöge entdeckten Königskopfmeisters zu tun haben189. Herrschte bei jenem Männergrabstein, den wir eben besprachen, ein gewisser Ubereifer im Aufgebot groß geratener Figuren, so zeugen hier die Größenverhältnisse von Gisante und Platte, von Haupt, Kissen und assistierenden Engeln von einem äußersten künstlerischen Feingefühl. Bei der Wiedergabe der Frauengestalt ist dabei dem schönheitlichen gotischen Formenkanon, wie er auf zahlreichen Grabplatten des 13. Jh. sich in oft ermüdend konventioneller Manier ausbreiten und wiederholen sollte, gänzlich aus dem Wege gegangen. Die Proportionen sind nicht ohne Anmut, aber sie entbehren der äußerlichen Eleganz, der gotischen Zuspitzung zum Schlanken hin. Eine gewisse Fülle ist ihnen zu eigen, durch Sparsamkeit im Gebrauch kräftiger und breitspuriger Faltenzüge noch unterstrichen. Zu beachten ist auch die an einer weiblichen Figur durchaus ungewöhnliche Breite des Gürtels. Einmalig ist sodann der Einfall, die Figur auf einem Blattsockel stehen zu lassen, dessen Formen an das gotische Knospenkapitell erinnern. Im Oeuvre des Königskopfmeisters begegnet er freilich nochmals, und zwar zu Füßen einer Gewändestatue, des Jesus Sirach140. Unter allen Figuren des Königskopfmeisters aber ist es die Mutter aus dem Urteil Salomonis (Abb. 123), welche dem Lèver Grabstein (Abb. r24) am nächsten verwandt scheint. Die Ubereinstimmung in den formalen Einzelheiten braucht angesichts der Abbildungen kaum eigens hervorgehoben zu werden. Es ist die ausdrucksreiche Eigenwilligkeit der Auffassung, das Unvermittelte und Herzhafte einer der linearen Rhetorik abholden Darstellungsweise, was beide Figuren in einem tieferen Sinne verbindet und als Werke desselben unverwechselbaren Bildhauers erweist. Dem Typus nach gehört ein dritter Grabstein in Lèves, welcher wiederum einen männlichen Gisant zeigt, mit diesen beiden Platten zusammen (Abb. 138 Vgl. Métais, Notre-Dame de Josaphat, S. 158. Die dort gegebenen Maße: Höhe 1,40 m. Breite am oberen Rand 0,70 m. Breite am unteren Rand 0,60 m. Vgl. audi Information d'Histoire de l'Art, S. 53Í. 139 Im Sinne der oben Anm. 137 angedeuteten Differenzierung dürfte es sidti um die Hand handeln, welche Tympanon und Türsturz des Salomo-Portals ausführte. 140 E. Houvet, Cathédrale de Chartres, Portail Nord I, Tafel 12.

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I 2 5 ) 1 4 1 . Seine stilgeschichtliche Stellung unter den W e r k e n der gleichzeitig in Chartres a m Querhaus und in der Abtei Josaphat an Grabmälern tätigen Bildhauer werden w i r später zu erörtern haben. Im Augenblick beschäftigt uns die Frage nach der Bedeutung dieser drei Lèver Platten f ü r die Geschichte des französischen Grabmals in der ersten Hälfte des 1 3 . Jh. Alle drei Platten gehörten vermutlich z u Tumbengräbern und zeigen jenen sargähnlichen, zu den Füßen des Gisant hin sich verschmälernden U m r i ß , w i e er an zahlreichen Grabplatten des 1 3 . Jh. zu beobachten ist 142 . Überraschender ist, daß alle drei Grabfiguren mit dem Gebetsgestus m i t aneinandergelegten Händen dargestellt sind. Unter den erhaltenen mittelalterlichen Grabplatten scheinen diese drei Lèver Platten einstweilen die ältesten bekannten Beispiele mit diesem Gebetsgestus zu sein. W ä h r e n d er im späteren 1 3 . Jh. durchaus geläufig wird, stellte er z u Beginn des Jahrhunderts offenbar ein N o v u m dar 1 4 3 . Solche Darstellung des Gisant mit dem Gebetsgestus m i t aneinandergelegten Händen hängt hier möglicherweise mit jenen Neuerungen bei der Darstellung des Weltgerichtes 141 C. Métais, Notre-Dame de Josaphat, S. 138. Hier werden folgende Maße gegeben: Höhe 1,65 m. Breite am oberen Rand 0,75 m. Breite am unteren Rand 0,60 m. Métais schreibt: Représente un personnage ecclésiastique, les mains jointes, vêtu d'une sorte de dalmatique à manches dans le style du moyen-âge«. Diese Bestimmung ist sicher unriditig. Allein die Rosen im Haar des Gisant schließen seine Identifizierung als Kleriker aus. 143 E. Panofsky, Tomb sculpture, New York s.d. S. 47 erwähnt gelegentlich der altchristlichen Grabplatten diese »flat labs of stone, each not much larger than the coffin, of which they are, so to speak, a surface projection, and occasionally reflecting its trapezoidal shape«. Für weitere Beispiele vgl. Les dessins archéologiques de Roger de Gaignères publiés par J. Guibert, Paris s. d. Série I: Tombeaux Nr. 1097,1092,1090,1088,1134,1135, 1137,1149, riso, 1163 und viele andere. 143 Für die Entstehung, richtiger: allgemeine Verbreitung des Gebetsgestus mit aneinandergelegten Händen siehe G. B. Ladner, The gestures of prayer in papal iconography of the thirteenth and early fourteenth centuries. In: Didascaliae. Studies in Honor of Anselm M. Albaredam, New York 1961. Die Chartreser und Lèver Beispiele liegen nun allerdings früher als die von Ladner für die allgemeine Verbreitung des »younger prayer gesture« hypothetisch verantwortlich gemachten franziskanischen Meßordnungen. Nichtsdestoweniger ist der von Ladner zitierte Passus aus der Franziskusvita des Thomas von Celano erhellend auch für die Gebetsgesten der Chartreser Auferstehenden »debet ad caelum oculos sublevare et junctis manibus Domino dicere: Istam consolationem et dulcedinem mihi peccatori et indigno de caelo misisti, Domine, et ego remitto illam tibi, ut reserves earn, quoniam ego sum latro thesauri tui«. Für die Übertragung des »younger prayer gesture« auf das Grabmal vgl. Ladner, S. 272, Anm. 86, und Panofsky, Tomb sculpture, S. 57. Die Beispiele in Lèves liegen allerdings früher als die von Panofsky als ältestes Beispiel für eine Grabfigur mit dem »younger prayer gesture« genannte Grabmal in Braunschweig und wir halten es für sehr wahrscheinlich, daß der Gestus in der Grabplastik von der neuen, gotischen Formulierung des Gerichtsbildes abhängig sein könnte.

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zusammen, wie sie an den Portalen der gotischen Kathedralen seit St.-Denis erschienen waren und gerade am Chartreser Querhaus ja am reichsten ausgebildet wurden. Wir meinen die Einführung des Gebetsgestus mit aneinandergelegten Händen bei den Fürbittfiguren (Abb. 102) und in Chartres dann ja erstmals auch in vielfältigen Abwandlungen bei den Auferstehenden (Abb. 103, 104). Wenn es tatsächlich jene Neuformulierang des Weltgerichtsbildes an den gotischen Kathedralen — ihre Betonung von Fürbitte und Gnade erflehendem Gebet — gewesen sein sollte, die auf die Darstellung des Gisant mit zum Gebet aneinandergelegten Händen einwirkte, so möchte man es als sinnvoll empfinden, daß die Chartreser Gerichtsdarstellung und die Lèver Grabmäler gleichzeitig und am gleichen Ort, ja im weiteren Sinne auch im gleichen Werkstattkreise entstanden. Völlig ungewöhnlich ist an den Lèver Grabplatten schließlich die besondere Ausbildung eines an sich weit verbreiteten Motives. Wir meinen die den Gisants beigefügten Engel. Auf den beiden ersten Platten (Abb. 119,122) erscheinen jeweils zwei Engel als Kissenhalter, auf der dritten Platte (Abb. 125) ebenfalls zwei Engel im Zusammenhang einer »Elevatio Animae«. Die Anbringung von Engelsfiguren, wie sie während des späteren 12. Jh. an Arkosolgräbern in einer der Portalarchivolte ähnlichen Anordnung über dem Gisant erschienen waren, auf der Grabplatte und zu Seiten des Gisant, wird im 13. Jh. und zumal von etwa 1220 an allgemein geläufig. Auf Grabplatten, die nach 122s entstanden, werden sie entweder als auf der Platte kniend und dann vollplastisch gegeben oder in flachem Relief als neben dem Gisant angeordnete Profilfiguren und dann meist in stehender Haltung dargestellt. Erscheint der Gisant in einer Arkade, so ist die geläufige Anordnung der Engel jene in den Zwickeln zwischen Arkadenbogen oder Giebelschräge und ebenem Plattenrand144. Die Lèver Platten, die vermutlich kurz vor oder nach 1220 entstanden, zeigen die Entwicklung des Grabmals auf einer Stufe, die offensichtlich noch nach der angemessenen Lösung für die Anbringung der Engelsfiguren tastet. Das in Lèves angewendete Verfahren ist höchst eigentümlich und die weitere Entwicklung hat sich alsbald von ihm abgewandt. Die Engel tauchen hier nämlich als nahezu vollplastische Figuren aus Wolkenbändern hervor, welche auf die 144 Uber die Anordnung der Engel an französischen, mittelalterlichen Grabmälern handelt ausführlich und unter Aufführung zahlreicher Beispiele K. Esther, Die Engel am französischen Grabmal des Mittelalters und ihre Beziehung zur Liturgie, R. f. Kw. X X X V (1912), S. 9 7 f f .

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Grabplatte aufgetragen sind. Elegant bringt diese Lösung der Königskopfmeister vor (Abb. 122). Er ordnet die Wolken in den oberen Ecken der Platte an und läßt die zierlichen Engelsfiguren senkrecht nach oben aus der Platte auftauchen wie aus dem Wasserspiegel eines Bassins. Auf der Platte, welche wir einem Bildhauer des Bekennerportals zuschrieben (Abb. 119), endet der gleiche Versuch hingegen in einem Kuriosum. Breite Wolkenformationen — man zahlt nicht weniger als sieben Streifen übereinander — sind hier in Hüfthöhe des Gisant wie eine Banderole quer über die Platte gelegt. Aus ihnen schweben die großen, kräftig gebildeten Engel empor, welche nach dem Kissen unter dem Haupte des Gisant fassen. Es entsteht dabei der gewiß unbeabsichtigte Eindruck, als schwebe auch der Gisant durch die Wolkenzone hindurch gen Himmel. Man begreift, daß die weitere Entwicklung solchen Vorbildern nicht folgen mochte und für eine überlegtere Disposition des Ensembles »Gisant mit Engeln« gesorgt hat. Nicht ganz uninteressant aber ist in unserem Zusammenhang, daß die Lèver Lösung auf zwei allem Anschein nach älteren Grabplatten in Sens wiederkehrt. Gaignères überliefert Nachzeichnungen von Grabplatten aus St.-Pierre-le-Vif in Sens: die Platte vom Grabmal des rr42 verstorbenen Erzbischofs Henri le Sanglier (Abb. 126) und des 1209 verstorbenen Abtes Helias (Abb. 127)145. Aus den Nachzeichnungen für Gaignères stilistische Folgerungen zu ziehen, wird sich kaum empfehlen. Unübersehbar aber ist, daß in beiden Fällen die inzensierenden Engel auf dieselbe Weise angeordnet sind wie auf den Lèver Platten. Die Anordnung bei Henri le Sanglier entspricht den Lèver Männergräbern (Abb. 119, 125), jene bei dem Abte Helias der weiblichen Figur, welche wir dem Königskopfmeister zuschrieben (Abb. 122). Auch wenn man die Bedeutung solcher Übereinstimmungen angesichts eines nur höchst bruchstückhaft überlieferten Denkmälerbestandes nicht überbewerten wird, fällt es auf, daß die Untersuchung des Typus der Lèver Grabplatten wiederum nach Sens führt. Wir bewegen uns immer in dem gleichen Denkmälerkreise, der von Sens bis zu den Seitenportalen in Chartres und den Lèver Grabmälern reicht. Mit der Grabplatte für die so anmutig dargestellte weibliche Figur aber berührten wir bereits wieder das Werk des Königskopfmeisters, und so mag es an der Zeit sein, daß wir uns nach 145 Beide Nachzeichnungen in der Bodleian Library in Oxford. Z u dem Grabmal des Henri le Sanglier notiert Gaignères: »Tombe de pierre en bas-relief au fonds du chapitre, à droite de la chaise du prieur, dans l'abbaye St. Pierre-le-Vif. à Sens. Z u dem Grabmal des Abtes Helias »Tombe de pierre dans le chapitre de l'Abbaye St. Pierre-le-Vif«.

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Chartres zurückwenden, um Zusammenarbeit und Nebeneinanderwirken der beiden eben näher charakterisierten Bildhauerwerkstätten an den nördlichen Seitenportalen und an der nördlichen Vorhalle weiter zu verfolgen. *

Wir erinnern uns, daß nach den Feststellungen Auberts und Grodeckis der Planzustand I — jede der Querhausfronten von einem einzelnen, mittleren Portale durchbrochen — an der Nordfassade tatsächlich zur Ausführung gekommen war. Als nicht unbedingt gesichertes, aber wahrscheinliches Ausführungsdatum sind u. E. die Jahre zwischen 1204 und 121a anzunehmen. Die Seiteneingänge der nördlichen Querhausfront sind nach Aubert und Grodecki nachträglich in die bereits hochgezogenen, seitlichen Wandabschnitte der Fassade eingebrochen. Als Terminus post quem für diese nachträgliche Erweiterung der Portalanlage an der Nordseite muß mindestens der Baubeginn an der Südseite — mutmaßlich ab 1 2 1 2 — vielleicht sogar die Vollendung der drei südlichen Portale — gegen 1 2 1 7 — angesehen werden. Ob die Arbeiten an den drei Eingängen der Südseite und an den zwei zusätzlichen Seiteneingängen der Nordseite sich zeitlich folgten oder mindestens teilweise zeitlich nebeneinander herliefen, läßt sich mit Sicherheit nicht entscheiden148. Die drei Portale der Nordseite — wir sehen im Augenblick von einer Erörterung der nördlichen Vorhalle noch ab — zeigen starke Verschiedenheiten in der kompistionellen Anordnung der Skulpturen. Jene ausgeprägte Vereinheitlichung, wie sie an der Südfront beobachtet wird — vertikale Mittelachse und durchgehende Horizontale in der Türsturzzone an allen drei Eingängen — und dort auf einen einheitlichen Entwurf schließen läßt, ist an der Nordseite nicht zustandegekommen. Die Differenzen zwischen Mitteleingang und Seitenportalen erklären sich aus der Entstehungsgeschichte der Fassade in zwei Arbeitsvorgängen, die zeidich und der Planung nach getrennt waren. Die Differenzen zwischen den beiden Seiteneingängen, welche ja gleichzeitig im Verzuge einer Planerweiterung errichtet wurden, verlangen nach einer anderen Erklärung. Hier wirkten links und rechts verschiedenartige, ja in ihren künstlerischen Idealen einander entgegengesetzte Bildhauer und Werkstätten, und zwar anscheinend ohne durch eine straffe Gesamtplanung gebunden zu sein. Der rechte, westliche Seiteneingang fiel dem von Vöge entdeckten Königskopf146 Vgl. Grodecki, The Transept Portals. M. Aubert, La sculpture française au début de la période gothique, Florence 1928, S. 90. Für die Daten 1212 und 1217 siehe oben S. 56.

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meister zu, dem Genie unter den aus Sens zugewanderten Künstlern. Der linke, östliche Seiteneingang aber wurde dem führenden unter den Chartreser Baumeister-Bildhauern anvertraut, dem Gerichtsmeister. Er hat mit seiner Werkstatt dieses Portal geschaffen und eigenhändig die Gewändestatuen ausgeführt. So sehen wir die eigentlichen künstlerischen Antipoden innerhalb der Chartreser Bildhauerwerkstätten aus dem 2. Jahrzehnt des 13. Jh. an den Seiteneingängen der Nordfront nebeneinander wirken. Portalgliederung, Kompositionsweise und bildhauerische Form des Königskopfmeisters haben wir im vorigen Kapitel erörtert und in weitere, historische Zusammenhänge zu stellen versucht. Vom Werk des Gerichtsmeisters haben wir angesichts des mittleren Südportals eine bedeutende Vorstellung gewonnen: seiner Fähigkeit, vielflgurige und dramatisch bewegte Szenerie hieratisch zu ordnen, auf große, durchgehende Achsen hin zusammenzuziehen (Abb. 101). Eigenhändige Figuren des Gerichtsmeisters — vor allem die Gruppe im Tympanon (Abb. 102 u. 105) — beeindrucken durch die feierliche Strenge der Auffassung, den Zug ins Hehre und Unbedingte, wobei vor der Erstarrung von Physiognomie und Bewegung nicht zurückgescheut wird. Es ist aufschlußreich, des Meisters Figurentypen mit jenen des älteren Krönungsportales zu vergleichen. Seinem Christus (Abb. 105) fehlt das Überfeinerte und Uberzüchtete des Christus aus demKrönungstympanon (Abb. 90). Der Meister neigt einem breiteren Gesichtstypus zu, dessen Einzelformen unveränderlich und unbeweglich, ein für allemal festgelegt zu sein scheinen. Die Köpfe seiner Figuren haben Monumentalität, aber sie entbehren der Poesie. Vielleicht wird dieser Zug gerade an den Frauengestalten des Meisters am deutlichsten bemerkbar. Seine Fürbittmaria aus dem Gerichtstympanon (Abb. 128) verrät nichts von der Grazie überlängter und distinguiert geschwungener Formen, dem aristokratischen Wesen, wie es das Haupt der Maria aus dem Krönungstympanon (Abb. 113) aufweist. Der letzte Anhauch frühgotischen Zaubers ist verflogen. Die Formen dieses Frauenkopfes sind größer, monumentaler, aber auch gröber und schwerer. Das Kinn wird kraftvoll, fast eckig. Die Augäpfel treten mit unübersehbarer Dringlichkeit hervor. Um eine großflächige Stirn legt sieb der Haarkranz in sparsamer Strenge. Des Meisters Stärke liegt nach der Vereinfachung der Formzusammenhänge hin. So wie er ein ganzes Portal auf eine mittlere Achse hin zusammenrafft, ist auch an seinen Köpfen kein überflüssiger, kein beiläufiger Formenzug. Das Pathos dieser Köpfe, ihr Anspruch ruht auf der energischen Kargheit, Dürftigkeit der Form. Darin sind sie 79

wahlverwandt der machtvollen Simplizität der Chartreser hochgotischen Architektur. Als der gleiche Bildhauer nach Vollendung des Gerichtsportales die Wandungsstatuen des Unken nördlichen Seiteneingangs auszuführen hatte, schuf er Frauengestalten nach j enem einmal in der Maria des Gerichtstores entwickelten Ideal. Seine Beharrlichkeit zeigt sich auch am Festhalten an einmal festgesetzten Figurentypen. Noch im Komponieren bleibt er sich stets gleich, wie verschieden auch die Aufgaben sein mögen. So unterscheidet sich seine Heimsuchungsgruppe (Abb. 129) von allen anderen Darstellungen des Themas durch die forcierte Art der Zueinanderwendung von Maria und Elisabeth, als wolle er Gruppierungsprinzipien aus Tympanon und Archivolten der Gerichtspforte (Abb. 102, 103, 104) auch der Wiedergabe jener biblischen Frauenbegegnung zugrunde legen. Jene hehre Strenge des Antlitzes aber, die er an der Fürbittmaria mit einer alle mimische Beweglichkeit eliminierenden Unerbittlichkeit gegeben hatte (Abb. 128), legte er auch auf das Antlitz Marias und Elisabeths. Darin spricht sich etwas von der Begrenztheit seines künstlerischen Ingeniums aus; doch was er anfaßt, erfüllt er mit Charakter und fordernder Strenge. Auch die Annunziata gehört derselben Gruppe ernster Frauengestalten zu (Abb. 130). Gabriel wiederholt einen ebenfalls schon am Gerichtsportal entwickelten Engelstypus von betont männlicher Prägung (Abb. 131). Das Haupt nimmt eine würfelähnliche Form an mit steil aufragender Gesichtsfront. Johannes, die zweite der Fürbittfiguren aus dem Gerichtstympanon, zeigte den gleichen ernsten Typus des Antlitzes, dieselbe feierliche Gebanntheit der Züge (s. Abb. 131). Die Uberwindung des frühgotisch Bewegten und Gelösten durch hieratisch vereinfachte Form tritt in diesen vom thematischen Vorwurf her ja handlungsgebundenen Figurenpaaren eindrucksvoll zutage und es entbehrt für den Historiker nicht der Dramatik zu beobachten, wie im Oeuvre des Gerichtsmeisters das Schreiten, das Sprechen, die Gesten dieser Engels- und Frauenstatuen in wenige, starre Formeln gebannt werden, während umgekehrt der Königskopfmeister am rechten, nördlichen Seiteneingang noch der ruhig stehenden Einzelfigur — Salomo, Bileam, Judith — eine dramatische Bewegtheit und Erregung einflößte. Abermals stehen sich in dieser nicht nur völlig verschiedenartigen, sondern konträren Konzeption der Statue durch den Königskopfmeister einerseits und den Gerichtsmeister andererseits auch verschiedenartige Einstellungen zur stilistischen Uberlieferung der Frühgotik gegenüber. 80

Die dramatisierte Gewändestatue des Königskopfmeisters wandelt Möglichkeiten frühgotischer, szenisch durchsetzter Statuenbildung ab147. Die Bestrebung des Gerichtsmeisters zielt auf die Eliminierung transitorischer Bewegtheit, mimischen Ausdrucks auch dort noch, wo das Thematische nach ihnen zu verlangen scheint. Jene feierliche Starre, unter der das Mienenspiel wie die Gesten und die Gewandfalten der Figuren gleichsam petrifiziert werden, ist an seinen dialogisch bewegten Figurenpaaren am nördlichen Seitenportal kaum weniger eindrucksvoll zu erkennen als an den streng geordneten Statuenreihen und Engelschören seines Weltgerichtsportales. Des Meisters Abneigung gegen frei bewegte und erzählerisch ausgeschmückte Szenerie aber tritt am deutlichsten an der glücklosen Komposition des Tympanonreliefs jenes nördlichen Seiteneinganges zutage (Abb. 132). Eigenhändige Arbeit des Gerichtsmeisters ist hier freilich kaum zu vermuten, wohl aber ersichtlich die Hand von Werkstattmitgliedern zu erkennen, die am Türsturz und in den Archivolten des Gerichtsportales mitgetan hatten. Die Komposition wird trotzdem auf den »Gerichtsmeister« zurückgehen, mindestens ist sie seines Geistes Kind. Offensichtlich aber ist dabei der Versuch unternommen, in der Formensprache und mit der Formengesinnung des Gerichtsmeisters jenen Neuerungen nachzueifern, welche die zugewanderte Senser Werkstatt in dem Tympanon und den unteren Archivoltenrängen des Bekennerportales eingeführt hatte (vgl. Abb. 48,77,80,109). Die Einführung landschaftlicher Motive bei der Hirtenverkündigung oder die Darstellung des Traumes der Heiligen Drei Könige lassen daran kaum einen Zweifel aufkommen. Bäume und Betten aber sind hier im Tympanon aufgestellt wie Bühnenrequisiten. Sie schaffen kein poesievolles Ambiente wie etwa in der Sensisch gefärbten Darstellung der Aegidiuslegende am Bekennerportal (Abb. 77). Es handelt sich um erzählende Darstellungen, aber das Arrangement ist von jener achsenhaften Starre, welche am Gerichtsportal geherrscht hatte. Einzelmotive werden aus dem szenischen Zusammenhang herausgelöst, um eine symmetrische, in der Mittelachse aufgipfelnde Komposition zu erreichen: der Stern über der Königsanbetung und die Engelhalbfiguren darunter. Szenen werden zerlegt um eines architektonisch gliedernden Motives willen: die Geburtsdarstellung 147 Mandhe der frühgotischen Gewändefiguren — am deutlichsten die Wandungsfiguren des Marienkrönungsportales in Senlis — erscheinen ja als wunderliche Zwitterbildung: halb szenisches Relief, halb Statue. Die Abkunft der mittelalterlichen Statue von der bildlichen Darstellung wird daran deutlich.

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durch die in der Mitte des Türsturzes angebrachte Säule. Am Bekennerportal hatte gerade umgekehrt die freie Szenerie die architektonischen Trennlinien überspielt und die Szenenrahmungen des Tympanons waren in den Bildzusammenhang einbezogen worden, ζ. B. in der Martinslegende als Stadttor von Amiens. Das Mißglück der Tympanonkomposition des linken nördlichen Seitenportals liegt in einer für den Historiker noch immer lehrreichen Unentschiedenheit zwischen frei erzählender Figurengruppierung und hieratischer, achsenhafter Komposition. Der halbherzige Versuch des Gerichtsmeisters oder seiner Werkstatt, sich die freiere, schweifendere Kompositionsweise des zugewanderten Senser Ateliers zu eigen zu machen, führte zu einem widerspruchsvollen, zwiespältigen Resultat. Mutmaßlich im gleichen Augenblick entwarf der Königskopfmeister eine Tympanon- und Türsturzkomposition, welche durch keinerlei architektonische Untergliederung beengt wird, der dramatischen Figurenszenerie völlig freie Bahn läßt. An den Seiteneingängen der Nordfront treten sich die beiden Hauptrichtungen der Chartreser Bildhauerkunst wie im Wettstreit gegenüber. In den Wandungsstatuen werden die Eigentümlichkeiten beider Richtungen in entschiedener Ausprägung erkennbar, ihre Verschiedenheiten sind hier die denkbar größten. In den erzählenden Reliefs der Bogenfelder aber nähert sich die ältere Werkstatt dem neuen, zugewanderten Atelier an, gerät sie unter den Einfluß seiner lebhafteren Darstellungsweise. Die Situation an der nördlichen V o r h a l l e ist weit komplizierter. Ihr haben wir uns jetzt zuzuwenden. *

Durch Grodeckis Untersuchungen scheint erwiesen zu sein, daß der Bau der Nordvorhalle in Chartres der Errichtung der Südvorhalle vorausging. Die architektonischen Einzelformen stimmen mit jenen des Chores überein. Völlig sichere chronologische Schlüsse lassen sich zwar hieraus nicht ziehen. Immerhin wird man bedenken, daß der Chartreser Chor 1221 bezogen wurde. 1224 wurde bekanntlich ein »capitellum« vor der südlichen Querhausfront entfernt. Man vermutet, daß damals der Bau der Südvorhalle ins Auge gefaßt war. Ihre Formen weisen, wie Grodecki zuerst gezeigt hat, auf Entstehung nach Ausführung des nördlichen Portikus. Man hat folglich mit der Errichtung des nördlichen Portikus bereits gegen 1220 zu rechnen, wobei allerdings jegliche dokumentarischen Anhaltspunkte für den Abschluß der Arbeiten fehlen. Es kann nicht ausgeschlossen werden, ja es spricht einiges dafür, daß dieser Abschluß der Arbeiten an der Nordvorhalle erst erfolgte als auch die jüngere Südvorhalle 82

bereits in Angriff genommen und mindestens bis in Höhe der Tonnengewölbe gediehen war 148 . Der reiche und stilistisch höchst uneinheitliche Skulpturenbestand der nördlichen Vorhalle hat die Forschung eher irritiert als zu aufmerksamem Studium verlockt. Man hat zu verwickelten Hypothesen Zuflucht genommen, an eine sich lange hinziehende, verschiedentlich unterbrochene Bautätigkeit gedacht — die fünfziger, ja die siebziger Jahre sind als Vollendungsdatum vorgeschlagen worden —, um eine Erklärung für die stilistischen Differenzen zu finden148. Es ist weiter mit der Möglichkeit starker und ausgeprägter Einwirkung von anderen, jüngeren Zentren — sogar Reims wurde genannt — gerechnet worden. Die Stilbildung der Genesisarchivolte beispielsweise wurde unter diesem Aspekt gesehen150. Die tatsächlichen Verhältnisse scheinen weniger kompliziert zu liegen: die Skulpturen der nördlichen Vorhalle entstanden in unmittelbarer zeitlicher und stilistischer Anknüpfung an die voraufgehenden Figurenfolgen der Chartreser Portale, wie sich durch genauere stilistische Vergleiche erweisen läßt. Lediglich an einigen nebensächlichen und künstlerisch zweitrangigen Figurenreihen wird die Mitarbeit wenig bedeutender, auswärtiger Bildhauer erkennbar, wobei Paris der wahrscheinliche Ausgangspunkt gewesen sein möchte. Den Skulpturenschmuck dieser nördlichen Vorhalle etwas genauer ins Auge zu fassen, besteht um so mehr Anlaß als hier nicht nur eine Reihe von künstlerisch äußerst reizvollen Werken fast unbeachtet geblieben ist, sondern als von dieser Stelle aus auch die eigentliche Wirkung der Chartreser Bildhauerwerkstätten auf die weitere Entwicklung der französischen Skulptur des 13. Jh. ausging. Von den zwanzig großen Statuen, welche ursprünglich an den Pfeilern der Nordvorhalle standen, sind nach den Zerstörungen vor und nach der Revolu148 Grundlegend stets Grodecki, The Transept Fortals. Für den Zusammenhang zwischen nördlidier Vorhalle und Hochchor siehe Grodedd, Bull. Mon. CXVI, 1958, S. 91ft., bes. S. 1 1 8 und die Abb. S. 1 1 5 und S. 1 1 7 . 149 S. Abdul-Hak, La sculpture des porches du transept de la cathédrale de Chartres, Paris r943, nimmt eine Vollendung der Skulpturen des Nordportikus erst »vers 1275, c'est à dire après la consécration de la cathédrale« an. Auch Schlag, op. cit. S. 161 rechnet mit einer Fortdauer der Arbeiten bis »1255/60«. 150 So schreibt Schlag S. 148 über die Genesisarchivolte: »Dies alles ist nicht eine Weiterentwicklung chartresischer Formmotive, sondern wurde — nach unserem heutigen Wissen — aus Reims gebracht«

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tion nodi dreizehn erhalten 151 . Aus der Beschreibung Brillons ergeben sich Aufschlüsse über die Ikonographie oder wenigstens die Darstellungsmotive von sedis der zerstörten Figuren182. Eine stilkritische Untersuchung vermag freilich aus diesen Angaben keinen Gewinn zu ziehen. Der erhaltene Teil der Statuenreihe ist stilistisch keineswegs einheitlich. Wir nehmen die Betrachtung der Bildwerke an der Nordvorhalle mit einem Blick auf jene Statuen auf, die Gottfried Schlag als »Hohepriestergruppe« zusammengefaßt hat163. Es handelt sich hier zunächst um die sechs Figuren, welche an den Pfeilern vor dem Mittelportal erhalten blieben164. Ihnen ist hinzuzufügen eine einzelne Königsstatue, welche an der östlichen Flanke der Vorhalle der Zerstörung entging (s. Abb. 134). Charakteristisch für die Stilbildung dieser Figuren ist, daß sie an das Marienkrönungsportal anknüpfen und von jenem Wohlklang der Formen erfüllt sind, wie er dort zumal an der rechten Wandung, weiter bei dem Melchisedech und bei manchen der Archivoltenflguren geherrscht hatte. Hingegen ist jene achsenhafte Erstarrung der Formen, wie sie der Gerichtsmeister angestrebt und in den Wandungsfiguren des linken Nordportales nochmals vor Augen geführt hatte, an diesen Figuren in keiner Weise zu bemerken. Der zarte Fluß der Linie, die weichen rundlich gelösten Formen, der träumerische Zug auf dem milden Antlitz, wie sie beispielsweise eine der Königsfiguren aus der Wurzel Jesse des mittleren Nordportals zeigt (Abb. 133) kehren in dem König am östlichen Ende der Vorhalle (Abb. 134) nahezu unverändert wieder. Es ist allenfalls das Arrangement der Falten jetzt großzügiger, weitläufiger und die Vortragsweise im Ganzen noch entspannter, gedämpfter. Es scheint also, daß jene starrere, architekturgerechtere Formensprache, wie sie 151 Vgl. den Plan bei Sdilag, op. cit. Abb. 99. Über die Zerstörungen vgl. Bulteau, Monographie de la cathédrale de Chartres, 2 e éd. Chartres r887—1892. Vol. I, S. 236f. Vol. Π, S. I6jî. 152 Vgl. Bulteau II, S. r97 für die beiden fehlenden Figuren am Mittelportal. Beide sind danach von Brillon als Königsstatuen beschrieben worden. Bulteaus Namenstaufe freilich »Philippe Auguste« und »Ridiard Löwenheiz« entbehrt jeder Grundlage. Für die vier fehlenden Figuren am östlichen Vorhalleneingang s. Bulteau II, S. 225 und 230. Es standen hier Lea — von Brillon beschrieben »c'est une femme qui coud«, Rahel — von Brillon beschrieben »c'est une femme qui lit« und Ecclesia und Synagoge. 153 Schlag, op. cit. S. 1 3 1 und 143. 154 Vgl. den Plan bei Schlag, op. cit. S. 143. Die Benennnungen bei Bulteau II, S. 194S., bereits von Mâle überzeugend zurückgewiesen. Die Figuren linker Hand — Bulteau »Philippe, Graf von Boulogne und Mahaut« sind einstweilen unidentifizierbar. Mâle, L'Art religieux du XIIIe siècle, Paris r902, S. 388, hat die Figuren rechter Hand, ausgehend von den Sockelreliefs, wohl überzeugend als Samuel, Hannah, Elcana und Eli identifiziert.

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der Gerichtsmeister einführte, innerhalb der älteren Chartreser Werkstatt niemals allein vorherrschend gewesen ist. Wir haben oben gesehen, daß eine der Papststatuen des Bekennerportals auf den Meister des Marienkrönungstympanons zurückgehen dürfte [vgl. Abb. 113,114). In den sieben großen Statuen der nördlichen Vorhalle, die Schlag als »Hohepriestergruppe« bezeichnet hat, setzt sich die Stilbildung des Krönungsportales, speziell seiner rechten Wandung, unbeeinflußt durch das Werk des Gerichtsmeisters fort. Vergleicht man das Haupt des Jeremias von jenem Gewände (Abb. 135) mit dem Haupt der vielleicht Samuel darstellenden Figur von der Vorhalle (Abb. 136), so wird erkennbar, daß hier die einheitliche Wölbung der Gesichtsflächen beibehalten und auf die schärfer artikulierende, energisch trennende Formenbehandlung des Gerichtsmeisters (vgl. das Haupt des Apostels Thomas Abb. 98) nicht eingegangen ist. Die milde Großflächigkeit jener sieben Vorhallenstatuen, das Linde ihrer Erscheinung, steht dem entschlosseneren, auf Raffung bedachten Wesen des Gerichtsmeisters fem. Solche Beobachtungen legen nochmals die Annahme nahe, mit den Arbeiten am Krönungsportal möchte nicht vor 1204 begonnen worden sein. Andererseits scheint es, daß die Bildwerke der Nordvorhalle kaum lange nach 12,15 in Arbeit gegeben worden sind. In den Statuen der Hohepriestergruppe lebt ja der Stil der ältesten aller Chartreser Querhausportale, ja lebt die edle Stilbildung des voraufgehenden, Laoner Ateliers noch fort. Es war Emil Mâle, der in einer kurzen Anzeige des Vitry'schen Tafelwerkes über die Kathedrale von Reims erstmals mit Nachdruck auf die Beziehungen zwischen Chartres und den Portalen am nördlichen Querhaus in Reims hinwies 165 . Die spätere Forschung hat die Hinweise Mâles zu präzisieren versucht, nicht immer mit einer glücklichen Hand1Be. Die genauere Kenntnis der ver155 Vgl. E. Mâle, Nouvelle Étude sur la cathédrale de Reims, G. B. A. 5 e période, 3 (1931), S. 73ft. Jetzt Art et Artistes du Moyen Age, Paris 1928, S. 226S., und bes. S. 240e. Der Leser wird leidit erkennen, daß unsere Auffassung von den Beziehungen ChartresReims sich nidit völlig mit jener Mâles deckt. An einen Einfluß des Chartreser Geriditsportals auf Reims beispielsweise vermögen wir nicht zu glauben. Das von Mâle behandelte Problem übrigens bereits angedeutet bei Vöge, Bahnbrecher, jetzt Bildhauer, S. 84, Anm. 57. 156 Es sind hier vor allem folgende Arbeiten zu nennen: L. Bréhier, La cathédrale de Reims, une œuvre française, 2 e éd. Paris 1920. L. Pillion, Les sculpteurs français du XIIIe siècle, Paris s. d. Th. Frisch, The Twelve Choir Statues of the Cathedral at Reims, A. B. XLIII (i960), S. iff. D. Schmidt, Portalstudien zur Reimser Kathedrale, Miindiner Jb. d. b. Κ., Dritte Folge, Bd. XI (i960), S. 14S. Durchgehend ist eine zu wenig differenzierte Kenntnis der Chartreser Bildwerke in diesen Arbeiten Anlaß für eine teils viel zu allgemeine, teils an das Einzelmotiv gebundene Vorstellung von den Einwirkungen Chartres' auf Reims. Im Motivischen wird man aller-

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schiedenen, i n Chartres nebeneinander

auftretenden Stilriditungen

aber

scheint es zu ermöglichen, M â l e s Hinweise aufzugreifen, bestimmter zu fassen u n d weiterzuführen. Der Ausgangspunkt f ü r die z u m Reimser Querhaus hin wirkenden künstlerischen Anregungen scheint — w a s das Stilistische angeht — fast ausschließlich i m Bereich der nördlichen Vorhalle in Chartres z u liegen 1 5 7 . U n d es scheint, daß die entscheidensten Anregungen eben v o n der »Hohepriestergruppe«, v o n ihrer D ä m p f u n g und milden Beruhigung der bildhauerischen Form ausgingen. Diese Anregungen dürften sehr unmittelbarer A r t gewesen sein — es wechselten vermutlich Bildhauer v o n der Chartreser Vorhalle z u m Reimser Querhaus hinüber — und sie erstreckten sich anscheinend auf wichtige T e i l e des Calixtus- w i e des Gerichtsportales in Reims, noch an den Obergeschossen des Querhauses, in der Reihe der herrlichen Königsstatuen, wirken sie nach. Die Zusammenhänge können hier nur flüchtig angedeutet [156] dings das Bestehen verschiedenartigster Chartreser Erinnerungen — die Hiobsfiguren am Salomo- und Calixtusportal, die Chartreser Heimsuchung und die Reimser Eutropia, der Leo der Große vom Chartreser Bekennerportal und der Calixtus vom Reimser Trumeau — nicht bestreiten wollen. Aber das sind Ubereinstimmungen, die etwa durch ein Musterbuch zustande gekommen sein könnten. Fragt man hingegen nach den Bildhauern, die von Chartres nach Reims abgewandelt sind, nach der Einheit des individuellen Stiles, so kommt nur die nördlidie Vorhalle in Chartres als Ausgangsort in Betracht. Neben der Hohepriestergruppe, welche die wichtigste Rolle spielte, müssen auch Zusammenhänge mit den Figuren an den Vorhallenarchivolten angenommen werden. Vgl. die sehr richtige Gegenüberstellung bei Frisch Abb. 23/24 und S. 18. Weiter auch H. Reinhardt, La cathédrale de Reims, Paris 1963, der S. r45 sehr richtig sagt: »D'autres rapprochements peuvent être faits entre certaines figurines des registres supérieurs du tympan« — gemeint ist das Calixtusportal — und »la statuaire du porche Nord de Chartres. Vgl. weiter auch Sauerländer, Bespr. H. Reinhardt, Kunstchronik 17 (1964), S. 288. 157 Dieser Zusammenhang ist richtig gesehen vielleicht nicht entschieden genug betont bei D. Schmidt, Portalstudien, S. 43. Schmidt weist weiter auch bereits richtig auf die Könige am Querhaus hin und nennt zutreffend zwei Statuen vom N-Querhaus, den St. Louis von der Westseite des Westturms und den König, der in der Ostseite des Ostturms steht, als ebenfalls in diesen Kreis gehörend. Verwirrend sind freilich die Hinweise auf Paris und das Chartreser Salomoportal als weitere Stilquellen, wo doch die Chartreser Hohepriestergruppe völlig genügt. Ob nicht auch die von Schmidt angenommenen Stilunterschiede zwischen den oberen und den unteren Partien des Gerichtstympanons zuviel des Guten tun? Vgl. unsere Abb. 139 von den Reimser Auferstehenden und den Chartreser Vorhallenstil. Das Gerichtsportal — Tympanon, Archivolten und Trumeauchristus — ist stilistisch aus einem Gusse, wie übrigens auch inhaltlich. Der Stil ist durchgehend eine Abwandlung der Formenstimmung der Chartresischen Hohepriestergruppe. Ich werde darauf in meiner Abhandlung über die Gerichtsportale nochmals zurückkommen. Der Zusammenhang zwischen dem König am Ostende der Chartreser Vorhalle und dem Reimser Querhaus ist gestreift bei P. Kidson, Sculpture at Chartres, London 1958, S. 55. Kidson hat erstmals jene vorher nicht beachtete Chartreser Königsfigur in diesem Zusammenhang genannt. 86

werden, da eine Verfolgung der Reimser Fragen außerhalb des engeren Interessenkreises unserer Arbeit liegt. Das Figurenpaar der Eltern des Heiligen Remigius aus dem Tympanon des Calixtusportales (Abb. 138) wiederholt nahezu Zug für Zug die Formen jener Statuengruppe der Chartreser Vorhalle, welche vielleicht Eli und Hannah darstellt (Abb. 137). Das völlig Undramatische in Gewand- und Gesichtsbildung, den Eindruck träumerischer Versunkenheit, seelenvoller Stille hervorrufend, erscheint als das in einem tieferen Sinne Gemeinsame. Gesucht ist der Ausgleich der Formen. Charakteristisch sind die sanften Bewegungen der still erhobenen Arme bei Eli und Hannah in Chartres, dem Vater in Reims, in den Gesichtern die mählichen Ubergänge vom Rücken der Nase in die Wangen, von den Brauen zu den Schläfen hin. Die Augen sind in die Länge gezogen, so daß der Blick jenen Zug von Abgekehrtheit, Halbwachheit annimmt, wie er an den Chartreser Statuen und an einer Reihe der älteren Reimser Bildwerke gleich unvergeßlich sich einprägt. Man vergleiche dagegen die weiblichen Köpfe des Weltgerichtsmeisters (s. Abb. 128,129,130), ihre starren und nackten Formen auf den fordernden, sendungserfüllten Gesichtern. Jene sanft gerundeten Köpfe mit dem träumerischen Blick, welcher aus gleichsam zusammengekniffenen Augen kommt, aber sind für eine ganze Reihe der Figuren am Reimser Querhaus charakteristisch. Wir nennen ein einziges Beispiel aus der Reihe der Auferstehenden aus dem Tympanon des Reimser Gerichtsportals (Abb. 139). Die Tympanonfiguren des Gerichtsportals, weiter einige der Jungfrauen in den Archivolten spiegeln ja überhaupt aufs eindrucksvollste die nachhaltige Wirkung der Chartreser Vorhallenstatuen auf Reims. In den thronenden Seligen (Abb. 142) erscheinen die gleichen sanften Armgesten und dieselben Gesichter mit dem träumerischen Zug wie bei Eli und Hannah (Abb. 137) aus der Chartreser Hohepriestergruppe. Vor allem aber erinnert das thronende Königspaar des Reimser Tympanons an den schon erwähnten jugendlichen König der Chartreser Vorhalle (Abb. 134) und ruft Erinnerungen an solche älteren Figuren wie den König der Chartreser Jessewurzel aus den Archivolten des Krönungsportales wach (Abb. 133). Einige der kolossalen Königsstatuen in den Strebepfeilertabernakeln des Reimser Querhauses stehen ersichtlich noch in der gleichen Tradition. Sie wandeln zwar die Formen ins Statuarische, Stattliche ab, aber behalten das Entspannte, die ruhige Gelassenheit der Erscheinung bei. Der König aus dem östlichen Strebepfeiler der Südquerhausfassade (Abb. 143) mag dafür als Beispiel stehen167. Auch das Haupt 87

des stehenden Christus am Trumeau des Gerichtsportales (Abb. 140) läßt unter dem Anflug des Antikischen, das ihm aus dem Umkreis der Reimser Visitatio zugekommen sein muß, noch immer die Nähe zu den stillen und milden Köpfen der Chartreser Hohepriestergruppe erkennen (s. Abb. 141). Aus solchen Beobachtungen lassen sich freilich keine chronologischen Anhaltspunkte für Chartres gewinnen, da die Chronologie der Reimser Portale selbst im Dunkel liegt. Immerhin darf man wohl annehmen, daß die Einwirkungen der Chartreser Hohepriestergruppe, daß die mögliche Wanderung von Chartreser Bildhauern dieses besonderen Ateliers nach Reims, zwar gewiß nicht vor 1220 aber auch kaum nach 1230 erfolgt sein dürfte. Selbst die Königsstatuen am Reimser Querhaus waren ja mutmaßlich 1233 vollendet, als in der Stadt der Zwist zwischen dem Kapitel und den Bürgern ausbrach. Diese Überlegungen bestätigen nur eine schon von Schlag mindestens erwogene Ansetzung der Hohepriestergruppe ab 1215/20 158 . Kunstgeschichtlich aber erscheint es als äußerst sinnfällig, daß gerade diese Gruppe von Bildwerken, welche sich nicht der auf Tektonisierung und Hierarchisierung hinstrebenden Bemühung des Gerichtsmeisters anschloß, andererseits aber auch das dramatische Pathos, die jähe Unruhe des Königskopfmeisters mied, nach Reims wirkte und dort zur ruhigen, schönheitlichen Ausbreitung der Formen in den älteren Bildwerken beigetragen hat. Daneben machen sich freilich noch andere, unruhigere und kompliziertere Richtungen der Chartreser Vorhallenplastik in Reims bemerkbar, worauf hier nicht einzugehen ist. Die entscheidenden Einwirkungen aber kamen von der »Hohepriestergruppe« her und so wirkte nach Reims zurück, was einst in den achtziger Jahren des 12. Jh. in Reims mit den Bildwerken der »Porte Romane« seinen Anfang genommen hatte159. Eine Datierung der großen Statuen an der nördlichen Vorhalle in die Jahre um 1220 ist, wie wir sahen, nicht unbedingt neu, sondern war bereits von der älteren Forschung ins Auge gefaßt worden. Für die sieben Statuen der Hohe158 Für die Möglichkeit, daß die Reimser Transeptskulpturen — d. h. die Zyklen an den Obergeschossen des Querhauses — 1233 vollendet waren, vgl. Reinhardt, op. cit. S. 161. Für die mögliche frühe Ansetzung der Hohepriestergruppe in Chartres, Schlag, op. cit. S. is8. Was das Reimser Datum angeht, so schließen wir uns in diesem Punkte vollauf den Ansichten Reinhardts an, obwohl unsere Auffassung über Ikonographie, Stil und Chronologie der Reimser Skulptur sonst von jenen Reinhardts stark abweicht. 159 Für die Einwirkungen der »Porte romane« auf Laon und damit mittelbar audi auf Chartres, vgl. Hamann-MacLean, Kunstchronik 9 (1956), S. 288, und Sauerländer, Z . f. Kg. 20 (1956), S. iff.

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priestergruppe ergab sie sich aus den stilistischen Beziehlingen zum Chartreser Marienkrönungsportal einerseits und zu den nachfolgenden Reimser Querhausportalen andererseits. Von den verbleibenden Statuen ist wenigstens eine — die Figur der Modestia (Abb. 148) — durch den schon von Franck-Oberaspach richtig erkannten engen Zusammenhang mit Straßburg ebenfalls in die Jahre um 1220 datiert1®0. Potentius, welcher zu Seiten der Modestia steht, gehört mindestens dem Typus nach in den weiteren Umkreis der Gewändefiguren des Bekennerportals1®1. Die vier verbleibenden Statuen, Zeugnisse einer verwunderlichen Verrohung der bildhauerischen Arbeitsweise, wandeln ebenfalls nur Motive ab, denen wir schon in den Wandungsfiguren — beim Gerichtsmeister wie beim Königskopfmeister — begegneten1®2. Alle dreizehn erhaltenen Statuen der Nordvorhalle also möchten um 1220 entstanden sein. Eine Entstehung nach 1225 wird man für die ganze Statuenfolge mit Sicherheit ausschließen dürfen. Mit den höchst eigentümlichen Sockelreliefs unter den Statuen der nördlichen Vorhalle hat sich, soweit wir sehen, nur Gottfried Schlag näher befaßt1®3. Erhalten geblieben sind in der ursprünglichen Form vierzehn solcher Sockelreliefs, zwei weitere gehen — wie Lefèvre-Pontalis richtig gesehen hat — auf eine Restaurierung nach 1316 zurück164. Schlag hat bereits zutreffend vermerkt, daß die Sockelreliefs nicht aus dem gleichen Block genommen sind wie die Statuen und die Statuenpodeste1®5. Von dieser technischen Seite her also ist die Möglichkeit gegeben, Sockelreliefs und Statuen zeitlich auseinanderzutrennen und anzunehmen, die Statuen seien erst lange nach ihrer Entstehung aufgestellt und damals dann die Sockel hinzugearbeitet worden. Schlag ist von dieser Annahme ausgegangen. Für ihn liegt zwar die Planung der Nordvorhalle um 1220. Für die Sockeldekoration aber vermutet er: »Um 1235/40 ruhen die Arbeiten, die Werkstücke der Nordvorhalle liegen auf der Werkbank. Die Säulenreliefs, die Gruppe der »Metallornamentik« — das sind die rahmenden Teile 160 161 162 163 164

Franck- Oberaspach, Der Meister der Ecclesia und Synagoge, S. 820. So audi Vitry, op. cit. S. i8f. Houvet, Portail Nord I, Tafel 16, Tafel 1 7 . Vgl. audi Sdilag, op. cit. S. 144. Sdilag, op. cit. S. i4sf., zur Ornamentik S. 151., für die Datierung S. 161. E. Lefèvre-Pontalis, Les ardiitectes et la construction de la cathédrale de Chartres, Mémoires de la Société Nationale des Antiquaires de France LXIV, 1903, S. 69S., bes. S. iiçff. Schlag, op. cit. S. 146 greift gerade die im 14. Jh. erneuerte Goliathfigur heraus, um aus ihr Schlüsse für die zeitliche Stellung der Sockelreliefs des 13. Jh. zu ziehen.

165 Schlag, op. cit. S. 145: »Sie sind unabhängig von den über ihnen stehenden Statuen gearbeitet, was die Fugenschnitte der einzelnen Werkstücke . . . erweisen.«

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der Sockelszenen — und der Beginn der Aufführung der Nordhallenpfeiler: 1240/45 «.1ββ Eine Untersuchung, welche im allgemeinen eher wegen ihrer Neigung zu Frühdatierungen Widerspruch fand, hat angesichts jenes Beiwerks an der Nordvorhalle zu einer von den konkreten historischen Verhältnissen seltsam abstrahierenden Manierismusthese Zuflucht genommen und sich dadurch grundlos in eine überzogene Chronologie verirrt. Schlags Ausgangspunkt war dabei durchaus der richtige gewesen. Angesichts jener eigentümlich geformten Statuensockel (Abb. 144) oder richtiger Säulenverzierungen spricht er zutreffend von »Vorlagen aus der Metallkunst« und meint sehr anschaulich: »der die Reliefs schirmende Baldachin ahmt die Segeldächer von Kuppelreliquiaren nach«187. Man braucht diesen Beobachtungen eigentlich nur anzufügen, daß die Verwendung solcher an Metallgerätschaft erinnernder Formen, daß das fast völlige Fehlen gotischer Architekturdetails bereits für die Zeit um 1220 auffallend ist, um 1240 oder 1245 aber einen kaum vorstellbaren Anachronismus darstellen würde. Mustert man die Reihe der vierzehn erhaltenen Sockelreliefs durch, so wird man denn auch feststellen, daß an den stilistisch fortgeschrittensten Stücken die krönenden Türme und Zinnenkränze bereits gegen hochgotische Arkadenstellungen ausgewechselt sind (Abb. 147). Während die Portalbauten vom Ende des 12. Jh. in diesem Beiwerk mit einer Fülle weit hergeholter Motive aufwarten, sind solche Zwergarchitekturen während des 2. Viertels des 13. Jh. allüberall einer vereinheitlichenden Gotisierung unterzogen worden. Die Säulenverzierungen unter den Statuen der Nordvorhalle in Chartres vertreten in ihrer hybriden Formenhäufung, ihrem Eklektizismus, bereits eine Art Ubergangsstadium: altertümliche Faltkuppeln und Zinnenkränze erscheinen neben hochgotischen Sechspässen und werden von korrekt gezeichneten Knospenkapitellen getragen. Vorstufen für das verwendete Repertoire an altertümlichen Formen aber finden sich in den Zwergarchitekturen der Senser Portale. Die Kleeblattarkaden über den Chartreser Figurenszenen kommen von den Türpfosten des Senser Mittelportals her. Dort dienen sie als Einfassung für die Figurenfolge der Klugen und Törichten Jungfrauen (Abb. 146, auch Abb. 44). Die Oculi, welche die Wandungen der Chartreser Zwergarchitekturen durchbrechen, begegnen an Baldachinen des Senser Johannesportals, und zwar am Gewände 166 Schlag, op. cit. S. 1 6 1 . 167 Schlag, op. cit. S. 1 5 1 .

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wie in den Archivolten (Abb. 47). Der Rundbau der Johanneskirche in Konstantinopel aus einer Archivoltenszene des gleichen Senser Portals (Abb. 145) bereitet auch in der Kombination der Motive — Segeldächer und über ihnen ein Mauerring mit Oculi — die Erfindung jener Chartreser Kuppelbauten unmittelbar vor. Gotische und byzantinisierende Formen sind in der Chartreser Säulenverzierung eine ebenso wunderliche wie höchst künstliche Verbindung eingegangen. Schlag hat sich nicht ganz zu Unrecht an Provinzialismen des ausgehenden Manierimus, wie die Münsteraner Epitaphien Gröningers, erinnert gefühlt 168 . In Frankreich ist eine solche Vermischung altertümlicher und gotischer Details, soweit wir sehen, völlig einmalig. Parallelen finden sich eher außerhalb des Entstehungsgebietes der Gotik in Kunstlandschaften, deren Lokaltradition die französischen Neuerungen nur schrittweise und äußerlich aufzunehmen gestattete, also etwa im deutschen Spätromanismus oder im sogenannten Ubergangsstil. Es erscheint ja überhaupt die ganze verschwenderisch reiche Ornamentik der nördlichen Vorhalle in Chartres als ein Nachklang, ein spätes Echo jener mit Zierformen überhäuften Portalbauten, wie sie am Ende des 12. Jh. und kurz nach 1200 in Lisieux und Mantes, in Sens und Rouen entstanden. Es ist fortlebendes 12. Jh., was wir hier vor Augen haben, und zwar mit einem Reichtum ausgefallener und gesuchter Motive, wie ihn die Formenzucht der hochgotischen Kathedralbauten sonst an keiner Stelle geduldet hat. Der Charakter der Architekturformen also spricht für eine Entstehung der Sockel gleichzeitig mit den Statuen. Das architektonische Detail dieser Sockel ist für die Zeit um 1220 sogar ein ausgesprochen altertümliches, so wie etwa auch die Statuen der Hohepriestergrappe über ihnen um 1220 nicht zu den damals modernsten Werken gehörten. Für die gleiche frühe Entstehung aber spricht auch der Stil der an diesen Sockeln erscheinenden Figuren und Szenerien. Schlag hat richtig gesehen, daß die großen Figuren der Vorhalle und die Sockelszenen unter ihnen nicht nur aus verschiedenen Blöcken genommen sind, sondern in der Mehrzahl der Fälle auch von ganz verschiedenen Bildhauern stammen. Jene Hände, welche die Statuen der Hohepriestergruppe geschaffen haben, sind an den erhaltenen Sockelreliefs nirgends wieder zu erkennen. Der Stil der Hohepriestergruppe, jener eng mit dem Marienkrönungsportal verknüpfte und noch von Laon her gefärbte Stil, seine ruhigen, gedämpf168 Sdhlag, op. cit S. 151.

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ten Formen begegnen an den Sockelszenen nicht. Es scheinen vielmehr die Bildhauer der später zugewanderten Senser Werkstatt gewesen zu sein, welche diese freier und lebhafter bewegten Sockelfiguren geschaffen haben. An den Pfeilern vor dem mittleren Eingange, den fortgeschrittensten der ganzen Folge, entwickelten sie in den Sockelszenen eine unruhig zerklüftete, jähe Formensprache. Altertümliche Motive aus dem Oeuvre des Königskopfmeisters, den Szenen des Bekennerportals und die hartbrüchige Manier jüngerer, hochgotischer Richtungen durchdringen sich hier auf eine ähnliche Weise wie im Zakkenstil der gleichzeitigen deutschen Malerei byzantinisierende und gotisierende Züge. Die Parallele zu den Motiwermischungen in den zugehörigen Zwergarchitekturen liegt auf der Hand. Jener Figurenstil ist im Bereich der französischen Kathedralen so einmalig wie es die Bau- und Ornamentformen sind. In einzelnen Fällen scheinen die gleichen Bildhauer an den oberen Partien der Vorhalle, dem Schmuck der Archivolten an den Vorhallenbögen gearbeitet zu haben. Das Studium der Sockelreliefs führt so zu einer veränderten Sicht und Einordnung auch des übrigen Vorhallendekors, und zwar gerade jener Teile, welche die bisherige Forschung gern als späte Absenker auswärtiger Hüttenplastik angesehen hatte. Im besonderen Zusammenhang unserer Untersuchung aber erscheint es als bedeutsam, daß die Stilbildung dieser Partien wie jene der Sockelreliefs Formgewohnheiten aufnimmt und variiert, welche die Senser Werkstatt nach Chartres gebracht hatte. An der nördlichen Vorhalle hatten schließlich Franck-Oberaspach und Vöge auch die Werke entdeckt, welche am unmittelbarsten auf Straßburg gewirkt haben müssen169. Beginnen wir das Studium der Sockel- und Archivoltenfiguren der nördlichen Vorhalle mit j enen Stücken, die dem Straßburger Atelier am nächsten verwandt scheinen. In einem einzigen Falle läßt sich wohl mit Sicherheit sagen, daß Sockelszene und große Statue von der gleichen Hand geschaffen wurden. Das rieselnde Spiel von Locken und Falten, wie es für die Statue der Modestia charakteristisch ist, ihr die leichte Anmut verleiht, kehrt wieder in den Sockelszenen, die das Martyrium der Heiligen darstellen (Abb. 148, 149). Die knieende Gestalt mit den zum Gebet erhobenen Händen zeigt nicht nur dieselben schlanken Proportionen, sondern auch das gleiche flüssige Faltenspiel. Man achte auf den unteren Saum ihres Gewandes. Zu vergleichen wären hier auch die Engels169 Franck-Oberaspach, Der Meister der Ecclesia und Synagoge, S. &iä. Vöge, Bahnbrecher, jetzt Bildhauer, S. 70.

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figuren aus der Elevatio Animae unmittelbar unter der Standplatte der Figur. Sie sind in ihren Formen mit der knieenden Heiligen des Martyriums aus dem Sockelrelief aufs nächste verwandt. Ihre Bedeutung für Straßburg hat seinerzeit Franck-Oberaspach überzeugend aufgewiesen1T0. Die Elevatio aber ist aus dem gleichen Block genommen wie die große Heiligenstatue über ihr. Hier halten wir also einmal den Beweis in Händen, daß Statuen und Sockelreliefs der Nordvorhalle — obwohl technisch aus getrennten Blöcken gefertigt — im selben Augenblick ausgeführt worden sein dürften. Der Rückschluß auf die anderen Stücke der Sockelfolge scheint erlaubt, da die Formen der Zwergarchitekturen in der ganzen Reihe nahezu identisch sind und nur an den Pfeilern rechts vor dem Mittelportal in Einzelheiten abgewandelt werden (vgl. Abb. 148 mit Abb. 144 u. Abb. 147). Einzelfiguren, welche der Modestia und ihrem Sockel stilistisch aufs engste verwandt scheinen, aber finden sich an den Bogenläufen der beiden seitlichen Halleneingänge. Das sind einmal die beiden untersten Figürchen aus der Reihe der Beatitudines am äußeren Archivoltenring des östlichen Zugangs, Pulchritudo und Sapientia. Sie sind zierlicher, beweglicher, gelöster in der Pose als die Statue der Modestia. Die Sockelbildung, die auf der Standfläche zerplätschernden Falten der Gewandung, das offene, auf die Schultern herabhängende Haar weisen aber unbedingt auf Zugehörigkeit zum gleichen Werkstattkreis"1. An dem Außenring der westlichen Vorhallenöffnung aber, wo der Zodiakus ausgebreitet ist, gehören die untersten Figuren — Hiems und Aestas — vermutlich der gleichen Hand, welche die Modestiastatue gearbeitet hat. Ein Blick auf den Winter (Abb. 150) mag das klarmachen. Das dünne Gewandzeug, die raffende Hand, die Vorliebe für gekurvte Armbewegungen, sind der Modestia vergleichbar, lassen diese Attribution als gerechtfertigt erscheinen. Die Flammen des Winterfeuers zeigen ein Linienspiel wie die Locken der Heiligen. Doch es kommt uns hier nicht auf die Unterscheidung von einzelnen Händen, sondern einzig auf eine neue Einordnung der Nordvorhallenskulpturen an. Sind Pulchritudo und Sapientia um 1220 entstanden, werden auch die übrigen stilistisch abweichenden Figuren der Beatitudines kaum wesentlich später ausgeführt worden sein. Rückschlüsse mögen sich sogar auf die benachbarte Folge der Figuren der Vita activa und Vita contemplativa ergeben. Auch sie wird man zeitlich nicht allzu weit abrücken können. Ebenso: Sind Hiems und Aestas um 1220 gearbeitet, entstanden wahrscheinlich auch 170 Franck-Oberaspach, op. cit. S. 85 und Tf. V. 171 Houvet, Nord II, Tf. 1, Tf. 13.

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die übrigen Figuren von Zodiakus und Kalender nicht lange danach. In den übrigen Beatitudines und deutlicher noch in der Kalenderfolge werden Pariserische Einflüsse, vielleicht sogar Pariser Bildhauer erkennbar. In einigen Figuren des Zodiakus wie audi der Vita contemplativa tritt bereits die zuvor mit dem deutschen Zackenstil verglichene hartbrüchige Manier hervor, welche dann in der Genesisarchivolte des mittleren Eingangs und in den Königen in den Nischen zu Seiten der Vorhallenbögen die Oberhand gewinnt. Nimmt man an, daß die ikonographisch zusammengehörigen Figurenfolgen an den seitlichen Vorhallenbögen auch zusammen ausgeführt wurden, so kommt man also schon vom Studium dieses ersten Sockelreliefs her zu der Erwägung, jene verschiedenen Stilvarianten an der nördlichen Vorhalle möchten gleichzeitig und nebeneinander um und nach 1220 entwickelt worden sein. Die Modestia — wie die Beatitudines — wandelt jenen Senser Figurentyps ab, welchen die eingangs mit Straßburg verglichene Virtusstatuette vertritt (Abb. 6 u. 8). Das feine, dünne Gewandzeug, die Körper wie mit Schleiern umspielend, war in dem herrlichen Senser Largitasrelief vorbereitet (Abb. 37). Die stehende Figur neben der knieenden Modestia auf dem Sockelrelief (Abb. 149) zeigt jene freiere Art der Posierung mit locker gehaltenem Spielbein, jene die straffe Zusammenziehung des Faltennetzes meidende Gewandbehandlung, wie sie beim Königskopfmeister an der linken Wandung des Salomoportales (vgl. Abb. 43 u. 154) und auf dem Lettnerrelief mit den Königen vor Herodes (Abb. 83) vorkommen. Die Vortragsweise hat freilich bei der Modestia und den zugehörigen Vorhallenfiguren eine flüssige Eleganz, einen Zug von Verspieltheit, welche an keiner anderen Stelle in Chartres begegnen. Es sind diese Eigentümlichkeiten der Handschrift, es ist die Kalligraphie der Falten und Locken, welche so unmittelbar an Straßburg denken lassen. Die Straßburger Werke sind zwar, wie wir gezeigt haben, der von Sens ausgehenden Strömung in einem teilweise über Chartres hinausgehenden Maße verbunden. Einzelheiten in Straßburg wie die lebhaft bewegten Konsolfiguren bleiben schlechterdings ohne Vorbild in Chartres und scheinen über Chartres zurück direkt an die älteren Senser Vorbilder anzuknüpfen, ihre Grundmotive aufzunehmen und umzudeuten. Nirgends aber ist das Formengut der Senser Werkstatt, ist seine komplizierte Bewegtheit, sein freies Glieder- und Faltenspiel in der Handschrift, der Kalligraphie der Falten deutlicher auf Straßburg hin abgewandelt als in der Skulpturengruppe um die Statue der Chartreser Modestia.

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Von den übrigen dreizehn in der ursprünglichen Form erhaltenen Sockeln, gehören jene an den Seiteneingängen sämtlich mit den Bildwerken der Sensischen Werkstatt zusammen. In einzelnen Fällen haben hier die gleichen Hände gearbeitet wie an den Wandungsstatuen und an den Archivolten des Salomo-Portals. A n den insgesamt sechs Sockeln des 13. Jh., welche zu den Pfeilern vor dem Mitteleingang gehören, erscheinen hingegen nicht nur in den Architekturrahmungen fortgeschrittenere Formen. Hier verändern sich auch die figürlichen Motive, werden härter und sperriger. Die Mittelpfeiler sind entweder zuletzt ausgeführt worden oder sie wurden Bildhauern anvertraut, die einer jüngeren Generation angehörten. Auch die Bildwerke in den Archivolten des Mitteleinganges sind, wie wir zuvor andeuteten und wie übrigens schon Vöge gesehen hatte, durchweg stilistisch jünger als die Mehrzahl der Figuren an den Bogenläufen der seitlichen Öffnungen. Es mag also sein, daß die Arbeiten in der Tat von den Flügeln 2mm Zentrum hin fortschritten172. Was nun jene altertümlichen seitlichen Sockelreliefs angeht, so vergleiche man etwa das Sockelrelief (Abb. 151) unter dem König der Ostseite (Abb. 134), dessen Darstellungsinhalt nicht mehr bestimmbar scheint, mit solchen Archivoltengruppen des Königskopfmeisters wie Mardochai und Hathach (Abb. 72). Man wird kaum bestreiten können, daß es sich hier wahrscheinlich um Arbeiten des gleichen Bildhauers handelt. Die schreitende Figur auf dem Sockelrelief und der Mardochai der Archivoltengruppe sind ja in nahezu allen Motiven identisch, den schweren, untersetzten Proportionen, der zögernden, schleppenden Schrittstellung. Der Ausgangspunkt für diese Motive liegt in Sens, wie wir im vorigen Kapitel gezeigt haben (s. Abb. 73). Unmittelbar in diesen Zusammenhang gehört eine Figur wie der Reitknecht aus der Aegidiuslegende in den Archivolten des Bekennerportals (Abb. ro9), ebenfalls der von Sens ausgehenden Gruppe zugehörig. So sehr man also Schlag zustimmen wird, daß Sockelszenen und Statuen hier — wie auch sonst bei allen Figuren mit Ausnahme der Modestia — nicht von einer Hand stammen, so sehr wird man andererseits entgegen Schlags Spätdatierung der Sockel auf der gleichzeitigen Entstehung a l l e r Teile der Vorhallenpfeiler beharren müssen. Dazu einige weitere Hinweise: am östlichen Halleneingang, wo die in der 1 7 2 Vgl. Vöge, Vom gotischen Schwung, jetzt Bildhauer S. 108, wo es u. a. heißt: »am Rande der linken Tonne ist die Entwicklung nodi weiter zurück«. Im übrigen wird der Leser sehen, daß wir mit Vöges Auffassung von der kunstgeschichtlichen Stellung der Ardiivoltenfiguren an der Nordhalle nidit übereinstimmen.

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Revolution zerstörten Statuen von Ekklesia, Synagoge, Rahel und Lea standen, hat sich ein einziger Sockel erhalten. Darstellungsgegenstand sind Tugenden mit Schilden und Schwertern — Fortitudo und Justitia — welche Laster in der Gestalt von Tieren — ein Löwe steht für Crudeli tas und ein Affe für Curiositas — bezwingen (Abb. 152)" 3 . Die ikonographischen Eigentümlichkeiten — zwischen den besiegten Lastertieren und der siegreichen Tugend erkennt man anscheinend in Flammen aufgehende Bäume — im einzelnen aufzulösen, kann hier nicht unsere Aufgabe sein. Die Stilbildung gehört jedenfalls sehr eng mit der Gruppe um die Modestia zusammen. Man vergleiche die züngelnde Bewegung der Flammen vor den Schilden der Tugenden mit den Falten und Locken der Modestia (Abb. 148, 149) oder dem Feuer, an welchem der Hiems seine Füße wärmt (Abb. 150). An der Entstehung um 1220 — gleichzeitig mit der Gruppe um die Modestia — kann auch hier kein Zweifel sein. Am westlichen Eingang — vor dem Salomoportal — sind sämtliche vier Sockel erhalten. Soweit sich die Darstellungen identifizieren lassen, handelt es sich überwiegend um die Darstellung der vorsintflutlichen Urväter. Der Reichtum der inhaltlichen Erfindung, die Ausbreitung szenischen Details erinnern hier in besonders eindrucksvoller Weise an die erzählenden Archivoltenfolgen des Bekenner- und Salomoportals und über sie zurück an die Sockelreliefs des Senser Mittelportals. Abel (Abb. 153) als Hirte in einer köstlichen Landschaft, begleitet von der weidenden Herde, erinnert an die Landschaftsgruppen der Aegidiuslegende (Abb. 76, 77) und ihre Senser Vorbilder (Abb. 78), seine gespannte Haltung mit den überkreuzten Armen an Archivoltenfiguren des Bekennerportals (Abb. 120, 121). Die Gestalt des alten Adam, welche zur Linken Abels die Reihe der Urväter eröffnet (Abb. 153), ist zu vergleichen mit solchen Figuren des Bekennerportals wie dem Vater aus der Nikolauslegende (Abb. 80) oder auch dem Bileam von der Wandung des Salomoportales (Abb. 154). Die herrlichste Figur der ganzen Folge, der auf den Kain folgende Jubal (Abb. 155), nach dem biblischen Texte mit Saiteninstrument und Pfeifen dargestellt, steht stilistisch in der Nachfolge des blinden Tobit aus der Hand des Königskopfmeisters (Abb. 50) und der voraufgehenden Senser meditierenden Philosophen (Abb. 51). Die Körperformen sind schlanker und straffer geworden, zugespitzter, aber das locker ausgebreitete Gewand, in seiner rauschenden Fülle dem Erfinder der Musik angemessen, zeigt noch unmittelbar 1 7 3 Bulteau II, S. 2 3 1 , teilt mit, daß Brillon an den Sockeln unter den Statuen an diesem Eingang nodi 8 weitere Tugend/Lastergruppen gesehen hat. Sie sind alle zerstört.

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dasselbe lose Gehänge, die zittrige Bewegtheit wie bei den meditierenden Philosophen in Sens. Nicht nur Motive, die ganze erzählerische Auffassung, der Zug zur großen, inhaltsvollen Erfindung entstammen hier noch der Senser Uberlieferung. Der kandelaberartige Sockel mit den kühn erfundenen Figuren des Jubal und des schmiedenden Tubalkain, dieses in keiner Weise gotisch disziplinierte, gotisch gestraffte Ensemble erscheint als Weiterführung solcher vielfältig bewegter und vielfältig geschmückter Formationen wie der Senser Gewändesockel. Verfolgt man jene Urväterreihe weiter, so geht die Figur des Seth (Abb. 156), zu dessen Füßen der auf dem Grabe Adams gepflanzte Kreuzesbaum aufwächst, wiederum zusammen mit den Wandungsstatuen des Salomoportales (Abb. 154). Sowohl der Bileam wie die Gestalt der Königin von Saba zeigen dieselbe lockere, weitmaschige Wiedergabe der Falten, dieselben breiten Ösen und glatten Flächen. Man könnte geradezu an die gleiche ausführende Hand denken. Die folgende Gestalt mit dem Winkelmaß (Abb. 144), wahrscheinlich auf Henoch zu beziehen, von dem es Genesis 4,17 heißt: »er bauete eine Stadt«, gehört stilistisch mit dem Nikolaus aus dem Tympanon des Bekennerportals (Abb. 80) und fast deutlicher noch mit Archivoltenfiguren vom Mittelportal in Sens (Abb. 81) zusammen174. Aus diesen Hinweisen hat sich wohl überzeugend ergeben: alle Sockel an den seitlichen Eingangspfeilern der Nordhalle werden gleichzeitig mit den großen Statuen um 1220 entstanden sein. Die künstlerisch wie inhaltlich hervorstechende Reihe der Urväter am westlichen Eingang muß von einer Hand aus dem Kreise der Bildhauer des Bekenner- und Salomoportals stammen, einem Senser Zuwanderer. Die Resultate, welche bereits aus dem Studium der Sockelarchitekturen zu gewinnen waren, werden also durch die Untersuchung des Figurenstiles bestätigt. Die Sockelreliefs an den Vorhallenpfeilern des mittleren Einganges zeigen linker Hand die Jugendgeschichte Davids von seiner Salbung bis zum Siege über Goliath. Von den vier Sockeln sind, wie schon erwähnt, nur zwei in der ursprünglichen Form erhalten. Davids Kampf und Sieg über Goliath ist nur in einer veränderten Fassung des frühen 14. Jh. überliefert175. Rechter Hand vom Mitteleingang sind an den Sockeln Begebenheiten aus dem 1. Buch Sa1 7 4 Bulteau's Deutung des Seth auf Medizin/Hippokiates und des Henoch auf Geometrie/Ardiimedes - vgl. Bulteau Π, S. 155 - ist, soweit idi sehe, bis jetzt unwidersprochen geblieben. Nicht gelungen ist mir, die an den Henoch anschließende Figur — von Bulteau auf Malerei/Apelles getauft — zu identifizieren. 175 Vgl. oben Anm. 164.

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muelis, und zwar von Samuels Eintritt in den Tempeldienst unter Eli bis zur Rückführung der Bundeslade nach Beth-Semes dargestellt178. Hier sind alle vier Sockel in der ursprünglichen Form des r3. Jh. erhalten. Vergleicht man die erste Szene aus der Davidgeschichte — Davids Salbung durch Samuel — (Abb. 157) mit Sockelreliefs von den Seiteneingängen (Abb. 144,152,, 1 5 3 , 1 5 5 , 156), so fallen zunächst auf die Veränderungen des architektonischen Details. Die flache, überquellende Tellerbasis ruht auf einem achteckigen und nicht mehr auf einem quadratischen Sockel. Die merkwürdig grob, übergroß gearbeiteten Kapitelle zeigen nicht mehr die gotischen Knospen, sondern natürliches Blattwerk, welches auch die Deckplatten völlig überwuchert. Offensichtlich handelt es sich hier um jüngere Formen. Der figürliche Stil geht aus von den altertümlicheren, seitlichen Sockelreliefs und den verwandten Bildwerken an den Chartreser Portalen. Die Figuren rechts neben David — es handelt sich um die Gruppe seiner Brüder — zeigen nodi ganz den gleichen feingliedrigen und zarten Figuren- und Gewandstil wie die Tugenden (Abb. 152) oder Adam und Abel (Abb. 153). In der Gruppe von Samuel und David aber werden die gleichen Gewandmotive hart und brüchig. Jene Ösen, wie sie an der Faltenzeichnung bei Seth zu beobachten waren (Abb. 156), verändern sich zu dreidimensional vorquellenden Gewandbäuschen, sehr deutlich bei dem Samuel an der Hüfte und an seiner ganzen rechten Körperseite zu sehen. Aus altertümlichen Motiven also entsteht hier, anscheinend ohne direkte Anregung von auswärtigen Zentren her, wenn aurh wohl gefördert durch die im gleichen Augenblick, beispielsweise in dem Kalenderzyklus, in Chartres eindringenden Pariser Neuerungen, ein hartbrüchiger, die Körper nicht mehr zart umspielender, sondern verdeckender Gewandstil. Es ist ein Schritt zu dem hochgotischen Gewandstil von Paris und Amiens hin mit den Motiven und auf der Grundlage der Kunst um r2O0, wesentlich der Senser Frühgotik. So bleiben etwa bei den Figuren von Saul und David in der Szene der Waffenübergabe vor dem Kampf mit Goliath (Abb. 158) die Grundmotive der Saulfigur durchaus in der durch den Henoch (Abb. 144), den Nikolaus vom Bekennerportal (Abb. 80) und Sens (Abb. 81) vorgezeichnetenStilüberlieferung. Die Formen aber sind auf harten Brach, auf Eigenständigkeit des Gewandes hin abgewandelt. Sie sind gröber und schwerer, die Feinheit der Zeichnung, die Kalligraphie geht verloren. Wiederum aber sind es — ganz im Unterschied 176 Vgl. hierzu Bulteau Π, S. 202Í.

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zur Paris-Amiensischen Richtung — die frühgotischen Faltenmotive, die Ösen und Schlaufen und Mulden, welche hier ins Harte, Zerrissene und Zerklüftete abgewandelt wurden. Rechts vom Mitteleingang, wo auch die architektonischen Formen am fortgeschrittensten scheinen — Blendmaßwerk und am »Tambour« gotische Arkadenstellungen (Abb. 147) bei charakteristischer Verkümmerung und Verflachung des überalterten Motivs der Faltkuppeln — nimmt dieser Prozeß weit vehementere Formen an. Die Ausgangspunkte bleiben dabei trotz allem stets klar. Der im Tempel schlummernde Samuel beispielsweise (Abb. 159) ist eine Variation von Motiven, die der Königskopfmeister seiner dramatisch bewegten Figur des richtenden Salomo (Abb. 59) zugrunde gelegt hatte. Ja es scheint, daß das Outrierte und Expressive dieser spätesten Chartreser Vorhallensockelreliefs wie der ihnen folgenden Archivoltenfiguren sich aus dem beharrlichen Fortleben bestimmter altertümlicher Grundmotive ergibt. Die dramatische und frei bewegte, mit vielerlei Beiwerk hantierende Szenerie des Sockels mit der Geschichte des Raubes und der Rückkehr der Bundeslade (Abb. 160) führt Gewohnheiten weiter, die am Bekennerportal, am Senser Johannesportal aufgefallen waren, von der Hochgotik aber gerade zurückgedrängt und bereinigt werden. Figürliche Motive weisen zurück auf den Königskopfmeister und das Bekennerportal: eine schreitende Figur aus den Archivolten des Bekennerportals (Abb. 161) zeigt etwa den Ausgangspunkt. Man hat sie mit der Gestalt des Sockelreliefs zu vergleichen, welche nach der Bundeslade faßt. Aber die Formen sind sperrig und gespreizt geworden. Hochgotische Versteifung, Verschärfung setzt an Motiven an, die einem ganz anderen Stilzusammenhang entstammen. Die Zerrissenheit der Form — unvergleichlich allem, was etwa in Paris oder Amiens zu sehen ist — ergibt sich aus dieser, soweit wir sehen, in Frankreich einmaligen Uberschneidung fortdauernder, älterer Stilüberlieferung und den ersten Anstößen von seiten der modernen, hochgotischen Ateliers. Am Rande sei vermerkt, daß die zuvor aus ikonographischen Gründen erwähnte dritte Grabplatte in Lèves (Abb. 12,5) offensichtlich ebenfalls in den Stilzusammenhang dieser fortgeschritteneren Sockelreliefs gehört. Sie weist die gleiche Outriertheit in den Wiederholungen frühgotischer Motive auf. Eine Figur wie der vor Eli opfernde Samuel, ebenfalls von dem Pfeiler links vor dem Mitteleingang (Abb. 162), zeigt die Gewandformen in heftiger und scharfer Bewegung. Das Jähe, Zugespitzte des Gliederspiels und die harte Knitterung des flatternden Rockes sind deutliche Zeichen der jetzt entschieden hereinwirkenden Hochgotik. Noch immer aber ist die Grund99

läge jene freie, dramatische Bewegtheit, die das Senser Atelier nach Chartres gebracht hatte. Ein Blick auf die Esther-Ahasverusgruppe des Königskopfmeisters (Abb. 62), ja ein Blick zurück nach Mantes (Abb. 61) läßt daran keinen Zweifel. So dürfte denn aucii die ungewöhnliche Chartreser Genesisfolge nicht wie Schlag meinte ein Absenker der auswärtigen, hochgotischen Plastik sein 1 ". Vöge war eher auf der richtigen Spur, als er »von wachsender Freude am winkligen Bruch« sprach und andererseits meinte »während vereinzelt die Richtung auf schönen, schlanken Linienfluß noch anklingt«178. Die Genesisarchivolte führt nur einen Prozeß weiter, der in den letzten der Sockelreliefs unter den Statuen vor dem Mitteleingang eingesetzt hatte. Der den zuvor gezeigten, im Tempel schlummerden Samuel (Abb. 159) anrufende Herr (Abb. 163) leitet ganz unmittelbar zu den Figuren des Herrn in der Genesisarchivolte über (Abb. 164). Bei der herrlichen Gottvaterfigur aus der Erschaffung der Engel (Abb. 165) wird der Eindruck bestimmt von den die ganze Gestalt unruhevoll durchzitternden Faltenbrüchen. Das Erbe des Königskopfmeisters (Abb. 62) wirkt hier — hochgotisch überschattet zwar — doch noch immer nach. Man braucht an der Chartreser Nordvorhalle nur auf den tatsächlich Pariserischen Kalender oder auf die ebenfalls Pariserischen Figuren in den Tonnen zu blicken, um des ganzen Unterschiedes gewahr zu werden. In jenen zu festen Blöcken kristallisierten Figuren ist nichts von der formsprengenden Unruhe, den expressiven Verschränkungen, wie sie an der vom Stil der Frühgotik herkommenden Schöpferfigur erkennbar werden. Wir haben von der Chartreser Vorhalle eingangs gesagt, ihre Formenvielfalt sei fortlebendes 12. Jh. Die Daten für jene späteren Sockelreliefs und die Genesisarchivolte aus den hier vorgetragenen Beobachtungen mit Bestimmtheit zu erschließen, wird kaum möglich sein. Der enge Zusammenhang mit den Traditionen der Senser Werkstatt läßt eine Entstehung nach 1230 kaum als naheliegend erscheinen. Die Annäherung an die Hochgotik schließt andererseits eine Entstehung vor 1220 wohl aus. An den seitlichen Tonnen allerdings, und zwar im Zodiakus wie in der Reihe der Figuren der Vita contemplativa finden sich Einzelfiguren im Stil der Genesisarchivolte unmittelbar neben wesentlich altertümlicheren Werken" 9 . So spricht 177 Schlag, op. cit. S. 14.8. 178 Vöge, Vom gotischen Sdiwung, jetzt Bildhauer S. 108. 179 Ich denke an die oberste der 6 Vertreterinnen der Vita contemplativa, weiter an die Jungfrau und vor allem die Waage aus dem Zodiakus. Auch die meist sehr spät angesetzten Könige in den Nischen zwischen den Vorhallenbögen gehören noch diesem Kreise — Kan-

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manches für eine Entstehung auch dieser fortgeschrittensten Teile der Nordvorhalle um 1225. Wie dem auch sei, das Fortleben der altertümlichen Uberlieferungen bis in die Zeit der Hochgotik bestimmt die Erscheinung der Chartreser Hüttenplastik an der nördlichen Vorhalle. Von hier sind dann, wie wir oben betonten, die großen Wirkungen der Chartreser Ateliers auf auswärtige Zentren ausgegangen. Aber es ist nicht ohne Sinn, daß in den ausgeprägtesten Zentren der hochgotischen Bildhauerei, in Paris und Amiens, diese Wirkungen verschwindend gering gewesen sind. In Paris sind sie nicht zu erkennen. In Amiens bleiben sie auf einige nebensächliche Figuren beschränkt180. Weitergewirkt hat Chartres auf Reims, dessen mächtige und reiche Bildhauerkunst sich nur zögernd und erst nach und nach, niemals völlig der Pariserisch-Amiensischen Pointierung, Formenschärfung öffnete. Das war wesentlich die Wirkung der Hohepriestergruppe, der von Laon ausgehenden Richtung und Stimmung. Noch in den spätesten Werken in Reims findet sich ihr Widerhall — in den still ausgebreiteten Formen auf dem Antlitz des Emmauschristus im Rosengeschoß der Westfassade, um nur ein Beispiel zu nennen. Weitergewirkt aber hat dann Chartres vor allem nach Burgund und nach dem Oberrhein hin. Das war, wie seit langem erkannt ist, die Wirkung der sich um den Königskopfmeister formierenden Richtung, der von Sens ausgehenden, wie jetzt gesagt werden kann. Sie zieht sich um 1220/25 nicht zufällig in einen Bereich zurück, der auch architekturgeschichtlich der Frühgotik nahebleibt, mit Bony zu reden »resistance to Chartres«, will sagen gegen die Chartreser hochgotische Bauweise leistet —. Im Nièvre, in Burgund und im Elsaß hat j ene eigenwillige, die straffe Bindung an architektonische Zusammenhänge meidende und stattdessen eine pathetisch bewegte Figurengestaltung anstrebende Bildhauerkunst sich im dritten und vierten Jahrzehnt des 13. Jh. eindrucksvoll entfaltet. Mit der Bauplastik von Nevers nehmen wir die Betrachtung dieser von Sens und Chartres abhängigen Werke außerhalb des Kronlandes auf.

[179] delabersockel der Vorhallenpfeiler vor dem Mittelportal und Genesisarchivolte — an, können nicht sehr viel später entstanden sein. 180 Eine Einwirkung von Chartres auf Paris, wie sie am weitgehendsten Medding, Die Westportale von Amiens, S. 88fl., angenommen hat, vermag idi nicht zu erkennen. In Amiens bleiben die möglichen Chartreser Anregungen ganz am Rande: die Statue der Hl. Ulphe — Spiegelung der Chartreser Modestia — und die wohl der gleidien Hand zugehörige Figur des Propheten Jesaias sind die einzigen Zeugnisse für sie.

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ν DIE NACHFOLGEWERKE IN BURGUND

I. Die Skulptuien dei Kathedrale St.-Cyi in Neveis Die fünf westlichen Langhausjoche der Kathedrale St.-Cyr in Nevers gelten den Architekturhistorikeni als eine charakteristisch burgundische Variante hochgotischer Kathedralarchitektur aus der ersten Hälfte des 13. Jh. 181 . Für die Herkunft motivischer Einzelheiten ist neuerdings auf Bauten in Sens verwiesen worden 182 . Ganz entsprechend ordnen sich die mit diesem Bauabschnitt verbundenen Skulpturen, wie schon von Lisa Schürenberg einmal richtig vermutet, der von Sens/Chartres nach Burgund und dem Oberrhein hin sich verbreitenden Stilrichtung ein 183 . Uber die mutmaßliche Bauzeit der in Frage stehenden Joche in Nevers ist durch die Forschungen von Jantzen und Branner wenigstens annähernd Klarheit geschaffen. Der Baubeginn hängt nicht, wie von der älteren Forschung vermutet, mit einem Brande im Jahre 12,11 zusammen, sondern lag keinesfalls vor 1225. Die Bauarbeiten gerieten um die Mitte des 13. Jh. an einem zwar begonnenen, aber nie ausgeführten, östlichen Querhaus ins Stocken184. Diese architekturgeschichtlichen Resultate sind in unserem Zusammenhang nicht ohne Bedeutung. Sie legen von vorneherein klar, daß die Bildwerke in Nevers nur eine Parallele — und zwar, wie wir sogleich vorwegnehmen, eine künstlerisch kaum ebenbürtige Parallele — keinesfalls aber eine Vorstufe zu Straß181 H. Jantzen, Burgundische Gotik. Sitzungsberichte der Bayer. Akademie der Wissenschaften, Philosoph.-histor. Klasse, 1948, Heft 5, S. 1 7 I Branner, Burgundian Gothic Architecture, S. 68fi. u. S. I57ÉE. Siehe jetzt auch M . Anfray, La cathédrale de Nevers et les églises gothiques du Nivernais, Paris 1964. 182 Vgl. Branner, a.a.O. S. 68ff. 183 Vgl. Schürenberg, op. cit. S. 23. 184 Jantzen, op. cit. S. 32, »kann das Langhaus nach dem Stil der kleinen Triforienskulpturen nicht vor 1225 begonnen sein«. Branner, op. cit. S. 157, sagt vom Langhaus sogar: »It does not seem to have been undertaken much before 1235.«

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burg oder ein Verbindungsglied zwischen Sens/Chartres und Straßburg darstellen. Die Skulpturen der Kathedrale St.-Cyr sind allenfalls gleichzeitig, teilweise sicherlich jünger als Straßburg. Für das oberrheinische Atelier haben sie infolgedessen nur ein mittelbares Interesse, indem sie Licht werfen auf die Verbreitung von Straßburg verwandten Lösungen und Formgedanken in der hier verfolgten Sens/Chartresischen Stilrichtung. Man kann an der Kathedrale von Nevers verschiedene Folgen von Bildwerken unterscheiden. An erster Stelle sind etwas unterlebensgroße Fensterpfostenfiguren zu nennen, welche außen an den Obergadenfenstem auftreten und, soweit wir sehen, bis jetzt nur in der Lokalliteratur Beachtung fanden188. Sodann folgen in der Triforienzone im Inneren des Langhauses kleine Konsolflguren unter den Triforienstützen und Engelsbüsten, bzw. knieende Engelsfiguren in den Zwickeln zwischen den Triforienbögen. Mit diesen Engeln gehört stilistisch eng zusammen ein künstlerisch eindrucksvoller Schlußstein im südlichen Seitenschiff. Schließlich ist zu den Werken des gleichen Ateliers ein in Holz ausgeführtes Kruzifix zu rechnen, welches bis 1944 über dem Hochaltar der Kathedrale gehangen hat und jetzt in der Sakristei verwahrt wird. Unter allen in Nevers erhaltenen Werken kommt dieses Kreuz, wie wir sehen werden, seinem Rang und seiner Form nach Straßburg am nächsten. Mit der Betrachtung der Fensterpfostenfiguren beginnen wir unser Studium der Bildwerke von Nevers. So wie die Kathedrale von Nevers im Aufriß der Hochschiffwand ganz allgemein von jenem dreigeschossigen System ausgeht, welches erstmals in Chartres ausgebildet worden war, so arbeitet sie im Lichtgaden mit dem großen, ebenfalls zuerst in Chartres erschienenen Gruppenfenster, wobei allerdings die Durchbildung im einzelnen bescheiden bleibt und das beherrschende Motiv der über den Lanzetten schwebenden Maßwerkrose nicht aufnimmt. Abweichend von Chartres, ja ganz singulär ist, daß an den Mittelpfosten dieser Gruppenfenster unter den außen vorgelegten Diensten Statuen erscheinen. So erkennt man an der Südseite des Langhauses, und zwar am zweiten Fenster vom westlichen Querschiff aus, eine stehende, weibliche Figur (Abb. 166). Diese Figur 185 Crosnier, Monographie de la cathédrale de Nevers, Nevers 1854, S. 127. — Nicht entgangen sind die Fensterpfostenstatuen allerdings der die gesamte mittelalterliche Baukunst Frankreichs überblickenden Aufmerksamkeit Viollet-le-Ducs. Vgl. Dictionnaire raisonné VI, S. 341, w o sie kurz erwähnt werden. Eine detaillierte Beschreibung der Figuren gab übrigens de Guilhermy in seiner »Déscription des localités de la France«, welche in der Handschriftenabteilung der Bibl. Nat. ruht.

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aber gibt sida, auf den ersten Blick als ein unserem Kreise auf das engste zugehöriges Werk zu erkennen. Übereinstimmungen mit der Figur der Straßburger Ekklesia beispielsweise liegen auf der Hand: in der Wiedergabe des Leibes mit der eng umgürteten Taille, den sich wölbenden Oberschenkeln, dem nach unten gezogenen Gürtel, dem weiten, frei hängenden Mantel, ja selbst in der Wendung des Hauptes (vgl. Abb. 7 mit Abb. 166). Aber gleichzeitig trägt die Figur in Nevers ein provinziell bescheidenes Wesen zur Schau, das weit hinter der hohen Straßburger Kunst zurückbleibt. Das Heroinenhafte weicht einer ländlichen Freundlichkeit. Es sind nicht nur die Proportionen untersetzter, erdennäher, sondern es fehlt überhaupt völlig die gereckte Schärfe der Straßburger Figur. Alle Einzelheiten gehen mehr in die Breite : das Antlitz, die Schultern und die Arme, welche nahezu waagerecht auf den Leib gebettet sind. So ist es auch charakteristisch, daß in Straßburg eine Agraffe den Mantel eng zusammenzieht, während in Nevers ein Riemen sich in weitem Bogen über die Brust legt. Auch in der Zeichnung des Gewandes fehlt das Agile, Flammende, wie es für Straßburg charakteristisch ist. Die Motive sind vergleichbar, der Vor trag aber ist härter und gröber. Wie schweres Leder breitet sich das Tuch des langen Kleides über die Füße. Es ist möglich, daß solche Verhärtung der Einzelform teilweise das Ergebnis späterer Entstehung ist, bereits mit jener Vorliebe für schwerere und eckig gebrochene Formen zusammenhängt, die in der Kathedralskulptur ab etwa r230 ganz allgemein die Oberhand gewinnt. Die Beziehung zu Straßburg ist offensichtlich nur eine mittelbare. Sie ist aus den gemeinsamen Chartresischen Vorbildern und Ausgangspunkten — wie der Königin von Saba des Königskopfmeisters (Abb. 154), der Modestia (Abb. 148), den Beatitudines — zu verstehen. Am Beginn dieser ganzen Reihe verwandter weiblicher Statuen in Chartres wie in Straßburg und Nevers aber stehen Werke wie die Senser Virtusstatuette (Abb. 6 u. 8) oder das Senser Largitasrelief (Abb. 37). Uberblickt man diesen ganzen Zusammenhang, so wird allerdings auch die durchaus sekundäre Rolle des Ateliers von Nevers erkennbar. Sens, Chartres und Straßburg halten sich auf vergleichbarer Höhe,· in ihnen stellt sich das Aufgreifen, Verwandeln und Steigern der gleichen Formgedanken als ein für die Kunstgeschichte des r3. Jh. allgemein bedeutender Vorgang vor Augen. Werke wie die Figurenfolgen an der Kathedrale in Nevers gehören dem gleichen Kreise an, aber können doch nur als provinzielle Abwandlungen desselben Formengutes gelten. Ähnliches aber gilt — mit der möglichen Ausnahme von Besançon — für alle burgundischen Nachfolgewerke der Sens/Chartresischen Strömung. 104

Die eigentliche Größe der Epoche spricht nicht aus ihnen, so wenig wie aus den burgundischen Bauten. Nur in Straßburg wurde die bildhauerische Uberlieferung von Sens/Chartres nochmals mit dem höchsten Anspruch und der feurigsten Anspannung ergriffen und weitergeführt. Die Bauplastik von St.-Cyr in Nevers überrascht nichtsdestoweniger durch die Fülle von mit Straßburg vergleichbaren Motiven. Wir fassen in Nevers Vorbilder, Vorlagen des Straßburger Ateliers — ihre provinziellen Reflexe — welche uns an einem Hauptzentrum wie Sens entweder gar nicht mehr oder nur noch in bescheidenen Resten erhalten sind. Für das Problem der Straßburger Tragsteinfiguren, welches uns bereits eingangs beschäftigte, ist ζ. B. die Folge der Fensterpfostenstatuen in Nevers von höchstem Interesse. So erscheint an der Nordseite des Langhauses von St.-Cyr am ersten Fenster vom Westquerschiff aus eine schreitende, männliche Figur (Abb. 167 u. 168). Sie ist nur fragmentarisch erhalten: das Haupt, der linke Arm und das linke Bein sind abgebrochen. Aber noch der Torso ist eindrucksvoll: Die Figur ist nahezu völlig entkleidet. Ein über beide Schultern geworfenes Tuch hängt, die Schamteile verdeckend, in einer losen Schleife vor dem Leib. Die Fülle rundlicher Gliedmaßen entlädt sich in kräftig ausgreifender Bewegung. Das rechte Bein in weiter Schreitstellung, der Fuß auf eine gotische Blattknospe gesetzt, welche unter der Last des Schrittes sich zu biegen scheint, und zugleich der rechte Arm abgewinkelt und erhoben, so daß die Hand stützend und tragend an die Sockelplatte unter dem Fensterpfosten greift. Die Fensterpfostenfigur ist hier als Atlant aufgefaßt, dabei in der Freiheit der Bewegung und im Motiv der Entkleidung charakteristisch unterschieden von den berühmten Reimser Tragefiguren. Die kunstgeschichtliche Stellung dieser Statue in Nevers läßt sich rasch durch einen Blick auf die schon einmal erwähnte Figur vom Sockel des Mittelportals in Sens klären (vgl. Abb. 19 mit Abb. 167,168). Die Körperproportionen sind ebenso wie die Stellung und der Fall des Tuches vor dem nackten Leibe unmittelbar vergleichbar. Und von den Figuren in Nevers fällt dann noch einmal Licht auf die heftiger bewegte Konsolfigur im Straßburger Südtransept Abb. 18). Solche Zusammenhänge mit Straßburg kann noch eine weitere Fensterpfostenstatue in Nevers erhellen, welche sich auf der Südseite am ersten Fenster vom Westquerschiff aus befindet (Abb. 169). Es ist wiederum eine nahezu ganz entkleidete Figur mit einer vor dem Leib herabhängenden Gewandschleife. Sie ist breitbeinig stehend gegeben mit leicht eingesackten Knieen und 105

an die Wange gelegter rechter Hand. Hält man ihr die Konsolfigur aus der Straßburger Johanneskapelle entgegen (Abb. 170), so liegt trotz der Abweichungen in den Motiven der Körperdarstellung der grundsätzliche stilistische Zusammenhang wieder offen zutage. Es handelt sich um Werke eines Schulkreises. Es ist bezeichnend, daß unter diesen frei bewegten und eigenwillig versetzten Fensterpfostenfiguren von Nevers der seltene, ja wenn man von den Tragefiguren der Senser Westfassade absieht, wohl singulare Fall einer mittelalterlichen Aktstatue begegnet. Auf der Nordseite des Langhauses am zweiten Fenster vom Westquerschiff aus erscheint eine völlig entkleidete, männliche Figur (Abb. 171). Die Beine sind in schreitender Stellung gegeben. Die Schamteile werden offen gezeigt und der leicht zurückgebeugte Oberkörper trägt ein Haupt, welches durch grimassierende Züge und fliegende Haare charakterisiert ist. Das schamlos Unverhüllte der Figur, so durchaus ungewöhnlich in der Skulptur des 13. Jh., steht demnach inhaltlich in Zusammenhang mit der Sphäre der Laster. Unter den hier nicht wiedergegebenen, jüngeren Fensterpfostenfiguren der östlichen Joche — Nordseite, fünftes Joch vom Westquerschrff aus — findet sich die Figur des Avaras: eine männliche Gestalt, die in der Linken eine Börse hält. Die Tragefigur scheint ja in der Bauplastik des 12. und 13. Jh. in der Mehrzahl der Fälle eine inhaltlich negativ determinierte Bedeutung zu haben und die Folge in Nevers ist mit der Mehrzahl ihrer Figuren diesem Bereiche ganz offensichtlich zuzurechnen186. Freilich bleibt der Nudus von Nevers auch innerhalb dieser Sphäre, soweit wir sehen, völlig einmalig. Man braucht sich nur einen Augenblick an die Reimser Atlanten zu erinnern: ihre vermummten, düsteren Formen, mächtige Blöcke zwar, aber in der schweren, hochgotischen Gewandung recht eigentlich leibfeindlich, um des Exzeptionellen, ja Regelwidrigen der Pfostenfigur in Nevers gewahr zu werden. Künst186 Crosnier, op. cit. 126; deutet die Fensterpfostenfiguren bereits in ähnlichem Sinne freilich nicht ohne die aus seiner »Iconographie chrétienne« bekannten Uberdeutungen. Eine Untersuchung über die Tragefigur — Atlant, Karyatide — in der Bauplastik des Mittelalters gibt es einstweilen nicht, sie ist angesichts eines nur in seltenen Fällen auf eine ganz spezifische Inhaltsbedeutung hin fixierbaren Materials auch nicht einfach durchzuführen. Siehe jedoch Ch. Seymour, Xlllth Century Sculpture at Noyon and the Development of the Gothic Caryatid, G. Β. Α., 6th ser. X X V I (1944), S. 163fi. H. ν. Einem, Das Stützengeschoß der Pisaner Domkanzel, Köln/Opladen (1962), S. 38ff. Die dort versuchte Übertragung des Büßer-Motivs auf das antike Atlasbild ist allerdings sicher abwegig. Eine Untersuchung über Atlant und Karyatide im Mittelalter ist angekündigt bei H. Ladendorf, Antikenstudium und Antikenkopie, Berlin 1953, Vorwort, weiter S. 86, Anm. 41.

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lerisch ordnet sie sich konsequent der hier verfolgten Stilrichtung ein: die Relieffigur am Trumeau in Sens (Abb. 19) zählt zu ihren Voraussetzungen. Die Konsolfiguren in Straßburg (Abb. 18 u. 170), auch jene in Dijon können als Parallelen gelten187. Der Chartreser Salomo (Abb. 43) wie die Straßburger Ekklesia (Abb. 7 u. 9) fallen unter den gotischen Gewandfiguren durch ihre Betonung des Leibes unter dünnen durchscheinenden Stoffen auf. Vielleicht aber weist die Aktstatue in Nevers schärfer noch als alle diese anderen Beispiele auf jene polare Stellung, in welcher sich die hier verfolgte Richtung zu den vorherrschenden Tendenzen der Skulptur des Kronlandes befindet. Ein Wort noch zur möglichen Herleitung der Fensterpfostenfigur: das Motiv der Tragefigur unter einem Dienst — zu unterscheiden von der Tragefigur unter einem Gesims, wie wir sie in den Laoner und Reimser Atlanten vor Augen haben — weist unzweifelhaft zurück auf den nördlichen Turm der Westfassade in Sens (Abb. 20, 21, 22, 23). Dort sehen wir ja Tragefiguren unter den gekoppelten Diensten, welche dem obersten Turmgeschoß vorgeblendet sind. Und so wie sich die Fensterpfostenfiguren von Nevers durch ihre freie und unverhüllte Erscheinung von den vermummten Reimser Atlanten unterscheiden, so liegt ja schon in dieser durch Sens vorgebildeten Form der Versetzung eine lockere Beweglichkeit, die im Gegensatz steht zu Reims, wo die gedrungenen Figuren sich unter der Last einer körperhaft mächtigen Architektur zu beugen scheinen. Die freie Form der Versetzung und der freie Stil der Fensterpfostenstatuen von Nevers scheinen also beide in ihrer Wurzel dem Senser Atelier zu entstammen188. Zu dem dreiteiligen Aufrißsystem, wie es die Kathedrale von Nevers aus den hochgotischen Bauten des Kronlandes übernimmt, gehört das Kastentriforium, welches sich zwischen Arkaden und Obergaden hinzieht. Die Durchführung 187 Für Dijon vgl. Sdiürenberg, op. cit. S. 23, welche ja angesichts der Tragefiguren unter den Triforienstützen im Inneren Dijon und Nevers bereits in einem Atem genannt hat. 188 Branner, op. cit. S. 69, sagt vom Architekten von St. Cyr: »it is difficult to say, where he had been prior to about 1235 other than at Sens* und führt eine Reihe von Motiven an, welche das Lghs. in Nevers mit Bauten in Sens — nidit nur der Kathedrale, sondern vor allem St. Jean und St. Paul — verbinden. Wichtig ist weiter, daß an der Ostwand des Palais Synodal eine stilistisch allerdings von den Bildwerken an der Kathedrale abweichende Fensterpfostenstatue aus dem ersten Drittel des 13. Jh. erhalten ist. Sie sdieint von Viollet-le-Duc gefunden und dort eingesetzt worden zu sein. Vgl. Dictionnaire raisonné VI, S. 34.1, »nous avons retrouvé à Sens un très beau meneau de ce genre, qui date du XII e siècle«, was aber wohl nicht zutrifft In einer zugehörigen Anmerkung: »Cette colonnette qui servait de meneau à une fenêtre, est placée aujourd'hui à l'une des baies du rez-dechaussée de la salle synodale de Sens.«

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im einzelnen aber weicht von den kronländischen Beispielen ab durch die Weite der Stützenabstände, die ins Dekorative gehende Behandlung der architektonischen Einzelglieder und vor allem durch die Einführung des bereits oben erwähnten, skulpturalen Schmucks. Auf jedes Joch fallen drei Arkadenstellungen (Abb. 173). Unter den Stützen, welche analog zu kantonierten Rundpfeilern gebildet sind, ist jeweils eine hockende oder kauernde Tragefigur angebracht. Das Motiv — Tragefigur unter einem Dienst — entspricht den Fensterpfostenfiguren am Außenbau. Die Details der Anordnung — vor einem nackten, hohen Sockel, welcher den Fenster- oder Triforienstützen untergeschoben ist — stimmen wörtlich überein und waren übrigens bereits in Sens genau vorgebildet (vgl. Abb. 22). In den Zwickeln zwischen denTriforienbögen aber erscheinen Engel über Wolkenbändern, zuweilen als Halbfiguren, zuweilen knieend. Solche Engelsfiguren in der Triforienzone sind uns sonst an französischen Bauten nicht bekannt geworden. Sie begegnen, worauf wir schon an anderer Stelle verwiesen, in der englischen Architektur des 13. Jh., wobei die Frage möglicher Wechselbeziehungen offen bleiben muß189. Kronländische Anlagen des 13. Jh., charakterisiert durch eine straffere Organisation des Wandzusammenhanges, vermeiden ja überhaupt die Einbeziehung figürlicher Bauplastik in den Innenraum. Schon die wenigen Kapitellfigürchen im Inneren der Reimser Kathedrale sind dort eine durchaus ungewöhnliche Erscheinung und weder Amiens noch Chartres haben Gegenbeispiele aufzuweisen. Hingegen kommen Bauskulpturen — vor allem Kopfkonsolen — im Inneren der ja auch architektonisch lockerer gefügten Bauten Burgunds des öfteren vor — etwa an Notre-Dame in Dijon, an Notre-Dame inSemur-en-Auxois—und es scheint, daß auch die freilich unvergleichlich großartigere Straßburger Innenraumskulptur als eine Parallele zu diesen burgundischen Gepflogenheiten aufzufassen ist. Die Tragefiguren aus der Triforienzone in Nevers sind künstlerisch durchaus zweiten Ranges. In ihren gedrungenen Proportionen, ihrer lebhaften Bewegtheit gehören sie freilich stilistisch in jene lange Reihe von Konsolfiguren, welche vom Senser Nordturm bis nach Notre-Dame in Dijon und Straßburg reicht. Vergleicht man etwa eine Tragefigur in Nevers — sie befindet sich an der südlichen Langhauswand im dritten Joch von Westen aus (Abb. 172) — mit 189 Vgl. Sauerländer, Ein Reimser Bildhauer in Cluny, Gedenkschrift Ernst Gall, Berlin 1965, S. 255ÎÏ. Audi R. Branner, St. Louis and the Court Style in Gothic Architecture, London 1965, S. 57, Anm. 5.

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dem Scharfrichter aus dem Tympanon des Senser Johannesportals (Abb. 74), so kann an dem Zusammenhang kaum gezweifelt werden. Es sind hier und dort dieselben weich in sich zusammensackenden Bewegungen zu sehen. Es ist dieselbe Art, einzelne Gliedmaßen, etwa die Waden, rundlich aufquellen zu lassen. Das Gewand ist in Sens wie in Nevers um den heftig bewegten Körper gezerrt, wobei sich in der Gürtelzone eine schlaff überhängende Stoffmasse bildet. Allenfalls ist die Formensprache in Nevers schärfer und eckiger, so wie es der vorgeschritteneren Stilstufe entspricht. Im übrigen handelt es sich um aufs nächste verwandte Arbeiten. Werfen wir nun einen Blick nach einem der anderen, für die Ausbreitung der Sens/Chartresischen Formen wichtigen Zentren, Notre-Dame in Dijon, so begegnen wir dort ebenfalls Kragsteinfiguren, die eng mit Nevers zusammengehen. Eine Tragefigur aus einem der westlichen Joche in Nevers, aus der Südwand (Abb. 174) gleicht einer Konsolfigur von den Portalen in Dijon (Abb. 175) in den gedrungenen, dem Plumpen sich nähernden Proportionen und weiter in der verwunderlichen, Knien, Laufen und Tragen vereinenden Bewegung. Auch im Physiognomischen gibt es eine Verwandtschaft in den nach außen hin absinkenden Augen, dem Derben der Züge, welches freilich in Nevers — an dem künstlerisch offensichtlich geringeren Werke — aufdringlicher als in Dijon zutage tritt. So lassen sich denn auch in Straßburg mit diesen Triforientragefiguren von Nevers nur die Sachen zweiten Ranges aus der Nachfolge der Querhausskulpturen vergleichen. In dem Aufschauenden vom südwestlichen Vierungspfeiler des Straßburger Münsters (Abb. 176) ist die Formensprache des Ekklesiameisters verhärtet und verroht, jedoch in den komplizierten Bewegungsmotiven, den eigenwillig verschobenen Gewändern noch immer als Ausgangspunkt erkennbar. Es ist charakteristischerweise in Nevers eine der fortgeschrittensten Figuren — sie befindet sich im 5. Joch von Westen auf der Nordseite — welche man mit dem Straßburger zusammenbringen kann (Abb. 177). Auch in Nevers sind die alten Motive beibehalten, aber in einer harten und das Groteske streifenden Manier vorgetragen. Einzelheiten wie die über den Gürtel sich stülpenden Gewandfalten stimmen dabei wörtlich überein. Beide Figuren aber wird man nicht mehr unter die künstlerisch erfreulichen Erzeugnisse der hier verfolgten bildhauerischen Richtung rechnen wollen. Die alten komplizierten Bewegungsmotive erstarren unter einem hochgotisch hartbrüchigen Formenvortrag — es handelt sich nur noch um anachronistische Ausläufer. Die Engelsfiguren in den Zwickeln sind durchweg von sorgfältigerer Aus109

fiihrung. Auch wenn man solche Vergleiche nicht überanstrengen wird und die Differenzen der äußeren wie der künstlerischen Dimension im Auge behält, so läßt sich doch behaupten, daß die Triforienengel von Nevers in ihrer Stilbildung den mächtigen Figuren des Straßburger Gerichtspfeilers nahestehen. Der Engel in einem der Zwickel des östlichen Joches (Abb. 179), der in weit ausholender Bewegung, das Haupt gesenkt, den Körper in einer großen Kurve geschwungen, ein Spruchband entrollt, er ist nicht ohne hohes, kündendes Pathos. Stellt man ihm einen Posaunenengel (Abb. 178) vom Straßburger Gerichtspfeiler gegenüber, so ist — bei allem Abstand der künstlerischen Qualität — eine echte Affinität nicht zu übersehen. Sie bietet sich dar in der groß ausholenden, von oben her sich entfaltenden Bewegtheit, welche in Straßburg in freier Schwingung, in Nevers schon in einer beginnenden, hochgotischen Verhärtung und Verschärfung der Formen sich darbietet. Eine vermutlich etwas ältere Engelsfigur in Nevers — sie findet sich auf der Südseite im 3. Joch von Westen (Abb. 180) — kann die Verwandtschaft mit dem Straßburger Engel noch weiterhin veranschaulichen. Sie weist noch nicht jene zu Dreiecken zugespitzten, sich isolierenden Faltengrate auf, wie sie an dem jüngeren Stück in charakteristischer Weise vor allem zwischen den Beinen zu erkennen sind. Vielmehr liegt bei ihr der leichte Stoff der Gewandung dem Körper eng an und es sind durchgehende und stärker linienhafte Faltenzüge, welche hier der Schwingung des Leibes folgen. Darin aber steht dieser ältere Engel von Nevers dem spezifischen Gewandstil der Figuren des Straßburger Pfeilers nahe. Es ist ja bei dem hier abgebildeten Straßburger Posaunenengel der leichte Stoff in ähnlicher Weise glatt und schwungvoll über den Körper gezogen. Es bilden sich ähnliche lineare Faltenzüge, deren Schärfe sich von den löffeiförmigen Falten des gleichzeitig in der Champagne und in der Goldschmiedekunst des Gebietes »entre Sambre-et-Meuse« verbreiteten »Muldenstiles« so charakteristisch unterscheidet190. Vielleicht aber kann ein Schlußstein aus dem südlichen Seitenschiff der Kathedrale in Nevers, welcher einen schreitenden Engel mit Weihrauchgefäß und Schale zeigt (Abb. 181), das Verbindende wie auch den Abstand zu Straßburg abschließend nochmals auf angemessene Weise in Erscheinung treten lassen. 190 »Muldenstil«, eine bei Hahnloser, Villard de Honnecourt, Wien 1953, S. 216, ohne Stellenangabe zitierte Begriffsprägung Albert Boecklers. Boeckler spricht (Abendländische Miniaturen, Berlin/Leipzig 1930, S. 86) gelegentlich des aus Köln stammenden Evangeliars Brüssel, Bibl. Royale, Ms. 9222 von »fließend-bewegtem Gewandstil« oder den »muldenoder tropfenförmigen Eintiefungen des Gewandes«. Eben diesen Gewandstil erkennt Hahnloser auch in der Zeidienmanier des Villard.

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Es ist ein bescheidenes, ja in seiner Lieblichkeit intimes Werk, das mit der großen Kunst des Straßburger Gerichtspfeilers gewiß nicht wetteifern kann. Aber in dem weiten, schwingenden Schreiten hat es doch Anteil an dem künstlerischen Stil, von dem auch Straßburg getragen ist und das rundliche, sanft geneigte Haupt mit den großen Locken bleibt den Straßburger Posaunenengeln (Abb. 182) vergleichbar. Der jetzt in der Sakristei geborgene Gekreuzigte (Abb. 183) ist feiner und edler als die gleichzeitige Bauplastik der Kathedrale und doch unzweifelhaft ein Erzeugnis desselben Ateliers. Die Figur ist 1,80 m hoch und trägt eine moderne Fassung. Der Typus ist altertümlich. Die Füße sind nicht übereinandergelegt und die Arme werden nicht von der Last des hängenden Leibes nach unten gezogen191. Uberhaupt ist in der Erscheinung dem Undramatischen und Stillen der Vorzug gegeben. So ist der schlanke Körper gerade aufgerichtet. Nur unmerklich ist das rechte Bein nach außen gedreht und leise nur biegt die rechte Hüfte aus. Uber dem Perizonium, welches am oberen Rande umgeschlagen und rechts geknotet ist, ragt der schmächtige Rumpf fast senkrecht auf und waagerecht dehnen sich die zartgliedrigen, in den Ellbogen etwas eingewinkelten Arme. Einen feinen, ins Asketische gehenden Zug weist auch das Haupt auf: in seinen fleischlosen Wangen, der geraden, zu den Schläfen kantig umbiegenden Stirn, den still geschlossenen Augen und dem sanft geschwungenen Munde (Abb. 184). Der werkstattmäßige Zusammenhang zwischen dem Gekreuzigten und der zuvor besprochenen Bauplastik von St.-Cyr läßt sich durch Vergleiche mindestens als wahrscheinlich erweisen. Die Faltenzüge des Perizoniums zeigen Motive, wie sie sowohl an den Triforiumsengeln als auch an dem Schlußstein vorkommen. Wir denken an die zu großen Dreiecken zusammengezogenen Stoff alten (vgl. z. B. Abb. 179) wie an die charakteristischen, in spitzen Enden auslaufenden Faltentäler (z. B. Abb. 181). Auch für das Haupt findet sich unter den Tragefiguren Vergleichbares, allerdings in gröberer, kruder Ausführung (Abb. 190). Man achte besonders auf die charakteristischen, als einfache Grate wiedergegebenen Haarsträhnen, das Schematische, Undifferenzierte der Wie191 Das Stück ist im 3. Weltkrieg beschädigt worden. - Über die Darstellung des Gekreuzigten im 13. Jh. siehe Κ. A. Wirth, Dreinagelkruzifix, RDK III, Sp. 524S. Weiter A. Goldschmidt, Das Naumburger Lettnerkreuz im Berliner KFM, Jb. d. pr. KS. 56 (1915), S. I37flf. Die einzige direkte Erwähnung des Kreuzes in Nevers, welche uns bekannt geworden ist, findet sich bei P. Thoby, Le cruxifix des origines au Concile de Trente, Nantes 1959, S. isof. Tí. CXV.

III

dergabe. Formeln, die schon in Chartres beim Königskopfmeister begegneten — die merkwürdige Zusammenrollung der Locken des Backenbartes zu einer an das griechische Omega erinnernden Ornamentfigur (Abb. 43) — erscheinen hier in matter Wiederholung. Der Gekreuzigte zeigt also dieselben Motive wie die Bauskulpturen und eine im allgemeinen vergleichbare Stilbildung. Von dem Kruzifix her aber läßt sich nochmals die Verwandtschaft mit Straßburg aufweisen. Vergleicht man den Kopf des Gekreuzigten (Abb. 184) mit dem Kopf des Christus aus dem Straßburger Marientod (Abb. 185), so erkennt man eine erstaunliche Ähnlichkeit. Die Form des Hauptes mit der kantig vortretenden Stirn, dem Schnitt von Augen und Mund, welche nach außen absinken und auch die Barttracht erscheinen nahezu identisch. Freilich gibt es auch Unterschiede charakteristischer Art. Dem Kopf in Nevers fehlt das eigentlich Bedeutende, das sich in Straßburg aus der pathetischen Steigerung unruhevoller und kompliziert bewegter Formen ergibt. Das Haupt des Gekreuzigten ist stiller, die Formen sind flächiger und spannungsloser nebeneinander ausgebreitet. Es sind die gleichen Unterschiede, die wir zuvor schon bei der Betrachtung der ersten Fensterpfostenfigur (Abb. 166) und der Straßburger Ekklesia (Abb. 7 u. 9) konstatierten. Nirgends erhebt sich diese Werkstatt von St.-Cyr in Nevers über das bescheidene Maß eines provinziellen Nacheiferns, welches die großen Gedanken der kronländischen Bildhauerkunst in kleiner Münze auszahlt. Für Straßburg aber sind die Werke in Nevers, wie gesagt, mittelbar interessant, da sie auf die weitere Verbreitung der im Atelier des Ekklesiameisters auftretenden Formgedanken weisen. Der Stilstufe nach greifen die in Nevers von dem frühromanischen Westquerhaus nach Osten fortschreitenden Arbeiten über Straßburg hinaus und nähern sich besonders im östlichen Joch bereits der Formenverhärtung des 4. und 5. Jahrzehnts192. Die Verwandtschaft erklärt sich aus den gemeinsamen Ausgangspunkten im Kronland. In Nevers gibt es Formen der Figurenversetzung — die Fensterpfostenstatue und die Tragefiguren in der Triforienzone — welche unmittelbar auf Sens zurückweisen und in Chartres nicht vorkommen. Ob die Bildhauer der Werkstatt von Nevers aus Sens kamen, wo die Arbeiten an den Obergeschossen der Fassade ja sicherlich 192 Audi von architekturgeschichtlicher Seite her nimmt Branner, op. cit. S. 157 an: »the work on the nave and chevet was inaugurated at the west«. Diese Annahme einer Bauabfolge West-Ost deckt sich mit den Schlüssen, zu denen die stilkritische Untersuchung der Skulpturen gelangt.

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noch in das 2. wenn nicht 3. Jahrzehnt des 13. Jh. hineinreichten oder ob sie wie die Straßburger zu den Chartreser Abwanderern in den zwanziger Jahren zählten, läßt sich mit Sicherheit nicht entscheiden. Der Stil der Skulpturen scheint eher im Sinne der zweiten Möglichkeit zu sprechen.

2. Die Figaiengaleiie in Mailly-le-Chäteau In Mailly-le-Chäteau, etwa 30 km südlich von Auxerre, fällt an der Westfassade der Kirche St.-Adrien, einem bescheidenen Bau aus der ersten Hälfte des 13. Jh., eine unmittelbar unter dem Giebel angebrachte offene Galerie mitLaufgang auf1®3 (Abb. 186). Sie öffnet sich invier spitzbogigen Arkadenstellungen, wobei die freistehenden Rundstützen auf fünf Tragefiguren aufruhen, welche etwa das untere Drittel der Gesamthöhe der Galerie einnehmen. Die Art der Versetzung entspricht genau dem von den Fensterpfostenfiguren in Nevers (Abb. 166) und den Tragefiguren am Nordturm der Senser Westfassade (Abb. 22) uns bereits bekannten Verfahren. Unter den Basen sind hohe, glatte Sockelwandstücke eingeschoben. Vor diesen Wandstücken stehen die Tragefiguren. Unter der Mittelstütze ragt eine weibliche Gestalt auf. Sie ist in ein langes, am unteren Rande sich über die Füße breitendes, an der Hüfte gegürtetes Gewand gehüllt und trägt einen weiten, offenen Mantel, dessen Enden durch einen über die Brust gespannten Riemen gehalten werden. Sie ist gekrönt und das offene Haar, weit abstehend, fällt auf die Schultern. Der rechte Arm ist abgewinkelt und die Hand in vornehmer Pose auf die Hüfte gestützt, während die weitgehend zerstörte Linke in den Mantelriemen griff. Weitere Attribute scheint diese Figur niemals gehalten zu haben. Sie ist flankiert von zwei männlichen Gestalten, welche beide ihr Haupt unter der Last der Säulen beugen und gleichzeitig der mit frei erhobenem Haupte stehenden Mittelflgur zuneigen. Während die rechte Figur nur mit einem kurzen, gegürteten Leibrock bekleidet ist, trägt die linke außerdem einen über die Schultern gelegten Surcot mit Kapuze und einer von der Brust herabhängen193 M . Quantin, Répertoire archéologique du Département de l'Yonne, Paris 1868, S. 36. Außer einem Artikel im Annuaire de l'Yonne, année 1840 der uns nicht zugänglich gewesen ist, scheint das Répertoire die einzige Stelle zu sein, wo Näheres über die Kirdie gesagt wird. Erwähnt ist sie bei Serbat im C. A. Moulins/Nevers, Paris 1913, S. 301Ö., eben wegen der mit den Tragefigürchen des Trifoliums in Nevera verglichenen Figurengalerie.

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den, latzähnlichen Stoffbahn. Unter den äußeren Stützen schließlich erkennt man barhäuptige Tragefiguren in schreitender Stellung, eine der Hände jeweils auf das vorgesetzte Raie gestützt. Beide bieten die Schmalseiten ihres Körpers dar und beide zeigen eine leichte Drehung des Hauptes nach innen, wiederum der Mittelfigur zu. Diese eindrucksvolle und, soweit wir sehen, völlig unvergleichliche Figurengruppierung bleibt vor allem nach der ikonographischen Seite hin rätselhaft. Eine frei stehende und gekrönte weibliche Figur, welche als einzige ihr Haupt vor der Basis der Säule erhebt, ist flankiert von vier Tragefiguren in auf niederen Stand weisender Tracht und mit bedrückter Mimik auf den derben Gesichtszügen. Daß es sich hier um ein Verhältnis der Subordination handelt, das scheint auch der Verfasser des bisher einzigen Interpretationsversuches empfunden zu haben. In Quantins Répertoire archéologique des Yonne-Departements wird von der Vermutung berichtet, es könne sich hier um eine Darstellung der Gräfin Mahaut von Nevers handeln, welche Leibeigenen die Freiheit gewähre194. Dieser nach der Mitte des vorigen Jahrhunderts — also zu einer Zeit, als man auch die Figuren an der Nordvorhalle in Chartres noch mit klangvollen Namen aus der mittelalterlichen Geschichte bedachte — geäußerte Vorschlag liegt zu weit abseits von der Darstellungssphäre der kirchlichen Programme zu Beginn des 13. Jh., als daß er ernsthaft in Betracht gezogen werden könnte. Nachdem auch eine Verbindung zum Patrozinium der Kirche nicht hergestellt werden kann und eine Deutung der Mittelfigur auf Ekklesia bei dem Mangel jeglicher Attribute unwahrscheinlich bleibt, müssen wir das ikonographische Problem, welches durch diese Figurengalerie gestellt ist, offen lassen. Der Versetzungszusammenhang weist, wie wir sahen, auf enge Beziehungen zu dem Schulkreis Sens-Nevers. Mit Nevers stimmen sogar die Profile der Basen und der Platten am oberen Rande des Sockelwandstücks wörtlich überein (s. Abb. 166 u. 186). Im Rahmen unserer Untersuchung aber wird vor allem die künstlerische Erscheinung der Mittelfigur die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Es ist ja augenscheinlich, daß wir hier jenen Typus der weiblichen Figur vor Augen haben, den sowohl die Fensterpfostenstatue in Nevers (Abb. 166) wie die Ekklesia in Straßburg vertreten. Es ist jener Typus, welchen 194 Quantin, op. cil. S. 36, »on y croit voir Mahaut, comtesse de Nevers, affrandiissant des serfs*.

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wir erstmals in der Senser Virtusstatuette (Abb. 8) und dem Senser Largitasrelief (Abb. 37) fassen konnten. Die Ausführung ist dabei feiner als in Nevers: die Körperformen sind schlanker und biegsamer, das Tuch des Gewandes hat einen den Leib mehr verschleiernden als verdeckenden Charakter, wichtig auch das offene Haar mit dem freien Lockenspiel (Abb. r87). Straßburg gegenüber fällt freilich auch hier der Mangel an dramatischer Bewegtheit, flammender Schärfe auf. Die Ubersteigerung der Proportion zu expressiver Hagerkeit ist ebenso wenig zu sehen wie die züngelnden Linien der Gewandfalten, welche an den Figuren des Ekklesiameisters so unvergeßlich sich einprägen. Zu dem oberrheinischen Atelier besteht also auch hier nur ein Parallelverhältnis auf Grund gemeinsamer Ausgangspunkte, nicht unähnlich wie in Nevers. Die weibliche Statue im Zentrum der Figurengalerie von Mailly erscheint dabei als eine Abwandlung von Formen jener Chartreser Beatitudines, welche Vöge und Beenken als Vorbilder auch für Straßburg genannt hatten19®. Sie steht jenen Chartreser Figürchen in den Proportionen, der Annbewegung, der Gewandung, der Haartracht äußerst nahe, näher als die Straßburger EkklesiaStatue. Die Tragefiguren bleiben an künstlerischem Rang hinter der Gekrönten im Zentrum zurück. Die Zugehörigkeit zu der hier verfolgten Stilrichtung ist aber auch an ihnen offensichtlich. So zeigt die Figur mit der Kapuze (Abb. 186) jenes lebhafte Standmotiv mit aufgeschlagenem Leibrock, welches uns beispielsweise in Lèves aufgefallen war (Abb. 119), das aber auch in Sens und an den Sensischen Teilen in Chartres begegnet. Aufschlußreich ist es weiter, die Tragefigur ganz links (Abb. x88) in ihrer Haltung mit einer Konsole im Frauenhaus in Straßburg zu vergleichen (Abb. 189). Es handelt sich um dasselbe expressive Schreiten mit abgewinkelten Armen und an die rückwärtige Hüfte und auf das vorgesetzte Knie gelegten Händen. So wie schon die Form der Versetzung vermuten ließ, gehören also diese Tragefiguren auch ihrem Stile nach unter die von Sens/Chartres abhängigen Werke. Wenn es uns auch nicht gelungen ist, das ikonographische Problem der Figurengalerie von Mailly-le-Chäteau zu lösen, so konnten die Skulpturen doch wenigstens kunstgeschichtlich in den zwischen Sens und Straßburg abgesteckten Bezirk eingeordnet werden. Der Bauplastik der Kathedrale von Nevers, also eines in örtlicher Nähe liegenden Denkmals, gehen sie, ihrem 195 Vgl. oben Anm. 30 und 37. " 5

Stile nach zu urteilen, zeitlich voraus und sind ihr im Falle der Hauptfigur auch künstlerisch überlegen. Wenn eine unmittelbare Beziehung MaillyNevers erwogen werden kann, dann nur in dem Sinne, daß der in Mailly tätige Bildhauer sich später nach Nevers wandte. Die Figurengalerie von Mailly-le-Chäteau möchte demnach noch in den zwanziger Jahren des 13. Jh. entstanden sein.

3. Nachträge zu Dijon und verwandte Reste in Beaune Daß es im archäologischen Museum und an der Kirche Notre-Dame in Dijon Skulpturen gibt, welche mit Chartres und mit Straßburg zusammenhängen, wurde, wie wir in der Einleitung sahen, von der Forschung bereits um 1930 notiert. Damals machte Panofsky einen Petruskopf aus dem archäologischen Museum in Dijon bekannt und wies sogleich auf seine enge Verwandtschaft mit dem Salomo des Königskopfmeisters in Chartres hin 198 (Abb. r Sculpture française et sculpture allemande au XIIIe siècle. Information d'Histoire de l'Art 7 (1962), S. i74ff. Rhein, Α.: Beaune, Notre-Dame, CA. XCI, (1928) S. 268 ff. Riant, Cte.: Exuviae sacrae constantinopolitanae, Genf 1877/78. Salet, F.: Les sculptures de Sainte-Marie de York. Bull. mon. 118 {i960), S. 324. —, La cathédrale de Sens et sa place dans l'architecture mediévale. A. des I. et BL. CompteRendus 1955, S. I82& 146

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148

ORTSREGISTER Alpirsbach, Ehem. Benediktinerklosterkirche Anm. 22 6 Amiens, Kathedrale i , 2, 19, 22, 24, 33, 39, 44, 58, 67, 98 f., 101, 108, 123, 125 Anm. 5, 8, 72,180, 205 Argenton-Chäteau, St. Gilles 35; Abb. 45 Au tun, Kathedrale 16 f. Auxerre, Kathedrale Anm. 53, 72 Avalion, St. Lazare 15; Anm. 46 Bamberg, Dom 8 f., 44, 69 Basel, Münster Anm. 219,220,224 Beaune, Musée du Beffroi 119 f., Abb. 197, 198 Beaune, Notre-Dame 118 f., 124 f.; Anm. 53 Besançon, Ste. Madeleine 13 f., 18,104,117 ff., 124 f.; Anm. 53; Abb. 195 Bordeaux, St. Seurin Anm. 205 Bourges, Kathedrale 126 Braisne, St, Yved i8¡ Anm. 29 Braunschweig, Dom 44; Anm. 143 Burgos, Kathedrale 126 Chablis, St. Martin Anm. 205 Châlons-sur-Marne, Notre-Dame-en-Vaux 17,· Abb. 5 Charroux, Ehem. Abtei 126) Anm. 205 Chartres, Bibl. Mun. Anm. 217 Chartres, Kathedrale, Lettner 47 ff., 72, 94; Anm. 93, 95 Abb. 83, 86 Chartres, Portail Royal 15, 57; Anm. 64 Chartres, Kathedrale, Querhausportale, Gesamtanlage 3, 5 f., 8, 10, 12 ff., 18 f., 27, 31 S-, 34, 49 S-, 78, 102 f., 107 f., 112 f., 115 ff., 122,124 f. Anm. 13, 21, 34, 35, 156, 159, 180. Chartres, Kathedrale, Querhaus, Bekennerportal 9, 36, 38 f., 41 f-, 45 fi·, 61 ff·, 65 ff·, 81 f., 85, 89, 92,95 ff. Anm. 156

Abb. 48, 57, 76, 77, 80, 106, 107, 109, i n , 112,114,120,121,161 Chartres, Kathedrale, Querhaus, Gerichtsportal 30, 43, 45, 50, 56 ff., 64, 76, 79 ff., 87 Anm. 59, 113, 117, 120, 143, 155 Abb. 97, 98, 100, 101, 102, 103, 104, 105, 128, 131 Chartres, Kathedrale, Querhaus, Krönungsportal 30, 52 ff., 64 f., 67 f., 79, 84 f., 91 Anm. 104,107,108, 217 Abb. 88, 90, 92, 93, 95, 96, 99, 113,133,135 Chartres, Kathedrale, Querhaus, Märtyrerportal 61 f., 64, Anm. 120,135 Chartres, Kathedrale, Querhaus, Marienportal 80 ff., 84 Anm. 156 Abb. 129,130,132 Chartres, Kathedrale, Querhaus, Salomoportal 35 ff., 47 ff., 72, 74, 79 f., 94 ff., 99 f. Anm. 80,139,156,157, 217 Abb. 43, 46, 50, 53, 55, 59, 62, 64, 66, 68, 71, 72,123,154 Chartres, Kathedrale, Querhaus, Vorhalle Nord 9 f., 12, 22, 50, 82 ff. Anm. 28, 149, 150, 151, 152, 154, 156, 157, 158,164,172,173,174,179 Abb. 134, 136, 137, 141, 144, 147, 148, 149, 150, 151, 152, 153, ISS, 156, 157, 158,159, 160,162,163,164,165 Chartres, Kathedrale, Querhaus. Vorhalle Süd 82 ff. Cluny, Ehem. Abtei 16 Dijon, Musée archéologique 13 f., 116 Anm. 41 Abb. 191,192 Dijon, Notre-Dame 14 f., 18, 107 ff., 116 ff., 124 Anm. 41, 44, 53,187,205 Abb. 175,193,196,203

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Dijon, St. Bénigne 15 f. Egisheim, Pfarrkirche 131 ff., 137 ff. Arim. 219, 221 Abb. 216,317, 218,220, 222, 223 Freiberg, Marienkirche 44 Freiburg/Br., Universitätsbibliothek Anm. 117 Germigny-L'Exempt Anm 52 Laon, Kathedrale 49 f., 63 f., 66, 85, 91, 107 Anm. 29, 159 Abb. 87, 89,94 Laon, Museum 53,· Abb. 91 Lèves, Ehemal. Abtei Josaphat [jetzt Hospice d'Aligre) 69 ff., 75 ff., 99, " 5 , " 5 Anm. 133,13s, 137,138,141,143 Abb. 115, » i , 119,122,124,125 Lisieux, St. Pierre 91 Mailly-le-Château, St.Andié 113 ff., 118,124t Anm. 193 Abb. 186,187,188 Mans (Le), Notre-Dame de la Couture Anm 20s Mantes, Kollegiatkirdie 38 ff., 43, 45, 48, 52, 91,100 Anm. 62, 82, 86 Abb. 54, 58, 60, 61, 63, 65, 67, 84 Meaux, Kathedrale Anm. 72 Mettlach, Pfarrkirche Anm. 35 Mönchen-Gladbach, St. Vitus 28; Abb. 29 Moissac, St. Pierre 24; Anm. 64; Abb. 15 Moutiers-Saint-Jean, Ehem. Abtei Anm. 206 Münster, Dom 91 Naumburg, Dom 49 Nevers, Kathedrale 14, 26, 101 ff., 117 f., 123, 125 Anm. 184, 185, 186, 187, 191, 192 Abb. 166, 167, 168, 169, 171, 172, 173, 174, 177, 179, 180, 181, 183, 184, 190 Nonontola, S. Silvestro Anm. 220 Oxford, Bodleian Library Anm. 145 Abb. 126,127 150

Paris, Bibl. Nat. Anm. 68,• Abb. 118 Paris, Notre-Dame (Pariser Bildhauerateliers) X, 3 i-, 22, 32 f., 39, 43 ff., 49, 58, 83, 94, 98 ff., 124 f. Anm. 3, s, 72, 92,157,180 Reims, Kathedrale 8, 17, 19, 25 f·, 49, 6η, "jo, 85 ff., 101,106 ff., 124 ff. Anm. 35, 93, iss, 156, 157, 158, 159, 20s Abb. 138,139,140,142,143 Rouen, Kathedrale 91 St Denis, Abteikirche 15, 21, 23 f., 28, 43, 76 Anm. 62, 63, 64,72 Abb. 14, 28 Sainte-Colombe-lès-Sens, Eh « η Abtei Anm. 123 Saint-Loup-de-Naud, Kirche, Anm. 221 Saint-Pierre-le-Moûtier Anm. 52 St Thibault-en-Auxois Anm. 20s St. Ursanne, Stiftskirche Anm. 219 Santiago de Compostella, Kathedrale Anm. 217 Semur-en-Auxois, Musée 122 ff. Anm. 206, 207 Abb. 204, 207,209,211,212 Semur-en-Auxois, Notre-Dame 108,118, 120 ff. Anm. 205 Abb. 194, 200, 201,202 Senlis, Kathedrale 17, 40, 43 Anm. 147; Abb. 2 Sens, Kathedrale 3 ff., 20 ff., 35 ff., 41 ff., 45 ff., 52, 63 f., 70 ff., 79, 81 f., 90 ff., 112 ff., 117, 122, 124 ff. Anm. 58, 59, 62, 67, 68, 70, 72, 89, 93, 96, 120,188, 217 Abb. 6, 8, 10, 12, 16, 19, 20, 21, 22, 24, 25, 31, 37, 39, 4-1, 44, 47, 49, 51, 52, 56, 69, 70, 73, 74, 75, 78, 79, 81, 82, 86, 117, 145, 146 Sens, Musée Jean Cousin Anm. 68 Sens, Musée Municipal 21, 66, 70; Abb. n o Sens, Palais Synodal 21, 26 ff., 30, 32, 66, 70, 119 Anm. 67, 68, 70, 89,188 Abb. 23,26, 27, 30, 34, 35,108 Sens, St. Jean Anm. 188 Sens, St. Paul Anm. 188 Sens, St. Pierre-le-Vif 77,· Anm. 145 Abb. 126,127

Straszburg, Münster, Glasfenster 131,134 Anm. 217,2,18 Abb. 214,224 Straszburg, Münster, Johanneskapelle 106, 122; Abb. 170 Straszburg, Münster, Nordquerhaus, Portal 128 ff. Anm. 213,214, 217 Abb. 219 Straszburg, Münster, Südquerhaus (Skulpturen Ekklesiameister und Werkstatt) 4 ff., 7 ff., r8, 2r ff., 30 ff., 43, 49, 89, 92 ff., ro2 ff., 122 ff., 135 ff. Anm. 16, 17, 21, 28, 29, 34, 35, 217, 223 Abb. 13, 18, 40, 42,176, 178, 182, 185, 20s 208,210,226,227,228 Straszburg, Musée de l'Œuvre Notre-Dame 2.4, 30,

32,133

Abb. 7, 9, χι, 17, 36, 38, 189, 199, 206

Straszburg, Privatbesitz Abb. 213,221 Straszburg, St Thomas 30,138; Abb. 32 Thérouanne, Ehemal. Kathedrale 126 Til-Chätel, Kirche 15 ¡ Anm. 46 Torcello, Dom Anm. 117 Venedig, San Marco Anm. 217 Vermenton, Ste. Madeleine 15 Vézelay, Ste. Madeleine 161. Anm. 52,205 Abb. ι, 3,4 Vitoria, San Pedro Anm. 205 Wechselburg, Schloszkirdie 44 Wells, Kathedrale 126

ISI

NACHTRAG S. 14, Αητη.

Angekündigt ist: P. Quarré, Les sculptures des portails de Notre-Dame de Dijon et celles du transept de la cathédrale de Strasbourg, Mémoires de la Commission des Antiquités de la Côte-d'Or, XXVI, 1963—65.

S. 16, Anm. 47:

Erst nach der Drucklegung bin idi auf P. Quarré, Les sculptures du tombeau de Saint Lazare à Autun et leur place dans l'art roman, Cahiers de la civilisation Médiévale 4,1962, S. 169—174 aufmerksam geworden. Die von Quarré vorgeschlagene Frühdatierung des Lazarusgrabes in die 50er Jahre hat in der Tat vieles für sich. Audi dürfte es richtig sein, daß in den großen Figuren des Grabes der Stil des Gislebertus nachklingt, während eine oft vermutete Beziehung zu Chartres/West fragwürdig wird. Siehe jetzt audi Quarré, Les apports languedociens et rhodaniens dans la sculpture romane de Bourgogne, Bull, du Centre International d'Etudes Romanes, 1965, S. iff.

S. lai, Anm 205 :

Siehe neuerdings P. Quarré, Le portail de Saint-Thibault-en-Auxois et la sculpture bourguignonne au XIIIe siècle, Bull. Mon. CXXIII, 1965, S. i8i£F. Angekündigt ist: P. Quarré, La sculpture en Bourgogne au XIIIe siècle, Bull, de la Société des Amis du Musée de Dijon, 1963—1965.

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