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German Pages 262 [266] Year 2017
Simon Strauß Von Mommsen zu Gelzer?
historia
Zeitschrift für Alte Geschichte | Revue d’histoire ancienne |
Journal of Ancient History | Rivista di storia antica
einzelschriften
Herausgegeben von Kai Brodersen, Erfurt |
Mortimer Chambers, Los Angeles | Mischa Meier, Tübingen | Bernhard Linke, Bochum | Walter Scheidel, Stanford Band 248
Simon Strauß
Von Mommsen zu Gelzer? Die Konzeption römisch-republikanischer Gesellschaft in „Staatsrecht“ und „Nobilität“
Franz Steiner Verlag
Umschlagabbildungen: Fotographien abgedruckt mit freundlicher Genehmigung des Lenbachhauses München und Florian Gelzer Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2017 Satz: DTP +TEXT Eva Burri, Stuttgart Druck: Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-11851-4 (Print) ISBN 978-3-515-11856-9 (E-Book)
Meinem Vater und Nicolas Eroukhmanoff (†)
VORWORT „Wissenschaftsgeschichte ist etwas fürs Alter, nicht für die Jugend.“ Der Satz fiel bei einer Berliner Tagung zur europäischen Antikenrezeption, die ich ganz zu Beginn meines Promotionsstudiums besuchte. Wer ihn gesagt hat, weiß ich nicht mehr. Wilfried Nippel war im Raum, aber auch einige brasilianische Forscher und ein dem Bonmot zugewandter Mediävist. In jedem Fall hat mich der kategorische Ausruf lange begleitet und auch verunsichert. Denn in der Tat bedeutet die Beschäftigung mit Wissenschaftsgeschichte für einen jungen, unerfahrenen Forscher ein Wagnis. Wie soll er, der das Handwerk selbst gerade erst noch lernt, schon die Leistung der Ahnen einschätzen und bewerten können? Was für ein Hochmut eigentlich, sich mit der Rezeption zu beschäftigen, ohne ein abschließendes Bild vom Gegenstand zu haben. Das waren oft meine Gedanken. Aber dann stieß ich zufällig auf Briefe von Theodor Mommsen – einen der zwei Granden, deren Wissenschaft ich bewerten sollte –, in denen er als besondere Qualität der Jugend den „coraggio dell’errare“ („den Mut, zu irren“) hervorhob und ihr die „Unbefangenheit oder Unverschämtheit“ zubilligte, über alles mitzusprechen. Also schöpfte ich Mut, fühlte mich gewissermaßen vom Gegenstand selbst zur Beobachtung aufgefordert und machte mich mit etwas leichterem Gewissen ans Werk. Auch wenn mich der Zweifel nie ganz verlassen hat, bin ich dann während meiner Arbeit immer wieder sehr froh gewesen über die besondere Herausforderung, die es bedeutet, verschiedene Zeiten und Perspektiven in den Blick zu nehmen: Nicht nur über die Antike selbst nachzudenken, sondern sich vor allem auch mit ihrer Bearbeitung in späteren Jahrhunderten beschäftigen zu können. Entstanden ist diese Studie im Rahmen des Berliner Sonderforschungsbereiches 644 „Transformationen der Antike“. Vier Jahre durfte ich dort mit einem Fensterblick auf den schönen Hausvogteiplatz forschen und mich von der kollegialen Atmosphäre anregen lassen. Mein Promotionsverfahren wurde an der Philosophischen Fakultät I der Humboldt-Universität zu Berlin unter dem Dekanat von Prof. Dr. Gabriele Metzler durchgeführt. Meine Disputation fand dort unter dem Vorsitz von Wilfried Nippel am 8. Februar 2017 statt. Der vorliegende Text ist eine geringfügig überarbeitete und mit einem Register versehene Version der eingereichten Dissertationsschrift. Mein Dank gilt an allererster Stelle meinem Doktorvater Aloys Winterling, der mich vom ersten Basler Studientag an begleitet und gefördert hat. Die Betreuung, die ich von ihm erfahren habe, seine Ratschläge und ruhigen Weisungen haben mich sehr gestärkt und die fristgerechte Fertigstellung der Arbeit überhaupt erst möglich gemacht. Daneben danke ich meinen beiden Gutachtern, Stefan Rebenich und Claudia Tiersch, sowie dem externen Gutachter Uwe Walter für ihre kritische Lektüre und die vielen hilfreichen Hinweise und Verbesserungsvorschläge. Dem Herausgebergremium danke ich für die Aufnahme in die „Historia“-Einzelschriften.
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Vorwort
Christian Meier hat mir den Weg zur Antike bereitet. Sowohl im persönlichen Gespräch wie durch seine Forschung ist mein Blick geschult worden für die richtigen Fragestellungen und hoffentlich auch diskussionswürdigen Antworten. Ohne ihn wäre ich in entscheidenden Momenten nicht weitergekommen. Ebenso gilt mein Dank Jan Meister, der mich seit Studienbeginn begleitet und unterstützt hat. Seiner unermüdlichen Betreuung verdankt meine Arbeit mehr, als ich hier formulieren kann. Ich blicke zurück auf eine harmonische Zusammenarbeit mit meinem SFB-Kollegen Philipp Strauß, dessen unabhängigen Scharfsinn ich bewundere und von dem ich viel gelernt habe. Irmela von der Lühe hat mir durch ihre frühe Lektüre und motivierenden Ratschläge enorm geholfen. Ihr ist es zu verdanken, dass ich über manche Krise hinweggekommen bin. Ebenso danke ich Alexander Jakovljevic, meinem treuen Freund und wissenschaftlichen Unterstützer, und Sarah Bühler, meiner vertrauten Studiengenossin von Beginn an. Max Stange hat mir als Korrektor und Rechercheur unendlich geholfen. Seine Genauigkeit und Strenge hat diese Arbeit an vielen Stellen verbessert. Und auch Marcel Kiefer, Uwe Herrmann, Horst Claussen und Thore Menze haben mir kostbare Dienste geleistet. Manuela Reichart danke ich für geduldiges Zuhören, Sophie Brunner für ihre immerwährende Unterstützung. Danken darf ich ausdrücklich noch Florian Gelzer und seiner Familie, die mir Einsicht in die „Memorabilien“ von Matthias Gelzer gewährten, sowie Jürgen Kaube dafür, dass er mich durch die verlockende Aussicht auf einen neuen Arbeitsplatz zur Fertigstellung der Arbeit motiviert hat. Schließlich geht mein Dank noch an die Kolleginnen und Kollegen in den althistorischen Fakultäten von Bern, Bielefeld und Berlin (FU wie HU), in deren Forschungskolloquien ich vortragen durfte und deren Kritik und Rat mich ermutigt haben. Gewidmet ist diese Studie meinem viel zu früh verstorbenen Studienfreund Nicolas Eroukhmanoff, mit dem ich ein wunderbares Jahr in Cambridge verbracht habe – und meinem Vater, der ihr Entstehen von Anfang an begleitet und mit teilnehmendem Interesse verfolgt hat. Ohne ihn wäre ich nichts und diese Arbeit eine andere.
INHALTSVERZEICHNIS Vorwort..............................................................................................................
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I.
Einleitung ..................................................................................................
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II.
Methodologische Vorbemerkung ..............................................................
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III. Zur Problemgeschichte von „Gesellschaft“ .............................................. 1. Begriffsgeschichtlicher Überblick ....................................................... 2. Der Gesellschaftsbegriff bei Heinrich von Treitschke......................... 3. Der Gesellschaftsbegriff um die Jahrhundertwende ............................ 4. Zusammenfassung ...............................................................................
25 25 30 32 34
IV. Charakteristika römisch-republikanischer Gesellschaft ............................
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V.
Auf Schatzsuche in steinigem Terrain – wieviel Gesellschaft verbirgt sich in Mommsens „Staatsrecht“?............................................................. 1. Werkbiographische Einordnung und Methodik ................................... 2. Rezeption und Forschungsüberblick ................................................... 2.1 Rezensionen ................................................................................. 2.2 Forschung..................................................................................... 2.2.1 Defizittopiker .................................................................... 2.2.2 Zwei-Seiten-Betrachter ..................................................... 2.2.3 Überschussanalytiker ........................................................ 2.3 Zusammenfassung ....................................................................... 3. Gesellschaftsgeschichtliches Entwicklungs- und Schichtungsmodell............................................................................... 3.1 „Patricische Gemeinde“ ............................................................... 3.2 „Patricisch-plebejische Gemeinde“ ............................................. 3.3 Anhaltende Vormachtstellung der Patrizier ................................. 3.4 „Nobilität“.................................................................................... 3.5 Exkurs: „Senatorenstand“ ............................................................ 3.6 „Ritterschaft“ ............................................................................... 3.7 Exkurs: „Ritterstand“ ................................................................... 3.8 „Freigelassene“ ............................................................................ 3.9 Zwischenergebnis ........................................................................ 4. Manifestationen von sozialem Rang.................................................... 4.1 Theatersitzordnung und Interaktionsrisiken ................................ 4.2 Insignien und Ehrenrechte ........................................................... 4.3 Senat und Volksversammlung als Feld sozialer Distinktion ........
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Inhaltsverzeichnis
5. Exkurs: Mommsens Staatsbegriff ........................................................ 5.1 „Staat“ als Reich .......................................................................... 5.2 „Staat“ als Volk .............................................................................. 5.3 „Staat“ als Magistratur ................................................................. 5.4 Der Staatsbegriff als Testfall für Mommsens Differenzbewusstsein ................................................................... 6. Ergebnis ...............................................................................................
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VI. Am Wendepunkt? Kontinuitäten und Brüche in Gelzers „Nobilität“ ....... 1. Einleitung............................................................................................. 2. Rezeption und Forschungsüberblick ................................................... 3. Werkbiographische Einordnung der „Nobilität“ ................................. 4. Zu Gelzers Methode ............................................................................ 5. Gelzers Schichtungsmodell ................................................................. 6. Gelzers „Klientelthese“ ....................................................................... 6.1 Vertikale Bindungen .................................................................... 6.2 Horizontale Bindungen ................................................................ 7. Gelzers These und ihre möglichen Einflussquellen ............................. 7.1 Die „Klientelthese“ als funktionalistischer Theorie-Zusatz ........ 7.2 Mögliche Einflussquellen der „Klientelthese“............................. 7.2.1 Gelzers Lebenswelt als Einflussquelle? ............................ 7.2.2 Max Webers „Agrarverhältnisse im Altertum“ als Einflussquelle? .................................................................. 7.2.3 Alexis de Tocquevilles „L’ancien régime et la révolution“ als Einflussquelle? ......................................... 7.2.4 Fustel de Coulanges’ „Les origines du système féodal“ als Einflussquelle? ............................................................ 8. Gelzers gesellschaftsgeschichtliches Entwicklungsmodell ................. 9. Ergebnis ...............................................................................................
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VII. Fazit und Ausblick..................................................................................... 215 Anhang: Transkribierter Auszug aus den „Memorabilien“ von Matthias Gelzer ........................................................................... 223 Literaturverzeichnis .......................................................................................... 233 1. Primärliteratur...................................................................................... 233 2. Sekundärliteratur ................................................................................. 236 Register ............................................................................................................. 257 a) Personenregister................................................................................... 257 b) Schlagwortregister ............................................................................... 257
I. EINLEITUNG Als sich der junge Promotionskandidat Max Weber am 1. August 1889 bei seinem juristischen Rigorosum an der Berliner Universität gegen seine drei Prüfer verteidigt hatte, wandte er sich mit der Frage ans anwesende Publikum, ob noch jemand wagen würde, seine Thesen zu kritisieren. Da erhob sich, „dürr wie eine Spinne“1, wie es bei Marianne Weber heißt, Theodor Mommsen aus den Zuschauerreihen und äußerte seine Zweifel an der Stichhaltigkeit von Webers Argumentation. Nach einem ausführlichen Streitgespräch zwischen dem jungen Weber und dem alten Mommsen schloss dieser, nicht vollends überzeugt, aber vom Elan seines jugendlichen Gegners beeindruckt mit den versöhnlichen Worten: Die jüngere Generation habe oft neue Ideen, denen sich die ältere nicht sofort anschließen könne, dies sei wohl auch hier der Fall, aber „wenn ich einmal in die Grube fahren muß, so würde ich keinem lieber sagen: ‚Sohn, da hast Du meinen Speer, meinem Arm wird er zu schwer‘, als dem von mir hochgeschätzten Max Weber“2. Mommsens emphatische Proklamation einer Gedichtzeile des holsteinischen Dichters Friedrich Leopold zu Stolberg hat man mitunter zum Bannerspruch einer forschungsprogrammatischen Staffelübergabe stilisiert.3 Mommsen als „Staatsrechtler“ sei noch ohne Blick für die gesellschaftsgeschichtliche Fragestellung ge1
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Weber 1984 [1926], 121. Um die generelle Übersicht zu erleichtern, werden im Folgenden die Arbeiten von Theodor Mommsen und Matthias Gelzer, die diese Untersuchung gewissermaßen als „Primärquellen“ auffasst, mit Kurztiteln angegeben. Wo hier nicht im Original zitiert wird, ist das Ersterscheinungsjahr bzw. das Jahr der der Neuausgabe zugrundeliegenden Auflage in eckige Klammern gesetzt. Alle übrige Literatur wird im amerikanischen Stil zitiert. Auch hier wird mitunter zur Verdeutlichung das Ersterscheinungsjahr bzw. das Jahr der der Neuausgabe zugrundeliegenden Auflage in eckige Klammern gesetzt. Marianne Weber gibt in der zitierten Stelle einen Bericht des Nationalökonomen Walter Lotz wieder. Webers juristische Dissertation trug den Titel: „Zur Geschichte der Handelsgesellschaften im Mittelalter, nach südeuropäischen Quellen“. Der öffentlichen Disputation lagen zusätzlich noch drei Thesen seiner späteren Untersuchung über die „Römische Agrargeschichte“ zu Grunde, die Weber unter anderem „über die Begriffe colonia und municipium“ (Weber 1984 [1926], 121) formulieren musste. Mommsen hat sich 1892 in seiner Publikation „Zum römischen Bodenrecht“ (vgl. Mommsen Bodenrecht 1892, 79–117) noch einmal schriftlich mit Webers althistorischen Thesen und insbesondere seiner 1891 erschienenen „Römischen Agrargeschichte“ auseinandergesetzt. Vgl. dazu bzw. zur oben geschilderten Anekdote: Momigliano 1982, 29–31; Winterling 2001b, 423; Kaube 2014, 79. Generell ist Mommsen, der als nationalliberaler Gelehrtenpolitiker im Haus von Webers Vater ein und aus ging und dessen Sohn Ernst 1896 Webers Schwester Clara heiratete, „die zentrale altertumswissenschaftliche Autorität für Weber gewesen“ (Winterling 1989, 403). Im Wintersemester 1886/87 hatte er bei Mommsen wohl einige „Veranstaltungen zum römischen Recht“ (Kaube 2014, 83) besucht. Zum generellen Verhältnis Weber-Mommsen vgl. auch Wickert 1980, 231 f. Weber 1984 [1926], 121. Vgl. z. B. Momigliano 1958, 3. Vgl. auch Wucher 1968, 168, 79; Hübinger 2003, 45; Deininger 2005, 260 bzw. 270.
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I. Einleitung
wesen, habe sich in seiner Forschung ausschließlich auf politische Institutionen konzentriert und dabei sozusagen einen Weg unbeschritten gelassen, den dann erst die Pioniere der Gesellschaftsgeschichte nach ihm geebnet hätten. Als Schneisen schlagenden Vorkämpfer wird in diesem Zusammenhang oft auf Matthias Gelzer verwiesen. Der hatte sich 1912 in der Vorbemerkung zu seiner Habilitationsschrift „Die Nobilität der römischen Republik“ als „Gesellschaftshistoriker“ tituliert und damit – wie er später indirekt zugab – ein generelles „Modeinteresse“4 seiner Zeit verfolgt. Was von ihm selbst möglicherweise nur als Etikett taktisch geschickt gewählt war, wurde im Rückblick von nicht Wenigen zum untrüglichen Kennzeichen eines fundamentalen wissenschaftsgeschichtlichen Paradigmenwechsels hochstilisiert. „Von Mommsen zu Gelzer“ lautete bald die gängige Formel in diesem Zusammenhang. Fest hat sie sich mittlerweile im disziplinären Selbstbewusstsein verankert und ist zu einem der wichtigsten Topoi in der Fortschrittsgeschichte der Althistorie avanciert.5 Das im 19. Jahrhundert vorherrschende Interesse am Staat wird von dem des 20. Jahrhunderts an der Gesellschaft abgelöst, an die Stelle des wissenschaftlichen Paradigmas „Staatsrecht“ wird das der „Gesellschaftsgeschichte“ gesetzt, so die übliche Stufenfolge – nicht nur im Selbstverständnis der Alten Geschichte, sondern auch in der Eigenwahrnehmung der deutschen Geschichtswissenschaft insgesamt: Von der Verfassungs- zur Sozialgeschichte, von Preußen nach Bielefeld. So nützlich solche Einteilungen für eine bessere Übersicht im Gedankenhaushalt einer Wissenschaftsdisziplin sind, so häufig entpuppen sie sich in ihrer teleologischen Beschränkung doch als zu grobes Muster. Die nachfolgende Untersuchung lässt sich von dem Gedanken leiten, dass sich die Entwicklung der Althistorie im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert weit vielschichtiger und widersprüchlicher darstellt, als dass man sie auf die simple Formel „von Mommsen zu Gelzer“ reduzieren könnte. Statt einer Teleologie der Wissenschaft das Wort zu reden (an deren Ende sie jeweils selber steht), sollen hier eher die Kontinuitäten und Diskontinuitäten von wissenschaftlicher Forschung betrachtet werden. Das übergeordnete Interesse der Studie gilt der Frage, wie die römisch-republikanische „Gesellschaft“ in der sich seit dem 19. Jahrhundert institutionell verfestigenden Althistorie zum Thema gemacht wurde. Im Speziellen geht es dabei um den Nachweis einer typologischen Verbindung zwischen zwei Historikern, die in diesem Zusammenhang bisher vor allem als Gegenspieler betrachtet wurden. Im Rahmen dieser Arbeit soll mithin nicht zuletzt eine Neusondierung der forschungsgeschichtlichen Archive versucht werden.6
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Gelzer Röm. Ges. Cic. 1962 [1920], 154. Vgl. nur etwa: Strasburger 1975, 819; Canfora 1980, 225; Ridley 1986, 474; Goldmann 2002, 45; Bendlin 2002, 22 f.; Baltrusch 2008, IX; Ders. 2012, 451; Dissen 2009, 25; Walter 2012, 246; Fezzi 2012, 164; Ganter 2015, 16. Die Anspielung auf Mommsens berühmte Direktive, nach der es die Hauptaufgabe der historischen Wissenschaften sei, „daß die Archive der Vergangenheit geordnet werden“ (Mommsen Antrittsrede 1905 [1858], 37) ist natürlich vermessen. Und doch geht es der folgenden Analyse in der Tat um mehr als um eine bloße Rezeptionsgeschichte. Der Blick, der auf Mommsen und
I. Einleitung
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Insbesondere im Echoraum des in den 1890er Jahren aufflammenden sogenannten „Lamprecht-Streits“, der als Reaktion auf Umbrüche der Zeit, die industrielle Revolution und das Aufkommen der „sozialen Frage“, zu verstehen ist,7 regte sich Ende des 19. Jahrhunderts in der deutschen Geschichtswissenschaft allgemein ein Interesse daran, über die politisch-etatistischen Fakten hinaus auch Probleme der sozialen Struktur und Schichtung zu behandeln. Zunächst noch unter den Decknamen der „Nationalökonomie“ bzw. der „Kulturgeschichte“ sammelten sich reformorientierte Verfechter einer dezidiert auf die überindividuelle Entwicklung konzentrierten Historiographie, deren Hauptaugenmerk nicht mehr auf Ereignissen und Persönlichkeiten lag. Nicht zuletzt wegen ihrer Offenheit gegenüber naturwissenschaftlichen Denkmodellen und Methoden geriet sie allerdings schon bald in Opposition zur traditionellen Form der politischen Geschichtsschreibung.8 Und doch entstand um 1900 das neue Wissenschaftsfeld einer „historischen Soziologie“, die „eine Synthese von historistischen und nomothetischen Strömungen“9 anstrebte und die klassische Geschichtsforschung dahingehend beeinflusste, dass nun auch hier der Struktur intersubjektiver Beziehungen und den Bedingungen sozialer Schichtung mehr Beachtung geschenkt wurde. Bald schon galt das Betreiben von „Sozialer Geschichte“ als anerkannter Ausweis historiographischer Fortschrittlichkeit, eine Kritik an ihr dagegen als Kennzeichen reaktionärer Gesinnung.10 Jede Epochendisziplin schaut in diesem Zusammenhang auf ihre eigenen Konventionalisten und Revolutionäre zurück, deren direkte Gegenüberstellung auf paradigmatische Weise den Übergang von alt zu neu, von Staat zu Gesellschaft demonstrieren soll. Im Fachbereich der Alten Geschichte wird der entscheidende Wandel in dieser Hinsicht meist mit der Überwindung einer einzigen Forscherpersönlichkeit assoziiert: Theodor Mommsen. Gegen ihn, den Verfasser des „Römischen Staatsrechts“, werden traditionell zwei Fronten aufgemacht:11 Auf der einen Seite werden ihm nationalökonomisch beeinflusste Althistoriker wie Robert Pöhlmann, Karl Julius Beloch oder Julius Kaerst entgegengestellt,12 die unter dem Stichwort „sozial“ die antike Geschichte vor allem auf ihre wirtschaftlich-materielle Dimension hin untersuchten. Auf der anderen Seite ist eben vor allem Matthias
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Gelzer fällt, fällt gleichzeitig auch auf die spezifischen Wesensmerkmale der Alten Geschichte insgesamt. Vgl. dazu Oestreich 1969, 321 f. bzw. Kruse 1990, 151 f. Vgl. Kocka 1986, 59–64. Kruse 1990, 158. Vgl. die Titel von Lehrveranstaltungen zur „Sozialen Geschichte“ oder „Geschichte der sozialen Frage“ bzw. „sozialen Klassen“ in Universitäts-Vorlesungsverzeichnissen des späten 19. Jahrhunderts (zit. bei Oestreich 1969, 332–337). Beispielhaft für die polemische Aufladung des Methodenstreites ist die sogenannte „Gothein-Schäfer-Kontroverse“ zwischen dem Kulturhistoriker Eberhard Gothein und dem politischen Historiker Dietrich Schäfer in den späten 1880er Jahren (vgl. ebd. 326–332). Vgl. dafür beispielhaft nur Christ 1982, 102–116. Vgl. als Beispiel für eine Beeinflussung der Althistorie durch die Nationalökonomie und als aufschlussreiches Zeugnis für die generelle Selbstverortung der Althistorie um 1900: Kaerst 1902, 32–52 (insbesondere: 51 f.), Meyer 1902, 1–56 (insbesondere: 6), sowie Neumann 1910, 5–103 (insbesondere: 18 f. bzw. 66 f.).
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I. Einleitung
Gelzer die führende Figur der sogenannten „Mommsen-Emanzipation“13. Seine „Nobilität“ gilt als fortschrittlich, weil sie erstmals die sozialen, im Sinne von schichtungs- und interaktionstheoretischen Voraussetzungen der römischen Politik herausgearbeitet habe. Während die „sozioökonomische“ Richtung andernorts Behandlung finden wird,14 soll hier insbesondere die „soziopolitische“ Verlaufslinie verfolgt werden. Dazu werden die beiden Portalfiguren Mommsen und Gelzer auf ihren jeweiligen Beitrag zur römischen Gesellschaftsgeschichte überprüft, um herauszufinden, ob ihre Konstellation im Rahmen der Forschungsgeschichte wirklich so kontrastreich und kontrovers ist. Im Zentrum der Untersuchung stehen ihre beiden strukturanalytischen Hauptwerke, das „Römische Staatsrecht“15 (erschienen 1871–1888) und die „Nobilität der Römischen Republik“16 (erschienen 1912). Aber auch andere ihrer Schriften finden Berücksichtigung, sofern sie für die erkenntnisleitende Fragestellung bedeutsam sind und sich gedankliche Parallelen bieten. Es wird sich also im Folgenden um eine „empirische Ideenanalyse“17 handeln, in deren Verlauf zwei herausragende Vertreter der althistorischen Disziplin, die durch wissenschaftsgeschichtliche Kanonisierungsprozesse als Antagonisten in ein Entwicklungsschema gezwängt wurden, in ihrer spezifischen Eigenart entdeckt bzw. wiederentdeckt werden. Wissenschaftliche Arbeit läuft immer parallel mit der retrospektiven Festlegung einer bestimmten Orthodoxie. Zu einer „wissenschaftlichen Matrix“ gehört die kollektiv akzeptierte Gültigkeit von „tradierten (paradigmatischen) Musterbeispielen zur Orientierung für die eigene Forschungspraxis“18. Der Topos „von Mommsen zu Gelzer“ ist ein solches Musterbeispiel. An ihm hat sich die althistorische Forschergemeinschaft in der Vergangenheit immer wieder orientiert und sich dabei die Geschichte ihres Faches so (re)konstruiert, dass ihre eigenen Ansätze innovativ und legitimiert erschienen.19 Zwei Untersuchungen jüngeren Datums seien hier exemplarisch genannt, in denen sich eine solch teleologische Traditionsbildung widerspiegelt. Zum einen ist dies Herbert Grziwotz’ 1986 erschienene Studie über den „modernen Verfassungsbegriff und die ‚Römische Verfassung‘ in der deutschen Forschung des 19. und 20. Jahrhunderts“, die eine penible Wegbeschreibung der for13 14
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Heuß 1986, 612. Vgl. die im Entstehen begriffene Dissertation von Philipp Strauß, die unter dem Arbeitstitel „Die Sozio-Ökonomisierung des Altertums. Aufstieg und Fall eines Nischenparadigmas zwischen Nationalökonomie, Geschichte und Soziologie“ ebenfalls im Rahmen des SFB 644 „Transformationen der Antike“ im Teilprojekt A 16 konzipiert wurde. Im Folgenden in der dritten Auflage zitiert als: Mommsen StR I; II/1; II/2; III/1 1887 bzw. Mommsen StR III/2 1888. Im Folgenden zitiert als: Gelzer Nob. 1912. Nolte 2000, 18. Blanke 1991, 32. Vgl. zu diesem Punkt die Bemerkung von Christoph Asmuth über die Philosophiegeschichte: „Indem die Philosophiegeschichte sich […] dem Vergangenen zuwendet, stellt sie diejenigen Zusammenhänge allererst her, als deren Produkt sie sich begreift. Sie konstruiert ihr eigenes Herkommen als Rekonstruktion.“ (Asmuth 2006, 311).
I. Einleitung
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schungsgeschichtlichen Etappe von Mommsen zu Gelzer (und darüber hinaus) liefert.20 In einem zweihundert Seiten starken Mommsen-Kapitel wird zunächst weniger das „Staatsrecht“ an sich analysiert als dessen Rezeption, seine zeitgenössische Bedingtheit und methodische Voraussetzung betrachtet und mit einer Fülle von ausführlichen Zitaten belegt. Die zuweilen ausufernde Untersuchung verliert sich über weite Strecken im Referat der möglichen Einflussquellen und dringt nicht zu einer durchgreifenden Interpretation des „Staatsrechts“ vor. Allerdings wird an verschiedenen Stellen der Gemeinplatz, Mommsen habe das „Staatsrecht“ nur als starrköpfiger Jurist geschrieben, als „Mythos“21 zurückgewiesen. Als gesellschaftsgeschichtlicher Konterpart zu Mommsen wird dann gleichwohl eindeutig Matthias Gelzer in Szene gesetzt: Während jener in seinem Staatsrecht vor allem an den juristischen Strukturen der römischen res publica interessiert war, ging es diesem um deren praktische Komponente, um die dahinterstehende gesellschaftliche Wirklichkeit.22
Die Stufenfolge vom strukturtheoretischen „Staatsrechtler“ hin zum realistischen „Gesellschaftshistoriker“ findet sich auch in der 2009 erschienenen wissenschaftsgeschichtlichen Untersuchung zur collegia-Forschung von Margret Dissen. Die Arbeit bietet weit über ihr eigentliches Thema hinaus eine eindrucksvolle, nahezu enzyklopädische Übersicht der althistorischen Forschungstendenzen des 19. und 20. Jahrhunderts. Ihre methodische Entschlossenheit zu einer konzentrierten Beobachtung der Beobachter hat den hier unternommenen Analyseversuch inspiriert, wenngleich er bei der Einschätzung des Verhältnisses von Mommsen und Gelzer zu anderen Ergebnissen kommt. Dissen liest Mommsens Werk als zeitgenössisch motiviert, so als resultiere es aus einem Orientierungsbedürfnis seiner Epoche. Mommsen sei „an der Idee des Staates orientiert“23 und habe wenig übrig für Sachverhalte, die jenseits der Entscheidungskompetenzen staatlicher Institutionen relevant seien. Eine Analyse der gesellschaftlichen Praxis sei aus einer solchen Perspektive nicht denkbar. Erst nach einigen „verpassten Chancen“, die die „Durchführung einer gesellschaftlichen Fragestellung“24 unnötig verzögert hätten, so Dissens teleologisches Verlaufsschema, finde die althistorische Wissenschaft mit der Hinwendung zum gesellschaftsgeschichtlichen Paradigma dann endlich ihre eigentliche Bestimmung. Die fast schon deterministisch anmutende wissenschaftsgeschichtliche Genealogie läuft auch bei Dissen auf Matthias Gelzer hinaus, dessen „Konzeptionswechsel […] im Sinne Max Webers einen Umbildungsprozess vollzieht – von der staatlichen Ordnung auf die gesellschaftliche Wirklichkeit“25. Dissen attestiert Gelzer, als erster das Augenmerk auf die römischen Gesellschaftsstrukturen gelenkt zu 20 21 22 23 24 25
Vgl. insbesondere: Grziwotz 1986, 17–245. Vgl. dazu auch die hinsichtlich der Methodik und des Innovationsgrades der Untersuchung kritische Kurzrezension von Wilfried Nippel (vgl. Nippel 1988, 442). Grziwotz 1986, 34. Vgl. auch ebd. 116; 166; 174–177. Ebd. 232. Dissen 2009, 49. Ebd. 86; 94. Einer, der die „Chance“ nach Ansicht von Dissen verpasste, war beispielsweise Eduard Meyer. Ebd. 113.
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I. Einleitung
haben, und führt damit die schematische Kategorisierung fort, die einen konzeptionellen Gegensatz zwischen dem rechtssystematischen Zugriff auf der einen und dem gesellschaftsgeschichtlichen Interesse auf der anderen Seite konstruiert.26 Sowohl Grziwotz als auch Dissen folgen in ihren Untersuchungen mithin dem Schema eines Fortschrittsverlaufs „von Mommsen zu Gelzer“. Dass sie damit nur die im Fach vorherrschende opinio communis wiedergeben, davon zeugt der stichprobenhafte Blick in die einführenden Kapitel aktueller Darstellungen „Römischer Geschichte“, wo der eigene Ansatz in die derart schematisierte Forschungsgeschichte eingefügt wird.27 Bevor das Verhältnis von Theodor Mommsen und Matthias Gelzer einer modifizierten Betrachtung unterzogen wird, sollen im Folgenden noch einige Hinweise zur eigenen Methode und zur Problemgeschichte des Begriffs „Gesellschaft“ vorausgeschickt werden.
26 27
Vgl. ebd. 97. Sie selbst merkt dabei kritisch an, dass Gelzers „wissenschaftsgeschichtlicher Ort immer durch die Abkehr von Theodor Mommsen bestimmt worden“ (ebd. 107) sei, nur um dann das traditionelle Narrativ selbst fortzuschreiben. Vgl. nur beispielhaft: Bleicken 1995, 303 bzw. Sommer 2013, XIII.
II. METHODOLOGISCHE VORBEMERKUNG Die hier eingeleitete Fragestellung wird von der losen Zusammenführung einer Disziplin mit einer Theorie bestimmt. Das Vorhaben steht einerseits in der Tradition der Wissenschaftsgeschichte und ist an den verschiedenen Beobachterstandpunkten und besonderen Abhängigkeiten wissenschaftlicher Erkenntnis interessiert. Andererseits orientiert es sich an der Transformationstheorie und fragt damit auch nach dem wechselseitigen Wirkungsverhältnis zwischen dem Beobachter und seinem Gegenstand. Reine Wissenschaftsgeschichte hat oft mit dem Vorurteil zu kämpfen, nur positivistische Prosopographien herzustellen oder doxographisch verschiedene Forschungsmeinungen aneinanderzureihen. Nicht völlig zu Unrecht zeiht man sie mitunter der „theoretischen Unmündigkeit“ und assoziiert mit ihr eine gewisse Antiquiertheit. Dabei steht der Ursprung der Disziplin ideengeschichtlich gerade im engen Zusammenhang mit einer Hinwendung zur Theorie. Denn die Erforschung von Forschung ist nicht zuletzt in Folge des sogenannten „Historismus“1 zu einem relevanten Thema geworden und damit die Konsequenz eines entstehenden Bewusstseins dafür, dass auch wissenschaftliche Problemstellungen selbst eine Geschichte haben. Während nämlich bis ins 18. Jahrhundert hinein das Ideal der Unparteilichkeit und ein „naiver Realismus“2 die auf den Augenzeugen konzentrierte Geschichtsschreibung beherrschte, wurde mit ihrer „Verwissenschaftlichung“ und „Verzeitlichung“ die Standortbindung als Voraussetzung jeglichen historischen Urteils verbindlich.3 Die Erfahrung von beschleunigter Veränderung in der eigenen Gegenwart führte auch zu einem neuen Bewusstsein für die Konstruiertheit aller historischen Erkenntnis.4 Nicht nur der jeweilige Standort des Beobachters, sondern auch der spezifische Zeitkontext wurde jetzt bestimmend für das individuelle Urteil des Historikers. 1 2 3 4
Unter „Historismus“ soll hier in Anschluss an Stefan Rebenich nicht mehr verstanden werden als das „um 1800 einsetzende Bemühen […], die Geschichte in den Rang einer systematischen Wissenschaft zu erheben“ (Rebenich 2003, 30). Koselleck 2013 [1977], 179. Mit Verweis auf Metaphern wie den „unparteiischen Spiegel“ und die „nackte Wahrheit“. Vgl. dazu Koselleck 1987, 177–182 bzw. Koselleck 2013 [1977], 183–195. An die Stelle des Augenzeugen tritt der Beobachter aus Distanz, der die Entwicklung kennt und um die Vielzahl an Deutungsmöglichkeiten weiß. Vgl. etwa Mommsens Verweis auf die eigene Zeiterfahrung als Argument gegen den Objektivismus in einem Brief vom 1.12.1854 an Otto Jahn: „Die Ordre, Geschichte zu schreiben ohne Haß und Liebe, könnte doch nun, seit wir auch Geschichte erlebt haben und erleben, endlich beiseite gelegt werden.“ (zit. nach Christ 1982, 10, 5). Vgl. dazu auch die passende Bemerkung von Karl Johannes Neumann: „Ranke muß Fischblut gehabt haben, in Mommsens Adern strömte Feuer; er verzichtete nicht auf das Urteil, er urteilte mit Haß und Liebe.“ (Neumann 1910, 65). Vgl. dazu auch Fest 1993, 41.
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II. Methodologische Vorbemerkung
Mit der Vorstellung einer fundamentalen Temporalisierung bzw. Historisierung in dem Sinne, dass es „zwar Faktizitäten der Vergangenheit“ gibt, aber keine „einzige daraus resultierende Geschichte“5 ging ebenso ein verstärktes Interesse an zeitlich früheren, perspektivisch unterschiedlichen Entwürfen einher. Die Einsicht, dass spätere Geschehnisse und Erfahrungen die Bedeutung eines historischen Ereignisses modifizieren, gar umdefinieren können, führte zu einer veränderten Sicht auf die Abhängigkeiten historischer Erkenntnis und damit einhergehend auch zu einer präziseren Reflexion der Prinzipien von Geschichtsschreibung. Die kritische Betrachtung vorangegangener Historiographie wurde so seit Beginn des 19. Jahrhunderts zum eigenen Arbeitsfeld der Geschichtswissenschaft.6 Ein Jahrhundert später, vor allem seit dem Zweiten Weltkrieg, wuchs der Wissenschaftsgeschichte dann erneut eine besondere, auch ideologiekritische Bedeutung zu. Im Anwendungsbereich der deutschsprachigen Althistorie ist die Wissenschaftsgeschichte insbesondere mit dem Namen von Karl Christ verbunden. Seine verdienstvolle Sammlung und Vorstellung althistorischer Forscherpersönlichkeiten auch außerhalb des Höhenkamms hat den Grundstein für die heutige Beschäftigung mit der Historie des Faches gelegt. Sein Begriff von Wissenschaftsgeschichte ist dabei prägend geworden. Ihre zentrale Arbeitsaufgabe ist nach Christ die Rückführung bestimmter Forschungsergebnisse auf zeitgenössische Rahmenbedingungen, also die Untersuchung, „wie weit ein spezifischer gesellschaftlicher, politischer und geistiger Standort die jeweiligen Wertungen und Sehweisen der antiken Verhältnisse und Vorgänge bestimmte“7. Die Frage nach dem Gegenstand selbst wird dabei zur Nebensache und von ausführlichen Analysen zu Herkunft, Charaktertypus und politischer Einstellung des wissenschaftlichen Beobachters in den Schatten gestellt. In der radikalen Konsequenz von Christs Programmatik reicht die Beschäftigung mit der Lebenswelt des Forschers aus, der Gegenstand wird mehr oder weniger irrelevant. „Wissenschaftsgeschichte ist im Grunde Wissenschaftlergeschichte“8, so pointiert im Anschluss daran William M. Calder III. Die vorliegende Untersuchung möchte einen anderen Weg einschlagen. Sie will Wissenschaftsgeschichte in der Weise betreiben, dass auch der Gegenstand selbst – die realgeschichtliche Struktur – Berücksichtigung findet. Gerade durch das genaue Nachzeichnen verschiedener Konzeptionen wird der konzipierte Gegenstand am Ende auch ein plastischer Gegenstand der eigenen Erkenntnis.
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Winterling 2003a, 407. Vgl. auch schon das Postulat des Gelehrten des 18. Jahrhunderts Johann Martin Chladenius: „Die Geschichte ist einerlei, die Vorstellung aber davon ist verschieden und mannigfaltig.“ (zit. nach Koselleck 2013 [1977], 185). Vgl. Koselleck 2013 [1977], 194 bzw. Blanke 1991, 23. Vgl. auch das emphatische Bekenntnis von Otto Gerhard Oexle: „Die Historisierung der Historie gehört zum Programm, um es noch einmal zu sagen. Das ist keine Feierabend- oder Sonntagsbeschäftigung, sondern eine wesentliche Bedingung von Wissenschaft selbst, und es ist eine wesentliche Bedingung von Wissenschaft in der Moderne.“ (Oexle 2000, 19). Christ 1982, 13. Calder III 1997, 249.
II. Methodologische Vorbemerkung
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In der Tendenz folgt sie damit einem Ansatz von Arnaldo Momigliano, der Wissenschaftsgeschichte bzw. Historiographiegeschichte als explizit gegenstandsbezogene, kritische Disziplin versteht: Die Geschichte der Historiographie hat, wie jede andere historische Forschung, kein anderes Ziel, als zwischen Wahrheit und Irrtum zu unterscheiden. Als ein Zweig der Geistesgeschichte, der es unternimmt, die Leistungen eines Historikers zu überprüfen, hat sie zu unterscheiden zwischen Lösungen historischer Probleme, die nicht überzeugen können und Lösungen, die es wert sind, neu formuliert und entwickelt zu werden.9
Der klassisch wissenschaftsgeschichtliche Impuls einer Beobachtung der Beobachter, also einer „Beobachtung zweiter Ordnung“10, kommt im Folgenden insofern zum Tragen, als die Gesellschafts-Konzeptionen in den eher theoriefern auftretenden Werken von Mommsen und Gelzer freigelegt und zu den Ergebnissen der modernen Forschung in eine kritische Beziehung gesetzt werden.11 Eine so verfahrende Wissenschaftsgeschichte wird neben dem Gegenstand der Forschung auch eine gewisse Komplexität der Erkenntnisentwicklung mit in ihre Rechnung aufnehmen. Sie darf nicht einfach schematisch zeigen, wie die Paradigmen der Wissenstraditionen nacheinander wechseln, sondern muss viel eher auch die untergründigen Verbindungen verschiedener Konzeptionen berühren, also auch ein Stück „Einflussgeschichte“ schreiben. Horst Walter Blanke fordert in diesem Zusammenhang: Es geht nicht an, die Paradigmenwechsel als Abfolge verschiedener, voneinander isolierter Theorien zu interpretieren. Vielmehr bleibt der entwicklung[s]logische Zusammenhang zu untersuchen; es bleibt zu untersuchen, inwieweit die neuen Theorien auf den alten aufbauen, diese modifizieren und präzisieren – und zwar dies auch und gerade dann, wenn die Vertreter eines neuen Geschichtskonzeptes als explizite Kritiker der alten Konzeption auftreten. Hier gilt es, das Selbstverständnis der zünftigen Fachhistorie kritisch zu hinterfragen, einmal gegen den Strich zu bürsten.12
Da fortschrittliche Verlaufsmodelle in der Wissenschaft immer das Ergebnis späterer Kanonisierungen sind, der „entwicklungslogische Zusammenhang“ je nach Beobachterposition und Fragestellung wechselt, muss sich auch die Wissenschaftsgeschichte gefallen lassen, was sie bei ihren Untersuchungssubjekten selbst als Maßstab setzt: Die kritische Überprüfung intellektueller Selbstverständnisse hin auf Zeitgebundenheit und standortbedingte Konstruktionen. Dabei ist insbesondere auch zu fragen, wo Kontinuitäten verkannt und Differenzen künstlich hergestellt worden sind, um suggestive Verlaufsschemata zu konstruieren. Ob sich – auf das hier behandelte Thema gewendet – das Verhältnis von Mommsen und Gelzer wirklich 9 10
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Zit. nach Christ 2006, 12 f. (vgl. für das englische Original: Momigliano 1974, 70). Luhmann 1995, 16. Vgl. auch ebd. 23–30. Eine „Beobachtung dritter Ordnung“, also einer Beobachtung der im Folgenden unternommenen Analyse hinsichtlich ihrer Unterscheidungen und Selektionskriterien kann nur von anderen Beobachtern geleistet werden, auch wenn Versuche der Selbstverortung den Einstieg dazu erleichtern mögen. Vgl. dazu den Hinweis von Reinhart Koselleck, dass Theorie „implizit in allen Werken der Historiographie vorhanden“ sei und es nur darauf ankomme, „sie zu explizieren“ (Koselleck 2013 [1977], 205). Blanke 1991, 46.
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II. Methodologische Vorbemerkung
unter der Kategorie eines antagonistischen „Umbildungsprozesses“13 fassen lässt oder ihre Werke die gesellschaftsgeschichtlichen Zusammenhänge nicht viel eher ins Vergleichbare rücken, will diese Studie genauer untersuchen. Als methodisch hilfreich erweist sich dabei die Beschäftigung mit der sogenannten „Transformationstheorie“, die im Rahmen des Berliner Sonderforschungsbereichs 644 entwickelt wurde und sich einem „reflektierten Konstruktivismus“14 verpflichtet weiß. Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass ein direkter Zugriff auf die Antike nicht möglich, sondern nur als komplexes Wirkungsverhältnis zwischen einem Referenz- und Aufnahmebereich denkbar ist. Zentrale Bedeutung kommt dabei dem Gedanken der (freilich asymmetrischen) Wechselwirkung zu: Auf der einen Seite steht die produktiv-anverwandelnde Aneignung antiker Sinngehalte durch zeitlich nachfolgende Agenten des Aufnahmebereichs, die als Individuen oder Institutionen durch ihre Auswahl und Deutung „Antike“ dar- bzw. herstellen. Auf der anderen Seite wird der so kreierten antiken Referenz dann selbst eine modifizierende Kraft zugeschrieben, die sich im Akt der Aneignung freisetzt und im Aufnahmebereich unterschiedliche Dynamiken auslöst. Es handelt sich also um einen „bipolaren Konstruktionsprozess“15, bei dem die beiden Pole jeweils plastisch sind und sich wechselseitig konstituieren. Die durch den Beobachter erzeugte Beobachtung verändert auch den Beobachter. Die Antike ist somit „zugleich Gegenstand wie Effekt der Transformation.“16 Als „Pointe“ der Transformationstheorie stellt sich ein reziprokes Wirkungsverhältnis dar, zu dessen Umschreibung der Kunstbegriff „Allelopoiese“ (von griechisch allelon, „gegenseitig“, und poiesis, „Hervorbringung“) dient.17 Die Dialektik bzw. erkenntnistheoretische Unschärfe der kulturwissenschaftlich geprägten Transformationstheorie (auch die Wirkung der jeweils konstruierten Antiken ist Projektion und somit empirisch schwer einschätzbar)18 lässt sich ins Produktive wenden, wenn es darum geht, die als saturiert geltende Wissenschaftsgeschichte aus ihrer theoretischen Unmündigkeit zu befreien. Vor allem drei Aspekte der Transformationstheorie sind in diesem Zusammenhang von Bedeutung:
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Dissen 2009, 113. Böhme 2011, 8. Projektbeschreibung des SFB 644 auf http://www.sfb-antike.de/kurzprofil-des-sfb/langfassung (zuletzt geprüft am 22.6.2017). Transformationen bewegten sich nicht auf einer „Einbahnstraße“, sondern im „Wechselverkehr“, so Johannes Helmrath bei einer Plenumssitzung des SFB 644 am 4.12.2015. Freilich stellt sich die Frage, ob nicht auf der Seite des Aufnahmebereichs und der beobachtenden Agenten viel lebhafterer Verkehr ist als dort, wo die antiken Referenzen auf einen Anstoß warten. Antrag 2012, 6. Unbeachtet bleibt hier die Frage, was denn die Besonderheit der Antike als Gegenstand von Transformationen gegenüber anderen vormodernen Epochen ausmacht, woher ihr wirkmächtiges Identifikationspotential eigentlich rührt und was die besondere Signifikanz von textlicher Überlieferung ausmacht. Vgl. Böhme 2011, 8. Hinzu kommt eine generelle Uneindeutigkeit hinsichtlich der Geltung: Will die Transformationstheorie eine allgemeine Theorie kulturellen Wandels sein oder nur als forschungsstrategischer Analyse-Stimulus dienen?
II. Methodologische Vorbemerkung
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Erstens: Transformationstheorie geht über die reine Rezeptionstheorie hinaus, indem sie den Vorgang der Aneignung nicht als bloße Auf- und Übernahme versteht, sondern als ein konstruktives Handeln, das nicht nur das Objekt selbst erzeugt, sondern bei der Herstellung der Referenz auch das kulturelle Identitätsprofil des Beobachters neu formiert. Wissenschaftler und insbesondere Althistoriker sind so gesehen nicht nur Autoren des Vergangenen. Sie liefern immer auch eine gegenwärtige Selbstbeschreibung in der Schilderung vergangener Verhältnisse. Nicht selten finden sich in ihrer Beschreibung der Antike daher auch eigene Probleme und Sichtweisen. Insbesondere auf der Ebene der Semantik, also den Kategorien der Beschreibung, spiegelt sich oft zeitgenössische Erfahrung. „Transformationen der Antike“ sind so gesehen gewissermaßen der „Normalfall“ von Geschichtsschreibung.19 Zweitens: Wenigstens im Ansatz interessiert sich die Transformationstheorie auch für die Rolle des Beobachters dritter Ordnung, also des wissenschaftlichen Interpreten der Transformation.20 Denn dieser besitzt ja ebenfalls einen das Beobachtungsfeld beeinflussenden Impuls. Erst er unterscheidet einen Aufnahme- von einem Referenzbereich und wird in der Weise, wie er sein Untersuchungsmaterial auswählt und anordnet, zum Akteur einer neuen Transformation, die in der Perspektive nachfolgender Beobachter wiederum als solche erkennbar wird. Seine Standortbindung ist daher gleichermaßen in die Kalkulation miteinzubeziehen. Jede Änderung der Beobachterperspektive baut auf dem Plausibilitätsverlust einer vorherigen Fragestellung auf, ist aber selbst wiederum zeitabhängig.21 Diese hermeneutische Problemstellung kann auch eine transformationstheoretisch informierte Wissenschaftsgeschichte nicht lösen. Wohl aber kann sie auf die Schwierigkeit bewusst reagieren, indem sie etwa bei ihrer Analyse von althistorischen Transformationen der Antike zunächst selbst eine quellenmäßig abgesicherte Vorstellung von der antiken Referenzkultur anbietet, um vor diesem Hintergrund dann die Transformationen der untersuchten Aufnahmekulturen profilieren zu können. Drittens: Die Transformationstheorie plädiert (wie schon angedeutet) für einen „reflektierten Konstruktivismus“22. Das impliziert auch, dass sie der Tradition, dem Quellen- und Monumentenbestand, eine gewisse Widerständigkeit bzw. dynamis, „ein Vermögen zur Wirkung“23 zugesteht, die bestimmte Deutungen erlaubt, andere verhindert. Sie billigt dem Betrachter der Antike somit eine gewisse hermeneutische Eigenständigkeit zu, die auf bestimmte Potentiale der Tradition reagiert. Es ist die Rede von einer „Impenetrabilität der Antike“, die „im Hintergrund der variablen 19 20 21 22 23
Vgl. zur Nähe von „Transformations-“ und allgemeiner „Geschichtstheorie“: Bergemann (et alt.) 2011, 43 sowie Toepfer 2011, 161. Vgl. Bergemann (et alt.) 2011, 46. Vgl. dazu Heuß 1956, 57: „In der Entwicklung der Wissenschaft […] haben alle Aufgaben ihre Zeit und besitzen außerhalb dieser viel geringere Chancen einer Lösung.“ Böhme 2011, 8. Ebd. 8. Das lässt sich schon semantisch plausibel machen. In der „Transformation“ steckt neben der Verwandlung, dem „Trans“, eben auch die „Form“, das Bestehende. Hier erinnert die Transformationstheorie an das hermeneutische Modell von Hans-Georg Gadamer, der von einer „Ursprungsüberlegenheit des Sinns“ (zit. nach Jauß 2010, 103) und einer Zugriffsmöglichkeit des Lesers auf die Tradition ausgeht.
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II. Methodologische Vorbemerkung
Transformationsakte eine Art Kontinuität der Referenzialisierbarkeit sichert“24. Damit bietet die Transformationstheorie einen wertvollen Anknüpfungspunkt für die Wissenschaftsgeschichte: Denn die wissenschaftliche Aneignung von Antike stellt im Vergleich zur künstlerischen, literarischen oder ideologischen insofern einen Sonderfall dar, als sie darum bemüht ist, empirisch überprüfbare, auf Wahrheit zielende Aussagen über ihren Gegenstand zu treffen. Das Gewicht der Referenz ist im Kontext eines wissenschaftlichen Transformationsvorgangs somit höher zu veranschlagen als bei kreativen Aneignungen. Während diese „nur“ gefallen müssen, zielt Wissenschaft trotz aller narrativen Elemente darauf ab, argumentativ zu überzeugen.25 Es kann hier also neben „richtigen“ auch „falsche“ Transformationen geben, solche nämlich, die mit dem Befund der Quellenüberlieferung nicht in Einklang zu bringen sind. Wissenschaftliche Transformationen der Antike formulieren somit andere Geltungsansprüche als kreative Transformationen und folgen auch anderen Konsistenzkriterien.26 Zusammenfassend lässt sich festhalten: Es kann einer transformationstheoretisch informierten Wissenschaftsgeschichte nicht darum gehen, epistemologischen Fortschritt nur im Sinne einer kontinuierlichen „Traditionszerstörung“27 und Innovationsproduktion zu verstehen. Reine „Siegergeschichte“ zu schreiben ist nicht ihr Ziel. Neben der publikumswirksamen Entdeckung des Neuen, Außergewöhnlichen, ist ihr Bestreben auch die detaillierte Rekonstruktion und Kontextualisierung wissenschaftlicher Transformationen, die eben anders als die „Revolution“ nicht einfach radikal „umdreht“, sondern die ursprüngliche Form in veränderter Einfassung bewahrt.28 Im Zweifelsfall geht es ihr also auch darum, Konstanz und Robustheit aufzuzeigen, wo von den Transformateuren selbst Diskontinuität und Brüche proklamiert werden. Es handelt sich, so die Ausgangsthese, bei den hier behandelten Konzeptionen römisch-republikanischer Gesellschaft nicht um hermetisch voneinander abgeschlossene Erklärungsmuster, sondern um sich überlappende, miteinander verbundene Versatzstücke wissenschaftlicher Beschreibung. Zu schematisch hat man bis24 25 26 27
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Böhme 2011, 16. Zu fragen wäre, ob hier ein spezieller Unterschied zwischen der konstruktiven Beschreibung von Vergangenheit und der ebenfalls beobachterabhängigen Wahrnehmung von Gegenwart auszumachen ist. Vgl. Kittsteiner 2000, 80. Hier heißt es zum Beispiel, historische Arbeit sei kein „postmoderner Bastelkasten“. Im System „Wissenschaft“ ist eben „Wahrheit“ das Medium der Kommunikation, so wie „Macht“ das der „Politik“ ist (vgl. dazu Heuß 1979, 133 f.). Ein Umstand, der sich schon in der Form der Darstellung (Fußnoten, Diagramme usw.) widerspiegelt. Dissen 2009, 88. Transformationen an sich stellen „keineswegs immer einen diskontinuierlichen, Zäsuren setzenden Wandel dar, im Gegenteil. Sehr oft ist ihre Funktion, Tradition zu sichern“ (Böhme 2011, 25). Blanke 1991, 46 („Wissenschaftsgeschichte besteht nicht in einlinigem Fortschritt, sondern in einem komplexen Geflecht von Bewegungen, Gegenläufigkeiten, Diskontinuitäten und Rückschritten“) steht hier gegen Schoeck 1964, 19 („Es wäre widersinnig, Wissenschaftsgeschichte ohne Augenmerk auf […] Fortschritt darstellen zu wollen“). Für eine reflektierte Kritik an der bekannten These von Thomas S. Kuhn, die Entwicklung der Wissenschaft stelle sich als eine Reihe von immer wiederkehrenden „Revolutionen“ dar, vgl. Heuß 1979, 132–135. Wichtige Beiträge zur wissenschaftssoziologischen Debatte um die Anwendbarkeit des Kuhn’schen Paradigmenbegriffs sind versammelt in: Gutting 1980.
II. Methodologische Vorbemerkung
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her die spannungsreiche Bewegung althistorischer Wissenstraditionen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert auf den Gegensatz von „Staatsrecht“ und „Gesellschaftsgeschichte“ reduziert. Zu vorschnell war man damit, die Portalfiguren dieses Schemas, Mommsen und Gelzer, mit dem Verweis auf ihre Zeitgenossenschaft zu qualifizieren: Man hat gemeint, sich Mommsens „Staatsrecht“ vom Leib halten zu können, indem man seine Ausgangsfrage nach dem Staat als zeitverfangen und daher überwindbar interpretierte, und wollte in Gelzers Hinwendung zur Gesellschaft eine Programmatik entdecken, die zukunftsweisend und anschlussfähig klang. In beiden Fällen wird ein solches Verfahren der transformationstheoretisch beobachtbaren Komplexität nicht gerecht. Darüber hinaus wird damit auch ein zentraler Berührungspunkt der beiden Werke verwischt: Vergleichbarkeit und Kontrast in ihrer Konzeption von römisch-republikanischer Gesellschaft. Bevor diese These ausführlich an den Texten selbst expliziert wird, soll hier zunächst in die Problemgeschichte des Begriffs „Gesellschaft“ und seiner variablen Standortgebundenheit eingeführt werden. Als gewissermaßen letzter methodischer Impuls wird damit die von Reinhart Koselleck konzipierte „Begriffsgeschichte“ eingeführt, die in besonderer Weise auf die „Kritik an der unbesehenen Übertragung gegenwärtiger und zeitgebundener Ausdrücke […] in die Vergangenheit“29 konzentriert ist.
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Koselleck 2013 [1972], 115. Auch hier gibt es Berührungspunkte mit der Transformationstheorie, die historischen Wandel „auch auf der Ebene des Begriffsinstrumentariums“ (Böhme 2011, 23) untersucht.
III. ZUR PROBLEMGESCHICHTE VON „GESELLSCHAFT“ „Begriffe haben Erinnerungen an Ereignisse, die wir längst vergessen haben.“1 (Ian Hacking)
1. BEGRIFFSGESCHICHTLICHER ÜBERBLICK Der deutsche Terminus Gesellschaft sitzt – anders als sonstige zentrale Leitbegriffe unserer Sprache wie Staat, Familie oder Ökonomie – nicht direkt einem antiken Wortkörper auf, sondern findet seinen etymologischen Grundbaustein im althochdeutschen sal, der seit dem 10. Jahrhundert gebräuchlichen Bezeichnung für das germanische Einraumhaus.2 In Verbindung mit dem Präfix Ge-, das üblicherweise eine Gemeinschaftsbeziehung ausdrückt, bezeichnet Gesellschaft im ursprünglichen Sinne das räumliche Nebeneinander mehrerer Individuen, die in unmittelbarem Kontakt stehen und die gemeinsames Interesse oder Handeln zusammenführt.3 Im Spätmittelalter trat neben die Bedeutung einer situationsbezogen-lokalen Verbundenheit die juristische Konnotation. Gesellschaft wurde fortan auch als Übersetzung des lateinischen societas in der Rechtssprache eingesetzt, um eine Personengruppe zu bezeichnen, die ein gemeinsames Ziel verfolgt und zu diesem Zweck einen Vertrag abgeschlossen hat.4 Während sich sowohl die interaktive als auch die vertragsrechtliche Ursprungsbedeutung von Gesellschaft im Sinne einer gegenseitigen Verbundenheit von Menschen auch in der Antike, in den griechischen und lateinischen Begriffen der κοινωνία bzw. societas finden lässt, hier also eine gewisse Kontinuität des Wortsinns vorherrscht, muss man hinsichtlich ihrer umfassenderen Bedeutung im Sinne eines strukturierten Großverbandes von einer radikalen Diskontinuität ausgehen. Wie Paul Nolte zuletzt noch einmal eindrücklich gezeigt hat, tauchte Gesellschaft als „Kollektivsingular aller menschlichen Vergesellschaftungen“5 im deut-
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Hacking 2001, 84. Der folgende Abriss ist als eine „idealtypische“ Darstellung im Sinne von Max Weber zu verstehen, die „lediglich als begriffliches Mittel zur Vergleichung und Messung der Wirklichkeit“ (Weber 1904, 72) dienen kann. Webers Konzept des Idealtypus kann sich auch auf diachrone Entwicklungsverläufe beziehen (Vgl. ebd. 76 f.). Für Hinweise zur Etymologie des Wortes vgl. Geiger 1931, 202 f.; Kaupp 1974, 459–561. Vgl. Ritsert 2000, 30 bzw. Geck 1963, 17. Vgl. die Definition von Jodocus Lorich von 1593: „Durch geselschafft wird verstanden ein redliche zugelassene Kauffmannschafft, in welcher ihren etliche gelt, geschicklichkeit, mühe, sorge und fleisz zusammen schieszen, waren damit zu kauffen und zu verkauffen. Letztlich den redlichen gwin mit einander zu theilen.“ (zit. nach Köbler 2010, 289). Nolte 2000, 33.
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III. Zur Problemgeschichte von „Gesellschaft“
schen Sprachraum erst im Laufe des 19. Jahrhundert auf, ist also als Vokabel nicht ohne Bedenken metahistorisch zu gebrauchen.6 Zwar gab es schon zuvor Vorstellungen von partikularen sozialen Einheiten, von räumlich umgrenztem menschlichen Miteinander in größeren Gruppen, aber als umfassende Beschreibungskategorie eines die segmentäre Erfahrungswelt übersteigenden Handlungsrahmens ist die Gesellschaft ein „Kind der Moderne“ und weist bestimmte Sinndimensionen auf, die vorher so nicht vorstellbar waren. Als Ausgangspunkt der Begriffsgeschichte von Gesellschaft wählt Nolte klassischerweise den κοινωνία-Begriff von Aristoteles, der sich einerseits generell auf unterschiedliche Formen der menschlichen Assoziation bezog,7 der andererseits in der konkreten Spezifizierung der κοινωνία πολιτική, der politischen Gemeinschaft, die zweckhafteste, vollkommenste Ausprägung aller κοινωνία-Formen sah.8 Aristoteles’ Vorstellung von sozialer Einheit, die als paradigmatisches Beispiel einer (wenn auch idealisierten oder sogar nur „theoretischen“)9 Selbstbeschreibung des 4. Jahrhunderts v. Chr. gelten kann, richtet sich nicht nur auf den Menschen generell, der als ζῷον πολιτικόν mit einem natürlichen Trieb für das Leben in der PolisGemeinschaft ausgestattet ist, sondern insbesondere auf die ἐλεύθεροι, die freien erwachsenen Vollbürger, die an der Polis teilhaben und wechselweise Verantwortung für das lokale Gemeinwesen übernehmen.10 „Bürger“ ist nicht jeder Bewohner als solcher, sondern nur der, „der eine bestimmte herrschaftliche Rolle im Rahmen einer politischen Organisationsstruktur wahrnimmt“11. Die Polis als politischer Bürgerverband kennt keine Verbandsform über sich. Eine Gesellschaft, im Sinne eines inklusiven oder gar globalen Großverbandes im Kollektivsingular ist dem aristotelischen Denken fremd.12 Ihm scheint allein die exklusive, lokal begrenzte Form der nach politischer Tätigkeit strukturierten sozialen Einheit vorstellbar. Nur wer im Wechselspiel von Herrschen und BeherrschtWerden an der Sphäre der Polis teilnimmt, exekutive, richterliche und gesetzgebende Funktionen ausführt, ist Bürger. Politik stellt sich im aristotelischen Verständnis damit gerade nicht als „Beruf“, sondern als ein schicksalsbestimmendes Integrations- und Identifikationsmittel dar – „das Gesellschafts- und […] das politische Organisationssystem werden deckungsgleich“13. Diejenigen, die nur „ökonomisch“ tätig sind und als Unfreie (Sklaven), Freie minderen Rechts (Frauen) oder Noch-nicht-Freie (Kinder) allein 6 7 8 9 10 11 12 13
Für eine ausführliche Beschäftigung mit der Begriffsgeschichte von „Gesellschaft“ vgl. Riedel 1975a, 719–800 bzw. Riedel 1975b, 801–862. Knapper und lakonischer ist Ritsert 2000, 7–33 bzw. Kopp/Steinbach 2016, 100–104. Vgl. Aristot. pol. 1252b 27–30. (Die antiken Quellen werden entsprechend dem Sigelverzeichnis im „Kleinen Pauly“, Bd. 1, XXIff. abgekürzt). Vgl. Aristot. pol. 1252a 1–8. Vgl. Bendlin 2002, 20 f., der den aristotelischen Gesellschaftsbegriff als Projektion politischer Eliten wertet. Vgl. Aristot. pol. 1279a. Winterling 2003b, 72. Vgl. Riedel 1975b, 805; Winterling 2003b, 79. Bendlin 2002, 20. Vgl. dazu auch die Analyse von Aloys Winterling, nach der Aristoteles eine „politische[n] Gesellschaft [beschreibe], die durch die wechselseitige Beeinflussung von poli-
1. Begriffsgeschichtlicher Überblick
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der Sphäre des Oikos zugeordnet bleiben, werden nicht als volle Polis-Bürger gewertet und bleiben der alleinigen Herrschaft und Zwangsgewalt des Oikodespoten unterworfen. Grundsätzlich geht Aristoteles bei seiner Beschreibung der κοινωνία πολιτική somit von einer natürlichen Rechtsungleichheit und der unauflöslichen Einheit von politischer und sozialer Privilegierung aus. Diese Bestimmung wird in der Folgezeit übernommen und findet in der von Cicero latinisierten Form als societas civilis Eingang nicht nur in den römischen,14 sondern in der eingedeutschten Wendung „bürgerliche Gesellschaft“ auch in den mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Reflexionsraum – freilich zunächst nur als wörtliche Übersetzung, nicht als neuartige Kategorie.15 Bis ins 18. Jahrhundert hinein behielt die „bürgerliche Gesellschaft“ ihre antiken Konnotationen: die Unterscheidung zur Sphäre des Hauses und damit zum Tätigkeitsbereich der Frauen und Abhängigen, sowie die Einbehaltung der politischen Sphäre – also die fortlaufende Synchronizität des Bürgerlichen als sozial wie politisch exklusive Kategorie – und die fehlende Ausdifferenzierung eines antagonistischen „Staats“.16 Erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts, unter den Vorzeichen von beginnender Industrialisierung und den durch die Französische Revolution ausgelösten Dynamisierungsprozessen, verlor die aristotelische Tradition ihre Plausibilität.17 Jetzt fand in mehrfacher Hinsicht eine Umdeutung des Wortkörpers statt: Einerseits öffnete sich die „bürgerliche Gesellschaft“ hin zur Ökonomie, wuchsen Arbeit und Handel über den Rahmen der Hauswirtschaft hinaus und verwandelten sich zur bürgerlichen Tätigkeit „par excellence“18. Andererseits wurde die ständische Rechtsungleichheit und Privilegierung als Problem empfunden und die „bürgerliche Gesellschaft“ um die „Idee des Menschen und seiner Rechte, zur ‚société qui embrasse tous les hommes‘, zur Weltbürgergesellschaft“19 erweitert. Während
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tischer Organisationsstruktur und sozialer Schichtung der Bürgergesellschaft gekennzeichnet ist“ (Winterling 2003b, 74). Vgl. etwa Cic. De fin. III, 66; Cic. De orat. 2, 68. Die spezifische Bedeutungserweiterung, die der Gesellschaftsbegriff bei Cicero als „menschliche Gesellschaft“ (societas humana, vgl. Cic. De Leg. I, 16) erfährt, muss hier außer Acht bleiben. Vgl. Nolte 2000, 31. Niklas Luhmann sieht den Erfolg der aristotelischen Konzeption in ihrem „hierarchisierenden Theoriemuster“ begründet, das „gut zu stratifizierten, hochkultivierten Gesellschaften passt“ (Luhmann 1981, 220; 221). Vgl. Riedel 1975a, 719 f. Semantisch drückt sich die langanhaltende Wirkung der aristotelischen Tradition etwa in der kontinuierlichen deutschen Übersetzungspraxis aus, zum Beispiel frz. „social“ mit „staatlich“ wiederzugeben. Vgl. etwa Guillaume-François Le Trosnes „De l’ordre sociale“ 1780 übersetzt von Christin Friedrich Wichmann als „Lehrbegriff der Staatsordnung“ oder Georges Philipp Hepps „Essai sur la théorie de la vie sociale“ 1839 übersetzt von Franz Josef von Buss als „System der Staatswissenschaft“ (zit. nach Melton 1991, 138, 24). Noch 1811 wird etwa im „Adelung“ der „Staat“ als eine „besondere Art von Gesellschaft“ definiert (vgl. Adelung 1811, 624). Damit folgt eines der einflussreichsten Wörterbücher der Neuzeit weiterhin dem aristotelischen Muster. Vgl. Koselleck 1987, 177. Riedel 1976, 78. Vgl. auch Luhmann 1981, 226. Kocka 2000, 15. Er zitiert hier den Encyclopédie-Eintrag von 1781 (vgl. Riedel 1975a, 763, 148).
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III. Zur Problemgeschichte von „Gesellschaft“
die neue Vorstellung einer rechtlich egalisierten „bürgerlichen Gesellschaft“ zum anti-absolutistischen Kampf- und Erwartungsbegriff avancierte, löste sich die politische Konnotation von ihr ab, konnte die „Gesellschaft“ als nicht mehr identisch mit dem „Staat“ gedacht werden. Im dritten Teil von Hegels 1821 erschienenen „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ findet die Dichotomie der beiden Sphären ihre zentrale begriffliche Zuspitzung:20 Zugrunde liegt hier die Vorstellung eines der (physischen) Natur gegenübergestellten Gebildes der Welt, die sich in die drei Bereiche „Familie“, „bürgerliche Gesellschaft“ und „Staat“ differenziert.21 Indem die „Familie“ ihre Kinder zu selbstständigen Individuen erzieht, entsteht eine „bürgerliche Gesellschaft“, die – als eine „Schöpfung […] der modernen Welt“22 – eine Menge an arbeitsteilig produzierenden Privatpersonen bezeichnet. Nicht mehr das „Haus“, sondern der „Markt“ ist jetzt die zentrale Einheit, über die selbstständige Individuen in das Feld der konkurrierenden Zweckinteressen, eben der „bürgerlichen Gesellschaft“, eintreten. Das „Bürgerliche“ emanzipiert sich hier deutlich von seiner rechtlich-politischen Bedeutung. Es meint entgegen der früheren Verwendung nicht mehr die Teilhabe an der politischen Sphäre, sondern die Partizipation an einem „sozialen“, im Sinne von erwerbssichernden, Tätigkeitsfeld.23 Hegels „Stände“ sind keine rechtlich abgegrenzten Statusgruppen mehr, sondern definieren sich allein über die jeweilige Art ihrer Tätigkeit. Rechtlich sind sie gleichartig, sozial werden sie unterschieden.24 Der Abstand zur vormodernen Tradition war Hegel sehr bewusst: „Obgleich in den Vorstellungen sogenannter Theorie die Stände der bürgerlichen Gesellschaft überhaupt, und die Stände in politischer Bedeutung weit auseinanderliegen, so hat doch die Sprache noch diese Vereinigung erhalten, die früher ohnehin vorhanden war.“25 Sein Begriff von „Stand“ unterscheidet sich mithin deutlich vom vormodernen Verständnis des Wortes. Die Summe der Privatpersonen bildet nach Hegel dann ein „System der Bedürfnisse“, das zwar durch die individuellen Interessen seiner Mitglieder bestimmt ist, aber auch auf dem „Schutz des Eigentums durch die Rechts20
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Manfred Riedel geht davon aus, dass Hegel „erst nach 1817“ auf den neuen Gesellschaftsbegriff gekommen sei und damit dann abrupt mit der aristotelischen Tradition brach (vgl. Riedel 1976, 98). Rolf-Peter Horstmann ordnet den Umstand anders, indem er auf die apologetische Dimension der „Rechtsphilosophie“ verweist. Insbesondere mit der scharfen Differenzierung zwischen Staat und Gesellschaft habe Hegel nicht zuletzt auch eine tagespolitische Haltung markieren und „seine Position von restaurativen Positionen, wie z. B. der von Haller, absetzen“ (Horstmann 2005, 212) wollen. Das widerspricht freilich Hegels differenzbewusstem Appell in der „Vorrede“, seine Zeit gerade nicht „belehren“ zu wollen (vgl. Hegel 2013 [1821], 26 f.). Vgl. ebd. § 157. „Staat“ meint hier eine politisch-rechtliche Ordnung, die durch das Beschließen von Gesetzen der „Gesellschaft“ gegenübergestellt wird. Dass Hegels Verständnis von „Staat“ durchaus widersprüchlich bzw. komplex ist, zeigt schon, dass die besprochenen Bereiche alle im Bereich „bürgerliche Gesellschaft“ dargelegt werden. Vgl. dazu auch Hegel 2013 [1821], § 33. Ebd. Zusatz zu § 182. Vgl. Riedel 1976, 90. Vgl. Hegel 2013 [1821], § 203–207. Ebd. § 303. Karl Marx hat in seinem kritischen Kommentar gewitzt hinzugefügt: „Also, sollte man schließen, jetzt nicht mehr vorhanden ist.“ (zit. nach Riedel 1976, 99, 35).
1. Begriffsgeschichtlicher Überblick
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pflege“ beruht.26 Es bedarf also einer gewissen Einhegung durch eine externe Ordnungsmacht, damit der egoistischen Bedürfnisbefriedigung Grenzen gesetzt werden. Damit führt Hegel den „Staat“ in seiner modernen Gestalt als überpersönliche, gesetzgebende und rechtsichernd-regierende Instanz ein. Wie auch immer man Hegels politische Intention in diesem Zusammenhang werten mag,27 wichtig ist, dass er ein Modell konzipiert, in dem die „bürgerliche Gesellschaft“ eine logisch vom politischen (oder auch: staatlichen) Bereich abstrahierende Einzelbetrachtung erfährt.28 Sie bezieht sich bei ihm nicht mehr auf die privilegierte Gruppe der politisch Aktiven, sondern im Gegenteil auf die „politikferne Sphäre […] der privaten Individuen und ihrer wirtschaftlichen Aktivitäten“29. Damit stellt die aristotelische Tradition der κοινωνία πολιτική gerade keine genuine Vorstufe zum modernen Gesellschaftsbegriff dar. 1851 hielt der Kulturhistoriker Wilhelm Heinrich Riehl in der Einleitung seines Werkes „Die bürgerliche Gesellschaft“ fest: Jedes Zeitalter findet ein paar große Wahrheiten, ein paar allgemeine Sätze, mit denen es sich seine eigene Welt erobert. Ein solcher Satz, neben anderen, ist für unsere Epoche darin gefunden, daß die ‚bürgerliche Gesellschaft‘ durchaus nicht gleichbedeutend sey mit der ‚politischen Gesellschaft‘, daß der Begriff der ‚Gesellschaft‘ im engeren Sinne, so oft er thatsächlich hinüberleiten mag zum Begriffe des Staates, doch theoretisch von demselben zu trennen sey.30
Die „bürgerliche Gesellschaft“ fungiert jetzt als Gegenbegriff zum „Staat“, der nichts mehr mit der rechtlich exklusiven Bürgergemeinschaft zu tun hat, sondern zur ordnenden „Behörde“ wird.31 Hegels Differenzierung in den „politischen Staat“ und die von ihm abgelöste „gesellschaftliche“ Sphäre markiert den entscheidenden semantischen Umschlagpunkt, unter dessen Einfluss noch unser heutiger Sprachgebrauch steht. Nicht alle Zeitgenossen waren allerdings mit dem neuen Gesellschaftsbegriff einverstanden. Insbesondere die radikale Beseitigung von Herrschafts- und Abhängigkeitsverhältnissen, die Abkehr von der „Ständegesellschaft“ und die Idee einer rechtlich egalisierten Gemeinschaft von Freien und Gleichen wurde von konservativer Seite als bedrohliche Aggression gewertet. Schon der Schweizer Staatsrechtler Carl Ludwig von Haller, der fast zur gleichen Zeit wie Hegel ein sechsbändiges Werk mit dem Titel „Restauration der Staatswissenschaft“ verfasste und darin recht unverblümt 26 27 28 29 30
31
Vgl. Hegel 2013 [1821], § 188. Immer wieder hat man Hegel eine restaurative Dogmatik und „blinde Affirmation des Staates“ (Schäfer 2011, 147) vorgeworfen. Vgl. Hegel 2013 [1821], § 182. Nolte 2000, 33; 46. Riehl 1851, 4. Vgl. auch die emphatischen Sätze von Robert von Mohl aus demselben Jahr: „Das Wort Gesellschaft hat ertönt. Es wird mit tiefer Besorgniss, von anderen mit giftiger Drohung ausgesprochen; es dient zum Stichworte des Streites auf der Rednerbühne und in der Schenke; es werden mächtige Partheien und Absichten, ganze Lehrgebäude damit bezeichnet: In Leben und Wissenschaft drängt sich der Begriff, das besondere Daseyn, das Bedürfniss, die Gegenwart und Zukunft der Gesellschaft auf, und bringt einen ganz neuen Gegenstand des Bewusstseyns, des Wollens, des Denkens.“ (Mohl 1851, 6). Vgl. Nolte 2000, 37: „Staat und Gesellschaft standen sich spätestens seit den 1840er Jahren als recht fest abgegrenzte Antagonisten gegenüber.“ Für einige Differenzierungen hinsichtlich dieser allgemeinen Aussage vgl. Gall 1987, 613 f.
30
III. Zur Problemgeschichte von „Gesellschaft“
die Wiederherstellung der alten Feudalordnung forderte, verweist nachdrücklich auf den politisch gefährlichen Beiklang des neuen Begriffs. Als revolutionäres Schlagwort der Aufklärungsphilosophie trage der Terminus selbst eine aktive Mitschuld am Ausbruch und den Verwerfungen der Französischen Revolution, so der konservative Theoretiker einer europäischen „Gegenrevolution“. In der Vorrede seines fundamentalen Werkes heißt es 1816: „Mutter und Wurzel alles Irrtums [der Revolutionszeit, Anm. S. St.] ist die unselige Idee einer Römischen societas civilis, die man in alle anderen geselligen Verhältnisse übertrug“, um später sogar dafür zu plädieren, „daß jener aus dem römischen Sprachgebrauch eingeschlichene Ausdruck einer bürgerlichen Gesellschaft oder societas civilis bald aus der Wissenschaft gänzlich verbannt werden möge“32. Auch wenn von Haller die entscheidende Differenz zwischen antiker und moderner Konnotation hier augenscheinlich außer Acht lässt, können seine Invektiven durchaus als Vorzeichen eines aufkommenden „Leiden[s] an der […] Trennung von Staat und Gesellschaft“33 gewertet werden: Schon früh wurde nämlich heftig gegen Hegels Neudefinition des Gesellschaftsbegriffs polemisiert. Indem Hegels „Rechtsphilosophie“ mit ihrer antagonistischen Gegenüberstellung von Staat und Gesellschaft auf radikale Weise mit der aristotelischen bzw. vormodernen Tradition brach, legte sie gleichzeitig den Grundriss eines Diskursfeldes an, auf dem im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts (und damit im näheren Erfahrungsraum von Mommsen und Gelzer) heftig um Bedeutungen gerungen wurde.34 Während nämlich spätestens seit Hegel in der Tat eine zentrale Verschiebung im Begriffsverständnis stattfindet, ist für das 19. Jahrhundert stets ein Nebeneinander verschiedener, alter und neuer, profilierter und unreflektierter Gesellschaftsbegriffe kennzeichnend. Auch hier also führt die Annahme eines umstürzenden Paradigmenwechsels in die Irre. Als Beispiel für die andauernde Anziehungskraft der aristotelischen Tradition lässt sich etwa die Habilitationsschrift von Heinrich von Treitschke anführen. 2. DER GESELLSCHAFTSBEGRIFF BEI HEINRICH VON TREITSCHKE 1859 erschien unter dem Titel „Die Gesellschaftswissenschaft“ die Habilitationsschrift des gerade fünfundzwanzigjährigen Historikers Heinrich von Treitschke.35 Die knapp einhundertseitige Studie stellt eine substantielle Kritik sowohl an dem 32 33
34
35
Haller 1816, XXVI; 447. Nolte 2000, 25. Vgl. für die Abneigung gegen die Emanzipation der Gesellschaft vom Staat beispielsweise die Polemik von Georg Waitz in seinen „Grundzügen der Politik“: „Die sogenannte Gesellschaft bildet keinen bestimmten Gegensatz gegen den Staat. Eher kann dieser selbst als eine Art von Gesellschaft […] aufgeführt werden.“ (Waitz 1862, 28). Die facettenreiche Weiterentwicklung des neuen Gesellschaftsbegriffs, die über Karl Marx und Lorenz von Stein bis zu Robert von Mohl führt, zeichnet Ernst-Wolfgang Böckenförde nach (vgl. Böckenförde 1976, 131–171). Marx’ Konzept der durch das Privateigentum an „Produktionsmitteln“ strukturierten „Klassengesellschaft“ verabsolutiert die bei Hegel angebahnte Ökonomisierung der Gesellschaft. Gleichzeitig wird die „klassenlose Gesellschaft“ hier zum „Heils- und Erwartungsbegriff“ (Nolte 2000, 46), der die endgültige Überwindung sozialer Ungleichheit verspricht. Vgl. dazu Riedel 1963, 52–59 bzw. Nolte 2000, 53 f.
2. Der Gesellschaftsbegriff bei Heinrich von Treitschke
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Begriff „Gesellschaft“ als auch an derjenigen jungen Wissenschaft dar, die sich (in expliziter Abgrenzung zur Staatswissenschaft) anschickte, die neu entdeckte Sphäre zum Gegenstand ihrer Forschung zu machen: der „Soziologie“. Mit Rückbezug auf Aristoteles polemisiert der nationalliberal gesinnte Treitschke in seiner Schrift gegen Robert von Mohl, Lorenz von Stein und alle anderen Verfechter einer „Lehre der Trennung von Gesellschaft und Staat“36 und wirft ihnen einen beschränkten, rein ökonomischen Blick auf die Gesellschaft und gleichzeitig einen zu engen, nur auf das Institutionengerippe reduzierten Staatsbegriff vor. Explizit gegen die dominierende Hegelsche Auffassung gewendet vertritt Treitschke einen weiten Staatsbegriff, der nicht nur die institutionelle Form, sondern auch die sozialen Strukturen umfasst: „Der Staat ist die einheitlich organisierte Gesellschaft“, „ein Volk in seinem einheitlichen äußeren Zusammenleben“, nicht ein „System von Einrichtungen“37, so Treitschke. Er kehrt damit in gewisser Hinsicht zur aristotelischen Tradition zurück und propagiert in anachronistischer Weise eine Vorstellung vom Staat als der besten, allumfassenden Form der Gemeinschaftsbildung im Sinne der κοινωνία πολιτική. Ganz offensiv bekennt er sich zur „edleren Auffassung des Staates im antiken Geiste“38. Auf einer diskursiven, zeitpolitischen Ebene nutzt er den reaktualisierten κοινωνία-Begriff als ein argumentatives Gegenmodell zu den angeblichen „volkspsychologischen“ Verfallserscheinungen der eigenen Zeit. Er ideologisiert bzw. revitalisiert die aristotelische Theorie, um damit einem homogenen Kollektivismus den Weg zu bereiten, das politische Gemeinschaftsethos wieder zu stärken und die seiner Ansicht nach verheerenden antietatistischen Tendenzen zu bekämpfen.39 Daneben zieht Treitschke aus seiner Polemik einen weitreichenden methodischen Schluss: Für die wissenschaftliche Praxis bedeute seine Argumentation, dass sich „eine Staatseinrichtung nicht ohne Kenntnis des Volkslebens verstehen“40 lasse. Folgerichtig wendet sich Treitschke auch gegen die Herausbildung einer „Gesellschaftswissenschaft“ als autonomer Teildisziplin und plädiert im Gegenzug nachdrücklich für eine umfassende Form der „Staatswissenschaft“, die auch „die gesamte, rechtliche und tatsächliche, Machtstellung der sozialen Gruppen zu ihrem Gegenstande macht“41. Und genauer fügt er an: Es müsse dem politischen Histori36 37 38
39
40 41
Treitschke 1927 [1859], 88. Vgl. auch „[…] es sich deutlich zeigt, daß die Trennung von Staat und Gesellschaft das unlösbar Verbundene auseinanderreißt“ (ebd. 50). Ebd. 73 bzw. 84. Ebd. 80. Vgl. dazu auch Jürgen Kocka, der angibt, dass Treitschke sich „noch an der aristotelischen, alteuropäischen Einheit von Staat und Gesellschaft, an der Idee einer ‚civitas sive res publica sive societas civilis‘ orientierte und die moderne Trennung von Staat und Gesellschaft, die sich seit dem späten 18. Jahrhundert realgeschichtlich partiell durchsetzte […] noch nicht reflektierte“ (Kocka 1986, 52). Später radikalisiert Treitschke seine Ansichten dann noch, wenn er in seinem Feldzug gegen das Programm der neuen Sozialdemokratie angibt, dass es eine Masse von Menschen geben müsse, „die ackern, schmieden und hobeln müssen, damit einige Tausende forschen, malen und regieren können“ (zit. nach Riedel 1975a, 797). Treitschke 1927 [1859], 71. Damit wendet er sich gegen Robert von Mohls Gegenüberstellung von Gesellschafts- und Staatswissenschaft. Ebd. 81.
32
III. Zur Problemgeschichte von „Gesellschaft“
ker darum gehen, ein Volk „je nach seiner verschiedenen, rechtlichen oder tatsächlichen, Beteiligung am politischen Leben“42 einzuordnen und zu beschreiben. Hier formuliert Treitschke eine Richtungsanweisung, die für seine eigene Zeit anachronistisch war, gleichwohl für die Analyse der Vormoderne fruchtbar gemacht werden konnte. Während also seine antikisierende Beschreibung des „Staates“ angesichts der sozialen Dynamisierungen und ökonomischen Diversifizierung seiner eigenen Zeit unpassend erscheint, konnte sein leidenschaftliches Plädoyer für eine Rückkehr zu einem umfassenden Begriff der „politischen Gemeinschaft“ im Sinne von Aristoteles und sein Vorschlag, gesellschaftliche Strukturen als Teil einer systematischen Staatsanalyse zu fassen, dem Betrachter vergangener, insbesondere antiker Zeiten durchaus einleuchten.43 Das Beispiel von Treitschkes Polemik illustriert, wie sehr der neue Begriff „Gesellschaft“ in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch umstritten war und ältere mit neueren Ordnungskonzeptionen konkurrierten. Als operable wissenschaftliche Kategorie war der neue Gesellschaftsbegriff jedenfalls längst noch nicht etabliert. Wer als forschender Beobachter sichergehen wollte, der benutzte daher möglicherweise vorerst weiterhin den umfassenden Staatsbegriff. Erst um die Jahrhundertwende, mit der endgültigen Aneignung des neuen Terminus durch die ebenfalls neue Disziplin der Soziologie, wurde der Begriff verwissenschaftlicht und damit auch als Instrumentarium für die historische Forschung attraktiv.44 3. DER GESELLSCHAFTSBEGRIFF UM DIE JAHRHUNDERTWENDE Nachdem der Streit um die Stellung der „Gesellschaftswissenschaft“ vorerst entschieden worden war, die Gesellschaft sich als neuartiges Untersuchungsfeld vom Staat emanzipiert und die Soziologie sich schnell zur neuen „Modewissenschaft“45 entwickelt hatte, nahm im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert die Beschäftigung mit der Gesellschaft eine neue Wendung. Während um die Mitte des 19. Jahrhunderts noch prinzipiell um die Herkunft des Gesellschaftsbegriffs, seines Anschlusses an die oder seines Abschiedes von der aristotelischen Tradition gerungen wurde, war zu Beginn des 20. Jahrhunderts einer neuen Generation von Wissenschaftlern „die ‚Gesellschaft‘ in einem allgemeinen Sinne […] selbstverständlich geworden, und es kam eher darauf an, die Formen der menschlichen Sozialbeziehungen […] zu untersuchen“46. Paul Nolte verweist in diesem Zusammenhang insbesondere auf Georg Simmel und Max Weber als diejenigen richtungsweisenden Theoretiker, die den Gesell42 43 44 45 46
Ebd. 87. Vgl. dazu die Andeutung von Jürgen Kocka, der angibt, dass „in der alten Geschichte jene Verengung [= auf Staat versus Gesellschaft, Anm. S. St.] nicht in dem Maße stattfand wie in der neuen“ (Kocka 1986, 57). Vgl. Nolte 2000, 33 f. So die euphorische Bemerkung von Franz Oppenheimer (vgl. Oppenheimer 1904, 823). Vgl. dazu auch Kruse 1990, 157 f. Nolte 2000, 55.
3. Der Gesellschaftsbegriff um die Jahrhundertwende
33
schaftsbegriff weiter elaboriert, ihn aus dem unmittelbaren hegelianischen Zusammenhang der ökonomisch determinierten Schichtung herausgelöst und stattdessen auf Phänomene der komplexen sozialen Differenzierung in verschiedene Berufsgruppen und Lebensbereiche bezogen haben. Die Erfahrung einer zunehmenden Aufsplitterung der Lebenswelt führte zu einer Weiterentwicklung des Gesellschaftsbegriffs. Es ging jetzt weniger darum, die Gesellschaft in Abgrenzung zum Staat als eigenständige Sphäre zu behaupten und gegen „neoaristotelische“ Skeptiker zu verteidigen, als viel eher um eine Neubestimmung ihrer spezifischen Struktur. Während sich die „bürgerliche Gesellschaft“ bei Hegel noch auf eine Summe von Menschen und deren Schichtung bezogen hatte, wurde Gesellschaft nun als ein System sozialer Differenzierung verstanden, als ein Geflecht verschiedener Lebensbereiche (politische, wirtschaftliche, familiäre etc.), an denen die Menschen auf unterschiedliche Weise teilhaben. In seiner Untersuchung „Über sociale Differenzierung“ von 1890 definiert Georg Simmel Gesellschaft nicht mehr als die „bloße Summe der Einzelnen“, sondern als die „Summe der Wechselwirkungen ihrer Teilhaber“.47 So wenig wie ein menschliches Individuum selbst eine einzelne Einheit bilde, vielmehr eine große Vielheit „in und an sich aufweist“48, so wenig stelle sich die Gesellschaft als eine Summe von Einzelnen dar. Im Gegenteil wird sie hier als ein System von Beziehungen konzipiert, der Gesellschaftsbegriff damit wieder deutlich mit der begriffsgeschichtlich originären Nuance des aktuellen Miteinanders versehen: Für Simmel scheint „die Vorstellung der wechselwirkenden Wesen jedenfalls die im Gesellschaftsbegriff liegende Hinweisung auf die Beziehung zwischen Personen zu erfüllen“49. Simmel hebt die Konzeption von Gesellschaft damit auf eine abstraktere Ebene: Nicht mehr als Schichtung von sozial ungleichen Individuen stellt sie sich hier dar, sondern als ein dynamischer Komplex von mannigfaltigen Beziehungen bzw. reziproken Wirkungen: „Es ist nicht eine Gesellschaftseinheit da, aus deren einheitlichem Charakter sich nun Beschaffenheiten, Beziehungen, Wandlungen der Teile ergäben, sondern es finden sich Beziehungen und Thätigkeiten von Elementen, auf Grund deren dann erst die Einheit ausgesprochen werden darf.“50 Erst die wirksame Beziehung, die gegenseitige Beeinflussung macht aus dem lokalen Nebeneinander der Menschen ein soziales Ganzes, eben eine Gesellschaft.51 Max Weber hat daran anschließend in der „Vorbemerkung“ zu den „Gesammelten Aufsätzen zur Religionssoziologie“ (erschienen 1920), seinem wohl letzten eigenhändig redigierten Text, ohne den Grundbegriff „Gesellschaft“ selbst zu verwenden eine Übersicht der unterschiedlichen Lebensbereiche „des Okzidents“ an47 48 49 50 51
Vgl. Simmel 1989 [1890], 126; 130. Ebd. 127. Die Frage nach der Natur des Menschen ist hier der Ausgangspunkt für die Frage nach der Gesellschaft als Organisationseinheit. Ebd. 133. Ebd. 130 f. Simmels Vorstellung von Gesellschaft als eine Art lebendig-dynamischer Körper ermöglicht es ihm, die Vielfalt der Individuen als Einheit im Sinne eines funktionalen Zusammenhangs zu deuten. Vgl. dazu Firsching 1998, 161.
34
III. Zur Problemgeschichte von „Gesellschaft“
gelegt, an denen der moderne Mensch teilhat (Wissenschaft, Kunst, Staat als politische Einheit, kapitalistisches Arbeits- bzw. Wirtschaftssystem usw.). Weber interessiert sich nicht mehr für das alte Beziehungsproblem zwischen Staat und Gesellschaft, orientiert sich nicht mehr vornehmlich an der Verteilung konkreter Menschen auf Besitzklassen, sondern untersucht, wie auf „(scheinbar) unabhängig voneinander sich entwickelnden Gebieten der Lebensführung“52 Prozesse der Rationalisierung stattfinden und auf welche Weise diese Sphären des „sozialen Handelns“ eben doch miteinander zusammenhängen. Freilich ist mit Max Weber in keiner Hinsicht ein Endpunkt der Geschichte des Gesellschaftsbegriffs erreicht. Insbesondere die marxistische Aneignung des Begriffs, die Gesellschaft mit ganz anderen, praxispolitisch-ideologischen Konnotationen belegt, wäre zu verfolgen. Ebenso wie der erneute Anschluss und die Fortführung des Weberschen Ansatzes in der Soziologie der 1970er und 80er Jahre. Aber für den Zusammenhang dieser Untersuchung sind diese Entwicklungen nur mittelbar von Interesse. 4. ZUSAMMENFASSUNG Die Gesellschaft fehlt im Repertoire „vergangener Gegenwartsbegriffe“53, ist in vormodernen Epochen kein terminus technicus: Es handelt sich rein begriffsgeschichtlich betrachtet um eine dezidiert moderne Beschreibungskategorie, die zu einem bestimmten Zeitpunkt – im späten 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts – mit sehr spezifischen Gewichtungen und auf Zeitumstände reagierend zur Wirkung kam. Während die κοινωνία bzw. societas sich als Äquivalent des modernen Terminus ursprünglich auf eine zwischenmenschliche Interaktion bzw. eine vertragliche Vereinbarung bezog, wurde er in Verbindung mit dem Adjektiv „bürgerlich“ zunächst als Übersetzung des aristotelischen κοινωνία πολιτική verwendet, bevor im Laufe des 19. Jahrhunderts der Wortkörper umgedeutet wurde. In der Folge avancierte die „bürgerliche Gesellschaft“ zur innovativen Theorieformel, die von Hegel als ökonomisch definierte Sphäre in einen kategorialen Gegensatz zum „politischen Staat“ gestellt wurde. Als Gesellschaft wurde hier die Summe jener a priori gleichberechtigten Menschen angesprochen, auf die bestimmte Güter ungleich verteilt waren und die folglich in Klassen geschichtet werden konnten. Während die besondere Konnotation des Gesellschaftsbegriffs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (und damit im engeren Erfahrungsraum Mommsens) noch umstritten scheint und sich ein „neoaristotelischer“ Widerstand gegen die moderne Deutungstendenz geltend machte, ist der Terminus „Gesellschaft“ um die Jahrhundertwende (und damit im engeren Erfahrungsraum Gelzers) insofern konsolidiert, als es jetzt nicht mehr um die Frage geht, ob überhaupt, sondern wie genau Gesellschaft darzustellen sei.
52 53
Weber 1920, 15. Zum Terminus „vergangener Gegenwartsbegriff“ vgl. Winterling 2014, 249.
4. Zusammenfassung
35
Die zentrale Problematik ist nun, was im Zentrum der Untersuchung stehen soll: Die Schichtung einer Summe von Menschen oder das System ihrer sozialen Beziehungen? Eine Alternative, die die Sozialwissenschaften mitunter bis heute vor Entscheidungsschwierigkeiten stellt –54 und die bezeichnenderweise auch in der modernen althistorischen Erforschung der „römischen Gesellschaft“55 ihre Spuren hinterlassen hat.
54 55
Vgl. dazu beispielhaft den Hinweis von Aloys Winterling auf konkurrierende Gesellschaftsbegriffe in Hans-Ulrich Wehlers „Deutscher Gesellschaftsgeschichte“: Winterling 2012, 143. Im weiteren Verlauf der Untersuchung wird der Gesellschaftsbegriff trotz der oben ausgeführten begriffsgeschichtlichen Probleme beibehalten. Er fungiert dabei aber gerade nicht als normative Sinnformel (im Sinne einer „Klassen-“ oder z. B. „funktional ausdifferenzierten Gesellschaft“), sondern als Analysekategorie, die nicht in ihren modernen Konnotationen aufgeht, sondern als Metabegriff für die Beschreibung von verschiedenen historischen Formen menschlicher Interaktionsordnungen genutzt wird. Generell wird auf die Setzung von Anführungszeichen als demonstrativer Ausweis eines gesteigerten Problembewusstseins nachfolgend verzichtet.
IV. CHARAKTERISTIKA RÖMISCH-REPUBLIKANISCHER GESELLSCHAFT Wenn davon ausgegangen werden muss, dass Gesellschaft ein Terminus unserer Begriffssprache ist, der mit seiner spezifisch modernen Bedeutung als Nominal der Selbstbeschreibung keine Entsprechung in der vormodernen Quellensprache hat,1 dann darf auch bei der Forschungsfrage nach der römisch-republikanischen Gesellschaft der Begriff nicht unreflektiert verwendet werden, so als erkläre er sich gewissermaßen von selbst. Bei einer Behandlung des Problems kann daher sinnvollerweise nur von einer modernen Definition des Gesellschaftsbegriffs ausgegangen werden, dessen Anwendung dann die Spezifika römischer Gesellschaft in der Differenz zu Tage fördert. Als Resultat des begriffsgeschichtlichen Überblicks soll die Verwendung des Terminus hier auf zwei Dimensionen eingegrenzt werden: Zum einen ist mit Gesellschaft im aktuellen Sprachgebrauch eine eingegrenzte Summe von Menschen gemeint, die hinsichtlich ihrer Grundrechte gleichgestellt sind, aber in ungleicher Weise an sozialen Gütern partizipieren und daher üblicherweise in der Form einer Schichtung angeordnet werden.2 Zum zweiten erfasst die moderne Betrachtungsweise Gesellschaft als ein System sozialer Differenzierung. Das heißt: An die Stelle von Schichten treten hier einzelne Funktionssysteme wie Politik, Wirtschaft, Recht, Religion, Wissenschaft etc., Teilbereiche also, in denen die Individuen jeweils verschiedene Rollen erfüllen.3 Das Schichtungsparadigma wird dann von der Vorstellung abgelöst, dass soziale Ungleichheit nicht mehr pauschal festgestellt werden kann, sondern die soziale Position im jeweiligen Kontext, durch die Teilhabe an einer begrenzten Kommunikationseinheit determiniert wird.4 Wenn man nun zunächst die erste Definition auf die antike Referenz anwendet, also unter dem Stichwort „römische Gesellschaft“ nach einer Summe von Menschen und der Art ihrer Schichtung fragt, dann wird man gleich zu Beginn eine wichtige Einschränkung machen müssen.5 Denn das, was in der antiken Selbstbe1 2 3 4
5
Vgl. zur Unterscheidung Begriffs- vs. Quellensprache Brunner 1954, 494. Vgl. Schneider 2011, 247. Vgl. Schäfers 2006, 89. Es ist beispielsweise davon auszugehen, dass der soziale Vorrang in Alltagssituationen der modernen Gesellschaft sich nicht nach dem ungleichen Stand der Personen richtet, sondern nach den Rollenkontexten, in denen sie jeweils auftreten. Während der Straßenverkehrskontrolle muss sich der einfache Polizist auch vom ranghohen Politiker nichts sagen lassen. In der Rolle des Steuerzahlers hingegen muss er tun, was per Gesetz beschlossene Sache ist und dieses ihm vorschreibt (vgl. Kieserling 2013, N3). Das prominenteste Beispiel für den Versuch, römische Gesellschaft anhand eines Schichtungsmodells darzustellen, bietet Géza Alföldys 1976 erschienener Aufsatz „Die römische Gesellschaft – Struktur und Eigenart“ (vgl. Alföldy 1976, 1–25, besonders: 8–14). In seiner „Römischen Sozialgeschichte“ (vgl. generell Alföldy 2011,) hat er sein „Stände-Schichten-Modell“ weiterentwickelt und grafisch ausgestaltet. In der Forschung wurde sein Modell kontrovers
38
IV. Charakteristika römisch-republikanischer Gesellschaft
schreibung die Stelle eines Gesellschaftsbegriffes einnahm, deckte nur einen kleinen Teil dessen ab, was in der Moderne unter der Gesellschaft im Kollektivsingular verstanden wird. Während dieser nämlich den Bereich aller gleichberechtigten Privatpersonen bezeichnet, bezieht sich die societas civilis, also der Begriff, der bei den Römern als Äquivalent eines Gesellschaftsbegriffs gelten kann, nur auf die freie, männlich-erwachsene und politisch aktive Bürgerschaft und schließt damit etwa von vornherein Sklaven, Kinder und Frauen aus.6 Ebenso zählten Fremde und Latiner als Nichtbürger und durften nicht die gleichen privatrechtlichen bzw. politischen Rechte in Anspruch nehmen. Dementsprechend erweist sich auch die Frage nach einem Parameter, der bei allen Mitgliedern der Bevölkerung feststellbar ist und in Relation zu dem eine hierarchische Anordnung nach einer relativen Gleichheit mit Blick auf verschiedene Ungleichheiten (z. B. hinsichtlich Reichtum, Bildung, politische Macht, Ehre) in bestimmte Gruppen erfolgen könnte, als schwierig. Denn während für die Moderne die politisch-rechtliche Gleichheit zumindest formal eine grundlegende normative Richtlinie darstellt, auf der aufbauend dann eine Schichtung nach sozioökonomischen Merkmalen erfolgt, lässt sich für Rom eben zu keinem Zeitpunkt seiner Geschichte von einer durchgängigen Rechtsgleichheit als Ausgangsbasis ausgehen, zieht sich die Ungleichheit bei der Möglichkeit zur politischen Teilhabe durch alle Epochenstadien.7 Auch nach den Sextisch-Licinischen Gesetzen von 367/6 v. Chr. bzw. der lex Claudia von 218 v. Chr. ist mit einer Vielzahl von Rechtsungleichheiten zu rechnen, die jeweils mit unterschiedlichen sozialen Merkmalen korrespondieren können: Soziales Ansehen, Reichtum und politische Einflusschancen etwa konnten auf Personengruppen unabhängig von deren juristischem Status verteilt sein. Ein rechtlich diskriminierter, aber reicher Freigelassener konnte durch seine Nähe zur soziopolitischen Oberschicht mehr informellen politischen Einfluss besitzen als ein einfacher Vollbürger. Ein Senator wiederum mochte gegenüber einem Ritter vom Prestige her privilegiert erscheinen, während dieser ihm ökonomisch überlegen war. Stellt man trotzdem eine grobe Schichtung nach rechtlich fixiertem Rang in Senatoren- und Ritterschaft, Vollbürger und Freigelassene auf, dann muss gleichzeitig auffallen, dass die jeweiligen Gesellschaftsgruppen von einer großen ökonomischen, rechtlichen und politischen Inhomogenität gekennzeichnet waren.8 Nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht sind die Abgrenzungen zwischen Senatoren- und Ritterstand fließend zu denken, auch im personenrechtlichen Sinne waren sie „keineswegs hierarchisch zueinander gestellt“9. In ähnlicher Weise ist die soziale Positionierung der unteren Schichten jenseits der rechtlichen Differenzierung in Unfreie, Freigelassene und Freie abhängig von Faktoren wie der Zugehörigkeit zu
6 7 8 9
diskutiert. Auch weil seine Darstellung in Form einer Sozialpyramide von Inkonsistenzen nicht frei ist (vgl. Winterling 2001a, 99–106). Kritik übten insbesondere Friedrich Vittinghoff und Rolf Rilinger (vgl. Vittinghoff 1980, 31–56; Rilinger 1985, 299–325). Vgl. etwa für Diskriminierung von Sklaven Gai. Instit. 1, 9–11. Vgl. Leppin 2010, 114. Vgl. Rilinger 1985, 305–309. Rilinger 1985, 306.
IV. Charakteristika römisch-republikanischer Gesellschaft
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Stadt oder Land. Zwischen einem armen Landbauern und einem gut gestellten städtischen Handwerker, einem gebildeten Lehrer- und einem gefesselten Minensklaven gab es wenig „ständische“ Gemeinsamkeit. Kennzeichnend für die römisch-republikanische „Gesellschaft“ ist also grundsätzlich eine hohe Dichte an Statusdissonanzen bzw. linearhierachisch strukturierter sozialer Ungleichheit innerhalb der einzelnen Personengruppen. Damit geht eine gewisse Relativierung der „sozialen Pyramide“10 einher. Auch wenn sich beispielsweise die vornehme Herkunft stets als prädestinierendes Gliederungsprinzip behaupten konnte, bot sich eben doch immer auch die Möglichkeit, durch politische Leistung sozial aufzusteigen.11 Mit einigem Recht kann man folglich die Anwendung des vertikalen Schichtungsparadigmas auf die römische Bürgerschaft überhaupt in Frage stellen, nicht nur, weil die Idee einer Schichtung unmittelbar mit der „Vorstellung einer marktvermittelten Gesellschaft auf der Grundlage politischrechtlicher Gleichheit der Bürger“12 zusammenhängt, sondern auch, weil sie die vielfältigen Statusdissonanzen und Mobilitätsdynamiken nicht abbilden kann. Wendet man stattdessen den Gesellschaftsbegriff in der zweiten Definition, als horizontal ausdifferenziertes soziales Beziehungssystem, auf das republikanische Rom an,13 wird man ebenfalls unweigerlich auf Differenzen stoßen. Anstelle der modernen Vielzahl von funktional ausdifferenzierten Teilsystemen lässt sich für Rom nur eine Einteilung in zwei einzelne „Rechts- und Integrationskreise“14 vornehmen: Die familia, die unter der absoluten Gewalt eines pater familias, eines freien männlichen Bürgers, steht, und der sich die rechtlich diskriminierten Personengruppen der Sklaven, Kinder, Frauen und (in ihrer Rolle als Klienten) zum Teil auch die freigelassenen Sklaven eingliedern lassen, ist eine der beiden zentralen sozialen Integrationseinheiten.15 Die deutliche Differenz zum modernen Begriff von Familie als intimer Sozialisationseinheit Blutsverwandter ist augenfällig. Ebenso findet hier die für eine moderne Differenzierungsstruktur charakteristische Ausgliederung der Wirtschaft als eigenständiges Teilsystem keine Entsprechung, bleibt die ökonomische Tätigkeit noch in die häusliche Sphäre einbezogen. Neben der familia ist dann andererseits die civitas, der städtisch-politische Bereich, als eigenständiger Integrationskreis auszumachen, in dem zwischen Bürger und Nichtbürger differenziert wird und die Oberschicht in hierarchisch angeordnete 10 11 12 13
14 15
Vgl. Alföldy 1976, 9. Seine Schichtungspyramide ist zwar auf die frühe Kaiserzeit zugeschnitten, wäre aber, so Alföldy, „der ‚Pyramide‘ der römischen Gesellschaft in anderen Perioden nicht unähnlich“. Vgl. dazu Castritius 1973, 38–45. Die Frage, ob man mit Blick auf freie römische Bauern und Handwerker, die keine politischen Ämter besetzten, wirklich von einem aufstiegswilligen „Mittelstand“ sprechen sollte, ist umstritten (vgl. Christ 1980, 217). Rilinger 1985, 299. So unter anderem Vittinghoff 1980, 31 f. und Rilinger 1985, 309–325. Vgl. aber auch Bendlin 2002, 19–34, der das römische Gesellschaftssystem „mit ähnlichen differenzierenden Kategorien“ beschreiben will wie die, „die die Sozialtheorie für die virtuelle Weltgesellschaft des 20. und 21. Jahrhunderts bereitstellt“ (Bendlin 2002, 34). Vgl. Vittinghoff 1980, 33 f. Vgl. Rilinger 1985, 312 f.
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IV. Charakteristika römisch-republikanischer Gesellschaft
Statusgruppen strukturiert ist. Das heißt also, dass auch innerhalb der einzelnen Prestigegruppen (Senatoren, Ritter, später Dekurionen) eine Ungleichheit nach verschiedenen Kriterien, ein ubiquitäres „Denken in Rangordnungen“16 feststellbar ist, das sich ostentativ in der städtischen Öffentlichkeit, beispielsweise in performativen Statusinszenierungen oder der Memorial-Architektur ausdrückt. Nicht in der Form einer starren hierarchischen Schichtung, sondern als System sozialintegrierender Einheiten, an denen die einzelne Person in mehrfacher Funktion teilhat und aus denen sie unterschiedliche Rangpositionen herleiten kann, treten Umrisse einer römischen Gesellschaftsordnung in Erscheinung. Es ist beispielsweise möglich, dass ein Römer in der civitas als Senator schon eine Armee führt, während er in der Integrationseinheit familia als filius familias noch der strafrechtlichen Züchtigungsgewalt seines Vaters, der patria potestas, unterworfen ist.17 Oder, dass jemand in seiner familia machtvoll-wohlhabender Hausherr ist, aber in der civitas, weil er zu einem früheren Zeitpunkt Sklave war, politisch diskriminiert wird. Mit diesem Modell, dieser Art Gesellschaftsbegriff, lassen sich die oben erwähnten Statusinkongruenzen zumindest teilweise erklären. Offen bleibt freilich die Frage, wie das mit der in den Quellen immer wieder beschriebenen relativ strikten Prestigehierarchie zwischen den einzelnen Statusgruppen in Einklang zu bringen ist – wie sich also der Rangunterschied etwa zwischen Rittern und Senatoren erklären lässt, der sich unter anderem in Rangabzeichen und anderen Statussymbolen ausdrückt und der kollektiv akzeptiert scheint.18 Wenn Cicero beispielsweise in seiner Schrift De Re Publica einen Scipio darauf verweisen lässt, dass „[…] tamen ipsa aequabilitas est iniqua, cum habet nullos gradus dignitatis“19 und Plinius gegenüber seinem Briefpartner bemerkt: „[…] ut discrimina ordinum dignitatumque custodias; quae si confusa, turbata, permixta sunt, nihil est ipsa aequalitate inaequalius“20, dann bleibt wenig Zweifel, dass in Rom eine besondere Form der Hierarchisierung beachtet wird. Eine besondere Art deshalb, weil hier eben das klassisch-moderne Modell einer ökonomischen Schichtung nicht greift.21 Zwar forderte das timokratische Prinzip vom Kandidaten als notwendige Voraussetzung ein gewisses Vermögen, aber finanzielle Unabhängigkeit war nur das Mittel zum Zweck und nicht für sich allein schon prestigebildend. Daher scheint es auch irreführend, die römische Gesellschaft in verschiedene „Klassen“ bzw. „Klassenlagen“ zu unterteilen. Denn der Begriff weist traditionell eine ökonomische Konnotation auf, bezeichnet – mit Max Weber gesprochen – „Maß und Art der 16 17 18 19 20 21
Rilinger 1985, 320. Vgl. Dion. Hal. Ant. Rom. 2, 26,4 bzw. Momigliano 1982, 27; Martin 1984, 84–109 oder Linke 2014, 66 f. mit Betonung der Einzigartigkeit der patria potestas im Vergleich zu den patriarchalischen Strukturen anderer vormoderner Epochen. Vgl. Winterling 2001a, 105. Cic. De rep. 1, 43 („…freilich selbst die Gleichheit ungleich ist, da keine Abstufung der Würde besteht“). Plin. Ep. 9,5 („…dass du die Unterschiede in Rang und Ehre beachtest; denn sind sie einmal verwischt, getrübt, vermengt, ist nichts ungleicher als diese Gleichheit“). Vgl. dazu prägnant: Gehrke 1994, 167.
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Verfügungsgewalt (oder des Fehlens solcher) über Güter“22. Als sinnvollere Beschreibungskategorie erweist sich der Begriff des „Standes“ bzw. der „ständischen Lage“, also die – von Max Weber definierte – „positive oder negative Privilegierung in der sozialen Schätzung“23. Sie wird durch die Faktoren Lebensführung, Erziehungsweise, Abstammungs- oder Berufsprestige und ständische Konventionen determiniert und nicht allein durch Besitz: „[…] Vermögenslosigkeit ist nicht schon an sich ständische Disqualifikation“24. Aloys Winterling hat im Anschluss an Max Weber vorgeschlagen, die römischrepublikanische „Gesellschaft“ generell unter dem Ordnungsmuster der „Stratifikation“25 zu fassen, die beide oben genannten Deutungsansätze – Schichtungs- und Differenzierungsmodell – gewissermaßen miteinander in Beziehung setzt: Einerseits bezeichnet der Begriff der „Stratifikation“ nämlich eine Schichtung der Gesellschaft, bei der Rang und Ehre durch unterschiedliche Arten der Lebensführung in Erscheinung treten und soziale Ungleichheiten als naturgegeben, als „den Personen als solchen anhaftend und gerechterweise zukommend“26 gewertet werden. Andererseits ist damit zugleich ein eigener Typus gesellschaftlicher Differenzierung gemeint, in dem sich eine „durch Ehre und soziale Schätzung ausgezeichnete Gruppe als Beziehungs- und Kommunikationssystem ausdifferenziert, in dessen Rahmen die wichtigsten, alle angehenden gesellschaftlichen Belange geregelt werden“27. Nicht nur ist die politische Organisation in dieser Hinsicht abhängig von der kollektiv akzeptierten Prestigehierarchie innerhalb der stratifizierten römischen Gesellschaft, sondern es gilt eben auch die politische Teilhabe als determinierendes Kriterium für die soziale Ordnung. Roms Oberschicht stellt eben nicht einfach nur eine für vormoderne Hochkulturen typische Form der Aristokratie dar, die Ehre, Reichtum und Macht qua Erbfolge bei sich monopolisiert. Sie muss sich vielmehr ihrer Prestigestellung durch die Teilnahme an der politischen Organisationsstruktur stets neu versichern und ihre individuelle soziale Schätzung durch die Wahl in politische Ämter bestätigen lassen. Nur wer ein hohes Amt bekleidet, wird auch hoch angesehen. Politik bzw. die Ausübung politischer Ämter stellt somit das entscheidende Mittel der gesellschaftlichen Rangmanifestation dar. Die interne Bedeutungshierarchie im Senat nach belegten Ämtern und damit Ehren (honores bedeuten übersetzt bekanntlich sowohl „Ämter“ wie „Ehren“) ist paradigmatisch. Winterling bringt diesen Umstand auf die Formel einer „politischen Integration der Gesellschaft“28 und verweist gleichzeitig auf den besonderen, weil antimonarchisch-städtischen Kontext dieser Ordnung, die mit einer Trennung von Amt und Person einherging und deren Integrationswirkung sich auch auf alle wählenden 22 23 24 25 26 27 28
Weber 1922, 177. Ebd. 177. Ebd. 304. Vgl. Winterling 2012, 159. Seit ca. 1800 drang dieser Schichtungsbegriff der Geologie in die Sozialwissenschaften ein (vgl. Wehler 2013, 28). Winterling 1993, 184. Winterling 2012, 159. Winterling 2001a, 109.
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männlichen Vollbürger übertrug, die durch die Teilnahme an der Volksversammlung ihre Zugehörigkeit zum Gemeinwesen beglaubigten. Die politisch definierte Form der Stratifikation bietet somit eine Möglichkeit, die Struktur der römischen Bürgerschaft plausibel zu beschreiben und ihre bis weit in die Kaiserzeit andauernde Stabilität auf die in der Republik etablierte strukturelle Kopplung von politischer Organisation und sozialer Schichtung zurückzuführen. Stabil blieb sie nicht zuletzt auch deshalb, weil sich aus dem konkurrenzhaften dignitas-Streben der Oberschicht ein besonderer Anreiz für militärische, ökonomische und politische Leistungen für das Gemeinwesen ergab, der individuelle Ehrgeiz in vorteilhafte Aktivitäten für die Bürgerschaft kanalisiert werden konnte. Und weil ökonomisch erfolgreiche Aufsteiger nicht das Ordnungsprinzip der „politischen Integration“ an sich in Frage stellten, sondern allein um eine bessere Stellung in der grundsätzlich akzeptierten Gesellschaftshierarchie und zu diesem Zweck um die Wahl in politische Ämter kämpften. Für eine grobe Charakterisierung römisch-republikanischer Gesellschaft ist also festzuhalten: Es handelt sich um eine stratifizierte Gesellschaft, die durch Ehre und Ansehen qua politischer Ämterausübung definiert und in zwei unterschiedliche „Rechts- und Integrationskreise“ (familia und civitas) differenziert ist. Sie stellt einen Sozialverband dar, dessen Bürger zugleich ein politisches Gemeinwesen bilden und ihre jeweilige Prestigestellung von der Teilhabe an eben diesem herleiten. Trotz wahrnehmbarer Statusdissonanzen und einiger Mobilitätsbewegungen innerhalb der einzelnen Gesellschaftsgruppen behält die Unterscheidung zwischen einer kleinen, vielfach privilegierten, hierarchisch abgestuften Ober- und einer großen Unterschicht ihre Berechtigung. Als zentrale Konsequenz der stratifizierten Struktur lässt sich dann eine weitreichende „Gehorsamstiefe der Beherrschten“29 feststellen, werden Hierarchien und faktische wie rechtliche Ungleichheiten kollektiv akzeptiert. Es ist, wie Niklas Luhmann für stratifizierte Gesellschaften generell festgestellt hat, „eine andersartige Ordnung realistischerweise gar nicht vorstellbar“30. Zu keinem Zeitpunkt kann man für Rom nach dem Ende der sogenannten „Ständekämpfe“ und der Integration der plebejischen Oberschicht in die senatorische Elite mit wirklichen sozialen Revolutionen oder „Klassenkämpfen“ rechnen.31 Es herrscht im Gegenteil ein gewisser „Grundkonsens“32 über die Gültigkeit des traditionell Regelhaften. Das „nomologische Wissen“33 um die soziale Privilegierung der politisch Aktiven wird nicht in Frage gestellt. Soziale bzw. rechtliche Egalität als Ideal, gar als ideologische Kernforderung existiert nicht. Ein freigelassener Sklave stört sich nicht an der Ungerechtigkeit der Sklaverei als solcher, sondern will selber Herr über Sklaven werden. Ein „popularer“ Politiker will nicht das Wesen der hierarchischen Sozialstruktur ändern, sondern nur selbst an die Macht gelangen.
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Flaig 2004, 13. Ähnlich auch Rilinger 1985, 322. Luhmann 1987b, 162. Vgl. dazu Meier 1980, 52. Hölkeskamp 2004, 56. Meier 1988, 44.
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Für diese kollektive Akzeptanz der Stratifikation ist neben der Sozialisationserfahrung in der familia-Sphäre, bei der die Einordnung in Hierarchie und Gehorsam von Anfang an eingeübt wurde,34 möglicherweise auch das ausgeprägte soziale Bindungswesen verantwortlich zu machen, das die „allgegenwärtige wie selbstverständliche Asymmetrie aller gesellschaftlichen Beziehungen und die tief eingerasteten Hierarchien zwischen Nobilität und Senatsadel einerseits und breiteren Schichten des populus Romanus andererseits“35 erträglich machte und durch wechselseitige moralische Verpflichtungsversprechen zur Stabilität der sozialen Ordnung beitrug. Zuletzt ist noch auf die Vielzahl symbolischer Inszenierungen zu verweisen, die etwa im Rahmen der Präsentation von Insignien oder beispielsweise einer festgelegten Theatersitzordnung die Funktion hatten, der römischen Bürgerschaft die außergewöhnlichen Leistungen der soziopolitischen Oberschicht vor Augen zu führen und dadurch die generelle Ungleichheit erträglich zu machen.36 Roms soziale Ordnung ist gekennzeichnet von einer hohen Kommunikationsdichte und durchsetzt von rituellen Aushandlungsprozessen, die sowohl soziale Distanzdemonstrationen als auch gewisse „mimetische Annäherungen“37 der Oberschicht beinhalten, um affektive Bindungen zu den statusniedrigen Personen herzustellen. Die vielfältigen römischen Standessymbole, die sich etwa in bestimmter Kleidung, gegenständlicher Ausstattung und persönlicher Gefolgschaft ausdrückten, können als Zeichenreservoir verstanden werden, mit dem sozialer Status markiert und Trennlinien innerhalb der politischen Hierarchie gezogen wurden. Gleichzeitig bekräftigte etwa die Toga als uniforme, nicht-individuelle Bürgertracht den Normkonsens zwischen Herrschenden und Beherrschten. Mit Blick auf die oben angedeuteten Wesensmerkmale dürfte augenfällig sein, dass der moderne Dualismus Gesellschaft versus Staat auf das republikanische Rom angewandt einen gewissen Anachronismus darstellt, der „retrospektive Suggestionen“38 mit sich führt: Der moderne Gesellschaftsbegriff impliziert – zumindest in seiner normativen Ausprägung – privatrechtliche Gleichheit und hat die Form einer entweder ökonomisch bedingten Schichtung oder eines komplexen Systems sozialer Differenzierung. Der moderne Staatsbegriff hingegen bezeichnet eine funktional ausdifferenzierte politische (Rechts-) Ordnung und geht mit Kerngedanken wie der Gewaltenteilung oder einer organisierten Bürokratie einher. Beide Begriffe eignen sich folglich nicht ohne weiteres zur Charakterisierung des republikanischen Roms, wo „die Gesellschaft ein politischer Körper war“39. Beide Termini 34 35 36 37 38 39
Vgl. Rilinger 1985, 322 bzw. Gehrke 1994, 182 f. Hölkeskamp 2005, 120. Vgl. dazu Flaig 1993a, 197–217. Vgl. auch Meister 2012, 225–230 und Meister 2013, wo er beispielsweise den adventus als „Begrüssungsritual“ interpretiert, das das besondere „Sozialprestige des Heimkehrenden inszeniert“ (Meister 2013, 39). Flaig 2004, 22. Er verweist etwa auf Feldherren, die streckenweise einen Legionsadler trugen, auf Heu schliefen oder Schanzarbeit verrichteten, um Nähe zu den sozial Untergeordneten zu signalisieren. Schmitt 1985 [1941], 384. Conze 1976, 40. Vgl. auch Angermann 1976, 120 f. bzw. Melton 1991, 132.
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verdecken in ihrer Art nämlich, „daß damals ungeschieden und folglich noch nicht vorhanden war, was in der Neuzeit sich ausbildete, indem es sich voneinander schied“40. Wer also von römischer Gesellschaft spricht – und nicht wie Dieter Timpe im Polemischen verharrt, indem er feststellt, dass zwar „Rostovtzeff und Syme, aber nicht Tacitus“ die römische Gesellschaft „zum Thema gemacht“41 hätten – muss dabei das Soziale und Politische immer gemeinsam behandeln, um so der societas civilis im ursprünglichen Sinne zu entsprechen. Wenn im Folgenden nun zwei zentrale althistorische Konzeptionen römischer Gesellschaft vorgestellt und miteinander verglichen werden, so geschieht das vor dem hier skizzierten Hintergrund. Die analysierende Betrachtung geht von einem bestimmten Standpunkt aus, der um die strukturelle Verschiedenheit zwischen vormoderner und moderner Gesellschaftsform und insbesondere die Eigenart römischer Zusammenhänge weiß. Das Bewusstsein dieser Differenz begleitet auch die nun folgende Untersuchung von Mommsens „Staatsrecht“, ein Werk, das als konzentriert auf den Staat bisher stets in einen Gegensatz zur Gesellschaft gebracht wurde.
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Meier 1980, XXII. Vgl. dazu auch Gehrke 1994, 167 und Bendlin 2002, 20. Timpe 1971, 5.
V. AUF SCHATZSUCHE IN STEINIGEM TERRAIN – WIEVIEL GESELLSCHAFT VERBIRGT SICH IN MOMMSENS „STAATSRECHT“? 1. WERKBIOGRAPHISCHE EINORDNUNG UND METHODIK Die folgende Untersuchung konzentriert sich auf Mommsens wissenschaftliches Hauptwerk: das 1871–1888 erschienene „Römische Staatsrecht“1 und die damit korrespondierenden Abschnitte im „Abriss des Römischen Staatsrechts“2. Sie betrachtet das in einer jahrzehntelangen Forschungsarbeit entstandene „Staatsrecht“ dabei als Resümee früherer Arbeiten wie der strukturgeschichtlichen Kapitel im ersten Band der „Römischen Geschichte“,3 der Züricher (1852)4 und Berliner
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Die erste Auflage der Bände I und II erschien 1871, die zweite Auflage derselben 1876/77 und die dritte Auflage 1887. Die beiden Teile von Band III wurden 1887 bzw. 1888 veröffentlicht und erfuhren keine weitere Auflage. Die einzelnen Auflagen unterscheiden sich in ihrer inhaltlich-konzeptionellen Ausrichtung nur geringfügig voneinander. Nachgedruckt wurde das Werk jeweils in der dritten (nicht in einer nie dagewesenen vierten Auflage, wie mitunter zu lesen ist) in Graz 1952, in Basel 1963 sowie in Darmstadt 1963 und 1971. Im Folgenden findet der Grazer Nachdruck und damit die dritte Auflage Verwendung. Ein Verzeichnis der im „Staatsrecht“ zitierten Primärquellen liefert Jürgen Malitz (vgl. Malitz 1979). Eine französische Übersetzung erschien schon 1887–1895 unter dem Titel „Droit public romain“ (vgl. Girard 1887– 1895), ein Nachdruck erfolgte 1984 in der Herausgabe von Yan Thomas. Eine englische Übersetzung fehlt bis heute. Im Folgenden zitiert als Mommsen Abriss 1974 [1907]. Der „Abriss des römischen Staatsrechts“ erschien erstmals 1893 als dritter Teil der ersten Abteilung des von Karl Binding herausgegeben „Systematischen Handbuchs der Römischen Rechtswissenschaft“. Eine zweite Auflage erfolgte 1907. Eine Neuausgabe dieser zweiten, im Folgenden verwendeten Auflage erschien 1974. Im „Abriss“ sind einige Abweichungen von Mommsens ursprünglicher Konzeption im „Staatsrecht“ identifizierbar: Mommsen beginnt hier beispielsweise mit der „Bürgerschaft“ und fügt am Ende ein Kapitel zur „Staatsordnung seit Diocletian“ hinzu. Im Folgenden zitiert als Mommsen RG 1976 [1902]. Die hier verwendete Taschenbuchausgabe gibt den Text der 9. Auflage von 1902 wider. Zusätzlich zur Paginierung der Taschenbuchausgabe wird hier auf die Seitenzählung der seit der 6. Auflage (1874) fast seitengleichen Originalausgaben verwiesen. Der erste Band erschien ursprünglich 1854 und wurde von Mommsen in der Folgezeit immer wieder stark überarbeitet. Ein systematischer Vergleich zwischen „Römischer Geschichte“ und „Staatsrecht“ ist nach wie vor ein Desiderat (vgl. Nippel 2005b, 174). Alfred Heuß meinte, die „Römische Geschichte“ sei „eine glatte Transposition wesentlicher Seiten des römischen Staatsrechts in Geschichte“ (Heuß 1968, 16). In der Tat finden sich in den strukturgeschichtlichen Kapiteln der „Römischen Geschichte“ vielfach Formulierungen, die auch im „Staatsrecht“ auftauchen. Eine gute Einführung in die RG bietet: Rebenich 2006, 660– 676. Im Folgenden zitiert als Mommsen Vorlesung I 1993 [gehalten 1852]. Vgl. zu dieser, ursprünglich von Melchior Römer mitgeschriebenen „Institutionenvorlesung“ auch Meyer 1954, 104– 113.
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(1866/67)5 Vorlesungen über „Staatsalterthümer“ oder den „Römischen Forschungen“ (vor allem der erste Band von 1864).6 Diese Ansicht wird auch durch eine Bemerkung von Pierre Willems bestärkt, nach der der dritte Band des „Staatsrechts“ nicht zuletzt deshalb geschrieben worden sei, „um die in zahlreichen älteren Schriften des Verf. enthaltenen Ansichten aufrecht zu erhalten“7. Mommsen schrieb sein opus magnum nicht als Jurist,8 sondern als ordentlicher Professor für „Römische Geschichte“, eine Position, die er seit 1861 an der Friedrich-Wilhelm-Universität zu Berlin innehatte. Über die näheren Umstände des Entstehungsprozesses ist wenig bekannt. Anders als bei der „Römischen Geschichte“ finden sich zum „Staatsrecht“ nahezu keine Selbstzeugnisse von Mommsen.9 Den äußeren Anlass bot das Angebot von Joachim Marquardt im „Handbuch der römischen Alterthümer“ von Wilhelm Adolph Becker (nach dessen Tod 1846 fortgeführt von Joachim Marquardt) den Abschnitt über die „Römische Staatsverfassung“ zu überarbeiten. Mommsen, der sich insbesondere mit seiner Arbeit am CIL-Inschriftenprojekt als fleißiger „Fachmann“10 einen Namen gemacht hatte, übernahm mit der „Staatsverfassung“ ein Themenfeld, für das er eigentlich nicht in besonderem Maße prädestiniert erschien. Die Abteilung zur „Römischen Staatsverwaltung“ etwa hätte sich für Mommsen mit Blick auf seine Inschriftenkenntnisse weit eher angeboten.
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Im Folgenden zitiert als Mommsen Vorlesung II 2007 [gehalten 1866/67]. Es ist übrigens anzunehmen, dass Mommsen seinen Vorlesungen „nicht ein ausgearbeitetes Heft zu Grunde legte“ (Wickert 1969, 419), sondern sie frei hielt, was zur Folge hatte, dass seine Vorlesungen „den jungen Studenten ziemlich sauer ankamen“ (Wickert 1980, 231). Vgl. dazu auch Blümner 1903, 17: „Mommsen übte in seinen Vorlesungen keine große Wirkung aus; schon sein Organ, eine hohe und schwache Stimme, trat ihm da hindernd in den Weg. Er sprach ziemlich leise, schnell und ohne besondere Kunst des Vortrags.“ Vgl. dazu auch Meyer 1954, 103. Vgl. Mommsen RF I 1864. Willems 1889, 668. Schon früh hatte Mommsen sich von der Rechtswissenschaft verabschiedet: „[…] der Jurist ging nach Italien – der Historiker kam zurück“, resümierte er einmal seinen Werdegang (vgl. Rebenich 2002, 51). Eine Ausnahme bildet die ausführliche Korrespondenz mit seinem Schwiegersohn Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff (vgl. Calder III/Kirstein 2003, 371–444). Hier kann man Mommsens Arbeitsprozess und seine Thesenbildung mitunter gut nachverfolgen (zum hohen Quellenwert solcher Briefwechsel für die Wissenschaftsgeschichte generell vgl. Calder III 1997, 247 f.). Dass man aus Mommsens Briefwechsel also gar nichts „über die Antriebe und Motive seines wissenschaftlichen Schaffens erfährt“ (Heuß 1971, 786) lässt sich so pauschal nicht sagen. Zum generellen Vorhaben seines „Staatsrechts“ äußert sich Mommsen hier auf unterschiedliche Weise: In einem Brief vom 1.2.1887 schwärmt er etwa von der „ungeheuren Überlegenheit des Zusammenfassenden gegen die Einzeluntersuchung“ (vgl. Calder III/Kirstein 2003, 400), stöhnt aber am 9.5.1887 auch über den langwierigen „Gänsemarsch des Compendiums“ (Vgl. ebd. 417). Immer wieder wird in diesem Zusammenhang auch aus einer Stelle in einem Brief an den Juristen Heinrich Degenkolb vom 8.11.1887 zitiert: „Denn unter uns gesagt, das Buch ist für die Philologen doch Caviar und sie schnuppern nach Zitaten, weil es ihnen nicht gegeben ist im Ganzen zu denken.“ (zit. nach Wickert 1969, 559). Vgl. Mommsens wehmütiger Ausruf in seiner Leibniz-Rede: „Aber die Besten von uns empfinden, daß wir Fachmänner geworden sind.“ (Mommsen Leibniz-Rede 1905 [1895], 198).
1. Werkbiographische Einordnung und Methodik
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Anstelle einer Überarbeitung schuf Mommsen dann aber ein gänzlich „neues und selbst-ständiges“ Werk, das mit seinem Vorgänger „nur den Gegenstand gemein hat“11, wie es im Vorwort zum ersten Band heißt.12 Mommsen selbst erwartete vom „Staatsrecht“, dass es als seine alles andere überstrahlende Leistung in Erinnerung bleiben werde, auch wenn seine Zeitgenossen den Wert der Arbeit noch verkennen würden.13 An seinen Leipziger Verleger Salomon Hirzel schrieb er auf das Vorblatt seines (handschriftlichen) Manuskripts des ersten Bandes folgende launigen Verse: An Band II und III Liebe Bände, seid nicht bange, dass ihr nicht geboren seid. Der Verleger liest den Lange Gerne in der Zwischenzeit. Ist er mit dem Lange fertig, Welchem er sich jetzt ergiebt, Steht zu Dienst des Drucks gewärtig Gleich das weitre Manuscript Ungezeugt ein kleines Weilchen Bleibt ein künftiges Maleur. Manches thut der gute Vater Mehr der bessere Accoucheur.14
Dass die „Römischen Alterthümer“ (1856–71) von Ludwig Lange auch konzeptionell einen Gegenpol zu seinem „Staatsrecht“ darstellen, unterstreicht Mommsen noch durch eine gezielte Polemik gegen die rein kompilative Anordnungspraxis der 11 12
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Mommsen StR I 1887, VII. Mommsen nutzt seine Vorworte meisterhaft dafür, beim Leser den Eindruck zu erwecken, das nun Folgende trage in jeder Hinsicht das Gütesiegel des Innovativen. Im Vorwort zur zweiten Auflage von II/2 gibt er an, sich eine Aufgabe gesetzt zu haben, „deren Lösung bisher noch nicht versucht worden war“ (Mommsen StR II/2 1887, V). Eine Auseinandersetzung mit „principiell entgegengesetzten Auffassungen“ (Mommsen StR I 1887, IX) lohne nicht, so Mommsen im Vorwort zur ersten Auflage des ersten Bandes, „Schriften, aus denen sich nichts lernen lässt“ (ebd. X) habe er nicht anführen wollen. Mommsens „absichtliches Ignorieren“ (Lange 1873, 841 f.) der Sekundärliteratur hat bei seinen Forscherkollegen mitunter zu verletztem Autorenstolz geführt. Anscheinend hat Mommsen sich wirklich nie grundsätzlich mit Alternativkonzeptionen auseinandergesetzt. Allerdings hat er eine Vielzahl von Forschungsliteratur zitiert, um spezifische Detailfragen zu diskutieren. Zu der von Mommsen verwendeten Sekundärliteratur vgl. den verdienstvollen „Bibliographischen Index zum Römischen Staatsrecht“ (Kaufmann/ Wannack 2010). Übrigens ist schon in Mommsens „Inauguraldissertation“ von 1843 mit dem Titel „Ad legem de scribis et viatoribus et De auctoritate commentationes duae“ eine Abneigung gegen die Wiedergabe andersgearteter Meinungen spürbar (vgl. Hillner 2013, 159). Vgl. dazu den Brief an Wilhelm Henzen, Mommsens engen Freund und Leiter des „Deutschen Archäologischen Instituts“ in Rom, vom 11.9.1875 (zit. bei Wickert 1969, 340). Zit. nach Kloft 1998, 415, 19. Mit „Lange“ ist Ludwig Lange bzw. seine „Römischen Alterthümer“ gemeint, die 1876 erschienen. In anderer Reihenfolge liest übrigens Rudolf von Jhering, wie aus einem Brief an Ludwig Lange am 3.1.1872 hervorgeht: „Seit Wochen sitze ich bei Mommsens Staatsrecht und bin erst zur Hälfte gediehen. Nach ihm solltest Du an die Reihe.“ (zit. nach Klenner 1978, 212). Zu Jhering als „idealen Leser“ des „Staatsrechts“ vgl. Malitz 1985, 45, 59.
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V. Auf Schatzsuche in steinigem Terrain
sogenannten „Alterthümer“ (bzw. „antiquitates“), deren Autoren auf dem „antiquarischen Bauplatz (…) bloss die Balken und Ziegel durch einander werfen, aber weder das Baumaterial zu vermehren noch zu bauen verstehen“15. Mit dieser im späteren 19. Jahrhundert geläufigen Denunziation des Genres der „antiquarischen Alterthümer“ wendet sich Mommsen gegen eine rein positivistische Faktenanhäufung, die „in möglicher Vollständigkeit das Tagebuch der Welt wiederherzustellen“16 bestrebt sei. Im Gegensatz dazu plädiert Mommsen für eine systematische und bewertende Art von Wissenschaft, die eine „begrifflich geschlossene und auf consequent durchgeführten Grundgedanken wie auf festen Pfeilern ruhende Darlegung“17 zum Ziel hat. Zur Charakterisierung seines neuartigen Ansatzes genügt Mommsen im Vorwort zur ersten Auflage eine gute Druckseite – der Stellenwert seines Buches erschließe sich nun einmal „durch sich selbst und nicht durch die Vorrede“18. Grundsätzlich ist der methodische Zugang im „Staatsrecht“ juristisch inspiriert, nutzt Mommsen hier das Recht als „eine Art Universaldietrich für die Geschichtswissenschaft“19. Dementsprechend ordnet er seinen Stoff, die politischen Institutionen, nicht in einem chronologischen Entwicklungsschema an, sondern stellt sie nach „sachlicher Zusammengehörigkeit“20 vor. Nicht den epochenspezifischen Veränderungen gilt sein Interesse, sondern den strukturellen Wesensmerkmalen einer Institution, die unabhängig von der historischen Entwicklung darstellbar sind. Es gilt also, die dynamischen Elemente aus der Darstellung auszuklammern und nur die festen Grundpfeiler, gewissermaßen die strukturelle Infrastruktur, in den Blick zu nehmen. Als Vorbild für eine solche systematische Darstellungsweise nennt Mommsen die Form der Handbücher des modernen Privatrechts: 15 16 17
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Mommsen StR I 1887, X. Vgl. dazu auch den Brief an Wilamowitz vom 30.1.1887: „Aber mich dünkt, ein Handbuchmacher ist verpflichtet, die Trümmer zu rangieren, auch wenn damit nicht viel anzufangen ist.“ (Calder III/Kirstein 2003, 397). Mommsen Schweiz Röm. Zeit 1973 [1854], 41. Mommsen StR I 1887, IX. Die architektonischen Metaphern sind nicht originell. Schon in Beckers Einleitung hieß es in Bezug auf die zentralen Ansichten Niebuhrs zur römischen Verfassung: „[…] reisset man diese Grundpfeiler hinweg, so muss der ganze darüber aufgeführte Bau zusammenstürzen, und es werden nur einzelne schöne Architekturstücke bleiben, die man dann zu einem anderen Gebäude benutzt, dessen Solidität sich durch seine Dauer wiederum zu erweisen haben wird“ (Becker 1844, XII). Mommsen benutzt immer wieder Begriffe aus der Welt der Technik, um Sachverhalte in ihren kausalen Zusammenhängen darzustellen. Vgl. z. B. Mommsen StR II/2 1887, 1116 („Sicherheitsventil“); ebd. 1120 („Werkzeug“) bzw. Mommsen StR III/2 1888, 1025 („die Triebräder des staatlichen Organismus“). Mommsen StR I 1887, VII. Klenner 1978, 187. Vgl. auch Mommsen Gastrecht und Clientel 1864 [1859], 321 f.: „Zu der ältesten Geschichte schließt nun einmal hier wie überall kein anderer Schlüssel als der der Rechtserforschung.“ Mommsen StR I 1887, VIII. Dass Mommsen bei seiner Unterscheidung zwischen historisch-evolutionärer und rechtlich-systematischer Darstellungsebene möglicherweise von dem Rechtsgelehrten und Begründer der sogenannten „Historischen Rechtsschule“ Friedrich Carl von Savigny beeinflusst sein könnte, lässt sich nur vermuten. Bei Savigny ist die Rede vom „zweyfachen Sinn […], der historische, um das eigenthümliche jedes Zeitalters und jeder Rechtsform scharf aufzufassen und der systematische, um jeden Begriff und jeden Satz in lebendiger Verbindung und Wechselwirkung mit dem Ganzen anzusehen“ (Savigny 1814, 48).
1. Werkbiographische Einordnung und Methodik
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Wie in der Behandlung des Privatrechts der rationelle Fortschritt sich darin einstellt, dass neben und vor den einzelnen Rechtsverhältnissen die Grundbegriffe systematische Darstellung gefunden haben, so wird auch das Staatsrecht sich erst dann einigermassen ebenbürtig neben das […] Privatrecht stellen dürfen, wenn, wie dort der Begriff der Obligation als primärer steht über Kauf und Miethe, so hier Consulat und Dictatur erwogen werden als Modificationen des Grundbegriffs der Magistratur.21
Mommsens Methode wurde also zuvorderst von der zeitgenössischen Pandektistik inspiriert, jener deutschen Zivilrechtswissenschaft, die das römische Privatrecht in Gestalt der spätantiken Rechtskodifikationen – die ja eigentlich kasuistisches Recht versammelten – als ein geltendes System von geschlossenen Rechtsbegriffen und abstrakten Rechtsfiguren darstellte.22 Programmatisch für die Pandektistik des 19. Jahrhunderts ist Georg Friedrich Puchtas Diktum von 1841: Es ist nun die Aufgabe der Wissenschaft die Rechtssätze in ihrem systematischen Zusammenhang, als einander bedingende und voneinander abstammende, zu erkennen, um die Genealogie der einzelnen bis zu ihrem Princip hinauf verfolgen, und eben so von den Principien bis zu ihren äußersten Sprossen herabsteigen zu können. Bey diesem Geschäft werden Rechtssätze zum Bewußtseyn gebracht und zu Tage gefördert, die in dem Geist des nationalen Rechts verborgen, weder in der unmittelbaren Überzeugung der Volksglieder und ihren Handlungen, noch in den Aussprüchen des Gesetzgebers zur Erscheinung gekommen sind, die also erst als Product einer wissenschaftlichen Deduction sichtbar entstehen.23
Inwieweit neben der zeitgenössischen Pandektistik auch die „Historische Rechtsschule“ generell eine methodische Inspirationsquelle des „Staatsrechts“ darstellt, ist nur zu vermuten. Okko Behrends hat auf Mommsens besonderen, möglicherweise an Savigny geschulten „Glauben“ an das römische Recht als Ausdruck eines „Volksgeistes“ verwiesen,24 der etwa dort zu bemerken sei, wo Mommsen dem römischen „Staatsrecht“ ein geheimnisvolles schöpferisches Prinzip unterstelle und die römische Rechtsordnung als eine produktive Kraft werte, die trotz mancher Wandlungen im Laufe der geschichtlichen Entwicklung in einem letzten Wesenskern unverändert bleibe und Wirkung zeige.25
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Mommsen StR I 1887, VIIIf. Nicht von ungefähr führt Mommsen hier übrigens als Beispiel die „Obligation“ an, denn das römische Vermögensrecht hält er (im Unterschied etwa zum römischen Strafrecht) für zeitgemäß (vgl. Mommsen Bedeutung d. röm. Rechts 1907 [1852], 593– 595). Zu Mommsens Verhältnis zur Pandektistik (und zu seinem Lehrer Johann Friedrich Martin Kierulff) vgl. Heuß 1956, 36–44. Schon 1904 bemerkte Eduard Schwartz, dass der Autor des „Staatsrechts“ seine „wissenschaftliche Operation am Privatrecht gelernt“ (Schwartz 1904, 84) habe. 1911 kritisierte Reid, dass die Übertragung der privatrechtlichen Systematik auf das „Staatsrecht“ Mommsen dazu verführt habe, „to stretch the institutions of the state […] in a Procrustean bed of regularity“ (Reid 1911, 97). Zur Bedeutung der Pandektisitk für die Geschichtsschreibung generell vgl. überblicksartig Grziwotz 1986, 142–149. Puchta 1841, 36 f. Vgl. Behrends 2014, 324–345. Ebenso schon Timpe 1984, 53. Es sei, so heißt es einmal im „Staatsrecht“, auszugehen von einer „ursprüngliche[n] Logik des schaffenden Gedankens“, der dann „in dem Gemeinwesen […] lebendig waltet“ (Mommsen StR II/1 1887, 38).
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V. Auf Schatzsuche in steinigem Terrain
„Die Rechtsbildung ist im römischen Gemeinwesen so mächtig“, schreibt Mommsen einmal im zweiten Band, „dass sie in keiner Schöpfung sich völlig verleugnet.“26 Aus einer solchen Auffassung lässt sich möglicherweise in der Tat eine gewisse Nähe zur Rechtsphilosophie Savignys herauslesen, obgleich auch der häufig apostrophierte „Legalismus“ der Römer selbst eine Rechtfertigung böte.27 In seinem Vorwort zum „Abriss“ schreibt Mommsen später dann jedenfalls nonchalant: „Vor der Plattheit derjenigen historischen Forschung, welche das was sich nie und nirgend begeben hat, bei Seite lassen zu dürfen meint, schützt den Juristen sein genetisches Verständnis fordernde Wissenschaft.“28 Der juristisch denkende Historiker darf nicht beim „Tatsächlichen“ stehenbleiben, sondern muss ausgerüstet mit einem hermeneutischen Verstand zum strukturellen Wesenskern vordringen, der an sich nie in Erscheinung getreten ist. Solch eine provokante Methodik hat Mommsen immer wieder dem Vorwurf ausgesetzt, dass er „die Konsequenzen systematischer Deduktion höherstellte als die Ergebnisse einer bloßen historischen Empirie“29. In der Tat vertraut Mommsen mit einem großen erkenntnistheoretischen Optimismus auf die Kraft des sezierenden Forscherblicks, der zum relevanten Potential einer tradierten Quelle vordringen und es wie „auf einer Röntgenplatte seiner Fleischteile entkleidet“30 präsentieren kann. Und wenn ihm doch einmal eine 26 27
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Ebd. 657. Dass die Darstellung Roms als Rechtsordnung nicht nur zeitgenössisch inspiriert, sondern eben auch zutiefst „römisch“ sei, dem „Legalismus der späten Republik“ (Nippel 2005a, 51) entspreche, darauf verweisen mit unterschiedlicher Vehemenz etwa auch Bleicken 1975a, 161 bzw. schon Täubler 1919, 195 f. Dagegen argumentiert Heuß 1956, 57: „Denn wenn es eine Verfassung gegeben hat, der jede systematische Rechtssatzförmigkeit im Sinne des modernen Positivismus fremd war, dann eben die römische.“ Andererseits spricht er von Mommsens „Staatsrecht“ auch als „eine[r] moderne[n] Äußerung uralten Rechtfindens“ und einem „System“, das „in der Wirklichkeit zum mindesten angelegt ist“ (Ebd. 44). Mommsen Abriss 1974 [1907], XVII. Es scheint fast, als würde Mommsen hier den bekannten Rechtssatz Quod non est in actis non est in mundo persiflieren wollen. Okko Behrends hat freilich eine Anspielung auf Friedrich Schillers Gedicht „An die Freunde“ von 1802 ausfindig gemacht: „Alles wiederholt sich nur im Leben/ Ewig jung ist nur die Phantasie, Was sich nie und nirgends hat begeben/ Das allein veraltet nie“ (vgl. Behrends 2014, 322–324). Vgl. in diesem Zusammenhang auch Mommsen StR III/1 1887, 66,1: „Deutlicher als einzelne Belegstellen spricht der Rechtszusammenhang.“ Oder das berühmte, allerdings nicht originär von Mommsen stammende, sondern nur von ihm zustimmend zitierte Diktum von August Theodor Wöniger: „Das System hat seine eigene Wahrheit.“ (vgl. Mommsen Besprechung Wöniger 1907 [1845], 546). Kunkel 1984, 375. Mommsen weiß natürlich um das Quellenproblem, vgl. Mommsen StR III/1 1887, 437: „In unseren Acten fehlt manches Blatt.“ Die Zahl derjenigen, die Mommsen unzulässlichen „Konstruktivismus“ vorgeworfen haben, ist Legion. Vgl. beispielsweise nur das Urteil des Grafen York von Wartenburg, der von „Mommsens realer Bodenlosigkeit“ (zit. nach Wucher 1968, 37) spricht. Kunkel spricht gar von einer „Vergewaltigung des […] Überlieferungsbefundes“ (Kunkel 1972, 3). Für ein Unbehagen gegenüber dem Ideal eines geschlossenen theoretischen Systems vgl. schon Eduard Meyer: „Für ein System des Staatsrechts z. B. ist in der Geschichte kein Platz.“ (Meyer 1902, 48). Heuß 1956, 49. Die Knochenmetapher verwendet 1904 auch schon Alfred Dove: „Zeigte die ‚Römische Geschichte‘ uns das Römertum in Lebensfülle und zeitlicher Entwicklung, so stellt
1. Werkbiographische Einordnung und Methodik
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Quelle in die Quere kommt, die so gar nicht ins System passen will, dann schreckt der Systematiker Mommsen auch nicht davor zurück, die antiken Autoren selbst zu korrigieren: Wenn Cicero der Kurienversammlung Beschlusskraft zugesteht, dann spricht er eben „von Urzuständen, die der Politiker ein besseres Recht hat sich nach Belieben zurechtzulegen als der Alterthumsforscher“31. Wenn Cicero dem Volkstribun die maior potestas abspricht, so ist „dieser Entwurf nicht streng disponirt“32. Schon ein zeitgenössischer Rezensent bemerkte dazu süffisant: „Ob Cicero anders disponiert haben würde, wenn er Mommsens Staatsrecht gekannt hätte?“33 Aber für Mommsen ist eben klar, dass sich nur für „den, der Augen hat die Regel“34 erschließt. Damit legt sich das „Staatsrecht“ auf eine fundamentale Vorgabe fest, nämlich die Erkenntnis des reinen Gedankens, der nackten Institution, also dem „was unter Abzug von Aktualität und Geschichte bleibt“35. Dorthin vorzustoßen, die chronologischen Hüllen gewissermaßen zu durchdringen und die ursprüngliche Struktur zum Vorschein zu bringen, das ist Mommsens übergeordnetes Ziel. Man muss beim „Staatsrecht“ dann in einem zweiten Schritt allerdings zwischen methodischer Formvorgabe und inhaltlicher Ausführung unterscheiden. Während der formelle Aufbau seines Werkes am rechtssystematischen Denken des 19. Jahrhunderts geschult ist, bleibt Mommsen auf inhaltlicher Ebene historisch orientiert. Denn während etwa die „historische Rechtsschule“ eines Savigny noch von der aktuellen Nutzbarmachung antiker Rechtsdogmatik überzeugt war und daher heute gemeinhin als „unhistorisch“ gilt, weil sie im römischen Privatrecht ein leitendes Vorbild für die eigene Zeit ausmachte,36 war Mommsens Beschäftigung mit dem römischen „Staatsrecht“ erkennbar darum bemüht, sich von einem funktionalistischen Hintergedanken frei zu machen. Es ging ihm nicht um Übertragung und Anwendung, sondern um Differenzanalyse und kritische Darstellung. Damit behauptete er sich als ein früher Vertreter der „emanzipierten Rechtsgeschichte“, die „gelehrt forschend, philologienah, mit kritischer Methode, mit Quellenarbeit
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das ‚Staatsrecht‘ gleichsam das Knochengerüst dieses Organismus dar.“ (Dove 1925 [1904], 184). Ebenso bezeichnet Adolf von Harnack die Institutionen als „Knochengerüst der Geschichte“ (zit. nach Rebenich 2003, 42). Zur Ähnlichkeit von Mommsens Verfahrenstechnik mit Methoden der Naturwissenschaft vgl. Dove 1925 [1904], 188. Mommsen StR I 1887, 611, 3. Ebd. 26,1. Livius wird z. B. eine ungenaue Erzählweise vorgeworfen, weil er den Consul vor dem Diktator triumphieren lässt und dieser Vorgang nicht zu Mommsens aufgestellter Regel des alleinigen Triumphrechts für den höchstkommandierenden Magistraten passt (vgl. ebd. 127, 1). Immer wieder verweist Mommsen auf Quellenstellen, die zwar historisch wertlos, aber staatsrechtlich relevant seien. Vgl. z. B. ebd. 142, 2; Mommsen StR II/1 1887, 17; ebd. 279, 1; 415, 1 (vgl. zu diesem Punkt auch Nippel 1998, 21). Lange 1872, 686. Mommsen StR III/1 1887, 456, 4. Vismann 1995, 124. Vgl. dazu Mommsen StR II/1 1887, 16, wo davon die Rede ist, dass der „historische Processs […] in der Hauptsache ausserhalb des Staatsrechts steht“. Vgl. Rückert 1997, 301–305. Der im Folgenden freilich diesem Klischee widerspricht, indem er auf den historischen und quellenkritischen Anspruch in Savignys Werk verweist. Vgl. noch mit klassischem Ressentiment gegen Savigny, den „Stammvater der Historischen Rechtsschule, der die Vergangenheit zur Rechtfertigung der Gegenwart benutzte“ (Klenner 1978, 193), den marxistischen Althistoriker Hermann Klenner.
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V. Auf Schatzsuche in steinigem Terrain
um ihrer selbst willen“37 arbeitete und nicht als Verwalterin eines „heiligere[n] Amt[es]“38 nach juristisch weiterhin bindenden, übergeschichtlichen Wahrheiten Ausschau hielt. Trotz der modernistischen Formgebung eines (den Römern zumindest als kodifizierte Norm unbekannten)39 „Staatsrechts“ bietet Mommsens Werk auf einer inhaltlichen Ebene dann auch viel eher das, was man als eine differenzbewusste Einführung in die politische Ordnung der Römer mit starker Orientierung an den antiken Quellen bezeichnen könnte. Programmatisch ist Mommsens Annahme, dass die politische Verfassung eines Volkes „eben die Geschichte selber“40 sei, wie er in seiner Berliner Rektoratsrede 1874 pointiert formulierte. Im Vorwort zur zweiten Auflage des ersten „Staatsrechts“Bandes definiert Mommsen, dass das „Staatsrecht“ den „allgemein politische[n] Charakter der einzelnen Einrichtungen“ zum Inhalt habe, dass sein Schwerpunkt der Erforschung der „politischen Institutionen“41 gelte. Staatsrecht und politische Institutionenanalyse sind also für ihn in der Tat „deckungsgleich“42. Konkret grenzt Mommsen sein Themenfeld dann noch von anderen inhaltlichen Feldern wie Militär, Privatrecht, Ökonomie, Privatleben und Religion ab. Um dem politischen Charakter Roms auf die Spur zu kommen, verteilt er sein Interesse – wenn auch ungleichmäßig – auf die drei traditionellen Bereiche der römischen Politikordnung: Die Magistratur (Band I, II/1 und II/2), den Senat und die in der Volksversammlung aktive Bürgerschaft (Band III/1 und III/2). Über einen Zeitraum von circa tausend Jahren verfolgt er ihre jeweiligen Charakteristika. Vornehmlich bei der Beschreibung der Magistratur gelingt ihm die Umsetzung seines Plans, die „Permanenz der Institutionen durch allen Wechsel der Geschichte hin37
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Rückert 1997, 301. Dagegen versteht Otto Gradenwitz etwa den „Abriss“ so, dass sich hier „das moderne staatsrechtliche Denken stählen möge, wie das moderne privatrechtliche sich an dem römischen Privatrecht durch Jahrhunderte gestählt hat“ (Gradenwitz 1904, 18). Aber wenn Mommsen wirklich ein solches Ziel gehabt hätte, wäre er doch wohl nicht darum verlegen gewesen, es auch zu äußern. Savigny 1814, 117. Vgl. dazu auch Klenner 1978, 195: „Mommsen hat die Geschichte als das aufgefaßt, was sie ist, nämlich als Vorgeschichte der Gegenwart. Die Historische Rechtsschule hingegen gab die Geschichte als Gegenwart aus.“ Dagegen meint John Weisweiler überraschenderweise, dass es Mommsens „well-considered aim“ gewesen sei, „to isolate the differences and similarities in constitutional structure between Rome and the European nation states of his own time“ (Weisweiler unveröff. 7). Vgl. Bleicken 1995, 13 bzw. Bleicken 1975a, 36. Auf den ersten Seiten seines „Staatsrechts“ (Mommsen StR I 1887, 3–5) legt Mommsen Rechenschaft darüber ab, welche antike Quellenterminologie seiner Meinung nach mit dem Begriff des „Staatsrechts“ korrespondiert. Die Römer hätten zwar, so heißt es hier, „den Begriff des Staatsrechts unter der Bezeichnung ius publicum gekannt“, damit aber grundsätzlich recht undefiniert alle „von der Gemeinde ausgehende[n] Rechte“ bezeichnet. Als eindeutige Kategorie hätten die römischen Juristen „Staatsrecht“ nicht benutzt, schon gar nicht, um unter einem solchen Titel zusammenhängend ihr politisches System zu beschreiben. Die gesamte überlieferte Literatur über das „römische Staatswesen“ basiere bei genauerem Hinsehen letztendlich auf „Instructionslitteratur“ für einzelne Magistrate, deshalb müsse auch ein modernes römisches „Staatsrecht“ den Schwerpunkt auf die Magistratur legen, so Mommsen. Mommsen Rektoratsrede 1905 [1874], 13. Mommsen StR I 1887, XI; ebd. XIV. Grziwotz 1986, 83.
1. Werkbiographische Einordnung und Methodik
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durch“43 zu beweisen. Bei der Analyse des Senats und vor allem der Bürgerschaft hingegen bricht die gesellschaftsgeschichtliche Entwicklung immer wieder durch.44 Auch der Umstand, dass Mommsen Bürgerschaft und Senat im ersten, programmatischen Vorwort nur am Rande, fast widerwillig erwähnt und dann dem „Bürgerschafts“-Band überhaupt kein und dem „Senats“-Band nur ein thematisch unerhebliches Vorwort voranstellt, nährt den Verdacht, dass Mommsen bei seiner ursprünglichen Konzeption grundsätzlich nur die „Magistrats“-Bände im Sinn gehabt haben könnte. In jedem Fall verweisen die beiden Bestandteile der Bezeichnung „Staatsrecht“ – so könnte man zusammenfassen – auf die zwei unterschiedlichen Ebenen seines Werkes: Mit „Staat“ ist die inhaltliche Ebene abgedeckt, die Darstellung der politischen Institutionen, mit „Recht“ wird die formale Ebene bezeichnet, also die Orientierung an der pandektistischen Systematisierungsmethode. Mommsens ursächliche Motivation speist sich dabei im Grunde aus einer dreifachen Aversion: eine Aversion gegen das Unvollständige,45 das bloß Kompilative,46 sowie gegen das rein Chronologische. Dem entgegen setzt er ein in sich geschlossenes System, dessen genuin „wissensschaffender“ Anspruch sich schon im Titel widerspiegelt. Nicht variable „Staatsalterthümer“ sind Thema, sondern die große Synthese eines römischen „Staatsrechts“, das statt zufällig nebeneinander gehäufter Erkenntnisse oder rein chronologisch angeordneter Einzelaspekte eine strenge Ordnung vor Augen hat, in die sich eine gut tausendjährige Entwicklungsgeschichte in ihren zentralen Strukturelementen lückenlos einfügen lässt: Nur „wer den Willen und die Fähigkeit hat, einen juristischen Begriff zu fassen und durch dieses logische und darum von unlogischen Köpfen als ‚dogmatisch‘ abgelehnte Begreifen von den römischen Alterthümern zum römischen Staatsrecht zu gelangen“47 imstande ist, der schaffe eben – so Mommsens Überzeugung – wirklich Wissen und sei als Wissenschaftler 43 44
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Kunkel 1984, 373. Trotzdem kann man nicht von einem generellen Konzeptionswandel zwischen den einzelnen Bänden sprechen. Auch der „Abriss“ ändert zwar die Anordnung, aber nicht die generellen Thesen. Da von einem wirklichen „Strukturunterschied“ (Klenner 1978, 227) zu sprechen, ist irreführend. Mommsens Aversion gegen das Unvollständige kommt an verschiedenen Stellen zum Ausdruck. Im Vorwort zur ersten Auflage des ersten Bandes heißt es zum Beispiel, dass nichts als „Stück- und Flickwerk“ zustandegekommen wäre, wenn er das Beckersche Handbuch einfach nur bearbeitet und nicht gänzlich neu geschrieben hätte (vgl. Mommsen StR I 1887, VII). Vgl. auch schon Mommsens Tagebucheintrag vom Mai 1845: „Wie viel lieber als anderen Leuten Ziegel machen, baute ich selbst Häuser.“ (zit. nach Wucher 1968, 39). Vgl. das oben zitierte „Bauplatz“-Zitat und schon Mommsens Brief an Carl Halm vom 2.8.1850: „Es geht in der deutschen Philollogie wie in anderen Dingen: guter Wille und Fähigkeit und Gelegenheit fehlen nicht, aber wohl die Concentration und die Verbindung zum Ganzen, das doch allein brauchbar ist.“ (zit. nach Wucher 1968, 34). Mommsen StR II/1 1887, 286, 1. Zeitgenössische Stimmen zu Mommsens Methodenwechsel von den „Altertümern“ zum „Staatsrecht“ versammelt: Nippel 2005a, 22, 53. Mommsen ist nicht der erste, der in der Antike nach einem „Staatsrecht“ sucht (vgl. z. B. Karl Dietrich Hüllmanns 1820 erschienenes „Staatsrecht des Alterthums“). Der Begriff impliziert eine Systematisierung und produktive Zusammenfassung sowie eine Konzentration auf die staatliche Ordnung (vgl. Nippel 1998, 18 f.).
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V. Auf Schatzsuche in steinigem Terrain
ernst zu nehmen. Dass sich mancher Kollege von einer solch vehementen Haltung irritiert, gar provoziert fühlte, wundert nicht. Überraschend ist allerdings, wie nachhaltig die generelle Rezeption des „Staatsrechts“ bis heute von der Kritik am Methodischen geprägt ist und wie wenig sie bisher auf den Facettenreichtum des Inhalts geachtet hat. Ein kursorischer Blick auf die zeitgenössischen Rezensionen zeigt aber auch, dass sich schon früh anderslautende Stimmen zu Wort meldeten. 2. REZEPTION UND FORSCHUNGSÜBERBLICK 2.1 Rezensionen48 Viel Aufsehen erregte das „Staatsrecht“ nach der Veröffentlichung seines ersten Bandes 1871 zunächst nicht.49 Kein fachlich qualifizierter Wissenschaftler, sondern ein Schriftsteller war es, der sich ein halbes Jahr nach Erscheinen als erster öffentlich zu dem Werk äußerte. Gustav Freytag, mit Mommsen aus Leipziger Zeiten eng befreundet,50 veröffentlichte 1872 eine Rezension über den ersten „Staatsrechts“Band in der von Alfred Dove herausgegebenen Wochenzeitschrift „Im neuen Reich“, in der er Mommsens „bahnbrechendes Werk“ als „durchweg neue Untersuchung“51 lobte und mit einer bemerkenswert souveränen Nacherzählung zum Strahlen brachte. Freytags Rezension versteht sich in gewisser Weise als Mittler zwischen einer genuinen Fachpublikation und einem breiteren Lesepublikum. In seiner knappen Inhaltsangabe des „Magistrats“-Bandes verweist Freytag daher auch besonders auf 48
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Der bibliographische Index zum „Staatsrecht“, erarbeitet von Kerstin Kaufmann und Katja Wannack (vgl. Kaufmann/Wannack 2010), beinhaltet – neben einer verdienstvollen Sammlung der von Mommsen herangezogenen Forschungsliteratur – auch eine Auflistung aller auffindbaren Rezensionen, auf die die folgende Untersuchung zurückgreifen kann. Die hier erfolgte Auswahl ergibt sich vornehmlich dadurch, dass in den Rezensionen auf gesellschaftsgeschichtlich relevante Themenfelder verwiesen wird. Damit soll nicht verhehlt werden, dass der Großteil der Rezensionen bei ihrer Analyse keine Andeutungen dieser Art machen und ihren Schwerpunkt (ebenso wie die spätere Forschung) auf den ahistorischen, juristischen Charakter des Werks legen. Klenner spricht sogar von einer „praktischen Resonanzlosigkeit“ (Klenner 1978, 212) von Mommsens Werk. Dagegen gibt Seeck in seinem Nachruf an, dass das Werk unmittelbar provoziert hätte: „Die Herren vom Zopf gerieten natürlich wieder in Aufregung; sogleich erschienen ein paar dickleibige Werke über den gleichen Gegenstand, die Mommsen belehrten, wie er es hätte machen sollen“ (Seeck 1904, 98). Vgl. dazu Rebenich 2002, 62 bzw. Wucher 1968, 30. Mommsen widmete Freytag den ersten Band seines „Staatsrechts“, was wohl für Irritation innerhalb der Fachkollegen geführt haben könnte (vgl. Nippel 2013, 243). In einem Brief vom 26.2.1872 dankt Mommsen dem Dichterfreund überschwänglich: „Ich danke es Ihnen herzlich, dass Sie es verstanden haben auf so freundschaftliche und so würdige Weise über meine Arbeit öffentlich zu reden; ich will es nur bekunden, ich glaubte nicht, dass es zu machen sei. Es war das eine sehr erfreuliche Abwechslung neben der schweigsamen Anerkennung, deren ich habituell mich zu erfreuen habe.“ (zit. nach Wickert 1980, 201). Freytag 1872, 913; 915.
2. Rezeption und Forschungsüberblick
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den performativ fassbaren Ausdruck der juristischen Kompetenz: „Die gebietende Stellung des Beamten in der Gemeinde wurde auch in seiner äußeren Erscheinung ausgedrückt“, so lernt Freytag aus dem „Staatsrecht“. Er referiert über den „Purpurstreif am Unterkleid“ des Magistraten und die „geschweiften Beine“ seines Richterstuhls.52 Ebenso verweist er auf die verschiedenartigen „Ehrenrechte“ der einzelnen Rangträger und schildert anschaulich, was er von Mommsen über den politischen Missbrauch des römischen Auspizienwesens erfährt: „[…] damit die Hühner eifrig fraßen, ließ man sie vorher längere Zeit hungern, und damit ihnen etwas von ihrem Fraß wieder aus dem Schnabel fiel […] gab man ihnen weichen Brei zu fressen“53. Freytag weiß um den hermetischen Charakter des „Staatsrechts“, er ahnt die möglicherweise abschreckende Wirkung der juristischen Systematik und betont deshalb gerade seine kulturhistorischen Facetten. Ludwig Lange warnt in seiner 1872 erschienenen Rezension zunächst eindringlich vor der gefährlichen, sogar jugendverderbenden „Dogmatik des römischen Staatsrechts“, das völlig in der Luft hänge, weil es ohne eine „historisch-antiquarische“ Bodenhaftung daherkomme.54 Interessant ist dann allerdings, was Lange nebenbei lobt: „Die Abschnitte über die Dienerschaft der Beamten, Insignien und Ehrenrechte, Qualifikation für die Magistratur.“ Hier beschränke sich Mommsen auf die „Feststellung des in geschichtlicher Zeit Thatsächlichen“, hier bewege er sich auf dem gesicherten Grund historisch-antiquarischer Forschung.55 Lange gesteht also zu, dass es im „Staatsrecht“ auch geschichtlich interessante Passagen gibt, auch wenn er – sicherlich nicht zuletzt aus „verletztem Autorenstolz“56 – in diffamierender Absicht das „Historisch-Antiquarische“ gegen das „Dogmatisch-Juristische“ ausspielt. Auch im Ausland wurde das „Staatsrecht“ besprochen. Schon 1872 berichtet Charles Morel enthusiastisch über das „oeuvre originale“ und lobt, dass es durch seinen juristischen Fokus den wahren Kern des römischen Staates erkannt habe und damit modernen Fehlschlüssen aus dem Weg gegangen sei: „En général nous la jugeons trop avec des idées modernes. Mommsen nous replace sur le terrain strictement romain.“57 Aber er ist ebenso fasziniert von Mommsens Schilderung der Magistratsbediensteten, deren Machtstellung sich eben nicht rechtlich fassen lässt, sondern durch vage „puissance“ und „influence“ charakterisiert wird. Die Ausführungen über die magistratischen Ehren und Insignien zählt er sogar zu den Kapiteln „des plus intéressants“.58 Auch David B. Monros 1873 erschienener Text lobt, nachdem er die unterschiedlichen magistratischen Kompetenzen vorgestellt hat, die Fülle neuer Er52 53 54 55 56 57 58
Vgl. ebd. 918. Ebd. 918. Vgl. Lange 1872, 684. Wilfried Nippel meint, dass der (in der Tat auffällig oft wiederholte!) Dogmatismus-Vorwurf bewusst auf den „Anti-Katholiken“ Mommsen gemünzt sei, um ihn als „unfehlbaren Wissenschaftspapst“ zu denunzieren (vgl. Nippel 2005a, 14). Vgl. Lange 1872, 688. Nippel 2005a, 17. Mommsen rezipierte Langes Forschung anscheinend nur oberflächlich (vgl. Kaufmann/Wannack 2010, 57 f.). Morel 1872, 230; 236. Vgl. ebd. 234.
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kenntnisse in den Kapiteln über „Dienerschaft“ und „Ehrenrechte“ und hebt ganz besonders Mommsens feinfühligen Umgang mit Statuszeichen wie sella curulis oder ornamenta consularia hervor. Monro schließt seine Rezension sogar mit der überraschenden Feststellung, dass Mommsens Behandlung solcher kulturhistorischer Themenfelder daran erinnere, dass Kleider und Etiketten in Rom für die Stabilität der Gesellschaftsordnung zentral gewesen seien.59 Die mit Abstand profundeste zeitgenössische Auseinandersetzung mit dem „Staatsrecht“ leistet 1875 Jacob Bernays,60 ein alter Freund Mommsens aus Breslauer Tagen. In einiger Ausführlichkeit beschreibt er zunächst (und für lange Zeit als einziger) den forschungsgeschichtlichen Kontext, in dem Mommsens „Staatsrecht“ zu sehen ist. Bernays trennt dann die methodische Absicht des antiquarischen Geschichtsschreibers klar von der des systematisierenden Staatsrechtlers und meint, dass „die Grundfragen der inneren politischen Verfassung“ erst seit Mitte des 18. Jahrhunderts – als Staaten eine „feste Gliederung erlangt[en]“ – überhaupt ins Zentrum althistorischen Interesses gerückt seien.61 Mommsen habe sich dieser Tradition anschließend auf „alles mit dem Staatswesen Zusammenhängende“ konzentriert und eine „Metaphysik des Staatsrechts“62 konzipiert. Nachdem Bernays die einzelnen „Wurzelbegriffe“63 (Souveränität, Kollegialität, Annuität) aufgezählt und vor allem den innovativen Aspekt von Mommsens domi/militae-Unterscheidung hervorgehoben hat, kommt er am Schluss seiner Rezension auch auf das „durch Neuheit der Behandlung fesseln[de]“ Kapitel über die „Insignien und Ehrenrechte der Magistrate“ zu sprechen. Hier gehe es zwar oberflächlich betrachtet nur um äußerlich Symbolhaftes wie Kleidung, Fasces-Zeichen und Elfenbeinstühle,64 aber während seine Vorgänger diese Phänomene „[…] mit handwerksmässiger Trockenheit herleierten“, habe Mommsen sie plastisch beschrieben und „wissenschaftlich geadelt“65. Bernays erkennt hier also in gewisser Weise schon ein protokulturgeschichtliches Interesse Mommsens, gesteht ihm jedenfalls zu, die statusdefinierende Bedeutung von Symbolen erkannt und einer wissenschaftlichen Analyse für wert erachtet zu haben.66 59 60
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Vgl. Monro 1873, 35. Zu ihm und seiner Freundschaft zu Mommsen vgl. Wickert 1969, 322–342. Für Bernays lobende Worte bedankt sich Mommsen in einem Brief vom 20.2.1872: „Ihre guten Worte über mein Staatsrecht haben mich sehr gefreut; man hört sich gern loben, wenn man anfängt alt zu werden.“ (zit. nach Wickert 1980, 218). Vgl. Bernays 1875, 57 f. Ebd. 62. Für den Ausdruck „Wurzelbegriffe“ vgl. Pöhlmann 1883, 233. Die „Annuität“ etwa sei eine „Lebensfrage“ (Mommsen StR I 1887, 596) bzw. das „eigentliche Fundament der Republik“ (ebd. 643) so Mommsen. An dem „eigentlich antiquarische[n] Teil, die Auseinandersetzung über sella curulis, Amtstracht, fasces u. ä.“ freut sich Bernays schon in einem Brief vom 19.12.1871 (zit. nach Wickert 1969, 340). Bernays 1875, 67. Das kulturgeschichtliche Interesse des „Staatsrechts“ fällt auch Otto Gradenwitz auf, wenn er 1904 in seinem Mommsen-Nachruf schreibt: „Aber wie der Publizist, so kann auch der Hofmarschall in diesen Bänden Belehrung finden, denn auch die kleinen Fragen der Tracht, der
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Julius Jungs 1879 erschienene Rezension ist dann – entgegen dem Urteil Wilfried Nippels –67 insofern interessant, als sie im bewussten Gegensatz zu Lange gerade die unorthodoxe (weil nicht chronologische, sondern systematische) Stoffanordnung des „Staatsrechts“ lobt. Bei der Inhaltsangabe verweilt Jung länger beim Kapitel über die Dienerschaft der Magistrate, das – so suggeriert er – dem Verfasser besonders wichtig sei, da es in der zweiten Auflage um einige Seiten erweitert wurde. Jung hebt an Mommsens Analyse insbesondere das Gespür für den Gegensatz von rechtlich definiertem Amt und sozial vermitteltem Einfluss hervor: „Bekanntlich aber waren die Apparitoren, Schreiber, Ausrufer, Liktoren u. s. f. ziemlich angesehene Leute, die verhältnismäßig gut honorirt wurden.“68 Und auch bei seinem Referat von Mommsens „Principat“-Band hebt Jung die besondere Machtstellung der Kaiserbeamten hervor, nicht ohne auf die Besonderheit ihrer sozialen Identität zu verweisen und Mommsens zuspitzende Würdigung des Gardekommandanten als „Vicekaiser“69 zu zitieren. Den Rezensenten Jung hindert die staatsrechtliche Anordnung des Stoffes also ganz offensichtlich nicht daran, gesellschaftsgeschichtlich interessante Aspekte des Werkes wahrzunehmen.70 Und so schließt er seinen Artikel folgerichtig mit dem Hinweis, dass das „Staatsrecht“ gerade auch „historisch von besonderem Interesse“71 sei. Besonders aufschlussreich im Zusammenhang dieser Untersuchung ist dann die zeitgenössische Rezeption des dritten „Staatsrechts“-Bandes, der sich ja mit „Bürgerschaft“ und „Senat“ – also den rechtlich schwieriger zu erfassenden „Institutionen“ – beschäftigte. Benedictus Niese, Marburger Althistoriker mit Promotion in Kiel, hebt in seiner Rezension in den „Göttingischen Gelehrten Anzeigen“ von 1888 Mommsens gewagten Umgang mit den Quellen, insbesondere bei der Rekonstruktion der römischen Frühzeit hervor. Niese kritisiert Mommsens Hypothese, die von einer uranfänglich rein patrizischen Bürgerschaft ausgeht und zweifelt an der Vorstellung einer sozialen Aufteilung der Bürgerschaft in ländliche und städtische Tribus. Ohne explizit darauf zu verweisen, gibt Niese hier die einzelnen Stadien des Mommsenschen Entwicklungsschemas (Patricierstaat, Ständekämpfe, PatricischPlebejische Gemeinde) bzw. sein diachrones Schichtungsmodell (Plebejer/Patrizier bzw. Freigelassene, Ritterschaft, Nobilität) wieder und hebt mitunter den an sich nicht streng juristisch bestimmbaren, sondern sich durch „Herkommen“ auszeich-
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Insignien, des Gefolges finden in diesem Bilde der römischen Ordnungen ebenso ihren Platz.“ (Gradenwitz 1904, 15 f.). Vgl. Nippel 2005a, 14. Jung 1879, 109 f. Auf die besondere Sensibilität Mommsens hinsichtlich der Stellung der scribae verweist auch Gelzer in seiner „Nobilität“ (vgl. Gelzer Nob. 1912, 10, 12). II/2, 869. Vgl. dazu Veynes Bezeichnung des kaiserlichen Freigelassenen als „eine Art Premierminister“ (Veyne 1995, 15). Im Gegensatz z. B. zu Fritz Abraham, der in seiner 1873 erschienen Rezension nur die „systematischen“, also rein staatsrechtlichen Abschnitte behandelt und Themenfelder wie „Dienerschaft und die Ehrenrechte der Beamten“ als fürs Gesamtwerk „nicht charakteristisch“ außen vor lässt. Aber auch er erkennt zumindest an, dass neben den „systematischen“ auch andere, „anregende“ Aspekte im Staatsrecht vorhanden sind (vgl. Abraham 1873, 73–90). Jung 1879, 114.
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nenden Charakter einer Volksversammlung oder einer „Senatsgeschäftsordnung“ hervor.72 Ein anonymer Rezensent schreibt 1888 dann im Londoner „Athenaeum“, dass Mommsens „Bürgerschafts“-Band neben „legal relations“ auch die „internal structure and functions of the Roman citizen body“73 behandle. Besonders das Kapitel über die Ritterschaft besteche dadurch, dass es die historische Entwicklung herausarbeite, „by which a military institution became a political one and out of the cavalry (Reiterei) developed the order of cavaliers (Ritterschaft)“. Was Mommsen dazu schreibe sei „in advance of anything that has yet been written on the subject“74. Hervorgehoben wird hier also nicht in erster Linie die juristische Systematisierung, sondern die Behandlung einer soziopolitischen Statusgruppe (Ritterschaft), die sich in ihrer rechtlichen Dimension eben nicht erschöpfend darstellen ließe. Sehr wahrscheinlich derselbe Rezensent75 äußert sich im „Athenaeum“ im selben Jahr in ähnlicher Weise zu Mommsens „Senats“-Band, dessen großes Verdienst es sei, einen Gegenstand zu beschreiben, der aus rein staatsrechtlicher Perspektive betrachtet vergleichsweise unbedeutend anmute, denn „its enormous actual importance was for the most part derived from sources which lay, strictly speaking, outside the constitution, and belong rather to the domain of the historian than to that of the constitutional lawyer“76. Mommsen habe diese Schwierigkeit erkannt und neben den einzigen zwei rechtlich verbrieften Kompetenzen (Bestimmung des interrex und auctoritas patrum) die ansonsten „purely consultative“ Identität des Senats beschrieben. Mehrmals wiederholt der Rezensent, dass Mommsen genau wahrgenommen habe, dass der Senat „on no legal basis“ gestanden habe bzw. seine Macht nicht „legally fixed“ gewesen sei.77 Ein weiterer anonymer Rezensent geht 1890 im „Literarischen Centralblatt“ noch einen Schritt weiter. Neben dem Lob für die strenge Behandlung der Begriffe, „an denen ein Hegelianer seine helle Freude haben würde“ und der Problematisierung von Mommsens Umgang mit den Quellen sticht ein Absatz durch sein theoretisches Analysegeschick deutlich heraus: Wo man vom System heraus Einwendungen erheben kann, da liegt das zum guten Theil daran, daß Mommsen Dinge in das System gezogen hat (und bei der Aufgabe dieses Handbuches hat ziehen müssen), die eigentlich mit dem System nichts zu thun haben. Es sind Dinge, die in die Alterthümer gehören, nicht in das Staatsrecht. Das scheint dem Rez. z. B. von der Nobilität zu gelten. Hier sind eine Menge von Sachen behandelt, welche ihrer Natur nach einer juristischen Construction nur theilweise fähig sind, da es sich nicht um Rechtssätze, sondern um thatsächliche Verhältnisse und gesellschaftliche Convenienzen handelt.78 72 73 74 75 76 77 78
Vgl. Niese 1888, 953–967. Vgl. Anonymos 1888a, 626. Ebd. 627. In beiden Rezensionen wird die gleiche Kritik an Mommsens Theorie eines ursprünglich rein patrizischen populus geäußert. Anonymos 1888b, 656. Vgl. ebd. 656 f. Anonymos 1890, 995.
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In diesem kurzen Abschnitt wird eine zentrale These der folgenden Untersuchung schon präludiert: Es gibt im „Staatsrecht“ Passagen, in denen es um „gesellschaftliche“ Tatsachen geht, „eine Menge“ von Ausführungen, die den Rahmen des rechtsdogmatischen Systems sprengen und eigentlich mehr einer „Gesellschaftsgeschichte“ avant la lettre als dem „Staatsrecht“ angehören. Mommsen hat sozialhistorisch relevante Phänomene wie die Nobilität nicht ignoriert, sondern hat Fragen der sozialen Schichtung in sein System integriert und darüber hinaus die performative Seite der politischen Ordnung berücksichtigt, weil er nur so der ihm gestellten Aufgabe, den römischen „Staat“ in seiner Ganzheit darzustellen, meinte gerecht werden zu können. Der anonyme Rezensent hat 1890 schon etwas gesehen, wofür die „Staatsrechts“Forschung lange Zeit keinen Blick hatte: Mommsen ist in seinem „Staatsrecht“ nicht einfach nur Jurist, er ist zu einem guten Teil auch Historiker. Ähnliches scheint im Übrigen dann später auch Eugen Täubler aufgefallen zu sein, wenn er schreibt, dass sich das, was im Band über die „Bürgerschaft“ neben der institutionsrechtlichen Schilderung der Volksversammlung hinaus besprochen werde, „streng genommen durch die Systematik des Staatsrechts nicht mehr rechtfertigen“79 lasse. In seinem „Abriss“ habe Mommsen dann die „Gliederung der Bürgerschaft […] aus der Unselbständigkeit, in die sie im Rahmen des Volks als Organ der Staatstätigkeit hineingezwungen war“80, gelöst, so Täubler. Otto Seeck betont 1890 in der „Deutschen Literaturzeitung“, dass es im „Staatsrecht“ „kaum eine Seite des Römertums [gebe], die nicht wenigstens mit einzelnen hellen Streiflichtern beleuchtet würde“81. Als Beispiele für Phänomene, die sich eben nicht rechtlich, sondern nur „sittlich“ erklären ließen, führt Seeck die Namensgebung, die Kompetenz der Volksversammlung und die Wirkungsmacht des Senates an. Während Mommsen seinen belgischen Kollegen Pierre Willems im „Staatsrecht“ mehrmals mit Kritik und Hohn überzieht,82 verzichtet dieser auf eine Retourkutsche und hebt 1889 in einer Rezension für die „Philologische Wochenschrift“ besonders Mommsens Behandlung der „Verhältnisse verschiedener Bürgerklassen“ hervor.83 Insbesondere das „überaus beachtenswerte Kapitel über die Ritterschaft“ mit seinen ausführlichen Ausführungen zu den „Ehrenrechten“ („Purpurstreifen, Goldring und Goldkapsel, Sondersitz im Theater sowie bei den Rennund Kampfspielen“) lobt Willems überschwänglich.84 Und Arthur Stein lobt 1905 schließlich den „Bürgerschafts“-Band mit seinen Ausführungen zu Gliederung und 79 80
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Täubler 1985a [1926], 185. Andererseits betont er wenig später, dass die Darstellung der „sozialen Schichtung“ (ebd. 201) zum Inhalt eines Staatsrechts gehöre. Ebd. 185. Damit deutet er an, dass Mommsen im „Abriss“ die gesellschaftsgeschichtlichen Aspekte verstärkt habe. Auch Martin Jehne meint, dass Mommsen im „Abriss“ eine „systematische Schwäche“ des „Staatsrechts“ korrigiert habe, „indem er zunächst das Volk behandelt“ (Jehne 2005, 144). Ähnlich argumentiert Klenner 1978, 227. Seeck 1890, 516. Vgl. Nippel 2005a, 37 f. mit Verweis auf: Mommsen StR III/2 1888, 837, 1; 868, 4; 872, 1; 873, 1; 923, 5; 933, 4; 1033, 2. Vgl. Willems 1889, 664. Ebd. 665.
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Schichtung der Bevölkerung sogar als den „wertvollste[n] in der Geschichte dieser Wissenschaft im vergangenen Vierteljahrhundert“85. Schon die zeitgenössischen Rezensionen liefern also Hinweise dafür, dass im „Staatsrecht“ neben der formalrechtlichen Institutionenlehre auch die gesellschaftshistorischen Zusammenhänge zur Sprache kommen. Insbesondere ein „anonymer“ Wegweiser gibt dabei bereits die Richtung vor, die auch die folgende Untersuchung einschlagen will. 2.2 Forschung Von der „Staatsrechts“-Forschung zu berichten, heißt vom Fach selber zu sprechen. Kaum ein Werk hat die ideengeschichtliche Entwicklung der römischen Althistorie mehr und länger beeinflusst als das zwischen 1871 und 1888 erschienene „Römische Staatsrecht“ von Theodor Mommsen. Kaum ein Werk ist von der Forschung kräftiger gefeiert, kaum eines heftiger verdammt worden. In der Geschichte der „Staatsrechts“-Forschung spiegeln sich die konzeptionellen Richtungskämpfe, wissenschaftspolitischen Bekenntnisse und forschungsstrategischen Idiosynkrasien des Faches „Alte Geschichte“ und ihrer Vertreter. Für eine umfassende Darstellung der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem „Staatsrecht“ hat Wilfried Nippel die Grundlagen gelegt.86 Angesichts der hier interessierenden Frage nach Mommsens Konzeption römischer Gesellschaft wird die Forschung lediglich daraufhin untersucht, ob und gegebenenfalls wie sie die gesellschaftsgeschichtlichen Dimensionen des „Staatsrechts“ behandelt hat.87 85
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87
Stein 1905, 309. Mit „Wissenschaft“ ist hier natürlich die „Altertumswissenschaft“ gemeint. Es könnte noch Einiges hinzugefügt werden. Auch etwa in den Gedenkreden und Nachrufen wird Mommsens „Staatsrecht“ naturgemäß erwähnt und als großer Wurf geadelt (vgl. nur etwa: Blümner 1903, 11; Schwartz 1904, 84 f.; Seeck 1904, 98 f.; Kaerst 1904, 321 f.). Spezifische Aussagen über dessen Inhalt werden hier hingegen selten getroffen. Vielversprechender wäre es, nach Auseinandersetzungen mit Mommsens Werk in der parallelen, zeitgenössischen althistorischen Forschung zu suchen, die heute zum Großteil vergessen ist und eben von Mommsens Fundamentalwerk in den Schatten gestellt wird. Allein, diese Übersicht hat keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern will selektiv bleiben. Vgl. Nippel 2005a, 9–61. Neben einer umfassenden Analyse sämtlicher Rezensionen, Nachrufe und Forschungsbeiträge, ist es ihm insbesondere darum zu tun, den Innovationsgrad von Mommsens „Staatsrecht“ kritisch zu hinterfragen. Er belegt, dass viele Topoi der späteren „Staatsrechts“-Forschung schon kurz nach Veröffentlichung des Werkes geäußert wurden. Außerdem kritisiert er Mommsen für seinen (ignoranten) Umgang mit anderen Forschermeinungen und weist auf die in Vergessenheit geratenen Alternativkonzepte etwa Ludwig Langes oder Ernst von Herzogs sowie der „antiquarischen“ Vorgänger Mommsens hin. Dabei dürfen also diejenigen Forschungsbeiträge außer Acht bleiben, die nicht explizit auf die Problematik zu sprechen kommen. Beispielsweise wird die Frage in den drei – anlässlich des hundertsten Todestages von Theodor Mommsen erschienenen – Tagungsbänden nicht explizit behandelt: Vgl. Kaenel (et alt.) 2004; Demandt (et alt.) 2005; Wiesehöfer 2005. Die Beiträge zum „Staatsrecht“ hat in allen drei Bänden Wilfried Nippel verfasst, wobei sich die Texte nur geringfügig voneinander unterscheiden. Nippel 2004 scheint die Ursprungsfassung, Nippel 2005b die gekürzte Version und Nippel 2005c (obwohl ohne Hinweis auf die vorherige
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Gerade weil die staatsrechtskritische „Mommsenschelte“88 mittlerweile zum rhetorischen Repertoire vieler althistorischer Untersuchungen gehört und die pauschale Vorverurteilung, Mommsens Werk behandle ausschließlich rechtliche Aspekte und lasse Fragen der sozialen Ordnung unberücksichtigt, von den meisten Forschern kritiklos übernommen wird, lohnt der genauere Blick auch auf diejenigen wenigen Ansätze, die andere Aspekte hervorgehoben haben. Denn neben der Gruppe der überzeugten „Defizittopiker“ und unentschlossenen „Zwei-Seiten-Betrachter“, lässt sich beim Studium der Sekundärliteratur auch eine Gruppierung von vorsichtigen „Überschussanalytikern“ ausmachen. 2.2.1 Defizittopiker Die Defizittopiker gehen davon aus, dass sein rein rechtssystematischer Zugriff Mommsen für Fragen der Gesellschaft blind gemacht, ihn allein das formal Normative, nicht das wirkliche „Leben der Menschen“89 interessiert habe. Schon Robert Pöhlmann hatte in seiner Nachbearbeitung des Mommsen-Nachrufs von 1911 gerügt, dass das „Staatsrecht“ zentrale Probleme rein juristisch lösen wolle und nicht erkannt habe, dass „hier vielmehr die wirtschafts- und sozialgeschichtliche Forschung ergänzend eintreten“90 müsse. 1921 wandte Richard Heinze gegen Mommsen ein: „Institutionen, mögen sie noch so wichtig und folgenreich sein, können doch niemals als primäre Ursachen politischer Entwicklungen gelten; hinter ihnen stehen die Menschen, die sie geschaffen, erhalten und getragen haben.“91
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91
Fassung) eine umgearbeitete Fassung des Textes zu sein. In Wilfried Nippels 2013 erschienener Aufsatzsammlung „Klio dichtet nicht“ ist eine nochmals überarbeitete Version des Textes eingefügt worden. Eder 1980, 385. Jehne 2005, 139. Vgl. auch Bleicken 1975a, 49: „Niemand wird die Bedeutung des Rechts für den Staat leugnen, daneben aber doch den soziologischen Hintergrund, die Ökonomie und die Wesenszüge der Politik darstellen wollen. Für Mommsen sind diese Bereiche gar nicht existent.“ Pöhlmann 1911, 339. In der ursprünglichen, kürzeren Fassung des Nachrufs von 1903 fehlt der Passus noch (vgl. Pöhlmann 1903, 930). Aber schon in seiner 1886 erstmals erschienen Rezension von Mommsens fünftem Band der „Römischen Geschichte“ kritisiert Pöhlmann ihn für seine Ignoranz gegenüber der „modernen wirthschaftstheoretischen und socialgeschichtlichen forschung“ (Pöhlmann 1886, 136). Demgegenüber ist interessant, dass Georg Lukács Mommsen (zumindest als Autor der „Römischen Geschichte“) in einem Atemzug mit Robert Pöhlmann zu den Historikern rechnet, die „von der Überzeugung ausgehen, die grundlegende Struktur der Vergangenheit sei ökonomisch wie ideologisch dieselbe gewesen wie die der Gegenwart. Man müsse also, um die Gegenwart zu verstehen, den Menschen und Gruppen früherer Zeiten einfach die Gedanken, Gefühle und Motive heutiger Menschen unterlegen. Auf diese Weise entstehen Geschichtskonzeptionen wie die Mommsens, Pöhlmanns usw.“ (Lukács 1955, 186). Auch Karl Johannes Neumann fordert 1910, „die rein juristische Betrachtung Mommsens nationalökonomisch zu ergänzen“ (Neumann 1910, 66). Heinze 1922, 22. Auch Victor Ehrenberg kritisierte, dass Mommsen mehr eine „Geschichte der Institutionen“ als eine „Geschichte der Menschen“ geschrieben habe (vgl. Ehrenberg 1960, 95).
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Wolfgang Kunkel meinte später, dass Mommsen die Probleme der römischen Gesellschaftsgeschichte – nicht etwa aus Unkenntnis, sondern aus Berechnung – in seinem Staatsrecht völlig ignoriere.92 Dies ist ein Vorwurf, der in abgewandelter Form auch von Yan Thomas und Hartmut Galsterer wiederholt wurde.93 Jerzy Linderski sieht im „Staatsrecht“ die politische Organisation Roms unter Ausschluss sozialer Merkmale „as a pure legal system“94 beschrieben. Frank Behne bilanziert, Mommsens „Staatsrecht“ sei „alle nicht jurifizierbaren Tatbestände auszublenden bestrebt“95 gewesen. Martin Jehne wirft Mommsen eine Fixierung auf das Rechtliche und ein Außerachtlassen des flexiblen Traditionsrahmens etwa eines mos maiorum vor, er erkenne „die soziopolitische Macht in seinem Staatsrechtssystem nicht als konstitutiv“96 an. Mommsens Rede von einer „Volkssouveränität“97 beispielsweise sei nicht haltbar, weil Mommsen bei seiner Analyse der Bürgerschaft den Blick nicht auf die sozialen Bedingungen der politischen Ordnung und damit auch nicht auf mögliche Einflussmöglichkeiten des populus richte. Das „Staatsrecht“ leide folglich an einer „Verarmung durch den streng juristischen Zugriff“98, die zu einem Desinteresse an Entwicklungsprozessen und gesellschaftlichen Strukturfragen führe. Auch die Herausgeber des 2003 erschienenen Briefwechsels zwischen Mommsen und seinem Schwiegersohn Wilamowitz haben keinen Zweifel an Mommsens „radikalem Verzicht auf (…) die Einbeziehung sozialhistorischer Aspekte“99. Und in der 2009er collegia-Dissertation von Margret Dissen heißt es über Mommsen: „Gesellschaft komm[t] in seinem an der Idee des Staates orientierten Paradigma nicht vor.“100 Dies ist nur eine kleine Auswahl von Stimmen im lauten Chor der Defizittopiker. Tatsächlich zieht sich der Vorwurf, Mommsens „Staatsrecht“ lasse in seiner Betrachtung des Staats die römische Gesellschaft unberücksichtigt, wie ein roter Faden durch die gelehrte Beschäftigung mit Mommsens Werk.101 1988 hat Klaus 92 Vgl. Kunkel 1972, 3: „[…] Loslösung des ‚Staatsrechts‘ von seinen politischen und sozialgeschichtlichen Zusammenhängen“ sowie Kunkel 1984, 371: „Die politischen und sozialgeschichtlichen Zusammenhänge der staatlichen Entwicklung […] sind so weit als möglich ausgeklammert.“ 93 Vgl. Thomas 1984, 6: „Inspirées d’une vision de l’histoire qui prétend ignorer que normes et réalités sociales font deux, que les premières ne sont pas le reflet des secondes, qu’elles ont aussi leur histoire propre.“ Bzw. Galsterer 1989, 189: „Mommsen hatte […] sich bemüht, das Staatsrecht in reiner Gestalt, herausgeschält aus seiner sozialen und ökonomischen Einbettung, darzustellen und in ein System zu bringen.“ 94 Linderski 1990, 52. Er wendet sich polemisch gegen Andrew Lintotts gemäßigte Einschätzung, Mommsens Werk sei im Grunde „much less narrowly legalistic than is often supposed“ (Lintott 1999, V). 95 Behne 2002, 124. Vgl. schon Behne 1999, 5. 96 Jehne 2005, 146. 97 Vgl. z. B. Mommsen StR I 1887, 13; 255; Mommsen StR II/1 1887, 736; Mommsen StR 1887 II/2, 749; Mommsen StR 1887 III/1, 29; 313; Mommsen StR III/2 1888, 1030. Zur Kritik am „Souveränitätsbegriff“ vgl. Meier 2015, 648. 98 Jehne 2005, 148. 99 Calder III/Kirstein 2003, 16, 67. 100 Dissen 2009, 49. 101 Vgl. beispielsweise nur noch Christ 1971, 579 bzw. Christ 1980, 199. Ebenso Meier 2015, 600.
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Bringmann festgestellt, dass es „längst schon zum Topos geworden ist, die bedenklichen aus der Isolierung der Verfassungsgeschichte von […] der Sozialgeschichte resultierenden Konsequenzen der Mommsenschen Methode zu beklagen“102. Und so ist auch in Jochen Bleickens Rezensionsessay „Im Schatten Mommsens“ von 1996, der sich anlässlich der Publikation einer verfassungssystematischen Abhandlung von Wolfgang Kunkel mit etwaigen Nachfolgern Mommsens auseinandersetzt, ein ums andere Mal davon die Rede, dass Revisionsversuche ihren Ausgang von einer Kritik am fehlenden „sozialgeschichtlichen Hintergrund“103 in Mommsens Werk nehmen würden. So werden etwa Heinrich Siber,104 Eugen Täubler105 und Ernst Meyer106 in Bezug auf die Frage nach einem gesellschaftsgeschichtlichen Gehalt des „Staatsrechts“ klar als Defizittopiker verortet, die ihren eigenen Gegenentwürfen einen explizit sozialhistorischen Anstrich zu geben versuchten, um sich von Mommsen abzusetzen. Insgesamt erinnert der von den Defizittopikern artikulierte Vorwurf, Mommsen verfüge über keinen Sinn für die historische Dynamik und erweise sich daraus folgend auch als ignorant gegenüber gesellschaftsgeschichtlichen Aspekten, stark an die Kritik gegenüber der „antiquarischen“ Geschichtsschreibung zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Auch den „Antiquaren“ hatte man ja vorgeworfen, ihr Material nur zu klassifizieren, statt es dynamisch, einer Chronologie folgend anzuordnen – die Geschichte des römischen Volkes in ihren „Altertümern“ einzufrieren und „in seiner Geschlossenheit und Ruhe“, nicht „in seiner Bewegung“107 zu betrachten. Zur Diskreditierung des „Staatsrechts“ spielt man also einem alten Argumentationsmuster folgend die „Institution“ gegen das „Ereignis“ aus. Ironischerweise wird damit Mommsen, der sich in seinem Vorwort ja wie oben erwähnt selbst von denen absetzte, die „auf dem antiquarischen Bauplatz […] bloss die Balken und Ziegel durch einander werfen“108, von seinen Kritikern unter „Antiquarismus-Verdacht“ gestellt.109 102 Bringmann 1988, 24. 103 Bleicken 1996, 8. 104 Vgl. Bleicken 1996, 9. Mit Sibers „Staatsrechts“-Rezeption beschäftigt sich die Promotionsschrift von Frank Behne. Er vergleicht beide Arbeiten hinsichtlich ihrer Konzeptionen von Volkstribunat, Nobilität und Prinzipat und kommt zu dem Schluss, dass Siber trotz revisionistischer Absichten immer noch „stark unter dem Einfluß des Mommsenschen ‚Staatsrechts‘ stehe“ (Behne 1999, 264). Vgl. dazu auch die Rezension von Wilfried Nippel (Nippel 2002b, 467 f.). Siber selbst hat sich in anderem Kontext klar für eine Trennung von „Staatsrecht“ und „soziologischen Erscheinungen“ ausgesprochen (vgl. Siber 1940, 7) und Mommsen dafür gelobt, „Wirtschaft und Gesellschaft“ aus seinem Werk ausgeklammert zu haben (vgl. Behne 1999, 5). In Sibers Fußstapfen bewegt sich nun das anachronistisch anmutende „Römische Staatsrecht“ von Johannes Michael Rainer (vgl. Rainer 2006 und dazu die kritische Besprechung von Uwe Walter: Walter 2007, 478–485). 105 Vgl. Bleicken 1996, 10. Zu Täublers Schrift vgl. den Nachruf von Alfred Heuß (Heuß 1989, 265 f.). 106 Vgl. Bleicken 1996, 11. 107 Momigliano 1995, 142 f. Vgl. auch Nippel 1998, 18. 108 Mommsen StR I 1887, 10. Mommsen hat ein Faible für Baustellen-Metaphern, vgl. Heuß 1956, 39. 109 Vgl. für das „Staatsrecht“ als Beispiel für das „Fortleben des antiquarischen Ansatzes“: Momigliano 1995, 143. Momigliano kann der antiquarischen Methode aber auch Positives abge-
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2.2.2 Zwei-Seiten-Betrachter Gerade die beiden wichtigsten Protagonisten der bisherigen „Staatsrechts“-Forschung zeigen sich freilich in der Frage nach seinem gesellschaftsgeschichtlichen Gehalt unsicher. Alfred Heuß, der erste, der sich in seiner wissenschaftsgeschichtlichen Biographie „Theodor Mommsen und das 19. Jahrhundert“ gut fünfzig Jahre nach Mommsens Tod intensiv mit dem „Staatsrecht“ beschäftigte, prägte einerseits den eingängigen Satz von dem „vollen Triumph des ‚Systems‘ über die Geschichte“110, gab aber andererseits auch an, dass die ahistorische Sichtweise nur bei der Behandlung der „Magistratur“ wirklich in aller Vollendung zu Tage getreten sei. Aufs Ganze betrachtet gesteht Heuß ein, dass Mommsen etwa im Abschnitt über die „Bürgerschaft“ mehr Historiker als Jurist gewesen sei und überhaupt in seiner Forschung der Aufgabenstellung der späteren Sozialgeschichte im Grundsatz schon entsprochen habe. So habe Mommsen etwa die Bedeutung der Nobilität „zum ersten Mal erkannt“111 und beispielsweise auch den „metajuristischen Charakter“112 der Kaisergewalt genau beschrieben. Die leichte Unsicherheit in der Bewertung von Mommsens gesellschaftsgeschichtlichem Interesse tritt dann bei Heuß’ Schüler Jochen Bleicken noch deutlicher zu Tage. Dieser kritisiert in seiner 1975 erschienenen „Lex Publica“ zuerst in Heußscher Manier Mommsens zeitverhaftete, juristische Methode, die ihn den römischen Staat ausschließlich als juristisches Phänomen habe wahrnehmen lassen. Folglich habe er etwa die Machtstellung des republikanischen Senats unterschätzt.113 Die methodische Orientierung an der pandektistischen „Begriffsjurisprudenz“, die a priori gesetzte Begriffe logisch anordnet und unter Kappung der historischen Tradition Recht „nur noch aus sich selbst heraus“114 erzeugen will, habe dazu geführt, dass gesellschaftsgeschichtliche Gesichtspunkte für Mommsen gar nicht relevant gewesen seien. Stattdessen herrsche überall die eisige Starrheit
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winnen. So lobt er sie etwa dafür, „die Geschichte vor den Skeptikern“ (ebd. 144) in Schutz genommen zu haben. Heuß 1956, 52. Zur Beziehung und „innere[n] Nähe“ (Walter 2012, 250) zwischen Alfred Heuß und Theodor Mommsen vgl. Walter 2012, 245–257. Heuß 1956, 86. Vgl. auch Heuß 1957, 15. Heuß 1974, 88. Vgl. Bleicken 1975a, 25. Entscheidend ist aber eine gleich anschließende Nebenbemerkung von Bleicken, der – ähnlich wie Heuß – zu ahnen scheint, dass eine einseitige Defizitbeschreibung zu kurz greift: „Mommsen war viel zu sehr Historiker, um diese Verhältnisse etwa zu verkennen.“ Vgl. ähnlich auch Grziwotz 1986, 29, 12. Bleicken 1975a, 21. Bleicken wirft Mommsen wiederholt „Begriffsjurisprudenz“ vor (Vgl. ebd. 13. Ebenso Sturm 2006, 35). Zur Begriffsgeschichte dieser „mehr polemisch[en] denn analytisch brauchbare[n] Kategorie“ (Nippel 2005a, 54, 174) vgl. Schröder 2008, 500–502. Der Vorwurf ist insofern von Bedeutung, als Bleicken damit auch eine anti-gesellschaftsgeschichtliche Haltung einhergehen sieht: „Die Beziehungslosigkeit [der Begriffsjurisprudenz, Anm. S. St.] zu den realen gesellschaftspolitischen Gegebenheiten und Wandlungen ist offenbar; der Wandel der Sozialstruktur wird in der Staatsrechtslehre nicht mehr oder nur ungenügend zur Kenntnis genommen.“ (Bleicken 1975a, 435).
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der Rechtssätze; die „Aktion“, das Leben und damit „die Personen und Personengruppen“ spielten nur eine sehr untergeordnete Rolle.115 Während Bleicken im ersten Teil seines Mommsen-Kapitels also auf die grundsätzlich verzerrende und ahistorische Dogmatik des Systems hinweist, geht es ihm im zweiten Teil vor allem darum, die Begrifflichkeit des „Staatsrechts“ zu untersuchen. Hier lautet Bleickens zentrale These: Im Gegensatz zur Methoden- zeige sich Mommsen bei seiner Begriffswahl differenzbewusst. Denn während viele historische Staatsrechtslehren gedankenlos „mit der Methodenlehre auch sachfremde Begriffe übernommen hätten“116, sei Mommsen bei seinen juristischen Zentralbegriffen (imperium, potestas, auspicium usw.) durchweg den römischen Termini treu geblieben. Bleicken erklärt diese besondere Sensibilität für den Sinngehalt von Begriffen und seine Verweigerung von modernistischen Übertragungen dann überraschenderweise damit, dass der Jurist Mommsen immer auch Historiker geblieben, dass für ihn „System“ und „Geschichte“ zwei Seiten einer Medaille gewesen seien.117 Insgesamt lässt sich Bleickens ursprüngliche Mommsen-Rezeption als ambivalent bezeichnen. Auf der einen Seite kritisiert er Mommsens modernistische Methode, auf der anderen Seite billigt er ihm ein historisches Bewusstsein zu, weil er in der Begriffswahl Modernismen konsequent vermieden habe. Hinsichtlich etwaiger historischer Elemente im „Staatsrecht“ zeigt sich Bleicken zunächst deutlich skeptisch, ein Interesse an gesellschaftsgeschichtlichen Fragestellungen schließt er an dieser Stelle noch kategorisch aus. Umso überraschender mutet dann die deutliche Akzentverschiebung an, die sich in Bleickens „Vorstellungsbericht“ an der Göttinger Akademie der Wissenschaften von 1979 feststellen lässt. Man höre von allen (vor allem marxistischen) Ecken den Vorwurf, so Bleicken, dass Mommsen die gesellschaftlichen Verhältnisse in seinem „Staatsrecht“ unterschlagen habe. Aber so eine Kritik […] ging und geht vollkommen an Mommsen vorbei. Denn wenn auch Mommsen nicht Sozialgeschichte im heutigen Sinne betrieben hat, hat er doch nicht nur gewußt und beachtet, daß hinter den von ihm beschriebenen Rechtsinstitutionen soziale Gruppen standen, sondern hat von diesen Gruppen im Staatsrecht selbst ausführlich gehandelt, hat sogar für ein angemessenes Verständnis der römischen Gesellschaft gerade auch durch seine Staatsrechtslehre einen neuen Grund gelegt. Die sozialgeschichtliche Kritik hat denn auch Mommsen nur kritisieren können, weil sie sich mit ihm so gut wie gar nicht befaßt hat. Sie hat von ganz anderen Voraussetzungen her gedacht und hat das ganze, sehr komplexe Werk Mommsens eher als etwas
115 Vgl. ebd. 49–51. Später heißt es hier etwas vorsichtiger: „Im Übrigen wurde das staatliche Sein von den politischen und sozialen Bindungen verkörpert […] Mommsen schenkte ihnen keine oder nur wenig Beachtung. Er erfaßte sie nur insoweit, als sie in die Rechtsordnung hineinragten.“ (ebd. 439). In Bleickens Nachruf auf Matthias Gelzer, der im selben Jahr erschien, heißt es, Mommsen habe „ganze Bereiche des staatlichen Seins, wie das soziale Leben […] ausgeschlossen“ (Bleicken 1975b, 159). 116 Bleicken 1975a, 37. 117 Ebd. 41.
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V. Auf Schatzsuche in steinigem Terrain Lästiges beiseite gelegt, und es kam ihr dabei der Vorwurf des Rechtspositivismus gerade zurecht. So hat sie die Schätze, die in ihm auch für die Sozialgeschichte stecken, nicht gehoben.118
Mommsen also doch ein Gesellschaftshistoriker? War es nicht derselbe Autor, der dem „Staatsrecht“ zuvor Blindheit auf dem historischen Auge attestiert hatte, der jetzt zu einer sozialgeschichtlichen Schatzsuche in eben diesem Werk aufrief? Bleicken hat seine revidierte „Staatsrechts“-Deutung jedenfalls aufrechterhalten. Hinsichtlich des großangekündigten Gegenentwurfes von Wolfgang Kunkel bemerkte er noch 1998 sarkastisch, dass die bei Mommsen „angeblich unbeachtet gebliebene soziale Dimension“ hier nirgendwo auftauche, ja, dass Mommsen bei der Lektüre mit Recht sagen würde, „daß er in seinem Staatsrecht viel eher auch Sozialhistoriker ist als Kunkel“119. Nur ein kurzer Seitenblick soll noch auf die von Bleicken in seinem „Vorstellungsbericht“ gegeißelte marxistische Lesart des „Staatsrechts“ geworfen werden, bevor dann beispielhaft einige weitere „Überschussanalytiker“ betrachtet werden sollen. Gleichsam als ideologisches Gegenmodell zur westdeutschen Mommsen-Rezeption erschien 1978 im Ostberliner Akademie Verlag in der Reihe „Studien zu einer Geschichte der Gesellschaftswissenschaften“ eine Publikation des marxistischen Wirtschaftswissenschaftlers Jürgen Kuczynski mit dem Titel „Theodor Mommsen – Porträt eines Gesellschaftswissenschaftlers“. Lässt man sich von der ideologisch gefärbten Kategorisierung Mommsens als „bürgerlicher“ Historiker, den man bedauerlicherweise „nicht weiter links als im linken Zentrum einordnen kann“120, nicht von vornherein abschrecken, findet man in dieser Mommsen-Studie einige interessante Beobachtungen. Explizit mit dem „Staatsrecht“ bzw. einer Würdigung des Juristen Mommsen beschäftigt sich das vorletzte Kapitel, das aus der Feder des marxistischen Juristen und SED-Mitglieds Hermann Klenner stammt. Schon einleitend verwahrt sich dieser gegen die strikte Trennung zwischen dem Juristen und dem Historiker Mommsen. Das „Staatsrecht“ sei historisch ebenso 118 Bleicken 1979, 59. Auch in dem Gelzer-Gedenkband von 1977 weist er auf die „zahlreiche[n] historische[n] Exkurse“ im „Staatsrecht“ hin (vgl. Bleicken 1977, 17). 119 Bleicken 1998, 1150. In seinem ebenfalls 1996 erschienenen Artikel „Im Schatten Mommsens“ heißt es dann noch einmal ganz paradigmatisch: „Denn Mommsen hatte, auch wenn er jeweils die formale Seite betonte, die Nobilität und die Ritterschaft ja nicht übersehen, sondern ihnen ebenso wie den Bürgern, Bundesgenossen und Untertanen den ihnen zukommenden Platz in seinem ‚Staatsrecht‘ eingeräumt und hat etwa, um ein Beispiel zu nennen, hier eine Definition der Nobilität entwickelt, die meiner Meinung nach gegenüber der sehr engen und durchaus nicht so quellenkonformen von Gelzer, wonach nur die Familien mit einem Konsul im Stammbaum dazu zählen – nach Mommsen schon mit der Bekleidung eines kurulischen Amtes – bei weitem den Vorzug verdient.“ Und wenig später betont er hier: „Bei Mommsen ist man mit jedem Satz des ‚Staatsrechts‘ mitten im Gesamtwerk und, wie ich hinzufügen möchte, auch in der Geschichte.“ (Bleicken 1996, 9). 120 Kuczynski 1978, 43. Vgl. zu einer parteipolitischen Lesart auch ebd. 128: „Sehr richtig wird die Krise der römischen Gesellschaft nicht auf politische Konflikte innerhalb der herrschenden Klasse, sondern auf den Klassenkampf gegen die Bauernschaft oder richtiger, noch tiefer gehend, auf den Widerspruch zwischen den Interessen von Großgrundbesitzern und Kaufmannsbzw. Geldkapital auf der einen Seite und den Bauern auf der anderen Seite zurückgeführt.“
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interessant wie die „Römische Geschichte“ juristisch beachtenswert. Das besondere Verdienst des „Staatsrechts“ sei es allerdings, gezeigt zu haben, dass „das Wesen einer Gesellschaft nicht nur in seiner geschichtlichen, sondern auch in seiner systematischen Ausprägung zu erfassen, daß das Ganze nicht nur als historisch sich entwickelndes, sondern auch als strukturell sich gliederndes Phänomen zum Forschungs- und Darstellungsobjekt zu machen sei“121. Klenner nimmt Mommsen dann überraschenderweise auch entschieden gegen den landläufigen Vorwurf in Schutz, sein an der modernen Pandektenwissenschaft geschultes Systemdenken habe alle außerjuristischen, eben vor allem auch gesellschaftsgeschichtlichen Phänomene von vornherein ausgegrenzt. Dem setzt Klenner entgegen: „Der Absicht und – was schließlich entscheidend ist – der Ausführung nach hat gerade Mommsen eben nicht den positivistischen Trend in die Ungeschichtlichkeit und Politiklosigkeit des Rechts mitgemacht.“122 Sein Lob für Mommsens historische Reflexionen im „Staatsrecht“ hält Klenner im Folgenden nicht davon ab, ihn andererseits dafür zu kritisieren, dass er den „Klassencharakter des Staates“ nicht deutlich genug akzentuiert habe.123 2.2.3 Überschussanalytiker In der neueren „Staatsrechts“-Forschung finden sich schließlich – ohne expliziten Rückbezug auf Heuß oder Bleicken – einzelne Andeutungen, die dem „Staatsrecht“ ohne Umschweife einen gesellschaftsgeschichtlichen „Überschuss“ zubilligen. Zu solchen Überschussanalytikern gehört etwa Herbert Grziwotz, der in seiner 1986 erschienenen wissenschaftsgeschichtlichen Dissertation zum modernen Verfassungsbegriff versucht, den Mythos eines blutleeren „Staatsrechts“, das allein dem „abstrakten, leeren und formalistischen Konstruktionsschemata der juristischen Methode“124 hörig sei, aufzulösen. Stattdessen bemüht er sich darum, Mommsen als einen zwischen „historischer Kritikfähigkeit und juristischer Systemgläubigkeit“125 hin- und hergerissenen Autor zu charakterisieren. Dazu weist Grziwotz auf 121 Klenner 1978, 216. Vgl. auch ebd. 193 f. 122 Ebd. 218. Eine Feststellung, die innerhalb der marxistischen Staatsrechts-Rezeption umstritten scheint. Sergej Uttschenko formulierte beispielsweise 1956 mit Blick auf Mommsens „Staatsrecht“: „Eine solche Behandlung führt unvermeidlich zu formalen und unhistorischen Konstruktionen, die das ganze verwickelte, dynamische und widerspruchsvolle Wesen der sozialen Grundlage der Erscheinungen unberücksichtigt lässt.“ (Uttschenko 1956, 34). 123 Vgl. Klenner 1978, 221 f. Seine marxistische Kritik bezieht sich vor allem darauf, dass Mommsen die Sklaven als „gestaltende Faktoren des römischen Verfassungsrechts“ missachtet habe (ebd. 224). Für ein weiteres Beispiel marxistischer Beschäftigung mit Mommsen vgl. die biographische Skizze von Rigobert Günther (vgl. Günther 1965, 9–24) und den Tagungsband eines 1983, anlässlich Mommsens 80. Todestags von der Humboldt-Universität in (Ost-)Berlin und der Martin-Luther-Universität in Halle-Wittenberg organisierten Kolloquiums zu Werk und Persönlichkeit des in der DDR durchaus verehrten Althistorikers (vgl. AdW 1984). Das „Staatsrecht“ bleibt hier allerdings nahezu unerwähnt. 124 Grziwotz 1986, 58. 125 Ebd. 112. Vgl. auch ebd. 166.
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unterschiedliche Abschnitte im Werk hin, die „nicht zur Beschreibung eines Staatswesens als bloßer Kompetenzordnung passen. Ehe, Adoption, Clientelbindungen, die Entstehung der Nobilität und einzelner Ämter, etc. sind für eine rein juristische Betrachtung kaum von Bedeutung“126. Auch Stefan Rebenich verweist in seiner Mommsen-Biographie darauf, dass dessen „Staatsrecht“ in der Tat „keineswegs die historischen Elemente eliminierte“127, ja sogar „immer die spezifischen sozialen Bedingungen seiner Entstehung, Entwicklung und Anwendung“128 berücksichtigt habe. Beispielsweise habe Mommsen bei der Beschreibung des römischen Kaisers nicht wie häufig kritisiert die „soziale und politische Qualifikation der Herrschaftsstellung […] geleugnet“129. Auch gegen den schematischen Vorwurf der „Begriffsjurisprudenz“ nimmt Rebenich Mommsen in Schutz und hebt hervor, dass er auch „außerrechtliche Faktoren“130 in sein System miteinbezogen habe. Im 2005 von Wilfried Nippel und Bernd Seidensticker herausgegebenen Band zur Berliner „Staatsrechtstagung“131 – dem mit Abstand wichtigsten jüngeren Beitrag zur „Staatsrechts“- Forschung – plädieren dann sowohl Karl-Joachim Hölkeskamp als auch Aloys Winterling dafür, das Werk einer Relektüre zu unterziehen. Mommsen konstruiere sein „Staatsrecht“ als „echter Historiker“ aus einer Vielzahl sozial- und kulturgeschichtlicher Details, so Hölkeskamp in seinem Beitrag, der eine stark erweiterte Version eines schon 1998 veröffentlichten Aufsatzes darstellt.132 Im Gegensatz zur landläufigen „Staatsrechts“-Deutung als eines ahistorischen, starr-juristischen Systems, ist hier nun davon die Rede, dass Mommsens Werk bei genauerem Hinsehen in der Tat eine „‚historische‘, ja sogar antiquarische Komponente“133 besitze und geschichtlich viel informierter sei als seine formaljuristische Oberfläche suggeriere. Mommsen dürfe keineswegs „ausschließlich als der strenge, rechtslogisch-deduktiv vorgehende Systematiker“ wahrgenommen werden, sondern müsse als ein Autor in Erscheinung treten, der auch „sozial- und
126 Ebd. 174. 127 Rebenich 2002, 111. Vgl. dazu auch die in ihrer überheblichen Polemik ungerechte Rezension von Patrick Bahners (vgl. Bahners 2003, 41). Auch Uwe Walter hält den Vorwurf, dass Mommsen den geschichtlichen Wandel ignoriere für „verfehlt[en]“ und meint, dass insbesondere sein „Staatsrecht“ die „gesellschaftlichen Bedingungen“ (Walter 2007, 478; 480) reflektiert habe. 128 Rebenich 2002, 36. 129 Ebd. 113. Ähnlich argumentiert auch Flaig 1997, 329. 130 Rebenich 2002, 114. 131 Vgl. Nippel/Seidensticker 2005. Vgl. dazu auch den unterhaltsamen Tagungsbericht von Uwe Walter in der FAZ vom 25.11.2003 (vgl. Walter 2003, 37). 132 Vgl. Hölkeskamp 1997, 93–111 und Hölkeskamp 2005, 87–129. Letzterer mit einer stark erweiterten Analyse der Mommsenschen Senatskonzeption, einem hermeneutisch-reflektierenden Einschub über die Unmöglichkeit rein rechtlich-normativer Interpretationen der römischen Verfassungspraxis und einem Abschnitt über Hölkeskamps eigenen Deutungsansatz, mit dem „der entscheidende Schritt über Mommsen hinaus“ (ebd. 129) nun „endlich“ (ebd. 122) getan sei. Eine nochmals geringfügig aktualisierte Version des Textes erschien 2013 (vgl. Hölkeskamp 2013, 65–91). 133 Hölkeskamp 2005, 92.
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kulturgeschichtliche Details im weitesten Sinne“134 mitberücksichtige. Hölkeskamp nimmt mit seiner Interpretation gewissermaßen den Faden von Jochen Bleicken wieder auf und verweist (soweit ersichtlich allerdings ohne Rückbezug auf Bleickens „Vorstellungsbericht“) auf die gesellschaftsgeschichtlichen Elemente in Mommsens „Staatsrecht“. Eine ähnliche Tendenz verfolgt auch der Beitrag von Aloys Winterling. Anstatt die staatsrechtliche Perspektive reflexhaft als fehlerhaft zu disqualifizieren, plädiert Winterling dafür, zunächst „die Frage nach den Gründen der dauerhaften Plausibilität der Mommsenschen Analysen“ zu stellen und den „Blick auf die unterhalb der Ebene der staatsrechtlichen Terminologie (und teilweise konträr zu ihr) liegenden Besonderheiten der historischen Theorie Mommsens zu richten“135. Für die moderne althistorische Forschung sei das „Staatsrecht“ nicht nur wegen seiner begriffskritischen Haltung anschlussfähig,136 sondern vor allem, weil es „die Bezüge der untersuchten Phänomene zu weiteren politischen und sozialen Kontexten durchgängig berücksichtigte“137. In gesellschaftsgeschichtlicher Hinsicht habe Mommsen etwa erkannt, dass ein bestimmter sozialer Status Voraussetzung für bestimmte Ämter und diese wiederum ausschlaggebend für die gesellschaftliche Schichtung waren. Es müsse in der zukünftigen „Staatsrechts“-Forschung also darum gehen, so Winterlings Fazit, „sozial- und kulturgeschichtliche Fragestellungen, die bei Mommsen selbst schon präsent bzw. angedeutet sind“138, zu rekonstruieren. 2.3 Zusammenfassung Hinsichtlich der Frage, inwiefern Mommsens „Staatsrecht“ gesellschaftsgeschichtlich relevante Erkenntnisse liefert, erscheint die Forschung zwiegespalten. Während die Defizittopiker dem Werk eine soziale Dimension von vornherein absprechen und Mommsen eine Überschätzung der verfassungsrechtlichen Ordnungsmuster bei gleichzeitiger Unterschätzung politisch-sozialer „Lebenswirklichkeit“ vorwerfen, fällt das Urteil der Zwei-Seiten-Betrachter und Überschussanalytiker weniger apodiktisch, mitunter sogar gegenteilig aus. Auch in manchen zeitgenössischen Rezensionen sind interessanterweise neben der allgemeinen Abwehrreaktion gegen den rechtsdogmatisch-formalen Charakter des Werkes, schon explizite Verweise auf gesellschaftsgeschichtlich relevante Themenfelder zu finden.
134 Hölkeskamp 1997, 101; 104. Im Fazit proklamiert Hölkeskamp sogar: „Man kann es [= das System, Anm. S. St.] auch schlichtweg ignorieren.“ (ebd. 110). 135 Winterling 2005b, 180. 136 Vgl. dazu auch Winterling unveröff. 9 f.: „Er [= Mommsen, Anm. S. St.] verzichtet in seinem ‚Römischen Staatsrecht‘ merkwürdig oft auf den Begriff ‚Staat‘ und beschreibt Rom stattdessen als ‚Gemeinwesen‘ und ‚Bürgerschaft‘, mit Begriffen also, die auf die Verbindung von politischen und sozialen Gegebenheiten zielen und damit vom Staat wegführen, der in der Sicht des 19. Jahrhunderts der Gesellschaft gegenüberstand.“ 137 Winterling 2005b, 193. 138 Ebd. 197.
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Zu den wiederkehrenden Topoi der „Staatsrechts“-Kritik gehören der Vorwurf einer starren methodischen Orientierung an der Pandektistik und eines rechtsdogmatischen Systematisierungsfurors. Allerdings wird seit den 1980er Jahren die Bereitschaft geringer, das „Staatsrecht“ allzu leichtfertig als ein „blutleeres“ Kind der historischen Rechtsschule abzutun. Vielmehr bemüht man sich im Zuge der sozialgeschichtlichen bzw. kulturgeschichtlichen „turns“ darum, auch die dynamischhistorische Dimension des „Staatsrechts“ zu akzentuieren. Dagegen verteidigen einige Forscher in jüngerer Zeit auch wieder vehement die These, Mommsens Glaube an die rechtssystematische Methode habe ihn für die gesellschaftsgeschichtliche Dimension blind gemacht.139 Für die hier verfolgten Zwecke genügt die Feststellung, dass der Umgang mit dem „Staatsrecht“ seit seinem Erscheinen bis in die Gegenwart uneindeutig ist. Einerseits gehört es zum guten (althistorischen) Ton, das Werk als großen Wurf zu feiern, andererseits muss es aber oft im selben Atemzug als „Wetzstein“ einer Methodenkritik herhalten, die sich im Zuge der Einwände gegen Mommsens dogmatische Engstirnigkeit ihrer eigenen Fortschrittlichkeit versichert. Das dem Werk innewohnende Provokationspotential ist unter anderem daran zu erkennen, dass sich nahezu keiner seiner Interpreten auf eine nüchterne Analyse beschränkt, sondern sich – vom Mommsenschen Dogmen-Duktus angespornt – dazu herausgefordert sieht, dem Systementwurf eine eigene Alternativkonzeption entgegenzustellen, um endlich aus dem sprichwörtlichen „Schatten Mommsens“ heraustreten zu können.140 Es könnten noch weitere Forschungsarbeiten angeführt werden, die sich Mommsens „Staatsrecht“ aus rechtsgeschichtlicher Richtung nähern,141 oder sich insbesondere mit seiner zeitpolitischen Dimension beschäftigen.142 Aber die Grund139 Vgl. etwa Thomas 1984, 6; Rainer 2006, 15; Beheiri 2007, 302 f. 140 Der „Anti-Staatsrechts-Reflex“ findet sich in vielfacher Weise. Beispielhaft sei hier auf Christian Meiers Einleitung zur Neuauflage seiner „Res publica amissa“ von 1980 verwiesen: „Jedenfalls trieb mich nicht, wie Jochen Bleicken meinte, ein Interesse am ‚römischen Staat‘, das in irgendeiner Weise demjenigen Mommsens am ‚Staatsrecht‘ entsprochen hätte.“ (Meier 1980, XIX; nochmals verstärkt in: Meier 2015, 599). 141 Vgl. dazu Behrends 2014, 311–380. 142 Vgl. dazu etwa Flaig 1993b, 406 bzw. 428–441 und insbesondere seinen „Staatsrechts“-Artikel von 1997, der darauf verweist, dass man den „geschichtsphilosophischen und politischen Gehalt (…) zudeckt, wenn man es nur in das Umfeld der juristischen Literatur oder der historischen Forschung stellt“ (Flaig 1997, 321) und dafür plädiert, das „Staatsrecht“ politischer zu lesen. Flaig erkennt dessen zeitgenössischen Impuls vor allem in der Betonung einer „Volkssouveränität“, die rechtmäßig dazu in der Lage sei, Kaiser zu stürzen oder zu erheben, weil der römische Volkswille in keine Repräsentationsstruktur kanalisiert wurde. Mommsen führe hier – so Flaigs gewagte These – eine „konzentrierte Auseinandersetzung mit Rousseau sowie mit Sieyès und Mably, also mit derjenigen politischen Strömung, die im 19. Jahrhundert eine direkte Demokratie befürwortete“ (ebd. 329). Flaigs Versuch, das „Staatsrecht“ in eine geschichtsphilosophische Tradition zu stellen und hier nach einer „implizite[n] politische[n] Philosophie“ (ebd. 334) zu suchen, ist weitgehend auf Ablehnung gestoßen (vgl. etwa Nippel 2005a, 55, 178 oder Dissen 2009, 40). Auch Hans Kloft versucht in seinen 1998 erschienenen „Überlegungen zu Mommsens Staatsrecht“ nachzuweisen, dass sich im „Staatsrecht“ tagespolitische Überzeugungen Mommsens niedergeschlagen hätten. Die starke Betonung einer juristischen Verantwortlichkeit des Magistrats gegenüber der Gemeinde ist für Kloft Ausdruck
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züge der Forschungsdiskussion sind mit den genannten Beispielen hinreichend umrissen. Motiviert von den verstreuten Andeutungen der Überschussanalytiker, scheint es lohnend, die These der Defizittopiker kritisch am Text zu überprüfen. Ist es wirklich so, dass Mommsens Darstellung des römischen „Staats“ jegliche gesellschaftsgeschichtlichen Reflexionen ausschließt? Oder bezieht sie nicht doch stärker als bisher angenommen wurde Aspekte der römischen Sozialstruktur mit ein? Der dritte Band, der sogenannte „Bürgerschafts“-Band des „Staatsrechts“, sollte hierzu vorrangig beachtet werden. Denn während Mommsen in seiner Darstellung der „Magistratur“ in Band I bis II/2 in der Tat eine historische Entwicklung zumeist ausblendet, beschreibt er die Struktur der römischen „Bürgerschaft“ in Band III/1 sehr wohl diachron.143 Mommsen selbst hat sich nicht programmatisch zu seinem dritten Band geäußert, ihm kein Vorwort vorangestellt. Aus der intensiven Korrespondenz mit seinem Schwiegersohn Wilamowitz erahnt man aber, welche konzeptionelle Schwierigkeit ihm die Arbeit gemacht haben muss.144 Man erfährt hier auch, dass Mommsen am Ende wohl unter Zeitdruck stand und sehr schnell geschrieben hat: „[…] sechs Bogen in der Woche, die zu früher Morgenstunde nach der Marchstraße gebracht werden mußten“145. Das in seinen Augen innovative Kernstück des „Staatsrechts“, die systematische Behandlung der Magistratur, war 1875 vollendet worden und 1877 schon in einer zweiten Auflage erschienen. Der Abschnitt über die „Bürgerschaft“, der 1887 – zwölf Jahre nach dem ersten „Magistrats“-Band – erschien, erforderte eines liberalen Verständnisses des Rechtsstaats. Mommsens Akzent auf einer „Rückkopplung und Einbindung der politischen (…) Spitze an das ‚Volk‘“ (Kloft 1998, 426) sei zeitpolitisch motiviert, da ja auch in der politischen Gegenwart des Autors über das Verhältnis von Exekutive und Volkswillen heftig gestritten wurde. Die beiden Stützpfeiler des Mommsenschen Gedankengebäudes – starke Amtsgewalt und direkte Volkssouveränität – böten in ihrer Dialektik mithin eine direkte Parallele zu zeitgenössischen Verfassungsfragen nach dem Gleichgewicht zwischen Monarchie und konstitutioneller Einhegung durch das Parlament. Die Kontextgebundenheit des „Staatsrechts“ sei durch den Pandektistik-Vorwurf bisher verdunkelt worden, dabei fänden sich hier doch „bis in einzelne Wendungen“ (ebd. 429) zeitgenössische Denkmuster etwa eines Waitz, Albrecht oder Uhland (Kloft verweist auf Mommsens Deutung der tribunizischen Gewalt als „Tropfen demokratischen Oeles“ (Mommsen StR II/1 1887, 306), das er als Uhland-Zitat identifiziert). Bei Nippel heißt es hingegen provokativ und in gewisser Hinsicht polemisch gegen Egon Flaig und andere, „dass es sich beim Staatsrecht […] um ‚reine Wissenschaft‘ handelt, bei der sich auch bei äußerster Anstrengung keine versteckte politische Agenda erkennen lässt“ (Nippel 2013, 237, 12). Etwas widersprüchlich ist dann, dass Nippel die komplexe Beziehung zwischen Volksherrschaft und magistratischer Imperiumsgewalt im „Staatsrecht“ doch wieder zeitpolitisch, nämlich als „Reflex auf das im 19. Jahrhundert thematisierte Spannungsverhältnis zwischen monarchischem Prinzip und Volkssouveränität“ (ebd. 266) liest. 143 Man kann ihm deshalb auch einen „vollständige[n] Verzicht auf eine historische Aufgliederung des Stoffs“ (Kunkel 1984, 372) nicht vorwerfen. 144 Vgl. Calder III/Kirstein 2003, 378–444. Die Briefe 227 bis 274 befassen sich mit Einzelheiten des „Bürgerschafts“-Bandes. Wilamowitz las die Druckfahnen des „Bürgerschafts“-Bandes und kommentierte zum Teil ausführlich. Zum Verhältnis zwischen Mommsen und Wilamowitz vgl. generell Malitz 1985, 31, 55. 145 Calder III/Kirstein 2003, 385, 1209.
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nun in mancher Hinsicht eine alternative Darstellungsstrategie, da hier manches behandelt wurde, das außerhalb von Mommsens ursprünglich strenger Beschränkung auf die rechtlich definierbaren politischen Institutionen lag.146 3. GESELLSCHAFTSGESCHICHTLICHES ENTWICKLUNGSUND SCHICHTUNGSMODELL 3.1 „Patricische Gemeinde“ Ausgangspunkt von Mommsens Überlegungen zur römischen „Bürgerschaft“ ist die archaische Zeit des „Patricier“- bzw. „Geschlechterstaats“ vor den Ständekämpfen.147 Die freigeborenen männlichen Angehörigen der verschiedenen Geschlechter (gentes) bilden hier eine grundbesitzende Bürgerschaft, von der Mommsen politisch unmündige und gentillose Klienten absetzt. Die Zugehörigkeit zu einem Geschlecht, jenem „Verwandtschaftskreis“148 freigeborener, sich auf einen Stammvater berufender Individuen ist bedingt durch die „Thatsache der Zeugung“149 und in frühster Zeit gleichbedeutend mit dem Bürgerrecht. Nur wer Geschlechtsangehöriger ist, gilt als Bürger: „[…] jeder gentilis [ist] als solcher quiris“150. Die Ge-
146 Das deutet auch Alfred Heuß an, wenn er schreibt, dass im „Bürgerschafts“-Band doch der „Historiker“ Mommsen die Oberhand behalten hätte (vgl. Heuß 1956, 49). Zentrales Thema des dritten Teilbandes ist die Einteilung der römischen Bürgerschaft in unterschiedliche Personengruppen. Mommsen beschreibt hier in ausführlichen Kapiteln das Patriziat und die Klienten, die Freigelassenen, die Nobilität und die Ritterschaft. Unterbrochen werden die Abschnitte zu den einzelnen Personengruppen durch Ausführungen zur institutionellen Ordnung (Kompetenzen der Volksversammlungen, Tribus-Einteilung, Steuer- und Wehrpflicht usw.) und – zum Ende hin – von einem langen Abschnitt über Latiner und andere Untertanen Roms. Willems bemerkt in seiner Rezension nicht zu Unrecht, dass die völkerrechtlichen Passagen über die Provinzen und Untertanen dem Titel des Bandes „Die Bürgerschaft“ konzeptionell nicht mehr entsprechen würden (vgl. Willems 1889, 668). 147 Unbeachtet soll in diesem Zusammenhang das Verhältnis von Mommsen zur Annalistik und sein eigenwilliger Umgang mit den Quellen bleiben, der es ihm erlaubt, Quellenzeugnisse „geschichtlich“ zu verwerfen, aber „staatsrechtlich“ zu benutzen. Schon Benedictus Niese hatte 1888 bemerkt, Mommsen scheine „die Güte der annalistischen Tradition erheblich zu überschätzen, da er sie in sehr ausgiebiger Weise bei dem Aufbau besonders des älteren Staatsrechts benutzt“ (zit. nach Nippel 2005b, 175, 57). Vgl. dazu auch Kaerst 1904, 336. 148 Mommsen StR III/1 1887, 10, 3. Etwas gereizt schreibt Mommsen hier: „Der perverse Gedanke, dass gens nicht einen Verwandtschaftskreis bezeichnet, sondern einen politisch willkürlich abgegrenzten District, wird heutzutage keiner Widerlegung bedürfen.“ Dass sich Mommsen hier gegen eine Ansicht Niebuhrs wendet, belegt eine Parallelstelle in der Berliner Vorlesungsmitschrift (vgl. Mommsen Vorlesung II 2007 [gehalten 1866/67], 34). 149 Mommsen Abriss 1974 [1907], 1. Vgl. dazu auch Mommsen StR III/1 1887, 10; 34; 472, 3; Mommsen RG 1976 [1902], 151 [= I, 137]; Mommsen Vorlesung II 2007 [gehalten 1866/67], 32. Der Vater hat als Erzeuger von Natur aus die rechtliche Gewalt über das Kind. Mommsen leitet „aus der biologischen Gegebenheit einen Rechtsbegriff“ (Beheiri 2007, 299) ab. 150 Mommsen Abriss 1974 [1907], 2. Vgl. auch Mommsen StR III/1 1887, 29 bzw. 203; Mommsen Abriss 1974 [1907], 6; Mommsen Vorlesung II 2007 [gehalten 1866/67], 32. Vgl. dazu auch
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schlechtszugehörigkeit sichert dem Individuum das Bürgerrecht zu, Verlust der Gentilität führt auch zum Verlust des Status „Bürger“. Zu einem „Haus“ – jener Untereinheit des Geschlechts, für das eine rechtlich eindeutige Bezeichnung fehle, wie Mommsen angibt –151 gehören einerseits die unter der Gewalt des pater familias stehenden Blutsverwandten (sui bzw. liberi),152 andererseits das zum materiellen Eigentum zählende „Gesinde“153 (familia). Zusammen bilden „Haus“ und „Geschlecht“ für Mommsen einen zentralen Integrationskreis der sozialen Ordnung Roms. Als anderer wichtiger Integrationskreis gilt ihm die „Gemeinde“ (civitas), also die politische Sphäre, in der ursprünglich nur die freigeborenen männlichen Geschlechtsangehörigen berechtigt sind, zu agieren. Mommsen teilt die frühe römische Bürgerschaft in zwei Großgruppen: die geschlechtsangehörigen, politisch aktiven Vollbürger (quirites) auf der einen und die nichtbürgerlichen Klienten (clientes) auf der anderen Seite. Diese hätten „in der Epoche des Patricierstaats […] unmöglich so wie später eigene Geschlechtsverbände“154 gebildet und seien vielmehr „ausserhalb der Gentilität“155 zu verorten. Sie sind in Mommsens Konzeption mithin Gemeindeangehörige ohne Bürgerrecht. Er definiert ihren Status wiederholt mit einer ambivalenten Formulierung als eine „zwischen Freiheit und Unfreiheit schwankende Mittelklasse“156. Sie sind ihm Einwohner Roms ohne Bürger- und Ehrenrechte und stehen außerhalb der Geschlechterverbände, obgleich sie Gemeindeangehörigkeit besitzen und „nicht minder Römer wie die Patricier“157 sind. Polemisch nennt er die Klienten einen Kreis „abhängig freier Leute“158, die vielfältige personenrechtliche Diskriminierung hinnehmen und in politischer und ökonomischer Gehorsamsbeziehung zu einem Patron stehen, in dessen Geschlechtsordnung sie sich durch Annahme seines Geschlechtsnamens eben nur als „Geschlechtsange-
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Willems 1889, 661: „Nach Mommsen hängt das Bürgerrecht anfänglich mit der Eigenschaft als aktives Mitglied der gens zusammen, mit Ausschluß der Klienten.“ Vgl. Mommsen StR III/1 1887, 10: „Seltsamer Weise fehlt der lateinischen Terminologie ein mit populus oder gens gleichstehendes Wort für das Haus.“ Linke attestiert Mommsen auf diese Stelle anspielend, „die eigenartige Konstruktion der frührömischen Sozialordnung“ (Linke 2014, 74, 27) durchschaut zu haben. [Die Zahl hinter der Seitenangabe bezieht sich im Folgenden generell auf die jeweilige Fußnote.] Frauen besitzen beispielsweise das Bürgerrecht und damit eine „steuer- und erbrechtliche Stellung“ (Mommsen StR III/1 1887, 9, 1). Trotzdem fehlen ihnen politische Rechte, gehört die Frau „dem Hause, nicht der Gemeinde an“ (Mommsen RG 1976 [1902], 71 [= I, 56]). Mommsen StR III/1 1887, 10, 2. Dass Mommsen die moderne Definition der „Familie“ nicht auf die römische Vergangenheit überträgt, belegt auch Mommsen Vorlesung II 2007 [gehalten 1866/67], 35, wo die „Familie“ folgendermaßen definiert wird: „Sie bezeichnet einen Complex von Rechtsobjekten; die Gesammtheit der Sclaven und daher überhaupt das Vermögen; der Name ist zu übersetzen etwa mit unserem ‚Gesinde und Gewese‘, ‚Habe‘.“ Mommsen StR III/1 1887, 32. Mommsen StR III/1 1887, 13. Vgl. auch Mommsen Abriss 1974 [1907], 6 f. Mommsen Abriss 1974 [1907], 11. Vgl. auch Mommsen StR III/1 1887, 54. Mommsen Abriss 1974 [1907], 11. Vgl. auch Mommsen StR III/1 1887, 55 und Mommsen Vorlesung II 2007 [gehalten 1866/7], 32. Mommsen RG 1976 [1902], 76 [= I, 61]. Vgl. auch Mommsen StR III/1 1887, 434. Im „Abriss“ nennt er sie „Halbfreie“ (Mommsen Abriss 1974 [1907], 13).
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hörige“, nicht als „Geschlechtsgenossen“159 einordnen. Mommsen meint allerdings – offensichtlich von der gängigen Forschungsmeinung abweichend –160, dass auch die Klienten einer Kurie angehörten, allerdings sei ihre Mitgliedschaft in der frühen Zeit, als ausschließlich die Geschlechtsmitglieder Vollbürger gewesen seien, nur „passiv“161 gewesen. Zum vollbürgerlichen Patron stehen die Klienten in einem erblichen Abhängigkeitsverhältnis ähnlich wie der Sohn zum Vater (pater), daher rühre auch die Bezeichnung patronus, so Mommsen.162 Bei alldem ist Mommsen völlig klar, dass ein solches Patron-Klient-Verhältnis nicht gesetzlich festgelegt ist, sondern nach informeller, sozial eingeübter Tradition funktioniert, „welche so wenig auf Vertrag beruht wie jede andere Form dieses Rechts“163. Eine Gehorsamspflicht des Klienten habe zwar sicher bestanden, sie trete aber in den überlieferten Quellen nicht als gesetzlich gefasste Norm hervor. Hinsichtlich etwaiger ökonomischer Verpflichtungen bleibe offen, „wie weit dies Liebespflicht war oder erzwingbares Recht“164, und die Prozessunterstützung des Klienten durch den Patron sei wahrscheinlich „mehr noch Herrenpflicht als Herrenrecht“165. Insgesamt resümiert Mommsen: „Der Patronat und die Clientel wurden im Allgemeinen mehr vom sittlichen als vom rechtlichen Standpunkt aufgefasst; der Schutzherr wie der Schutzbefohlene haben einander die Treue zu halten. Auch die Abhängigkeit dieses von jenem ist mehr factischer Art.“166 Folgerichtig ist dann, dass er zur Beschreibung der frührömischen sozialen Ordnung – anders als in der modernen Forschung zur frührömischen Gesellschaftsgeschichte –167 die Differenzierung in adlig und nicht-adlig vermeidet und statt dessen allein von „herrschenden“ und „dienenden“ Gliedern spricht.168 Mommsens 159 Mommsen StR III/1 1887, 66. Vgl. auch Mommsen Abriss 1974 [1907], 13 und Mommsen StR III/1 1887, 206. Sehr ähnlich auch Mommsen Gastrecht und Clientel 1864 [1859], 369. 160 Vgl. Anonymos 1888a, 626. Wilamowitz hingegen bestätigt Mommsens These in einem Brief vom 1.5.1887 (vgl. Calder III/Kirstein 2003, 415). 161 Mommsen Vorlesung II 2007 [gehalten 1866/67], 35. 162 Vgl. Mommsen StR III/1 1887, 62. Ebenso Mommsen Abriss 1974 [1907], 12 f. 163 Mommsen StR III/1 1887, 65,1. Vgl. auch Mommsen Gastrecht und Clientel 1864 [1859], 362. 164 Mommsen StR III/1 1887, 83 f. In Mommsens „Clientel“-Aufsatz heißt es: „Begreiflicher Weise ist diese sittliche Verpflichtung des Schutzherrn, für seine mittelosen Clienten im Leben und im Tode zu sorgen, niemals entwickelt worden zur rechtlichen Obligation.“ (Mommsen Gastrecht und Clientel 1864 [1859], 367). 165 Mommsen Abriss 1974 [1907], 14. Vgl. auch Mommsen Vorlesung II 2007 [gehalten 1866/67], 45. 166 Mommsen Abriss 1974 [1907], 14. Für den nicht gesetzlich festgelegten Charakter der frühen Klientelbeziehung vgl. auch Mommsen StR III/1 1887, 83 f. und ebd. 432. Auf das „Staatsrecht“ verweist in diesem Punkt auch Hermann Strasburger (vgl. Strasburger 1976, 104). 167 Prägnant z. B. bei Alföldy 2011, 18: „Ihre Gesellschaft gliederte sich in die zwei großen Gruppen des Adels und einer de facto unfreien Unterschicht.“ Vgl. auch Leppin 2010, 114. 168 Vgl. Mommsen StR III/1 1887, 32. Vgl. auch Mommsen Vorlesung II 2007 [gehalten 1866/67], 46. Mitunter bezeichnet er die dienenden Glieder auch als „Einsassen“ (Mommsen Sonderrechte 1864, 276; Mommsen RG 1976 [1902], 99 [= I, 84]; Mommsen Vorlesung I 1993 [gehalten 1852], 459). Dass seine Begrifflichkeit von zeitgenössischen Diskursen inspiriert sein könnte, ist durchaus möglich. Vgl. z. B. Heinrich von Treitschkes Ausruf von 1874: „Ohne die scharfe Scheidung eines herrschenden und eines dienenden Standes sind die Anfänge der Cultur weder nachweisbar noch denkbar.“ (zit. nach Nolte 2000, 42).
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zentrale – an Dionysios von Halikarnassos orientierte –169 These ist, dass Roms frühe Bürgerschaft ursprünglich nur Bürger und Nichtbürger, noch keine Differenzierung in Patrizier und Plebejer gekannt habe. Ein „plebejisches Bürgertum“ habe sich erst im Laufe der Zeit aus der Gruppe der clientes heraus entwickelt. Ursprünglich seien diese aber keine vollen Bürger, sondern Unterworfene, Freigelassene oder Zugewanderte gewesen, so Mommsens Vermutung, der damit unterstellt, „dass es sich bei den Klienten um eine eindeutig identifizierbare Personengruppe mit einem spezifischen Status gehandelt habe“170. Zur Bezeichnung der privilegierten Stellung der geschlechtsangehörigen Individuen reicht ihm folglich die Kategorie „Bürger“, denn „mit [einer] solchen ausschliesslichen politischen Berechtigung ist ein Adel unvereinbar, sondern, wer so ausschliesslich berechtigt ist, ist überhaupt allein Bürger“171. Auch in Mommsens Aufsatz über die „römischen Patriciergeschlechter“ heißt es, „daß die Patricier von Haus aus kein Adel gewesen sind, sondern der Inbegriff der Bürgerschaft“172. In seiner „Römischen Geschichte“ scheint Mommsen sogar explizit auf die Differenz zu einem mittelalterlichen Geblütsadel zu verweisen, wenn er betont, ursprünglich habe Rom nur aus „freien und gleichen Bauern bestand[en] und keines Adels von Gottes Gnaden sich zu rühmen vermocht“173. Es schwingt bei dieser scharfen Absetzung möglicherweise auch ein zeitgenössisch-liberaler, antiaristokratischer Impuls mit. Mommsens mehrmals wiederholte These, dass die Patrizier in der „romulischen“ bzw. „primitiven“174 Zeit die einzigen Bürger in der res publica gewesen seien und somit das alleinige Ensemble soziopolitischer Führungskräfte dargestellt hätten,175 findet seine Entsprechung in der Bezeichnung „Patricierstaat“, die Mommsen für das Rom vor den Ständekämpfen wählt.176 Die Diskriminierung der Klienten als „Nichtbürger“ ist die schärfste Konsequenz aus dieser Thesenbildung. Dass Mommsen mit seiner Auffassung von der ursprünglich ausschließlichen Bürgerschaft der Patrizier der gängigen Forschungsmeinung seiner Zeit widerspricht, hat schon ein zeitgenössischer Rezensent angemerkt.177 Traditionell folgte man der 169 Vgl. Dion. Hal. ant. II, 9–11. Vgl. kritisch dazu Drummond 1989, 89–110. 170 Nippel 2002a, 138. Peter Brunt wertet Mommsens These als „creatio ex nihilo“ (Brunt 1988, 401) und „sheer fantasy“ (ebd. 407). Auch Meier ist skeptisch: Vgl. Meier 1980, 26. 171 Mommsen Vorlesung II 2007 [gehalten 1866/67], 32. Diesem Bild widersprechen die Beschreibungsmodelle der neueren Forschung: „Die Idee des Bürgers war in Rom noch nicht geboren; die frühe Republik war eine Republik des Adels, der Patrizier.“ (Sommer 2013, 80). 172 Mommsen Röm. Patricier. 1864 [1861], 107. Sehr ähnlich auch Mommsen Sonderrechte 1864, 176 und Mommsen StR III/1 1887, 462. 173 Mommsen RG 1976 [1902], 77 [= I, 62]. 174 Mommsen StR III/1 1887, 127; 11, 2 175 Vgl. etwa auch Mommsen StR III/1 1887, 109 bzw. ebd. 462; Mommsen Sonderrechte 1864, 133; Mommsen Abriss 1974 [1907], 3 bzw. 29. Dass diese These mit Blick auf die Überlieferungslage durchaus zweifelhaft ist, vermerken auch schon einige zeitgenössische Kritiker (vgl. z. B. Holzapfel 1905, 213 und auch Rosenberg 1918, 202). 176 Vgl. etwa Mommsen StR III/1 1887, 19. Wahlweise auch „Geschlechtergemeinde“ (ebd. 32; Mommsen Abriss 1974 [1907], 17) bzw. „Geschlechterstaat“ (Mommsen StR II/1 1887, 133; Mommsen Abriss 1974 [1907], 18). 177 Vgl. Anonymos 1888a, 626.
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Annahme, dass die Klienten schon in der Frühzeit neben den Patriziern ebenfalls Bürger, wenn auch niederen Rechts, waren. Aber schon in seinem 1859 erschienenen Aufsatz über „Die römische Clientel“ mokiert sich Mommsen darüber, dass seine These von den ursprünglich nichtbürgerlichen Klienten, von denen sich die Plebejer seiner Meinung nach erst mit der Zeit abspalteten, den Einspruch einiger Philologen und Historiker provoziert habe. Diese Widerrede sei nicht ernst zu nehmen, „theils weil diejenigen Philologen, die vom römischen Recht nichts verstehen mögen, immer noch diese Fragen mit ihrem unklaren Gerede verwirren, theils weil sentimentale Historiker es nicht über sich gewinnen können, den Plebejern einen Ursprungsmakel anzuhängen“178. Mommsen gibt andernorts offen zu, dass seine Vermutung von einer uranfänglichen Unterscheidung in patrizische Bürger und nichtbürgerliche Klienten nicht explizit durch Quellenzeugnisse gedeckt sei und verweist damit auf den hypothetischen Charakter seiner Ausführungen: „Die Quellen sprechen es nicht aus, dass die dienenden Clienten einstmals Unfreie gewesen sind und die Patricier ursprünglich die Freien allein.“179 Nach römischer Auffassung seien ja „die Plebejer von Haus aus Bürger“180. Aber: „Da in Fragen dieser Art es Zeugnisse überhaupt nicht geben kann und unsere römischen Vorgänger so gut wie wir auf Rückschlüsse angewiesen waren, so werden wir, denen bei unendlich viel geringerer Kunde der weitere Horizont zu Statten kommt, hierin von ihnen abgehen dürfen.“181 Mommsen meint offensichtlich eine Inkongruenz ausmachen zu können zwischen dem, „wie die alten Schriftsteller sich die Dinge gedacht haben und wie sie wirklich gewesen sein mögen“182. Seine gesellschaftsgeschichtliche Generalthese für Roms Frühzeit lautet in jedem Falle, dass die Klientel „die zweite Geburtsstätte des römischen Gemeinwesens“183 gewesen sei, aus der heraus sich erst die Plebejer als Neubürger
178 Mommsen Gastrecht und Clientel 1864 [1859], 388. Zu den ganz „unsentimentalen“ Historikern zählt offensichtlich Wilamowitz, der in einem Brief vom 20.1.1887 an Mommsen seine „zustimmende Bewunderung“ für Mommsens These zur ursprünglichen Klientel ausdrückt (vgl. Calder III/Kirstein 2003, 389) und später darauf hofft, dass Mommsens Behandlung der Plebs nun „hoffentlich die menschen abhält, den gemishandelten [sic] gegenstand weiter zu quälen“ (Brief vom 29.1.1887, zit. nach Calder III/Kirstein 2003, 393). Die neuere Forschung ist Mommsens These gegenüber sehr skeptisch. Géza Alföldy meint: „Es wäre auf jeden Fall verfehlt, die Plebs einfach mit den Klienten des patrizischen Adels gleichzusetzen.“ (Alföldy 2011, 25) und plädiert dafür, in den Plebejern ursprünglich eine Schicht „freier Bauern“ zu sehen. Und schon Eugen Täubler (vgl. Täubler 1985b [1935], 7) und Ernst Meyer (vgl. Meyer 1964, 33) haben Einwände. 179 Mommsen StR III/1 1887, 69. Vgl. auch Mommsen Sonderrechte 1864, 137. An anderer Stelle verweist Mommsen auf den „hypothetische[n] Charakter der Urzustände“ (Mommsen StR III/1 1887, 420). Darauf geht in seiner Rezension auch Benedictus Niese ein (vgl. Niese 1888, 957). 180 Mommsen StR III/1 1887, 4. Ebenso Mommsen StR III/2 1888, 870. 181 Mommsen StR III/1 1887, 69. 182 Mommsen Sonderrechte 1864, 146. 183 Mommsen StR III/1 1887, 54. Vgl. auch. Mommsen RG 1976 [1902], 99 [= I, 84]. Dass hier wieder Cicero im Hintergrund steht, ist anzunehmen (vgl. De Rep. 2,16). Andernorts kokettiert Mommsen mit der historischen Unwägbarkeit der Entstehung der Plebejer: „Eine Vorgeschichte der Plebs liegt in unserer Überlieferung nicht vor. Sicher ist sie als Sonderkörper so
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entwickelt hätten. Die Klienten bilden somit in Mommsens Konzeption gewissermaßen die evolutionäre Vorstufe der Plebejer. 3.2 „Patricisch-plebejische Gemeinde“ Interessant ist, wie Mommsen den sozialen Umwandlungsprozess vom unfreien, „nichtbürgerlichen“ Klient zum freien, „neubürgerlichen“ Plebejer beschreibt. Nicht staatsrechtlich, sondern historisch, vom „realen Standpunkt“ blickt er auf ihn, denn gesetzlich sei die Loslösung nie festgelegt worden.184 Ausgangspunkt ist der gemeinsame Dienst im Heer. Wer „mit dem Patricier im Gliede stand und so gut wie er sich auf eigene Kosten die Rüstung beschaffte, mochte dessen Höriger noch heissen, konnte es aber der Sache nach nicht mehr sein“185. Die Einbeziehung des Klienten in den militärischen Dienst wirkt als ursprünglicher Katalysator für seine soziale Rollentransformation zum Plebejer. Sein militärisches Engagement als Soldat befeuert sein Streben auch nach politischer Gleichberechtigung als Bürger: „[…] alle Gegensätze gentilizischer und lokaler Natur“, heißt es in der „Römischen Geschichte“, würden durch den gemeinsamen Dienst für die Gemeinde aufgehoben und „[…] durch den mächtigen Hebel des nivellierenden Soldatengeistes Insassen und Bürger zu einem Volke […] verschmelzen“186. In einem Brief an Wilamowitz beschwört Mommsen die „gewaltige militärische Tendenz in dem römischen Wesen“, die „dem römischen Geschlecht die Aktion vollständig genommen“187 hätte. Mommsen sieht somit einen paradigmatischen Zusammenhang zwischen kollektiver militärischer Tätigkeit und einer sozialen Angleichung. Während der gemeinschaftliche Militäreinsatz mit den ehemaligen Klienten ursprünglich das „empfindliche kameradschaftliche Ehrgefühl“ der altbürgerlich-patrizischen Soldaten verletze, „es dem ehrenhaften Bürger nicht zugemuthet werden soll mit dem bescholtenen zu dienen“188, ändert sich diese Haltung in dem Moment, als die Einbeziehung neuer Streitkräfte militärisch vorteilhaft erscheint. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang ein kurzer Blick in den zweiten Artikel von Mommsens „Grundrechtskommentar“ von 1849, in dem er allgemeine soziale Veränderungen (Abschaffung der Adelsprivilegien und allgemeiner Zugang zu öffentlichen Ämtern) ebenfalls mit dem Militärwesen in Verbindung bringt:
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wenig im J. 260 auf dem heiligen Berg oder dem Aventin erschaffen worden wie Pallas Athene aus dem Haupt des Zeus entsprungen ist“ (Mommsen StR III/1 1887, 144). Vgl. Mommsen StR III/1 1887, 69. Ebd. 71. Vgl. auch ebd. 240 bzw. ebd. 272. Ebenso Mommsen Vorlesung II 2007 [gehalten 1866/67], 45; Mommsen Abriss 1974 [1907], 16; Mommsen RG 1976 [1902], 197 [= I, 92]. Dass Mommsen der Heergemeinschaft eine soziale Ausgleichsfunktion zugesteht, wird auch an anderen Stellen deutlich, vgl. Mommsen Vorlesung I 1993 [gehalten 1852], 460 („Die Gleichheit in der Kriegspflicht mußte weitere Angleichungen nach sich ziehen“). Mommsen RG 1976 [1902], 106 [= I, 91]. Vgl. auch Mommsen Sonderrechte 1864, 134. Brief an Wilamowitz vom 23.1.1887 (zit. nach Calder III/Kirstein 2002, 390). Mommsen StR III/1 1887, 251.
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V. Auf Schatzsuche in steinigem Terrain Dagegen wurden faktisch namentlich die Offizierstellen vorzugsweise mit Adlichen besetzt, weil man das Militär nicht als eine Anstalt zur Vertheidigung des Staats, sondern als eine Pensionsanstalt für arme Junker ansah; merkwürdig war dabei, daß nur bei den Posten in der Artillerie und im Genie, welche wirklich Kenntniß und Talent erforderten, mehr Bürgerliche als Adliche angestellt wurden. Die Folgen sah man – nicht auf den Paraden, aber bei Jena und sonst. Leider ist diese faktische Priviligirung des Adels bei Besetzung von Offizierstellen und der dadurch genährte Kastengeist in den Offiziercorps nicht mit den Freiheitskriegen zu Grabe getragen; es ist z. B. nachher noch vorgekommen, daß ein Offiziercorps in Breslau dem König eine Vorstellung eingab, sie wollten mit keinem Bürgerlichen dienen, und daß in Folge dessen der einzige bürgerliche Offizier dieses Regiments pensionirt ward.189
Dass Mommsens Wahrnehmung der römischen Frühzeit hier auch von zeitgenössischen Debatten und insbesondere der Forderung der „1848er-Bewegung“ nach einer allgemeinen Wehrpflicht frei vom Kastengeist der stehenden Heere beeinflusst worden sein könnte, ist zumindest nicht unplausibel. Im Laufe der Zeit, so führt Mommsen sein gesellschaftsgeschichtliches Entwicklungsmodell im „Staatsrecht“ fort, habe also die militärpolitische Notwendigkeit Fakten geschaffen und traditionelle Distinktionsgrenzen aufgelöst. Die römische Sozialordnung habe dadurch eine Veränderung erfahren und die Klienten seien nach einem langwierigen Prozess, insbesondere nachdem ihnen als militärische Mitstreiter auch Landbesitz ermöglicht worden war, rechtlich als stimmberechtigte Bürger, als „Plebejer“, anerkannt worden.190 Es ist folglich vor allem der – wann auch immer genau zu datierende – Moment des aktiven Stimmrechts in der Volksversammlung, an den Mommsen die volle Bürgerlichkeit des ehemaligen Klienten knüpft, wo sich die rein „patricische“ zur „patricisch-plebejischen Gemeinde“191 wandelt. Bürger sein heißt für Mommsen mithin in erster Linie Stimmberechtigter sein, wenn auch mit diskriminiertem Stimmrecht: „Wer, sei es auch in noch so ungleicher Weise, an der Bürgerversammlung Antheil hat, ist Bürger“192, so Mommsen, der damit auf die sozialintegrative Kraft der Volksversammlung verweist.193 Die Unterscheidung zwischen Klienten und Plebejern, zwei Gesellschaftsgruppen, die „im Grunde identisch und nur durch ein Minder oder Mehr an politischen
189 Mommsen Grundrechtskommentar 1969 [1849], 22. 190 Vgl. Mommsen StR III/1 1887, 246: „Die Nichtpatricier müssen von dem Augenblick an, wo die Wehrpflicht auf sie erstreckt ward, Betheiligung auch an den Comitien erlangt haben.“ Vgl. zum Landbesitz bei Mommsen als ursprüngliches Exklusivmerkmal der patrizischen gentes Momigliano 1982, 16 f. 191 Mommsen StR III/1, 127. Auf die die Korrelation zwischen Stimmrecht und Bürgerstatus bei Mommsen verweist auch Willems 1889, 662. 192 Mommsen StR III/1 1887, 127. Ähnlich auch ebd. 71. Dass die Stimmen der Plebejer, die kein eigenes Land besaßen bzw. ökonomisch minderbemittelt waren, in den nach Besitz hierarchisierten Abstimmungen der Volksversammlung wenig Gewicht hatten, „das Stimmrecht der nicht Ansässigen geradezu illusorisch erscheinen“ (Mommsen Abriss 1974 [1907], 27) musste, ist Mommsen dabei natürlich klar. 193 Übrigens war es nach eigenen Angaben unter anderem die Faszination für die Organisationsprinzipien der römischen Volksversammlung, die den jungen Juristen Mommsen dazu verleitete, das Fach zu wechseln und Historiker zu werden (vgl. Wickert 1959, 166).
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Rechten“194 voneinander getrennt seien, findet ihren paradigmatischen Ausdruck also im aktiven Wahlrecht: zunächst in den Zenturien-195 und Tribuscomitien,196 dann auch in den Kurienversammlungen197 dürfen die ehemaligen Klienten abstimmen. Damit einhergehend sieht Mommsen aber ursprünglich auch eine politische Funktionalisierung sozialer Abhängigkeitsverhältnisse wirksam werden: In den ersten plebejischen Volksversammlungen (concilia plebis) etwa, die noch nach Kurien strukturiert waren, hätten „die adlichen Geschlechter durch ihre Hörigen in dieser Versammlung einen entscheidenden Einfluss besessen“198. Da die Plebejer als ehemalige Klienten immer noch in einer psychologischen Abhängigkeit zu den Patriziern stehen, ist ihre Wahlentscheidung noch nicht frei, so suggeriert Mommsen. Auch freigelassene Sklaven, die jetzt Plebejer werden, vergeben ihre Stimme je nach dem Interesse ihrer ehemaligen Herren: Dass späterhin nicht die adlige Oberschicht selbst für die politische Diskriminierung der Freigelassenen verantwortlich gewesen sei, wäre mithin nicht verwunderlich, da sie ja von der politischen Beteiligung der Freigelassenen nur profitiert hätte.199 Insgesamt ist Mommsen dann aber hinsichtlich der klassischen und späten Republik mit Blick auf die Stabilität der Bindungen, insbesondere bei der Frage nach der tatsächlichen, also nicht idealtypischen Abhängigkeit des Klienten von seinem Patron, zunehmend skeptisch. Allein die schiere Masse der neubürgerlichen Plebejer habe „die persönlichen Beziehungen“200 untergraben. Mit der Zeit habe sich das erbliche Klientelverhältnis aufgrund der Vermassung naturgemäß abgeschwächt. Die Plebejer hätten zwar rein rechtlich betrachtet noch bis in die Spätrepublik hinein als Klienten gegolten, „aber die juristische Formulirung war auch hier der lebendigen Thatsache gegenüber um Jahrhunderte im Rückstand“201. Denn mittlerweile, so suggeriert Mommsen, stand faktisch die Vielzahl der Klienten nicht mehr in einer Abhängigkeitssituation, son194 Mommsen StR III/1 1887, 66. In Mommsens „Abriss“ heißt es: „Clientel und Plebität fallen ebenso begrifflich zusammen wie factisch auseinander“ (Mommsen Abriss 1974 [1907], 11). Vgl. auch Mommsen Vorlesung II 2007 [gehalten 1866/67], 45; Mommsen RG 1976 [1902], 103 [= I, 88] und Mommsen Gastrecht und Clientel 1864 [1859], 365 bzw. 388. 195 Mommsen StR III/1 1887, 127. 196 Mommsen Sonderrechte 1864, 166. 197 Vgl. ebd. 145 bzw. 149. Vgl. auch Mommsen StR III/1 1887, 94 (mit 209 v. Chr. als terminus ante quem für eine plebejische Beteiligung). 198 Mommsen StR III/1 1887, 152. Vgl. auch Mommsen Sonderrechte 1864, 187. Eine interessante Parallele bieten dazu Mommsens zeitgenössische Vorbehalte gegenüber einem allgemeinen Wahlrecht: „Wer in fremdem Lohn und Brot stand, d. h. Dienstboten und Knechte, sollten ausgeschlossen bleiben, da sie nur die Partei ihrer Herren verstärkten.“ (Mommsen in der Schleswig-Holsteinischen Zeitung vom 10.9.1848, zit. nach Wucher 1968, 163). 199 Vgl. Mommsen StR III/1 1887, 435, wo Mommsen, die Mechanismen der „schichtenübergreifenden“ Nah- und Treubeziehungen durchschauend, Dion. Hal. ant. IV, 22 zitiert, der ausführt, wie der König Tullius die Patrizier auf die Vorteile aufmerksam macht, die ihnen aus der politischen Mitbeteiligung der Freigelassenen erwachsen. Zu Dionysios als „Referenzrahmen sowohl antiker als auch moderner Diskussionen zur Bedeutung frührömischer Bindungsverhältnisse“ vgl. Ganter 2015, 2. 200 Mommsen StR III/1 1887, 70. Vgl. ebenso Mommsen RG 1976 [1902], 76 [= I, 61]. Vgl. dazu ausführlicher: Bleicken 1995, 30 f. 201 Mommsen StR III/1 1887, 70.
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dern agierte als freie Bürgerschaft. Andernorts vergleicht Mommsen diesen Umstand damit, „wie im Mittelalter die eignen Leute des Königs faktisch dem Stand der Gemeinfreien sich näherten“202. Um der politischen Unselbständigkeit der Plebejer aufgrund persönlicher Abhängigkeitsbeziehungen auch institutionell entgegenzuwirken, sei dann schon gegen Ende des 5. Jahrhunderts die nach dem Geschlecht geordnete Kurie als Abstimmungseinheit der Plebejerversammlung durch die sich nach Grundbesitz richtende Tribus ersetzt worden, um dadurch „die factisch von den Altbürgern abhängigen von den factisch unabhängigen Gemeindeangehörigen, die Clienten von den Plebejern zu sondern“203. Denn während – so Mommsen unter Bezugnahme auf Livius – „bei den bisherigen Wahlen […] die Patricier durch ihre Clienten großen Einfluß gehabt hätten“, weil „die Masse der Freigelassenen und sonst abhängigen Leute […] sowie die Clienten der großen Häuser“ in ihrem Wahlverhalten fremdbestimmt waren, stimmten in der Tribus jetzt „nur die ansässigen Bürger“.204 Der patrizischen Einflussnahme durch ihre abhängigen Klienten wurde also durch die Umstellung der Abstimmungseinheit von „Geschlecht“ auf „Wohnsitz“ eine Grenze gesetzt.205 Der faktischen sozialen Neuordnung entspricht damit, so argumentiert Mommsen, eine Veränderung auch auf der rechtlich-verwaltungspolitischen Ebene. Nicht mehr die Kurie ist der dominierende Ordnungsfaktor, sondern die Tribus, der lokale Bezirk, der „am persönlichen Grundbesitz haftet“206. Mommsen geht davon aus, dass die sogenannte „servianische“ Zensusordnung erst um die Mitte des dritten Jahrhunderts v. Chr. in Kraft trat.207 Die „ohne Standesunterschied“208 nach Vermögenssätzen (nicht mehr Geburt oder Grundbesitz) schichtende servianische Zenturienordnung ist für Mommsen damit gewissermaßen der Punkt, an dem die soziale Rollentransformation des Klienten ihren endgültigen institutionenrechtlichen Ausdruck findet. Generell konnte die Plebejerversammlung durch die Umstellung ihres Organisationsprinzips von Kurie auf Tribus an Unabhängigkeit gewinnen – eine wichtige Errungenschaft des sogenannten „Ständekampfes“: „Die plebejische Opposition 202 Mommsen Vorlesung I 1993 [gehalten 1852], 459. 203 Mommsen StR III/1 1887, 152. 204 Vgl. Mommsen Sonderrechte 1864, 186 f. Vgl. dazu auch Mommsen RG 1976 [1902], 292 [= I, 278]. 205 Vgl. Mommsen StR III/1 1887, 198: „Wie die Verwaltung der patricischen Gemeinde um die Curie, so bewegt sich die der patricisch-plebejischen um die Tribus.“ 206 Mommsen StR III/1 1887, 168. Ebenso Mommsen Sonderrechte 1864, 151. Auf Mommsens „Meinung, daß die Tribus ursprünglich am Grund und Boden haften (Bodentribus) und die personale Tribus später aus der des Bodens abgeleitet ist“ (Willems 1889, 662), verweist in seiner Rezension kritisch Pierre Willems. 207 Vgl. Mommsen StR III/1 1887, 247. Mommsens These ist sogar, dass auch die Heereszenturien ursprünglich nach „Bodeneigenthum“ und erst in der Zeit des ersten Punischen Krieges nach „Geldansätzen“ geschichtet wurde. 208 Mommsen Vorlesung II 2007 [gehalten 1866/67], 47 f. Deshalb argumentiert Mommsen hier auch gegen die Vorstellung von etwaigen rein patrizischen suffragia in den Reitercenturien der servianischen Zenturienordnung und betont andernorts auch, dass „die servianische Ordnung ihr Princip den Patricier und den Plebejer gleichzustellen in vollständiger Allgemeinheit durchgeführt hat“ (Mommsen Sonderrechte 1864, 135).
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ruhte eben auf dem besitzenden Mittelstand; von dem Augenblick an, wo die nichtansässigen Leute aus ihrer Versammlung entfernt waren, war sie organisirt und begann ihre politische Macht zu entfalten.“209 Die Möglichkeit zur Übernahme eines politischen Amtes, also das passive Wahlrecht, eröffnet den vornehmen Plebejern dann späterhin den sozialen Aufstieg endgültig, denn als fundamentales Prinzip gelte bis in die Spätrepublik hinein, „dass die Bekleidung eines curulischen Amtes den Plebejer aus der Clientel löse“210. Mommsen sieht die diskriminierende Behandlung der Plebejer bei der Landverteilung als ursprünglichen „Anlass“211 dafür, dass die Plebejer neben den aktiven auch volle passive Wahlrechte einfordern, um über Bodenrechtsfragen mitbestimmen zu können. Den mit der Ämterausübung einhergehenden sozialen Prestigegewinn hebt Mommsen dann ebenfalls hervor: Ein Plebejer tritt aus der Klientelbeziehung heraus „durch Bekleidung eines römischen Amts wegen des mit diesem verbundenen Quasi-Patriciats“212. Mommsen geht also von einer „politischen Integration“213 militärisch aktiver, grundbesitzender Plebejer aus. Die urtümlich-einfache Unterscheidung in Patrizier und Nichtpatrizier, in Bürger (patres), die herrschen, und Schutzbefohlene (clientes), die „nur zu dienen und zu steuern hatten“214, wird in einem langwierigen Prozess – Täubler meint hinter Mommsens Entwicklungsschilderung die Denkfigur einer „Bauernbefreiung“215 zu erkennen, Willems spricht von einer „Standeserhebung“216 – aufgehoben und durch eine neue Sozialordnung ersetzt. Eine Gruppe aus ehemals Unfreien erkämpft sich den Status des „Vollbürgers“217 und wird Teil der politisch aktiven Bevölkerung. Prinzipiell scheint Mommsen große Sympathie mit dem Befreiungskampf der Minderprivilegierten zu haben. Den Oppositionsgeist und die geregelte Selbstorganisation der Plebejer in den Ständekämpfen preist der „Altachtundvierziger“ sogar als „großartigste[n] Anwendung des weltbelebenden Princips der freien Association, die die Geschichte jemals gesehen hat“218. Die zu freiem Plebejerstatus gelangten ehemaligen Klienten, die „Neubürger“219, wie Mommsen sie auch nennt, stehen dann wiederum „politisch in scharfem 209 Mommsen Sonderrechte 1864, 187. Vgl. auch Mommsen RG 1976 [1902], 292 [I, 278] bzw. Mommsen StR III/1 1887, 281. 210 Mommsen StR III/1 1887, 69 mit Verweis auf die berühmte Plutarch-Stelle (Plut. Mar. 5,7). Ähnlich argumentiert Mommsen schon im „Clientel“-Aufsatz (vgl. Mommsen Gastrecht und Clientel 1864 [1859], 365). Vgl. auch Mommsen RG 1976 [1902], 272 [= I, 258] und den Brief an Wilamowitz vom 9.5.1887 (Calder III/Kirstein 2003, 418). 211 Mommsen StR III/1 1887, 84. 212 Mommsen Abriss 1974 [1907], 16. Vgl. dazu auch Mommsen StR III/1 1887, 422. 213 Für das Konzept der „politischen Integration“ vgl. Winterling 2001a, 108–111. 214 Mommsen Vorlesung II 2007 [gehalten 1866/67], 46 („steuern“ bedeutet in diesem Fall: „Steuern zahlen“, Anm. s. St.). Vgl. auch Mommsen StR III/1 1887, 462. 215 Täubler 1985b [1935], 8. Er meint auch, dass sich Klient nicht von cluens (Höriger), sondern von clino (Anlehnender) herleitet und widerspricht damit Mommsens These von der Entstehung der Klientel entschieden. 216 Willems 1889, 662. 217 Vgl. Mommsen StR III/1 1887, 203. 218 Mommsen Sonderrechte 1864, 280. 219 Ebd. 135.
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Gegensatz“220 zu den abhängig gebliebenen Klienten. Denn die Plebejer werden den patrizischen Vollbürgern nach und nach zumindest äußerlich gleichgestellt, wie sich unter anderem daran zeige, dass den Plebejern neben dem gleichberechtigten aktiven Wahlrecht (ius suffragii) auch das Recht ihrer politischen Amtsträger auf Bilderaufstellung im Atrium (ius imaginum) und der Gebrauch der patrizischen Individualnamen zugestanden worden sei.221 Insbesondere in der Namensgleichheit sieht Mommsen einen deutlichen Beweis für den sozialen Angleichungsprozess. Mit erkennbarer (möglicherweise auch zeitpolitisch motivierter) Anteilnahme schreibt er dazu: „Die demokratische Entwicklung der späteren Jahrhunderte der Republik liegt hier wie im Spiegel vor uns, das erfolgreiche Bestreben den Gegensatz des Adlichen und des Bürgerlichen und weiter des vornehmen und des geringen Bürgers wo nicht zu verwischen, doch zu übertünchen und ihm wenigstens den nomenclatorischen Ausdruck zu nehmen.“222 In diesem Satz, der selbst vom Spiegel spricht, spiegelt sich auch ein Stück von Mommsens gesellschaftsgeschichtlicher Konzeption. Erstens geht er von einer „Entwicklung“ aus, nennt diese sogar „demokratisch“. Zweitens benutzt Mommsen jetzt zur Beschreibung der beiden zentralen sozialen Gruppen (Plebejer und Patrizier) das moderne – und seiner eigenen Zeit wohlbekannte – Gegensatzpaar „bürgerlich“ und „adlig“.223 Und drittens deutet er hier an, dass die Distinktion zwischen Alt- und Neubürgern nur „übertüncht“, nicht wirklich abgeschafft sei. Mommsen trennt zwischen äußerem Erscheinungsbild und verdeckter Tatsache – er suggeriert, dass trotz formaler Rechtsgleichheit hinter den Kulissen weiterhin Privilegierung nach sozialer Herkunft stattgefunden habe. 3.3 Anhaltende Vormachtstellung der Patrizier Als Ergebnis komplexer historischer Entwicklungen sieht Mommsen das ursprüngliche Schichtungsschema Bürger vs. Nichtbürger durch die Kategorie des „neubürgerlichen“ Plebejers aufgebrochen – der Plebejer, der das enge Gewand des Klienten durch die Ertrotzung bürgerlicher Rechte abstreift, wechselt in einen neuen Rechtsstatus und damit auch in eine neue soziale Rolle. Er ist freier Bürger, nicht mehr Abhängiger. Allerdings entsteht nun, da der Plebejer ebenfalls den Bürgerstatus für sich beansprucht und der römische populus nicht mehr nur die Altbürgerschaft, sondern ebenso die Plebejer umfasst, auch ein neues Distinktionsbewusst220 Mommsen Gastrecht und Clientel 1864 [1859], 388. 221 Vgl. Mommsen StR III/1 1887, 203. Ebenso Mommsen StR I 1887, 443. Auf die Individualnamen als „kennzeichen der politischen rechte“ (Calder III/Kirstein 2003, 406) verweist in seinem Brief vom 27.2.1887 auch Wilamowitz. 222 Mommsen StR III/1 1887, 204. Vgl. für die Bezeichnung „demokratische Entwicklung“ für die Zeit nach den Sextisch-Licinischen Gesetzen auch Mommsen StR II/1 1887, 187 und Mommsen StR III/1 1887, 280. 223 Auch in Mommsens „Abriss“ wird das Gegensatzpaar wiederholt verwendet (vgl. Mommsen Abriss 1974 [1907], 21 bzw. 31). Vgl. ebenso Mommsen Sonderrechte 1864, 141; 148; 169; 176; 252. In der „Römischen Geschichte“ ist von „Junkertum“ und „Bauernschaft“ die Rede (vgl. Mommsen RG 1976 [1902], 272 [= I, 258]).
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sein bei den Patriziern. Durch die Homogenisierungstendenzen in ihrer sozialen Exklusivität bedroht, suchen die Altbürger nach neuen Wegen, um ihre vornehme Identität zu sichern. Mommsen bringt das neuerwachte Standesgefühl der Patrizier jetzt mit dem Begriff „Adel“ in Verbindung, eine Charakterisierung, die er von nun an nutzt, um die ursprünglichen Alt- von den Neubürgern sozial bzw. „ständisch“ zu unterscheiden.224 Denn die patrizischen Altbürger setzen sich in Reaktion auf die rechtliche Angleichung der Plebejer sozial von den „Neubürgern“ ab, indem sie „mehr und mehr zu einem Adelsstand einschwinden“225. Die Unterschiede im Ansehen, in der sozialen Schätzung, bleiben daher trotz aller Assimilierungserfolge der Plebejer weiterhin bestehen. Dafür führt Mommsen interessante Beweise an: Etwa am „Libertineninstitut“226, also der akzeptierten Praxis, dass freigelassene Sklaven nun zu gleichberechtigten Bürgern werden konnten, zeige sich ja, dass die Patrizier gegenüber dem neuen Bürgerrecht der Plebejer eine gewisse „Geringschätzung“227 gehegt hätten. Ihnen musste das plebejische Neubürgerrecht „lange nachdem es rechtlich zum Bürgerrecht geworden war […] als nicht voll“228 gelten. Denn wenn sie dieses neue Bürgerrecht wirklich ähnlich hoch geschätzt hätten wie ihr eigenes, auf vornehmer Geburt beruhendes, dann hätten sie sich gegen die flächendeckende Verteilung mehr zur Wehr gesetzt, so spekuliert Mommsen. Da aber trotz rechtlicher Angleichung ihre soziale Distinktion bestehen blieb, das gentilizische Gewicht weiterhin schwer wog, konnte sie auch nicht stören, dass sich ein ehemaliger Sklave auf einmal „Bürger“ nennen durfte. Mommsen pointiert in der Fußnote: „In diesem Satz [der besagt, dass jeder Eigentümer seinen Sklaven freilassen und zum Bürger machen könne, Anm. S. St.], schroff und man möchte sagen höhnisch, wie er auftritt, darf man den Sinn erkennen, in welchem der römische Patriciat den Plebejer als Bürger gelten liess; ihm blieb er Client und die Reinhaltung dieser Bürgerschaft lag keineswegs in seinem Interesse.“229 Der Plebejer bleibt trotz gesetzlicher Gleichstellung ein Bürger zweiter Klasse: „Die Plebität ist […] dem Bürgerrecht nicht gleichwerthig, aber gleichartig“230, schreibt Mommsen und weist damit auf eine Paradoxie hin: Auch nachdem sie gesetzlich zum Bürger aufgewertet wurden, dauert die faktische Diskriminierung der Plebejer an, während sich die ehemaligen patrizischen Altbürger über die soziale Distinktionsfigur eines „Adelsstandes“231 von der Gesamtbürgerschaft abgrenzen und weiterhin Macht und Prestige sichern. 224 Vgl. Mommsen Abriss 1974 [1907], 29 („Erbadel“); Mommsen Vorlesung II 2007 [gehalten 1866/67], 46 („Erbadel“); Mommsen StR III/1 1887, 128 („erbliche Adelschaft“); Mommsen RG 1976 [1902], 272 [= I, 258] („Geschlechtsadel“). 225 Mommsen Vorlesung I 1993 [gehalten 1852], 459 f. Zur Bezeichnung „Adelsstand“ für Patrizier in republikanischer Zeit vgl. auch Mommsen Sonderrechte 1864, 132. 226 Mommsen StR III/1 1887, 128. 227 Mommsen Abriss 1974 [1907], 18. Vgl. dazu auch Mommsen Vorlesung I 1993 [gehalten 1852], 460. 228 Mommsen StR III/1 1887, 128. 229 Mommsen StR III/1 1887, 131,1. Vgl. mit etwas skeptischerem Unterton dazu auch Mommsen Vorlesung II 2007 [gehalten 1866/67], 46. 230 Mommsen StR III/1 1887, 146. 231 Mommsen RG 1976 [1902], 267 [= I, 253].
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Die andauernde Benachteiligung der Plebejer macht der Autor des „Staatsrechts“ des Weiteren daran fest, dass sie beim Landbesitz benachteiligt und auch beim aktiven wie passiven Wahlrecht faktisch eingeschränkt worden seien: „[…] ein bevorzugtes Stimmrecht hat die Altbürgerschaft noch lange und nicht minder die alleinige oder doch bevorzugte Besetzung der Aemter wie der Priesterthümer behauptet“232. Etwa bei der Bestellung des princeps senatus233 oder des Konsulats234 lasse sich anhand prosopographischer Studien erkennen, dass der Zugang auch nach 367/6 v. Chr. „thatsächlich“ oft nur den Patriziern gewährt wurde. Mommsen mutmaßt allerdings, dass schon vor den Sextisch-Licinischen Gesetzen und diese in gewisser Hinsicht antizipierend, eine Möglichkeit bestanden habe, den Plebejern die äußere Amtsgewalt eines Konsuls zu verleihen. Man habe dadurch den Plebejern „das höchste Amt, nicht aber die höchste Amtsehre“235 gewährt. So verfügte etwa der plebejische Konsulartribun zwar über eine ähnliche Kompetenz wie der Konsul, aber eben nicht über eine vergleichbare Ehrenstellung. Er darf nicht „die an das bekleidete Amt sich knüpfenden Ehrenrechte in Anspruch nehmen“236, also etwa im Senat nicht loco consulari sprechen, den Purpursaum tragen oder seine imago im Ahnensaal aufhängen. Das „symbolische Kapital“237 eines politischen Amtes wird dem Plebejer bis auf weiteres vorenthalten. Sein sozialer Status bleibt trotz rechtlicher Angleichung diskriminiert. Daher sei die gesetzliche Gleichstellungs-Regelung von 367/6 v. Chr., die den Plebejern die volle Ausübung des Konsulats (bzw. theoretisch sämtlicher patrizischer Ämter)238 und damit auch die Erlangung der Amtsehren zusicherten, „keines232 Mommsen Abriss 1974 [1907], 16. Vgl. auch Mommsen StR III/1 1887, 67, wo Mommsen den Plebejern ein „ungleiches Bürgerrecht“ zuspricht. Vgl. auch Mommsen Sonderrechte 1864, 280 („minderes Bürgerrecht“) und Mommsen Vorlesung I 1993 [gehalten 1852], 460 (das „schlechteste“ Bürgerrecht, „welches im Ganzen nur Pflichten, nicht Rechte enthielt“) bzw. ebd. 462 („aktives, wenn auch noch sehr beschränktes Bürgerrecht“). Etwa für die Ausübung eines Waffentanzpriesteramtes der Salier wurde, wie Mommsen angibt, „der Patriciat“ gefordert (vgl. Mommsen StR II/1 1887, 32 bzw. ebd. 65, 2). 233 Vgl. Mommsen StR III/2 1888, 868 (hier gegen die These von Willems gerichtet, der meint, dass in nachsullanischer Zeit der princeps senatus auch plebejisch gewesen sein kann). Vgl. auch Mommsen Eigennamen 1864 [1860], 92; Mommsen Vorlesung II 2007 [gehalten 1866/67], 72. Mommsens These, „daß der Vormann des Senats zu allen Zeiten Patricier hat sein müssen“ (Mommsen Eigennamen 1864 [1860], 94), widerspricht etwa auch Rainer 2006, 132. Affirmativ ist Meier 1984, 191 f. 234 Vgl. Mommsen StR II/1 1887, 79. 235 Mommsen Claudier 1864 [1861], 297. Hier angeführt zur Erklärung, warum der erste Decemvirat ausschließlich aus Patriziern bestand. Vgl. sehr ähnlich auch Mommsen StR II/1 1887, 79, 1. 236 Mommsen StR II/1 1887, 190. Vgl. auch Mommsen Vorlesung I 1993 [gehalten 1852], 462 und Mommsen RG 1976 [1902], 303 f. [= I, 289 f.], wo von einer „kränkenden Zurücksetzung“ die Rede ist. 237 Zum (im Folgenden als terminus technicus verwendeten) Begriff vgl. Bourdieu 1983, 187 bzw. 195. 238 Vgl. Mommsen StR II/1 1887, 339. Die Zulassung zu allen Ämtern sei nicht mit Bestimmtheit festzumachen, aber „allem Anschein nach“ sehr wahrscheinlich (vgl. Mommsen Abriss 1974 [1907], 31).
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wegs eine Etiketten-, sondern eine Machtfrage“239 gewesen. Andererseits aber bleiben auch nach 367/6 v. Chr. „die dem römischen Wesen tief eingeprägten Adelsvorrechte“240 bestehen und die patrizische Herkunft behauptete sich in bestimmten Kontexten nach wie vor. Es behalten die „Geschlechtsgenossen gewisse Vorrechte“241. Beispielsweise in der Senatsumfrage stimmen innerhalb der Amtsklassen weiterhin die Patrizier zuerst.242 Ebenso werden die principes senatus und interreges weiterhin patrizisch besetzt,243 sodass bei der internen Kommunikation zwischen den Magistraten der Unterschied des Standes „wohl eingriff“, wie Mommsen schreibt, um gleichzeitig auf den rein sozio-strukturellen Charakter solcher Umgangsformen hinzuweisen: „[…] sorgfältig hat man es verhütet, dass irgendeiner dieser factischen Vorzüge oder Nachtheile zum Rechtsvorzug oder Rechtsnachtheil sich entwickelt“244. Im Gegenteil erhielt der plebejische Senator durch das Sextisch-Licinische Gesetz neben der Stimmberechtigung auch das Vorschlagsrecht und dadurch „wenigstens die Möglichkeit der Gleichberechtigung im Senat“245. Aber auch in anderen Kontexten bleibt der soziale Distinktionsmechanismus nach Mommsens Dafürhalten bestehen, eine Tatsache, „gegen die das Gesetz nichts vermag“246. So hätten etwa ausschließlich die Patrizier Zugriff auf die auspicia publica und damit eine exklusive Beziehung zu den Göttern gehabt. Mommsen spricht von einem „patricischen Reservatrecht“, an dem die Plebejer „zu keiner Zeit Antheil gehabt haben“247. Auch sonst behalten die Patrizier bei religiösen Ämtern ihre Machtposition, bleiben etwa die Priesterstellen der Flaminate und reges sacrorum bis in die Kaiserzeit hinein ganz in ihrem Besitz, auch nachdem die lex ogulnia 300
239 Mommsen StR II/1 1887, 191. Für „Etikettenfragen“, die Mommsen staatsrechtlich nicht relevant erscheinen, vgl. auch Mommsen II/2 1887, 805. 240 Ebd. 789. 241 Mommsen Abriss 1974 [1907], 21. 242 Vgl. Mommsen StR III/2 1888, 872. Ebenso ebd. 966 bzw. 967. Als auf eine gesellschaftsgeschichtlich besonders wertvolle Entdeckung Mommsens verweist auf diesen Sachverhalt Meier 2015, 609, 31. 243 Vgl. Mommsen StR I 1887, 653 f.; Mommsen StR II/1 1887, 15; Mommsen Vorlesung II 2007 [gehalten 1866/67], 23; Mommsen Röm. Patricier. 1864 [1861], 96; Mommsen Abriss 1974 [1907], 31. 244 Mommsen StR II/1 1887, 89. 245 Mommsen StR III/2 1888, 982. 246 Mommsen Vorlesung I 1993 [gehalten 1852], 448. Interessant ist hier ein Seitenblick auf Mommsens Grundrechtskommentar, in dem es im Zusammenhang mit andauernden Adelsvorrechten heißt: „Aber die meisten solcher adlichen Anmaßungen gelten nicht durch das Recht, sondern nur durch Sitte und Gewohnheit“ (Mommsen Grundrechtskommentar 1969 [1849], 20). 247 Mommsen StR I 1887, 91. Vgl. dazu Meier 1980, 48, 129a, der Mommsen hier zitiert. Dass Mommsen von kontinuierlichen patrizischen „Reservatrechten“ ausgeht, belegt auch Mommsen Vorlesung I 1993 [gehalten 1852], 470. Implizit gegen den formalistischen Ausdruck „Reservatrechte“ (variiert durch „Sonderrechte“ oder „Rechtsvorzüge“ vgl. Mommsen Sonderrechte 1864, 132) wendet sich Täubler, wenn er von „gewissen patricischen Bevorzugungen (nicht Vorrechten)“ spricht (Täubler 1985b [1935], 33).
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v. Chr. den Plebejern den Zugang zu allen Priesterämtern theoretisch öffnete.248 Vor allem aber bewahren sich die Patrizier, so Mommsens explizit gegen den belgischen Historiker Pierre Willems gerichtete These, eine Sonderstellung im Senat, indem sie bis auf weiteres die alleinige Bestätigungskompetenz über die Gesetzgebung (auctoritas patrum)249 behalten und allein (unter Ausschluss der Plebejer) interreges wählen.250 Der Ausschluss bestimmter plebejischer Senatsmitglieder von der Debatte (nicht von der Abstimmung!) über Magistratsvorlagen ist für Mommsen bezeichnenderweise „in älterer Zeit ein rechtlicher, späterhin ein thatsächlicher“251. Eine unterschiedliche Chancenverteilung je nach sozialer Herkunft bleibt mithin über die zeitliche Entwicklung und den gesetzlichen Reformprozess hinweg bestehen.252 Mommsen schichtet die römische Bürgerschaft also einerseits nach Kriterien des Rechts, danach sind die Plebejer nach einer langwierigen Entwicklung gleichberechtigte Vollbürger mit aktiven und passiven politischen Rechten geworden. Andererseits aber bleibt die soziale Herkunft ein Differenz-Kriterium und überlagert die idealtypisch gedachte Rechtsordnung. Mommsen ist davon überzeugt, dass die „Vormachtstellung des Geschlechtsadels den Verlust seiner Privilegien und selbst die rechtliche Zurücksetzung weit überdauert hat“253. „Der Sturz des Junkertums nahm dem römischen Gemeinwesen seinen aristokratischen Charakter keineswegs“254, so Mommsen, der ein genaues Gefühl für den statusdeterminierenden Faktor „Ansehen“ besitzt. Der Prestigevorteil der Patrizier überdauerte die gesetzliche Gleichstellung der Plebejer und die damit einhergehende Einschränkung des patrizischen Alleinstellungsmerkmals: „Je weniger der Adel bedeutete und vermochte, desto reiner und ausschließlicher entwickelte sich der junkerhafte Geist. 248 Vgl. Mommsen Abriss 1974 [1907], 30. Ebenso Mommsen Eigennamen 1864 [1860], 78. 249 Vgl. Mommsen StR III/2 1888, 1043. Ebenso Mommsen Abriss 1974 [1907], 32. 250 Vgl. Mommsen StR III/2 1888, 871. Ebenso Mommsen StR III/1 1887, 15. Mommsen meint, dass sich diese Sonderstellung auch etymologisch niederschlägt, dass nämlich die patrizischen Senatoren patres, die plebejischen patres conscripti bzw. pedarius heißen. Vgl. dazu auch Mommsen StR III/2 1888, 838 f. So argumentiert auch die moderne Forschung (vgl. Sommer 2013, 82). Vgl. zur in „recht unzarter Weise“ geführten Kontroverse zwischen Mommsen und Willems: Zühlke 1891, 3–43. 251 Mommsen StR III/2 1888, 963, 1. Später, als die Rangfolge im Senat vor allem vom bekleideten, magistratischen Amt abhing, sei diese ständische Privilegierung dann auch „schwerlich gesetzlich“, sondern „thatsächlich beseitigt worden“ (Mommsen StR III/2 1888, 969). 252 Für die andauernde Vormachtstellung der Patrizier vgl. weiterhin die rein patrizische Aufsicht über das lustrum (vgl. Mommsen StR II/1 1887, 340). Auch bei der Einschätzung der Senatoren durch den Zensor sei, so Mommsen, „auf gute Geburt immer Rücksicht genommen worden“ (Mommsen StR III/2 1888, 874). 253 Mommsen Abriss 1974 [1907], 32. Vgl. auch Mommsen StR III/2 1888, 1184. Für die rechtliche Zurücksetzung der Patrizier vgl. etwa die Benachteiligung der vormals privilegierten patrizischen sex suffragia, die „aus einem vortheilhaften in ein nachtheiliges Privilegium umgewandelt“ (Mommsen StR III/1 1887, 292) wurden oder das Verbot von Volkstribunstellen für Patrizier (vgl. Mommsen Abriss 1974 [1907], 81). Vgl. auch Mommsen StR III/1 1887, 67; Mommsen Eigennamen 1864 [1860], 86 bzw. Mommsen RG 1976 [1902], 313 [= I, 299]. In der Zürcher Vorlesungsmitschrift heißt es: „[…] doch was sie [= die Adligen] rechtlich eingebüßt hatten, suchten sie durch Machenschaften wiederzugewinnen“ (Mommsen Vorlesung I 1993 [gehalten 1852], 469). 254 Mommsen RG 1976 [1902], 309 (2. Band der Taschenbuchausgabe) [= I,783].
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Die Hoffart der ‚Ramner‘ hat das letzte ihrer Standesprivilegien um Jahrhunderte überlebt“255, heißt es dementsprechend in der „Römischen Geschichte“. Den juristischen Statusverlust glichen die Patrizier durch ihr hohes Sozialprestige im Endeffekt wieder aus. Aber als sich bald immer mehr Plebejer der patrizischen Lebenswelt anpassten und durch die Ausübung von Ämtern Teil der soziopolitischen Oberschicht wurden, bedurfte es eines neuen Distinktionsmodells, um die politischen Emporkömmlinge sozial zu integrieren und trotzdem exklusiv zu bleiben. Auch diesen nächsten gesellschaftsgeschichtlichen Entwicklungsschritt beschreibt Mommsen in seinem „Staatsrecht“. 3.4 „Nobilität“ Mommsen habe, so schreibt Alfred Heuß 1956, zum ersten Mal „die Bedeutung des römischen Adels, der sog. Nobilität, welche gegenwärtig zu den Kernstücken des historischen Verständnisses gehört, […] erkannt“256. Schon 1890 war einem anonymen Rezensenten aufgefallen, dass Mommsen die Nobilität in seinem „Staatsrecht“ ausführlich behandelt habe, obgleich ihr spezifischer Wesenszug mit der übergeordneten rechtssystematischen Methode eigentlich nicht zu erfassen sei.257 In der Tat wird die Nobilität hier in einem Kapitel zusammen mit dem Senatorenstand als neuartige soziale Gruppe analysiert. Im Zusammenhang damit, dass sich Plebejer in der Folge des Ständekampfes von anderen, rechtlich weiterhin diskriminierten sozialen Gruppen wie Klienten und Freigelassenen absetzen, um ihren neugewonnenen Bürgerstatus zu demonstrieren, stellt Mommsen zunächst eine gewisse Oberschichten-Orientierung der sozialen Aufsteiger fest. Dafür, dass die libertini in den Tribuscomitien benachteiligt wurden, sorgten nicht die Altadligen, sondern die Plebejer selbst, als ein „unabhängiger Mittelstand, den die rechtliche Gleichstellung mit den gewesenen Knechten in seinen Interessen beeinträchtigte und in seinem Selbstgefühl verletzte“258. Keine Schichtensolidarität, kein Gefühl des „Klassenkampfes“ lässt sich bei den Plebejern feststellen. Stattdessen kommt es zu einer Anpassung an die alte Oberschicht und daraus folgend zum Auseinanderbrechen der zuvor homogenen Schicht der „Nichtadligen“. Plebejer, die ein politisches Amt ausgeübt haben, bilden ab 367/6 v. Chr. zusammen mit den Patriziern eine neue politisch-soziale Elite und unterhöhlen faktisch somit die 255 Ebd. 313 [= I, 299]. Als „Ramner“ (Ramnes) bezeichneten sich nach Mommsens Auffassung die ältesten Einwohner, von denen sich dann der Name „Römer“ ableitet. 256 Heuß 1956, 86. Dagegen meint Behne, „daß er einer solchen eher soziologisch erfaßbaren Erscheinung in seinem System […] keinen Raum geben will“ (Behne 1999, 181). 257 Vgl. Anonymos 1890, 995. Auf die Originalität von Mommsens Nobilitätskapitel verweist auch Schiller 1889, 349. 258 Mommsen StR III/1 1887, 437. Die Abgrenzung der Plebejer gegen diejenigen, die „mit dem Makel der Sclaverei behaftet“ (Mommsen StR III/1 1887, 74) waren, taucht immer wieder auf. Dass Mommsen „den Ständekampf als Bezugsrahmen“ (Behne 2002, 132) gar nicht beachtet, ist unrichtig.
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eben errungene Bürgergleichheit wieder. „Wie so oft im politischen Ausgleichskampfe wandelten die Sieger die erstrittene Gleichheit um in eine neue Form der Privilegirung“259, schreibt Mommsen, hier möglicherweise nicht ohne Bezug auf den politischen Kontext seiner eigenen Zeit. Seine liberale Sympathie für den politischen Befreiungskampf einer benachteiligten Bevölkerungsgruppe schlägt um in Verachtung für die gewissenlose Oberschichten-Orientierung der ehemals Depravierten. Die Nobilität ist nach Mommsens Ansicht also nicht als Absetzungsbewegung einiger politisch erfolgreicher Geschlechter innerhalb des Patriziats entstanden,260 sondern stellt eine qualitativ neue Statusgruppe dar. Diejenigen grundbesitzenden Plebejer, die in Folge der Ständekämpfe als politische Amtsträger tätig geworden sind, werden, so Mommsens Lesart, von den Patriziern „als ihres Gleichen betrachtet“, sind „Quasi-Patricier“ und bilden zusammen mit den Altadligen eine neue Statusgruppe von „Namhaften“ (nobiles).261 Die Nobilität wird von Mommsen als ein „erweiterte[r] Patriciat“262 definiert, bildet also ein Amalgam aus altadligen Patriziern und neuadligen vornehmen Plebejern, die gewissermaßen eine Koalition eingehen, um sich eine neue Form sozialer Exklusivität zu sichern. Als Grundprinzip formuliert Mommsen: „[…] dem durch die Geburt Adlichen werden die durch das Aemterrecht Geadelten gleichgestellt“263. Während für Mommsen die Patrizier per se zur Oberschicht zählen, qua Tradition adlig sind, „also nicht geadelt“264 werden müssen, sind die neuadligen Plebejer 259 Mommsen Abriss 1974 [1907], 33. Vgl. auch Mommsen StR III/1 1887, 205 und Mommsen RG 1976 [1902], 282 [= I, 268]: „[…] als durch den Eintritt in den Senat die tüchtigsten und widerstandsfähigsten Personen aus der Klasse der Unterdrückten übertraten in die der Unterdrücker“. Geschichtsphilosophischer Pessimismus schwingt auch in dem berühmten „Dyarchie“-Satz mit: „[…] die Vollendung der Volkssouveränität ist zugleich ihre Selbstvernichtung“ (Mommsen StR II/2 1887, 1133). Möglicherweise persifliert Mommsen hier Livius 22, 34, 8: „nam plebeios nobiles iam eisdem initiatos esse sacris et contemnere plebem ex quo contemni a patribus desierint coepisse.“ Auch an anderer Stelle heißt es: „[…] wie denn immer die Demokratie sich dadurch vernichtet hat, dass sie die Consequenzen ihres Princips durchführt“ (Mommsen StR I 1887, 15, 1). Für einen sarkastischen Unterton hinsichtlich der Depravierung des „revolutionären“ Geistes der Plebejer vgl. auch Mommsen StR II/1 1887, 308 f. bzw. zum Erschlaffen der um „Selbstständigkeit“ ringenden Lebensgeister insgesamt: Mommsen StR III/2 1888, 865. 260 Mommsen warnt explizit, sie als innerelitäres Exklusivmerkmal einiger weniger Familien zu verstehen, die „ähnlich wie die Papstgeschlechter in dem heutigen römischen Adel eine Sonderstellung einnehmen“ (Mommsen StR III/1 1887, 462). Er betont stattdessen „die Verschiedenheit des alten Patriciats und der späteren Nobilität“ (Mommsen StR III/1 1887, 460, 3). „Nobilität“ ist nebenbei bemerkt also keineswegs, wie mitunter behauptet, eine Wortprägung von Matthias Gelzer (vgl. etwa Schulz/Walter 2016, 98). 261 Vgl. Mommsen StR III/1 1887, 462. In Mommsen RG 1976 [1902], 319 [= I, 305] schreibt Mommsen, dass „der neue Herrenstand das alte Patriziat nicht bloss beerbte, sondern sich auf denselben pfropfte und aufs innigste mit ihm zusammenwuchs“. 262 Mommsen StR III/1 1887, 462. Vgl. auch Mommsen Abriss 1974 [1907], 32; Mommsen StR III/2 1888, 1043, 2; Mommsen RG 1976 [1902], 327 [= I, 313]. 263 Mommsen StR III/1 1887, 463. Die Aussage, dass Mommsen das politische Amt nicht als „soziales Prestigeobjekt“ (Behne 1999, 161) identifizierte, ist also mehr als zweifelhaft. 264 Mommsen StR III/1 1887, 463, 4. Gelzer hat in der „Nobilität“ dagegen argumentiert, auch Patrizier seien nur dann nobiles, wenn unter ihren Vorfahren Konsuln waren (vgl. Gelzer Nob.
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in seiner Sicht nur aufgrund ihrer politischen Amtsausübung adlig. Anders als nach der Definition von Matthias Gelzer ist für Mommsen schon das kurulische Amt in der Familie – nicht erst die Konsulstelle – Nobilitäts-Kriterium.265 Entscheidend ist jedenfalls, dass das Eindringen der ehemals Deklassierten in die Sphäre der Altadligen in Mommsens Sicht einzig und allein über die Eroberung politischer Ämter erfolgt. Mommsen bezeichnet die Nobilität deshalb mitunter auch als „Amtsadel“266. Da aber – wie ehemals der Patriziat – nun auch die Herkunft aus einer nobilis-Familie „gewohnheitsmässig“267 den Kandidaten bei der Ämterwahl bevorzugt und damit Adel in einer Familie perpetuiert wird, nennt er die Nobilität mitunter auch einen „Erbadel“268. Als wichtigsten Vorteil der Nobilität erkennt er eine faktische Privilegierung bei Wahlen, eben weil die Nachkommen eines nobilis mit ihrem vornehmen Namen wuchern können und in der Gunst des Volkes höher stehen als Amtsbewerber aus anderen Familien. Aufschlussreich ist hier wiederum Mommsens Zusatz, dass dieser Mechanismus natürlich „rechtlicher Determinirung am wenigsten fähig“269 sei. Die Nobilität ist für ihn – mit Fichte gesprochen – ein „Adel der Meinung“, nicht ein „Adel des Rechts“.270 Insgesamt weist Mommsen hier schon auf das Faktum einer „sozialen Integration der Politik“271 hin, also die eingeübte Praxis der Römer, die privilegierte Herkunft eines Mannes als besondere Prädestinierung für politische Leitungsfunktionen zu werten. Gleichzeitig erkennt Mommsen instinktiv den Widerspruch, den diese sozial codierte Regelung zu seiner verfassungsrechtlichen Theorie darstellt. Denn „rechtlich“ betrachtet herrschte seit 367/6 v. Chr. in Rom ja das „allgemeine und gleiche
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1912, 28 f.). Es stellt sich allerdings die Frage, ob es überhaupt Patrizier ohne Konsuln unter den Vorfahren gegeben hat (vgl. dazu Afzelius 1938, 50 f.). Ob die Nobilität schon den Nachkommen des kurulischen Aedils (vgl. etwa Mommsen StR III/1 1887, 515, 5) oder erst den konsularischen Familien (vgl. etwa Gelzer Nob. 1912, 24 f.) zusteht, darüber ist auch in neuerer Zeit heftig gestritten worden. Für Gelzers These plädiert u. a. Burckhardt 1990, 98, für Mommsen z. B. Brunt 1982, 1 f. Bleicken bilanziert, dass die Forschung „in der Regel auf die Position von Mommsen zurückgekehrt“ sei (Bleicken 1995, 315) und lobt Mommsens Definition der Nobilität (wie oben schon erwähnt) als eine, „die meiner Meinung nach gegenüber der sehr engen und durchaus nicht so quellenkonformen von Gelzer, wonach nur die Familien mit einem Konsul im Stammbaum dazu zählen […] bei weitem den Vorzug verdient“ (Bleicken 1996, 9). Nippel meint, dass Mommsen bei seiner weiten Nobilitätsdefinition vom Renaissancegelehrten Sigonius inspiriert sei (vgl. Nippel 2005b, 168). Mommsen StR II/1 1887, 308. Vgl. auch ebd. 191; Mommsen Eigennamen 1864 [1860], 61. Diese Formulierung hat seitdem Eingang in die Forschung gefunden. Vgl. nur Meyer 1964, 79 oder Linke 2014, 85. Jedenfalls ist auch hier nicht Gelzer ihr originärer Erfinder, wie manches Mal suggeriert wird (vgl. z. B. Bardt 1913, 17). Mommsen Abriss 1974 [1907], 33. Mommsen StR III//1 1887, 464. Das spiegelt sich auch im „Vorrecht der Söhne und Enkel der Senatoren“ (Mommsen StR III/2 1888, 931), sich vor dem Kuriengebäude aufzuhalten und sich zuhörend auf ihre politische Laufbahn vorzubereiten, so Mommsen. Mommsen StR III/1 1887, 465. Vgl. Fichte 1973 [1793], 153. Für diese theoretische Konzeption vgl. Winterling 2001a, 108.
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passive Wahlrecht“272, wie Mommsen immer wieder betont. „Thatsächlich“ bzw. „gewohnheitsmässig“ aber entschied weiterhin die soziale Herkunft des Kandidaten die Wahlen. In nuce ist in diesem kurzen Abschnitt also schon die zentrale Frage angedeutet, die Matthias Gelzer später in seiner „Nobilität“ an den Anfang stellen sollte: Wie kann man erklären, dass trotz freier Wahlen immer wieder dieselben, sozial privilegierten Familien die politischen Ämter besetzen? Für Mommsens Schichtungsmodell ist jedenfalls von entscheidender Bedeutung, dass die Nobilität eine qualitativ neue Form von Adel darstellt, die sich vom alten patrizischen Adel strukturell unterscheidet. Zwar besitze auch die Nobilität einen „patricischen, also gentilicischen Grundcharakter“, sei faktisch durchaus erblich: „Geschlechtsrecht wie der Patriciat ist die Nobilität allerdings nicht“273. Die Betonung des feinen Unterschieds zwischen erblich geschlossenem Geschlechtsund prinzipiell offenem Erbadel ist zentral. Während dem Patrizier Vornehmheit quasi in die Wiege gelegt wird, sein Adel „als erbliches unbegrenzt fortwirkendes Recht“274 allein am Faktum der Geburt hängt, kann man die soziale Privilegierung als nobilis in der Tat „erwerben“275: es „erlangt der Beamte mit dem Amt für sich und seine agnatischen Nachkommen die […] unter dem Namen der Nobilität zusammengefassten Rechte und begründet der ‚neue Mann‘ in seiner Descendenz ein neues Geschlecht römischen Erbadels“276. Mit der politischen Machtübernahme geht bei den Plebejern eine soziale Assimilierung einher, eine Erhöhung des sozialen Prestiges: Die durch ein Amt nobilitierten Plebejer passen sich in Namensgebung und Tracht dem patrizischen Umgang an und werden insbesondere durch die Inanspruchnahme von bisher patrizischen „Ehrenrechten“ von den Altadligen als peers akzeptiert. Ein Vorgang, der gesetzlich nicht festgelegt wird, wie Mommsen wiederholt zugibt: „Die rechtlichen Consequenzen der Nobilität sind vermuthlich wie das Institut selbst, nie durch Gesetz geregelt worden und daher mehr thatsächlicher als rechtlicher Art.“277 Die pri272 Mommsen StR III/1 1887, 465. Vgl. dazu auch Mommsen StR I 1887, 485; Mommsen StR II/1 1887, 32; Mommsen RG 1976 [1902], 318 [= I, 304]. Dagegen hegt beispielsweise Wolfgang Kunkel Zweifel: „Daß in republikanischer Zeit jedem freigeborenen Bürger das passive Wahlrecht, d. h. das Recht zur Bekleidung von Gemeindeämtern (Magistraturen) zugestanden habe, ist ebenso wenig bezeugt wie das Gegenteil.“ (Kunkel 2005, 16). 273 Mommsen StR III/1 1887, 462. Auch bei verschiedenen anderen Gelegenheiten weist Mommsen auf die Differenz zwischen „altem Patriciat“ und „späterer Nobilität“ hin. Vgl. etwa Mommsen StR III/1 1887, 460, 3. 274 Mommsen StR II/2 1887, 1123. 275 Mommsen StR III/1 1887, 462. Unwillkürlich erinnert diese Formulierung an den Goetheschen Vers im „Faust“: „Was Du ererbt von deinen Vätern / Erwirb es um es zu besitzen.“ (Goethe 1994 [1808], 682/3). Eine Assoziation, die beim Goethe-Verehrer (und Rezitator!) Mommsen vielleicht nicht ganz abwegig ist. 276 Mommsen StR III/1 1887, 464. Ähnlich auch ebd. 563. 277 Mommsen StR III/1 1887, 464. Vgl. auch Mommsen Abriss 1974 [1907], 33 bzw. Mommsen RG 1976 [1902], 335 (2. Band der Taschenbuchausgabe) [= I, 808]. Der Umstand, auf den der oben zitierte zeitgenössische Rezensent aufmerksam machte, dass sich nämlich die Diskussion der Nobilität nicht recht in die Anordnung eines „Staatsrechts“ einfüge, da hier „eine Menge von Sachen behandelt [sind], welche ihrer Natur nach einer juristischen Construction nur theilweise fähig sind, da es sich nicht um Rechtssätze, sondern um thatsächliche Verhältnisse und
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vilegierte Stellung der Nobilität, das macht Mommsen deutlich, basiert nicht auf festgeschriebenen Rechtssätzen, sondern auf Vermittlung durch die Tradition. Hier zeigt sich deutlich, dass Mommsen die Nobilität bei weitem nicht so starr konzipiert, wie Gelzer und andere ihm später vorgeworfen haben. „Ehrenrechte“ sind in Mommsens Sprachgebrauch keine harten, gesetzlich normierten „Standesprivilegien“, sondern Ergebnis einer gewohnheitsmäßigen Bevorzugung durch die Bürgerschaft.278 Als spezielle Ehrenrechte der Nobilität nennt Mommsen hier etwa das Ahnenbilderrecht, die Auflösung jeglicher Klientelabhängigkeit und das Recht auf Führung eines Cognomens. An anderer Stelle rechnet er noch das Recht hinzu, die Prätexta an Volksfesten und bei der Beerdigung tragen zu dürfen.279 Der Kurswert des alten, patrizischen Adels verliert mit der Zeit mehr und mehr an Stabilität. Trotz aller impliziten Macht, allen Prestiges, das die altadligen Geschlechter sich noch bewahren können, löst das Phänomen einer ständeübergreifenden Nobilitätsschicht die alte Form des exklusiven Geburtsadels auf und ersetzt ihn durch einen neuen, unter bestimmten Voraussetzungen zugänglichen politisch definierten Adel. Nun konnten auch wohlhabende plebejische Familien zu mehr Ansehen, mehr Reichtum, mehr Macht gelangen als altehrwürdige patrizische Geschlechter. Der Junkerverächter Mommsen scheint den alten, trägen Geburtsadel nicht ganz ohne Genugtuung als überholt und nutzlos abzufertigen, wenn er in einem Aufsatz über die „römischen Patriciergeschlechter“ schreibt: „Der Patriciat dieser Epoche war, was heutzutage der stiftsfähige Adel [ist], ein Spielzeug einiger übrig gebliebener Junker und einiger Antiquare.“280 3.5 Exkurs: „Senatorenstand“281 Mit dem Terminus „Senatorenstand“ bezeichnet Mommsen die genealogische Fortsetzung der republikanischen Nobilität in der Kaiserzeit. Der senatorische „Stand“ tritt seitdem „an die Stelle der Nobilität“282. Im Unterschied zur Nobilität, die prinzipiell die Möglichkeit einschloss, dass auch „bürgerliche“ homines novi qua Ämterausübung in diese Adelsschicht aufsteigen konnten, ist der von Augustus einge-
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gesellschaftliche Convenienzen handelt“ (Anonymos 1890, 995), nimmt also im Grunde nur auf, was Mommsen selbst schon zu Bedenken gibt. Vgl. Mommsen Abriss 1974 [1907], 33. Vgl. Mommsen StR II/1 1887, 484. Mommsen Röm. Patricier. 1864 [1861], 123. Für Mommsens persönliche Verachtung gegenüber dem Adel seiner Zeit vgl. z. B. Wucher 1968, 161 f. und vor allem auch seinen Brief an Wilhelm Henzen vom 4.12.1882: „Es ist ein elendes Schicksal in diesem sich regenerierenden Junker- und Pfaffenstaat als Ornamentstück figurieren zu müssen.“ (zit. nach Wickert 1942, 539). Vgl. für Mommsens negatives Bild des römisch-patrizischen Adels auch Mommsen RG 1976 [1902], 282 [= I, 268] und Mommsen Claudier 1864 [1861], 293. Auch im „Staatsrecht“ erscheint der Patriziat der späten Republik depraviert (vgl. Mommsen StR III/1 1887, 467). Die zeitliche Ausweitung der Analyse in die Kaiserzeit hat im Zusammenhang des „Senatoren“- und „Ritterstandes“ insofern seine Berechtigung, als hier in Mommsens Auffassung republikanische Prinzipien in modifizierter Form erhalten bleiben. Mommsen StR III/1 1887, 468.
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führte Senatorenstand nach Mommsens Ansicht ein „rechtlich geschlossener“283 Stand mit spezifischen Privilegien und Vorrechten, der sich außer auf die Senatoren selbst auch „auf deren Frauen so wie auf die agnatische Nachkommenschaft bis zum dritten Grade“284 erstreckt. Dadurch wurde die „allgemeine bürgerliche Wählbarkeit abgeschafft“ und der ehemals offene Amtsadel zum geschlossenen Erbadel – „der republikanische Begriff der Nobilitirung war hiermit theoretisch zerstört“285. Der Druck, politische Leistungen für das Gemeinwesen zu erbringen wurde damit geschwächt, da nun nicht mehr das Amt, sondern allein die Herkunft über den sozialen Status entschied. Wer nicht schon qua Geburt zum Senatorenstand gehörte, wer also nicht in der Nachkommenschaft eines Senators stand, der sei, so Mommsen, ab jetzt darauf angewiesen gewesen, vom Kaiser in den Senatorenstand erhoben zu werden. Dieser wird damit zu „einer theils erblichen, theils durch kaiserliche Ernennung ergänzten Pairie“286. „Kaiserliche Pairscreirung“ nennt Mommsen die kaiserliche Designationspraxis. Der republikanische Mechanismus einer eigenständigen „Nobilitirung“ durchs Amt wird ersetzt durch den kaiserzeitlichen Mechanismus einer „personalen Reception“287 des Herrschers. Denn während in der Republik die Auswahl der Adligen „in der Hand der Comitien“288 lag, habe nun allein der Kaiser entschieden, wer adlig werde und wer nicht. Er allein gewährte und entzog das „Standesrecht“ je nach Belieben: „Der Standeswechsel kann ebenso wohl als Gunstbeweis wie zur Strafe vorgekommen sein.“289 Wer überhaupt in den senatorischen Stand zugelassen wird, darüber entscheidet die „kaiserliche Candidatenliste“, die „mit wohl berechneter Absicht stetig die angesehenen und begüterten Familien des Ritterstandes in die Aemterlaufbahn zog“290, um – so muss man Mommsens Gedanken hier ausformulieren – ein Gegengewicht zu den alten nobiles aufzubauen. Die „pairscreirten“ Ritter, die eine neue Art „Beamtenadel“ bildeten, verdankten ihre soziale Stellung allein dem Kaiser, waren ihm also persönlich verpflichtet, während die alten durch das Amt geadelten Nobilitätsfamilien ihren privilegierten 283 Mommsen StR III/1 1887, 466. Im „Abriss“ formuliert Mommsen hinsichtlich des juristischen Charakters vorsichtiger: „Augustus wird dies dann rechtlich formulirt haben.“ (Mommsen Abriss 1974 [1907], 34). John Weisweiler kritisiert Mommsens These eines rechtlich geschlossenen Senatorenstandes in der Kaiserzeit scharf und meint, dass sie „was shaped by the model of ancien régime aristocracies“ (Weisweiler unveröff. 6). Während seine Kritik an Mommsens Beschreibung des Senatorenstandes als einer „unified social class“ (ebd. 9) berechtigt scheint, bleibt Weisweiler einschlägige Beweise für eine etwaige Orientierung Mommsens an aristokratischen Modellen seiner eigenen Zeit schuldig. Allein von der Verwendung des Begriffs „Pairie“ einen Modernismus abzuleiten, ist allzu wagemutig. 284 Mommsen StR III/1, 1887, 468. Dementsprechend klingt es etwas widersprüchlich, wenn Mommsen kurz zuvor angibt, dass „nach augustischer Ordnung die dem Senatorenstand angehörigen Männer, so lange sie nicht in den Senat eintreten, zu den Rittern gehören“ (ebd. 467, Hervorhebung s. St.). 285 Ebd. 466; 467. 286 Mommsen Abriss 1974 [1907], 35. 287 Mommsen StR III/1 1887, 467. 288 Ebd. 466. 289 Ebd. 469 f., 4. Vgl. auch ebd. 469, 3, wo von einer „willkürlichen Streichung“ die Rede ist. 290 Ebd. 467.
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Status nur noch eine kurze Zeit lang unabhängig von ihm legitimieren konnten. Interessant ist die historische Entwicklungsparallele, die Mommsen in diesem Zusammenhang zieht: Wie der Patriziat nach den Ständekämpfen noch neben der neuentstandenen Nobilität weiterexistiert habe, so hätte sich auch die altrepublikanische Nobilität noch kurzzeitig neben dem neugeschaffenen, kaiserlichen Senatorenstand behaupten können, bevor sie dann in der Bedeutungslosigkeit verschwunden sei. Die Form einer „doppelten Aristokratie“291, gleichsam als Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, ist demnach ein wiederkehrendes Strukturmoment in Mommsens Gesellschaftskonzeption. Zum Abschluss dieses Kapitels sollen noch zwei weitere Statusgruppen Erwähnung finden, die im „Staatsrecht“ gewissermaßen parallel zum oben beschriebenen Entwicklungsmodell behandelt werden: Die Ritter und die Freigelassenen. 3.6 „Ritterschaft“ Mommsens Ausführungen zur Ritterschaft im „Staatsrecht“ haben schon bei Zeitgenossen großen Anklang gefunden. Als ein Kapitel, in dem „neue Ergebnisse vorgetragen“ werden, lobt Pierre Willems den Abschnitt zur Ritterschaft in seiner Rezension von 1889.292 In der anonymen Kritik des „Athenaeums“ von 1888 heißt es überschwänglich, was hier dargestellt werde „is decidedly in advance of anything that has yet been written on the subject“293. Und selbst ein neuzeitlicher Kritiker wie Jochen Bleicken konstatiert, dass Mommsens Kapitel zur Ritterschaft nichts an seinem „Wert verloren“294 habe. Mommsen selbst hat den Abschnitt über die Ritterschaft in einem Brief an Wilamowitz als „das schwierigste“295 Kapitel des dritten Bandes bezeichnet, nicht ohne Grund, wie auch dem heutigen Leser der mitunter schwer zugänglichen Analyse auffällt. Beachtenswert ist, dass auch in diesem Kapitel ein starker historischer Entwicklungsgedanke die rechtssystematische Struktur unterläuft. Das gibt einmal mehr Anlass dazu, vorschnelle Urteile über das „Staatsrecht“ als „antihistorisch“ und „starr“ zu überdenken.296 Die Entwicklung der Ritterschaft, dieser „aus vielen Wurzeln in einander gewachsene[n] merkwürdige[n] Institution“297, läuft bei Mommsen parallel zur oben geschilderten Transformation der Patriziergemeinschaft zur patrizisch-plebejischen Nobilität. An und für sich ist Mommsens Konzeption der Ritterschaft, die er 291 Ebd. 467. 292 Vgl. Willems 1889, 664 f. 293 Anonymos 1888a, 627. Ähnlich auch Niese 1888, 961 f. Auf die „ausführliche“ Behandlung der Ritter im „Staatsrecht“ verweist auch Matthias Gelzer (vgl. Gelzer Nob. 1912, 3, 3). 294 Bleicken 1995, 317. 295 Brief vom 9.5.1887 (vgl. Calder III/Kirstein 2003, 418). 296 Das fällt auch Martin Jehne auf, wenn er schreibt: „Doch in Mommsens Disposition [sc. des dritten Bandes, Anm. S. St.] trat hier auch das historisch-chronologische Prinzip hinzu, das man in dem manchmal der Zeitlosigkeit geziehenen Staatsrecht nicht ohne weiteres vermutet.“ (Jehne 2005, 143). Vgl. ebenso Otto Gradenwitz, der angibt, eine „entwicklungsgeschichtliche Darstellung begegnet im dritten Bande“ (Gradenwitz 1904, 18). 297 Mommsen StR III/1 1887, 512.
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zusammen mit der Nobilität als „bevorrechtete[n] Klassen“298 beschreibt, wiederum evolutionär. Grundsätzlich geht Mommsen bei der Genese dieser Statusgruppe von der Transformation einer militärischen Abteilung in einen politischen Stand aus, hat er ein Stufenmodell von „Reiterei“ zu „Ritterschaft“ vor Augen.299 Von den berittenen Offizieren, die eine „ständische Privilegirung“300 vor der Infanterie auszeichnet, nimmt die Entwicklung ihren Ausgang. Laufen und Reiten seien naturgemäß mit unterschiedlichem Prestige verbunden, so Mommsen; dem einfachen Reiter werde selbst vor dem Zenturio des Fußvolkes ein „wesentliche[r] Rangvorzug“301 eingeräumt. Wesentlich ist in diesem Zusammenhang die Bemerkung Mommsens, dass der Unterschied zwischen Reiter und Soldat „weit mehr ständisch ist als militärisch“302, dass also die Distinktion ein Produkt sozialer Praxis und kollektiv akzeptierter Prestigehierarchie gewesen sei und nicht auf militärtechnischen Unterschieden fußte. Die generelle Zulassung zum Ritterstatus könne ursprünglich „schwerlich von dem Vermögen“303 allein abgehangen haben. Entscheidendes Kriterium sei vielmehr die generelle militärische „Tauglichkeit“ gewesen, mit der ausgestattet sogar „mittellose Bürger“ zum Ritterstatus aufsteigen konnten.304 Im Zuge von Camillus’ Reformen um 399 v. Chr., so mutmaßt Mommsen weiter, ändert sich der Charakter der Ritterschaft dann durch die Einführung einer festen Zensussumme, die als eine „gleichsam mit rechtlicher Notwendigkeit“305 wirkende Regel festgeschrieben wird. Zur Ritterschaft wird nur zugelassen, wer ein Mindestvermögen hat. Wer verarmt, unter den Zensus rutscht, der verliert jetzt auch den Ritterstatus. Die Ritterschaft, zu der jetzt auch nur potentielle Kandidaten, also „bloss zum Ritterpferd 298 Mommsen StR III/1 1887, 461, 3. Vgl. auch Mommsen Abriss 1974 [1907], 35. 299 Vgl. Mommsen StR III/1 1887, 476. Erst seit der späten Republik, eigentlich erst durch die gracchischen Reformen sei die Ritterschaft wirklich „politische Institution“ geworden, heißt es in den „Berliner Vorlesungsmitschriften“. Vorher habe sie allein als „militärisches Institut“ fungiert (vgl. Mommsen Vorlesung II 2007 [gehalten 1866/67], 76). 300 Mommsen StR III/1 1887, 476. Vgl. auch ebd. 504 („ständische Gegensatz […] des Offiziers und des Soldaten“) bzw. Mommsen RG 1976 [1902], 83 [= I, 68] („Die Bürgerreiterei (…) war natürlich angesehener als das Fussvolk“). Eine Privilegierung, die sich auch finanziell niederschlägt. Denn Ritter erhielten „in der Regel das Dreifache dessen, was der Fusssoldat empfängt“ (Mommsen StR III/1 1887, 479, 2). 301 Ebd. 504. Gelzer spricht später im gleichen Zusammenhang von der „Herrenstellung“ der Ritter (vgl. Gelzer Nob. 1912, 5). 302 Mommsen StR III/1 1887, 541, 1. 303 Ebd. 244, 3. 304 Vgl. ebd. 258. Vgl. dazu auch die Bemerkung von Wilamowitz in seinem Brief vom 25.2.1887: „Bei der reiterei ist wol eines ganz klar: der staat hat […] die leute eingezogen ohne rücksicht auf die sonstige bürgerliche gliederung.“ (zit. nach Calder III/Kirstein 2003, 403). 305 Mommsen StR III/1 1887, 540. Vgl. auch ebd. 485. Mommsen nennt mit Verweis auf Livius 5,7 das Jahr 399 v. Chr (vgl. ebd. 478). Im „Abriss“ ist im Zusammenhang mit der Zensusregelung von „der alten Ordnung“ (Mommsen Abriss 1974 [1907], 36) die Rede. Die Datierung der Einführung einer Zensussumme ist bis heute umstritten. Bleicken etwa geht davon aus, dass sie erst durch Gaius Gracchus eingeführt wurde (vgl. Bleicken 1995, 77). Ebenso auch Stein 1927, 22.
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qualificirte Person[en]“306 gezählt werden, wird damit losgelöst vom faktisch ausgeübten militärischen Dienst und zu einer Statusgruppe umgewertet, in die hinein jeder Wohlhabende durch den Zensor gewählt werden konnte. Hinsichtlich der Zulassungsbedingungen nutzt Mommsen eine seinem Leser mittlerweile bekannte Argumentationsstruktur: rechtlich stand die Ritterschaft jedem freigeborenen römischen Bürger offen, tatsächlich aber haben „die durch Geburt und Vermögen bevorzugten Bürger vorzugsweise zu Ross gedient“307. Formalrechtlich ist der Ritterstatus zwar nicht erblich, es gibt keine Rangübertragung durch Geburt, dennoch wird in der Praxis jeder freigeborene Sohn eines wohlhabenden Bürgers allein schon wegen seiner familiären Herkunft eques genannt.308 Und somit wird die Zugehörigkeit zur Ritterschaft eben doch zumindest „factisch erblich“309. Mommsen geht sogar von regelrechten „Ritterfamilien“310 aus. Entscheidendes Merkmal aber bleibt, dass „von Rechtswegen auch der niedrig Geborene“, der zu Geld gekommen ist, Ritter werden kann, auch wenn „herkömmlich (…) das Ritterpferd vorzugsweise den Kindern der altbefestigten Häuser gegeben“311 wird. Mommsen legt Wert auf die Feststellung, dass der Ritterrang zumindest in seinem Wesenskern kein Adel qua Blut bzw. Geburt ist wie bei den Patriziern, auch kein Amtsadel wie bei der Nobilität, sondern einen Adel qua Vermögen, eine „Finanzaristokratie“ bzw. einen „Capitalistenstand“312 darstellt. Eine scharfe Grenzlinie zwischen Nobilität bzw. Senatorenstand und Ritterschaft sei aber lange schwer zu ziehen gewesen, da ja „theoretisch nicht abzusehen [war], warum Senatssitz und Ritterpferd nicht gleichzeitig derselben Person zukommen können“313. Erst Gaius Gracchus habe mit seiner Gesetzgebung dafür gesorgt, dass die ständische Identität der Ritterschaft gestärkt wurde, indem er den Senatoren den Besitz des Ritterpferdes – und damit nicht nur den Rangtitel „Ritter“, sondern auch die Stimme in der privilegierten Ritterzenturie – entzog. Mommsen weigert sich entschieden, in der lex reddendorum equorum eine ökonomische Entlastung der Senatoren zu sehen. Gegen eine solche These spreche, so Mommsen, hier möglicherweise einen Gedanken von Wilamowitz aufnehmend,314 der Umstand, dass die Abgabe des Pferdes 306 Mommsen StR III/1 1887, 482/3, 3. Mommsen hat verschiedene Namen für diese dritte Gruppe, u. a. „Expectanten“ (Ebd. 516, 3). 307 Ebd. 476. Vgl. auch ebd. 258 bzw. 258, 2. 308 Das Kriterium der freien Geburt ist laut Mommsen zentral: „Zur Ritterwürde konnte natürlich keiner ausser einem ingenus im strengen Sinne gelangen, wenn er auch noch so reich war.“ (Mommsen Vorlesung II 2007 [gehalten 1866/67], 77). 309 Mommsen StR III/1 1887, 483. Ebenso ebd. 501. Vgl. auch Mommsen Abriss 1974 [1907], 36. Vgl. zu diesem Punkt Castritius 1973, 41. 310 Mommsen StR III/1 1887, 501, 3. Vgl. dazu kritisch Stein 1927, 175. 311 Mommsen StR III/1 1887, 501. Spannend ist hier der Seitenblick auf Mommsens „Grundrechtskommentar“, in dem in sehr ähnlichem Wortlaut von einer „faktischen Privilegirung des Adels“ die Rede ist, da trotz allgemeinem passiven Wahlrecht „faktisch namentlich die Offizierstellen vorzugsweise mit Adlichen besetzt“ (Mommsen Grundrechtskommentar 1969 [1849], 22) wurden. 312 Mommsen Abriss 1974 [1907], 36; Mommsen StR III/1 1887, 456. 313 Ebd. 505. 314 Vgl. dazu den Brief vom 20.5.1887: „Ob übrigens für die senatoren die unterhaltung des staatspferdes eine last war, ist doch mehr als fraglich.“ (zit. nach Calder III/Kirstein 2003, 419).
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traditionell als Strafmittel für das deviante Verhalten eines Senators eingesetzt wurde.315 Ganz im Gegenteil habe Gracchus zum Ziel gehabt, die Ritterschaft als selbstständigen Stand zu stärken und gegen die Senatorenschaft abzusetzen. Im Wesentlichen sei es darum gegangen, den Wert des Ritterpferdes zu erhöhen, indem man seine Verleihung exklusiv hielt, d. h. eben nicht jeder Senator gleichzeitig auch noch Ritter sein konnte. Mommsen beweist hier einen deutlichen Sinn für den Prestigewert, der im Besitz eines Ritterpferdes angelegt ist: Vor allem „wegen des damit verbundenen Ansehens und Einflusses“ hätten sich zahlreiche Bewerber um ein Staatspferd bemüht, schreibt er, und nicht aus anderen Gründen, „weil der Dienst auf eigenem Pferd (…) noch größere Kosten machte“316. Mit der neuen Differenzierung zwischen Rittern und Senatoren sieht Mommsen überhaupt erst die Voraussetzung dafür geschaffen, dass „die Gemeinde zweihäuptig werden und eine Aristokratie der anderen Schach bieten“317 kann. Von nun an wird Rom beherrscht vom Gegensatz „des Grundadels und der Kaufmannschaft“318. Sullas Reform habe dann wiederum die Standessicherheit der Ritter gefährdet, indem er die etablierte Zensusordnung beiseitegeschoben und neue Zulassungsregelungen eingeführt habe: Wahrscheinlich ist die Erwerbung des Staatspferdes und damit des Platzes in den Rittercenturien, wie der Senatssitz an die Quästur, an eine ohne censorische Thätigkeit eintretende Voraussetzung geknüpft worden. Diesem Requisit kommt entgegen, dass unter dem Principat der Senatorensohn geborener Ritter ist […] Nicht unmöglich ist, dass er [also Sulla, Anm. S. St.] sich darauf [also auf die Geburt als Voraussetzung, Anm. S. St.] nicht beschränkte. Wenn unter dem Principat als Ritter senatorischen Ranges neben den Senatorensöhnen auch diejenigen jungen Männer gelten, denen der Kaiser den Offizierdienst nach senatorischer Art gestattet und die senatorische Laufbahn eröffnet, so kann, da nach der sullanischen Ordnung der Kriegstribunat von den Comitien oder den Feldherren vergeben wird, sehr wohl der junge Mann nicht senatorischer Herkunft damals mit der Offizierstelle das Ritterrecht erworben haben.319
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Mommsen antwortet darauf in einem Brief vom 22.5.1887: „Wenn ich das Senatspferd eine Last nenne, so ist damit lediglich gemeint, daß es, finanziell berechnet, mehr kostete als eintrug. Natürlich verschlug das bei den Empfängern nicht.“ (ebd. 422). Vgl. Mommsen StR III/1 1887, 506, 1. Sowie Mommsen Abriss 1974 [1907], 36. Mommsen StR III/1 1887, 506, 1. Vgl. dazu auch ebd. 551 (Ritterpferdverleihung „um ihnen eine Ehre zu erweisen“); Mommsen Abriss 1974 [1907], 35 (Ritterpferd wegen „des damit verbundenen Ansehens wegen […] begehrt“). Mommsen StR III/1 1887, 506, 1. Mit der Zuschreibung „zweihäuptig“ spielt Mommsen auf Varro an, wo es heißt, die Übertragung der Strafjustiz an die Ritter habe das römische Gemeinwesen „doppelköpfig“ (bicipitem) gemacht (vgl. Var. vit. pop. Rom. 114). Später ist bei Mommsen davon die Rede, dass Gaius Gracchus die „Optimatenherrschaft niedergeworfen“ (Mommsen StR III/1 1887, 510) habe. Ebd. 511. Im „Abriss“ ist die Rede von „Amtsadel“ versus „Finanzaristokratie“ (Mommsen Abriss 1974 [1907], 36). In Mommsen StR III/1 1887, 456 wird „Geschlechtadel“ und „Grossgrundbesitz“ gegen „Capitalistenstand“ und „Kaufmannschaft“ abgesetzt. In Mommsen Vorlesung II 2007 [gehalten 1866/67], 77 werden Ritter und Senatoren als „zwei Claßen der Aristokratie“ bezeichnet. Mommsen StR III/1 1887, 486. Ebenso Mommsen StR I 1887, 545. Vgl. in knapperer Form, aber mit gleichem Inhalt auch Mommsen Abriss 1974 [1907], 36 f. Wilamowitz kritisiert Mommsens Darstellung der sullanischen Ordnung in einem Brief vom 20.5.1887 (vgl. Calder III/Kirstein 2003, 418 f.).
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Mommsens Theorie, die er mit Blick auf die kaiserzeitliche Ordnung per Analogieschluss herleitet, sieht die Zulassung zur Ritterschaft unter Sulla auf zwei Pfeilern bzw. Voraussetzungen ruhen: Erstens ist die soziale Herkunft, also die Geburt als Sohn eines Senators, ausreichend um als Ritter zu gelten. Bis zu ihrem Eintritt in den Senat zählen die Senatorensöhne somit zur Ritterschaft. Hier nimmt Mommsen sein früheres Argument der „factischen Erblichkeit“320 wieder auf. Weil der Senatorensohn in der Regel über eine vornehme Herkunft verfügt, kann man ihn von vornherein als „geborene[n] Ritter“321 werten. Interessant ist nun die zweite Variante, die Mommsen bei der Frage nach den Voraussetzungen für die Aufnahme in die Ritterschaft ins Spiel bringt. Denn neben der Geburt als Senatorensohn sieht Mommsen (spätestens in der Kaiserzeit, aber womöglich auch schon seit Sulla) auch die Möglichkeit der Qualifikation durch Ausübung eines militärischen Amtes. Für Mommsen stellt diese Variante eine Imitation des Nobilitäts-Prinzips dar: „So wie einst diejenigen Plebejer, welche zu Gemeindeämtern gelangt waren, ihren Häusern eine bevorzugte Stellung erwarben, so [bildeten] jetzt diejenigen Ritter, welche nach geleistetem Offiziersdienst die Verwaltungslaufbahn einschlugen […] eine Nobilität zweiten Ranges […].“322 Der Ritter, der das Amt eines Kriegstribuns ausübt, sichert sich und seiner Familie eine erhöhte Stellung in der Prestigehierarchie. Mommsen spricht in Anspielung auf eine TacitusPrägung (equestris nobilitas) von einem „ritterlichen Beamtenadel“ bzw. eben einer „Nobilität zweiten Ranges“323. Seine hypothetische Vermutung einer „militärpolitischen Integration“ der Ritterschaft läuft parallel zu der Vorstellung einer „sozialen Integration“, dass also Senatorensöhne automatisch wegen ihrer privilegierten sozialen Herkunft Ritterstatus erlangen, der Standestitel eben „factisch erblich“ ist. Im Hintergrund seiner Argumentation zur Entwicklung der Ritterschaft schimmert einmal mehr die Grundformel von Mommsens Konzeption der römisch-republikanischen Gesellschaftsordnung durch: Es gibt den Vorzug durch adlige Geburt, ergo soziale Herkunft. Aber „in beschränktem Massstab“324 ermöglicht eben auch die politische Leistung, ergo die Ausübung eines Amtes den Gewinn von sozialem Status. Ein gewisses Maß an sozialer Mobilität wird von Mommsen in seinem Modell also immer miteingerechnet. 3.7 Exkurs: „Ritterstand“ Wiederum ein kurzer Seitenblick auf die Verhältnisse in der Kaiserzeit: Mit der Person des Kaisers erweitert sich die Chance, Ritter zu werden noch um eine weitere Dimension. Einerseits gibt es jetzt ein eigenes kaiserliches Büro, das die Ver320 Mommsen StR III/1 1887, 501. 321 Ebd. 501. 322 Ebd. 563 f. Jochen Bleicken spricht daran anknüpfend von den Rittern als einem „Abklatsch der Nobilität“ (Bleicken 1995, 83). 323 Mommsen StR III/1 1887, 563 f. Tacitus’ Wortprägung sei eine „sicher nicht technische[n], aber prägnant richtige[n] Bezeichnung“ (ebd. 563, 3), so Mommsen. 324 Ebd. 507.
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mögenslage der einzelnen Bewerber kontrolliert und so die von Sulla ausgesetzte zensorische Überprüfung wieder reaktiviert.325 Neben die bürokratische Einschätzung tritt aber auch noch ein neuer Entscheidungsfaktor: die Gunst des Kaisers. Sein Urteil über die Befähigung eines Mannes war von nun an ebenso ausschlaggebend wie der Zensus: „[…] mochte die Verleihung mit Census oder ohne solchen stattfinden, in der Kaiserzeit wurde jedem, dessen Qualification constatirt und der dem Kaiser genehm war, das Ritterpferd sofort verliehen“326. Mommsen verweist darauf, dass der Kaiser nun besondere „Vertrauensposten“ (vor allem Geschworenen- und Offiziersstellen) mit Rittern besetzte, um sich von den republikanischen nobiles zu emanzipieren.327 Insbesondere im militärischen und verwaltungspolitischen Bereich sieht Mommsen die Ritter, die nun nach seinen Angaben vor allem auch aus den italischen Provinzen rekrutiert werden,328 eine zunehmend größere Rolle spielen. Sie nehmen u. a. Statthalterschaften in der „Kornkammer“ Ägypten ein, kommandieren die kaiserliche Garde, besetzen höchste Kanzleiposten am kaiserlichen Hof und sind am kaiserlichen Konsilium beteiligt, wodurch sie „gleichsam zu Hausgenossen des Kaisers“329 werden, wie Mommsen pointiert. Die unterschiedliche Ämterausübung habe dann naturgemäß eine Differenzierung in ritterliche Rangklassen zur Folge, die innerhalb des Ritterstandes sogar noch krasser zu Tage trete als anderswo: „Der thatsächliche Gegensatz grösseren oder geringeren Ansehens, der in keinem Stande fehlen kann, ist mit besonderer Schärfe in der römischen Ritterschaft hervorgetreten.“330 Wiederum ist es das ausgeübte Amt, das über den individuellen Prestigewert entscheidet. Die rein ökonomische Besitzverteilung eigne sich dagegen nicht zur Hierarchisierung der verschiedenen ritterlichen Rangpositionen, „theils weil die Abstufungen des Gehalts innerhalb der gesamten nicht senatorischen Beamtenschaft wahrscheinlich zu mannichfaltig waren, um sie den Rangklassen zu Grunde zu legen, theils und vor allem, weil die Rangstellung unmöglich ausschliesslich vom Gehalt abhängen konnte“331. Der Rang des Ritters hängt in der Kaiserzeit daher auch nicht von seiner Besoldung ab, ökonomischer Besitz an sich garantiert noch keine soziale Privilegierung, denn „recht wohl können selbst von den Ritterprocurationen manche minder besol-
325 Eck verweist hier auf eine historische Ungenauigkeit. Die hierarchische Bürostruktur, die Mommsen schildert, sei erst im späteren Verlauf der Kaiserzeit festzumachen (vgl. Eck 2013, 60). 326 Mommsen StR III/1 1887, 491. Sehr wahrscheinlich sogar auf Lebenszeit. Allerdings wurde der Ritterstatus dem ungeeigneten oder in Ungnade gefallenen Inhaber auch schnell wieder entzogen (vgl. ebd. 492 f.). 327 Vgl. Mommsen Vorlesung II 2007 [gehalten 1866/67], 78. 328 Vgl. dazu Mommsen StR III/1, 1887, 502. Allerdings geht er für die republikanische Zeit von einer expliziten „Zurücksetzung der Provinzialen“ aus (vgl. zum Problem aus Sicht der modernen Forschung: Alföldy 2011, 165 f.). 329 Mommsen StR II/2 1887, 989. Für Mommsens erstaunlich problembewusste Behandlung des kaiserlichen Hofes vgl. generell Winterling 1999, 12–15. 330 Mommsen StR III/1 1887, 562. Stein übernimmt diesen Gedanken eins zu eins, ohne hier auf Mommsen zu verweisen (vgl. Stein 1927, 420). 331 Mommsen StR III/1 1887, 564.
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dete im Range andern besser bezahlten vorgegangen sein“332. Der Ritterstand, die „Beamtenschaft der zweiten Nobilität“333 gliedert sich demnach nicht nach Einkommensklassen, sondern nach Ämtern: Oben die Gardepräfecten („viri eminentissimi“), darunter die Finanzverwaltungsspitzen und kaiserliche Sekretäre („viri perfectissimi“) und schließlich alle übrigen ritterlichen Beamten („viri egregii“).334 Grundsätzlich stelle sich angesichts der kaiserlichen Designationspraxis dann aber doch die Frage, „ob Agrippa oder ob Maecenas im augusteischen Regiment mehr zu bedeuten gehabt“335 hätte. Diese zugespitzte Bemerkung macht deutlich, wie genau Mommsens Blick für die mitunter paradoxen Konsequenzen der kaiserlichen Personalpolitik war. Weil die Gunst des Kaisers eben auch Söhne von Freigelassenen zu Rittern werden ließ, trat jetzt auch die „factische Erblichkeit“ in den Hintergrund.336 Sozialer Aufstieg von Söhnen nicht-senatorischer Familien in die Ritterschaft und davon ausgehend auch – durch Kaiserwahl – in den senatorischen Stand wurde jetzt möglich. Denn der Kaiser kann im Rahmen einer „ausserordentliche[n] Verleihung des Senatssitzes“337 ihm genehme Ritter an der traditionellen Ämterlaufbahn vorbei zu Senatoren machen. Ein so einflussreicher ritterlicher Bediensteter wie der Gardepräfekt habe sogar „ein thatsächliches Anrecht“ auf einen Sitz im Senat, der für ihn praktisch so etwas wie eine „ehrenvolle Versetzung in den Ruhestand“338 bedeute, wie Mommsen anfügt. Dass die Ritterqualifikation rechtlich nicht mehr eindeutig ist, wenn die Willkür einer Wahl durch den Kaiser bestimmte Gesetzmäßigkeiten des traditionellen Ordnungsgefüges konterkariert, ist ihm klar: „Ueberall aber wird man sich gegenwärtig halten müssen, dass die über die Qualification der Ritter aufgestellten Normen überhaupt und namentlich in der Kaiserzeit mehr leitende Maximen sind als gesetzliche Schranken und im Zutheilen wie im Entziehen des Ritterrechts die Willkür sich häufig über dieselben wegsetzt.“339 332 Mommsen StR I 1887, 305, 5. 333 Mommsen StR III/1 1887, 564. 334 Vgl. ebd. 565. Vgl. auch Mommsen StR II/2 1887, 1117. Auf Mommsens Differenzierung verweist auch Rilinger 1985, 316, der aber erst seit dem Ende des 2. Jahrhunderts n. Chr. so anordnet. 335 Mommsen StR III/1 1887, 553. Vgl. ähnlich auch Mommsen StR III/2 1888, 1222. 336 Vgl. Mommsen StR III/1 1887, 500 f. Dieser Punkt wird gut zusammengefasst in: Anonymos 1888a, 627. 337 Mommsen StR III/1 1887, 508. 338 Ebd. 508, 2. Zu Mommsens Meinung über die besondere Machtstellung von Prätorianerpräfekten, insbesondere des Seianus vgl. Mommsen StR I 1887, 450, 1, wo es heißt, dass „Seianus dem Monarchen gleichgestellt“ gewesen sei. Ebenso Mommsen StR II/2 1887, 990 bzw. ebd. 1113 f. Hier fällt auch der Satz: „Es gehört zum Charakter des römischen Principats politische Machtstellung und Staatsamt nach Möglichkeit getrennt zu halten.“ 339 Mommsen StR III/1 1887, 496. Vgl. auch Mommsen StR III/1 1887, 508: „Im Uebrigen lassen sich allgemeine Regeln weder über die Aufnahme des Ritters in den Senat überhaupt noch über die in diesem Fall ihm zugetheilte Rangklasse aufstellen.“ Dass auch die vom Senat geregelten Einordnungen von privaten Begleitern des Feldherrn in die militärische Hierarchieordnung „wohl nie fest definirt worden sind“, gibt Mommsen ebenso zu Protokoll: „[…] es scheint, dass diese, obwohl von Rechts wegen nur Private, factisch behandelt wurden als Offiziere in Disponibilität und der Feldherr sie nach Ermessen verwenden, auch ohne Verletzung der Hierarchie den wirklichen Offizieren überordnen konnte“ (Mommsen StR I 1887, 230).
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Der vorläufige Endpunkt in der historischen Entwicklung der Ritterschaft wird dadurch markiert, dass „dem senatorischen Erbadel in den jetzt auf Lebenszeit ernannten Rittern ein auf kaiserlicher Verleihung beruhender Personaladel an die Seite gestellt und die aus der republikanischen Zeit überkommene Rivalität der Geschlechtsaristokratie und des höheren Bürgerstandes den Interessen des Principats dienstbar gemacht“340 wurde. Die Grenzen zwischen den beiden Statusgruppen und vor allem die zwischen ihnen und den darunter geordneten freigeborenen und freigelassenen Bürgern sei in gewisser Weise „willkürlich“, also nicht rechtlich fixiert, aber diese Grenze sei trotz allem „scharf, eben weil sie ständisch ist“341. Dass Mommsen die „Schärfe“ der sozialen Distinktion innerhalb des römischen Gemeinwesens und die zentrale Bedeutung derselben für die Funktionsmechanismen der politischen Institutionen sehr klar erkannt und auch dargestellt hat, davon zeugt der dritte Band seines „Staatsrechts“ insgesamt, und das „Ritterschafts“-Kapitel im Besonderen. Hier war er eben in der Tat „viel eher auch Sozialhistoriker“342 als die meisten seiner modernen Kritiker bisher annehmen wollten. 3.8 „Freigelassene“ „Auf die freigelassenen bin ich sehr neugierig“343, schreibt Wilamowitz am Ende eines Briefes vom 21. April 1887 an Mommsen und verspricht ihm eine schnellstmögliche Lektüre der Druckfahnen. Besonders beeindruckt scheint er vom Gelesenen dann allerdings nicht gewesen zu sein. In seinem nächsten Brief vom 1. Mai 1887 bemerkt er ganz beiläufig, fast rüde: „Zu Deinen freigelassenen kann ich nichts sagen.“344 Hermann Schiller hingegen lobt das „Freigelassenen“-Kapitel in seiner Rezension von 1889 überschwänglich, das Thema erscheine hier gerade wegen Mommsens intimer Inschriftenkenntnis in einer „vollständig neuen Behandlung“345. Wie oben schon angedeutet, ist die Statusgruppe der Freigelassenen in Mommsens Schichtungsmodell durch eine scharfe Grenze von der Senatoren- bzw. Ritterschaft und den Bürgerlichen insgesamt getrennt. Die libertini besitzen grundsätzlich ein „Bürgerrecht zweiter Klasse“346 und befinden sich in einem
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Mommsen beweist hier Sensibilität für die Paradoxien der Schichtung innerhalb der römischen Heeresstruktur. Mommsen StR III/1 1887, 495. Vgl. zu Erbadel/Personaladel auch ebd. 458 bzw. Mommsen Abriss 1974 [1907], 37. Die Begrifflichkeit wird ohne Verweis auf Mommsen aufgenommen z. B. von Stein 1927, 49 und dann später bei Alföldy 2011, 163. Mommsen StR III/1 1887, 567, 1. Bleicken 1998, 1150. Brief vom 21.4.1887 (zit. nach Calder III/Kirstein 2003, 413). Brief vom 1.5.1887 (zit. nach ebd. 416). Schiller 1889, 349. Auch Max Strack verweist in seinem gesellschaftsgeschichtlich schon erstaunlich hellsichtigen Artikel über die „Freigelassenen“ mehrmals auf Mommsens „Staatsrecht“ (vgl. Strack 1914, 8, 1; 10, 2; 13,1; 20, 2; 26). Mommsen StR III/1 1887, 425. Vgl. auch ebd. 444 bzw. Mommsen Abriss 1974 [1907], 42. Aufgenommen wird diese Kategorisierung z. B. von Strack 1914, 13, der neben der rechtlichen
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Stadium der „Rechtsungleichheit“347. Charakterisiert sind die libertini (im Gegensatz zu den ingenui) nach Mommsens Dafürhalten durch den angeborenen „Makel der Sclavenherkunft“348, also ihre ehemalige Unfreiheit. Sie stellen innerhalb der römischen Bürgerschaft rechtlich gesehen die „niedrigste[n] Schicht“349 dar. Mommsen stellt seinen Ausführungen über die Diskriminierung der Freigelassenen den konzeptionellen Hinweis voran, dass er nur die politischen (und damit meint er hier die staatsrechtlichen)350 Benachteiligungen der libertini darzustellen beabsichtigte, „die sociale Zurücksetzung der Libertinen kann in dieser Darstellung ihren Platz nicht finden“. Als aufschlussreiches Beispiel für eine solche Benachteiligung führt er an, „dass wenigstens in der augusteischen Zeit der Freigelassene nach der Hofetikette nicht zur kaiserlichen Tafel gezogen werden durfte“351. Explizit setzt Mommsen hier das „Sociale“ von dem Politisch-Staatsrechtlichen ab. Eine Hofetikette, die dem Freigelassenen aufgrund seiner sozialen Herkunft den Zugang zur prestigereichen Oberschicht verwehrt, ist für die übergeordnete Fragestellung nicht von Interesse. Und doch zitiert er die Passage und lässt damit erkennen, dass ihm die Signifikanz von Etiketten bzw. performativen Elementen für die Prestigehierarchie der römischen Gesellschaft immer gegenwärtig ist. Um die einzelnen Entwicklungsschritte der rechtlichen Diskriminierung der libertini zu kennzeichnen, führt Mommsen im Folgenden dann die „Namensgebung“ als besonderes Beispiel an. Nachdem sie anfänglich durch eine „nomenclatorische Scheide“ von den privilegierten Bürgerklassen getrennt worden waren, durften sie spätestens seit den Gracchen als Zeichen ihres „Ringens […] nach vollem und gleichem Bürgerrecht“352 dieselben fünfzehn bürgerlichen Vornamen wie freigeborene Bürger benutzen. Allerdings seien sie seit Augustus „wahrscheinlich durch Gesetz“353 gezwungen gewesen, immer den Vornamen ihres Patrons anzu-
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Diskriminierung auch auf die faktische Bedeutung der Freigelassenen im Handel und den Augustalenverbänden hinweist. Mommsen Abriss 1974 [1907], 42. Mommsen StR III/1 1887, 422. Ein Makel, der „wahrscheinlich niemals gegangen ist“, wie Mommsen anmerkt. Vgl. auch Mommsen Eigennamen 1864 [1860], 76. Bleicken, dem die Freigelassenen nur eine halbe Seite wert sind, übernimmt die Formulierung ohne Quellennachweis (vgl. Bleicken 1995, 21). Vgl. auch Alföldy 2011, 176. Mommsen StR III/1 1887, 423. Sklaven rechnet Mommsen nicht zur „Bürgerschaft“. Denn der Sklave ist „rechtlich nicht Person, sondern Sache“ (Mommsen Vorlesung II 2007 [gehalten 1866/67], 43). Dass Mommsen „politisch“ synonym mit „staatsrechtlich“ benutzt, davon zeugt auch seine Bemerkung im Vorwort zur zweiten Auflage: „Darum findet auch das Staatsrecht naturgemäß seine Grenze da, wo dieser allgemein politische Charakter der einzelnen Einrichtung aufhört.“ (Mommsen StR I 1887, XII). Vgl. dazu auch Grziwotz 1986, 83: „Staatsrecht und Politik sind danach deckungsgleich und aufeinander bezogen.“ Mommsen StR III/1 1887, 424 mit Verweis auf Suet. Aug. 74. Vgl. zu Mommsens Wahrnehmung der Besonderheiten des kaiserlichen „Haushalts“ generell: Winterling 1999, 12 f. Dass Mommsen durchaus Sinn für die machtpolitische Bedeutung von „Etikettenfragen“ hat, belegt u. a. auch Mommsen StR II/1 1887, 191. Dies ist übrigens die einzige Stelle im „Staatsrecht“, in der die Begrifflichkeit „social“ auftaucht. Mommsen StR III/1 1887, 425. Ebd. 427.
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nehmen. Mommsen interpretiert dies als Zeichen der andauernden sozialen bzw. „sittlichen“ Abhängigkeit zwischen patronus und libertinus: „Vermuthlich sollte die Abhängigkeit der bürgerlichen Stellung des Freigelassenen von dem früheren Herrn auf diese Weise schärfer als bisher zum Ausdruck gebracht werden.“354 Die Führung des Cognomens sei den Freigelassenen in dieser Zeit ebenfalls zugestanden worden. Allerdings sei eine Distinktion gegenüber den Familien der Nobilität bzw. Ritterschaft und den freigeborenen Bürgern insofern gewahrt geblieben, als die Freigelassenen genötigt wurden, „griechische oder sonst ausländische Cognomen zu verwenden“355 und nicht die ehrwürdigen Familienbeinamen der Vornehmen (cognomina equestria). Der fundamentale soziale Unterschied zwischen einem Freigelassenem und einem Freigeborenen sei also in der Beschränkung der Namensgebung für jedermann deutlich erkennbar gewesen. Weiterhin bildet sich die Benachteiligung der Freigelassenen in dem andauernden Abhängigkeitsverhältnis zwischen ehemaligem Patron und libertinus ab, der jenem auch nach seiner Freilassung immer noch Abgaben leisten muss. Es „bindet den Freigelassenen das dem früheren Herrn gegebene Versprechen, eben weil er dazu rechtlich nicht gezwungen werden konnte“356. Eingebettet in eine paradoxe Satzprägung deutet Mommsen hier einen gesellschaftsgeschichtlich interessanten Sachverhalt an: Die Freigelassenen sind zwar rechtlich gesehen freie Bürger, die selbstständig handeln und eigenverantwortlich leben können. Aber es bindet sie eben trotzdem weiterhin ein „sittliches“ Band an den ehemaligen Patron, das sogar so stark ist, dass ihnen ihre „Freiheit praktisch illusorisch und vermuthlich oft unerträglicher (…) als der Sclavenzustand“357 vorgekommen sein müsse. Auch im Heerdienst erfahren die Freigelassenen nach ursprünglicher Gleichbehandlung seit der Zensur von Appius Claudius 312 v. Chr. eine Benachteiligung und werden vom Legionsdienst ausgeschlossen, so mutmaßt Mommsen. Nur für den prestigearmen Flottendienst oder im Notfall werden sie eingesetzt, ansonsten wird zwischen ihnen und den Freigeborenen eine scharfe „Scheide gezogen“358. Noch in der Kaiserzeit sei „kein Grundsatz mit grösserer Strenge durchgeführt worden als der Ausschluss der Freigelassenen vom Wehrdienst“. Sogar eine „fictive Ingenuität“359 wird jetzt dem Freigelassenen verliehen, damit er im Heer dienen kann und nicht wegen seiner Herkunft ausgeschlossen bleibt. Auch im Recht zur Eheschließung sieht der Autor des „Staatsrechts“ die Freigelassenen benachteiligt. Eine Ehe zwischen ingenus und libertina (oder umge354 Ebd. 427. Vgl. zur bindenden Kraft der Namensgebung bei Freigelassenen auch Veyne 1995, 19. 355 Mommsen StR III/1 1887, 426. Vgl. dazu auch Mommsen Trimalchio 1966 [1878], 117. 356 Mommsen StR III/1 1887, 432. Auch in Bezug etwa auf die religiös (nicht gesetzlich!) gesicherte Beamtengewalt der Volkstribune heißt es, „dass die ‚heilige‘ oder richtiger die ‚beschworene Gewalt‘ sich nicht deckt mit der ‚gesetzlichen‘ und Eid und Gesetz incommensurable Grössen sind“ (Mommsen StR II/1 1887, 286, 1). Mommsen hat einen Sinn für die Bedeutung sozial ausgehandelter Konventionen jenseits der positiven Norm. 357 Mommsen StR III/1 1887, 433. 358 Ebd. 448. 359 Ebd. 450.
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kehrt) gilt bis zu Augustus’ Lex Papia von 9 n. Chr. als „nicht standesmässig“360. Der concubinatus ist keine rechtlich gültige Ehe, weil der fundamentale Standesunterschied jede legale Bindung ausschließt und sich damit eben fundamental von der ordnungsgemäßen Ehe zwischen Partnern unterschiedlichen, aber eben vergleichbaren sozialen Ranges unterscheidet: Wobei die „factische Ungleichheit der rechtlichen Gültigkeit der Ehe keinen Eintrag thut“361. Eine weitere Diskriminierung der Freigelassenen aufgrund ihrer sozialen Herkunft erkennt Mommsen im Ausschluss von „öffentlichen Verdingungen“, also dem Verbot, geschäftliche Verträge abzuschließen. Interessant ist hier wiederum der Zusatz, die Regelung sei nicht „gesetzlich festgestellt“362 worden, sondern durch die Verfügungsgewalt der Zensoren abgesichert. Das gleiche Prinzip scheint bei der Einteilung der Freigelassen in die politischen Stimmkörper wirksam: nicht ein Gesetz regelt diesen Umstand, „sondern die damaligen Censoren [nutzen] ihre Befugnis, die Bürger nach Ermessen in die Stimmbezirke zu vertheilen zu Ungunsten der Freigelassenen“363. Kurz vor dem Zweiten Punischen Krieg seien die Freigelassenen von den Zensoren ausschließlich den vier städtischen Tribus zugeordnet worden, um ihren politischen Einfluss zu marginalisieren.364 Auch wenn einzelne Reformbewegungen kurzzeitige Veränderungen durchsetzen – die beschränkten politischen Partizipationschancen bleiben ein zentrales Handicap der libertini.365 Aufschlussreich ist, welche tieferliegenden Motive für die politische Diskriminierung der Freigelassenen geltend gemacht werden: Allem Anschein nach geht sie weniger aus von der hohen Aristokratie, welche diese Schichten vermuthlich in der Hand und keine Ursache hatte das Gewicht ihrer Stimmen zu verhindern, als von dem unabhängigen Mittelstand, den die rechtliche Gleichstellung mit den gewesenen Knechten in seinen Interessen beeinträchtigte und in seinem Selbstgefühl verletzte.366
Hier zeigt sich deutlich, dass Mommsens Darstellung die Tatsache sozialer Abhängigkeiten zur Sicherung politischer Machtverhältnisse keineswegs verkennt. Auf seine Betonung eines exklusiven Standesgefühls der sozial aufgestiegenen und an der patrizischen Oberschicht orientierten Plebejer ist schon verwiesen worden.367 Die Freigelassenen werden nicht vom alten Adel diskriminiert, sondern von den Neubürgern, die sich ihre neugewonnene Prestigestellung durch die Abgrenzung von unteren Gesellschaftsschichten sichern. 360 361 362 363
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Ebd. 430. Ebd. Ebd. 431. Ebd. 436. Auf Mommsens Behandlung des Zensors als desjenigen, der „für die soziale und vor allem: moralische Infrastruktur der Gesellschaft aufzukommen hatte und von Amts wegen Urteile über die Persönlichkeiten von Senatoren, Rittern und anderen Bürgern zu fällen hatte“ (Meier 1980, 57), verweist Christian Meier. Zu diesem Punkt vgl. die kompakte Zusammenfassung bei Willems 1889, 664. Mommsen nennt Verbesserungen unter dem Volkstribun Publius Sulpicius 87 v. Chr, dann wieder Rückschläge unter Sulla und schließlich Augustus, der „ihnen das Stimmrecht ein für allemal genommen“ (Mommsen StR III/1 1887, 440) habe. Mommsen StR III/1 1887, 437. Vgl. S. 77 f.
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Schließlich geht Mommsen noch der Frage nach, welche Ämter die Freigelassenen ausüben durften. Für den Senatssitz, das Ritteramt sowie die meisten Priesterämter waren sie in der Republik aber auch in der frühen Kaiserzeit aufgrund ihrer unfreien Geburt in der Regel disqualifiziert. Faktisch habe es zwar immer wieder Ausnahmen gegeben, allerdings hätten Freigelasse nie die „mit dem Amt oder dem Stand verknüpften Titel und Abzeichen“368 erhalten. Er unterscheidet damit kategorisch zwischen dem Amt und dem damit verknüpften sozialen Prestige. An anderer Stelle wird noch angegeben, dass Freigelassene als lictores, accensi, nomenclatores, viatores, praecones angestellt worden seien, mitunter sogar die angesehene Profession eines scriba ausgeübt hätten und durch das Geschenk eines Goldrings den Rittern „gewissermassen gleichgestellt“369 worden seien. Ganz vereinzelt sei es den Freigelassenen auch gelungen, in die höhere Beamtenlaufbahn einzusteigen, auch wenn die kollektiv akzeptierte Prestigehierarchie dadurch gestört wurde: „Ein gesetzliches Hinderniss hat solcher Bewerbung nicht entgegengestanden, aber sie fiel immer auf.“370 Als Kompensation für ihre vielfältigen Benachteiligungen habe Augustus den Freigelassenen dann in den Munizipien einen „Quasi-Senat“371 geschaffen, in dem sie als augustales „beschränkte Ehrenrechte“372 erhalten hätten. Durch den Zugang zur politischen Rangstruktur gelangen auch die Freigelassenen zu einer gewissen sozialen Anerkennung, die sich etwa in einem „Sonderplatz bei den Spielen“373 ausgedrückt habe. Mommsen verweist hier en passant schon auf ein weiteres zentrales Kennzeichen römischer Gesellschaft: Die allgegenwärtige performative Manifestation von Rang. 3.9 Zwischenergebnis Insbesondere im „Bürgerschafts“-Band seines „Staatsrechts“ ist Mommsen nicht nur dazu bereit, die „Juristenbrille“ zur Seite zu legen – um Max Strack e contrario zu zitieren –374, sondern er durchbricht immer wieder die rein verfassungsrechtliche Perspektive, um gesellschaftsgeschichtlich relevante Sachverhalte in seine Darstellung einzuflechten. Einerseits lässt sich daher aus dem „Staatsrecht“ ein historisches Entwicklungsmodell herauslesen. Von der Vorstellung einer klaren Unter368 Mommsen StR III/1 1887, 452. 369 Mommsen StR I 1887, 353. Vgl. auch Mommsens Hervorhebung des accensus-Dieners als eines besonders einflussreichen „Vertrauensmanns“ (ebd. 358) des Magistraten. Vgl. auch „Maecenas“ als politischen „Vertrauensmann“ (Mommsen StR II/1 1887, 729). Vgl. dazu auch Winterling 1999, 14. Auf Mommsens Wahrnehmung der besonderen Aufstiegsmöglichkeiten von „Schreibern“ verweist auch schon: Gelzer Nob. 1912, 10, 8. 370 Mommsen StR I 1887, 354, 2. Vgl. auch ebd. 488, 2: „Freigelassene selbst als Magistrate begegnen erst in der Zeit des tiefsten Verfalls und auch da wohl immer nach Beilegung der fictiven Ingenuität.“ 371 Mommsen StR III/1 1887, 457, 3. 372 Ebd. 453. 373 Ebd. 456. 374 Vgl. Strack 1914, 13.
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scheidung zwischen Bürger und Nichtbürger ausgehend, wird schrittweise die rechtliche Angleichung ehemals diskriminierter Personengruppen als Effekt militärischer und politischer Integration dargestellt und gleichzeitig auf die andauernde Wirkung von vornehmer Herkunft verwiesen. Die grundsätzliche OberschichtenOrientierung und Imitationsbereitschaft sozialer Aufsteiger und daraus folgend die Herausbildung eines exklusiven „Amtsadels“ wird ebenso beschrieben wie die soziopolitischen Diskriminierungen „bürgerrechtlich“ gleichgestellter Personengruppen. Daraus lässt sich dann andererseits auch ein Schichtungsmodell römischer Gesellschaft in republikanischer Zeit ableiten: Im Vordergrund steht die Darstellung der civitas, des städtischen „Rechts- und Integrationskreises“. Die Sphäre der familia wird nicht behandelt.375 Deshalb konzentriert sich die Darstellung ausschließlich auf die männlichen, politisch vollberechtigten Bürger. Frauen, Kinder und Sklaven werden von vornherein ausgeschlossen. Und auch die frühen Plebejer sowie die späteren Freigelassenen finden nur als politisch diskriminierte „Bürger zweiter Klasse“ Erwähnung, nicht als „familiäre“ Klienten. Neben diesem fundamental rechtlichen Schichtungskriterium richtet sich die individuelle Positionierung dann einerseits nach der Herkunft, wird „Adel“ zur entscheidenden Kategorie. Auf der anderen Seite muss sich Adel immer auch über die Herkunft hinaus durch den wirtschaftlichen Erfolg und darauf aufbauend den militärischen oder politischen Dienst beweisen. Mommsen geht nicht von einer klassischen Ständegesellschaft aus, in der allein die Geburt den hohen Status legitimiert, sondern sieht soziale Exklusivität von Beginn an in Verbindung mit politischer Ämterausübung. Dadurch ist Mommsens Schichtungsmodell auch ein gewisses Maß an sozialer Mobilität eigen – die ursprünglich nichtbürgerlichen Klienten sichern sich durch den militärischen Dienst den Bürgerstatus, werden Plebejer, die sich wiederum durch die Übernahme politischer Ämter zur sozialen Oberschicht, zur Nobilität Zugang verschaffen. Trotz dieses soziodynamischen Elements bildet die Hypothese der kollektiven Akzeptanz einer strikten Prestigehierarchie eine wesentliche Konstante in Mommsens Darstellung römischer Gesellschaft. Die Zugehörigkeit zu einer vornehmen, prestigereichen Familie bevorzugt eben „gewohnheitsmässig“ den Kandidaten für ein politisches Amt bei der Wahl. Ein eigentlich irrationales Moment, nämlich der Glaube an die überragende Leistungsfähigkeit einer traditionsdefinierten Oberschicht geht in die Argumentation des Staatsrechtlers ein. Allerdings herrscht gerade wegen der großen Bedeutung von individuellem Prestige im politischen Kontext auch die Notwendigkeit, den individuellen sozialen Status zu inszenieren und die kollektiv akzeptierte Prestigehierarchie durch Zurschaustellung von Rang performativ abzusichern. Dies deutet ein Themenfeld an, das Mommsen ebenfalls berührt. 375 Allerdings erkennt Mommsen die Konkurrenz zwischen „privater“ und „öffentlicher“ Rechtssphäre deutlich, wenn er auf die private Strafjustiz der Familienväter innerhalb der familia hinweist, bei der „mehr das Gewissen als die Rechtsnorm die Entscheidung giebt“ (Mommsen StR I 1887, 307 f.).
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4. MANIFESTATIONEN VON SOZIALEM RANG 4.1 Theatersitzordnung und Interaktionsrisiken Im „Staatsrecht“ wird an verschiedenen Stellen von der Notwendigkeit einer performativen Einlösung des sozialen Status gehandelt. Nicht nur die politische Symbolik des Amtsträgers (Liktoren) findet in diesem Zusammenhang Erwähnung, sondern auch verschiedene Praktiken, durch die eine besondere Prestigestellung demonstriert wird: Mommsens Angaben zur Theatersitzordnung sind in diesem Zusammenhang besonders auffällig. Im Theater, wo der „factische Gesammtwille der Gemeinde“376 kundgetan werde und sich den nichtaristokratischen Bürgern die Gelegenheit zur unmittelbaren Herrscherkritik bzw. politischen Dissens- oder Konsensmarkierung biete, weshalb den Spielen eine „in die Politik eingreifende Bedeutung“377 zukomme, in der symbolisch aufgeladenen Sphäre des Theaters also, wertet Mommsen die jeweilige Platzierung als unmittelbaren Indikator des individuellen Prestigewertes einer Person. Insbesondere nach dem Zweiten Punischen Krieg sei die soziale Differenzierung der politischen Stände ostentativ durch die Zuweisung bestimmter Ehrenplätze in Szene gesetzt worden. An der Sitzverteilung im Theater lasse sich die gesellschaftsgeschichtliche Entwicklung daher genau ablesen: „Aeusserlich beginnt die Scheidung der privilegirten Stände mit der Sonderung der Sitze bei den Schauspielen; wie der Eintritt des Optimatenregiments sich kennzeichnet durch die im Jahre 560 [= 194 v. Chr., Anm. S. St.] den Senatoren eingeräumte Proedrie, so bezeichnet […] die Proedrie der Ritter die beginnende Zweihäuptigkeit.“378 Mommsen blickt im Laufe seiner Analyse immer wieder nebenbei auf die zentrale Bedeutung der Theaterplatzzuweisung als Spiegel der römischen Prestigehierarchie. Besondere Aufmerksamkeit schenkt er dabei dem ritterlichen Anrecht auf Sondersitze im Theater. Erst mit dem Anspruch auf „ständische Sonderplätze“ trete die Existenz der Ritterschaft als selbstbewusster Stand neben den Senatoren wirklich zu Tage.379 Dabei stellten die ritterlichen Theatersitze im politischen Diskurs einen besonderen Zankapfel dar. Während Gaius Gracchus sie den „Staatspferdinhabern“ zugestanden habe,380 seien ihnen die Sitze von Sulla wieder genommen 376 Mommsen StR III/1 1887, 305. Vgl. dazu auch Beheiri 2007, 301 f. 377 Mommsen StR II/2 1887, 951. Vgl. z. B. Mommsens Hinweis auf den Einfluss der aedilicischen Volksfeste auf die Prätorwahlen und die senatorische Furcht vor contiones in steinernen Theatern (vgl. Mommsen StR I 1887, 525 bzw. ebd. 532, worauf interessanterweise auch Gelzer verweist: Gelzer Nob. 1912, 91, 10). Mommsen spricht andernorts davon, dass sich der politische Wahlkampf schon früh weg „vom Schlachtfeld und vom Rathaus auf den Spielplatz“ (Mommsen StR I 1887, 296) übertragen habe. Es ist also irreführend zu behaupten, dass im „Staatsrecht“ generell „Versammlungen, die der politischen Präferenzbildung dienten nicht in den Focus der Betrachtung“ (Dissen 2009, 36) geraten. 378 Mommsen StR III/1 1887, 458. Vgl. für Theatersitzpolitik als Spiegel der sozialen Hierarchie auch ebd. 519 bzw. Mommsen StR I 1887, 407. 379 Vgl. zu ritterlichen Theaterplätzen auch ebd. 456, 2 bzw. 519. 380 Vgl. dagegen etwa Arthur Stein, der von einer Proedrie aller „Angehörigen des Ritterstandes“ (Stein 1927, 26) ausgeht.
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und die Ritter „auf die Plebejerbänke“381 zurückverwiesen worden. Erst die Lex Roscia von 67 v. Chr. habe dann die ursprüngliche „Sitzgleichheit“ zwischen Senatoren und Rittern wiederhergestellt. Als so signifikant für die individuelle Statusmanifestation schätzt Mommsen die Theatersitze ein, dass er sogar von einer strengen öffentlichen Kontrolle in Form einer „Theaterpolizei“382 ausgeht, die Verstöße gegen allgemeine Ehrenkodizes nicht nur mit der Enthebung von Amt- und Machtposition ahnden, sondern als besondere Strafmaßnahme gegen „Contravenienten“ eben auch den Entzug des privilegierten Theaterplatzes einsetzen. Verarmte Angehörige der jeweiligen Statusgruppe mussten etwa auf besonderen Bänken Platz nehmen, auch das Alter und die politische Leistungsbiographie spielte eine Rolle bei der genauen Platzierung.383 Die Proedrieregelung im Theater, die Mommsen insbesondere im Zusammenhang mit der Ritterschaft diskutiert (aber als zentrales performatives Distinktionsmittel auch für die Senatorenschaft voraussetzt)384, belegt seine genaue Einschätzung der faktischen Einlösung sozialer Statusdifferenzen – im Theater wird die Struktur der römischen Gesellschaft für alle sichtbar gemacht und dadurch manifestiert.385 Auch öffentliche Festlichkeiten wertet der Autor des „Staatsrechts“ als Gelegenheit, den individuellen sozialen Status in Szene zu setzen.386 Etwa bei „Senatorenschmäusen“ und „Bürgermahlzeiten“ sei die soziale Rangordnung gespiegelt worden: hier hätten Senatoren nämlich „wohl schon früh ihre besonderen Tische erhalten […] während die Bürgerschaft auf dem Markte tafelte“387 und ebenso ausländische Gäste seien durch die „Reservirung zweier erhöhter Plätze am Markt“388 geehrt worden. Auch das kaiserliche convivium wird als Ort erwähnt, an dem soziale In- bzw. Exklusion demonstriert wird: Dass die Freigelassenen nicht an der
381 382 383 384 385
Mommsen RG Band 3 1974 [1903], 359 [= II, 346]. Mommsen StR III/1 1887, 521. Vgl. ebd. Vgl. ebd. 458. Ähnlich argumentiert auch Beheiri 2007, 302 f. Man kann übrigens vermuten, dass Mommsens Blick auf die römischen Theater- und Festspiele durch das „Handbuch“-Kapitel „Die Spiele“ von Ludwig Friedländer geprägt ist, aus dem er in diesem Zusammenhang wiederholt zitiert (vgl. Kaufmann/Wannack 2010, 45). 386 Auf Mommsens eigene Beziehung zu ritualisierten Formen der Festlichkeit verweist Maria Alföldi: „Er selbst ging oft und gern in Gesellschaft […] Im Freundeskreis traf man sich regelmäßig zum Abend – später zum Mittagessen reihum alle 14 Tage mittwochs im ‚Kränzchen‘ und nur die Herren freitags zur Graeca [eine 1852 durch den bekannten Rechtshistoriker Carl Gustav Homeyer gegründete kleine Gesellschaft zur Pflege des Altgriechischen, Anm. S. St.]. Mommsen wußte nur zu gut, welchen Aufwand an Geld, an Zeit, an Vorbereitung solche Geselligkeit bedeutete, aber auch wie wichtig sie war.“ (Alföldi 2004, 232 f.). Vgl. zu Mommsens „geselligen Neigungen“ auch den Bericht seiner Tochter Adelheid Mommsen (vgl. Mommsen 1992, 35–38 bzw. Schwartz 1904, 86). 387 Mommsen StR III/2 1888, 894; 894, 3. Als besondere Gunsterweisung des Princeps erwähnt Mommsen „das Recht mit der Gattin und den Kindern im capitolinischen Tempel zu speisen“ (Mommsen StR II/2 1887, 805). 388 Mommsen StR III/2 1888, 1154.
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kaiserlichen Tafel sitzen, wird ausdrücklich als „sociale Zurücksetzung“389 dieser rechtlich diskriminierten Schicht angesehen. Allerdings seien etwa in der Tribus, jener Sphäre, die Mommsen im modernen Wortlaut als „Bezirk, District, Quartier“390 beschreibt, auch vielfältige „Nahverhältnisse“391 zwischen sozial Ungleichen feststellbar, die sich unter anderem darin zeigten, dass sich die verschiedenen Mitglieder einer Tribus an einer gemeinsamen „Tafel“ versammelten.392 Durch soziale Interaktion bzw. die Kommunikation unter Anwesenden sieht Mommsen hier eine Affektionsgemeinschaft gebildet, in der soziale Unterschiede für einen gewissen Zeitraum aufgehoben werden. Einerseits geht es dabei darum, die faktischen Statusdissonanzen für die Minderprivilegierten erträglich zu machen, andererseits verspricht sich die Oberschicht als Effekt davon eine Unterstützung bei den nächsten Magistratswahlen. Insbesondere bei der Abstimmung in den Volksversammlungen, bei denen „die Tribulen bei der Stimmabgabe zusammenstanden“, habe nämlich „die Nahstellung der Tribulen ihr Zusammengehen bei der politischen Agitation gefördert“393. In den einzelnen Tribus seien die Bürger von den Kandidaten umworben und durch „Wahlagenten“394 bestochen worden: die Tribulen erhalten freundliche Briefe, werden zu Wahlessen eingeladen und bekommen besondere Plätze im Theater zugewiesen, denn: „Der Einfluss bei der Wahl ist Einfluss auf die Tribus.“395 Mit diesem kurzen Satz straft Mommsen nebenbei alle Kritiker Lügen, die ihm von vornherein ein Interesse für die nicht formalisierten Muster politischen Handelns absprechen wollen.396 In einiger Ausführlichkeit wird dann im ersten Band des „Staatsrechts“ der Wahlkampf der vornehmen Kandidaten beschrieben, auch wenn hier zu Beginn angemerkt wird: „[…] das Wesen und Treiben der Candidaten zu schildern ist in dem römischen Staatsrecht nicht der Ort“397 – eine typisch Mommsensche Anti389 Mommsen StR III/1 1887, 424. 390 Ebd. 96, 1. 391 Ebd. 321. Vgl. zu den Nahbeziehungen in der Tribus pointiert Meier 1980, 8 bzw. 38, der hier auch auf Mommsen verweist. Für „Nahverhältnisse“ in Bezug zu den salutationes vgl. Mommsen StR II/2 1887, 834. Vgl. dazu auch Winterling 1999, 12 f. 392 Mommsen zitiert Hor. epist. 1, 13, 15 und Suet. Aug. 40 und paraphrasiert: „Der geringe Mann wird von seinem vornehmen Districtgenossen zur Tafel gezogen und beschenkt“ (Mommsen StR III/1 1887, 197, 1). Vgl. dazu Flaig 2004, 168. 393 Mommsen StR III/1 1887, 197. Mommsen meint sogar, dass der Tribusvorsteher verpflichtet war, „die Wohnung jedes einzelnen Districtgenossen zu kennen“ (ebd. 194). Vgl. dazu Jehne 2014, 123. Schon in seiner collegia-Schrift von 1843 widmet sich Mommsen den Wahlbezirken und deren Unterteilungen, die für Bestechung genutzt wurden (vgl. Dissen 2009, 33 bzw. 52). 394 Mommsen StR III/1 1887, 196. 395 Ebd. 198 (mit Verweis auf Cicero und die berühmte Wahlschrift von Quintus). Gelzer zitiert diese Stelle übrigens mit Nachdruck bei seiner Analyse des „Nahverhältnis der Tribulen“ (Gelzer Nob. 1912, 46 f., 5). Vgl. ebenso Meier 1980, 38, 79. 396 Vgl. etwa Wilfried Nippel, der meint, Mommsen blende „rigoros die Umstände aus, unter denen Volksbeschlüsse erzwungen worden sind“ (Nippel 2005b, 180). Vgl. auch Bleicken 1975a, 49 f. bzw. Meier 1977, 32 oder Schnurbusch 2011, 28. 397 Mommsen StR I 1887, 477, 4. Vgl. auch Mommsen StR III/1 1887, 392: „Die bei den Römern sehr entwickelte Wahlvorbereitung ist vielmehr auf privatem Wege und namentlich örtlich gemacht worden.“
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phrase: Eigentlich hat der magistratische Wahlkampf im „Staatsrecht“ keinen Platz, folgt er doch im Ganzen „conventionell[en]“ Regeln, stellen die Bewerbungsmethoden der Magistrate ja Handlungen dar, „welche die Sitte fordert, aber das Gesetz nicht kennt“398. Und doch schildert Mommsen im Folgenden recht anschaulich die praktischen Umstände eines magistratischen Wahlkampfes, bei dem die sozialen Distinktionen gerade dadurch indirekt deutlich werden, dass von den Beteiligten große Anstrengungen unternommen werden, sie ostentativ zu überspielen: Der Kandidat muss seine Statusgleichheit demonstrieren, muss bei sozial Niedriggestellten für sich werben und so viele Hände wie möglich schütteln, damit er den Anschein erweckt, Gleicher unter Gleichen zu sein. Bei seinen „Bittgängen“ über das Forum, wo „so zu sagen die Volksversammlung in Permanenz war“399, muss der Amtsbewerber sich in eine strahlend weiße Toga kleiden, um die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und Eindruck auf das Volk zu machen. Ein solcher Stimmenfang sei „natürlich an den Markttagen am besten angebracht“400, weiß der Wahlkämpfer Mommsen womöglich aus eigener Erfahrung.401 Aber auch die möglichen kommunikativen Desaster, die einem ungeschickten Wahlkämpfer drohen, finden Erwähnung. Hierfür wird die berühmte, von Valerius Maximus überlieferte Anekdote angeführt,402 nach der Scipio Nasica bei der Bewerbung um das Amt eines kurulischen Ädils scheiterte, weil er beim Händeschütteln während eines ambitus-Rundgangs einen Bauern, dessen Hand mit Schwielen bedeckt war, im Scherz gefragt habe, ob er denn auf seinen Händen zu laufen pflege. Dieser derbe Witz, der die mühsam überspielte Statusdifferenz augenblicklich zu Tage treten lässt, wurde vom römischen Stimmvolk, so Valerius, als herablassende Verhöhnung der arbeitenden Landbevölkerung gewertet und Scipio verlor seine Wahl. Anstatt die zwar kollektiv bewussten, aber im Wahlkampf üblicherweise überspielten sozialen Unterschiede aufzulösen, hatte Scipio durch sein Verhalten und seine Redeweise die soziale Distinktion brachial manifestiert. Mommsen weiß um die Bedeutung der richtigen performativen Strategien in einer Adelsgesellschaft, die – wie die römische – von strikten Rangunterschieden gezeichnet ist und doch im kollektiven Bewusstsein als republikanisches Gemeinwesen, als res publica, wahrgenommen werden will.
398 Mommsen StR I 1887, 477 bzw. ebd. 480. 399 Mommsen StR III/1 1887, 219. 400 Mommsen StR I 1887, 479, 1. Für Wahlkampf auf dem Martkplatz noch unter Augustus vgl. Mommsen II/2 1887, 922. 401 Mommsen war maßgeblich beteiligt am Aufbau des „Deutschen Nationalvereins“ und der „Deutschen Fortschrittspartei“. Von 1863–66 und von 1873–79 war er Mitglied des Preußischen Landtags und von 1881–1884 sogar kurzzeitig Abgeordneter im deutschen Reichstag. Zum Politiker Mommsen vgl. Rebenich 2002, 165–193. 402 Vgl. Mommsen StR I 1887, 478, 2 (mit Zitat von Val. Max. 7,5,2).
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4.2 Insignien und Ehrenrechte Neben allem staatsrechtlich Formalen, so David Monro 1873 in seiner Rezension für „The Academy“, führe Mommsen in seinem Werk auch vor, dass „a trifling detail of costume or etiquette may be the expression of ideas which have permanentely moulded human society“403. Und auch Jacob Bernays stellt wenig später fest, Mommsen habe erstmals „die Costümfragen und Uniformsangelegenheiten gleichsam wissenschaftlich geadelt“404. Noch Andreas Alföldi gesteht zu Beginn seiner Analyse des frührömischen Reiteradels ein, dass bisher allein Mommsen „die Standestracht des Adels mit all ihren Einzelheiten“405 beschrieben habe. In der Tat überrascht der Autor des „Staatsrechts“ seinen Leser an vielen Stellen mit Verweisen auf die statusdefinierende Bedeutung von Kleidung und berührt damit ein Themenfeld, das – wie er selbst einmal bemerkt – klassischerweise eigentlich den „Privatalterthümern“406 zugeordnet wurde. Aber Mommsen unterläuft auch hier die traditionellen fachinternen Ordnungsprinzipien und widmet sich den Spezifika römischer Kleiderordnung in einiger Ausführlichkeit: „Die gebietende Stellung, welche der Beamte in der Gemeinde einnimmt, drückt sich nothwendig auch aus in seiner äusseren Erscheinung“407. Die direkte Korrespondenz zwischen politischem Amt und sozialer Distinktion wird augenfällig. Hier wird sehr deutlich, dass in einer weder egalitären noch klassisch ständischen, sondern nach (politisch definierter) Ehre stratifizierten Gesellschaft soziale Ungleichheit durch äußere Symbolen abgesichert werden muss. Eine statusabhängige Tracht bietet Orientierung, indem sie das besondere Prestige einzelner Individuen kenntlich macht. Ursprünglich herrschte im Kleiderkomment freilich das „Princip der bürgerlichen Gleichheit“408. Keinen Unterschied habe es zwischen Patriziern und Plebejern gegeben. Für lange Zeit kennzeichnen die weiße Toga und die Kopfbedeckung den freien Bürger, während die Sklaven ohne caput barhäuptig bleiben: „In der Tracht der Männer bei ihrem öffentlichen Erscheinen […] findet Bürgerrecht und Freiheit im Gegensatz zu Peregrinität und dem Sclavenstand […] sichtlichen Ausdruck.“409 Die Toga sei getragen worden, um in der Öffentlichkeit den Bürgerstatus zu demonstrieren, bei Festen, Schauspielen und auf dem Forum. Zwischen Magistrat und 403 404 405 406
Monro 1873, 35. Bernays 1875, 67. Alföldi 1952, 13. Mommsen StR III/1 1887, 200. Vgl. auch die Bemerkung von Richards: „Mommsen does trespasse very considerably on the field of Marquardt. His work overlaps in topics of Dress“ (Richards 1888, 129). Für Verweise auf Marquardt vgl. Mommsen Vorlesung II 2007 [gehalten 1866/67], 22. 407 Mommsen StR I 1887, 372. 408 Mommsen StR III/1 1887, 217. Andreas Alföldi wertet diese Passage als Beleg für den Einfluss von Mommsens politischen Idealen auf sein Werk. Hier schlage deutlich seine „parlamentärdemokratische politische Einstellung“ (Alföldi 1952, 13) zu Buche. 409 Mommsen StR III/1 1887, 215. Vgl. auch Mommsen Vorlesung II 2007 [gehalten 1866/67], 31: „Das Distinctive des Römers, sagt man, ist die Toga: das ist richtig insofern sie Männer von Frauen, Knaben und Sclaven unterschied.“
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gewöhnlichem Bürger habe es dann zwar keinen Unterschied im Schnitt, wohl aber in der Farbe des Gewandes gegeben: „Die Purpurfarbe ist […] als das besondere Abzeichen der Herrschaft betrachtet worden und deshalb dem Bürger deren Tragung untersagt“, so argumentiert Mommsen hier implizit gegen Becker, der behauptet hatte, dass geringe Sorten Purpur von jedermann hätten getragen werden können.410 Der Purpur sei als „sinnlicher Ausdruck“411 der magistratischen Befehlsgewalt und Stellung zu werten. Auch die Kaiser hätten später magistratische Tracht getragen, um ihre republikanische Identität zu markieren. Zu jedem Mittel seien sie bei der modischen Beweisführung ihrer Bodenständigkeit dann allerdings doch nicht bereit gewesen: „Im Badecostüm aber oder im Hauskleid zeigte der Princeps natürlich sich nicht leicht“412. Die besondere Ehre, ein Ganzpurpurgewand als „Gala-“413 bzw. „Festtracht“414 zu tragen, stünde Magistraten nur bei besonderen Anlässen (etwa bei Amtsantritten, Triumphen, Spielen oder Opferhandlungen) und nur für kurze Zeit zu, gewissermaßen, um ihre temporär befristete Sonderrolle zu akzentuieren. Die Amtstracht auch nach Beendigung der politischen Funktionsstelle anzulegen, sei hingegen ein „lebenslängliches Ehrenrecht“ gewesen, von dem ehemalige Magistrate allerdings nur bei besonderen Anlässen wie „Volksfesten“ oder „öffentlichem Opfer“415 Gebrauch machen durften. Der Autor des „Staatsrechts“ hat mithin eine scharfe Wahrnehmung für den auratischen Gehalt von Kleidung als Distinktionsmittel in einer Face-to-facesociety. An dem Kostüm, das die Nachkommen bei den Leichenzügen ihrer Ahnen tragen, könne man „die höchste Würde erkennen, zu der sie es im Leben gebracht“416 haben. Am Gewand ist für Mommsen das symbolische Kapital einer Familie bzw. eines Individuums ablesbar. Durch bestimmte Kleidungsstücke ließen sich derart auch die Freigelassenen von den freigeborenen Bürgern unterscheiden. Der pileus, eine Filzkappe, die der ehemalige Sklave als Zeichen seiner Freilassung trägt, kennzeichneten den libertinus als Angehörigen einer rechtlich diskriminierten Statusgruppe im Unterschied zum freien Bürger. Dabei merkt Mommsen scharfsinnig an, dass der Hut, der ursprünglich als „Kennzeichen der Freiheit“ galt, mit der Zeit „zu einem solchen der Libertinität“417 wurde. Das Freiheitssymbol – das bekanntlich während der Französischen Revolution mit der „Phrygischen Mütze“ wiederbelebt wurde –418 wird zum Makel des nun freien, aber eben nicht freigeborenen Bürgers, der mit dem Hut sein geschorenes Haar verdeckt. Auch das Tragen der toga praetexta scheint dem Freigelassenen verboten zu sein. Für den Autor des 410 411 412 413 414 415 416 417 418
Vgl. Mommsen StR I 1887, 409. Mommsen Abriss 1974 [1907], 108. Mommsen StR I 1887, 421, 4. Vgl. auch Mommsen StR II/2 1887, 806. Mommsen StR I 1887, 439. Vgl. auch ebd. 417. Ebd. 418. Ebd. 437. Vgl. dazu auch Mommsen StR III/2 1888, 1186. Mommsen StR I 1887, 411, 3. Mommsen StR III/1 1887, 429. Durchaus ein Sinnbild für das grundsätzliche Missverständnis der französischen Revolutionäre, dass ihre emanzipatorische Programmatik der Tugendordnung der römischen Republik entspräche (vgl. Riedel 1975a, 764).
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„Staatsrechts“ ein untrügliches Zeichen dafür, dass ihm „das Aemterrecht gefehlt hat“419. Die trabea, das ritterliche Oberkleid, aber insbesondere der angustus clavus, der schmale rote Streifen am Untergewand, sei nach der gracchischen Reform das äußerliche Merkmal, das die Stellung des „Staatspferdinhabers“ deutlich von der des Senators scheidet, so Mommsen, der sich den clavus als eine Art Dienstgrad vorzustellen scheint (im „Abriss“ nennt er ihn „Dienstabzeichen“420). Derjenige, der ihn zu Unrecht trägt ebenso wie derjenige, der einen falschen Platz im Theater einnimmt, habe mit einer Strafe rechnen müssen. Der Goldring (anulus aureus) und die Goldkapsel (bulla) für die Nachkommen der Ritter hätten als weitere Statussymbole des „Staatspferdinhabers“ und gleichzeitig auch als „ein Abzeichen gegen die reichen Freigelaßenen“421 zu gelten. Ursprünglich ein „Distinctiv desjenigen Senators, der ein curulisches Amt bekleidet“, sei das Ringrecht wahrscheinlich im Rahmen des gracchischen Reformprogramms zur Stärkung der Identität auf die Staatspferdinhaber erstreckt und so zum „Distinctiv der beiden oberen Stände gegenüber der gemeinen Bürgerschaft“422 geworden. Auch hier vermutet Mommsen eine magistratische Aufsicht, die die unberechtigte Führung des Goldrings bestraft hätte. Denn in der Tat hätten immer wieder Freigelassene das vornehme Symbol genutzt, um ihre „sociale Zurücksetzung“423 zu überspielen. Dies stellt einen Umstand dar, dem unter anderem das visellische Gesetz von 24 n. Chr. Einhalt zu bieten versucht habe.424 Nähere Betrachtung findet dann auch die obrigkeitliche Verleihung des Goldrings an sozial Disqualifizierte. Sei der Vorgang in republikanischer Zeit noch eine symbolische Ehrenauszeichnung anstelle von wirklicher Standeserhebung gewesen, durch die etwa scribae ausgezeichnet werden konnten,425 habe sich die Bedeutungsdimension dieses Aktes im Prinzipat schlagartig geändert und „rechtliche Bedeutung“426 angenommen. Der Kaiser (und auch schon die ihn präludierenden außerordentlichen Gewaltträger Sulla und Caesar) habe die Verleihung des Goldrings gezielt genutzt, um Günstlingen unter Umgehung der traditionellen Qualifikationsanforderungen (also vornehme Herkunft, Vermögen, Ehre usw.) „das Ritter-
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Mommsen StR III/1 1887, 429. Vgl. auch Mommsen StR I 1887, 485. Mommsen Abriss 1974 [1907], 37. Mommsen Vorlesung II 2007 [gehalten 1866/67], 78. Mommsen StR III/1 1887, 515; 517. Dass dieses Recht wiederum nur den „Staatspferdinhabern“, nicht den bloßen „Expectanten“ zukomme, sei „von Rechtswegen so“, (ebd. 516) behauptet Mommsen. Mommsen StR III/1 1887, 424. Vgl. dazu auch Mommsen StR II/1 1887, 379. Vgl. dazu den 1858 erschienen Aufsatz „Ueber das visellische Gesetz“ (Mommsen Visellisches Gesetz 1907 [1858], 27–32), dessen Grundthese Mommsen aber in Mommsen StR III/1 1887, 424, 3 zurückgenommen hat. Vgl. Mommsen StR I 1887, 353: sie „werden von dem Statthalter, dem sie beigegeben sind, nicht selten durch das Geschenk der Goldringe diesen [den Rittern] gewissermassen gleichgestellt“. Mommsen StR III/1 1887, 518.
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recht in seinem vollen Umfang“427 zu verleihen.428 Mommsen erkennt die fundamentale Bedeutung von äußerlichen Accessoires für die soziale Rangstellung des Einzelnen hier sehr deutlich. Ständische Distinktion drückt sich aber nicht nur in der unterschiedlichen Breite des Purpursaums und anderen Standeszeichen wie etwa Goldring und Goldkapsel aus, sondern auch etwa im senatorischen Schuh (calceus), der sich durch eine besondere Waden-Schnürung vom gewöhnlichen Schuh unterscheidet. Mommsen verweist auf eine inneraristokratische Distinktion, die am Schuh deutlich werde: „Die plebejischen Senatoren haben also von den patricischen sich stets durch die Schuhe unterschieden, indem vermuthlich die Riemen hier an Knöpfen von Metall statt an jenem elfenbeinernen Halbmond befestigt, auch wohl in abweichender Weise geschnürt wurden.“429 Die Plebejer schnüren anders als die Patrizier, der halbmondförmige Knöchelhalter (lunula) wird neben interrex- und Priesterstelle als ein weiterer Beleg für die andauernde patrizische Privilegierung gewertet. Die Akkuratesse, mit der Mommsen die Manifestationen sozialer Distinktion beschreibt, ist erstaunlich, seine Sensibilität für das symbolische Kapital, das über Kleidung umgesetzt wird, lässt ihn erkennen, dass die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe in Rom nicht allein über Zensusbestimmungen oder Ämterzuteilung plausibilisiert wird, sondern auch durch kollektiv akzeptierte Rangmerkmale performativ in Szene gesetzt werden muss. An der Veränderung im Kleidungsstil kann folglich gesellschaftsgeschichtlicher Wandel abgelesen werden: Während zunächst nur Magistrate und Ritter die rotgesäumte Toga getragen hätten und die Senatoren ohne Abzeichen geblieben seien, habe das Aufkommen des breiten Purpursaums am senatorischen Gewand unter Sulla als „der greifbare Ausdruck des voll entwickelten, die bürgerliche Gleichheit zu Fall bringenden Optimatenregiments“430 zu gelten. Der Verlust der politischen Selbstbestimmung der Bürger lässt sich daran ablesen, dass die Toga zum sonntäglichen „Visitenfrack“431 degeneriert. Übrigens eine Formulierung, die Mommsen von Wilamowitz übernommen hat, wie eine Briefstelle zeigt.432 Und als mit dem Prinzipat das Selbstregiment der Gemeinde endet, zeigt sich ihm „die Signatur und der Fluch dieser Epoche, das Absterben des politischen und 427 Ebd. Für die „besondere Rechtsstellung“ des kaisernahen Günstlings, die sich als unabhängig von seiner politischen Leistung darstellt, vgl. auch Mommsen StR II/2 1887, 819 f. bzw. für die besonderen Einflussmöglichkeiten der „amtlosen Vertrauensmänner“ (ebd. 904 bzw. 972). 428 Dass der „auf fictiver Ingenuität beruhende Ritterrang dem in ordentlichem Wege erworbenen gleichsteht, versteht sich von selbst“ (Mommsen StR III/1 1887, 567,1). Auch etwa über die außerordentliche Verleihung eines „Degens“ kann ein amtloser Freigelassener wie Narcissus sozial aufgewertet werden (vgl. Mommsen StR I 1887, 435, 3). 429 Mommsen Sonderrechte 1864, 255. Vgl. zum Schuh als Distinktionsmittel auch Mommsen StR III/2 1888, 888 bzw. ebd. 891. Ebenso Mommsen StR I 1887, 423. 430 Mommsen StR III/1 1887, 219. 431 Ebd. 222, 1. 432 Vgl. den Brief vom 19.6.1887: „Die Römer, gegen welche der Philosoph absticht, trugen ja längst nicht mehr die Toga anders als Frack.“ (zit. nach Calder III/Kirstein 2003, 432). Aufschlussreich für die „Frack“-Denunziation ist auch sein Brief vom 27.2.1887 (vgl. Calder III/ Kirstein 2003, 407).
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des nationalen Selbstgefühls, vor allem in dem raschen Verschwinden der bürgerlichen Toga und dem Umsichgreifen der bequemeren Tracht“433. Die allgemeine modische Simplifizierung ist direkter Ausdruck gesellschaftsgeschichtlicher Transformationsprozesse; denn wenn alle gleich gekleidet sind, dann könnten in der Öffentlichkeit „die Freien gar nicht und kaum noch der Sclave ihrer Rechtsstellung nach unterschieden werden“434. Der Verlust an Kleidungsvielfalt ist also kein Phänomen moralisch-sittlicher Dekadenz, sondern Folge einer Veränderung in der Prestigehierarchie, die in Rom eben nicht in erster Linie durch Gesetze, sondern vor allem durch performative Elemente legitimiert wird. Ohne solche Sachverhalte theoretisch auszuwerten, hebt der Autor hier das Wesentliche hervor: Kleider machen in Rom nicht einfach nur Leute, sondern stabilisieren über äußerliche „Insignien“ wie Knöchelhalter oder Purpurstreifen auf unterscheidende Weise das soziale Schichtungssystem. Als weiteres Zeichen exklusiven Sozialprestiges jenseits der individuellen Tracht gilt Mommsen die Anzahl der Liktoren, die dem Magistraten je nach Rangstellung während der Dauer seines Amtes zugeteilt werden und ihm die fasces als „sinnlichen Ausdruck des magistratischen Imperiums“435, als Beweis seiner temporär besonderen Ehrenstellung vorantragen. Mommsen wertet die Liktoren eben nicht rein funktionalistisch als bloßen Personenschutz, sondern betont ihre symbolische Bedeutung als Signifikanten des Amtsprestiges: Sie sind ihm „die lebendige Darstellung des dem Beamten als solchem überall zustehenden Rechts auf Ehrerbietung“436. Die kollektive Bereitschaft der Bürger, den höheren sozialen Rang eines Amtsträgers zu akzeptieren, steht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Prestigewert, den die „Liktorenmannschaft“ anzeigt. Das genuin politische Symbol wirkt sich indirekt auch auf den sozialen Status des Amtsträgers aus. Einen unmittelbar performativen Ausdruck findet die Ehrenstellung des Magistraten etwa beim Beiseitetreten der Bürger vor ihm auf der Straße. In der Interaktion werden Rangunterschiede ostentativ zur Schau gestellt: Wenn der einfache Bürger einem Magistraten begegnet, sei er gehalten „abzusteigen oder aufzustehen“437, wenn „zwei zur Führung der Fasces berechtigte Magistrate ungleichen Ranges einander begegnen, [sei] der niedere gehalten, die Beile aus den Fasces zu nehmen und diese selbst vor dem höheren zu senken“438. Und die kontinuierlich hoch geachtete Prestigestellung der 433 Mommsen StR III/1 1887, 220. 434 Ebd. Für eine Hinwendung zum „Orientalischen“ in der Kleidung des Kaisers vgl. Mommsen Abriss 1974 [1907], 279. 435 Mommsen Abriss 1974 [1907], 108. Vgl. zu den Fasces als „greifbarem“ Ausdruck der Herrschergewalt auch Mommsen StR II/1 1887, 153. 436 Mommsen StR I 1887, 376. 437 Ebd. 398. 438 Ebd. 378. Für weitere Schilderungen von inszenierter Rangordnung durch Interaktion vgl. etwa ebd. 386, 4 (Censor weicht kurulischem Ädil aus); ebd. 25, 3 (Proconsul steigt vor Consul vom Pferd); ebd. 398 (Bürger steht vor Magistrat auf). Bisweilen wird die römische Prestigehierarchie allerdings durch den Einbruch emotionaler „Tatsächlichkeit“ auch konterkariert. Als der siegreiche Feldherr seiner Mutter begegnet, lässt er vor ihr die fasces senken, als wäre sie ein Magistrat von höherem Rang (vgl. ebd. 379, 3).
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republikanischen Magistrate zeige sich selbst in der Kaiserzeit nicht zuletzt darin, dass der Kaiser vor den Konsuln aufsteht, wie Mommsen mit Verweis auf Sueton angibt.439 Es gilt also festzuhalten: Im „Staatsrecht“ wird ausführlich dargelegt, dass Rang in Rom nicht allein von funktionalen Faktoren abhing, dass die Zuteilung und Akzeptanz von Ehre neben dem „staatsrechtlichen“ Vorgang der Ämterwahl durch die Komitien, auch über nicht-institutionelle, nämlich performative Mechanismen abgesichert werden musste. An der Anzahl der Liktoren und dem demonstrativen Absteigen oder Ausweichen ist die temporär erhöhte Rangstellung eines Amtsträgers abzulesen. So wie etwa an der Purpursaumbreite, dem Knöchelhalter oder dem Theatersitzplatz der dauerhafte persönliche Standesvorteil eines Ritters bzw. Senators erkennbar wird. Dass Mommsen einen Zusammenhang zwischen der politischen und sozialen Ordnung sieht, belegt sein schon von zeitgenössischen Rezensenten erkanntes Interesse an den „Insignien und Ehrenrechten“440 nachdrücklich. 4.3 Senat und Volksversammlung als Feld sozialer Distinktion Zunächst muss im Zusammenhang mit Mommsens institutionenanalytischer Behandlung des Senates ein häufig wiederholter Vorwurf entkräftet werden: Der Senat, so wird oft behauptet, spiele im „Staatsrecht“ eine zu geringe Rolle. Zu einer Art „Puffer“441 zwischen Magistrat und Volk degradiert, werde seiner faktischen Machtstellung im Kontext politischer Entscheidungsprozesse zu wenig Rechnung getragen. Seine Funktion als „soziales Kontrollorgan“ werde nicht hinreichend gewürdigt.442 Eine solche Betrachtungsweise lässt jedoch außer Acht, dass Mommsen durchaus Mechanismen beschreibt, mittels derer der Senat die Magistrate während ihrer Amtszeit kontrolliert: Beispielsweise erhebt er die „Senatsboten“ zu wichtigen Instanzen, die zwar nicht „formell“, aber nach traditioneller Sitte auf die Entscheidungsmacht des Magistraten Einfluss nehmen.443 Auch das magistratische consilium schätzt er in diesem Zusammenhang als effektives sozial disziplinierendes Instrument ein: Obgleich es keine rechtliche Kompetenz hat, „wird es […] seine Wirkung gethan haben“444. 439 Vgl. Mommsen StR II/1 1887, 88. Trotz des faktischen Machtverlustes habe der Konsul seine ostentative Prestigedemonstration in der Kaiserzeit paradoxerweise geradezu verstärkt: „[…] wie auch sein äusserer Prunk nicht ab-, sondern zunahm“ (ebd. 87). Vgl. dazu auch ebd. 38 (in der Kaiserzeit hätten sich die konsularischen Antrittsspiele „an Pracht und Ansehen noch gesteigert“). 440 Vgl. Lange 1872, 688. 441 Gradenwitz 1904, 11. 442 Vgl. etwa Kunkel 1972, 14 bzw. Kloft 1998, 426. 443 Vgl. dazu Mommsen StR III/2 1888, 1107. 444 Mommsen StR II/1 1887, 698. Vgl. dazu auch Mommsen StR I 1887, 307–319. Ebenso Mommsen StR II/2 1887, 988 und Mommsen StR III/2 1888, 1002 bzw. 1028. Auf Mommsens Behandlung des consiliums verweist interessanterweise auch Meier (vgl. Meier 2015, 671, 166). Dagegen meint Dissen, Mommsen lasse generell „Versammlungen, die der politischen Präferenzbildung dienten“ (Dissen 2009, 36), außer Acht.
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Für Mommsen ist der senatorische Ratschlag zwar „formell“ nur eine dahingesagte Meinung einiger vornehmer Männer, aber „materiell“445 erweist er sich eben als wegweisend. In dem Adjektiv „materiell“ spiegelt sich die Anerkennung der tatsächlichen Kraft der auctoritas patrum deutlich wider. Die faktische Macht des Senatorenkollektivs, die die Amtsgewalt des einzelnen Magistraten nicht per Gesetz, sondern qua Gewohnheit einschränkt, basiere eben auf „dem Eingreifen derjenigen Personal- und Coteriepolitik […], die ihren Weg in die Jahrbücher nicht fand“446. Deutlich verweist Mommsen hier auf so etwas wie eine senatorische „soft power“447, einen juristisch nicht fassbaren, „formell unfundirt[en]“448, durch „Herkommen“449 legitimierten Einfluss. Wenn sich ein Magistrat in seiner politischen Entscheidung dem Vorschlag seiner adligen peers anschloss, dann tat er das in dem Wissen darum, dass er nach seiner Amtszeit bei den folgenden Wahlen oder beim nächsten Gerichtstermin wieder auf deren Unterstützung angewiesen war. In jedem Magistrat, schreibt Mommsen prägnant in der „Römischen Geschichte“, „mußte der Adlige […] weit mächtiger sein als der Beamte“450. Der Ratschlag des aristokratischen Senatorenkollektivs habe folglich die gesetzlich normierte Kompetenz des Magistraten übertrumpft, denn: „Wer Augen hat zu sehen, muss es erkennen, dass der Rathschlag des Senats von Haus aus mehr war und mehr sein sollte als ein einfacher Rathschlag und als Fesselung der Executive empfunden und behandelt ward.“451. Gerade die paradoxe, rechtlich nicht eindeutig geklärte, sondern auf seinem versammelten Prestige fundierte Stellung des Senats ist es, die seine Macht kennzeichnet. Die politische Unberechenbarkeit der senatorischen auctoritas verstärkt deren Nachhaltigkeit.452 Dies berücksichtigt der Autor des „Staatsrecht“ sehr deutlich, wenn er vom Senatsregiment sagt, es „beruht ganz auf dem mos majorum. Auch strebte die Aristokratie gar nicht nach einer constitutionellen Fixierung ihrer Rechte, denn jede Fixierung wäre eine Beschränkung gewesen“453. An anderer Stelle heißt es sehr ähnlich: „Auf der Formlosigkeit des Rechts beruht […] die vollständige Ueberwältigung der Jahresbeamten durch die Autorität des Senats“454. Der Senat ist „die höchste berathende Autorität der Gemeinde“455 und beeinflusst das politische Geschehen durch die auf dem Prestige445 Mommsen StR III/2 1888, 1027. Für den „materiell/formell“-Gegensatz bei Mommsen vgl. auch Mommsen StR II/1 1887, 690. 446 Mommsen StR III/2 1888, 1025. 447 Für den Ausdruck und seine vor allem politikwissenschaftliche Verwendung vgl. Nye 2004. 448 Mommsen StR III/2 1888, 1033. 449 Mommsen StR III/1 1887, 306, 1. Vgl. auch Mommsen StR II/1 1887, 675, 1. 450 Mommsen RG 1976 [1902], 274 [= I, 260]. 451 Mommsen StR III/2 1888, 1032. Vgl. auch ebd. 1034, wo es heißt, die senatorische auctoritas sei „mehr als ein Rathschlag und weniger als ein Befehl“. Siehe außerdem Mommsen Vorlesung I 1993 [gehalten 1852], 463, wo vom Senat als „faktischem Regiment“ die Rede ist, bei dem „die Konsuln nur als dessen erste Minister fungieren“. Vgl. ebenso Mommsen Sonderrechte 1864, 202 und Mommsen Vorlesung II 2007 [gehalten 1866/67], 74. 452 Vgl. dazu auch Hölkeskamp 2005, 126 f. 453 Mommsen Vorlesung II 2007 [gehalten 1866/67], 74. 454 Mommsen StR I 1887, 311. 455 Ebd. 695.
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wert seiner Mitglieder gründende soft power. Bei aller Kritik an Mommsens „staatsrechtlicher“ Begrenztheit hat man zu schnell übersehen, dass er gerade den Senat entschieden aus einer gesellschaftsgeschichtlichen Perspektive betrachtet. Und ihn darüber hinaus nicht nur als politisch mächtiges Kontrollorgan beschreibt, sondern auch als eine besondere Sphäre wahrnimmt, in der Rangunterschiede ausgehandelt und manifestiert werden: Die soziale Rangstruktur des Senats sei generell nicht gesetzlich festgelegt gewesen, hier habe vieles „consequent mehr nach dem Herkommen als nach dem Gesetz“456 funktioniert, so der Autor des „Staatsrechts“. Zumindest theoretisch sei die Gliederung innerhalb der Kurie egalitär gewesen.457 Beispielhaft komme dieser Gleichheitsanspruch in der fehlenden Sitzordnung im Senat zum Ausdruck: „In den beiden durch einen breiten Mittelgang geschiedenen Seitenräumen sassen die Senatoren auf Bänken, ohne Rangordnung und ohne festen Platz […] da nie mit einem Worte für irgend eine Magistratur eines bestimmten Platzes gedacht wird, so dürften auch sie einen festen Sitzplatz nicht gehabt, der Regel nach wohl unter den übrigen Senatoren gesessen haben.“458 Anders als in der Volksversammlung, wo der Magistrat erhöht sitzt, sein exklusiver Status offen zur Schau gestellt wird, findet er sich also im Senat als ein Gleicher unter Gleichen.459 Trotz der Abwesenheit einer festen Sitzordnung und des darin behaupteten Gleichheitsanspruchs stellt Mommsen innerhalb der Senatorenschaft aber schon früh eine hierarchische Binnendifferenzierung fest. Einerseits seien hier zentrale Hierarchieverhältnisse der familia nivelliert worden, habe der filius – im häuslichen Bereich der Gewalt des Familienvaters unterworfen – bei der Abstimmung „in der Gewalt nicht unter, sondern neben seinem Gewalthaber“460 gestanden. Andererseits trete etwa die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Geschlecht im Senat, „der von jeher eine Geschlechtsinstitution war“461, aber als ursprünglichstes Distinktionsmerkmal immer wieder auf, obwohl juristisch eine „eigentliche Rechtsverschiedenheit zwischen den älteren und jüngeren Geschlechtern“462 nicht angenommen werden könne. Es ließen sich trotzdem „gewisse 456 Mommsen StR III/2 1888, 1035. Vgl. dazu auch Grziwotz 1986, 176 f. 457 Zwar sei die Ordnung grundsätzlich „aristokratisch“, weil eben nur auf die durchs politische Amt integrierten Vollbürger bezogen, aber innerhalb dieser Ordnung herrsche der Grundgedanke einer „Gleichstellung aller überhaupt Berechtigten“ (Mommsen StR III/1 1887, 91). Zu dieser Formulierung wird Mommsen anscheinend angespornt von einer Bemerkung in einem Brief von Wilamowitz vom 29.1.1887: „Das wesen der adelsherrschaft bedingt, wie Du in einer anm. betonst, die gleichheit der bevorzugten unter sich.“ (Calder III/Kirstein 2003, 395). Vgl. dazu pointiert auch Mommsen StR III/2 1888, 1003. 458 Mommsen StR III/2 1888, 933. Vgl. auch Mommsen Abriss 1974 [1907], 248. 459 Bei der Volksversammlung macht Mommsen ein hoch differenziertes System unterschiedlicher Rangpositionen aus: Die Rostren, so schreibt er, „waren mit einem doppelten höheren und niederen Sprechplatz versehen, von denen je nach dem Range des Sprechenden und dem Belieben des Vorsitzenden die Ansprachen gehalten wurden“ (Mommsen StR III/1 1887, 383). 460 Ebd. 91. Vgl. dazu auch ebd. 59: es „schliesst dieses privatrechtliche Verhältniss die politische Freiheit nicht aus“. 461 Mommsen Vorlesung II 2007 [gehalten 1866/67], 35. 462 Mommsen Abriss 1974 [1907], 9.
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Rangverschiedenheiten“463 etwa zwischen den „minderen“, weil später aufgenommenen Geschlechtern (minores gentes) und den älteren, „besseren“ Geschlechtern (maiores gentes) feststellen, die etwa durch die Gepflogenheit bekräftigt worden seien, „nach diesen beiden Kategorien das Stimmrecht im Gemeinderath zu regeln“464. Aus der höheren Bewertung der Seniorität ergibt sich für Mommsen auch die anhaltende faktische Bevorzugung der patrizischen Senatoren, die sich gewisse Vorrechte etwa bei der interrex-Wahl und der Auspizien-Auslegung bewahren. Während das generelle Stimmrecht grundsätzlich allen Senatoren eigen ist, gilt für Mommsen die Position, an welcher gestimmt werden darf, als untrüglicher Gradmesser des individuellen Prestiges: „Es war folgerecht das Stimmrecht überhaupt als ein wesentlich politisches Recht zu behandeln, dagegen darin, an welchem Platz dies ausgeübt werde, mehr ein Ehrenrecht zu finden.“465 Und so ist die Abfrage der Senatorenmeinung auch nie nur ein rein politischer Vorgang, sondern immer auch eine Demonstration sozialen Rangs. Die Umfrage im Senat sei grundsätzlich „eine der eigenartigsten und eingreifendsten Besonderheiten des römischen Parlaments“466. Prinzipiell baue sie auf der von ihren Teilnehmern akzeptierten Prestigehierarchie auf. Einerseits gebe es amtstätige Magistrate, die im Senat nur ihre Meinung äußern, aber nicht abstimmen dürften. Andererseits Senatoren, also ehemalige Magistrate, die aktiv stimmberechtigt seien. Während die Magistrate jederzeit und ohne formale Reihenfolge „zwischendurch“467 sprechen können, unterliegt der eigentliche Abstimmungsprozess der Senatoren einer strengen Rangfolge.468 Mommsen geht von einer ursprünglichen „Geschlechterrangtafel“469 aus, auf der die unterschiedliche Dignität der Geschlechter je nach Eintrittsalter und Leistung vermerkt ist und die die genaue Reihenfolge bei der Abstimmung vorgibt. Er erkennt die soziale Dimension des politischen Verfahrens einer Senatsumfrage hier sehr klar: „In der That tritt in dem Vorrang der grösseren Geschlechter bei dem Vorschlagsrecht die Reihenfolge deutlich als Rangfolge auf und nirgends haben die
463 Vgl. Mommsen StR III/1 1887, 91 und ebd. 31. Ähnlich auch Mommsen: StR III/2 1888, 868; Mommsen Abriss 1974 [1907], 9 und Mommsen RG 1976 [1902], 98 [= I, 83]. Dieser These widerspricht Meier 1980, 51. 464 Mommsen StR III/1 1887, 31. Vgl. dazu Bleicken 1995, 48. Übrigens sieht Mommsen die Meinungsabfrage im consilium nach ähnlichem Prinzip geregelt: Wie im Senat gibt auch hier jedes Mitglied „vermuthlich nach der Rangfolge seine Meinung ab“ (Mommsen StR I 1887, 319). 465 Ebd. 458. Vgl. auch Mommsen StR II/2 1887, 940. 466 Mommsen StR III/2 1888, 965. Vgl. auch Mommsen RG 1976 [1902], 270 [= I, 256]. Den Senat bezeichnet Mommsen im „Staatsrecht“ verschiedentlich als „Parlament“ (vgl. Mommsen StR III/2 1888, 965; 1033, 2; 1034; 1255). Die auctoritas des Senats habe auf den Magistraten grundsätzlich so gewirkt wie der Ratschlag, den „der Führer im Parlament seinen Anhängern ertheilt“ (ebd. 1034). Vgl. zur rein „äußerlichen Parallele“ Nippel 2005a, 56. 467 Mommsen Vorlesung II 2007 [gehalten 1866/67], 72. 468 Vgl. dazu Mommsen StR I 1887, 211. 469 Mommsen Vorlesung II 2007 [gehalten 1866/67], 29.
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Rangverschiedenheiten sich schärfer entwickelt als [bei] der Umfrage im Senat.“470 Eine Senatssitzung war – das wird in der Darstellung sehr deutlich – eben nicht nur ein rein „staatsrechtliches“ Verfahren, sondern auch eine Angelegenheit der Gesellschaft. Als in Folge der Ständekämpfe nicht mehr allein die familiäre Herkunft, sondern vor allem die politische Amtsausübung den Prestigewert definiert, werden die unterschiedlichen Amtsklassen zum ausschlaggebenden Faktor für die Platzierung. Wer über die größte politische Erfahrung verfügt, darf jetzt auch als erster stimmen – Konsulare stimmen vor Prätoriern. Das politische Amt hat die Geschlechterzugehörigkeit als Prestigegarant ersetzt und konditioniert nun von sich aus die soziale Stellung. Im Senat stimmen die politisch Erfolgreichen an erster Stelle und markieren dadurch ihren Anspruch auf die höchste Stellung auch im sozialen Gefüge Roms. Gleichwohl bleiben den alten patrizischen Geschlechtern auch jetzt noch gewisse Vorrechte erhalten, wenn es beispielsweise um die Besetzung bestimmter Ehrenposten geht. So sei der princeps senatus weiterhin immer aus den Reihen der besonders angesehenen patrizischen Geschlechter gewählt worden.471 Auch in den Volksversammlungen sieht Mommsen soziale Distinktionsmechanismen wirksam werden. Denn anders als Jehne472, Walter473 oder auch Nippel474 unterstellen, akzentuiert er sehr wohl die besonderen Umstände, unter denen Beschlüsse in der Volksversammlung zustande kommen. Er erkennt und nennt sogar bestimmte kollektivpsychologische Mechanismen wie die einschüchternde Bedeutung der praerogativa, die „einen unverhältnissmässigen Einfluss auf den Ausfall der Wahl“475 gehabt habe. Sowohl die qualitativen als auch die quantitativen Argumente gegen eine Beschreibung des römischen Abstimmungsvorgangs als „demokratisch“ sind Mommsen hinlänglich bekannt. Zum einen verweist er auf den faktischen Ausschluss eines Großteils der römischen Bevölkerung von der politischen Teilhabe, indem er die plebs urbana der „wirkliche[n] römischen Bürgerschaft“476, 470 Mommsen StR III/2 1888, 966 (Hervorhebungen von S. St.). Vgl. die ähnliche Wortwahl zur Charakterisierung der Kaisertitulatur: „Die Reihenfolge dieser Attributionen, welche offenbar zugleich deren Rangfolge ist“ (Mommsen StR II/2 1887, 782, Hervorhebungen von S. St.). 471 Vgl. Mommsen Sonderrechte 1864, 258; Mommsen StR III/2 1888, 868 bzw. Mommsen Vorlesung II 2007 [gehalten 1866/67], 72. Auf Mommsen als Gewährsmann in dieser Sache verweist: Meier 1984, 185, 1. 472 Vgl. Jehne 2005, 139: „Diese Einbindung der Entscheidungen in einen verhältnismäßig engen Traditionsrahmen ist aber für Mommsens rechtssystematischen Ansatz jedenfalls auf der primären Ebene nicht faßbar, auf der die faktische Einhegung der juristisch unbeschränkten Volksentscheidung irrelevant ist.“ Dagegen spricht allerdings etwa Mommsens (oben erwähnter) Blick für die wahlentscheidende Bedeutung von Theaterspielen (vgl. Mommsen StR I 1887, 296). 473 Walter 2007, 477. 474 Mommsen blende „rigoros die Umstände aus, unter denen diese Volksbeschlüsse erzwungen worden sind“ (Nippel 2013, 264). 475 Mommsen StR III/1 1887, 398. Zur „Wichtigkeit der Vorstimme“ vgl. auch ebd. 403 (hierauf verweist als Beleg für die „Öffentlichkeit des Wahlvorgangs“ auch Meier 2015, 632, 83). Mommsen spricht auch vom „Vorrecht der höchst geschätzten Bürger vor denen der minderen Klassen“ (Mommsen StR III/1 1887, 294). 476 Ebd. 388. Vgl. dazu auch ebd. 417, 1.
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also der Reichsbevölkerung, gegenüberstellt. „Oftmals war die Zahl der Abstimmenden eine sehr geringe“477, merkt er an. Zum anderen führt er immer wieder den Wert der einzelnen Stimme je nach sozialer Herkunft bzw. Vermögensstand ins Treffen. Dass in der Centuriatsversammlung die „Reicheren durch die geringere Kopfzahl ihrer Abtheilungen bevorzugt werden“478, beweise unzweideutig die Ungleichheit der Rangverhältnisse. Entscheidend ist hinsichtlich der übergeordneten Fragestellung, dass Mommsen, der „Staatsrechtler“, den Senat und auch die Volksversammlung als Ort sozialer Distinktion wertschätzt und damit wiederum eine enge Beziehung zwischen sozialer Prestigeordnung und politischer Struktur insinuiert. Wiederholt wird im „Staatsrecht“ deutlich, dass die römische Gesellschaft von vielfältigen Rangunterschieden gekennzeichnet ist, die in unterschiedlichen Zusammenhängen inszeniert und manifestiert werden. Nicht nur im politischen Prozess, bei der Wahl in den Komitien oder der Umfrage im Senat, sondern auch bei der Interaktion zwischen sozial Distinguierten wird Prestige profiliert. Nicht nur in der Ämterbezeichnung, sondern auch in privilegierten Theatersitzen, einer besonderen Kleidungsart sowie spezifischen Insignien und Ehrenzeichen wird das sehr deutlich. Wenn nun bisher versucht wurde, die gesellschaftsgeschichtlichen „Schätze“ aufzuspüren, die in Mommsens „Staatsrecht“ verborgen sind, sodass eine Art Konzeption römischer Gesellschaft zum Vorschein kommen konnte, soll nun abschließend noch näher auf Mommsens Begrifflichkeit eingegangen werden. Denn hier löst sich gleichsam semantisch ein, was konzeptionell versprochen wurde. 5. EXKURS: MOMMSENS STAATSBEGRIFF In vielen Einleitungen zu Monographien und Aufsätzen, in denen ein neues Verständnis der politischen Ordnung Roms in Aussicht gestellt wird, findet sich zur Schärfung bzw. Legitimierung des eigenen Ansatzes eine Abgrenzung gegenüber der überkommenen Sichtweise von Theodor Mommsen, der insbesondere mit seinem „Staatsrecht“ ein verzerrtes Bild des römischen Gemeinwesens geliefert habe.479 Die obligate „Mommsenschelte“480 geht dabei häufig mit der Suggestion einher, dass Mommsens methodische Orientierung an der zeitgenössischen Privatrechtswissenschaft zu einer ungebührlichen Modernisierung seines historischen Gegenstandes, also der politischen Ordnung Roms, geführt habe. Dieser Generalverdacht wird oft mit der Andeutung verbunden, dass das „Staatsrecht“ mit einem modernen Staatsbegriff operiere, also den sich erst im Laufe der Vormoderne herausbildenden Terminus „Staat“ und die damit einhergehenden Konnotationen ein-
477 Ebd. 408. 478 Ebd. 403, 7. Vgl. auch ebd. 187: „[…] da die Zahl der Tribulen in den städtischen Tribus die der ländlichen weit überstiegen haben muss, ward jenes Stimmrecht stark entwerthet“. 479 Vgl. beispielhaft nur: Schnurbusch 2011, 26, 5 bzw. Grziwotz 1986, 36, 23. 480 Eder 1980, 385.
5. Exkurs: Mommsens Staatsbegriff
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fach auf die römische Gegenwart übertragen habe.481 Die Stimmen der Kritiker sind gewichtig: Mommsen projiziere Elemente der liberalen Rechtsstaatsidee auf die römische res publica, in der er das Modell eines modernen Staates sehe, „der auf Gewaltenteilung und Volkssouveränität beruhte“482, schreibt etwa Stefan Rebenich. Herbert Grziwotz ist überzeugt, dass Mommsens „Staat dem bürgerlich-liberalen Idealstaat des 19. Jahrhunderts“483 ähnele, und auch Wilfried Nippel versteht das „Staatsrecht“ als Reflex auf den Staatstypus der konstitutionellen Monarchie.484 Egon Flaig deutet ebenfalls an, dass Mommsens Begriff vom römischen „Staat“ zeitgenössischen Paradigmen verhaftet sei.485 Dem entgegen hat Alfred Heuß dem Autor des „Staatsrechts“ zugebilligt, dass dessen modernisierende Systemdogmatik gerade bei seinem Staatsbegriff keine Anwendung finde: Er ist […] nicht doktrinär verfahren und hat diejenigen Konstruktionen, welche die Diskrepanz zwischen Geschichte und Gegenwart am deutlichsten zum Ausdruck gebracht hätten, nämlich die begriffliche Konstituierung eines römischen Staates als Ganzem, unterlassen.486
Statt den römischen „Staat“ zu enthistorisieren, habe Mommsen, so Heuß, gerade an dieser für den Gesamtcharakter des Werkes so entscheidenden Stelle nicht eindeutig „modern“ konzipiert, seinen Staatsbegriff zumindest unscharf gelassen. Gut zwanzig Jahre später knüpft Heuß’ Schüler Jochen Bleicken an diese Argumentation an: Den ‚Staat‘ hat er von vornherein begrifflich nicht definiert und hat damit vermieden, seine Lehre mit einem den römischen Verhältnissen unangemessenen Oberbegriff zu belasten. Wenn er einmal sagt, der populus sei der Staat, hat das für seine Lehre nicht die geringste Bedeutung, sondern ist eine ‚Verlegenheitsfloskel‘, welche die Definition gerade vermeiden soll. Anstelle von ‚Staat‘ benutzt Mommsen meist das Wort ‚Gemeinde‘, das in seiner Zeit gerade nicht ‚Staat‘, sondern (als Stadtgemeinde) organisatorische Einheit oder (als Volksgemeinde) kulturelle Einheit meinte; nicht selten benutzt er auch das Wort ‚Bürgerschaft‘, das auf die Gesamtheit der Personen zielt, die der Ordnung Roms angehören und desgleichen weder ein Rechtsbegriff ist noch ‚Staat‘ im modernen Sinne wiedergeben will.487
Bleicken selbst hat keine Konsequenzen aus seinen Beobachtungen zu Mommsens Staatsbegriff gezogen. Dabei ist seine Feststellung im Zusammenhang der hier verfolgten Argumentation von einigem Gewicht. Denn wenn Mommsen unter „Staat“ prinzipiell nicht den modernen Anstaltsstaat versteht, der im Gegensatz zur Gesellschaft steht, sondern den Begriff viel eher im Sinne von „Stadtgemeinde“ oder „Bürgerschaft“ als politisch integrierte Einheit konzipiert, dann steht das möglicherweise auch in einem Zusammenhang damit, dass immer wieder gesellschafts-
481 Vgl. etwa Wieacker 1979, 316 bzw. Hübinger 2003, 12. Zur Herausbildung des Staatsbegriffs vgl. Schmitt 1985 [1941], 375 f. 482 Rebenich 2005, 187. 483 Grziwotz 1986, 73. 484 Vgl. Nippel 2013, 266. 485 Vgl. Flaig 1993b, 409 f. 486 Heuß 1956, 53. 487 Bleicken 1975a, 41 f.
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geschichtliche Gesichtspunkte Eingang in sein „Staatsrecht“ gefunden haben, dass Mommsen auch Aspekte der sozialen Schichtung und Distinktion berührt. Andeutungen in diese Richtung finden sich schon bei Karl Joachim Hölkeskamp und Aloys Winterling.488 Zuletzt attestierte Margret Dissen dem „Staatsrecht“ in einer Fußnote, „eine Definition von ‚Staat‘ für die res publica zu vermeiden“489. Eine systematische Analyse von Mommsens Staatsbegriff ist aber bisher, wie es scheint, noch nicht unternommen worden. Statt aus dem nebenbei Beobachteten weitere Schlüsse aufs Werkganze zu ziehen, hat man es nur bei vereinzelten Anspielungen belassen. Dabei berührt doch der Charakter von Mommsens Staatsbegriff den wichtigen Bereich seiner theoretischen Vorannahmen und spielt eine zentrale Rolle für den Vorwurf, sein Werk basiere auf einer modernistischen Vergegenwärtigung römischer Gegebenheiten. Mommsen selbst hat sich an keiner Stelle des „Staatsrechts“ explizit zu seiner Terminologie geäußert, wie er ja grundsätzlich äußert sparsam mit theoretischen Programmhinweisen umgeht (jede Theorie, meinte der Polemiker Mommsen, müsse „entweder trivial ausfallen oder transzendental“490). Überraschend ist zunächst, dass Mommsen dem Begriff „Gemeinde“ als generelle analytische Beschreibungskategorie rein statistisch betrachtet den Vorzug gibt.491 Um das römische Gemeinwesen als Ganzes zu kategorisieren, greift Mommsen in den meisten Fällen auf den Gemeindebegriff zurück. Allein schon bei seinen Kapitelüberschriften im „Bürgerschafts“-Band ist die prominente Besetzung der „Gemeinde“ auffällig.492 Das ist mit Blick auf den Titel seines Werkes durchaus erstaunlich und lässt wiederum auf eine Differenz zwischen dem, was Mommsen nach außen hin methodisch proklamiert und dem, was er inhaltlich umsetzt, schließen. 488 Vgl. Hölkeskamp 2005, 110 bzw. Winterling 2005b, 193. Ebenso schon Hölkeskamp 1997, 107: „Darüber hinaus vermeidet er sogar auffällig oft das Konzept ‚Staat‘, indem er eher von der ‚Gemeinde‘ bzw. der ‚Bürgerschaft‘ spricht, die ja gerade nicht mit dem abstrakten, der ‚Gesellschaft‘ gegenübergestellten Staatsbegriff des Rechtspositivismus identisch sind.“ Vgl. jetzt auch Winterling 2014, 256. 489 Dissen 2009, 35,100. 490 Mommsen Rektoratsrede 1905 [1874], 11. 491 Im Rahmen einer Wortfelduntersuchung, die hier mit Hilfe einer digitalen Version des „Staatsrechts“ in der 3. Auflage unternommen wurde, konnte ein deutliches Übergewicht des Gemeindebegriffs vor dem Staatsbegriff festgestellt werden: Band I Band II/1 Band II/2 Band III/1 Band III/2 Gesamt „Staat“ (Häufigkeit) 36 50 32 118 42 278 „Gemeinde“ (Häufigkeit) 382 427 100 510 165 1584 relative Häufigkeit 91,39 89,52 75,76 81,21 79,71 85,07 „Gemeinde“ in Prozent relative Häufigkeit „Staat“ 8,61 10,48 24,24 18,79 20,29 14,93 in Prozent 492 Vgl. Mommsen StR III/1, 1887, VIII–X: „Die Ordnung der patricischen Gemeinde“, „Die patricisch-plebejische Gemeinde“, „Die Verwaltungsbezirke der patricisch-plebejischen Gemeinde“, „Die Frohnden und Steuern der patricisch-plebejischen Gemeinde“, „Die Wehrpflicht und das Wehrstimmrecht der patricisch-plebejischen Gemeinde“.
5. Exkurs: Mommsens Staatsbegriff
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Der Staatsbegriff selbst besitzt in Mommsens „Staatsrecht“ jedenfalls keine erkenntnisleitende Funktion, sondern wird in unterschiedlichen Zusammenhängen gewissermaßen als variables Etikett benutzt. Um den oft wiederholten Vorwurf, Mommsen benutze einen eindimensional-modernen Staatsbegriff, zunächst empirisch zu korrigieren, werden im Folgenden die höchst unterschiedlichen Kontexte betrachtet, innerhalb derer Mommsen den Staatsbegriff verwendet. Sein Staatsbegriff oszilliert nämlich zwischen drei Bereichen: Staat als Reich (imperium), Staat als Volk (populus), Staat als Magistrat. 5.1 „Staat“ als Reich Auf der ersten Seite des dritten Bandes über die „Bürgerschaft“ fasst Mommsen zwei Bedeutungsfelder von „Staat“ in einen Satz zusammen: „Populus ist der Staat, insofern er auf der nationalen Zusammengehörigkeit der Personen ruht, während er als örtlich unter einer Staatsgewalt begriffen das Imperium, das Reich ist.“493 Der „Staat“ kann sowohl von den ihn bildenden interagierenden Personen her personal, aber auch als räumliche Suprastruktur, territorial als „Reich“ verstanden werden, das über den vollbürgerlichen Personenverband hinausgeht und etwa latinische und italische Munizipien, sowie „Halbbürgergemeinden“ ohne aktives und passives Wahlrecht, neugegründete Kolonien und seit dem Prinzipat auch auswärtige Provinzialgemeinden umfasst.494 Die erstgenannte, personelle Bedeutung seines Staatsbegriffs wird im Anschluss behandelt, hier soll zunächst die zweite, territoriale Definition Vorrang haben. Anders als in modernen Staaten, in denen Staatsgebiet und Staatsvolk konvergent sind, erschöpft sich der römische „Staat“ – das macht Mommsen an mehreren Stellen deutlich – nicht in einer rechtlich homogenen Bürgerschaft, sondern umfasst darüber hinaus ein „Reich“, dessen Bewohner Untertanen, nicht aber Vollbürger Roms sind. Ursprünglich galt als Römer nur, wer in den Grenzen der Stadt Rom wohnte: Wer die politische Einheit wechselte, verlor das römische Bürgerrecht und nahm das Bürgerrecht seines neuen Domizils an.495 Zu Beginn sei der römische populus selbst noch „Gemeinde“ gewesen, hätte also „logisch wie factisch keine Gemeinden in sich begreifen“496 können. Ab einem bestimmten Zeitpunkt sei Rom aber „Einheits-Staat“ geworden, indem es sich andere autonome Gemeinden ein493 Mommsen StR III/1 1887, 3. 494 Vgl. ebd. 215: Es sei unsicher, „ob das Territorium, so weit es in älterer Zeit innerhalb der römischen Bürgerschaft als Personalverband zur Geltung kam, für die ausserhalb der Tribus stehenden Halbbürgergemeinden und für die als Bürgercolonien oder Bürgermunicipien constituirten Körperschaften, damals zu nomenclatorischem Ausdruck gelangt ist.“ Das Territorium erstreckt sich also sowohl auf den „Personalverband“ als auch auf Bürger „ausserhalb der Tribus“. 495 Mommsen spricht von der „Incompatibilität des römischen Bürgerrechts mit fremder Gemeindeangehörigkeit“ (ebd. 50). Explizit gegen diese These argumentiert Täubler 1985b [1935], 37. 496 Mommsen StR III/1 1887, 774. Vgl. dazu auch Mommsen Gastrecht und Clientel 1864 [1859], 354.
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verleibte oder neue Kolonien gründete.497 Der römische „Staat“ sei seitdem als „eine Conföderation städtischer Gemeinden unter Führung der Gemeinde Rom“498 zu verstehen. Im „Abriss“ nennt Mommsen nochmals deutlich die einzelnen Entwicklungsschritte: von einer städtischen „Gemeinde“ entfaltet sich Rom zum „Einheitsstaat“, einem, wie Mommsen jetzt definiert, „Reichsverband“499. Es wird hier offenkundig, dass „Staatlichkeit“ nicht als ursprünglicher Ausgangspunkt, sondern als Ergebnis einer Entwicklung gesehen wird.500 Mommsen lässt deutlich werden, dass die geschickte Strategie einer Zwei-Ebenen-Differenzierung – nach der eroberte Städte unter der Oberherrschaft Roms zwar integriert, aber nicht assimiliert wurden – einen drohenden Separatismus innerhalb des rasant wachsenden Herrschaftsbereichs verhindern konnte. In seiner „Römischen Geschichte“ heißt es in diesem Zusammenhang einmal, es erscheine „das, was man die Bezwingung Italiens durch die Römer zu nennen gewohnt ist, vielmehr als die Einigung zu einem Staate des gesamten Stammes der Italiker, von dem die Römer wohl der gewaltigste, aber doch nur ein Zweig sind“501. Der römische „Staat“ ist also die Summe der italischen Stammesgemeinden, unter denen Rom zwar das dominierende Machtzentrum, aber gleichzeitig nur eine Kraft unter vielen ist und die politische Autonomie anderer Gemeinden innerhalb des „Staates“ akzeptiert – Mommsen spricht von der „hybride[n]“ Einrichtung eines eigenen „Stadtrecht[s] im Staat“502. „Staat“ nimmt mithin die Bedeutungsdimension einer territorialen Suprastruktur, eines „Reiches“ an, das sich über die autonomen italischen Stadtgemeinden eigenen Rechts breitet, denen ein Grad an Selbstverwaltung „in einem den uns geläufigen weit überschreitenden Umfang“503 zugestanden wird. Spätestens seit dem Bundesgenossenkrieg, in Folge dessen die italischen Gemeinden das römische Bürgerrecht erhalten, stellt das römische Gemeinwesen eine „Conföderation der sämmtlichen Bürgergemeinden [dar]“504. Was vorher nicht möglich war, wird nun in der Form einer „doppelten Staatsbürgerschaft“ verwirklicht: „[…] indem das Bürgerrecht in der herrschenden Gemeinde zum Reichsbürgerrecht, das Bürgerrecht in der abhängigen zum Stadtrecht wird, [entwickelt sich] der theoretisch und 497 Vgl. Mommsen StR I 1887, 28 („Verschmelzung der drei Gemeinden…zu staatlicher Einheit“); Mommsen StR III/1 1887, 97 („hervorgegangen aus drei einstmals gleichmässig und selbständig und jede für sich geordneten Gemeinden…zum Einheitsstaat“); ebd. 110 („das Erwachsen des Einheitsstaats aus der Conföderation“). 498 Mommsen StR III/1 1887, 608. 499 Mommsen Abriss 1974 [1907], 59. 500 Damit hat Mommsen ein anderes Modell vor Augen als etwa Eduard Meyer, der die These einer ausgeprägten Staatlichkeit als grundlegenden Ausgangspukt aller Entwicklung vertrat (vgl. Meyer 1907, 508–538). Vgl. dazu Momigliano 1982, 27. Dagegen argumentiert jetzt auch Linke 2014, 69. 501 Mommsen RG 1976 [1902], 22 [= I, 6]. 502 Mommsen Röm. Korporationen 1907 [1904], 54. Vgl. auch Mommsen StR III/1 1887, 572. 503 Mommsen StR II/2 1887, 1074. Interessant ist hierzu eine Korrespondenz zwischen Mommsen und Savigny, der hinsichtlich einer etwaigen Unabhängigkeit bzw. Souveränität der italischen Gemeinden skeptisch ist. Vgl. Stahlmann 1988, 491. 504 Vgl. Mommsen StR III/1 1887, 781, 2.
5. Exkurs: Mommsens Staatsbegriff
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praktisch neue Gegensatz des Staates und der Stadt, das aus römischen Vollbürgergemeinden zusammengesetzte Reich.“505 Die Engführung von „Staat“ und Reich ist hier frappant.506 Rom als mächtigste Gemeinde erhebt sein Bürgerrecht, das ursprünglich allein für die Stadt Rom entwickelt wurde, in der Kaiserzeit zum stadtübergreifenden Bürgerrecht, das im gesamten Reich, „staatsweit“ gilt. Der neue Gegensatz von römischem Staat (Reichsbürgerrecht) und untertäniger Stadt (Stadtrecht) hat darüber hinaus die paradox anmutende Folge, dass Rom als herrschende Gemeinde ab einem bestimmten Zeitpunkt eben nicht nur „Stadt“, sondern auch „Staat“ ist : „der in der Stadt Rom domicilirte Beamte war competent für die ganze Stadt, das ist für den ganzen Staat“507, schreibt Mommsen und spricht an anderer Stelle „von der Fiction das römische Gemeinwesen, als Rom längst ein Grossstaat geworden war, als das der ‚Stadt Rom‘ zu behandeln“508. „Staat“, so lässt sich festhalten, bezeichnet für Mommsen in dieser ersten Dimension also das „Reich“ im Gegensatz zur „Stadtgemeinde“. Die zunächst scheinbar paradoxe Überschneidung von „Gemeinde“ und „Staat“ zeugt dabei weniger von begriffslogischer Nachlässigkeit, als viel eher von einem genauen Sinn für den ambivalenten Charakter Roms, das eben spätestens seit dem Bundesgenossenkrieg sowohl Stadtgemeinde als auch Reich war. 5.2 „Staat“ als Volk An mehreren zentralen Stellen des dritten Teilbandes über die „Bürgerschaft“ definiert Mommsen den „Staat“ als einen bürgerrechtlich definierten Personenverband: „Populus ist der Staat, insofern er auf der nationalen Zusammengehörigkeit der Personen ruht.“509 Wiederholt übersetzt er den lateinischen Kollektivbegriff populus Romanus mit der später vom liberalen Staatsrechtler Hugo Preuß bekannt gemachten Formel des „Volksstaats“,510 die bei Mommsen aber wohl eher als eine
505 Mommsen StR III/1 1887, 570 [Hervorhebungen von S. St.]. Vgl. auch ebd. 178 und Mommsen Abriss 1974 [1907], 61. Ähnlich klingt auch schon: Mommsen Bedeutung d. röm. Rechts 1907 [1852], 596 f. 506 Dass „Staat“ bei Mommsen immer wieder als Formel fungiert, um die Reichsdimension anzudeuten, lässt sich anhand weiterer Stellen belegen: Mommsen StR I 1887, 59; Mommsen StR III/1 1887, 85; 484; 588; 831; Mommsen StR III/2 1888, 1004; 1126; 1269. Mommsen folgt hier einer im 19. Jahrhundert verbreiteten Sprachtradition, die „statt vom Reich vom ‚deutschen Staat des Mittelalters‘ und gar von den Staaten der Araber, Türken oder Chinesen“ (Schmitt 1985 [1941], 376) spricht. 507 Mommsen StR I 1887, 59. 508 Mommsen StR II/1 1887, 429. 509 Mommsen StR III/1 1887, 3. Zum „Personenverband“ gehören nur die „Bürger“, die zur Selbstverwaltung berechtigt sind, nicht prinzipiell alle passiven „Einwohner“ Roms. 510 Mommsen Germanische Politik 1905 [1871], 316. Vgl. für die Verwendung des Worts „Volksgemeinde“ auch Mommsen StR II/1 1887, 149, 5; ebd. 180.
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V. Auf Schatzsuche in steinigem Terrain
direkte Verarbeitung ciceronischen Gedankengutes, konkret der Beschreibung des römischen Gemeinwesens in De re publica als civitas popularis,511 erscheint. Der „populus ist der Staat“ – die wiederkehrende Formel hat einen programmatischen Beiklang und sticht aus dem sonst ruhig gehaltenen, deskriptiven Ton des „Staatsrechts“ heraus. Dass Bleicken meint, es handle sich hier lediglich um eine „Verlegenheitsfloskel“, die für Mommsens Konzept „nicht die geringste Bedeutung“512 habe, erweist sich als eine allzu leichtfertige Schlussfolgerung. Denn auch in Mommsens „Abriss“ taucht der Gedanke an zentraler Stelle wieder auf: „Der Staatsbegriff der Römer beruht auf der idealen Übertragung dieser Handlungsfähigkeit [= Handlungsfähigkeit der einzelnen Person, Anm. S. St.] auf die […] Gesamtheit, die Bürgerschaft, den populus“513. Der römische „Staat“ ist in einer solchen Konzeption mithin kein Abstraktum, keine die Volksmasse regulierende „Obrigkeitsanstalt“, sondern im Kern das in Untereinheiten gegliederte Volk, die „Bürgerschaft“ selber. Dem modernen kategorialen Gegensatz zwischen Staat versus Gesellschaft wird hier sozusagen schon aus begriffslogischen Gründen widersprochen: wenn der Staat dem populus entspricht, kann er nicht gegen den populus abgegrenzt werden. Wenn „Staat“ zuvor im Sinne von „Reich“ verstanden wurde, operiert Mommsen mit ihm nun in der Bedeutung von „Personenverband“. Zielte der Staatsbegriff in der ersten Dimension überspitzt gesagt auf territoriale Umgrenzung, aufs „Staatsgebiet“, so betont die zweite Dimension nun die politische Selbstständigkeit der Bürger, das „Staatsvolk“. Wiederholt wird im „Staatsrecht“ dann das semantische Versprechen auch institutionengeschichtlich eingelöst, ist von „souveräner Gewalt der Gemeinde“, „Souveränetät der Bürgerschaft“ oder auch „Volkssouveränetät“ die Rede.514 Mommsen geht etwa davon aus, dass der „Wille des Staats wie durch den Beschluss der Gesammtbürgerschaft, so auch durch den der Versammlung der Plebs […] zum Ausdruck kommt“515. Das „Volk“ ist mithin in erster Linie der populus Romanus, also die in der Volksversammlung organisierte Bürgerschaft. Mommsen geht somit von einem politisch integrierten Personenverband aus: Die römischen Bürger sind 511 Vgl. De rep. I, 42. Zu Ciceros Theorie einer „Volkssouveränität“ vgl. auch Cic. dom. 80. bzw. Jehne 2014, 129–135. 512 Bleicken 1975a, 41. Dagegen argumentiert auch Grziwotz 1986, 137–141. Schon Julius Kaerst verweist in seinem Nachruf auf den Umstand, dass bei Mommsen „das römische Volkstum eine eigenartige Kraft gewinnt in dem festen Zusammenhange seines staatlichen Lebens, in der einfachen und lebendigen Klarheit und der zwingen Macht seiner staatlichen Institutionen“ (Kaerst 1904, 321). 513 Mommsen Abriss 1974 [1907], 63. 514 Vgl. z. B. Mommsen StR I 1887, 13; 255; Mommsen StR II/1 1887, 736; Mommsen StR II/2 1887, 749; Mommsen StR III/1 1887, 29; 313; Mommsen StR III/2 1888, 1030. Vgl. auch Mommsen Vorlesung II 2007 [gehalten 1866/67], 39 bzw. 47. Dass „Volkssouveränität“ in der heutigen althistorischen Forschung als Anachronismus gilt, weil etwa die Komitien kein Initativrecht hatten, es Diktatoren und interreges gab, die nicht vom Volk, sondern vom Senat bzw. dem Magistraten gewählt wurden, ist evident. Zum Problem der „Volkssouveränität“ im „Staatsrecht“ vgl.: Jehne 2005, 134 f. bzw. Hölkeskamp 2004, 20 f., der Fergus Millars „Demokratiethese“ hier anschließen sieht. 515 Mommsen StR III/1 1887, 6. Er spricht sogar von den Comitien als „Träger [der] souveränen Staatsgewalt“ (Mommsen StR III/1 1887, 314).
5. Exkurs: Mommsens Staatsbegriff
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starke politische Entscheidungsträger und nicht „mit dem willenlosen Kinde auf eine Linie zu stellen“516. Dass der römische Magistrat „vor der versammelten Volksgemeinde die Fasces senken“ muss, ist für Mommsen ein schlagender Beweis für die „Souveränetät des Volkes“517. Sogar in der Kaiserherrschaft, die ja eigentlich jegliche Partizipation des Volkes auslöscht, sieht Mommsen eine „Vollendung der Volkssouveränität“518, auch wenn hier wohl keine politisch verfasste, sondern nur eine illegitim-revolutionäre Macht gemeint sein kann. Jedem „Ausnahmeregiment“ droht ja immer die Gehorsamsverweigerung der Regierten, die theoretisch jederzeit den „Nothstand“ erklären und eine Revolution anzetteln können, so die Tendenz von Mommsens Argumentation.519 Die Souveränität des Volkes ist für Mommsen also in gewisser Hinsicht ein zeitloses Prinzip, das in den wechselnden Epochen der römischen Geschichte „in unterschiedlichen Aggregatzuständen“520 zu Tage tritt. Der Gedanke, dass das Volk die treibende Kraft im politischen Aktionsfeld sei, selber den „Staat“ bilde, wird noch pointiert durch die explizite Abgrenzung von anderen, naheliegenden Gewaltträgern: Nicht der rex, erst recht nicht der princeps ist nach Mommsens Dafürhalten der „Staat“, sondern eben das Volk.521 In republikanischer Zeit, so wird an einer Stelle enthusiastisch formuliert, sei der Bürger selbst König.522 Der Magistrat hingegen sei nur der „Mandatar der Bürgerschaft“523, der sich gegenüber der Gemeinde verantworten müsse, die hier als entscheidende Instanz fungiert, um die Macht der „Exekutive“ einzuschränken. Es zeigt sich also, dass hinter Mommsens personeller Staatsdefinition die Vorstellung einer ciceronischen civitas popularis aufscheint. Wenn Mommsen den „Staat“ als populus definiert, verlässt er nicht den römischen Vorstellungshori516 Mommsen Sonderrechte 1864, 281. „Ohne das Satzungsrecht der Comitien kann die römische Staatsordnung überhaupt nicht gedacht werden“ (Mommsen StR III/1 1887, 327 f.), so Mommsen an anderer Stelle. 517 Mommsen StR I 1887, 378. Er leitet den Gedanken offensichtlich aus Cic. De rep. I, 40 ab. 518 Mommsen StR II/2 1887, 1133. Hinter der „rechtlich permanenten Revolution“, die den autokratischen Kaiser „temperiere“, steckt wohl der „Volkswille“ (vgl. Heuß 1974, 80 bzw. Winterling 2005b, 190). 519 Vgl. Mommsen StR II/1 1887, 741 f. Vgl. auch Mommsen StR I 1887, 687 f., wo jedem Staatsbürger das „Nothwehrrecht“ zugestanden wird. Zum Verhältnis Theodor Mommsen/Carl Schmitt allerdings mit Blick auf die „Diktatur“ als „außerordentliche constituierende Gewalt“ bzw. „pouvoir constituant“ vgl. Nippel 2005b, 180, 91 bzw. Nippel 2011, 129–133 und auch Behrends 2014, 349. 520 Jehne 2005, 145 (mit Verweis auf Mommsen StR III/1 1887, 300). Vgl. dazu auch Walter 2007, 476. 521 Vgl. Mommsen StR III/1 1887, 300 bzw. Mommsen StR I 1887, 175, 2. 522 Vgl. Mommsen StR III/1 1887, 359. Vgl. auch Mommsen RG 1976 [1902], 91 [= I, 76] (bürgerliches „Königtum“ hier aber beschränkt auf Senatoren). Dazu passt auch die Rede „von den dreihundert Königen Roms“ (Mommsen StR III/2 1888, 1149). 523 Mommsen StR I 1887, 628. Die Wortwahl könnte von Cic. Off. 1, 124 inspiriert sein, wo vom Magistrat als „se gerere personam civitatis“ die Rede ist. Vgl. sehr ähnlich auch Mommsen StR I 1887, 174 („Mandatare“); Mommsen StR II/1 1887, 614 („Vollstrecker ihres Willens“); Mommsen StR III/1 1887, 327 („Mandatar“). Vgl. dazu Kloft 1998, 421 f. mit Verweis auf die zeitgenössische Dimension des Verantwortlichkeitsdiskurses.
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V. Auf Schatzsuche in steinigem Terrain
zont.524 Populus Romanus blieb bis tief in die Kaiserzeit der terminus technicus für das römische Gemeinwesen, während res publica ja wörtlich nur die Angelegenheiten bzw. das materielle Vermögen des populus meinte.525 Im „Abriss“ heißt es, dass res publica „genau entsprechend dem englischen common wealth, das Gemeinwesen schlechthin bezeichnet“526. Dass England für Mommsen einen passenden Vergleichshorizont zur Beschreibung des römischen Gemeinwesens bildete, wird verschiedentlich deutlich, so etwa auch in der „Römischen Geschichte“, wo es heißt: „[…] so war die römische Volksgemeinde ungefähr, was in England der König ist“527. Was im ersten Moment nach absoluter Volksherrschaft klingt, liefert zugleich aber auch einen Hinweis darauf, dass Mommsen das römische Volk (wie den englischen König) eben „nur“ formal als höchste Macht wahrnimmt, denn das faktische Regiment liege in Rom ausschließlich „bei dem Vorsteher der Gemeinde“. Das Volk herrscht zwar, wird aber regiert, ist abhängig von der Verwaltung des Magistraten. Und so war Mommsen auch weit davon entfernt, über sein Konzept der „Volkssouveränität“ die andere, härtere Seite der römischen Herrschaft zu vergessen. 5.3 „Staat“ als Magistratur In De legibus stellt Cicero fest, dass ohne Herrschaft bzw. imperium keine Stadt, kein Volk und auch keine Familie existieren können. Freiheit (libertas) sei nur denkbar in Verbindung mit Herrschaft.528 Dieses Grundparadoxon durchzieht auch Mommsens „Staatsrecht“. Denn ebenso wie von der „Volkssouveränität“ ist hier auch von der absoluten Befehlsgewalt des Magistraten die Rede. Spannend für diesen Zusammenhang ist, dass dem „Staat“, der eben noch als Reich bzw. populus definiert wurde, hier eine weitere Bedeutung zugeschrieben wird. In einer bemerkenswerten Passage zu den Grenzen der römischen „Volkssouveränität“ heißt es: Die römische Gemeinde hat mehr als die meisten sich willkürlicher Eingriffe in die Rechtssphäre des einzelnen Bürgers enthalten, aber nichts desto weniger immer an dem Gedanken festgehalten, auf welchem in der That alle Staatsordnung und insbesondere alle Criminalgesetzgebung beruht, dass der Staat über seine Bürger nach Ermessen verfügt. Der verwirrten Anschauung, dass die Gemeinde und der Bürger in einem beiderseits gebundenen Rechtsverhältniss 524 Ähnlich argumentiert auch Bendlin, wenn er über das „Staatsrecht“ schreibt, hier konstituiere „sich für Mommsen das römische Volk noch als politische Gemeinschaft“ (Bendlin 2002, 22). Vgl. dazu auch Thomas 1984, 46. 525 Vgl. Kunkel 2005, 10. 526 Mommsen Abriss 1974 [1907], 65. 527 Mommsen RG 1976 [1902], 94 [= I, 79]. Für weitere Vergleiche mit Großbritannien vgl. auch Mommsen Vorlesung I 1993 [gehalten 1852], 448 f. Zu Mommsens grundsätzlicher Anglophilie vgl. Wiedemann 1997, 73–81. Mommsens Verleger Salomon Hirzel und Karl Reimer verwiesen ihn auf Thomas Babington Macaulays’ eben erschienene „History of England“ als ein Vorbild für seine „Römische Geschichte“ (vgl. Wiedemann 1997, 81). Für die spätere Abkehr von England vgl. Mommsen German Feeling 1900, 241–243. Dazu auch Hübinger 2003, 39 f. 528 Vgl. Cic. De leg. III, 3. Dass Ciceros de legibus grundsätzlich Pate gestanden haben könnte für Mommsens deutliche Betonung der Magistratur, meint Grziwotz (vgl. Grziwotz 1986, 75).
5. Exkurs: Mommsens Staatsbegriff
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stehen, eben wie Bürger und Bürger zu einander, haben die römischen Staatsrechtslehrer niemals Raum gegeben.529
In diesem Satz zeigt sich (neben der synonymen Verwendung von „Gemeinde“ und „Staat“) somit eine weitere Facette von Mommsens Staatsbegriff. Der römische „Staat“ ist hier nicht mehr das „Volk“ selbst, sondern ein ihm übergeordnetes, rechtserzeugendes und durchsetzendes Kontrollorgan, das Gewalt „über seine Bürger nach Ermessen“ ausübt. Mommsen weiß, dass das Volk für sich allein nicht handlungsfähig, sein „Gesamtwille“ eine „staatsrechtliche Fiction“530 ist. Deshalb bedarf es einzelner Akteure, die das Volk ordnen und beschlussfähig machen. Diese Akteure sind die Magistrate, deren Merkmalen Mommsen im „Staatsrecht“ mehr als die Hälfte der 3200 Seiten widmet.531 Mommsen, der bekanntermaßen davon ausgeht, dass im magistratischen Befehl die Gewalt des Königs fortlebt und auch der Kaiser nichts anderes sei als ein „Imperiumsträger“,532 macht den Magistraten zur „Leitfigur“533 seines Werkes. „Der Staat kann nur wollen und handeln durch den Magistrat“, schreibt Mommsen und fügt in der Fußnote hinzu: „Romulus ist früher da als der populus Romanus und nicht die Bürgerschaft schafft den König, sondern der König die Bürgerschaft.“534 Der Staat, der populus, ist zwar formal souverän, braucht aber den politischen Funktionsträger, um praktisch zu regieren, denn es „beruht allerdings alles Handeln der Gemeinde auf Stellvertretung“535. Die Magistratur ist Mommsen somit „Verkörperung des Staatsbegriffs und Trägerin der Staatsgewalt“536. Während sich Mommsens vorheriger Wortgebrauch von „Staat“ auf eine idealtypische Rechtsfiktion bezog, nämlich die Idee einer „Volkssouveränität“, die die politische Ordnung überhaupt erst legitimiert, wechselt Mommsens Staatsbegriff jetzt auf die Ebene der „Amtssouveränität“537. 529 Mommsen StR III/1 1887, 361 (Hervorhebung S. St.). In der Fußnote heißt es hier, dass der Staat „den Bürger sogar zum Sclaven“ machen konnte. Ohne weitere Erläuterung (und wohl eher im Fahrwasser Egon Flaigs) will Nicolas Gillen in dieser Passage eine Auseinandersetzung mit Benjamin Constant erkennen (vgl. Gillen 2012, 49, 73). 530 Vgl. Mommsen StR I 1887, 234; Mommsen Abriss 1974 [1907], 63. 531 Vgl. wenig inspiriert zur Rolle des Magistraten im „Staatsrecht“ Lintott 2005, 75–86. Täubler nimmt Mommsens doppelte Souveränitätsthese schon 1926 auf und spricht von der souveränen Volksgewalt als „primärer Souveränität“ und der Magistratsgewalt als ebenso souverän (vgl. Täubler 1985a [1926], 183). 532 Vgl. Mommsen StR I 1887, 6 f., bzw. Mommsen StR II/1 1887, 16. 533 Behrends 2014, 320. 534 Mommsen StR III/1 1887, 303. Schon auf der ersten Seite des „Staatsrechts“ heißt es, der König sei „älter als die Stadt und das Volk“ (Mommsen StR I 1887, 3). Sehr ähnlich auch Mommsen StR II/1 1887, 4: „[…] wie denn auch der annalistische Schematismus nicht durch die Gemeinde den ersten König, sondern durch den ersten König die Gemeinde entstehen lässt“. Vgl. dazu auch ebd. 6; Mommsen StR III/1 1887, 29,1; Mommsen Abriss 1974 [1907], 82; Mommsen Vorlesung II 2007 [1866/67], 23. 535 Mommsen StR I 1887, 661, 6. 536 Mommsen Abriss 1974 [1907], 64. 537 Begriffspaar entliehen von Täubler 1985b [1935], 207.
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V. Auf Schatzsuche in steinigem Terrain
Unter „Staat“ versteht Mommsen also neben dem „Reich“ einerseits die herrschende Bürgerschaft, andererseits den regierenden Magistraten, der als „Vormund“538 der Bürger fungiert. Er verweist an anderer Stelle darauf, dass der Kompetenzunterschied sogar performativ angezeigt werde: „Zu den correlaten Gegensätzen der Comitien und des Senats gehört es, dass bei jenen lediglich die Magistrate, in diesem auch die Mitglieder sitzen; es drückt sich darin aus, dass nicht die Bürger, aber wohl die Senatoren Antheil haben am Regiment der Gemeinde.“539 An unterschiedlichen Stellen des „Staatsrechts“ lässt Mommsen den „Staat“ dann aber auch als juristische Person auftreten, die in die freiheitliche Sphäre der Bürgerschaft interveniert:540 Mommsens „Staat“ verteilt Getreide,541 konfisziert Besitz,542 stiftet eine „Staatsrente“,543 fordert vom „Bürger“ Steuern und militärische Dienstleistung.544 Selbst in einen so intimen Bereich wie die Namensgebung greift er – zumindest in der Frühzeit – als regulierende Instanz ein: […] auf einem Gebiet [= Namensgebung, Anm. S. St.], wo unter natürlichen Verhältnissen die individuelle Willkür unbehindert schaltet, herrscht in dem patricischen Rom die politische Regulirung mit beispielloser Despotie; es giebt keinen handgreiflicheren Beleg als diesen von der praktischen Allmacht des Staats in der römischen Gemeinde.545
Die „Allmacht des Staats“ findet ihren handfesten Ausdruck in der Person des regierenden Magistraten, der die politischen, sozialen und ökonomischen Verhältnisse regelt. Im Ganzen betrachtet fächert sich Mommsens Staatsbegriff also in drei unterschiedliche Dimensionen auf: „Staat“ kann bei ihm die Bedeutung von Reich, Volk oder Magistrat annehmen. Während er sich mit dem „Reich“ auf einer quasi stadtübergreifenden Ebene bewegt, stellen „Volk“ und „Magistrat“ die zwei zentralen Gewichte auf der innerrömischen Machtwaage dar. Was lässt sich nun resümierend zu dem herkömmlichen Vorwurf sagen, Mommsens Staatsbegriff sei zeitgenössischen Paradigmata verhaftet und modernisiere somit auf ungebührliche Art und Weise?
538 Vgl. Mommsen StR I 1887, 178, 240; Mommsen StR II/1 1887, 23; Mommsen Abriss 1974 [1907], 63. 539 Mommsen StR III/2 1888, 932. Mommsen spielt möglicherweise auf Cic. Flac. 15 f. an. Vgl. zur performativen Einlösung des Rangunterschieds zwischen Bürger (stehend) und Magistrat (sitzend) ebenso Mommsen StR I 1887, 199; ebd. 397; 407; Mommsen Vorlesung II 2007 [gehalten 1866/67], 29; Mommsen Abriss 1974 [1907], 109. 540 Den Staat als „juristische Person“ zu bezeichnen, setzt sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch und löst die Metapher des „Organismus“ ab (vgl. Stolleis 1992, 368 f. bzw. Kaube 2014, 420). Damit wird der Staat zu einer „Rechtspersönlichkeit mit Herrschaftswillen“, zu einer fiktiven Persönlichkeit mit Willensmacht. 541 Vgl. Mommsen StR II/2 1887, 1038; Mommsen StR III/1 1887, 444. 542 Mommsen StR II/1 1887, 329. 543 Vgl. Mommsen StR I 1887, 343; Mommsen StR III/1 1887, 447. 544 Vgl. ebd. 224; 227; Mommsen Abriss 1974 [1907], 15; Mommsen StR I 1887, 510. 545 Mommsen StR III/1 1887, 203. Vgl. zur „Allmacht des Staats“ auch Mommsen Abriss 1974 [1907], 3; Mommsen Vorlesung I 1993 [gehalten 1852], 459.
5. Exkurs: Mommsens Staatsbegriff
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5.4 Der Staatsbegriff als Testfall für Mommsens Differenzbewusstsein Der Begriff „Staat“ ist – das wurde im dritten Kapitel dieser Untersuchung erwähnt – semantisches Resultat einer spezifischen realhistorischen Situation und daher nicht ohne weiteres außerhalb dieses Rahmens anwendbar. Otto Brunner und Carl Schmitt bzw. im althistorischen Zusammenhang Christian Meier und Aloys Winterling haben die Probleme einer Übertragung des (nur über Umwege vom Lateinischen ableitbaren) Staatsbegriffs deutlich gemacht.546 Mit Nachdruck ist auf die Vielzahl von Assoziationen verwiesen worden, die der Terminus im begriffsgeschichtlichen Gepäck hat und die ihn als neutrale Beschreibungskategorie unbrauchbar machen.547 Zu den anachronistischen Missverständnissen, die insbesondere im römischen Kontext irreführend sind, zählt beispielweise die Annahme einer kodifizierten Rechtsordnung, einer repräsentativen Parteienstruktur, eines staatlichen Gewaltmonopols und Polizeiwesens sowie einer Ausdifferenzierung des politischen Systems aus dem Ganzen der Gesellschaft. Die Rede von einem antiken „Staat“ oder einer antiken „Staatlichkeit“548 läuft Gefahr zu ignorieren, dass die Antike und insbesondere Rom keine dem modernen Staatsbegriff vergleichbare abstrakte Vorstellung einer ausdifferenzierten politischen Ordnung besaßen. Die Vokabeln ihrer Selbstbeschreibung wie populus Romanus, civitas oder res publica zielten immer auf die Bürgerschaft und die politische Ordnung zugleich. Die politische Verwaltung stellte zu keiner Zeit ein institutionelles Gegenüber dar, sondern war immer auch Interaktionsraum für soziale Rangmanifestation. Deshalb lässt sich mit dem modernen Gegensatz Staat versus Gesellschaft hier auch schlecht arbeiten. Es stellt sich angesichts dieser Problematisierungen die Frage, inwieweit auch Mommsen mit der Verwendung des Staatsbegriffs moderne Implikationen auf seinen Gegenstand übertrug. Betrachtet man dabei noch einmal die drei unterschiedlichen Sinndimensionen, die „Staat“ in Mommsens Werk annimmt – Reich, Volk, Magistrat – dann entspricht das auf fast schon formalistische Weise der zeitlich nur wenig später entwickelten „Drei-Elemente“-Lehre von Georg Jellinek, die den „Staat“ idealtypisch aus den drei Komponenten „Staatsgebiet“, „Staatsvolk“ und „Staatsgewalt“ zusammengesetzt sah und mit dieser Definition vor allem auch meta-historische Gültigkeit be-
546 Vgl. Quaritsch 1998, 282 f.; Brunner 1973, 111–120; Schmitt 1985 [1941], 383–85; Meier 1980, XXIIf.; Reinhard 1998, 102–106; Winterling 2014, 249 f. Gegen das seinerseits zeitgebundene „Brunnersche Mantra“ argumentiert Patzold 2012, 410 f. 547 Vgl. dazu Isensee 1985, 134: „Von Anfang an bezieht sich das Wort Staat auf spezifisch neuzeitliche Sachverhalte; es folgt der Entwicklung des modernen Staates und nimmt seine Strukturen auf.“ 548 Den um graduelle Differenzierung bemühten Begriff „Staatlichkeit“ will Christoph Lundgreen als analytische Kategorie wieder einführen (vgl. Lundgreen 2014, 34–51). Er nimmt damit eine Fährte auf, die u. a. schon von Walter Eder und Uwe Walter gelegt wurde, die gegen eine „Reservierung des Staatsbegriffes für die Neuzeit“ (Walter 1998, 17) und für einen universalistischen Gebrauch des Staatsbegriffs plädieren. Für ähnliche Tendenzen in der Mediävistik vgl. Patzold 2012, 416–422.
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hauptete.549 Jellineks Annahme einer zeitlich konstanten Existenz von Staat bzw. Staatlichkeit spiegelt zwar einerseits einen typischen Wesenszug des modernen Konstitutionalismus wider, kann aber auch als Versuch gelten, die generelle Inkonsistenz des Staatsbegriffs im 19. Jahrhundert zu konterkarieren.550 Denn während die Hegelsche Theorie klar zwischen Staat und Gesellschaft trennt, greift Jellinek die ebenfalls existierende Vorstellung einer strukturellen Beziehung der unterschiedlichen Sphären – insbesondere der zwischen Staat und Volk – auf. Mommsen, dessen „Staatsrecht“ einige Jahre vor Jellineks „Allgemeiner Staatslehre“ erschien, nutzt das analytische Potential eines solchen Staatsbegriffs, indem er die drei Dimensionen voneinander scheidet und mit dem modernen Terminus „Staat“ kategorisiert, aber damit eben gerade nicht die Vorstellung von ausdifferenzierten Sphären auf Rom überträgt, sondern durch den gemeinsamen Oberbegriff „Staat“ im Gegenteil die innere Beziehung der unterschiedlichen Dimensionen betont. Mommsen wendet die Vieldeutigkeit des Terminus also zu seinem Vorteil, ohne dass er sich dabei explizit auf zeitgenössische Theorien vom „Staat“ bezöge. Er verzichtet in diesem Zusammenhang sogar in auffälliger Weise generell auf jegliche Anspielung auf seine eigene Gegenwart.551 Weder gilt ihm der römische „Staat“ im „Staatsrecht“ als Vorbild einer unter dem Banner der nationalen Idee ersehnten deutschen Reichseinigung, noch leitet er aus dem „Volksstaat“ Argumente für eine politische Pädagogik ab. Und doch will etwa Ernst Badian in Mommsens Axiom „that it was the People that conferred power on the magistrates“552 die unverkennbare Handschrift des Liberalen erkennen, der schon als Journalist und junger Professor für die Abschaffung der Ständeherrschaft und eine zunehmende Parlamentarisierung gekämpft hatte. Abgesehen davon, dass Mommsen wohl nicht einfach als ein „lupenreiner Demokrat“ durchgehen wird,553 finden sich auch im Text selber 549 Vgl. dazu Quaritsch 1998, 281. Jellinek behandelte in seiner „Allgemeinen Staatslehre“ (1900) neben dem modernen und mittelalterlichen bekanntlich auch den altorientalischen, hellenischen und römischen „Staat“. Hierzu bemerkt er: „Der [= römische, Anm. S. St.] Staat ist ferner nach der Anschauung seiner Mitglieder identisch mit der Bürgerschaft, er ist civitas, d. h. die Bürgergemeinde, oder res publica, das gemeine Wesen, die Volksgemeinde.“ (Jellinek 1900, 284). Zu Jellineks „Staatstheorie“ vgl. Schönberger 2000, 3–32 bzw. Möllers 2011, 12– 35. 550 Vgl. zur generellen Inkonsistenz des modernen Staatsbegriffs, der wahrscheinlich generell als simplifizierende Selbstbeschreibung zu werten ist, auch Koselleck 2013 [1972], 119 f. 551 Nur an einer Stelle würdigt er die komplizierte Ordnung des römischen Reiches insgesamt als große „staatspolitische“ Leistung, die „segensreich auf diejenige Entwicklung von Staat und Gemeinde eingewirkt [hat], welche das Fundament unserer Civilisation ist“ (Mommsen StR III/1 1887, 773). 552 Badian 1990, 464 f. 553 Für seine Invektiven gegen die „breite Masse“ und seine Vorbehalte gegen ein gleiches, allgemeines Wahlrecht vgl. Heuß 1956, 169 bzw. Wucher 1968, 163. Auch im „Staatsrecht“ wird generell proklamiert: „dem Minderbesitz gegen den Mehrbesitz ein absolut besseres Stimmrecht zu geben ist nicht demokratisch, sondern albern“ (Mommsen StR III/1 1887, 278). Antidemokratisch oder zumindest demokratieskeptisch klingt auch Mommsen StR I 1887, 15, 1: „[…] wie denn immer die Demokratie sich dadurch vernichtet hat, dass sie die Consequenzen ihres Princips durchführt“. Auch an der vollständigen Beteiligung des „Volkes“ an der Rechtsprechung hegt Mommsen Zweifel (vgl. Mommsen Besprechung Beseler 1907 [1843],
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keinerlei Hinweise für eine zeitgenössisch motivierte ideologische Aufladung der römischen Volkswahlen. Natürlich gilt es daran zu erinnern, dass der „Volksstaats“-Gedanke etwa auch in der zeitgenössischen Verfassungsdiskussion prominent vertreten war. Schon in der frühen deutschen Staatsrechtlehre eines Carl Friedrich von Gerber oder Carl von Rotteck taucht die Gleichsetzung von „Staat“ und „Volk“ immer wieder auf.554 Und auch bei dem von Mommsen zeitweilig sehr bewunderten Friedrich Carl von Savigny, dessen Rechtsphilosophie nicht nur die Vorstellungswelt der historischen Rechtsschule, sondern auch die ganze Geisteswissenschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts stark beeinflusst hat, lässt er sich ausmachen.555 Dass Mommsens „Staatsrecht“ aber wirklich etwas vom „Volks- und Freiheitspathos der 1848er Bewegung gegen den absolutistischen Anstaltsstaat“556 verströmte, kann man guten Gewissens nicht behaupten. Man könnte anstelle des allgemeinen liberalen Zeitgeistes gleichermaßen Ciceros berühmten Satz „est igitur res publica res populi“557 als Einflussquelle für Mommsens Formulierung des „populus als Staat“ wahrscheinlich machen. Auch bei der Gedankenfigur des „Staats als Magistraten“ muss man nicht unmittelbar an zeitgenössische Einflüsse denken. Wilfried Nippel hat zwar Überlegungen darüber angestellt, ob im Hintergrund des „Staatsrechts“ „zeitgenössische[n] Theorien vom Staat als juristischer Person und von der ‚Staatssouveränität‘ stehen“558, und
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498). Ob man das als „freche Überheblichkeit des Bourgeois der Arbeiterklasse gegenüber“ (Kuczynski 1978, 59) werten muss, bleibt dahingestellt. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die wenig ruhmvolle Einschätzung seines Schwiegersohnes Wilamowitz: „In der Praxis verleugnete er [sc. Mommsen] die Caesarnatur nicht, ging sehr ungern andere als Umwege, kannte keine Achtung vor dem Gesetze und respectirte die Personen nicht.“ (zit. nach Calder III/Kirstein 2003, 442, 1462). Vgl. auch die berühmte Einschätzung Karl Kautskys: „Angst vor dem Proletariat, Haß gegen das Junkertum und die Sehnsucht nach einem Monarchen, der beiden den Fuß auf den Nacken setzte und im Sinne einer feingebildeten Bourgeoisie regierte, das war das politische Credo Mommsens.“ (zit. nach Christ 1980, 199). Vgl. Gerber 1865, 22: „Soll sie [= die Staatsgewalt, Anm. S. St.] aber ganz ihrer Idee entsprechen, d. h. den sittlichen Gesammtwillen eines Volkes in voller Wahrheit darstellen, so muss sie so geartet sein, dass sie die Motive ihres Handelns nicht von einer außer ihr stehenden höheren Macht empfängt, sondern lediglich in sich findet, sie muss m. a. W. souverain sein.“ Vgl. Rotteck 1838, 393: „Ein Volk, welches der Staat selbst, nicht aber eine Anstalt des Staates ist.“ Eine Parallele zwischen Mommsens „Staatsrecht“ und der Staatsrechtslehre seiner Zeit zieht schon Landsberg 1910, 877. Vgl. dazu auch Heuß 1956, 47 f.; Thomas 1984, 33 f. bzw. Grziwotz 1986, 33 f. „Jedes Volk“, schreibt Savigny in seinem „System des heutigen römischen Rechts“, neigt dazu, „sobald es als solches erscheint, zugleich als Staat zu erschein[en], wie auch dieser gestaltet seyn möge“ (Savigny 1840, 23). Zur Beziehung Savigny-Mommsen vgl. Stahlmann 1988, 465–501. Stolleis 1992, 345 f. Cic. De rep. I, 39. Ob sich hinter dem Ausspruch politische Rhetorik verbirgt, sei dahingestellt. Eugen Täubler nahm eine solche Deutung jedenfalls auf (vgl. Täubler 1985b [1935], 35). Und auch Jochen Bleicken schreibt zum römischen Staatsbegriff: „Da der Staat nicht als Abstraktum, sondern als die Summe der Bürger […] angesehen wurde.“ (Bleicken 1995, 60). Nippel 2005a, 57. In der überarbeiteten Version dieses Aufsatzes ist dann allerdings die Rede vom „Staatsrecht“ als „reiner Wissenschaft“ (Nippel 2013, 237).
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Okko Behrends hat gemeint, bei Mommsens intensiver Behandlung der Magistratsgewalt das „monarchische Prinzip der konstitutionellen Bewegung seiner Zeit“559 wirken zu sehen. Aber wiederum ist die reine Parallelisierung mit Entwicklungen in Mommsens eigener Zeit, etwa der Verweis auf den entstehenden „Interventionsstaat“, der verstärkt in verschiedene Sphären des bürgerlichen Lebens eingriff,560 nicht ausreichend, um in Mommsens ausführlicher Behandlung der römischen Magistratsgewalt einen wirklichen Modernismus auszumachen. Die starke Betonung der Magistratsgewalt könnte ebenso gut „eminent römisch gedacht“561 sein, wie Ernst Meyer mit Verweis auf Ciceros De legibus feststellt. Dass Mommsen die römische Politikordnung als eine Mischung aus souveräner Volks- und starker Magistratsgewalt beschreibt, könnte also gleichwohl seiner intensiven Quellenlektüre geschuldet sein. Im Gegensatz zu Mommsens „Römischer Geschichte“, wo sich der Glaube des „Achtundvierzigers“ an die Notwendigkeit einer starken Staatsgewalt, die allein die Kleinstaaterei überwinden und die Freiheitsrechte eines Volkes schützen könne,562 paradigmatisch niederschlägt,563 lässt sich im „Staatsrecht“ bis auf wenige Ausnahmen kein Widerhall der persönlichen politischen Grundüberzeugungen vernehmen.564 Grundsätzlich scheint Mommsen den „Staat“ weder in seiner Bedeutung als „Reich“ noch als „Volk“ oder „Magistrat“ explizit zu modernisieren. Das „Staatsrecht“ mit dem Argument einer „bedenklichen Zeitverstricktheit […] außer Kurs“565 setzen zu wollen, ist schon daher riskant, weil Mommsen in seinem Werk selbst immer wieder auf die grundsätzliche Differenz zwischen antiken und modernen Sachverhalten zu sprechen kommt. Immer wieder verwahrt er sich im „Staatsrecht“ insbesondere gegen den modernen Beiklang des Staatsbegriffs, etwa wenn er von der römischen Steuerpolitik handelt: „Unsere Unterscheidung von ordentlichen und ausserordentlichen Einnahmen und Ausgaben ist den römischen Begriffen völlig 559 Behrends 2014, 346. Allerdings ist gerade gegen Behrends These eines „konstitutionellen“ Vorbildes für Mommsens Idee der römischen Staatsgewalt auf Mommsen RG 1976 [1902], 94 [= I, 79] zu verweisen, in dem Mommsen explizit auf den fundamentalen Unterschied zwischen römischer Politikordnung und der Wesensidee einer konstitutionellen Monarchie hinweist. 560 Vgl. Stolleis 2001, 253–282. 561 Meyer 1966, 81. 562 Mommsen stand trotz seiner liberalen Grundüberzeugung dem Staat als einer Weisungsinstanz durchaus positiv gegenüber. Sein Wahlspruch: „Keine Reaction, Keine Anarchie“ forderte einen Ausgleich zwischen Freiheit und Herrschaft. Vgl. dazu Heuß 1956, 131 f.; Wickert 1970, 30; Timpe 1984, 57. 563 Schon in seinem „Sendschreiben“ von 1865 heißt es: „[…] da der nationale Staat jede Wunde heilen kann, darf er auch jede schlagen“ (Mommsen Annexion 1905 [1865], 381). Vgl. auch Mommsen RG 1976 [1902], 332 [= I, 318]: „Jede Revolution und jede Usurpation [ist] durch die ausschliessliche Fähigkeit zum Regimente vor dem Richterstuhl der Geschichte gerechtfertigt“. 564 Einmal schwärmt er: „Flagrante Verstösse gegen das formale Recht sind in der zu allen Zeiten von den Händen der Wenigen geleiteten römischen Republik wahrscheinlich weniger häufig vorgekommen als da, wo die anarchische Demokratie oder die monarchische Demagogie regierte“ (Mommsen StR III/1 1887, 367). Vgl. auch Mommsen StR II/1 1887, 7, 1 für eine ironische Invektive gegen die „demokratische Theorie der alleinseligmachenden Volkswahl“. 565 Wieacker 1983, 94.
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inadäquat […] Man darf also nur mit grosser Vorsicht die uns geläufigen Begriffe von Staatseinnahme und Staatsausgabe auf diese Kategorie anwenden.“566 Die begriffliche Vorsicht, die Mommsen hier walten lässt, zeugt von einem besonderen Differenzbewusstsein. Eugen Täubler hat folgerichtig in Anspielung auf diese Passage (in der Fußnote verweist er auf „II/1, 432 ff.“) ausformuliert, was im „Staatsrecht“ nur angedeutet wird: Nämlich, „daß an Stelle unseres Abstraktums ‚Staat‘ die ‚Bürgerschaft‘ stand und res publica = res populi, d. h. jede Leistung für den Staat Leistung für den Gemeinbesitz eines Personenkreises war“567. Auch die Pflege des öffentlichen Raumes (Straßenreinigung, Kloakensäuberung usw.), die in modernem Zusammenhang Sache des „Staates“ sei, trage in Rom „mehr den Charakter gemeinnütziger Stiftungen an sich als den eigentlicher Gemeindeverwaltung“, so Mommsen, hier herrsche die Regel „dass jeder Bürger für sich selbst zu sorgen habe“568. Von der generellen „Eigenthümlichkeit des römischen Gemeinwesens“569 ist schon im Vorwort zur zweiten Auflage des „Staatsrechts“ die Rede. Aber auch seine anderen Schriften zeugen von einer deutlichen Vorsicht hinsichtlich des Staatsbegriffs. Schon in der „Römischen Geschichte“ heißt es warnend, „überhaupt [sei] im modernen Leben so wenig vom römischen Hause wie vom römischen Staat ein entsprechendes Abbild vorhanden“570. Der „römische Staat“ sei „weit entfernt von […] der modernen Idee einer unbedingten Staatsallmacht“571. Und in Mommsens berühmt gewordener zeitpolitischer Invektive „Auch ein Wort über unser Judentum“ heißt es ganz explizit: „Die alte Welt kennt das nicht, was wir heute den nationalen Staat nennen. Ihre Staatenbildung bleibt entweder hinter demselben weit zurück, wie die Stadtrepubliken Griechenlands oder Roms, oder greift weit darüber hinaus.“572 In seinem „Römischen Strafrecht“ proklamiert Mommsen schließlich: Es ist ein weiter Weg von diesem ursprünglichen Gemeinwesen […] bis zu der heutigen Staatsentwickelung mit der staatlichen Erziehung jedes einzelnen Bürgers zum Waffenhandwerk und dem gewaltigen Gedanken der Gesammtbürgschaft für alles dem Einzelnen begegnende Leid und Elend; ein weiter Weg, wie von den zwölf Bütteln des römischen Oberbeamten, welche ihm die Strasse freihalten, zu den ständigen Armeen der Jetztzeit.573
566 Mommsen StR II/1 1887, 433. 567 Täubler 1985b [1935], 35. 568 Mommsen StR I 1887, 331. Ganz ähnlich argumentiert auch Meier 1980, LVI: „Selbst die Gewährung der öffentlichen Ordnung wurde zum Teil von den Bürgern selbst erledigt.“ Vgl. auch Meier 1982, 247: „Unendlich viel, was bei uns der Staat an sich riß oder entwickelte und was ohne ihn gar nicht mehr geht, erledigten die Mitglieder der römischen Gesellschaft unter sich.“ 569 Mommsen StR I 1887, XI. Für Mommsens Programmatik einer „vollständige[n] Historisierung des Altertums“ und seiner Abkehr von einer „normative[n] Betrachtung der Antike“ vgl. Rebenich 2006, 665. 570 Mommsen RG 1976 [1902], 80 [= I, 65]. 571 Ebd. 94 [= I, 79]. Für Distanzierungen vom „modernen“ bzw. „heutigen“ Staat vgl. auch Mommsen StR I 1887, 157; 691; 700. 572 Mommsen Judentum 1905 [1880], 413. 573 Mommsen Strafrecht 1899, 28.
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Mommsen verleiht seinem Differenzbewusstsein also immer wieder explizit Ausdruck. Das schlagkräftigste Argument gegen den Vorwurf einer Modernisierung seines Gegenstandes kommt jedoch noch aus einer anderen Richtung. Wie erwähnt fällt auf, dass Mommsen in seinem „Staatsrecht“ dem Staat die Gemeinde als analytische Beschreibungskategorie vorzieht. Es handelt sich bei der „Gemeinde“ interessanterweise um einen Begriff, der seinem Wesen nach mehrfach konnotiert ist. Er bezieht sich nämlich sowohl in einem staatsrechtlich-verwaltungstechnischen Sinn auf die politische Organisation wie auch als soziologische Kategorie auf den interagierenden Personenverband. „Gemeinde“ kann also erstens eine territorial definierte Verwaltungseinheit meinen, innerhalb deren Grenzen ein hoher Grad an autonomer Selbstverwaltung herrscht. Zweitens kann unter „Gemeinde“ aber auch ein soziales System verstanden werden, „welche[s] zahllose Formen sozialer Interaktionen und gemeinsamer Bindungen sowie Wertvorstellungen beding[t]“574. Vereinfacht gesagt kann „Gemeinde“ einen Ort und einen Kreis von Personen bezeichnen.575 Ausschlaggebend ist, dass sich der Begriff Gemeinde im Sprachgebrauch des 19. Jahrhunderts als Formel „für die Beschreibung der prozessualen Entwicklung der Ausgestaltung politischer Macht“576 klar vom modernen Staatsbegriff unterscheidet. Im „Staatslexikon“ von Carl von Rotteck und Carl Welcker werden 1838 die beiden als „zwei himmelweit voneinander verschiedene Begriffe“ gewertet: Es sei für die „Gemeinden unendlich wichtig, nicht als Staatsanstalten betrachtet zu werden“577. Der Gemeindebegriff wird dann von den Staatstheoretikern des 19. Jahrhunderts bei der Beschreibung vormoderner Politikordnungen auch bevorzugt verwendet: So ordnet Karl Brater das griechische und römische „Staatswesen“ unter die Kategorie „Stadtgemeinde“ und Carl von Rotteck spricht generell davon, dass sich in vormoderner Zeit „Stadtgemeinden zu einer, an die Gewalt wahrer Staaten reichenden Selbstständigkeit“ entwickeln konnten.578 Der Gemeindebegriff wird gebraucht, um der besonderen Spielart vormoderner Politikordnung Ausdruck zu verleihen.579 So wird die Eigenart Roms gerade dadurch ausgedrückt, dass man sie als „Gemeinde“ bezeichnet. Dass auch Mommsen im „Staatsrecht“ den Gemeindebegriff als Beschreibungskategorie bevorzugt, ist daher als Ausweis seiner geschulten Empfindlichkeit zu werten, die um den besonderen Charakter des römischen Gemeinwesens, seiner städtisch geprägten, auf Interaktion beruhenden Struktur weiß. Schon 1859 hatte er 574 König 1958, 28. 575 Damit weist der Begriff Ähnlichkeiten mit Termini wie „Hof“ oder „Haus“ auf. Zur Begriffsgeschichte von „Gemeinde“ vgl. Blickle 2009, 47–50. 576 Blickle 1998, 20. 577 Rotteck 1838, 397; 393. Mommsen lobt Karl Rotteck in einer Rezension übrigens als Juristen, auf den „Deutschland und Schleswig-Holstein mit Recht stolz ist“ (Mommsen Besprechung Beseler 1907 [1843], 499). 578 Vgl. Brater 1859, 118; Rotteck 1838, 426. 579 Für diesen Hinweis danke ich Jan Meister. Auch Max Weber spricht in seinen althistorischen Schriften übrigens von „Gemeinde“, wenn er die Struktur Roms beschreiben will (vgl. dazu Deininger 1987, 14). Zur Übertragung des Gemeindebegriffs auf Rom vgl. auch Grimm 1991 [1897], 3238.
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in einem Aufsatz zum römischen „Gastrecht“ explizit angegeben, dass der römische „Staat noch in der unausgebildeten Form der Gemeinde befangen war“580. Mommsen spricht im „Staatsrecht“ von „Gemeinde“ sowohl, um das politische Gebilde Roms als Ganzes zu beschreiben als auch, um sich auf die konkrete Bürgerschaft zu beziehen.581 Insbesondere in Verbindung mit dem Attribut „römisch“582 wird die „Gemeinde“ als globale Definition der politischen Ordnung Roms gebraucht. In diesem Sinne taucht zuweilen auch „Gemeinwesen“ (seltener Staatswesen oder res publica) als Variation auf.583 Neben seiner staatsrechtlichen Bedeutung verwendet Mommsen den Gemeindebegriff auch, um die politisch interagierenden Bürger Roms als soziale Einheit zu bezeichnen. Die „Gemeinde“ ist dann ein konkreter Verband von Menschen, der die Verwaltung seiner öffentlichen Angelegenheiten selbst organisiert. Mommsen verwendet „Gemeinde“ folglich häufig synonym mit „Volk“584, spricht immer wieder mit Nachdruck von der „Bürger-“ oder „Volksgemeinde“.585 Entscheidend ist in dem hier verfolgten Zusammenhang, dass Mommsen „Gemeinde“ häufig synonym mit „Staat“ gebraucht. Besonders auffallend ist die Engführung beider Begriffe, wenn der Autor hintereinander beide Termini im selben Kontext benutzt.586 Der Umstand, dass Mommsen Rom als eine „Gemeinde“ bezeichnet, zeugt also davon, dass er die Konnotationen eines modernen „Staats“ bewusst vermeiden will und die politische Ordnung Roms nicht von der zeitgenössischen Gegenüberstellung von Staat versus Gesellschaft her konzeptualisiert, son-
580 Mommsen Gastrecht und Clientel 1864 [1861], 354. Die historische Differenzierung zwischen Gemeinde und Staat korrespondiert im Übrigen mit der Meinung von Carl von Rotteck, der grundsätzlich davon ausgeht, dass „die Gemeinden älter sind als die förmlichen Staaten“ (Rotteck 1838, 392). 581 Vgl. Mommsen StR II/2 1887, 745. Beide Schattierungen werden deutlich auch in ebd. 958. 582 Schon im ersten Satz des „Staatsrechts“ heißt es: „Es liegt im Wesen der römischen Gemeinde, dass die Darstellung ihrer Rechtsordnung den Ausgang nehmen muss von den Beamten derselben“ (Mommsen StR I 1887, 3). Vgl. auch etwa Mommsen StR I 1887, 17; 28; 34; 61; 74; 85; 88; 239; 324; 447; Mommsen StR II/1 1887, 185; 272; 363; 444. 583 Vgl. etwa Mommsen StR I 1887, 61; 66; 96; 221; 320; Mommsen StR II/1 1887, 13; 52; 300; 302; 305; 413; Mommsen StR II/2 1887, 812; 979. 584 Vgl. etwa Mommsen StR I 1887, 31; 60; 80; 108; 110; 116; 218; 226; 241; 500; 610; Mommsen StR II/1 1887, 147; 212; Mommsen StR II/2 1887, 745. 585 Vgl. etwa Mommsen StR II/1 1887, 428; Mommsen StR III/1 1887, 138; Mommsen RG 1976 [1902], 76 [= I, 61]; Mommsen Sonderrechte 1864, 174. Mitunter variiert Mommsen den Gemeindebegriff auch mit dem ebenfalls doppeldeutigen Terminus „Bürgerschaft“ (vgl. etwa Mommsen StR I 1887, 119; 166; 191; Mommsen StR II/1 1887, 34; 312; Mommsen StR III/1 1887, 89; 127; 313). 586 Eine Gottheit ist anerkannt von der römischen „Gemeinde“ wie vom „Staat“ (vgl. Mommsen StR II/1 1887, 23; 67), der König erschafft den „Staat“ bzw. die „Gemeinde“ (vgl. ebd. 4; 10), publicum wird mit „Staats“- und mit „Gemeindeeigentum“ übersetzt (vgl. ebd. 47 bzw. ebd. 69, 5), die Plebs ist ein „Staat im Staat“ (ebd. 471) und an anderer Stelle eine „Gemeinde in der Gemeinde“ (ebd. 280). Mommsen gebraucht diesen Ausdruck interessanterweise auch zur Bezeichnung der ihm zeitgenössischen Aristokraten: „Unseren Aristokraten wagt niemand zuleibe zu gehen: niemand rüttelt an dem Staate im Staat, dem Korpus der Ritterschaft“ (zit. nach Wucher 1968, 162).
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dern im Gegenteil für Rom differenzbewusst von einer strukturellen Beziehung zwischen politischer und sozialer Sphäre ausgeht. 6. ERGEBNIS „Viele wichtige Erkenntnisse äußert Mommsen im Staatsrecht ohne viele Worte“587, diagnostiziert 1974 Alfred Heuß. Eine solche Erkenntnis, die vom Autor des „Staatsrechts“ selbst wenig herausgestellt wurde, betrifft auch die Struktur der römischen Gesellschaft. Im Zuge seiner Analyse politischer Institutionen behandelt Mommsen immer wieder gesellschaftsgeschichtliche „Tatsächlichkeiten“, die in die staatsrechtlichen Beschreibungen eingebettet sind. Ohne dass Mommsen es als solches explizit kenntlich macht, liefert er im „Bürgerschafts“-Band seines „Staatsrechts“ und dann interessanterweise prominent nach vorne gestellt in seinem „Abriss“ ein Schichtungsmodell der römischen Gesellschaft, das in einer diachronen Verlaufsperspektive angeordnet wird. Dabei überträgt Mommsen gerade nicht die zeitgenössisch moderne Vorstellung einer nach ökonomischer Ungleichheit gegliederten Klassengesellschaft auf Rom,588 sondern geht von der Vorstellung einer vormodernen, stratifizierten Gesellschaft aus, in der der Rang des Einzelnen sich nach Herkunft, aber – als antike Besonderheit – eben im historischen Verlauf auch nach politischer Leistung richtet, ohne dass die Geburt als Kriterium sozialer Positionierung ihre faktische Bedeutung je ganz verlöre.589 Aufschlussreich ist, dass Mommsen in seinem „Staatsrecht“ auf den Begriff „Gesellschaft“ vollständig verzichtet, weil der Terminus ihm möglicherweise als analytische Kategorie noch zu umstritten scheint – ein Blick in die zeitgenössische Diskurslandschaft, etwa auf Heinrich von Treitschkes 1858 erschienene, für eine 587 Heuß 1974, 77. 588 Vgl. zu diesem Punkt Alfred Heuß: „Allerdings übernahm dann Mommsen bestimmt nicht den speziellen Reim, den sich Stein unter Verwendung Hegelscher Denkfiguren auf den Gesellschaftsbegriff gemacht hatte. Er war da so abstinent, daß er thematisch von Gesellschaft zu reden konsequent vermied.“ (Heuß 1988, 51). Ähnlich auch Heuß 1971, 779. Kritisch hinsichtlich eines etwaigen Hegel-Einflusses auf Mommsen zeigt sich auch Grziwotz 1986, 104 f. 1880 polemisiert Mommsen scharf gegen diejenigen Althistoriker, die „von den realen römischen Verhältnissen zu wenig und von nationalökonomischen Theoremen zu viel wissen“ (Mommsen Commodus 1880, 408). Dass er sich damit auf Forscherkollegen wie Karl Julius Beloch und vor allem Robert Pöhlmann bezog, ist anzunehmen. Letzterer polemisiert denn auch gegen den Ausspruch (vgl. Pöhlmann 1886, 137). Allerdings wusste Mommsen sicher sehr gut, welches Forschungsprofil Pöhlmann vertrat, als er ihn 1900 der Universität München empfahl. Vorsichtiger klingt auch Mommsens Antwort auf die Antrittsrede des Nationalökonomen Gustav Schmoller 1887, in der er zugibt, dass „die einzelne Thatsache, mit der Sie sich beschäftigen […] häufig entscheidender für die Geschichte als Völkerschlachten und Staatsverträge“ (Mommsen Schmoller 1887, 639) sei. 589 Vgl. z. B. Mommsen StR III/2 1888, 874: „Auf gute Geburt ist immer Rücksicht genommen worden; insbesondere die Aufnahme in den Senat von Personen, die Lohnarbeit geleistet oder als Gemeine gedient hatten, hat bis in die spätere Zeit Anstoss gegeben.“ Vgl. auch Mommsen StR I 1887, 107, wo der Amtsträger grundsätzlich als höher geachtet dargestellt wird als der „gewöhnliche[n] Bürger[s]“.
6. Ergebnis
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„neoaristotelische“ Wiedervereinigung von Staat und Gesellschaft plädierende Habilitationsschrift zeugt von der Provokationskraft des neuen Hegelschen Gesellschaftsbegriffs. Dass Mommsen bei seiner Analyse den Gesellschaftsbegriff grundsätzlich vermeidet, hat also vielleicht weniger mit seiner „Staatsgläubigkeit“ als damit zu tun, dass der Terminus in den 1870er und 80er Jahren noch zu stark ökonomisch konnotiert ist, sich auf die „entpolitisierte Sphäre der wirtschaftlich vermittelten Beziehungen“590 bezieht und für seine Konzeption einer primär politisch definierten Stratifikation unpassend erscheint. Obwohl er also nicht explizit von „Gesellschaft“ spricht, stellt er doch ein nach politisch definierter Ehre geschichtetes Gemeinwesen dar, das im Wesentlichen männliche, politisch berechtigte Statusgruppen umfasst. Mommsen ist zudem völlig bewusst, dass eine hierarchische Rangstruktur basierend auf kollektiv akzeptierten Ehrvorteilen sich als Prinzip gesellschaftlicher Schichtung in einer Interaktions- bzw. Face-to-face-society auf Dauer nur behaupten kann, wenn sie performativ abgesichert wird. In der Theatersitzordnung erkennt er demnach, ebenso wie in einem Kleidungsaccessoire oder der Senatsumfrage Mittel, um gesellschaftlichen Rang zu demonstrieren. Eine solche gesellschaftsgeschichtliche Dimension wird in Mommsens „Staatsrecht“ freilich nur sichtbar, wenn man die unterschiedlichen Ebenen der Darstellung reflektiert: Denn während sich das „Staatsrecht“ methodisch unzweideutig an zeitgenössischen Darstellungsmustern des Privatrechts orientiert, bleibt es auf inhaltlicher Ebene nah an den Quellen und liest aus ihnen nicht nur staatsrechtliche „Normen“, sondern auch sozialhistorisch relevante „Tatsächlichkeiten“. Der Savigny-Bewunderer Mommsen ist bei aller Systematisierungslust nie einem rein juristischen Formalismus erlegen, sondern hat sich als Historiker gerade für die gesellschaftsgeschichtlichen Hintergründe vom römischen „Staat“ den Sinn bewahrt. „Das Recht hat nämlich kein Daseyn für sich, seyn Wesen vielmehr ist das Leben der Menschen selbst, von einer besonderen Seite gesehen“591, heißt es bei Savigny. Diese theoretische Devise könnte als Leitidee auch Mommsens „Staatsrecht“ gedient und dazu geführt haben, dass man hier nicht nur blutleere Systematisierung findet, sondern auch lebendige soziale Ordnung. Kein Geringerer als Rudolf Borchardt hat Mommsen 1925 als jemanden gelobt, der „durch sechs Jahrzehnte seines Lebens nichts angerührt habe, was er nicht durchleuchtet hinter sich gelassen hätte und der Phantasie der ganzen Menschheit Gestaltenwelten hinterlassen, die vor ihm nicht bestanden haben“592. Eine dieser „Gestaltenwelten“ beträfe mithin die gesellschaftsgeschichtlichen Elemente, die Mommsens epochalem Werk eingeschrieben sind. Als Ergebnis lässt sich damit festhalten: Mommsen nimmt nicht nur wahr, dass die politische Organisationsstruktur eine wichtige Voraussetzung für die Gliederung der römischen Gesellschaftsordnung ist, sondern auch, dass die Stratifikation,
590 Nolte 2000, 37. Für Mommsens Verwendung des Terminus „Gesellschaft“ und sogar „bürgerliche Gesellschaft“ außerhalb seines „Staatsrechts“, vgl. z. B. Mommsen Grundrechtskommentar 1969 [1849], 14; Mommsen Rektoratsrede 1905 [1874], 6. 591 Savigny 1814, 30. 592 Borchardt 1925, 465.
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die kollektiv akzeptierte Schichtung nach Ehre und Ansehen, eine zentrale Bedingung für das Funktionieren der politischen Ordnung darstellt. Mommsens Konzeption römischer Gesellschaft als einer stratifizierten, insbesondere politisch integrierten face-to-face-society hat dann im Umkehrschluss auch Folgen für seinen oft diffamierten Begriff vom römischen „Staat“. In diesem Zusammenhang ist festzuhalten, dass Mommsen das analytische Potential des wenig später von Jellinek präzis definierten Staatsbegriffs vorwegnimmt, um die verschiedenen Wesensmerkmale des römischen Gemeinwesens in ihrer strukturellen Beziehung, nicht in ihrer fundamentalen Differenz zu beschreiben. Mommsens Staatsbegriff steht gerade nicht im Gegensatz zu Gesellschaft, sondern schließt das „römische Volk“ ein. Eine systematische Untersuchung zeigt, dass Mommsen unter „Staat“ verschiedene Bedeutungsdimensionen subsumiert. „Staat“ wird sowohl als Synonym für „Reich“ als auch zur Bezeichnung der politischen Organisationsstruktur verwendet. Darüber hinaus ist ihm aber vor allem „der populus der Staat“, bilden die Bürger Roms das Gemeinwesen. Gerade die wiederkehrende Warnung vor modernen Analogien macht dann auch deutlich, dass Mommsen sehr wohl für die Unterschiede zwischen den Spezifika historischer und zeitgenössischer „Staatlichkeit“ sensibilisiert ist.593 Insbesondere die prominente Verwendung des Gemeindebegriffs zeugt von Mommsens starkem Differenzbewusstsein. Die Beobachtung, dass Mommsen den Staats- immer wieder mit dem Gemeindebegriff überblendet, lässt darauf schließen, dass er die Konnotationen eines modernen Staates bewusst vermeiden will, bei seiner Analyse eben nicht von der zeitgenössischen Gegenüberstellung von Staat versus Gesellschaft ausgeht, sondern durch den Gemeindebegriff auf die besondere Wesensart der römischen Ordnung anspielt, bei der politische und soziale Zusammenhänge, institutionelle Organisation und gesellschaftliche Stratifikation wechselseitig aufeinander verweisen. Mommsens implizite Gesellschaftstheorie findet somit explizit in seiner Begriffswahl Ausdruck. Pointiert zusammengefasst: Wenn der römische Staat eine Gemeinde war, dann ließ er sich nur verstehen, wenn auch von römischer Gesellschaft die Rede war. Auf der inhaltlichen Ebene behandelt Mommsen unter der Generalüberschrift „Staat“ (vor allem im dritten Band des „Staatsrechts“) daher auch gesellschaftsgeschichtlich relevante Aspekte, die nur deshalb in sein „System“ passen, weil eben nicht der „Staat“ im modernen Sinne gemeint ist. Im Gegenteil schließt Mommsen mit seinem Staatsbegriff in gewisser Hinsicht an die aristotelische Tradition an, für deren Fortführung – freilich mit Blick auf eine Beschreibung der Gegenwart, nicht der Vergangenheit – etwa auch ein Zeitgenosse wie Heinrich von Treitschke plä593 „Historische Analogien“ seien, so der Polemiker Mommsen 1885 in einem anonym veröffentlichten Beitrag für die Wochenschrift Die Nation, „ein anmuthiges Spiel, welches aber durchaus darauf beruht, daß die Bedingungen der einen oder beider Tatsachen nicht mit völliger Deutlichkeit erkannt werden“ (zit. nach Malitz 1988, 356). Für ein Differenzbewusstsein z. B. auch mit Blick auf den Unterschied zwischen römischen und „heutigen Volkswahlen“ vgl. Mommsen StR II/2 1887, 921 bzw. 1113. Mommsen spricht auch nüchtern davon, „daß er der Gegenwart lieber den Stolz auf sich als den Stolz auf das große Altertum beibringen möchte“ (zit. nach Heuß 1956, 229).
6. Ergebnis
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diert hatte. Die von Jürgen Kocka für die preußische Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts formulierte Beobachtung darf somit auch für Mommsen gelten: Daß […] soziale Phänomene von dem Staatsbegriff […] zwar nicht betont, aber auch nicht ausgeschlossen, sondern dem Anspruch nach einbezogen wurden, weil dieser Staatsbegriff sich noch an der aristotelischen, alteuropäischen Einheit von Staat und Gesellschaft, an der Idee einer ‚civitas sive res publica sive societas civilis‘ orientierte und die moderne Trennung von Staat und Gesellschaft, die sich seit dem späten 18. Jahrhundert realgeschichtlich partiell durchsetzte […] noch nicht reflektierte.594
Eben diese Orientierung an der „alteuropäischen Einheit von Staat und Gesellschaft“ führte dazu, dass im „Staatsrecht“ auch von sozialen Großgruppen und deren Manifestationen sozialer Distinktion die Rede ist. Unter einer auf historische Struktur, nicht rechtliche Dogmatik eingestellten Optik kommt hier in der Tat ein Schichtungsmodell in diachroner Entwicklung zum Vorschein, das jene Sachverhalte, die kurze Zeit später unter dem Schlagwort „Gesellschaft“ verhandelt wurden, auf überraschend umfassende Weise vorwegnimmt. Mit Blick aufs Ganze wäre somit abschließend nochmals der wichtige Unterschied zwischen der methodischen und der inhaltlichen Ebene hervorzuheben: Während Mommsen als Mittel der Darstellung einen systematischen Ansatz wählt, der erklärtermaßen von zeitgenössischen Privatrechtstheorien inspiriert ist und damit moderne Geltungsansprüche auf historische Zusammenhänge überträgt, ist sowohl seine Begriffverwendung als auch seine eigentliche Darstellung an Potentialitäten der Quellen orientiert. Es ist ja keineswegs ein funktionales, für die Gegenwart abgeleitetes Staatsrecht, das dem Leser hier präsentiert wird, sondern die quellenbasierte Rekonstruktion eines historischen Ordnungsverhältnisses, kurz gesagt eine Einführung in die politische Ordnung Roms. Nicht von ungefähr beschleicht einen daher mitunter der Verdacht, dass es sich bei den unzähligen denunziatorischen Verweisen auf Mommsens dogmatische Abhängigkeit von Pandektistik und Begriffsjurisprudenz um Ablenkungsmanöver handeln könnte, um sich sein kompliziert-tiefgründiges Werk vom Leib halten zu können. In jedem Fall verliert, wer von vornherein den Fokus nur auf den Juristen Mommsen richtet, den potentiellen Gesellschaftshistoriker aus dem Blick594 Kocka 1975, 4. Vgl. etwa Otto Hintze, der 1897 schrieb: „Und wenn wir heute in wissenschaftlicher Anwendung die Bezeichnung ‚Staat‘ gebrauchen, so denken wir dabei nicht bloß an die Regierung, an das System von Einrichtungen zu Macht- und Wohlfahrtszwecken, sondern zugleich an Land und Volk […] Was wir heute im allgemeinen unter Staat verstehen, ist doch, wie schon oben erwähnt, die als konkrete Einheit aufgefasste Gesamtheit von ‚Staat‘ und ‚Gesellschaft‘.“ (Hintze 1897, 40 f.). Auch in der Altertumswissenschaft wurde das Problem reflektiert: Moritz Voigt beispielsweise hielt 1893 fest, dass sich in Rom „im Gegensatze zu der modernen Welt […] Staats- und Kirchengemeinde, wie bürgerliche Gesellschaft sich decken“ (Voigt 1893, 755). Und Eugen Täubler bemerkte 1919: „Während heute als Resultat einer späten Erkenntnis fast allgemein die Anschauung herrscht, daß zu den Wesensbestandteilen eines Staats ein Land, Menschen und eine der Idee nach unabhängige Willensorganisation gehören, beschränkten die Römer, wie die Griechen, den Staatsbegriff auf ein Element, das Volk. Die beiden anderen Elemente wurden nur als Zubehör der Bürgerschaft empfunden, das Land als Besitz, die Herrschaft als gewillkürte Ordnung. Dieser Staatsbegriff war in unserem Sinne nur ein Gesellschaftsbegriff.“ (Täubler 1919, 190. Wortgleich wiederholt in: Täubler 1985a [1926], 182. Ähnlich auch Täubler 1985b [1935], 70).
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V. Auf Schatzsuche in steinigem Terrain
feld. Und verkennt darüber hinaus leicht auch den typologischen Zusammenhang, der zwischen ihm und seinem angeblichen Überwinder Matthias Gelzer besteht.
VI. AM WENDEPUNKT? KONTINUITÄTEN UND BRÜCHE IN GELZERS „NOBILITÄT“ 1. EINLEITUNG In einem Brief vom 10.12.1911 an seinen Schwager, den Mediävisten Johannes Haller, kokettiert der erst fünfundzwanzigjährige Matthias Gelzer mit angeblich schweren Gewissensbissen bei der Arbeit an seiner Habilitation. Das Ganze erscheine ihm für sein Alter als eine „Keckheit“ und deprimiere ihn oft sehr, denn er wisse im Grunde viel zu wenig, arbeite ganz ohne moderne Literatur und mache doch überall „wie ein gesicherter Ordinarius Andeutungen und bedeutsame Anmerkungen“. Nur von einem sei er inzwischen überzeugt, dass es nämlich nun endlich „mit der unbedingten Mommsennachtreterei vorbei ist“1. Die effektvolle Abgrenzung von Mommsen und insbesondere von dessen „Staatsrecht“ hat Gelzer wenig später dann auch ausdrücklich an den Anfang seiner berühmten, 1912 veröffentlichten „Nobilität“ gesetzt. In einer kurzen „Vorbemerkung“ distanzierte er sich hier vom Konstruktivismus des Rechtssystematikers Mommsen und erhöhte sich selbst zum quellenkritischen „Gesellschaftshistoriker“2. Geschickt gab er damit schon die Signatur vor, unter der ihn die Wissenschaftsgeschichte späterhin führen sollte. In der Tat ordnet heute der Topos „von Mommsen zu Gelzer“ die forschungsgeschichtlichen Archive der Alten Geschichte, so könnte man unter polemischer Verwendung der berühmten Mommsenschen Direktive formulieren.3 Aber wie kam es dazu? Und vor allem: Was ließe sich gegen eine solch schematische Kategorisierung einwenden? Im ersten Teil dieser Arbeit wurde versucht, dem vorherrschenden Vorurteil, Mommsens „Staatsrecht“ habe keinen Sinn für die gesellschaftsgeschichtliche Dimension römischer Ordnung, mit einer Analyse von dessen Schichtungs- und Statuskonzeptionen zu begegnen. Im zweiten Teil soll es nun darum gehen, das erkenntnisstiftende Potential der „Nobilität“ vor diesem Hintergrund neu zu bewerten. Denn die Gewohnheit, Gelzer als traditionsbrechenden Avantgardisten pauschal gegen Mommsen zu stellen, ihm als „Gesellschaftshistoriker“ eine ganz neue Qualität zu bescheinigen, lebt nicht allein durch das Vorurteil vom sozialgeschichtlich indifferenten Mommsen. Sie ist darüber hinaus möglicherweise auch das Merkmal einer Historiographiegeschichte, die einerseits noch selbst Beziehungen zum Protagonisten ihrer Forschung unterhielt, andererseits in der Folge von Tho1 2 3
Zit. nach Simon 1988, 238. „Mommsennachtreterei“ ist hier gemeint im Sinne von „in die Fußstapfen treten“. Christian Meier beschreibt Gelzers Persönlichkeit rückblickend generell als „selbstbewußt, bestimmt, temperamentvoll, zupackend, souverän“ (Meier 2017, 61). Gelzer Nob. 1912, Vorbemerkung. Vgl. Mommsen Antrittsrede 1905 [1858], 37: „Es ist die Grundlegung der historischen Wissenschaften, daß die Archive der Vergangenheit geordnet werden.“
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VI. Am Wendepunkt? Kontinuitäten und Brüche in Gelzers „Nobilität“
mas Samuel Kuhn und seiner 1962 erschienen Schrift über die „Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“ darauf aus war, den Blickwinkel auf jene Forschungsleistungen zu richten, die neue Erkenntnisse gewissermaßen eruptiv hervorbringen. Wissenschaftshistoriker dürften keine „Chronisten eines Zuwachsprozesses“4 sein, hatte Kuhn gefordert, sondern müssten sich als beherzte Ermittler traditionszerstörender Brüche und Paradigmenwechsel erweisen. Wer Kuhns Appell im disziplinären Teilbereich der Römischen Geschichtswissenschaft Folge leisten wollte, dem bot die anti-traditionalistische „Vorbemerkung“ des jungen Althistorikers Matthias Gelzer einen guten Ausgangspunkt für den Nachweis einer „wissenschaftlichen Revolution“. Erstmals habe Gelzer mit der traditionellen, insbesondere von Mommsen eingenommenen Perspektive auf den „Staat“, die politische Organisation und Institutionen Roms gebrochen und damit den Weg für Fragen nach der gesellschaftlichen Schichtung und soziopolitischen Realität freigemacht, so lautet denn auch die glorifizierende Beschreibung in vielen Fällen.5 Eine solche Kategorisierung der „Nobilität“ ist aber aus mehreren Gründen irreführend. Zum einen, weil sie eben den gesellschaftsgeschichtlichen Gehalt des „Staatsrechts“ übersieht, zum anderen, weil damit eine wesentliche Theorie – man könnte auch sagen Transformationsleistung – der „Nobilität“ zu wenig beachtet wird. Während der erste Teil von Gelzers Habilitationsschrift im Wesentlichen das soziale Schichtungsmodell wiederholt, das Mommsen schon im „Staatsrecht“ vorgegeben hatte, versucht der zweite Abschnitt der „Nobilität“ Erklärungen für die ermittelte Struktur der spätrepublikanischen Gesellschaft zu finden. Dabei entwickelt Gelzer die sogenannte „Klientelthese“6, auf der das große Renommee seines Werkes gründet. Dass eben diese These aber auch die Gefahr mit sich brachte, den widersprüchlichen, bisweilen „rätselhaften“7 Charakter römischer Sozialordnung in eine eindeutige und damit schematische Konzeption zu überführen, ist häufig außer Acht geraten. Es kann und soll im Folgenden nicht darum gehen, Gelzer durch eine erneute Lektüre wieder in den Schatten Mommsens zurückzudrängen. Das wäre in seiner revisionistischen Manier billig und auch ungerecht. Wohl aber darf der Versuch unternommen werden, die „Nobilität“ einmal direkt neben das „Staatsrecht“ zu stellen und davon ausgehend ihren progressiven Gehalt aufs Neue zu überprüfen. Die hier unternommene Analyse basiert vornehmlich auf der „Nobilität“, zieht aber zur Veranschaulichung auch einige spätere Arbeiten Gelzers heran, die in einem Bezug zur „Nobilität“ stehen und unter dem Übertitel „Zur römischen Politik und Gesellschaft“ im ersten Band der „Kleinen Schriften“ versammelt worden sind. Nach Angaben von Christian Meier, der als junger Habilitand die Herausgabe von 4 5 6 7
Kuhn 2012, 16. Vgl. beispielhaft nochmals: Strasburger 1975, 819; Ridley 1986, 474; Baltrusch 2008, IX; Dissen 2009, 25. Die Bezeichnung „Klientelthese“ soll hier verwendet werden, um den Argumentationskern des zweiten Teils der „Nobilität“ zu umreißen, also die Vorstellung, dass sich politische Herrschaft durch eine klientelisierte Wählermasse sichern ließe. Zur „Rätselhaftigkeit“ der römischen Ordnung vgl. Meier 1980, 45 bzw. 50.
2. Rezeption und Forschungsüberblick
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Gelzers „Kleinen Schriften“ mitverantwortete, nahm Gelzer selbst einen gewissen Einfluss auf die Zusammenstellung der einzelnen Bände: Er überreichte Meier die Sonderdrucke, die hier abgedruckt werden sollten. Diese wurden dann nach sachlichen Gesichtspunkten auf die Bände verteilt, wobei in dem ersten Teilband neben der „Nobilität“ nur diejenigen Arbeiten – Aufsätze, Vortragsmanuskripte und Rezensionen – aufgenommen werden, die sich „im thematischen Umfeld der Nobilität“8 bewegten. Gelzer selbst scheint zwischen seinen frühen struktur- bzw. gesellschaftsgeschichtlichen Arbeiten und seinen späteren biographischen bzw. quellenkritischen Forschungen getrennt zu haben. Auffällig ist in jedem Falle, dass er sich nach der „Nobilität“ zu seiner Konzeption römischer Gesellschaft wirklich zusammenhängend nur noch in seinem Aufsatz „Die römische Gesellschaft zur Zeit Ciceros“ (1920) und in seiner „Rektoratsrede“ (1924) geäußert hat. „Das wesentliche meinte er damit gesagt zu haben“9, wie Christian Meier festhält. In seinen politischen Biographien tauchen dann strukturgeschichtliche Überlegungen nur noch in kurzen Exkursen auf.10 2. REZEPTION UND FORSCHUNGSÜBERBLICK Matthias Gelzer reichte seine Habilitationsschrift unter dem Titel „Die Nobilität der römischen Republik“ zu Beginn des Jahres 1912 nach „nur etwa neun Monate[n]“11 bei Ernst Fabricius an der Philosophischen Fakultät der Universität Freiburg i. Br. ein. Die Arbeit des gerade einmal Fünfundzwanzigjährigen, die noch im selben Jahr, im Frühjahr 1912, erschien, wurde von der altertumswissenschaftlichen Fachwelt mehr oder weniger wohlwollend aufgenommen, erregte aber kein besonderes Aufsehen.12 1913 erschien in der „Berliner philologischen Wochenschrift“ die Re-
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Mündliche Mitteilung Christian Meier am 14.12.2013. Naturgemäß muss man trotzdem auch hier von einer gewissen werkimmanenten Entwicklung ausgehen. Beispielsweise ist die gesellschaftsgeschichtliche Entwicklung seit der Frühzeit, insbesondere ein möglicher Ursprung des Klientelwesens, erst in den späteren Arbeiten, vor allem in Gelzers „Cicero“-Aufsatz von 1920 Thema und wird in der „Nobilität“ noch nicht behandelt (vgl. unten Kapitel 8). Meier erinnert sich noch an ein interessantes Detail seiner redaktionellen Arbeit am ersten Bandes: „Meine Sache war die Überschrift: Zur römischen Politik und Gesellschaft. Strasburger [Hermann Strasburger, Anm. S. St.] fand besser: Zu Staat und Gesellschaft. Dagegen habe ich protestiert, weil mir das nicht richtig schien. Gelzer hat mir dann zugestimmt.“ Meier 2017, 68. Vgl. z. B. Gelzer Caesar 2008 [1921], 3–6; Gelzer Cicero 2014 [1969], 15 f. Strasburger 1975, 819. Die Verteidigung fand nach Gelzers Angaben „im Februar 1912“ (Gelzer Mem. 9) statt. Gelzers „Lebenserinnerungen“, die er selbst als „Memorabilien“ (vgl. Strasburger 1977, 75 f.) bezeichnete, werden im Folgenden zitiert als Gelzer Mem. Die Einsicht verdanke ich Florian Gelzer, seinem Enkel. Vgl. Meier 1977, 29, 1. Ridley zeigt sich erstaunt darüber, dass es keine englischsprachige Besprechung gegeben habe (vgl. Ridley 1986, 497). Gelzer wird beispielsweise in Täublers Forschungsrückblick von 1919 noch gar nicht erwähnt (vgl. Täubler 1919, 207–9). Im Folgenden wird nur eine Auswahl der Besprechungen behandelt.
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VI. Am Wendepunkt? Kontinuitäten und Brüche in Gelzers „Nobilität“
zension des Gymnasialdirektors und klassischen Philologen Carl Bardt.13 Der Mommsen-Schüler lobte zwar beiläufig den zweiten Teil als „interessant und lehrreich“, kritisierte aber die philologische Untersuchung im ersten Abschnitt entschieden. Gelzer presse „tiefsinnige staatsrechtliche Folgerungen“ aus einfachen Redewendungen und entkräfte deshalb keineswegs Mommsens alte Meinung, „daß die Nobilität am ius imaginum hängt“. Bardt kritisierte dann Gelzer, der bei Forscherkollegen selbst scharf gegen Anachronismen polemisiert hatte, pikanterweise noch für dessen modernisierenden Sprachgebrauch („Fürst“ als Übersetzung für princeps), der bei weitem irreführender sei als Mommsens Terminologie in dessen „Römischer Geschichte“. Auf den zweiten Teil von Gelzers „Nobilität“ ging Bardt nicht ein. Im selben Jahr erschien im „Literarischen Zentralblatt“ auch die Besprechung des Gymnasiallehrers und Historikers Wilhelm Soltau.14 Er setzte den ersten Teil, der die „rechtlichen Vorbedingungen“ der Zulassung zur soziopolitischen Oberschicht kläre, vom zweiten Abschnitt ab, der die „faktischen Verhältnisse“ der Nobilitätsherrschaft behandle. Gegen Gelzer wandte er ein, dass es erst seit Augustus einen verbindlichen Zensus für Senatoren gegeben habe, während vorher auch ein verarmtes Mitglied der Nobilität in den Senat eintreten konnte. Weiter hält er ihm eine mangelnde Differenzierung zwischen equus publicus und equus privatus vor. Den zweiten Teil lobt Soltau als „brauchbar“, schenkt ihm aber jenseits einer groben Inhaltswiedergabe kein weiteres Interesse. Ebenso besprach der Kunsthistoriker Victor Chapot Gelzers Buch 1913 grundsätzlich wohlwollend, auch wenn er hinsichtlich des ersten Teils bemerkte, dass der Terminus nobilis in Rom nicht so präzise gefasst worden sei, wie es bei Gelzer mitunter erscheine.15 Den zweiten Abschnitt lobte Chapot als ein „tableau pittoresque“, das aber trotz aller Farbigkeit im Grunde mehr oder weniger bekannte Tatsachen wiedergebe. Auch die ausführliche Rezension von Josué de Decker im „Archives Sociologiques“ von 1913 bezog sich nur auf das erste Großkapitel von 13
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Vgl. Bardt 1913, 16–19. Bardts Kritik scheint den jungen Gelzer durchaus getroffen zu haben. In einem Brief an Johannes Haller vom 9.2.1913 schreibt er: „Ich bin übrigens auch von einem emeritierten Oberlehrer und Mommsenschüler heftig attackiert worden, ohne daß aber ein einziger Hieb saß. Unverschämt war bloß der Ton, er erinnerte ganz an die Aufsatzkorrektoren in der Schule, wo solch ein Kathederkönig alles rot unterstreicht, was er nicht versteht. Dagegen freute mich, daß er am Schluß doch Angst bekommen hat vor meiner etwaigen Rache, da sagt er nämlich, wenn er auch nicht alles unterschreiben kann, was in dem Büchlein stehe, interessant und lehrreich bleibe es doch.“ (vgl. Haller-Nachlass Koblenz, N1035). Für Carl Bardt als Mommsenschüler vgl. Bardt 1875, 630–635. Für Gelzers Abneigung gegen seine Schulzeit vgl. Gelzer Habilitationsakte Freiburg, B0038/360, 9: „Ich ging immer ungern in die Schule, weil es mir nie behagte, von andern Leuten Aufgaben gestellt zu bekommen.“ Für weitere Kritik an Gelzers Nobilitätsdefinition vgl. auch knapp Lécrivain 1914, 354. Für ein Lob des zweiten Teils als „lehrreiche Betrachtung der Beamtenwahlen“ vgl. Liebenam 1914, 177. Vgl. Soltau 1913, 270–272. Eine kürzere Version erschien 1915 im „Sokrates“ (vgl. Soltau 1915, 158 f.). Er selbst hatte in Arbeiten mit den Titeln „Reiter, Ritter und Ritterstand in Rom“ (1911 erschienen) und „Grundherrschaft und Klientel“ (1912 erschienen) teilweise ähnliche Fragestellungen verfolgt wie Gelzer. Vgl. Chapot 1913, 230–231.
2. Rezeption und Forschungsüberblick
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Gelzers Studie.16 Dagegen lobte der Gymnasiallehrer Peter Huber 1914 gerade den zweiten Teil überschwänglich, hier werde dem Leser „ein packendes Bild […] von dem Aufbau der spätrepublikanischen Gesellschaft, ihrem Machthunger und ihrem rücksichtlosen Egoismus“17 geliefert. Aufschlussreich ist vor allem noch die Kritik von Arthur Rosenberg, die er im Rahmen einer Kollektivrezension über neuere Arbeiten zu „römischen Staatsaltertümern“ 1918 im Bursianschen Jahresbericht veröffentlichte.18 Zwar lobte er Gelzer zunächst dafür, mit seiner Art der „Gesellschaftsgeschichte“ eine willkommene „Ergänzung der juristischen Behandlung der römischen Verfassung“ geliefert zu haben, rügte aber zugleich, dass jener oft den Unterschied zwischen Rechtssatz und Praxis verwischt habe. So sei etwa die „Regimentsfähigkeit“ 367/6 v. Chr. nicht durch einen „Rechtssatz“ als ein geschlossenes Standeskriterium festgesetzt, sondern durch eine soziale Tatsache (nämlich die, dass nur wohlhabende Männer unbesoldete Berufspolitiker werden konnten) geregelt worden, so Rosenberg. Hinsichtlich des zweiten Teils bemerkte er, es sei irreführend, den Variantenreichtum des „politischen Klubwesen[s]“ in das starre System etwaiger „Nah- und Treuverhältnisse“ zu pressen. Gelzers Orientierung an „den unglücklichen Theorien Fustel de Coulanges“ führe zur einseitigen Überbetonung des herrschaftssichernden Moments der Klientelverhältnisse. Hinter Rosenbergs Problematisierung der Gelzerschen „Klientelthese“ verbirgt sich möglicherweise auch implizit die weltanschauliche Kritik Rosenbergs an dem „aristokratischen“ Rombild Gelzers. Tatsächlich scheint die „Nobilität“ eine gewisse Dogmatik befördert zu haben, wie etwa die Rezeption von Gelzers „Klientelthese“ bei Max Strack belegt. Schon 1914 bilanzierte dieser mit Blick auf die Bedeutung der „Nah- und Treuverhältnisse“ zwischen Freigelassenen und Patronen: Durch diese informellen Bindungen „kommandiert man die Wählermassen“19. Grundsätzlich lässt sich hinsichtlich der unmittelbar nach der Publikation erschienenen Rezensionen festhalten, dass nahezu alle Beiträge den Schwerpunkt auf den ersten, philologisch-prosopographischen Teil von Gelzers Werk legten und den zweiten, „politologischen“ Teil als zwar lebhaften, aber wenig originellen Zusatz mehr oder weniger beiseiteließen. Dieser Interessenschwerpunkt verlagerte sich im weiteren Verlauf der GelzerRezeption, die im Grunde erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs richtig an Fahrt gewann.20 In den 1960er Jahren erfuhr Gelzers „Nobilität“ durch die Neuauflage im ersten Band der von Christian Meier und Hermann Strasburger herausgegebenen „Kleinen Schriften“ (1962) eine breite Beachtung. In Rezensionen wurden jetzt vor allem die Erkenntnisse des zweiten Teils gelobt, wohl auch weil Gelzers 16 17 18 19 20
Vgl. Decker 1913, 631–637. Huber 1914, 68. Vgl. Rosenberg 1918, 222–224. Strack 1914, 27. Vgl. auch ders. 23. Auf Gelzer als Entdecker der „Nah- und Treuverhältnisse“ verweist wenig später auch Stein 1927, 429, 3. Meier spricht in einer Fußnote davon, dass sich die „eigentliche Wirkung des Buches erst 20 Jahre nach Erscheinen allmählich“ (Meier 1977, 29) eingestellt habe. Christ meint hingegen, dass das Werk „sogleich kanonischen Rang erhielt“ (Christ 1982, 116).
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VI. Am Wendepunkt? Kontinuitäten und Brüche in Gelzers „Nobilität“
Ausführungen über das soziale Beziehungssystem gut zum neuaufkommenden Interesse an informellen Strukturen und der stärker werdenden Skepsis gegenüber der Verengung aufs „Staatliche“ passte.21 Als „key that unlocked the door from the 19th to the 20th century in historical research in the Roman Republic“22, pries Ernst Badian die „Nobilität“ in seiner ausführlichen Rezension der „Kleinen Schriften“. Als ein Werk „which was to change the entire shape of Roman historiography“, ja geradezu als „the most important book ever written“23 über die römische Geschichte bezeichnete es Robin Seager, der Übersetzer von Gelzers Werk ins Englische. Der wichtigste Forschungsbeitrag zur „Nobilität“ – aber auch für das Leben und Werk Matthias Gelzers insgesamt – ist bis heute der 1977 von Jochen Bleicken, Christian Meier und Hermann Strasburger herausgegebene Band „Matthias Gelzer und die römische Geschichte“. Es handelt sich um die ausgearbeiteten Vorträge der drei Herausgeber anlässlich einer Gedenkfeier am 31. Januar 1975 in der Frankfurter Universität, an der Gelzer seit seiner Berufung 1919 bis zu seiner Emeritierung 1955 und darüber hinaus bis kurz vor seinem Tod gelehrt hatte. Während sich Strasburgers Beitrag vornehmlich auf die biographischen Monographien von Matthias Gelzer konzentriert, handeln die beiden Aufsätze von Bleicken und Meier stärker vom strukturgeschichtlichen Frühwerk. Insbesondere Christian Meier lobt in diesem Zusammenhang die „Nobilität“ überschwänglich: Mit dieser Arbeit habe Gelzer die „Sozialhistorie in neuer Weise für die Alte Geschichte fruchtbar gemacht“24, indem er die eigentümlichen sozialen Bedingungen des römischen Politiksystems erstmals grundlegend untersucht habe: „Dank dieser Analyse wurde das Verhältnis von Adel und Volk in Rom erstmals erkannt und verstanden […]. Erst Gelzer hat die Voraussetzungen für eine Strukturanalyse dieses eigenartigen Gemeinwesens geschaffen. Rückblickend versteht man kaum, was die Althistoriker vor ihm sich von der römischen Republik und ihrer Politik für Vorstellungen gemacht haben.“25 Insbesondere den informellen Charakter des Bindungswesens habe Gelzer im Gegensatz zu Mommsen, der nur die ursprüngliche, juristisch definierte Form der Freigelassenenpatronate diskutiert habe, erstmals beschrieben.26 Meiers Hauptinteresse liegt weniger auf einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit Gelzers Thesen, als vielmehr in der Spurensuche nach ihrer Genese. Aufgrund 21 22
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Vgl. für Besprechungen des ersten Bandes der „Kleinen Schriften“ z. B. Boer 1963, 204 f.; Piganiol 1965, 458–460; Van den Bruwaene 1962, 402 f. Badian 1967, 217. Generell wäre die Rezeption der „Nobilität“ im englischsprachigen Raum einer gesonderten Untersuchung wert. Allein schon, weil „der Schatten Mommsens“ hier weniger lang war, ist die Ausgangssituation eine andere. Später erhielt Gelzer übrigens die Ehrendoktorwürde in Oxford (vgl. Meier 2017, 59). Seager 1969, XIf. Meier 1977, 29. Meier 1977, 31. Vgl. Meier 1977, 32. Meier verweist hier nur auf III/1, 54 ff. Dass Mommsen die Klientelbeziehung im weiteren Verlauf auch als „ein sittliches Verhältniss gegenseitiger Treue“ (Mommsen StR III/1 1887, 76) bezeichnet, dessen reziproke Dienstleistungen mitunter einfache „Liebespflicht“ (ebd. 84) sein konnten, lässt Meier hier außer Acht.
2. Rezeption und Forschungsüberblick
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persönlicher Gespräche macht er solche Inspirationsquellen vornehmlich in Gelzers Schweizer Lebenswelt (Kenntnis des Berner Patriziats, der Basler Stadtstaatlichkeit sowie Erfahrungen mit der Professoren-Oligarchie)27 und in seiner frühen wissenschaftlichen Beschäftigung (Friedrich Münzers „1909 oder 1910“28 gemachtes Angebot, für die „Realencyklopädie“ mehrere Artikel über Persönlichkeiten der Republik und Kaiserzeit zu schreiben)29, weniger in einer bestimmten Schule aus. Im zweiten Teil seines Aufsatzes kritisiert Meier dann vornehmlich Gelzers Vorstellung von den Faktionen als zu fest und mechanisch, mitunter habe er „die Schalen der alten Unterscheidung von Konservativen und Revolutionären in Rom noch nicht ganz abgeworfen“30. Auch dass Gelzer aus seinen quellenbezogenen Ergebnissen keine weiteren theoretischen Konsequenzen etwa für die Kommunikationsdichte zwischen Ober- und Unterschicht gezogen habe, merkt Meier an und resümiert am Ende sogar: „Gelzer hat die Schwierigkeiten, die mit dem Verständnis römischer Politik und Gesellschaft verbunden sind, gar nicht gesehen, oder jedenfalls nicht recht verstanden.“31 Dazu habe ihm die Abstraktion über die reine Quellenwiedergabe hinaus gefehlt: grob gesagt das Bestreben, seinen Analyseergebnissen einen theoretischen Rahmen zu geben, argumentiert Meier. Jochen Bleicken sieht den Innovationsgrad der „Nobilität“ im Ganzen skeptischer als Meier. Zwar habe Gelzer methodisch neue Wege beschritten, indem er die römische Oberschicht einer systematischen Strukturanalyse unterzog, inhaltlich aber habe die Arbeit jenseits der Entdeckung der Nobilitätsschicht nicht viel Neues zu Tage gebracht, vielmehr nur Akzente verschoben und Altbekanntes neu formuliert. Gelzers Habilitationsschrift stelle mithin keine „grundlegende[n] Umwälzung der bisherigen Erkenntnisse“32 dar, so Bleicken, der zugleich auch darauf verweist, dass weder Gelzer selbst noch die Forschungsgeneration unmittelbar nach ihm den 27
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Vgl. Meier 1977, 33; 35; 46; 69. Vgl. dazu auch eine mündliche Mitteilung von Christian Meier am 14.12.2013, nach der Gelzer ihm auf einer Postkarte vom 13.3.1964 – als Reaktion auf seine Rezension von Frank E. Adcocks „Roman Political Ideas and Practice“, in der er die Existenz einer Polizei im alten Rom angezweifelt hatte – etwas ratlos geantwortet habe, dass es in Rom genauso wenig wie in der Schweiz eine Polizei gebraucht hätte. Hier habe man, als 1956 Chruschtschow und Kennedy in Genf waren, sogar ein deutsches Bataillon kommen lassen, um den Staatsbesuch zu sichern. Als Schweizer verstehe er also sehr gut, wie eine politische Ordnung ohne Polizei funktionieren könne. Meier 2017, 64. Vgl. Meier 1977, 33. Ebd. 47. Darüber hinaus verweist Ernst Badian (vgl. Badian 1967, 220) auf Gelzers anachronistische Beschreibung der Ritterschaft als „Mittelstand“ (vgl. z. B. Gelzer Nob. 1912, 43, 1 bzw. 58, wo sogar von einer „ritterlichen Klassenjustiz“ die Rede ist). Dagegen sei aber auf Gelzers (spätere) Problematisierung des Begriffs verwiesen: „[…] im Deutschen würde ‚Mittelstand‘ dem sozialen Rang des ordo equester nicht gerecht […] Senatoren und equites Romani sind die soziale Oberschicht“ (Gelzer Besprechung Hill 1962 [1952], 223). Erst recht spät wurden gegen den modernisierenden Beiklang des Ausdrucks „Nobilität“ Gegenstimmen laut (vgl. North 1990, 280). Meier 1977, 51. Bleicken 1977, 9. Anders urteilt Bleicken allerdings noch in seinem Nachruf 1975 (vgl. Bleicken 1975b, 159). Auf Bleicken als besten Interpreten der „Nobilität“ verweist Dissen 2009, 110.
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VI. Am Wendepunkt? Kontinuitäten und Brüche in Gelzers „Nobilität“
revolutionären Gehalt, den spätere Rezipienten ausmachen sollten, hervorgehoben hätten. Damit bestätigt Bleicken den oben bei der Lektüre der Rezensionen gewonnen Eindruck. Bleicken interessiert sich ebenfalls vor allem für den ideengeschichtlichen Gehalt des Werkes, sucht nach „konkreten Denkanstößen“33. Und auch er findet sie weniger in zeitgenössischen Theorien und Neuansätzen des eigenen Faches (wie etwa den Arbeiten von Robert Pöhlmann, Eduard Meyer oder Karl Julius Beloch), sondern wenn überhaupt in Gelzers Lektüre von Fustel de Coulanges „Les Origines du système féodal“. Daneben hebt er insbesondere den Einfluss von Richard Heinze, Gelzers Leipziger Lehrer, hervor, in dessen Cicero-Aufsatz von 1909 die politischsozialen Begriffe der „Nobilität“ schon vorgegeben worden seien.34 Zu Gelzers Invektive gegen Mommsen in der „Vorbemerkung“ meint Bleicken, sie sei in ihrer Allgemeinheit „fast nichtssagend […] und im Ausdruck bisweilen sogar unbeholfen“35, nur aus einem philologischen Affekt heraus formuliert und stelle kein grundsätzliches forschungstheoretisches Gegenprogramm zu Mommsen dar. Überhaupt kritisiert er Gelzers „mangelnde theoretische Reflexion“36, ein Nachteil, der nur durch sein besonderes philologisches Gespür wettgemacht worden sei. 1981 schließt Bleicken im selben Duktus an, Gelzers Arbeit sei ihrem „Charakter nach […] rein deskriptiv; doch da es z. Zt. seines Erscheinens (1912) nichts Vergleichbares gab, bedeutete es einen gewissen Durchbruch“37. Die folgende Gelzerforschung beschränkte sich dann auf die Frage nach ideengeschichtlichen Einflüssen und Inspirationsquellen der „Nobilität“. 1986 stellt Ronald Ridley Gelzers Arbeit in unterschiedliche Kontexte, argumentiert für Einflüsse aus seinem familiären (durch und durch professoralen) Umkreis, seiner Schweizer Lebenswelt und der Arbeit seiner akademischen Lehrer Friedrich Münzer und vor allem Richard Heinze. Ridley wendet sich entschieden gegen die Tendenz, Gelzers Kritik an Mommsen als konzeptionelle Theorievorgabe zu unterschätzen: „It is crystal clear that Mommsen is the main authority […] whose whole understanding of the working of Roman politics was being overthrown.“38 Aber auch er muss zugestehen, dass das „Staatsrecht“ in Gelzers „Nobilität“ paradoxerweise in den meisten Fällen als Autorität angeführt wird. Folgerichtig hebt auch Ridley die durch eine Selbstaussage Gelzers wahrscheinlich gemachte Bedeutung von Fustel de Coulanges hervor, auch wenn ihm bei der genauen Datierung von Gelzers Fustel-Lektüre ein Lapsus unterläuft.39 33 34 35 36 37 38 39
Bleicken 1977, 10. Vgl. ebd. 20 f. sowie ebd. 24 f. bzw. 26. Vgl. auch schon Bleicken 1975b, 158. Bleicken 1977, 17 f. Vgl. auch ebd. 23, wo er Gelzer „eine auf das Quellenproblem verkürzte Kritik an dem Staatsrecht Mommsens“ vorwirft. Gegen Bleickens Einschätzung der Mommsen-Kritik Gelzers wendet sich Ridley 1986, 490 f. Bleicken 1977, 22. Bleicken 1981, 236. Im selben Tenor ist auch sein Nachruf in der FAZ gehalten, vgl. Bleicken 1974, 17. Ridley 1986, 496. Gelzer las Fustel nach eigenen Angaben nicht nach der Beendigung seiner Habilitation, sondern nach Abschluss seiner Dissertation (vgl. Simon 1988, 226). Es liegt hier wohl ein Übersetzungsfehler von „thesis“ vor.
2. Rezeption und Forschungsüberblick
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Auf Ridleys Artikel antwortet 1988 der Basler Historiker Christian Simon zunächst mit einer emphatischen Betonung des „Wendepunkt“-Charakters, den dieses Werk aufgrund seiner „Entdeckung“ der politischen Funktion der Klientel besitze.40 Als „Hauptleistung“ Gelzers wertet Simon dabei (anders als Meier) die Abkehr vom modernen Parteienschema als Beschreibungskategorie römischer Politikordnung. Dies wertet er als einen Umstand, den er implizit mit Gelzers Schweizer Lebenswelt und seiner „Kenntnis vergleichsweise kleiner (Stadt-) Republiken und ihrer Oligarchien“ in Verbindung bringt. Im Gegensatz zu Ridley spielt Simon den Einfluss von Richard Heinze und Friedrich Münzer herunter und hebt stattdessen denjenigen von Fustel de Coulanges und Ulrich Wilcken hervor. Insbesondere verweist er noch auf die Bedeutung von Gelzers Dissertation, in der durch ihr gesellschaftsgeschichtliches Thema schon ein Grundstein für die in der „Nobilität“ erbrachte Leistung gelegt worden sei. Als einziger kommt Simon auch auf die Bedeutung des Berner Historikers Eduard Fueter zu sprechen, der Gelzers Onkel war und ihm vor allem die Differenz zwischen eigener Zeit und historischem Gegenstand vor Augen führte. Die Auseinandersetzung mit der „Nobilität“ verlagerte sich im Folgenden zurück auf die Diskussion von Gelzers enger prosopographischer Bestimmung der nobiles, die zuerst gelobt, dann kritisiert und zuletzt wieder rehabilitiert wurde.41 Margret Dissen hat in ihrer Arbeit über „Römische Kollegien und deutsche Geschichtswissenschaft im 19. und 20. Jahrhundert“ die „Nobilität“ wieder einer grundsätzlicheren Analyse unterzogen und Gelzers Ausgangsfrage nach den Mechanismen der Herrschaftssicherung einer soziopolitischen Oberschicht sowohl durch die zeitgenössische politikwissenschaftliche Forschung (u. a. Robert
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Vgl. Simon 1988, 222–240. Für Kritik an Gelzers enger Definition von nobilis vgl. Bardt 1913, 17 f.; Otto 1916, 87; Brunt 1982, 1 f.; Drexler 1961, 158 f.; Bleicken 1981, 238; Goldmann 2002, 45–51. Verteidigt wird Gelzers Kriterium u. a. von Stein 1917, 564 f. bzw. Burckhardt 1990, 81 f. Am intensivsten hat sich der dänische Althistoriker Adam Afzelius mit Gelzers Nobilitätsdefinition auseinandergesetzt. 1938 veröffentlichte er einen ersten Aufsatz, in dem er die konventionelle Nobilitätsdefinition (der sich auch Mommsen anschloss) auf den Renaissance-Gelehrten Sigonius zurückführte und die Gültigkeit von Gelzers Nobilitäts-These unterstrich, wenn auch auf den Zeitraum der späten Republik einschränkte: „Für im Ganzen 282 von 294 Stellen, oder in 96 % der Fälle ist konsularische Abstammung als wahrscheinlich erwiesen.“ (Afzelius 1938, 90). Daneben plädierte Afzelius dafür, dass auch die ersten Konsulatsbeamten einer Familie selbst schon der Nobilität angehörten und argumentierte, dass nobilis ein „rein sozialer Begriff“ sei, der nur „auf der allgemeinen gegenseitigen Anerkennung“ (ebd. 47) beruhte und seinen Charakter im Laufe der Zeit mehrmals verändert habe. In einem zweiten Aufsatz von 1945 untersuchte er dann den Nobilitätsbegriff vor der Zeit Ciceros und kam zu dem Ergebnis, dass hier „die Nobilität etwas ganz anderes bedeutet haben muss […] wie zur Zeit Ciceros“ (Afzelius 1945, 184). Seiner Meinung nach umfasste die Nobilität mindestens für den Zeitraum des dritten und beginnenden zweiten Jahrhunderts alle Nachkommen der kurulischen Beamten. Für diese Zeit folgte er also Sigonius bzw. Mommsens Theorie einer Konvergenz von ius imaginum und Nobilität. Erst mit den Gracchen habe sich die Nobilitätsdefinition verengt, so Afzelius. Wiederbelebt hat diese These jetzt Goldmann 2002, 62 f.
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VI. Am Wendepunkt? Kontinuitäten und Brüche in Gelzers „Nobilität“
Michels)42 als auch durch seine Erfahrungen mit der Schweizer Konkordanzdemokratie motiviert gesehen. Gleichzeitig relativiert Dissen ganz in Bleickens Sinne den revolutionär-progressiven Charakter der „Nobilität“. Statt einer systematischen Analyse sei Gelzer nur eine „Momentaufnahme der römisch-republikanischen Sozialstruktur“43 gelungen. Aloys Winterling hingegen schätzt den Stellenwert der „Nobilität“ in seinem 2012 erschienen Aufsatz „Zur Geschichte der antiken Gesellschaftsgeschichte“ wieder optimistischer ein, indem er hier Ansätze „einer politischen Gesellschaftsgeschichte“ ausmacht, die „die gesellschaftsgeschichtlichen Überlegungen der staats- und verfassungsrechtlichen Ansätze (von denen Gelzer sich im Vorwort scheinbar wirkungsvoll absetz[t]e) fortführt[e]“44. Eine aufschlussreiche Auseinandersetzung mit Gelzer lässt sich auch in der englischsprachigen Forschung verfolgen. Während Ernst Badian Gelzer 1967 noch als „most distinguished living historian“45 innerhalb der römischen Geschichte lobt, wird er im englischsprachigen Raum seit den 1980er und 1990er Jahre zur Symbolfigur einer „orthodoxen aristokratischen These“46 stilisiert, die die vielfältigen Möglichkeiten der Einflussnahme des Volks auf politische Entscheidungsprozesse ungebührlich außerAcht lasse. Als Speerspitze der „Revisionismusbewegung“47 fungieren dabei Peter Brunt48 und insbesondere Fergus Millar, der ausgehend von einer Kritik an Gelzers These von einer stabil herrschenden Aristokratie ein an Polybius geschultes Modell römischer Politik entwickelt, das den Fokus radikal auf die angeblich „demokratischen Elemente“ richtet.49 Durch den Verweis auf die 42
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Auf Robert Michels und sein berühmtes „ehernes Gesetz der Oligarchie“ als mögliche Inspirationsquelle für Gelzers Annahme einer „struttura assolutamente aristocratica“ (Canfora 1980, 224) verweist auch Luciano Canfora. Allerdings lehrte Michels nicht „dal 1907“ (Canfora 1980, 221), sondern seit „1914 [als] Professor für Nationalökonomie und Statistik in Basel“ (Pfetsch 1989, XX). Von einem persönlichen Einfluss ist also nicht auszugehen. Trotzdem ist der Umstand, dass Michels „Soziologie des Parteiwesens“ (1910) nahezu zeitgleich mit Gelzers „Nobilität“ (1912) erschien, aufschlussreich. Es wäre zu überprüfen, ob sich kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs das allgemeine Interesse der historischen Forschung wirklich auf die Analyse der „classi dirigenti“ (Canfora 1980, 221) verlagerte. Canfora verweist beispielhaft auf Oswald Spengler und Otto Seeck, um einen grundsätzlichen „elitismo e darwinismo sociale“ (ebd. 222) in der Abfassungszeit der „Nobilität“ zu belegen. Dissen 2009, 110. Vgl. für ihre generelle Gelzer-Bewertung auch ebd. 223. Winterling 2012, 147 f. Badian 1967, 216. Vgl. zur englischsprachigen Gelzer-Rezeption generell Goldbeck 2010, 246–249. Ungern-Sternberg 1990, 427. Dazu kann man z. B. auch John North zählen, der Gelzers Thesen als „frozen waste theory“ (North 1990, 278) denunziert. Vgl. Brunt 1988, 382–443. Dazu speziell Goldbeck 2010, 253–260 bzw. Goldbeck unveröff. 1–4. Vgl. Millar 1984, 1–19. Millar zieht gegen Gelzer auch begriffskritisch zu Felde, indem er die Termini „Patronage“ und „Klientel“ als zeithistorisch kontaminiert darstellt: „It can even be claimed that we are entitled to apply to ancient societies the now established common-language (or sociological) use of terms like ‚clientage‘ and ‚patronage‘ without regard to the presence, or precise use, of equivalent terms in the society in question. But to say that is to say that curiosity about exact nuances of ancient social and political realtionships is superfluous.“ (ebd. 17). Dass man sich mit Blick auf Gelzers Romverständnis „die gesamte Fergus-Millar Debatte hätte sparen können“, bemerkte Jürgen von Ungern-Sternberg in der Diskussion während der Ta-
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Kompetenzen der Volksversammlungen, die Beziehung zwischen Rhetor und Volk und die populäre Stimmungsmache in den contiones und im Theater versucht Millar, die zentrale Argumentationsstruktur Gelzers zu entkräften, in Rom hätten per se starre soziale Abhängigkeitsverhältnisse die politischen Entscheidungen beeinflusst. Gelzer wird hier als Chefideologe einer „Konstruktion der deutschen Altertumswissenschaft“50 (interessanterweise auf ähnlich rabiate Weise wie Mommsen von ihm selbst!) zum Pappkameraden gemacht, von dessen engstirnigdogmatischer Orthodoxie man sich publikumswirksam abwenden konnte.51 Hervorgehoben sei in diesem Zusammenhang noch ein Aufsatz von Leonhard Burckhardt, der Gelzer gegen seine englischen Kritiker verteidigt.52 Zum einen habe Gelzer keineswegs das Bild einer starren aristokratischen Schicht vor Augen gehabt, sondern anerkannt, dass die Nobilität „no closed heredity group to be compared to a caste or feudal class“53 gewesen sei. Zum anderen sei gerade hinsichtlich der grundsätzlichen Offenheit der Nobilität für homines novi die stabile Herrschaftssicherung einzelner Familien erstaunlich und deute sehr auf besondere Strategieleistungen im politischen Wettbewerb hin, so Burckhardt, der seinem Schweizer Landsmann damit den Rücken stärkt. Als Resümee lässt sich festhalten, dass sich die Lesart der „Nobilität“ als eines revolutionären Schlüsselwerks, das die rechtliche Beschränkung auf die politischen Institutionen durchbrochen habe, innerhalb der Forschung erst nach dem Zweiten Weltkrieg, vor allem nach der Neuauflage der Studie im 1962 erschienenen ersten Band der „Kleinen Schriften“ und dann mit der englischen Übersetzung von 1969 wirklich durchsetzen konnte. Zuvor war in Rezensionen und Fachaufsätzen vor allem der erste Teil kontrovers diskutiert worden, während der zweite Abschnitt meist unbeachtet blieb. Diese Tendenz kehrte sich im weiteren Verlauf der Gelzer-Rezeption geradezu um. Seit den 1960er Jahren begann man, sich verstärkt auf den zweiten, als „politologisch“54 gedeuteten Abschnitt von Gelzers Arbeit zu konzentrieren, den man nun als anschlussfähigen Ausgangspunkt für eigene sozialgeschichtliche Forschungsinteressen entdeckte – mitunter auch als Alibi benutzte, um sich von
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gung „Konzeptionen antiker ‚Gesellschaft‘ im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert“ (27.– 28.11.2014 im Rahmen des SFB 644 in Berlin). Vgl. für eine Verteidigung Gelzers und einen Widerspruch gegen Millar in der deutschsprachigen Forschung vor allem Jehne 1995, 1–9 und Hölkeskamp 2004, 15–17 bzw. 73 f. Nippel 2002a, 137. Goldbeck verweist auf Missverständnisse der englischsprachigen Forschung: Insbesondere Brunts scharfe Negierung einer strukturellen Bedeutung des Klientelwesens in der späten Republik basiere auf einem zu restriktiven Begriff von „Klientel“ als eines „erblichen, exklusiven und für beide Seiten von hoher Verbindlichkeit geprägten Verpflichtungsverhältnisse[s]“ (Goldbeck 2010, 256). Gelzer hingegen habe keinen so „engen“ Begriff vom Klientelwesen gehabt, wie ihm das die englischsprachige Forschung unterstellen würde. Allerdings konzentriert sich Goldbeck in seiner Analyse dann vor allem auf Christian Meiers Weiterentwicklung der Gelzerschen These und kommt auf Gelzer selbst nur am Rande zu sprechen. Vgl. Burckhardt 1990, 77–99. In gleicher Manier jetzt auch Meier 2015, 617, 45. Burckhardt 1990, 84. Simon 1988, 223.
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Mommsens schwer zugänglichem Fundamentalwerk abzukoppeln und aus dem „langen Schatten“ des Übervaters Mommsen heraus zu treten. Zum Stand der gegenwärtigen Gelzer-Rezeption ist abschließend festzuhalten, dass von der althistorischen Forschung zwar immer wieder toposhaft auf die „Nobilität“ als ein „Datum der Wissenschaftsgeschichte“55 verwiesen wird, eine intensivere Beschäftigung mit den Implikationen und Kontexten von Gelzers Studie bisher aber nicht erfolgte.56 3. WERKBIOGRAPHISCHE EINORDNUNG DER „NOBILITÄT“ Matthias Gelzers Forschungsinteresse galt ursprünglich der Spätantike. Nach einem ersten philologisch ausgerichteten Artikel während seiner Basler Studienzeit über die antike Traumdeutung, der 1907 erschien,57 wurde Gelzer ab Herbst 1907 in Leipzig bei Ulrich Wilcken promoviert, dem princeps papyrologorum seiner Zeit und „Mommsens größtem Schüler“58, über die byzantinische Verwaltungsorganisation Ägyptens. In diesem Rahmen beschäftigte er sich, so Gelzer rückblickend, zum ersten Mal mit der „politischen und sozialen Entwicklung“59 in einer bestimmten Epoche. Hier konnte er die Darstellung der sozialen Bedingungen politischer Ordnung das erste Mal „erproben“60. In seinen „Memorabilien“ schreibt Gelzer: „Mit meiner Dissertation hing das Thema insofern zusammen, als ich mich auch dort namentlich für die Gesellschaftsgeschichte interessiert hatte.“61 Gelzer geht in seiner Arbeit von drei Verwaltungssphären aus, die in unterschiedlichen Beziehungen zueinanderstehen: Dies sind erstens die zentrale Regierung, vertreten durch inspectores, die für das Gemeinwesen die Einnahmen verwalteten; zweitens, die reichen Grundherren, possessores, die Steuern von ihren Päch55
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Strasburger 1976, 118 (interessanterweise hier gekennzeichnet als „mündliche Bemerkung Gelzers 1973“). Vgl. z. B. auch Broughton 1972, 252; Gehrke 1994, 185 f.; Baltrusch 2012, 451. Vgl. auch die kurzen Eingangsbemerkungen jeweils in den drei Neuausgaben der Gelzerschen Biographien: Hermann-Otto 2005, 7; Baltrusch 2008, IX; Riess 2014, X. Die ideengeschichtliche Fährtensuche rund um die „Nobilität“ geht allerdings weiter. Für einen, durch (den von Gelzer in der „Nobilität“ sechsmal zitierten) Guglielmo Ferrero vermittelten Einfluss von Gaetano Moscas Elitentheorie auf Gelzer plädiert etwa Luca Fezzi (vgl. Fezzi 2012, 155–164). Luciano Canfora sieht Moscas Gedanken im deutschsprachigen Raum durch Robert Michels vermittelt (vgl. Canfora 1980, 219). Vgl. Gelzer Traumdeutung 1907, 40–51. Ebenso Gelzer Mem. 6b. Gelzer immatrikulierte sich im „Frühjahr 1905“ (Gelzer Habilitationsakte Freiburg, B0038/360, 10) an der Basler Universität aus Mangel an Studienplätzen in der Historie als klassischer Philologe. Zu seinen Lehrern zählten Alfred Körte, Friedrich Münzer und Hermann Schöne. Gelzer Mem. 6b. Zu Ulrich Wilcken vgl. Rebenich 2012, 362–365. Gelzer Mem. 6b. Vgl. auch Gelzer Habilitationsakte Freiburg, B0038/360, 13: „Hier ging mir die Bedeutung von Wirtschafts- und Verwaltungsgeschichte auf.“ Simon 1988, 235. Vgl. auch Bleicken 1975b, 158; ders. 1977, 20. Ebenso Strasburger 1975, 818. Dagegen meint Ridley, dass sich hier nichts finde, „which makes us think of Roman Republican oligarchy“ (Ridley 1986, 479). Gelzer Mem. 8. Vgl. für eine eigene Beschreibung der Dissertation als Studie über die ägyptische „Gliederung der Gesellschaft“ auch Gelzer Besprechung Maspero 1913, 514.
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tern eintrieben und an den „Staat“62 weitergaben und drittens, die Bauern, coloni, die Abgaben leisten und in „klientelartigen Abhängigkeiten“63 zu den Grundbesitzern stehen mussten. Insbesondere im dritten Teil seiner Arbeit setzt Gelzer sich mit dem Verhältnis von „grundherrlichem Adel“ und niederer Untertanenschaft auseinander.64 Schon hier macht er in sozialen Abhängigkeitsbeziehungen die Grundlage politischer Macht einer adligen Oberschicht aus. „Die Schwäche der Regierung ließ geschehen“, so heißt es schon in der Einleitung, „daß sich auf gewaltsame Weise ein privilegierter Stand von Großgrundbesitzern mit hörigen Untertanen bildete.“65 Gelzers Analyse kommt zu folgenden Ergebnissen: Während im 4. Jahrhundert der Bodenbesitz noch in den Händen vieler unterschiedlich vermögender Privatbesitzer lag, es keinerlei Klientelbeziehungen, nur freie Pächter gab, wurde die wirtschaftlich-soziale Ordnung in byzantinischer Zeit durch die sogenannte „Patrociniumsbewegung“66 stark verändert. Dabei begaben sich einzelne vermögende Bauern (coloni) als Klienten in ein vertragliches Schutzverhältnis zu vornehmen Patronen (potentiores), wurden „rechtlich Hörige“67, die ihr Land bewirtschaften und Abgaben an ihren Patron zahlen mussten, damit dieser sie vor „staatlichen“ Steuerbelastungen schützte. Diese Abmachung wurde gewissermaßen an der schwachen „staatlichen“ Autorität vorbeigetroffen, „den Schaden trug in letzter Linie der Staat, dem niemand steuerte“68. Weil der „Staat“ zu schwach war, um seine „Bürger“ nachhaltig zu kontrollieren, bildeten sich Parallelstrukturen auf der Basis persönlicher Abhängigkeitsverhältnisse. Gelzer spricht mit Blick auf diese sozialen Bindungsverhältnisse von einem „anarchistische[n] Unwesen“69. Der Patron schützte seinen Klienten vor „staatlicher Regulierung“, aber übte dafür gegen seinen „Hörigen“ eben selbst eine Art „Regierungsgewalt“ aus: Er erhob Steuern, sanktionierte und strafte eigenständig, während er „die staatliche Rechtspflege und Polizei“70 ignorierte. Mit der verwaltungspolitischen Veränderung ging auch eine soziale einher, die mächtigen Grundherren setzten sich von den hörigen Klienten und Landbewohnern ab: „Man 62 63 64 65 66 67 68
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Gelzer Ägypten 1909, 74. Meier 2017, 63. Vgl. Gelzer Ägypten 1909, 63–99, insbesondere: 69–83. Vgl. dazu auch Gelzers Besprechung von Rostovtzeffs (Gelzer Besprechung Rostovtzeff 1911, 519–522). Gelzer Ägypten 1909, 2. Ebd. 99. Ebd. 76. Ebd. 77. Gelzer spricht auch vom „Sieg der Patrone“ gegen die „städtische Steuererhebung“ (ebd. 79). Nur sehr selten gebe es Beispiele, „wo sich der byzantinische Staat stärker erwies als die Grundherren“ (ebd. 75). Für seine Analyse eines „schwachen Staats“ vgl. auch ebd. 83. Dass Gelzer hier über die Beschäftigung mit dem „Staats-“, präziser dem „Steuerrecht“ auf seine Thesen kam, berichtet er seinem Bruder Heinrich in einem Brief vom 31.5.1908: „Ich schanze jetzt über antikes Steuerwesen und gegen alle Erwartung interessiert mich die Frage. Das Staatsrecht gibt eben doch den soliden Untergrund ab für die Kulturgeschichte und dafür vor allen Dingen interessiere ich mich.“ (vgl. Gelzer-Nachlass Basel, Dossier PA 756 E 13, 2). Gelzer Ägypten 1909, 77. Ebd. 81. Gelzer bezeichnet hier die private Strafjustiz mit individueller Bestrafung und „Privatkerker“ mit einem konservativen und auf staatliche Ordnungssicherheit Wert legenden Unterton als „politische Krankheit“.
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darf wohl sagen“, so Gelzer, „es hat sich auf diese Weise ein Adel gebildet“71. Die Herausbildung und der kontinuierliche Machtgewinn einer sozialen Oberschicht, des „Adels“, basierten auf unterschiedlichen Abhängigkeitsverhältnissen. Diese auf persönlicher Abmachung, nicht auf institutioneller Anordnung beruhenden Beziehungen dienten dem „Machttrieb der Vornehmen“72 genauso wie dem Schutzbedürfnis der sozial Schwachen. Gelzer macht mithin schon im spätantiken Ägypten einen Mechanismus aus, den er als strukturelles Element der politischen Ordnung später auch im spätrepublikanischen Rom wiederfinden sollte. Bei seiner Beschäftigung mit dem spätantiken Ägypten lernte er zum ersten Mal verstehen, dass antike Regierungsgewalt – die er im Übrigen ohne Bedenken modernisierend als „staatlich“ bezeichnet – an sich schwach war und durch individuelle soziale Abhängigkeitsverhältnisse kompensiert wurde. Gelzers Interesse an „staatsfernen“ Herrschaftsstrukturen und der Machtsicherung einer sozialen Oberschicht wurde anscheinend durch die Beschäftigung mit der ägyptischen Verwaltungsgeschichte geweckt.73 Im Herbst 1909 erschien die Dissertation.74 Obgleich seine Arbeit vom Fachpublikum freundlich aufgenommen wurde,75 riet ihm sein Doktorvater, Ulrich Wilcken, sich für die Habilitation einer anderen Epoche zuzuwenden, weil Arbeiten zur „Spätantike“ von der Zunft noch nicht als vollwertige Leistungsnachweise des Althistorikers anerkannt würden.76 So wandte sich Gelzer – nach eigenen Angaben
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Ebd. 79. Ebd. 99. Auch in Gelzers „Rostovtzeff“-Besprechung ist ein deutlicher Sinn für die Bedeutung sozialer Abhängigkeitsverhältnisse spürbar. Dadurch, dass der „Staat“ sie zulässt, habe er sich „selbst einen Pfahl ins Fleisch getrieben, der nicht mehr zu entfernen war“ (Gelzer Besprechung Rostovtzeff 1911, 522), so Gelzer polemisch. Vgl. Gelzer Ägypten 1909, Vorrede. Das berüchtigte Rigorosum durch Richard Heinze, der den jungen Gelzer als Cicero-Ignoranten entlarvte, fand am 16.7.1909 statt (vgl. Gelzer Mem. 7: „Heinze fragte mich im Anschluß an Sallust hauptsächlich über Ciceros politische Stellung, worüber ich die landläufige Ansicht mitzuteilen wußte, aber auf Heinzes ironische Nachforschung gestehen mußte, daß ich seit meiner Schulzeit von ihm nur de divinatione gelesen hatte. Diese beschämende Feststellung gab mir indessen den Ansporn, die Lücke baldmöglichst auszufüllen, und legte so den Grund zu meiner späteren wissenschaftlichen Arbeit.“). Warum in der Freiburger Habilitationsakte der „5. Januar 1910“ als Promotionsdatum auftaucht, ist unklar (vgl. Gelzer Habilitationsakte Freiburg, B0038/360, 6). Rezensiert wurde Gelzers Dissertation u. a. von Louis Bréhier (vgl. Bréhier 1912, 332–339) und Josef Partsch, mit dem Gelzer einen „freundschaftliche[n] Verkehr“ (Gelzer Mem. 10) pflegte (vgl. Partsch 1931, 257–261). Weitere Reaktionen scheinen u. a. von Otto Lenel, Ernst Fabricius, Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Richard Heinze, Eduard Fueter und Walter Otto eingegangen zu sein (vgl. Gelzers Brief an Johannes Haller vom 2.8.1912 in: HallerNachlass Koblenz, N1035). Christian Meier hält es für möglich, dass auch Max Weber sie zur Kenntnis genommen habe (vgl. Meier 2017, 63). Gelzers Befürworter im Kultusministerium, der Berliner Universitätsreferent und spätere Unterstaatssekretär Carl Heinrich Becker, der ihm vor seinem Wechsel an die Universität Straßburg 1918 eine Gehaltserhöhung in Aussicht stellte, um ihn in Greifswald zu halten, war selbst Professor der orientalischen Sprachen und ein eifriger Leser von Gelzers Dissertation gewesen (vgl. Gelzer Mem. 20). Vgl. Gelzer Mem. 7b.
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inspiriert von unterschiedlichen (Lese-)Erfahrungen –77 der späten römischen Republik zu. Ob seine spätere Thesenbildung darüber hinaus explizit durch die Lektüre von Heinzes 1909 erschienener Schrift über „Ciceros politische Anfänge“ beeinflusst wurde, wie mitunter argumentiert wird, ist schwer zu entscheiden.78 Bei Ernst Fabricius in Freiburg begann Gelzer im Sommer 1910 mit der Arbeit an einer Habilitationsschrift über „das Wesen der Nobilität der römischen Republik“.79 Bald arbeitete er mit „fieberhafter Emsigkeit bis zur körperlichen Erschöpfung“80, musste das Unternehmen sogar krankheitsbedingt unterbrechen,81 bis er schließlich im Januar 1912 seine Habilitationsschrift mit dem Titel: „Die Nobilität der römischen Republik“ einreichen konnte.82
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In seinen „Memorabilien“ (vgl. Gelzer Mem. 8) verweist er als wegweisend für seine Themenwahl auf: 1. Seine Cicerolektüre (angeregt durch Richard Heinze in Leipzig). 2. Seine Arbeit an Kurzbiographien römischer Politiker für die Realenzyklopädie. 3. Seine Arbeit an der Dissertation (s. o.). 4. Seine Lektüre von Alexis de Tocquevilles „L’ancien régime“ (vgl. auch Gelzer Mem. 29; 30; 78). 5. Seine Lektüre von Fustel de Coulanges (angeregt durch seinen Vetter Eduard Fueter). 6. Seinen Schweizer Lebenskontext (als Vergleichshorizont). Für eine thematische Beeinflussung plädieren z. B. Bleicken 1977, 27; Meier 1977, 32 f.; Canfora 1980, 218 f.; Ridley 1986, 480 f. Zwar wird Cicero hier als vielbeschäftigter Patron beschrieben, der „vielfache Beziehungen zu seinen Standesgenossen unterhalten“ (Heinze 1960 [1909], 106) habe, aber Gelzers Nobilitätskriterium scheint Heinze z. B. nicht zu teilen. Allerdings wird hier mitunter schon die grundsätzliche Bedeutung des Prestigewerts einer Familie bei den Wahlen hervorgehoben und insbesondere der Abschnitt über das Commentariolum petitionis (ebd. 134–139) könnte den ersten Abschnitt des zweiten Teils der „Nobilität“ beeinflusst haben. Im fides-Begriff erkenne schon Heinze, so Canfora, den „cardine nella societá romana del rapporto di clientela“ (Canfora 1980, 219). Vgl. Gelzer Mem. 8. Für Gelzers Einschreibung in Freiburg vom Sommer 1910 bis zum Sommer 1911 vgl. Ridley 1986, 483. In Fabricius’ Gutachten vom 13.2.1912 heißt es: „Die Arbeit beruht auf einem großen mit ebensoviel Fleiß wie Verständnis durch umfassende Lektüre der antiken Quellen gesammelten Material. Die Selbstständigkeit und Reife tritt auch in der Auffassung der politischen und gesellschaftlichen Zustände zutage […] das Gesammtergebnis ist verfassungsgeschichtlich von großem Interesse. Auch die Darstellung ist zu rühmen; sie ist klar, kurz und gewandt.“ (Gelzer Habilitationsakte Freiburg, B0038/360, 2 f.). Gelzer Mem. 8. Vgl. auch den Brief an Haller vom 10.12.1911: „Die gesteckte Aufgabe ist eine Keckheit für mein Alter und oft bin ich sehr deprimiert deswegen.“ (zit. nach Simon 1988, 238). Es kann auch sein, dass Gelzer schon 1910 – zeitgleich mit der „Nobilität“ – erste Vorarbeiten zu seinen späteren RE-Artikeln über „Brutus“, „Germanicus“ und „Tiberius“ unternahm. Strasburger gibt an, dass diese, erst 1918 erschienenen Artikel, noch zur „Phase der Nobilität“ (Strasburger 1977, 61) gehören und, so mutmaßt er, auch schon ungefähr 1910/11 begonnen wurden. Es handelte sich wohl um einen „Darmkatarrh“ (vgl. Brief vom 6.8.1911 an seinen Bruder Heinrich, Gelzer-Nachlass Basel, Dossier PA 756 E 13, 2). Das Habilitationsgesuch von Gelzer ist auf den 26.1.1912 datiert. Und schon am 29.2.1912 wurde ihm die venia legendi erteilt (vgl. Gelzer Habilitationsakte Freiburg, B0038/360, 5 bzw. 6). Gewidmet hatte Gelzer seine Arbeit ursprünglich seinem Basler Studienkollegen und Freund Fritz von der Mühll, der ihn wohl auch zu einigen Kapiteln der „Nobilität“ angeregt hat (vgl. Gelzer Nob. 1912, 23, 8; 32, 6; 65, 1). In seinen „Memorabilien“ lobt Gelzer ihn als besonders „feinsinnigen“ (Gelzer Mem. 5b) Geist. Verlegt wurde die Arbeit beim renommierten Leipziger Fachverlag „B. G. Teubner“.
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VI. Am Wendepunkt? Kontinuitäten und Brüche in Gelzers „Nobilität“
4. ZU GELZERS METHODE Im Vergleich zu Mommsen ist zunächst ein entscheidender Genre-Unterschied zu konstatieren. Gelzers „Nobilität“ hat anders als Mommsens „Staatsrecht“ nicht den Anspruch einer umfassenden Analyse der politischen Ordnung Roms. Er schreibt eine rund hundertseitige Studie, kein fünfbändiges, enzyklopädisches Handbuch. Die „Nobilität“ ist zeitlich und thematisch auf die späte Republik beschränkt und hat zwei sehr konkrete Erkenntnisinteressen: Erstens will sie die Zusammensetzung der römischen Oberschicht analysieren und dabei Mommsens Schichtungsmodell an einer – nämlich der sozial höchsten – Stelle modifizieren. Zweitens will sie in verschiedenen sozialen Abhängigkeitsverhältnissen die Voraussetzung der römischen Politikordnung, insbesondere der „Nobilitätsherrschaft“ erkennen. Anders als Mommsen in seinem „Staatsrecht“ geht es Gelzer dabei nicht um die Durchsetzung einer bestimmten Systematik. Methodisch hat Gelzer sich in der „Nobilität“ ausdrücklich von Mommsens rechtssystematischen Standpunkt entfernt und folgt stattdessen einer philologisch-antiquarischen Methode. Über weite Strecken ist seine Beschreibung exemplarisch und quellennah, kaum eine Seite, auf der nicht in irgendeinem Zusammenhang auf das ciceronische Korpus verwiesen wird.83 Ist der erste Teil geprägt von einem prosopographischen Moment, also der umfassenden Zusammenstellung und Auswertung römischer Familienstammbäume, so ist der zweite Abschnitt stärker durch eine anekdotisch-illustrative Anlage gekennzeichnet, die passagenweise auch Versatzstücke einer spätrepublikanischen Ereignisgeschichte liefert.84 Immer wieder werden einzelne Szenen des politischen Wettbewerbs herausgelöst und als Beleg für eine spezielle Form des Bindungswesens gewertet. Stets trieb Gelzer dabei ein philologischer Eifer an.85 Das unermüdliche „Durchblättern der Chronik“86 war nach Gelzers eigenen Angaben seine bevorzugte Methode. Schon in einem Brief an Johannes Haller vermerkte er 1911: Ich glaube, daß der Historiker nicht die Vergangenheit zu erzählen hat, sondern aus der Überlieferung das wirklich Geschehene aussondern und in den durch die Überlieferung gegebenen Zusammenhängen darstellen soll. Die Maßstäbe bei der Aussonderung der gewesenen Wirk-
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Für Cicero als Gelzers wichtigsten Gewährsmann vgl. z. B. Gelzer Röm. Ges. Cic. 1962 [1920], 157 („Wenn wir uns von den gesellschaftlichen Zuständen der römischen Republik ein einigermaßen lebendiges Bild machen können, so verdanken wir das lediglich Cicero“). Vgl. z. B. die Exkurse über das „römische Gerichtsleben“ (Gelzer Nob. 1912, 58–60) oder den „politischen Hellenismus“ (ebd. 114 f.). Linderski meint daher zu Recht: „Gelzer’s work is not a prosopographical but rather a structural investigation.“ (Linderski 1990, 45). Gelzer meinte, dass Geschichtswissenschaft „im Gegensatz zur Geschichtsschreibung […] nichts anderes als Quellenkritik“ (zit. nach Meier 2017, 70) sei. Gehrke vermutet, dass Gelzer in seiner Analyse vom Impuls der „traditionellen Begriffsgeschichte“ geleitet worden sei (vgl. Gehrke 1994, 185). Gelzer Nob. 1912, 104. Hierin unterscheidet sich Gelzer zunächst einmal nicht vom Autor des „Staatsrechts“, der neben der juristischen, auch immer die philologische Tugend des Historikers betonte (vgl. Mommsen Rektoratsrede 1905 [1874], 12). Gelzer lobt Mommsen sogar für seine Quellengenauigkeit im „Staatsrecht“ (vgl. Gelzer Caesar 1943 [1942], 130). Das übersieht Baltrusch, wenn er in Gelzers Quellengenauigkeit ein Gegenstück zum „Systematiker Mommsen“ (Baltrusch 2008, IX) sieht.
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lichkeit (handle es sich um Tatsachen oder Gedanken und Beziehungen) können uns nur die gleichzeitigen Zeugnisse geben.87
Die Betonung „gleichzeitiger Zeugnisse“ als Ausweis historischer Tatsächlichkeit im scharfen Gegensatz zu freihändigen „Analogieschlüssen“ hat dann wenig später auch Eingang in die „Vorbemerkung“ der „Nobilität“ gefunden.88 In seiner „Antrittsrede“ vor der Preußischen Akademie der Wissenschaften 1939, einem der wenigen Zeugnisse, das Auskunft über Gelzers Selbstverständnis als Historiker gibt, hat er dann auch betont, über die „Freude an den klassischen Sprachen“89 zum Studium der Antike gekommen zu sein. Das philologische Interesse, das möglicherweise auch durch Begegnungen mit einflussreichen Philologen der Zeit wie Richard Heinze verstärkt worden ist,90 bildet also die intellektuelle Grundlage des Historikers Gelzer. Darauf verweist auch Christian Meier, wenn er Gelzer in einer eingängigen Wendung attestiert, in seinen Arbeiten stets in „ein Nahverhältnis zur Überlieferung getreten“91 zu sein und seine Thesen im philologischen „Tagebau“92 gewonnen zu haben. Und auch Jochen Bleicken hebt Gelzers „philologisches Gewissen“93 hervor. Gelzer selbst nannte sich einen „unphilosophischen Kopf“, zählte sich „zu den veralteten Positivisten“ und meinte, als Historiker habe er sich damit zu begnügen, die „geschichtlichen Zusammenhänge in ihrer ursächlichen Verkettung“94 darzustellen. Immer wieder hat er Forscherkollegen für ihren Umgang mit den Quellen 87
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Brief an Johannes Haller am 10.12.1911, zit. nach Simon 1988, 237 f. Vgl. auch die Beloch-Besprechung von Gelzer, in der er den Autor dafür lobt, allein „gleichzeitige Überlieferungen zu verwenden“ (Gelzer Besprechung Beloch 1913, 1107). Gelzer bemerkt in der Besprechung einer Arbeit des marxistischen Althistorikers Maschkin spöttisch, es gehörte wohl „zu den eingewurzelten methodologischen Mängeln der bürgerlichen Historiographie, daß sie auf gründliches und gewissenhaftes Quellenstudium entscheidenden Wert legt“ (Gelzer Besprechung Maschkin 1963 [1955], 354). Dass er hiermit auf seine eigene Forschungspraxis verweist, ist klar. Für Gelzers Verachtung des marxistischen Gedankenguts vgl. auch Gelzer Mem. 20 bzw. 23. Vgl. Gelzer Nob. 1912, Vorbemerkung. Gelzer Antrittsrede 1940, 124. Vgl. auch Gelzer Mem. 2b („die Freude an den klassischen Sprachen führte mich schließlich zum Studium der alten Geschichte“) bzw. Gelzer Habilitationsakte Freiburg, B0038/360, 10 („Daneben entwickelte die Schule in mir die Freude an den klassischen Sprachen“). Vgl. Gelzer Mem. 7. Ebenso Meier 1977, 37. Meier 1977, 51. Allerdings ist dieses Verhältnis nicht immer spannungsfrei. Einem Valerius Maximus etwa wirft Gelzer mitunter „rhetorisches Geschwätz“ (Gelzer Nob. 1912, 109, 10) vor, einem Cicero „Verlogenheit“ (vgl. ebd. 87, 2). Meier 1977, 38. Vgl. dazu auch Rebenich 2004, 204. Bleicken 1977, 13. Ernst Baltrusch spricht von Gelzers „quellengesättigte[r] Sachlichkeit“ (Baltrusch 2008, IX) und Karl Christ von einem „ungewöhnlichen Rigorismus der Quellenarbeit“ (Christ 1982, 121). Gelzer Mem. 47; 36; 46. Seine Abneigung gegen die „geistigen Höhenflüge“ (ebd. 49) seiner Frankfurter Kollegen Walter F. Otto und Karl Reinhardt ist daher nicht überraschend. Dass Gelzer sie in seinen „Memorabilien“ immer wieder spöttisch als „große Geister“ titulierte, die nichts von der „mehr schulischen Seite des Universitätsunterrichts“ (ebd. 52) verstünden, zeugt von einem gewissen intellektuellen Minderwertigkeitskomplex bei Gelzer. Dass er „höchst skeptisch gegen abstrakte Begriffe“ gewesen sei, berichtet auch Christian Meier (vgl. Meier
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VI. Am Wendepunkt? Kontinuitäten und Brüche in Gelzers „Nobilität“
kritisiert. Karl Julius Beloch etwa warf er unverblümt „Respektlosigkeit gegenüber den antiken Quellen“ vor und ermahnte seinen Zunftkollegen: „Der Historiker kann sich nie genug sagen, daß der schlechteste antike Autor von seiner eigenen Zeit mehr wußte als der gescheiteste Professor von heute.“95 Unter dieser, aus einigem Abstand betrachtet erkenntnistheoretisch zumindest zweifelhaften Prämisse, die von einem großen Optimismus gegenüber dem strukturellen Realitätsgehalt der Quellen getragen ist und ohne großen Sinn für literarische Verfremdung bzw. die unumgängliche Standortgebundenheit des Forscherblicks bleibt, steht Gelzers Zugang. Hier beginnt und endet seine Theoriebildung. Aus dem philologischen Eifer resultiert ein nahezu „historistisches“ Vertrauen in die Möglichkeit eines Zugriffs auf geschichtliche Wirklichkeit ohne den Umweg über die Theorie. Schon 1913 hatte Gelzer als Ziel vorgegeben, der Historiker müsse „durch genaue Beobachtung und Zusammenfassung der historischen Tatsachen eine möglichst wahrhafte Weltanschauung“96 gewinnen. In einer Rezension von Friedrich Gundolfs „Caesar im neunzehnten Jahrhundert“ von 1926 bekennt er: „Die wissenschaftliche Aufgabe des Geschichtsschreibers besteht in der Erforschung der Begebenheiten. Solche Forschung aber ist Quelleninterpretation in dem weiten Sinne, den die klassische Philologie diesem Begriff gibt.“97 Und in seiner „Antrittsrede“ vor der Preußischen Akademie nennt er als ursprünglichen Antrieb seiner „Nobilität“ fast schon in Rankescher Manier die Sehnsucht danach, zu verstehen, „von wem und wie eigentlich in der römischen Republik die Politik gemacht wurde“98. Die präzise Quellenlektüre, das sorgfältige Zusammensuchen belastbarer Zeugnisse ist für Gelzer Voraussetzung, um ein angemessenes Verständnis vergangener Lebenswelt zu gewinnen. Es verbietet sich ihm daher auch jegliches zeitgenössisch-ideologische Programm.99 Geradezu enerviert warnt Gelzer davor, „daß
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2017, 70). Für den beispielhaften Verweis auf die Vorliebe Gelzers für latinisierende Schreibweise der eingedeutschten Ausdrücke wie Consul, Patriciat usw. vgl. auch Meier 1977, 34. Gelzer Besprechung Beloch 1913, 1110. Ders. 1111. Gelzer Besprechung Gundolf 1926, 727. Gelzer Antrittsrede 1940, 125. Für Gelzer als Rankeverehrer vgl. Gelzer Mem. 16. Außerdem Gelzers Brief an Johannes Haller vom 10.12.1911, wo als Ziel des Historikers postuliert wird, „das wirklich Geschehene“ darzustellen (zit. nach Simon 1988, 237). An Beloch kritisiert Gelzer, dass jener eben nicht nur bestrebt gewesen sei zu erkennen, „wie es gewesen ist, sondern warum es so gekommen ist“ (Gelzer Besprechung Beloch 1913, 1110). In einem Brief an seinen Bruder Heinrich vom 31.5.1908 gibt Gelzer als sein Hauptinteresse an zu erfahren, „wie die Leute fühlten und wie sie sich fühlten“ (Gelzer-Nachlass Basel, Dossier PA 756 E 13,2). Zur „Rankerenaissance in der Wilhelminischen Zeit“ vgl. Fehrenbach 1974, 54–65. Zu Ranke und seinem „eunuchischen Objektivitätsideal“ (Johann Gustav Droysen), das den jungen Gelzer in der Tat – im Gegensatz zu Rankes Konzept einer vorrangig über die Darstellung definierten Historie – beeinflusst hat, vgl. Hardtwig 2005, 37 f. Vgl. dazu Gelzers Pöhlmann-Besprechung, in der der Widerwillen gegen das „beständige Hineinziehen der Gegenwart“ (Gelzer Besprechung Pöhlmann 1914, 102) in die wissenschaftliche Untersuchung deutlich zu spüren ist. Seine Aversion gegen die Übertragung moderner Begrifflichkeit auf römische Verhältnisse bricht sich auch in der „Nobilität“ immer wieder Bahn. Wenn Karl Johannes Neumann hinsichtlich Flaminius’ Agieren „von einem ‚Kampf der Legis-
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die moderne Überheblichkeit sich mit ihren zu praktischem Gebrauch zurechtgelegten sozialpolitischen Theorien an die Vergangenheit heranmacht und sie mit ihrer Schablone meistern will. Es gibt kein besseres Mittel, sich den Zugang zu wahrem historischem Verständnis zu verschütten als diesen“100. Gelzers Methode ist induktiv, sie nimmt ihren Ausgang von den als sicher eingestuften Quellen und entwickelt von hier aus ihre Thesen. Eine deduktive Herangehensweise, die gewissermaßen mit externen Variablen an die Tradition herantritt und sie in ein System einordnet, ist ihm suspekt. Daher und nicht in erster Linie von einem „gesellschaftsgeschichtlichen“ Gegenprogramm rührt auch die ostentative Distanzierung gegenüber Mommsen in der knappen „Vorbemerkung“. Hier heißt es: Mommsen spricht im Vorwort zu seinem Abriß des römischen Staatsrechtes von ‚der Plattheit derjenigen historischen Forschung, welche das, was sich nie und nirgend begeben hat, beiseite lassen zu dürfen meint‘. Trotzdem wage ich es mit einer Arbeit vor die Öffentlichkeit zu treten, die grundsätzlich nur durch gleichzeitige Zeugnisse beglaubigte Verhältnisse behandelt; denn für den Gesellschaftshistoriker scheint mir einzig dieser Weg gangbar. Verfährt er anders, das heißt, sucht er traditionslose Zeiten durch Analogieschlüsse zu beleben, so verfehlt seine Forschung ihren Zweck.101
Die Abgrenzung zu Mommsen verläuft hier also keineswegs auf einer inhaltlichen Ebene, etwa im Sinne einer Gegenüberstellung von institutionenrechtlicher und gesellschaftsgeschichtlicher Thematik. Was man vorschnell als programmatische Kritik des „Gesellschaftshistorikers“ Gelzer an Mommsens „Staatsrecht“ aufgefasst hat, ist bei Lichte besehen nichts weiter als die reflexhafte Kritik des strengen Philologen am Quellenumgang des dogmatischen Juristen.102 Dieser hatte im Vorwort zu seinem „Abriss“ bekanntlich angegeben, als Jurist mit einem „genetischen Verständnis“ ausgestattet, auch das, „was sich nie und nirgend begeben hat“103, untersuchen zu wollen. Was Mommsen hier in gewohnt polemischer Art als seinen methodischen Zugang beschreibt, bezieht sich auf das generelle Verfahren, aus entwickelten Strukturen bzw. Institutionen Rückschlüsse auf frühere Zustände zu ziehen. Auch wenn über eine Epoche keine direkten Quellen Auskunft ge-
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lative gegen die Verwaltung‘“ spricht, kann Gelzers sich „darunter nichts denken“ (Gelzer Nob. 1912, 15, 4). Und auch andernorts polemisiert er gegen die „vulgärmoralische Behandlung“ (Gelzer Besprechung Schulz 1962 [1935], 34) historischer Prozesse. Nicht zu vergessen ist bei alldem, dass beide, Mommsen und Gelzer, „Staatsrecht“ und „Nobilität“ für ein Fachpublikum schrieben und sich deshalb im Ganzen betrachtet naturgemäß auch weniger anachronistische Simplifizierungen erlaubten als in ihren populäreren Werken. Gelzer Röm. Ges. Cic. 1962 [1920], 154. Gelzer Nob. 1912, Vorbemerkung. Ähnliches suggeriert auch Bleicken, wenn er rhetorisch fragt: „War es wirklich der Sozialhistoriker, der sich hier empört, oder doch nicht vielleicht eher der gekränkte Philologe, der die Quelle nicht richtig gewürdigt weiß?“ (Bleicken 1977, 18). Auch Meier meint, dass Gelzer das „Staatsrecht“ hier „außerhalb des engen Bereichs seiner unmittelbaren Aussagen“ (Meier 1977, 38) kritisiere. Und Dissen verweist darauf, dass Gelzer selbst seine wissenschaftliche Arbeit nicht als Traditionsbruch verstanden habe (vgl. Dissen 2009, 233). Anders, nämlich als thematisches Gegenprogramm zu Mommsen, wertet Karl Christ die „Vorbemerkung“ (Christ 1982, 113). Mommsen Abriss 1974 [1907], XVII.
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VI. Am Wendepunkt? Kontinuitäten und Brüche in Gelzers „Nobilität“
ben, so könne der „genetisch“ analysierende Betrachter aus späterem historischen Material Erkenntnisse über ursprüngliche Entstehungsformationen gewinnen. „Man darf nicht meinen, dass die Maschinerie erst zu der Zeit erfunden worden ist, in welcher man sie zuerst in der verfallenden Maschine gewahr wird“104, schreibt Mommsen im „Staatsrecht“ und macht damit deutlich, worum es ihm geht: Der rechte Historiker darf bei seiner Suche nach Ursprüngen und Grundformen also gewissermaßen „nicht im Flachland der Empirie bleiben“105, sondern muss an die überlieferten Quellen mit einem systematisierenden Verständnis herangehen. Das ist die Essenz von Mommsens methodischer Programmatik, gegen die der fünfundzwanzigjährige Habilitand zu Beginn seiner Arbeit polemisiert.106 Gelzer, „who has never skated except where the ice was safe“107, wie es in einem Nachruf auf ihn heißt, will damit klarmachen, dass bei ihm nur sicher bezeugte Zeiten in den Blick genommen werden, nicht (wie bei Mommsen) auch die römische Frühzeit. Das sichere Eis ist zunächst einmal alles, was er an Widerspruch gegen Mommsen anmeldet. Tatsächlich hat Gelzer sich in diesem Zusammenhang dann aber auch als „Gesellschaftshistoriker“ bezeichnet, seine Forschung mit dem Kennzeichen „Gesellschaftsgeschichte“108 versehen und sich damit – wie er wenig später selbst beteuerte ein „Modeinteresse“109 seiner Zeit aufnehmend – forschungstaktisch ge104 Mommsen StR II/2 1887, 1002, 1. 105 Behrends 2014, 321. Behrends wertet Mommsens Satz allerdings rechtsphilosophisch, als das Bekenntnis zu einem göttlichen Prinzip, das „das römische Recht am Leben erhalten hat“ (321). Flaig hingegen liest ihn als eine „scharfe Polemik gegen den Positivismus in der historischen Forschung“ (Flaig 1997, 327). 106 Schon auf der zweiten Seite seiner „Nobilität“ leitet Gelzer den zentralen römischen „Grundsatz“ einer soziopolitischen Privilegierung von Abkömmlingen politisch erfahrener Familien allerdings nicht aus den Quellen, sondern aus „Selbstverständlichkeit“ her (vgl. Gelzer Nob. 1912, 2). Ähnlich wie Mommsen schließt also auch Gelzer auf Sachverhalte, die in den Quellen wörtlich nicht belegt sind. 107 Balsdon 1974, 221. 108 Christian Simon vermutet, dass Gelzer durch eine Besprechungsüberschrift von Walter Otto mit dem Titel „Aus der Gesellschaftsgeschichte des Altertums“ von 1905 (vgl. Otto 1905, 700) auf den Begriff gekommen sein könnte (vgl. Simon 1988, 229, 37). Aber auch an Friedrich Meinecke wäre zu denken, dessen Vorlesungen Gelzer in Freiburg besuchte und der einen „sehr bedeutenden Eindruck“ auf ihn machte (vgl. Simon 1988, 234 f. Ebenso Gelzer Mem. 7b bzw. Gelzers Brief vom 2.1.1942 an Friedrich Meinecke, in dem er sich überzeugt davon gibt, „daß wir beide [= Meinecke und Gelzer, Anm. S. St.] ganz auf der selben Seite stehen“ (MeineckeNachlass Berlin, VI. HA Nr. 12, 29)). Von Ungern-Sternberg verweist auf Otto Hintze als möglichen Ideengeber (mündliche Mitteilung Jürgen von Ungern-Sternberg am 27.11.2014). Der Terminus, der etwa von Lorenz von Stein schon Mitte des 19. Jahrhunderts als Kennziffer einer progressiven Geschichtswissenschaft eingesetzt wurde („Jede Staatsgeschichte soll wesentlich zugleich eine Geschichte der Gesellschaft seyn“, schrieb er 1844 (zit. nach Blasius 1971, 266)), wird von Gelzer selbst nicht besonders häufig verwendet. Allerdings nennt er am 14.2.1912 als mögliches Thema für einen Probevortrag: „Die Entwicklung der römischen Verfassung im Rahmen der römischen Gesellschaftsgeschichte“ (Gelzer Habilitationsakte Freiburg, B0038/360, 20). Vgl. zum Begriff „Gesellschaftsgeschichte“ generell Riedel 1975b, 849 f. und auch Oestreich 1969, 340 f. 109 Gelzer Röm. Ges. Cic. 1962 [1920], 154. Vgl. für ähnliche Kontextualisierung der „sozialen Frage“ auch Stern 1921, 3 (vgl. dazu auch Gelzer Besprechung Stern 1923, 516). 1904 spricht
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schickt von Mommsens Paradigma abgesetzt. Und dennoch stehen die programmatischen Sätze in der „Vorbemerkung“, die den Zweck gesellschaftsgeschichtlicher Forschung darin sehen, „festzustellen, was dem sozialen Gefüge eines Staates eigentümlich, was ihm mit andern gemeinsam sei“110, nicht in einem direkten Zusammenhang zu Mommsen, sondern sind eher als etwas abrupte Formulierung des eigenen Forschungsinteresses zu verstehen. Auch die Andeutung einer etwaigen römischen „Eigentümlichkeit“ muss man nicht direkt auf Mommsen und schon gar nicht auf dessen „Staatsrecht“ beziehen. Gelzers Differenzbewusstsein prägt sein Werk vielmehr generell an unterschiedlichen Stellen und in verschiedenem Zusammenhang. In einer Besprechung von Friedrich Münzers „Adelsparteien“ von 1920 wendet er sich entschieden gegen die Verwendung moderner Kategorien wie „demokratische Partei“, „Gleichheit“ und „Kirche“ bei der Beschreibung römischer Gesellschaft.111 Mit aller Kraft müsse „jeder Anklang an das deutsche Parteitreiben vermieden werden“112, betont Gelzer hier. In einem Brief an Johannes Haller erläutert er, dass seine Studie über die römische Nobilität vor allem zeigen solle, dass das moderne Parteienschema den „eigenartigen [scil. römischen] Verhältnissen nicht gerecht wird“113. Auf vergangene Erscheinungen dürfe der Historiker keine modernen „Etiketten“114 kleben, so Gelzer polemisch. Die schon in der „Vorbemerkung“ und dann im Verlauf von Gelzers Werk immer wieder auftauchende Betonung der „Eigenart“ römischer Verhältnisse, die sich eben nicht durch ein „beständiges Hineinziehen der Gegenwart“115 einfangen lasse, kennzeichnet seine „Nobilität“ in vieler
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Franz Oppenheimer davon, dass die Soziologie „heute geradezu die Modewissenschaft geworden“ (zit. nach Nolte 2000, 55) sei. Interessant ist jedenfalls, dass Gelzer von „Gesellschaftsgeschichte“ und nicht von „Sozialgeschichte“ spricht, wo doch das Wort „sozial“ im deutschen Sprachraum ab ca. 1850 „als Mode- und Schlagwort angenommen und dabei an die Stelle von ‚gesellschaftlich‘ gesetzt wurde“ (Geck 1963, 44). Gelzer Nob. 1912, Vorbemerkung. Man könnte spekulieren, ob Gelzer hier einen Gedanken Fustels aufnimmt. Dieser schreibt in der Einleitung zu seinem Patronage-Kapitel: „Ce qui fait le fond de la science historique, c’est l’observation de la continuité des choses et de leurs lentes modifications.“ (Fustel 1907 [1890], 206). In einer Besprechung von 1923 gibt Gelzer „als Aufgabe der Gegenwart vor allem ein tieferes Eindringen in die politische und soziale Gedankenwelt der römischen Republik“ (Gelzer Besprechung Marsh 1962 [1923], 267) an. In dem Curriculum Vitae, das seinem Habilitationsgesuch beiliegt, gibt er knapp an: „Meine jetzige Abhandlung will beitragen zur klareren Erkenntnis der römischen Gesellschaft.“ (Gelzer Habilitationsakte Freiburg, B0038/360, 17). Vgl. Gelzer Besprechung Münzer 1962 [1920], 198 f. Gelzer nennt Richard Heinze als jemanden, der ihm die Differenz zwischen Antike und Moderne eingängig gemacht habe (vgl. Gelzer Habilitationsakte Freiburg, B0038/360, 13 f.). Gelzer Besprechung Münzer 1962 [1920], 199. Zit. nach Simon 1988, 224. Brief an Johannes Haller vom 10.12.1911 (zit. nach Simon 1988, 238). Freilich sind auch die zentralen Begriffe des zweiten Teils („Regimentsfähigkeit“, „Faktionenbetriebsamkeit“, „Nahund Treuverhältnisse“) keine Quellentermini, sondern moderne Prägungen. Vgl. Gelzer Besprechung Pöhlmann 1914, 102; Christian Meier nimmt den Begriff der „Eigenart“ übrigens auf (vgl. Meier 2015, 600).
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Hinsicht. Zum Abschluss seiner Frankfurter „Rektoratsrede“ formuliert Gelzer geradezu im Gestus eines methodologischen Manifestes: Die große Schwierigkeit der angewandten Geschichtswissenschaften liegt darin, daß die Geschichte […] in jedem Augenblick unter anderen Bedingungen steht, die sich in genau derselben Weise nie wiederholen. Darum gibt es keine historischen Gesetze im Sinne der Naturgesetze, und kann unsere Wissenschaft niemals die Zukunft voraussagen.116
Die Verwendung moderner Begrifflichkeit als Problem erkannt und gegen falsche Rückprojektionen argumentiert zu haben, ist ein innovativer Impuls von Gelzers „Nobilität“.117 Die Erkenntnis, dass es in Rom keine Parteien, sondern nur ad-hoc Fraktionen und persönliche Beziehungen, kein modernes Parlament, sondern einen „Adelsrat“, keine Demokratie im Sinne einer etwaigen Bürgergleichheit,118 sondern nur aristokratische Herrschaft, nicht allein ökonomische, sondern vor allem politisch bedingte Stratifikation gegeben habe, ist Ergebnis einer besonderen begriffskritischen Disziplin, die Gelzer auch davor feite, die Vergangenheit mit einer modernen „Schablone“119 verstehen zu wollen. Sie rührt nicht zuletzt von der starken Aversion des philologisch und an Ranke geschulten Historikers gegen den modernisierenden Duktus etwa eines Robert Pöhlmann oder eben auch eines jungen Theodor Mommsen her, der als Autor der berühmten „Römischen Geschichte“ noch dafür plädiert hatte, „die Alten […] in die reale Welt, wo gehasst und geliebt wird […] zu versetzen“120. In einem Brief an Johannes Haller vom 10.12.1911 erklärt der junge Gelzer mit einer indirekten Invektive gegen Mommsen, dass eine solche Aktualisierung den römischen Verhältnissen nicht gerecht werde und fügt als eigene Wirkungsabsicht seiner „Nobilität“ hinzu: „Zwischen den Zeilen soll auch zu lesen sein, daß dies [also eine Erkenntnissteigerung durch Aktualisierung, Anm. S. St.] beim modernen Schema (Konservative und Fortschrittspartei) noch viel we-
116 Gelzer Rektoratsrede 1962 [1924], 246. 117 Darauf verweist nebenbei auch Kunkel 1975, 213. Allerdings sah Gelzer beispielsweise die Begriffe „Stand“ und „Staat“ nicht problematisch. Er benutzte durchaus „moderne“ Begrifflichkeiten, so z. B., wenn er den Ehrennamen der Konsuln, principes civitatis, „deutsch ruhig mit ‚Fürsten‘ wiedergeben [zu] können [meint], da es die wörtliche Übersetzung ist und auch dieselbe soziale Nuance enthält“ (Gelzer Nob. 1912, 35). Caesars Herrschaft charakterisiert er als „Absolutismus“ bzw. „Monarchie“ (ebd. 11 bzw. 116), die Ritterschaft nennt er einen „geschlossenen Korps“ (ebd. 8) und den homo novus einen „politische[n] selfmade man“ (ebd. 22). 118 Gelzers Aversion gegen eine „Demokratisierung“ Roms schwingt noch in einem Vortrag von 1955 mit, wenn er gegen diejenigen polemisiert, die „die Demokratenbrille“ nicht absetzen und in Rom Verhältnisse vorfinden würden, die erst durch die Französische Revolution vorstellbar geworden waren. Von einer „Gleichheit der Bürger“ in Rom zu sprechen, sei „denkbar unpassend“ (Gelzer Pol. Tendenz 1962 [1955], 213, 19). 119 Gelzer Röm. Ges. Cic. 1962 [1920], 154. Hier klingt er sehr ähnlich wie Mommsen, der gegen diejenigen Forscherkollegen polemisierte, die „von den realen römischen Verhältnissen zu wenig und von nationalökonomischen Theorien zu viel wissen“ (Mommsen Commodus 1880, 408). 120 Brief an Wilhelm Henzen am 26.11.1854 (zit. nach Wickert 1969, 628). Für die „Römische Geschichte“ als eine „‚Historiographie engagée‘ reinsten Geistes“ vgl. Fest 1993, 41 bzw. ebd. 29–69.
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niger der Fall sei.“121 Im Grunde hat Gelzer also – wohl nicht zuletzt aus politischer Abneigung – den Mommsen der „Römischen Geschichte“, der unverfroren von „Demokraten“, „Junkern“ und „Revolution“ schreibt, als Zielscheibe, richtet seine Geschütze aber gegen den Mommsen des „Staatsrechts“. Aber während er der „Römischen Geschichte“ mit „historistischem“ Gestus entgegentreten konnte, mochte ihm das „Staatsrecht“ und insbesondere dessen dritter Band nicht wirklich ein Antipode sein. Gegen das „Staatsrecht“ formulierte er in seiner „Nobilität“ den Vorwurf der mangelnden Historisierung denn auch an keiner Stelle. Somit erscheint dem Leser ein konzeptioneller Gegensatz zwischen systematischem „Staatsrecht“ und quellentheoretisch streng verfahrender „Gesellschaftsgeschichte“ wenn überhaupt, dann nur angedeutet. Dennoch gilt es zu berücksichtigen, dass Gelzer sich nicht nur in der „Vorbemerkung“ seiner „Nobilität“, sondern auch an anderer Stelle explizit von Mommsen absetzte. Sein eingangs zitierter Brief an Johannes Haller122 und spätere Polemiken gegen Mommsens einseitige Betrachtung des „politischen Lebens“123 zeugen von einer solchen Distanzierung. In seinen „Memorabilien“ schreibt er, die Lektüre von Alexis de Tocqueville und Fustel de Coulanges habe ihm die Augen für Sachverhalte geöffnet, die „durch die Autorität von Mommsens staatsrechtlicher Betrachtungsweise in Deutschland ziemlich verschüttet“124 gewesen seien. Ein gewisser „Anti-Mommsen-Reflex“ taucht in seinem Werk also immer wieder auf.125 Aber für eine generelle Opposition, so könnte man mit Bezug auf den ersten Teil dieser Untersuchung argumentieren, kannte Gelzer das „Staatsrecht“ und gerade auch dessen gesellschaftsgeschichtlichen Gehalt zu gut. Folgerichtig markiert er die Differenz lieber nur im Methodischen – auch um Mommsens Werk bei späterer Gelegenheit weiterhin als Autorität anführen zu können.126 Im Folgenden soll – analog zur Behandlung des „Staatsrechts“ im vorangegangenen Abschnitt dieser Untersuchung – Gelzers Konzeption der römischen Gesellschaft in seiner „Nobilität“ genauer bestimmt werden. Wie schon angedeutet, verfolgt er hier im Grunde zwei Fragestellungen: Erstens interessiert ihn die Zusam121 Zit. nach Simon 1988, 238. Christian Meier wertet diese Briefstelle als Programmatik für ein ursprünglich geplantes „drittes Kapitel“ (Meier 2017, 66) der „Nobilität“. 122 Hier ist davon die Rede, dass der Freiburger Rechtshistoriker und Papyrologe Joseph Partsch dem jungen Gelzer Mut machte, Mommsen öffentlich zu widersprechen. Für Verweise auf Partsch in der „Nobilität“ vgl. Gelzer Nob. 1912, 52, 5. Auf ihn verweist auch Ridley 1986, 495, 72. Partsch hatte 1911 Gelzers Dissertation wohlwollend besprochen (vgl. Partsch 1931, 257–261). Für Gelzers Freundschaftsbeziehung zu ihm vgl. Gelzer Mem. 10. 123 Vgl. Gelzer Röm. Ges. Cic. 1962 [1920], 156 bzw. 158. 124 Gelzer Mem. 8. 125 Vgl. z. B. Gelzer Nob. 1912, 46, 5; 72; ders. Röm. Ges. Cic. 1962 [1920], 156; ders. Besprechung Leifer 1962 [1916], 292 bzw. ebd. 295. 126 Ronald Ridley zählt allein in der „Nobilität“ „more than fifty citations“ (Ridley 1986, 489, exakt sind es 57 Erwähnungen, davon 54 in den Fußnoten und 3 im Fließtext). Vgl. z. B. den – gerade angesichts Gelzers „Klientelthese“ überraschenden – Verweis auf Mommsens „Staatsrecht“ beim „Nahverhältnis der Tribulen“ (Gelzer Nob. 1912, 46 f., 5). Ähnlich affirmativ auch Gelzer Besprechung Leifer 1962 [1916], 291; Gelzer Rektoratsrede 1962 [1924], 233. In seinen Memorabilien spricht er von Mommsens „eminente[r] Bedeutung“ (Gelzer Mem. 5b).
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VI. Am Wendepunkt? Kontinuitäten und Brüche in Gelzers „Nobilität“
mensetzung und Schichtung der römischen Gesellschaft. Dabei will er die besondere Exklusivität einer herrschenden Oberschicht nachweisen, indem er den in den Quellen auftauchenden Terminus nobilis zum untrüglichen Kennzeichen einer kleinen Führungsriege erklärt, die über Jahrhunderte hinweg Macht ausübte.127 Diese Exklusivität möchte er, zweitens, mit dem Hinweis auf die vielfältigen sozialen Abhängigkeitsverhältnisse plausibel machen, die er als strukturelle Voraussetzung der römischen „Nobilitätsherrschaft“ identifiziert. Mit Hilfe ihrer „Clientelen“ würde sich die römische Führungsspitze dauerhaft ihre politische Macht sichern, so das eingängige Fazit. Gelzer verfolgt in seiner „Nobilität“ also einerseits ein gesellschaftsstrukturelles, andererseits ein politologisches Interesse. Die Reihenfolge der beiden Teile ist – darauf hat Christian Meier hingewiesen – nicht logisch zwingend: Denn der Verweis auf die ubiquitären „Nah- und Treuverhältnisse“ erklärt, wenn überhaupt, die politische Dominanz des gesamten römischen Senatsadels und nicht nur die der exklusiven Nobilität.128 Die Frage nach dem genaueren Verhältnis der beiden Teile lässt sich vielleicht sogar noch in einem fundamentaleren Sinne stellen. Dazu bietet es sich zunächst an, im ersten Teil der „Nobilität“ das soziale Schichtungsmodell zu untersuchen, um vor diesem Hintergrund dann die „Klientelthese“, die Gelzer im zweiten Teil seiner Studie formuliert, neu zu bewerten. 5. GELZERS SCHICHTUNGSMODELL Gelzers Interesse an der republikanischen Gesellschaft Roms beschränkt sich in der „Nobilität“ grundsätzlich auf die soziopolitische Oberschicht, die „patricischen und plebejischen Herrengeschlechter“129. Als „regimentsfähig“, das heißt potentiell in der Lage, ein politisches Amt zu bekleiden, sieht er allein „die Angehörigen von 127 Allerdings wird auch schon im ersten Teil hin und wieder auf die Bedeutung des Bindungswesens verwiesen. So wird z. B. Flaminius’ erfolgreiche Anti-Senats-Politik mit der „Gewinnung eines starken persönlichen Anhanges“ (Gelzer Nob. 1912, 15, 4) erklärt. 128 Vgl. Meier 2017, 65. Ähnlich argumentiert auch schon Brunt 1988, 400. Meier meint außerdem, dass der siebte Abschnitt („Faktionen“) mit seinem kursorischen Bericht über die „politischen Kämpfe“ zwischen Adligen außerhalb des eigentlichen Themas liege. Ursprünglich sollte dieser Abschnitt wohl ein drittes Kapitel bilden, wie ein Brief von Gelzer an Johannes Haller vom 10.12. 1911 belegt (vgl. Simon 1988, 238). Auch der achte Abschnitt („Politischer Hellenismus“) erscheint Meier „fehl am Platz“ (Meier 2017, 67), weil er statt eines Resümees der vorangegangenen Thesen einen assoziativen Ausblick auf die politische Geschichte gebe. Über Meiers Bemerkung hinaus ist zwischen beiden Teilen auch auf eine temporale Differenz hinzuweisen: Während der erste Teil die Entwicklung der gesamten Republikszeit ins Auge nimmt, konzentriert sich der zweite Teil auf das „Ende der Republik“ (Gelzer Nob. 1912, 43), obgleich er den Anspruch hat, grundsätzlich die „sozialen Voraussetzungen“ der Nobilitätsherrschaft zu klären (vgl. dazu auch Nippel 2002a, 137 bzw. Goldbeck unveröff. 4). 129 Gelzer Nob. 1912, 1. Gelzer benutzt für die politische Führungsschicht in späteren Arbeiten unterschiedliche Bezeichnungen, so u. a. „Herrenschicht“ (Gelzer Entstehung Nob. 1962 [1921], 187) und „Herrenstand“ (Gelzer Besprechung Leifer 1962 [1916], 294 bzw. Gelzer Antrittsrede 1940, 125). Für die Bezeichnung „Herrengeschlecht“ als Kampfbegriff im politischen Diskurs der Schweiz nach 1830 vgl. Tanner 1995, 515.
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Senatoren- und Ritterstand“130. Zwar seien seit den Sextisch-Licinischen Gesetzen 367/6 v. Chr. „formell“ alle Bürger zu den Ämtern zugelassen gewesen, es habe also theoretisch ein freies passives Wahlrecht geherrscht, aber da die Ämter unbesoldet waren und als besondere Ehre galten, hatten in der Regel nur diejenigen eine Chance, die von Hause aus schon vermögend und angesehen waren. Noch einmal an seinen Anti-Mommsen-Gestus aus der „Vorbemerkung“ anschließend, nimmt Gelzer gegen ein Zitat aus dessen „Römischer Geschichte“ Stellung, demzufolge in Rom die „bürgerliche Gleichheit erreicht worden“ sei.131 Fern vom Prinzip der Egalität habe sich die römische Gesellschaftsordnung stets durch die faktische Privilegierung der Vornehmen ausgezeichnet. Da bis 172 v. Chr. nie beide Konsulatsstellen von Plebejern besetzt wurden, sei es also auch nach 367/6 v. Chr. „mit den Junkern nicht aus“132 gewesen, so Gelzer polemisch. Nicht unter dem Schlagwort „demokratisch“ könne man die Reformen des vierten Jahrhunderts daher fassen, sondern viel eher unter der Bezeichnung „timokratisch“.133 Allerdings war der Vorwurf, Mommsen idealisiere die Zustände nach 367/6 v. Chr. als faktische Gleichheit nur bedingt zutreffend, darauf weist Gelzer selbst hin.134 Jener hatte ja (wie oben unter V.3.2.3 ausgeführt) an verschiedenen Stellen selbst zu bedenken gegeben, dass die „Vormachtstellung des Geschlechtsadels den Verlust seiner Privilegien und selbst die rechtliche Zurücksetzung weit überdauert hat“135. Gelzer lässt keinen Zweifel daran, dass er die römische Gesellschaft als ein geschichtetes Gebilde ansieht, innerhalb dessen Vermögen und Ehre die rangentscheidenden Kriterien sind. Dass er damit gerade an Mommsens gesellschaftsgeschichtliches Modell anschließt, so wie jener es im „Bürgerschafts“-Band des „Staatsrechts“ entwickelt hatte, wird erst durch die korrelative Lektüre klar. 130 Gelzer Nob. 1912, 2. Für die zeitgenössischen Konnotationen des Begriffs „regimentsfähig“ vgl. unten S. 185. 131 Vgl. Gelzer Nob. 1912, 1. Das Mommsen-Zitat im Zusammenhang klingt weit weniger apodiktisch, als Gelzer es darstellt: „Die bürgerliche Gleichheit ward durch die Reform vom Jahre 387 (367) und deren weitere folgerichtige Entwicklung in gewissem Sinne allerdings erreicht oder vielmehr hergestellt […] Diejenigen Abstufungen freilich, welche die Verschiedenheiten in Alter, Einsicht, Bildung und Vermögen in der bürgerlichen Gesellschaft mit Notwendigkeit hervorrufen, beherrschen natürlicherweise auch das Gemeindeleben.“ (Mommsen RG 1976 [1902], 318 [= I, 304], Kursivsetzung von S. St.). 132 Gelzer Nob. 1912,1. Vgl. auch Gelzer Röm. Ges. Cic. 1962 [1920], 158 bzw. ebd. 162. Gelzers explizite Mommsen-Kritik lobt in seiner Besprechung Wilhelm Soltau (vgl. Soltau 1913, 271). Meier übertreibt, wenn er betont, dass Gelzer wegen dieser Einschränkung ein „neues Bild der Ständekämpfe“ (Meier 1977, 46) gezeichnet habe. Es ist im Gegenteil so, dass Mommsen wohl der letzte gewesen wäre, der vor den andauernden Vorrechten der vornehmen Familien die Augen verschlossen hätte. 133 Vgl. Gelzer Nob. 1912, 1. 134 Vgl. ebd. 1 mit dem einschlägigen Mommsen-Zitat: „Der Sturz des Junkertums nahm dem römischen Gemeinwesen seinen aristokratischen Charakter keineswegs.“ (Mommsen RG 1976 [1902], 309 (2. Band der Taschenbuchausgabe) [= I, 783]). 135 Mommsen Abriss 1974 [1907], 32. Vgl. auch Mommsen StR III/1 1887, 67. Ähnlich klingt die Zürcher „Institutionenvorlesung“: „[…] doch was sie [= die Adligen, Anm. S. St.] rechtlich eingebüßt hatten, suchten sie durch Machenschaften wiederzugewinnen“ (Mommsen Vorlesung I 1993 [gehalten 1852], 469).
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Als niedrigste Statusgruppe innerhalb der – die Spitze seines Schichtungsmodells bildenden – „Regimentsfähigen“ behandelt Gelzer den Ritterstand, über den die Forschungskenntnisse im Allgemeinen „sehr unvollständig“136 seien. Klar sei zumindest, dass als Ritter die „Inhaber des Rittercensus“ gewertet werden müssten, die sich als wohlhabende Besitzer eines „Staats-“ oder „Privatpferdes“ von den gewöhnlichen Infanteristen absetzten.137 Ein „Avancement vom Gemeinen zum Stabsoffizier“138 etwa durch besondere Leistung sei nämlich während der Republik nicht möglich gewesen, so Gelzer. Als gemeinhin sichtbares Kennzeichen ihrer besonderen „Herrenstellung“139 erhielten die Ritter eine große Menge an Verpflegung, waren in der Volksversammlung in gesonderte Abstimmungskörper eingeteilt, konnten das Amt eines Kriegstribuns ausüben und waren seit den gracchischen Richtergesetzen als Geschworene auch in einer prominenten politischen Funktion.140 Die Zugehörigkeit zum Ritterstand wird von Gelzer als notwendige soziale Mindestvoraussetzung für die Bewerbung um ein politisches Amt beschrieben. Sie impliziert zumindest im Regelfall nicht nur eine ökonomische Anforderung, sondern auch eine ehrenwerte Herkunft und den Verzicht auf ein „Lohnamt“, also eine allgemein als unehrenhaft angesehene Tätigkeit.141 Obgleich Gelzer zugibt, dass 136 Gelzer Nob. 1912, 3. Allerdings verweist er für eine ausführlichere Beschäftigung mit den „Rittern“ unter anderem auch auf Mommsens „Staatsrecht“ (ebd. 21, 15). Insgesamt zitiert Gelzer Mommsen (neben Madvig, Kübler und De Sanctis) in diesem Kapitel sehr oft, allein aufs „Staatsrecht“ wird zwölf Mal verwiesen. Dass er also „sein Bild einfach neben dasjenige Mommsens“ (Meier 1977, 39 f.) gesetzt habe, ohne sich weiter mit ihm zu beschäftigen, ist nicht plausibel. Viel eher scheint der erste Teil der „Nobilität“ insgesamt in intensiver Auseinandersetzung mit dem „Staatsrecht“ entstanden zu sein. 137 Vgl. Gelzer Nob. 3. Vgl. zum „ständischen Gegensatz von Ritter- und Bürgerschaft“ Mommsen StR III/1 1887, 504. Den Zensus als Kriterium kennt natürlich auch Mommsen (vgl. ebd. 478 f.). Gelzer übernimmt Mommsens Livius-Zitat, nach dem ein fester Ritterzensus schon für 401 v. Chr. bezeugt sei und hält mit Blick auf die Kaiserzeit fest: „Wer den Census nicht besaß, war für eine standesgemäße Laufbahn erledigt.“ (Gelzer Nob. d. Kaiser. 1962 [1915], 152). Gelzer – so eine mündliche Mitteilung Christian Meiers am 14.12.2013 – habe ihn bei einem Besuch in Steinägerten auf seiner vom Vater ererbten Sommerresidenz in Basel-Land einmal darauf hingewiesen, dass ein echtes equus publicus im Stall stehe. Der Pächter des Gutes war nämlich Mitglied der Schweizer Kavallerie und hatte deshalb in der Tat ein „staatseigenes“ Pferd im Stall, das formell der Schweizer Eidgenossenschaft gehörte. 138 Gelzer Nob. 1912, 2. Eine nahezu wörtliche Übertragung von Mommsen: „Ein regelmässiges Avancement zum Offizier besteht für den zum gemeinen Soldatendienst verpflichteten Plebejer nicht.“ (Mommsen StR III/1 1887, 547). 139 Gelzer Nob. 1912, 5. Für entsprechende Parallelen bei Mommsen vgl. Mommsen StR III/1 1887, 476 bzw. ebd. 504. 140 Gegen Mommsen argumentiert Gelzer dafür, dass alle zensusberechtigten Ritter auf den Geschworenenbänken sitzen durften, nicht nur die equites equo publico (vgl. Gelzer Nob. 1912, 7 gegen Mommsen StR III/1 1887, 530, 2). Auf eine solche These scheint Ernst Fabricius anzuspielen, wenn er in seinem Gutachten kritisch anmerkt: „Ich halte die Ergebnisse nicht alle für richtig, insbesondere ist mir zweifelhaft, ob das Verhältnis der equites equo publico zu den übrigen Rittern im Heer, in den Comitien und Ritterkollegien richtig beurteilt wird.“ (Gelzer Habilitationsakte Freiburg, B0038/360, 2 f.). 141 Vgl. Gelzer Nob. 1912, 10 f. Vgl. dazu Mommsen StR III/1 1887, 258 („Auswahl der Reiter aus den vermögendsten und angesehensten Bürgern“).
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„‚niedere‘, ‚dunkle‘ oder ‚schmutzige‘ Herkunft […] den Ritterstand nicht ausschließen“142, ist er doch darauf bedacht, den prestigesteigernden Wert der Tradition zu betonen: „Altererbte Ritterbürtigkeit wird natürlich höher geschätzt als neu erworbener Census.“143 Der Typus des sozialen Aufsteigers, so Gelzers Beobachtung, ist in Rom grundsätzlich im Nachteil gegenüber demjenigen, der auf die Tradition seines familiären Sozialprestiges verweisen kann. Deshalb ist eben der „gewöhnliche Bürger“144 faktisch nicht „regimentsfähig“, auch wenn er formal dazu berechtigt wäre, sich um ein Amt zu bewerben. Gelzer pointiert: „Es bestand also schon in der republikanischen Zeit tatsächliche Beschränkung des passiven Wahlrechts in timokratischem Sinne.“145 Um sich überhaupt zur Wahl stellen, also den Kampf um die Wählergunst aufnehmen zu können, brauchte man notwendigerweise das „zur senatorischen Laufbahn nötige Geld“146. Allerdings stellt für Gelzer (wie für Mommsen) die ökonomische Unabhängigkeit nur eine notwendige, aber noch keineswegs eine hinreichende Voraussetzung für die Übernahme politischer Ämter dar. Zusätzlich verweist er explizit auf die Bedeutung einer „guten Herkunft“, also des über die Familie vermittelten sozialen Prestiges.147 Innerhalb des „regimentsfähigen“ Kandidatenkreises haben nämlich diejenigen Bewerber einen signifikanten Vorteil, die sich nicht nur durch einen erfolgreichen, möglicherweise unrühmlichen Gewinnerwerb auszeichnen, sondern auch auf einen altbekannten familiären Stammbaum verweisen können. Neben ökonomischer Unabhängigkeit und Prestige als Kriterien des Ritterstandes verweist Gelzer mit einem Satz auch noch auf die militärische Erfahrung als dessen besonderes Kennzeichen. Dass gerade die Ritter den Römern als „regi142 Gelzer Nob. 1912, 12. 143 Ebd. 13. Vgl. dazu ebenfalls sehr ähnlich bei Mommsen: „Ritterrecht kann von Rechtswegen auch der niedrig Geborene erhalten. Herkömmlich aber wird das Ritterpferd vorzugsweise den Kindern der altbefestigten Häuser gegeben und es geht mit der rechtlichen Personalität des Staatspferdes die factische Erblichkeit des Ritterranges Hand in Hand.“ (Mommsen StR III/1 1887, 501). 144 Gelzer Nob. 1912, 20. 145 Ebd. 9. Vgl. zum „timokratischen“ Element der römischen Politikordnung auch ebd. 13 bzw. 91 f. und Gelzer Nob. d. Kaiser 1962 [1915], 151. Es sei an dieser Stelle angemerkt, dass Gelzer mit dem Ausdruck „timokratisch“ insbesondere in den späteren knappen Rekapitulationen seines Schichtungsmodells vor allem (und möglicherweise zu stark) die ökonomischen Bedingungen römischer Politikordnung im Auge hat. Oft bezieht sich „sozial“ hier allein auf den Vermögenshintergrund des Kandidaten und lässt die Bedeutung der ehrenvollen Herkunft außen vor (vgl. z. B. Gelzer Caesar 2008 [1921], 5; Ders. Staat und Bürger 1964 [1955], 15; Ders. Cicero 2014 [1969], 15 f.). 146 Gelzer Nob. 1912, 12. Er geht davon aus, „daß die politische Tätigkeit gewaltige Summen disponiblen Geldes verlangt“, es aber „in der Natur des römischen Staatsamtes [liegt] eine Ehre“ zu sein, die nicht besoldet werden könne (Vgl. ebd. 19; 13). Vgl. dazu auch Gelzer Rektoratsrede 1962 [1924], 236. 147 Vgl. Gelzer Nob. 1912, 13. Und dazu Mommsen, der den Ritter „durch Vermögen und Geburt, andererseits durch die Nichtzugehörigkeit zum Senat“ (Mommsen StR III/1 1887, 509) definiert sieht.
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mentsfähig“ galten, während etwa reiche Freigelassene oder andere ökonomisch ebenbürtige soziale Gruppen keine Ämter ausüben durften, sieht Gelzer nicht zuletzt auch in der spezifisch römischen Vorstellung von Herrschaft begründet, die im magistratischen imperium stets „bürgerliche und militärische Befehlsgebung in eine Hand“148 gelegt habe. Aus der Gesellschaftsgruppe der „Regimentsfähigen“ sondert Gelzer dann den „Senatorenstand“149 als grundbesitzende, aber darüber hinaus auch aktiv politisch tätige Führungsschicht aus. Ihr ist es seit 218 v. Chr. gesetzlich verboten, Handel zu treiben oder Land zu pachten. Aber auch dieses Gesetz ist für Gelzer – ähnlich wie das Sextisch-Licinische von 367/6 v. Chr. – nicht „demokratisch“, sondern habe nur zum Ziel gehabt, die „unbeschränkte wirtschaftliche Überlegenheit der Senatoren“ auf den Grundbesitz einzuschränken und den Umlauf an „mobile[m] Kapital“150 gering zu halten. Zwar blieben die Senatoren auch trotz der Handelseinschränkung wirtschaftlich allen anderen sozialen Gruppen überlegen, aber als ihr entscheidendes Distinktionsmerkmal stellte sich nun vor allem die unbesoldete politische Tätigkeit heraus, die eine „erhöhte gesellschaftliche Geltung“151 zur Folge hatte, wie Gelzer in einer späteren Arbeit schreibt. Er spricht daher mit Absicht nicht von einem „besitzenden“, sondern von einem „regierenden Stand“, der aufgrund der Konzentration von Bodenbesitz innerhalb der senatorischen Familien erhebliche „Erblichkeitstendenzen“152 aufwies. Ihre hohe soziale Stellung setzt sich mithin aus ihrem Großgrundbesitz und der dadurch möglich werdenden politischen Ämterausübung zusammen. Senatorensöhne, die in der Republik formell ebenfalls zu den „regimentsfähigen“ Rittern zählten, besaßen schon qua Herkunft ein besonderes Prestige, galten als honestus und daher als privilegiert für eine politische Tätigkeit.153 Innerhalb des Senatorenstandes hält Gelzer dann noch diejenigen, die ein kurulisches Amt innehaben, für sozial besonders privilegiert, da nur sie ursprünglich lebenslang im Senat sitzen durften. Auch nachdem ehemaligen Quästoren dieses Privileg zugestanden worden war, hätten die kurulischen Amtsinhaber immer noch das exklusive Recht auf die Erststimme in der Senatsumfrage behalten und weiterhin als einzige über das ius imaginum verfügt, so Gelzer.154 Über den Rittern, allgemeinen und „Curulsenatoren“155, rangieren als „Oberschicht des Senatorenstandes“156 dann 148 Gelzer Nob. 1912, 13. Diesen Punkt hebt als originelle Beobachtung Gelzers auch Decker hervor (vgl. Decker 1913, 633, 2). Vgl. auch Huber 1914, 67. 149 Gelzer benutzt den Terminus „Senatorenstand“ anders als Mommsen nicht allein zur Bezeichnung des kaiserzeitlichen, „rechtlich geschlossenen“ (Mommsen StR III/1 1887, 466) Senatsadels, sondern schon für diejenigen Familien in der Republik, deren Angehörige im Senat saßen. Von einem senatorischen Zensus geht er „erst für die letzte Republik“ (Gelzer Nob. 1912, 17) aus. 150 Ebd. 14; 18. 151 Gelzer Cicero 2014 [1969], 16. 152 Gelzer Nob. 1912, 20. 153 Vgl. ebd. 21. 154 Vgl. ebd. 21 wiederum mit intensiver Zitation des „Staatsrechts“. 155 Ebd. 32. 156 Ebd. 42.
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seiner Ansicht nach die nobiles, zu der einzig und allein die Nachkommen von Konsuln (bzw. Konsulartribunen und Diktatoren)157 gezählt worden seien. Diese gehobene Prestigestellung ist allein durch politische Höchstleistung zu erringen – auch Gelzer benutzt wie Mommsen den Begriff des „Amtsadels“158. Die mit einem prosopographischen Parforceritt durch Cicero begründete Verengung des Nobilitätsbegriffs auf die konsularischen Familien, also diejenigen, deren Gentilnamen in den Konsularfasten auftauchen,159 ist entschieden gegen Mommsen gerichtet. Er, der sie ja wie oben beschrieben schon den kurulischen Magistraten zusprach, hatte gerade davor gewarnt, die Nobilität als inneraristokratisches Exklusivmerkmal einiger weniger Familien zu betrachten, die „ähnlich wie die Papstgeschlechter in dem heutigen römischen Adel eine Sonderstellung einnehmen“160. Genau diese Vorstellung aber besitzt Gelzer von der Nobilität: eine winzige, außerhalb von familiären Traditionslinien nicht zugängliche soziopolitische Oberschicht, deren Ursprung er hypothetischerweise in der römischen Frühzeit ausmacht, also noch vor den Sextisch-Licinischen Gesetzen.161 Nur die Nachkommen von Konsuln bilden in Gelzers Konzeption jedenfalls die Oberschicht der Senatorenschaft. Wer keinen Konsul in der Familie hat, ist entweder Ritter oder Senator, aber kein nobilis. Selbst ein Patrizier, so argumentiert Gelzer gegen Mommsen,162 muss sich über einen Konsul in seinem Stammbaum legitimieren, sonst gilt auch er bei der Konsulwahl als homo novus. Später, in seiner Cicero-Biographie von 1969, ist Gelzer dann überraschenderweise von seiner ehemals so vehement verfochtenen These, nur die Nachfolger von Konsularen seien nobiles, abgerückt. In einer Fußnote heißt es hier lapidar: „Ich erkenne seine [= Hermann Strasburgers, Anm. S. St.] Bemerkungen gegen meinen Versuch […],
157 Vgl. ebd. 42. 158 Ebd. 22. Vgl. dazu Mommsen StR III/1 1887, 308. 159 Für den Vorwurf einer Mangelhaftigkeit der von Gelzer verwandten Fasten-Sammlung vgl. Bardt 1913, 16, 1 bzw. 18. Er meint auch, dass Gelzer nicht skeptisch genug gewesen sei hinsichtlich etwaiger Schönfärbereien der Familienstammbäume. Dagegen vgl. Gelzer Nob. 1912, 25. 160 Mommsen StR III/1 1887, 462. Joseph Vogt hat beide Thesen durch ein diachrones Entwicklungsmodell miteinander in Einklang zu bringen versucht. Erst seien alle kurulischen Beamten nobiles gewesen, seit der Mitte des 2. Jahrhunderts v. Chr. aber nur noch die Nachkommen der Konsulare: „Diese engste Fassung des Adelsbegriffs ist ein Ausdruck der Nervosität des Herrenstandes, der nun wie in Vorahnung des Untergangs seine Privilegien noch fester an sich riß.“ (Vogt 1955, 83 f.). 161 Vgl. Gelzer Nob. 1912, 40. Gegen Gelzers „Projizierung der Nobilität in die Urzeit“ polemisiert in seinem Gutachten Eduard Schwarz (vgl. Gelzer Habilitationsakte Freiburg, B0038/360, 3). Otto Lenel hingegen scheint gerade diese These hervorgehoben zu haben (Vgl. den Brief von Gelzer an Johannes Haller vom 2.8.1912 im Haller-Nachlass Koblenz, N1035: „Lenel schrieb es sei ein vortreffliches Buch, besonders interessiere ihn auch S. 40, diese hingeworfene Hypothese, die ihm sehr plausibel schien (Das war bezeichnenderweise der einzige Punkt, worüber sich das Kopfwackeln des Freiburger Dreigestirns Fabricius, Reitzenstein, Schwartz zu einer Äußerung verdichtete).“ 162 Vgl. Gelzer Nob. 1912, 28 f. mit Verweis auf Mommsen StR III/1 1887, 463. Für Kritik an dieser „doktrinären“ These vgl. Bleicken 1981, 238.
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nur Nachkommen von Consuln Nobilität zuzuerkennen […] voll an. Nach der Natur der Dinge kann eine strikte Definition in den Quellen nicht erwartet werden.“163 Das klang 1912 noch ganz anders: Hier wurde als „wichtige[s] Ergebnis“ der Studie festgehalten, „daß die Nobilität consularische Ahnen fordert“164. Während sich die nobiles generell mit dem ehrenden Titel clarissimi schmückten, seien die Konsulare selbst durch den „Ehrennamen“ principes civitatis hervorgehoben worden, eine Bezeichnung, die Gelzer sich nicht scheut „ruhig mit Fürsten“ zu übersetzen.165 Die Problematik, dass nobilis, clarissimus und princeps Quellenbegriffe sind, die auch nur als lobende Prädikate wie „vornehm“ oder „ausgezeichnet“ eingesetzt werden können, nicht immer als „fester Begriff“166 verstanden werden müssen, berücksichtigt Gelzer nicht explizit. Trotzdem räumt er an einer Stelle ein, dass etwa princeps sowohl „allgemein als ‚vornehm‘“ wie auch „technisch […] für den Consular“167 verstanden werden könne. Die soziale, nicht juristische Qualität des Begriffs Nobilität scheint Gelzer im Prinzip von Anfang an klar gewesen zu sein. Schon in seinem Aufsatz von 1915 über die „Nobilität der Kaiserzeit“ stellt er fest: Der Begriff nobilitas hat weder in der Zeit der Republik noch in der des Principats etwas mit dem Staatsrecht zu schaffen; denn er verleiht keinerlei rechtliche Privilegien. Er ist nur eine Qualitätsbezeichnung senatorischer Vornehmheit, ein Ehrenprädikat, das sich in der Republik die Nachkommen der Consuln beilegten, und das vermöge deren sozialen Einflusses in den allgemeinen Sprachgebrauch überging.168
Für Gelzer bezeichnet die Nobilität also keinen „Adel“169 oder „Stand“170 im rechtlichen Sinne mit gesetzlich kodifizierten Vorrechten, sondern eine faktische soziale Oberschicht, die ihre hohe Prestigestellung über die Ausübung hoher politischer 163 Gelzer Cicero 2014 [1969], 16, 101. Vgl. dazu auch Strauss Cicero unveröff. 164 Gelzer Nob. 1912, 25. 165 Vgl. ebd. 35. Schon Carl Bardt bemerkte hierzu polemisch, dass ihn diese Bezeichnung „durchaus nicht ruhig lassen würde, da es einen ganz fremden Begriff in die römische Republik einführt“ (Bardt 1913, 19). 166 Gelzer Nob. 1912, 36, 10. Zur Problematik vgl. Carl Bardt, der sich wundert, „welche tiefsinnige staatsrechtliche Folgerung man aus einer Redewendung herauspreßt“ (Bardt 1913, 18). 167 Gelzer Nob. 1912, 37. Vgl. dazu auch Dissen 2009, 101. 168 Gelzer Nob. d. Kaiser. 1962 [1915], 145. Seinen Aufsatz kündigt Gelzer seinem Schwager Johannes Haller in einem Brief vom 9.2.1913 folgendermaßen an: „Im nächsten Sommer hoffe ich einen Aufsatz über Nobilität und Prinzipat fertigzustellen. Ich glaube, dass da noch allerhand für das Verständnis der frühen römischen Kaiserzeit herauskommen wird! Mit dem Aufhören der Nobilität unter den Flaviern hört faktisch auch die „Dyarchie“ auf. Augustus muß vor allem auch von der Seite aufgefasst werden, daß er im Gegensatz zu Caesar die aristokratische Gesellschaftsordnung der Republik konserviert hat. Durch diese Concession hat er sich die Herrschaft ermöglicht, während Caesar seine Kelten in den Senat stecken wollte.“ (vgl. Haller-Nachlass Koblenz, N1035). Dass Gelzer davon ausgeht, dass mit dem Wegfall des Nobilitätsprädikats auch die aristokratische Gesellschaftsordnung generell verschwinde, die „Dyarchie“ aufhöre, ist überraschend und zeugt von einem fehlenden Verständnis für die doppelbödige Verfasstheit der kaiserzeitlichen Gesellschaft (vgl. dazu Winterling 2005b, 192–198). 169 Obgleich Gelzer die Nobilität durchaus als „Adel“ bezeichnet (vgl. Gelzer Nob. 1912, 42). 170 Obgleich Gelzer die Nobilität durchaus als „Stand“ bezeichnet (vgl. Gelzer Nob. d. Kaiser. 1962 [1915], 150 bzw. ebd. 153).
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Ämter herleitet. Der Begriff nobilis hat für Gelzer mithin keine juristische, sondern eine „rein gesellschaftliche Geltung“171, ist ein „Ehrenprädikat“. In der Kaiserzeit habe der Terminus ausschließlich jene bezeichnet, die konsularische Ahnen in der Republik vorweisen konnten, so Gelzer.172 Nobilitas wird hier also zu einem Zeichen der ehrwürdigen Tradition und kann nicht mehr neu hinzugewonnen werden: „Weder Bekleidung des Consulats noch Aufnahme in den Patriciat vermag neue Nobilität zu schaffen.“173 Während etwa der „Adelsrang“174 des „Patriziats“ vom Kaiser verliehen werden konnte und dadurch die Anzahl der Patrizier in der Kaiserzeit wieder zunahm, wurde die Nobilität zur Minderheit, da sie nicht durch kaiserliche Gnade, sondern nur über den republikanischen Familienstammbaum legitimiert werden konnte. Der kaiserzeitliche Nobilitätsadel – der sich aus den wenigen Erben der republikanischen Konsularfamilien zusammensetzte, politisch an Macht verlor, aber sich seiner Exklusivität gerade durch eine besonders ostentative „Lebenshaltung auf einem höheren Fuß“175 versicherte – ist somit dann „allmählich und still im Laufe des zweiten Jahrhunderts […] aus der Geschichte verschwunden“176. Es lässt sich resümieren, dass Gelzer bei seiner Analyse auf eine geschichtete Gesellschaftsstruktur stößt, deren determinierende Kriterien zum einen der ökonomische Besitz, zum anderen die vornehme Herkunft und damit in Wechselwirkung stehend die politische Ämterausübung sind. Der Güterbesitz ist Gelzer mithin eine notwendige, aber noch keine hinreichende Bedingung für einen hohen sozialen Status. Während am unteren Ende der gesellschaftlichen Pyramide das gemeine Volk, die plebs, steht, deren soziale Lage „gleichbedeutend mit Armut“177 gewesen sei, bilden die „regimentsfähigen“ Ritter nach Gelzers Ansicht eine wohlhabende Schicht, innerhalb derer sich individueller Status wiederum nach dem „altererbte[n]“178 familiären Prestige richtet. Von den Rittern setzen sich grundbesitzende Senatoren ab, die aktiv ein politisches Amt ausüben. Innerhalb dieses „regierenden Stand[es]“179 nehmen wiederum die kurulischen Amtsträger und deren Nachkommen eine besondere soziale Stellung ein. Schließlich setzt Gelzer von allen anderen denjenigen kleinen Kreis von Männern ab, die das höchste Gemeindeamt innegehabt haben bzw. in einer Erbtradition mit diesen Amtsträgern stehen. Sie bilden die 171 172 173 174 175 176
177 178 179
Ebd. 145. Vgl. ebd. 137. Ebd. 147. Ebd. 147. Für die Erkenntnis, dass die Zahl der nobiles in der Kaiserzeit abnahm, verweist Gelzer wiederum auf Mommsen (Vgl. ebd. 147, 11). Ebd. 152. Ebd. 150. Dass die Nobilität schon zu Beginn der Kaiserzeit ihre politische Macht einbüßte, wie die „mediatisierten Fürsten des deutschen Reiches“ (ebd. 151) ist eine der wenigen metahistorischen Parallelisierungen, die Gelzer vornimmt, um dem Leser die Umstände zu vergegenwärtigen (für weitere Beispiele vgl. Gelzer Röm. Ges. Cic. 1962 [1920], 176). Den prosopographischen Nachweis für Gelzers These hat die spätere Forschung erbracht (vgl. unter anderem: Alföldy 1977, 66 f. bzw. Hopkins/Burton 1983b, 120–127 bzw. 176–193). Gelzer Nob. 1912, 17. Ebd. 13. Ebd. 20.
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VI. Am Wendepunkt? Kontinuitäten und Brüche in Gelzers „Nobilität“
Oberschicht der Senatoren, die sogenannte Nobilität, und werden von Gelzer mit dem Mommsenschen Terminus „Amtsadel“180 bezeichnet. Gelzer geht somit nicht von einer primär ökonomisch stratifizierten Gesellschaftsordnung aus. Obwohl ökonomische Unabhängigkeit als notwendige Mindestvoraussetzung definiert wird, ist es nicht allein die Besitzlage, die über den sozialen Status entscheidet. Seine Konzeption römischer Gesellschaft ist vielmehr multifaktoriell und verbindet die Kriterien Vermögen, Herkunft und politische Ämterausübung miteinander. Wenn Gelzer die Rangordnung wiederholt als „timokratisch“181 bezeichnet, dann setzt er sich damit vor allem ausdrücklich gegen einige Bemerkungen Mommsens ab, nach denen mit 367/6 v. Chr. so etwas wie eine „demokratische Entwicklung“ in Gang gesetzt worden wäre.182 Gelzer will mit dem Verweis auf das timokratische Prinzip keineswegs die Assoziation einer strikten „Geldaristokratie“ erwecken. Vielmehr betont er, dass der Zugang zur soziopolitischen Oberschicht trotz egalisierender gesetzlicher Regelungen faktisch exklusiv, die politisch höchsten Ämter in der Hand einiger weniger Familien blieben und nur eine verschwindend geringe Zahl von „Neulingen“ (in 300 Jahren nur 15 Personen) etwa den Aufstieg ins Konsulat schafften. Zur Begründung führt Gelzer im ersten Teil seiner „Nobilität“ einerseits die finanzielle Belastung, mithin die ökonomische Fähigkeit zum unbesoldeten „Regiment“, an. Andererseits verweist er – die wörtliche Bedeutung von nobilis aufnehmend – auf die Wichtigkeit von ehrenvoller Herkunft im Kontext der Abstimmung über Ämterkandidaten in der römischen Volksversammlung: Obwohl seit 367/6 v. Chr. formal die Möglichkeit besteht, wird ein homo novus nur selten ins höchste Amt gewählt, weil eben die „den Vorfahren verdankte Kenntlichkeit […] ihre guten Wirkungen vornehmlich bei den Magistratswahlen“ geltend macht und „das Volk die, deren Väter und Großväter es als Consuln gesehen hat, wegen ihrer Kenntlichkeit anderen Kandidaten vorzieht“183. Gelzer geht mithin von einer besonderen Überzeugungskraft des über die Familie vermittelten Prestiges aus. „Im Bewusstsein des wählenden Volkes“, so heißt es am Ende des ersten Teils, hätten die Nach-
180 Ebd. 22. 181 Vgl. ebd. 1; 9; 13. 182 Vgl. für die Annahme einer „demokratischen Entwicklung“ für die Zeit nach den Sextisch-Licinischen Gesetzen auch im „Staatsrecht“ etwa: Mommsen StR II/1 1887, 187; Mommsen StR III/1 1887, 204; 280. 183 Gelzer Nob. 1912, 22. Sehr ähnlich auch ebd. 31. Aber trotzdem gebe es „keine geschlossene Anzahl herrschender Familien“ (ebd. 28), so Gelzer, der Beispiele „niedrig Geborener“ wie Schreibern, Zenturionen, Staatspächtern usw. anführt, die trotz ungünstiger sozialer Herkunft den Aufstieg zu politischen Ämtern und damit auch zu gesellschaftlicher Anerkennung geschafft hätten. Den Hinweis, dass „Kenntlichkeit“ im Grunde eine relativ wörtliche Übersetzung von lat. nobilitas ist und Gelzer mit dieser Wortfindung gewissermaßen an den „philologischen Tagebau“ anschließt, verdanke ich Jan Meister. Darauf, dass Gelzer den „Glanz berühmter Adelsnamen“ (Meier 1980, 8) als für den Wähler maßgebend erachtete, verweist auch Christian Meier. Allerdings meint er auch, dass Gelzer die Bedeutung der existimatio unterschätzt habe (vgl. Meier 1980, 9, 15).
6. Gelzers „Klientelthese“
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kommen von römischen Konsularen „als Erben der Tüchtigkeit und des Ansehens ihrer Nobilitätsbegründer“184 gegolten. Gelzer erkennt hier die besondere Wesensart der römischen Prestigehierarchie, in der die „vornehme Geburt“ nicht an sich schon zur Legitimation eines exklusiven Adels ausreichte, sondern eben durch den Sieg im politischen Wettbewerb zur vollen Gültigkeit gelangen musste. Die Schiedsrichterfunktion der Volksversammlung ist für ihn in diesem Zusammenhang zentral. Auf fast apodiktische Weise befindet Gelzer: „Der Grundsatz, nicht jeden beliebigen Bürger in der Regierung sitzen zu lassen, ist den Römern so selbstverständlich, daß es darüber kein Gesetz gibt, und daß sie davon nie sprechen.“185 Gelzer, der Mommsen in seiner „Vorbemerkung“ für dessen quellenferne „Analogieschlüsse“ kritisiert hatte, formuliert hier selbst einen „Grundsatz“, der sich anscheinend nicht mit einem Verweis auf die Quellen belegen lässt, sondern fernab vom „philologischen Tagebau“186 gewonnen wurde. Und der einen entscheidenden Gedanken von Mommsens Gesellschaftskonzeption im „Staatsrecht“ wiederaufnimmt: die Annahme einer jede Normierung übertrumpfenden Tradition der Römer, nur diejenigen ins Amt zu wählen, die über einen bestimmten Prestigewert verfügen, der aus persönlicher Leistung, Vermögen und vor allem dem Ansehen der Familie gebildet ist. Auch insgesamt betrachtet stellt der erste Teil der „Nobilität“ keinen fundamentalen Widerspruch zu Mommsens „Staatsrecht“ dar. Einzig in der noch feineren Differenzierung innerhalb der sozialen Oberschicht kann man eine Gegenposition zu Mommsen erkennen, ansonsten folgt Gelzer diesem bis in einzelne Formulierungen hinein. Auch er geht einerseits auf einer „staatsrechtlichen“ Ebene von einem prinzipiell jedermann zugänglichen Bereich politischer Tätigkeit aus. Andererseits ist auf einer faktischen Ebene der jeweilige Prestigehintergrund des Kandidaten entscheidend und damit die „Regimentsfähigkeit“ eben doch exklusiv. Während Gelzer aber hier, in seinem ersten Teil, die eingeübte Praxis der Römer, die privilegierte Herkunft eines Mannes als besondere Prädestinierung für politische Leitungsfunktionen zu werten, anerkennt und damit einhergehend dem Volk auch eine gewisse Wahlfreiheit, orientiert am jeweiligen Prestigewert des Kandidaten, zubilligt, verläuft seine Argumentation im zweiten Teil seiner „Nobilität“ in einer gegenläufigen Richtung. 6. GELZERS „KLIENTELTHESE“ Der zweite Abschnitt von Gelzers Habilitationsschrift behandelt die möglichen Voraussetzungen der „Nobilitätsherrschaft“. Der Autor versucht hier, eine Antwort zu finden auf die Frage, „wieso bei einem reichlich demokratischen Wahlrecht die hohen Ämter doch immer wieder den vornehmen Herren zufielen“187. Gelzer ant184 185 186 187
Gelzer Nob. 1912, 42. Ebd. 2. Hervorhebungen von S. St. Meier 1977, 38. Gelzer Mem. 8. Vgl. ebenso Gelzer Nob. 1912, 43.
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VI. Am Wendepunkt? Kontinuitäten und Brüche in Gelzers „Nobilität“
wortet darauf mit seiner sogenannten „Klientelthese“, die im Wesentlichen besagt, dass im spätrepublikanischen Rom unterschiedliche Abhängigkeits- und Bindungsverhältnisse „die Verteilung der politischen Macht bestimmen“188. Dominant ist hierbei die Vorstellung von einem „System persönlicher Beziehungen aller Art, nach oben und nach unten“189, das gleichsam als ein steuerbares Netzwerk von Wählern die politische Herrschaft des Adels sichert. Gelzer gibt an, dass die soziopolitische Stellung eines Römers allein auf der Größe seines Beziehungsnetzes beruhe: „Nobilität ist gleichbedeutend mit Besitz vieler Clientelen“, pointiert er, der Mächtigste ist der, „welcher kraft seiner Clienten und Freunde die meisten Wähler mobilisieren kann“, der „die Stimmenden in widerspruchsloser Gefolgschaft zu halten verstand“190. Und weil Klientelverbindungen erblich sind, bleibt die Macht eben in den Händen einiger großer Familien.191 Die Wähler werden dabei zum herrschaftssichernden Instrument der Mächtigen. Das römische Volk, daran lässt Gelzer keinen Zweifel, sei „kein Subjekt des politischen Handelns“192 gewesen. Durch die sozialen Verpflichtungen, die jeder einzelne Bürger eingehe, bleibe kein Raum für eine etwaige freie Willensbildung: „Die Fülle der Treuverhältnisse, worin der römische Bürger lebte, erweist den römischen Individualismus als eine Legende“193, schreibt Gelzer in einer späteren Besprechung. Kein Wunder, dass Fergus Millar hier einen Widerpart für seine revisionistische Demokratiethese fand.194 Ausgangspunkt von Gelzers Argumentation ist die Feststellung, dass das politische Personal Roms nicht von einer verfassungsrechtlichen Autorität ernannt, sondern durch die formal freie Volkswahl bestimmt wird. Und dass daher die „Nobilitätsherrschaft“, die kontinuierliche Herrschaft einer exklusi188 Ebd. 115. 189 Ebd. 49. 190 Ebd. 83; 116; Gelzer Röm. Ges. Cic. 1962 [1920], 175. Vgl. auch Gelzer Nob. 1912, 113: „Die politische Macht beruht in Rom eben auf der persönlichen Verpflichtung der Anhänger.“ Oder: Gelzer Caesar 2008 [1921], 4: „Der Grund der auffallenden Erscheinung, daß Versammlungen […] zu seinen Oberen stets mit Vorliebe adlige Herren wählte, liegt in dem Bestehen von Treuverhältnissen zwischen den mächtigeren und schwächeren Elementen der römischen Gesellschaft.“ Auch in einer Besprechung von Friedrich Münzers „Adelsparteien“ gibt Gelzer an, dass „die politische Macht der Adelsgeschlechter in den Gefolgschaften wurzelte“ (Gelzer Besprechung Münzer 1962 [1920], 199). 191 Für „Erblichkeit“ vgl. beispielsweise: Gelzer Nob. 1912, 56 bzw. ebd. 83. Ebenso Gelzer Entstehung Nob. 1962 [1921], 188. Auch Meier geht von „Erblichkeit“ (Meier 1980, 32) aus. 192 Gelzer Besprechung Münzer 1962 [1920], 199. Dissen bilanziert, Gelzer sehe im Volk nur das „Werkzeug[en] einer Oligarchie“ (Dissen 2009, 103). Vgl. dazu auch Canfora 1980, 219. Christian Meier übernimmt Gelzers Wertung, wenn er dem römischen Volk als Gesamtheit „keinen Eigenwillen“ (Meier 2015, 635) bzw. „politische Unselbständigkeit“ (Meier 1980, 32) zugesteht. 193 Gelzer Besprechung Schulz 1962 [1935], 289. Mit „Individualismus“ ist hier wohl die moderne Vorstellung von einer freien Selbstbestimmung gemeint. 194 Immer wieder (und vermehrt in der englischsprachigen Forschung seit den 1980er Jahren) hat man Gelzer denn auch vorgeworfen, er zeichne ein zu aristokratisches Bild von Rom und vernachlässige die demokratischen Elemente, die sich zum Beispiel bei kollektiven Missfallensäußerungen im Theater oder in dem institutionellen Gewicht der Volksversammlungen niederschlagen würden (vgl. etwa Millar 1984, 1–19; Hopkins/Burton 1983a, 36–38).
6. Gelzers „Klientelthese“
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ven soziopolitischen Oberschicht, durch bestimmte soziale Voraussetzungen zu erklären sei und nicht durch das „Staatsrecht“, nach dem ja seit 367/6 v. Chr. theoretisch das passive Wahlrecht aller Bürger gesichert ist. Solche sozialen Voraussetzungen findet Gelzer in einem komplexen Geflecht horizontaler und vertikaler Interdependenzen. In einem vielzitierten Satz fasst er zusammen: „Das ganze römische Volk, die herrschenden Kreise wie die wählende und beherrschte Masse, ist, als Gesellschaft betrachtet, durchzogen von mannigfachen Treu- und Nahverhältnissen“195. Der politische Wettbewerb basiert nach Gelzers Vorstellungen zu einem Großteil auf sozialen Abhängigkeiten. Die formal freie Magistratswahl ist stark eingeschränkt, denn das Wahlverhalten, so gibt er zu verstehen, wird von vornherein durch die Befangenheit in unterschiedlichsten Freundschafts- und Abhängigkeitsbeziehungen beeinflusst. Die faktische Beschränkung des formal freien passiven Wahlrechts auf eine „regimentsfähige“ Oberschicht mit einem hohen Prestigewert geht einher mit einer faktischen Einschränkung auch des aktiven Wahlrechts. Die unteren und oberen Schichten sind auf der anderen Seite aber durch das Phänomen der „Nah- und Treuverhältnisse“ auch nie völlig losgelöst und als zwei feindliche Blöcke gegeneinandergestellt, sondern durch vielfältige soziale Interdependenzen miteinander verbunden. Die „Klientelthese“ macht somit auch eine gewisse sozialharmonisierende Wirkung wahrscheinlich. Immer wieder verweist Gelzer am Rande auf den integrativen Effekt der vertikalen Nahbeziehungen und die damit verbundene Möglichkeit einer Interessensvertretung für die unteren bzw. provinzialen Schichten.196 Die Sehnsucht nach Statussicherheit auf beiden Seiten – sowohl die Vertretung bestimmter materieller Interessen als auch die Unterstützung bei Wahlen und im Krieg – ist das Bindemittel, das die stark stratifizierte römische Gesellschaft nach Gelzers Dafürhalten zusammenhält. In Rom habe es deshalb auch zu keiner Zeit wirkliche „Klassengegensätze“ gegeben, da soziale Unterschiede durch das weitverzweigte Netz an „Treu- und Nahverhältnissen“ ausgeglichen und in reziproke Abhängigkeitsverhältnisse kanalisiert wurden.197 195 Gelzer Nob. 1912, 115. Interessant ist der konkretisierende Einschub „als Gesellschaft betrachtet“, der auf eine begriffsanalytische Sphärentrennung verweist, die ja durch Gelzers enge Zusammenschau von politischem System und sozialer Bedingung eigentlich gerade vermieden werden soll. Christian Meier nimmt den Grundgedanken später auf, wenn er angibt, „daß der römische Staat ungewöhnlich stark auf seiner Gesellschaft beruhte“ bzw. „dank dieser Bindungen […] persönlich geprägt“ (Meier 1980, 59) gewesen sei. 196 Als besonderer Vorzug des „Klientelwesens“ gilt ihm etwa in seinem Berliner „Cicero“-Vortrag, „daß so durch die Führer die Interessen aller Schichten des Volkes im Senat zu Wort kamen“ (Gelzer Röm. Ges. Cic. 1962 [1920], 189). Insbesondere in seiner Analyse von Ciceros Pro Murena (vgl. Gelzer Nob. 1912, 45 f.) verweist er auf den „Gabentausch“ zwischen Patron und Klient. Jener kann Empfehlungen kundgeben, Kautionen stellen, Einladungen aussprechen, dieser durch physische Präsenz bei den Morgenempfängen und täglichen Rundgängen den Patronen Gefolgschaft beweisen und seine Wahlstimme anbieten. 197 Vgl. Gelzer Entstehung Nob. 1962 [1921], 189 bzw. auch Gelzer Besprechung Münzer 1962 [1920], 199. Christian Meier hat zur Versinnbildlichung der Nachwirkung und Dauer der Beziehungen ein eindrückliches Bild gefunden: „Es ist, wie wenn bei vielerlei Berührungen ein
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VI. Am Wendepunkt? Kontinuitäten und Brüche in Gelzers „Nobilität“
Schon für die Frühzeit geht Gelzer von festen Bindungen aus, die unterschiedliche soziale Gruppen miteinander in Beziehung setzen.198 Diese existieren nicht nur in der urtümlich-festen, klar geregelten Form der Freigelassenenpatronate, sondern auch in historischer Zeit in „freierer“ Weise fort. Für Gelzer ist vor allem die Feststellung wichtig, dass sich in Rom „die Bewerbung um ein Amt nicht auf eine organisierte Partei stützen kann, sondern getragen wird durch ein System persönlicher Beziehungen aller Art“199. Es gibt keine moderne Parteienstruktur, keine langfristigen Koalitionspartner und feste Bündnisse, sondern nur stets neue ad-hoc Koalitionen bei jeder Wahl. Es ist die – in Gelzers Werk an unterschiedlichen Stellen immer wieder auftauchende – Aversion gegenüber der Vorstellung eines modernen, bestimmte ideologische Interessen widerspiegelnden Parteiensystems (etwa mit „konservativen“ Optimaten und „demokratischen“ Popularen)200, die ihn den Blick auf alternative Strategien der Herrschaftssicherung richten lässt. Wenn es keine Parteien mit stabiler Anhängerschaft und ausformuliertem Programm gibt, dann muss sich jeder Kandidat vor den Wahlen selbst so viel „soziales Kapital“201 sichern wie möglich. An die Stelle politischer Parteien setzt Gelzer informelle soziale Bindungen, die er auf die griffige Kategorie der „Nah- und Treuverhältnisse“ bringt. Die Magistratswahlen, so hält Gelzer fest, sind mithin keine parteipolitischen, gar ideologisch geführten Auseinandersetzungen, sondern rein „persönliche Angelegenheiten der Kandidaten“202 – „stets war das Politische mit dem Persönlichen durchsetzt“203. Die Amtsbewerber müssen sich durch Versprechungen und Diensterweisungen ein Netzwerk an werbenden und mitwählenden Unterstützern sowohl innerhalb ihrer peer-Gemeinschaft als auch bei potentiellen Anhängern aus statusniedrigeren Schichten erarbeiten, um eine Wahl zu gewinnen.204
198
199 200 201 202 203 204
Klebstoff abgesondert worden wäre, um die Beteiligten auch künftig einander nahe zu halten.“ (Meier 2015, 659). Vgl. auch schon Meier 1980, 29. Zum Bindungswesen als Mittel der sozialen Kontrolle vgl. auch Wallace-Hadrill 1989, 73. Vgl. Gelzer Nob. 1912, 50. Anders als Goldbeck annimmt (vgl. Goldbeck 2010, 248, 2 bzw. ebd. 250), kommt Gelzer schon in der „Nobilität“ kurz auf die Entwicklung des Klientelwesens von einer „fest juristischen“ zu einer „freieren“ Form zu sprechen. In seinem „Cicero“-Aufsatz von 1920 führt er diesen Gedanken dann weiter und spricht für die spätere Form von einer „analoge[n] Neubildung“ (Gelzer Röm. Ges. Cic. 1962 [1920], 169). Dagegen polemisiert Meier 1980, 24, 1. Gelzer Nob. 1912, 49. Vgl. auch Gelzer Röm. Ges. Cic. 1962 [1920], 164. Für Skepsis gegenüber dem modernen Parteienbegriff als nützliche Beschreibungskategorie vgl. beispielsweise auch Gelzer Nob. 1912, 90, 11; Gelzer Röm. Ges. Cic. 1962 [1920], 198 f.; Gelzer Entstehung Nob. 1962 [1921], 188; Gelzer Cicero 2014 [1969], 17. Zum (im Folgenden als terminus technicus verwendeten) Begriff vgl. Bourdieu 1983, 191. Gelzer Pol. Tendenz 1962 [1955], 217. Gelzer Caesar 2008 [1921], 6. Vgl. auch Gelzer Nob. 1912, 61, 6, wo von der Bedeutung der „persönlichen Feindschaften der nobiles im politischen Leben“ die Rede ist. Zu Beginn des zweiten Teils seiner „Nobilität“ paraphrasiert Gelzer unter anderem das Commentariolum, die Empfehlungsschrift, die mutmaßlich Quintus Tullius Cicero 64 v. Chr. für seinen wahlkämpfenden Bruder verfasste und Ciceros Verteidigungsschriften für zwei siegreiche Wahlkämpfer, die wegen Bestechung vor Gericht standen Pro Murena (63 v. Chr.) und Pro Plancio (54 v. Chr.), um auf die besondere kommunikative und finanzielle Anstrengung der Kandidaten vor den Beamtenwahlen hinzuweisen. Dass diese Schriften keineswegs als wirkli-
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Gelzer behandelt im Laufe des zweiten Teils seiner „Nobilität“ verschiedene Spielarten römischer social relations wie Gerichts-, Gemeinde- und politisches Patronat. Bindungen also, die – sowohl in vertikaler wie horizontaler Richtung – als nicht rechtliche, sondern „gesellschaftliche“ bzw. „sittliche“ Wirkelemente den politischen Wettbewerb bestimmen.205 Die individuelle Ausgestaltung der sozialen Bindung ist ziemlich offen und kann sich in Form von Wählerstimmen, Kapitalzahlung oder eben Rechtsbeistand bzw. prinzipieller Interessenvertretung realisieren. Die Reziprozität zieht sich als grundlegender Mechanismus durch fast alle Beziehungsformen. „Das ganze Gemeinwesen wurde durch eine kräftige Erwiderungsmoral durchdrungen“206, schreibt Christian Meier. Während Gelzer in seiner „Nobilität“ mit den Bezeichnungen „Nahverhältnis“ und „Freundschaft“ auf etwaige horizontale Bindungen anzuspielen scheint, stehen die Begriffe „Treu-“ bzw. „Schutzverhältnis“ eher für vertikale Formen der Abhängigkeitsverhältnisse.207 6.1 Vertikale Bindungen Patron und Klient werden im Kontext eines informellen Schutzverhältnisses von Gelzer als soziale Kategorien verstanden: ein patronus ist ein „Vornehmer“, „Mächtiger“, der einen „Schwächeren“, „sozial Niedrigerstehenden“ etwa in einer Gecher Beleg für Gelzers „Klientelthese“ gelten können, meint Brunt: „Here too there is little to suggest that patronage did much to decide elections.“ (Brunt 1988, 428). 205 Als entsprechende Quellenbegriffe nennt Gelzer fides, officium und necessitudo. Sie bezeichnen für ihn informell-sozial, nicht rechtlich geregelte und durch eine „Nuance der Gegenseitigkeit“ (Gelzer Nob. 1912, 53) bedingte Beziehungen, die durch eine „Empfehlung“ eingeleitet und „nach Belieben gelöst“ (ebd. 56) werden. Die reziproke Dienstleistung der beiden Beziehungspartner ist „gesellschaftliche und schließlich sittliche Pflicht“ (ebd. 53), keine gesetzlich sanktionierte Ordnungsdirektive. Zwar übertragen sich die Bindungsverpflichtungen auf die Nachkommen, sind also erblich, aber nie wird das Verhältnis formal im rechtlichen Sinne. Aus diesem Grund ist Gelzer das Patronat von Freilasser zum Freigelassenen auch „von sekundärer Bedeutung“ (ebd. 50, 1). Vgl. für klare Unterscheidung zwischen altem, rechtlich und neuem, informell-moralisch geregeltem „Klientelwesen“ auch Gelzer Röm. Ges. Cic. 1962 [1920], 168 f. 206 Meier 2015, 661. Fritz Schulz bemerkt dazu: „Die römischen Freunde nehmen sich wechselseitig in einem Maße in Anspruch, das den modernen Freund gemeiniglich zum sofortigen Abbruch des Freundschaftsverhältnisses veranlassen würde.“ (Schulz 1954, 158). 207 Die Wortschöpfung „Nah- und Treuverhältnisse“ lässt sich nicht leicht deuten: Möglicherweise spielen sie auf die unterschiedlichen Dimensionen der Bindungen, im Sinne von horizontalen Nah- und vertikalen Treubeziehungen, an. Gelzer bringt „Treuverhältnis“ zumindest in Zusammenhang mit fides und anderer, gewissermaßen „unterwürfiger“ Quellenterminologie (vgl. Gelzer Nob. 1912, 52 f., 7). Andererseits übersetzt Gelzer an anderer Stelle fides auch mit „gegenseitigem Nahverhältnis“ (ebd. 53), was konträr zur „Bedeutungsdimension des hierarchischen Gefälles“ (Hölkeskamp 2004, 40) läuft. Generell handelt es sich um einen geradezu pleonastischen Begriff, denn Nähe und Treue besitzen sehr ähnliche Bedeutungen. Wilhelm Soltau, der Gelzers Arbeit 1913 rezensierte, änderte den Begriff dann auch stillschweigend zu „Nah- und Fernverhältnisse“ (Soltau 1913, 271) um und spiegelte damit deutlicher als der Autor selber dessen Erkenntnisinteresse, nämlich die Analyse vertikaler und horizontaler sozialer Beziehungen.
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richtsverhandlung schützt und verteidigt.208 Durch seine Unterstützung im Prozess gewinnt der Patron an „Beliebtheit“ (gratia) und sammelt durch seine rhetorische Verteidigungsarbeit vor Gericht eine Gefolgschaft, die ihn bei anderer Gelegenheit, etwa politischen Wahlen, bereitwillig unterstützt. Gratia versteht Gelzer als Synonym für die Anzahl sozialer Interdependenzen, die ein Römer unterhält und die ihm politische Macht sichern: „In dieser Weise sind Gunst und Macht aufs engste miteinander verbunden“209 resümiert er. An der Gunst bzw. Beliebtheit kann ein Kandidat – im Gegensatz zu seiner familiär bedingten Vornehmheit (dignitas) – arbeiten. Das „Gerichtspatrocinium“ sei dafür „eines der vornehmsten Mittel des römischen Politikers“, so Gelzer. Dass es insbesondere sozialen Aufsteigern, die rhetorisch begabt sind, Möglichkeiten der Statusverbesserung und Machtgewinnung bietet, und also dabei hilft, vor allem „den Neuling emporzubringen“,210 erwähnt Gelzer hier nur am Rande. Er verweist beispielhaft auf Quintus Arrius, der durch eine gut organisierte Gerichtspatronage zu politischer Macht gelangte. Dass es sich bei Arrius laut Cicero um einen Aufsteiger infimo loco natus211 handelte, ist paradigmatisch für eine generelle Tendenz: es ist nämlich auffällig, dass Gelzer seine „Klientelthese“ vor allem mit Beispielen von sozialen Aufsteigern belegt. Cicero, Murena, Plancius, die drei zentralen Figuren im ersten, thesenbildenden Kapitel des zweiten Teils, deren politischer Erfolg auf Nah- und Treuverhältnisse zurückgeführt wird, sind keine nobiles, sind gerade keine Repräsentanten jener eigenartigen Nobilitätsherrschaft, die Gelzer erklären will. Insbesondere im Abschnitt über die Gerichtspatronate plausibilisiert er die Strategien der „Nobilitätsherrschaft“ am Beispiel von sozialen Aufsteigern. Auch das Kapitel über das Gemeindepatronat bietet keinen direkten Beleg für Gelzers „Klientelthese“. Denn hiermit werden zuvorderst die Hintergründe der Reichsorganisation erklärt, nicht die der aristokratischen Wahlsiege. Mithilfe der persönlichen Patronagebeziehungen römischer Politiker, die entweder als Eroberer oder auch nur als temporäre Amtsträger in einer bestimmten Region tätig sind oder waren, wird Reichspolitik betrieben. Lokale Interessen einer Provinz oder auch private Anliegen einzelner Provinzialen können nur mithilfe römischer Patrone durchgesetzt werden. Gelzer entwirft das Bild einer „römischen Zentralregierung“212, an deren Knotenpunkten und Schaltstellen mächtige römische Individuen situiert sind, um deren Gunst die ausländischen bzw. unterworfenen Einwohner buhlen. Zur Verdeutlichung führt er eine Fülle von Beispielen römischer Politiker an, die das Patronat über bestimmte Regionen ausüben. Dabei verweist Gelzer auf die reziproken Vorteile dieser Klientelform: Eine Verbindung mit Pompeius etwa ist lukrativ für den Provinzialen, kann zu Landbesitz und zum Königstitel führen.213 Die „Gemeindepatronate“ hingegen können dem römischen Amtsträger zur Vermehrung seines 208 209 210 211 212 213
Vgl. Gelzer Nob. 1912, 56–58. Ebd. 62. Ebd. 70. Cic. Brut. 243 (fälschlich von Gelzer als Cic. Brut. 247 zitiert, vgl. Gelzer Nob. 1912, 63, 3). Ebd. 72. Vgl. ebd. 75. Vgl. für den Ausbau der „unentbehrlichen Treuverhältnisse“ in den Provinzen auch Gelzers RE-Artikel über Brutus (Gelzer Brutus 1919, 977 f.). Dieser, nach Strasburgers
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Prestigewertes dienen, sie können „von höchstem Wert für den Ruf eines Politikers“214 sein. Die Klienten der italischen Gemeinden beteiligen sich bei ihren Besuchen in Rom an den salutationes des Patrons, unterstützen ihn als Entlastungszeugen vor Gericht oder greifen ihm bei kriegerischen Auseinandersetzungen logistisch und finanziell unter die Arme.215 Für Pompeius etwa bedeuten seine engen Verbindungen nach Picenum, dass er im Bürgerkrieg auf Kohorten von dort zählen kann. Gelzer hat ein deutliches Gespür für die Bedeutung des Gemeindepatronats als „sozialer Institution“216, die fernab von rechtlichen Normen auf persönlicher Ebene eine wechselseitige Dynamik entfaltet. Dennoch bleibt die „Klientelthese“ als direkte Begründung der andauernden Nobilitätsherrschaft problematisch: Dass die italischen Klienten über ihre militärische und symbolische Unterstützung hinaus auch in den Volksversammlungen zugegen waren und für ihre Patrone stimmten, lässt sich nur vereinzelt nachweisen. Gelzers Beweisführung für seine „Klientelthese“ wirft in mancher Beziehung Fragen auf. Zwar zeichnet er das suggestive Bild einer römischen Gesellschaft, deren Ordnungsprinzip auf inoffiziellen Bindungen und vielfältigen Formen des Gabentauschs beruht: Angeklagte und Italiker bzw. auch Provinziale brauchen den Schutz einflussreicher Senatoren in Rom für die Durchsetzung ihrer individuellen Interessen. Die römischen Politiker steigern im Gegenzug durch ein breites Netz an Anhängern ihre individuelle Machtstellung. Aber, dass die vertikalen Bindungen bzw. asymmetrischen „Treuverhältnisse“ direkt für die Wahlgewinne der wenigen Familien verantwortlich seien, belegen die Quellen zumindest nicht eindeutig. Möglicherweise müsste man Gelzers „Klientelthese“ zeitlich und sozial differenzieren: So ist es einerseits durchaus denkbar, dass in früheren Zeiten und bei strittigen Themen auch in späterer Zeit den Volksversammlungen eine Art Schiedsrichterfunktion bei ungeklärten inneraristokratischen Machtverhältnissen zukommen konnte (sie also weder komplett machtlos waren, noch völlig fungible Abstimmungsmassen darstellten). Zum anderen zeigen die erwähnten Aufsteiger ja in der Tat, dass Freundschaft und schichtübergreifende Nahbeziehungen für ambitionierte Aristokraten je nach sozialer Position (etwa auch beim Versuch etablierter senatorischer Familien, in die Gruppe der nobiles vorzustoßen) durchaus ein Mittel zum politischen Erfolg sein konnten. Trotzdem bleibt die Vorstellung einer gesteuerten Klientenmasse, die die politische Herrschaft der Nobilität gewissermaßen mechanistisch erklärt, eine in der Forschung umstrittene Hypothese, wie zu zeigen sein wird. Es fällt dann aber auch auf, dass Gelzer im Verlauf seiner Analyse den Bindungen auf horizontaler Ebene deutlich mehr Aufmerksamkeit schenkt als den vertikalen.217 Er selbst gibt an, dass nur die beiden Abschnitte über das Gerichts- und Gemeindepatronat wirklich von
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Vermutung schon 1910/11 geschriebene Text verweist durch den Hinweis auf die Vielzahl von „Nah- und Treubeziehungen“ in der Tat schon auf die Nobilität. Vgl. z. B. auch ebd. 1006. Gelzer Nob. 1912, 81. Diesen Punkt nimmt auch Christian Meier auf (vgl. Meier 1980, 34 f.). Vgl. Gelzer Nob. 1912, 73; 82; 78 f. Ebd. 83. Aber auch Mommsen behandelt es (vgl. z. B. Mommsen StR III/2 1888, 1148 f.). Vgl. dazu Ungern-Sternberg 2017, 107: „Die eingangs erwähnten ‚Einzelpersonen geringen Standes‘ verschwinden dagegen sang- und klanglos aus dem Blickfeld.“
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„Beziehungen zwischen Mächtigeren und Schwächeren“218 handeln. Der Großteil seiner Beweisführung konzentriert sich auf das „Nahverhältnis“ zwischen sozial Ebenbürtigen. Um eine „widerspruchslose Gefolgschaft der Stimmenden“219 geht es dabei gerade nicht. 6.2 Horizontale Bindungen Die Bindungen auf horizontaler Ebene zwischen Mitgliedern ein und derselben sozialen Schicht, etwa zwischen einem Amtsträger und seinen amici, bezeichnet Gelzer als „Politische Freundschaft“220. Auch hier wird auf Reziprozität der Leistungen wert gelegt. Die „Freunde“ begleiten den potentiellen Kandidaten auf Reisen, beraten ihn in seinem consilium,221 bilden mitunter sogar eine militärische Einheit (bei der sie von den übrigen Klienten klar geschieden sind)222 und unterstützen ihn bei seinen Amtsgeschäften in Rom. Sie bilden so etwas wie einen „kleinen Hof“223 um den Patron. Von direkter Hilfe beim Wahlgang ist wiederum nicht die Rede. Sehr vage heißt es hierzu nur: „[…] je zahlreicher die Freunde, desto größer der Erfolg, mochten die Freunde Gönner bedeuten oder Anhänger“224. Den „dauernden Zusammenschluß“ zwischen zwei politischen Kontrahenten, die sich zum gegenseitigen Nutzen, aber ohne materielle oder moralische Abhängigkeit miteinander verabreden, bezeichnet Gelzer als „Faktion“ bzw. „Koterie“225. Obgleich ein solcher Zusammenschluss „immer odiösen Klang“226 hatte, war die Faktion zwischen aussichtsreichen Kandidaten (angeblich seit frühster Zeit)227 ein 218 Gelzer Nob. 1912, 75. Auch etwaige Gemeindepatronate sind natürlich im Endeffekt eine Angelegenheit zwischen sozial Ebenbürtigen. Es handelt sich auch hier eigentlich nicht wirklich um eine handfeste Vertikalität. 219 Gelzer Röm. Ges. Cic. 1962 [1920], 175. Natürlich könnte man diesen Umstand damit erklären, dass die politische Führung Roms, die Prätoren und Konsuln, eben in den comitia centuriata gewählt wurden und dort die soziopolitische Oberschicht selbst die größte Macht besaß, daher also horizontale Bindungen eine besonders wichtige Rolle spielten. Allerdings scheint Gelzer – zumindest für die späte Republik – gar nicht von einem nach Zensus abgestuften Wahlrecht auszugehen (vgl. Gelzer Nob. 1912, 43, 1, wo er Rosenberg darin Recht gibt, dass die „Censusstufen ganz illusorisch“ geworden seien). Für diesen Hinweis danke ich Marcel Kiefer. 220 Vgl. Gelzer Nob. 1912, 83 (Kapitelüberschrift). Allerdings weist er später darauf hin, dass „das ethische Moment bei dieser Art von Freundschaft in den Hintergrund geriet vor dem realen Zweck der gegenseitigen Förderung“ (ebd. 86). Vgl. auch Gelzers Verweis auf Ciceros Klage über die unehrlichen „Bewerbungsfreundschaften“ (ebd. 87). 221 Vgl. ebd. 84. Er verweist hierfür interessanterweise wieder auf Mommsens „Staatsrecht“ (vgl. ebd. 84, 6). 222 Vgl. ebd. 85. 223 Gelzer Röm. Ges. Cic. 1962 [1920], 167. 224 Gelzer Nob. 1912, 86. 225 Ebd. 103. Im Unterschied zur coitio, die nur „zeitweilige[n] Verbindungen“ bezeichnet. Zu factio als problematischen, weil uneindeutigen Quellenterminus vgl. Seager 1972, 53–58. 226 Gelzer Nob. 1912, 103. 227 Gegen Sallust argumentiert Gelzer für eine Existenz des Faktionenwesens seit frühster Zeit (vgl. ebd. 104).
6. Gelzers „Klientelthese“
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wichtiges Mittel, um durch die Bündelung der Anhängerschaft politisch Einfluss zu nehmen, so argumentiert Gelzer unter Berufung etwa auf den Erfolg der Triumvirn. Die Zugehörigkeit zu einem Kreis namhafter Politiker war, wiederum im Besonderen für homines novi, entscheidend für den politischen Erfolg. Der Fall des Marius, der es durch verschiedene „Gönner“ und „einflußreiche Kreise“ bis zum Konsulat schaffte, ist für Gelzer paradigmatisch.228 Des Weiteren identifiziert er eine „Faktion Catos“ und einen „scipionischen Kreis“ und schildert die „Faktionenkämpfe“ in ähnlicher Manier wie moderne Parteienkämpfe.229 Insbesondere die Bedeutung des „Scipionenkreises“ hebt Gelzer hervor, indem er mit ihm als fester Gruppierung rechnet, die bei Wahlen und sonstigen gesellschaftlichen Anlässen als geschlossene Autorität auftrat. Die Vorstellung, dass Kreise mit strikten Zulassungsbedingungen das politisch-soziale Leben strukturierten, lag zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in der Hochzeit des „GeorgeKreises“, so fern wohl nicht.230 Die politisch unerfahrenen „Freunde“ erhalten durch das Treuverhältnis zu einem aktiven Politiker oder Feldherrn wertvolle Einsicht in die Mechanismen der Herrschaft, knüpfen Verbindungen für ihre eigene politische Karriere, werden bei Wahlen von ihren Gönnern empfohlen (steigern durch ihre Bindungen also ihr soziales Kapital) und profitieren auch finanziell, etwa von beutereichen Feldzügen. Dabei spielt das Auszahlen von Wahl- und Bestechungsgeldern genauso wie die Verleihung von Geld an verschuldete Standesgenossen eine große Rolle. „Der Reichste wird so der Mächtigste, weil er sich durch seine Darlehen die meisten Politiker verpflichten kann“231, pointiert Gelzer. Die Morgenvisite, die sogenannte salutatio, die Gelzer (Seneca folgend) vom „hellenistischen Hofzeremoniell“232 beeinflusst sieht, eröffnet dem amicus die Möglichkeit, seine Gefolgschaft offiziell zu demonstrieren, andererseits bieten sie ihm persönlich auch „die Hauptgelegenheit zur Kommendation“233. Im Ritual erkennt er die Bedeutung persönlicher Interaktionen für eine Gesellschaft, die von einer Vielzahl von Rang- und Statusdifferenzen durchwirkt und immer auf De228 Vgl. ebd. 109 f. 229 Vgl. ebd. 104. Er geht von einem regelrechten „Kampf der Koterien“ (ebd. 106) aus. Darauf, dass in der „Nobilität“ Münzers „Parteiungsthese“ und damit Vorstellungen des modernen Parteienwesens durch die Hintertür wieder eindringen, verweist Christian Meier (vgl. Meier 1977, 45). Vgl. z. B. die Bezeichnung „Gracchaner“ (Gelzer Nob. 1912, 109). 230 Zum Mythos des „Scipionenkreises“ vgl. Strasburger 1966, 60–72 bzw. Strauss Myth unveröff. Für Gelzers Zurückhaltung gegenüber dem „snobistischen Treiben“ des George-Kreises vgl. Gelzer Mem. 47 f. und seine Besprechung von Friedrich Gundolfs „Caesarbuch“ (vgl. Gelzer Besprechung Gundolf 1926, 725–729), dem er eine „Vergewaltigung der Wirklichkeit“ (ebd. 728 f.) vorwarf. 231 Gelzer Nob. 1912, 95. 232 Vgl. ebd. 86, 5. Für Gelzers Beschreibung der salutatio vgl. ebd. 86–88. Vgl. dazu mit Betonung der „politischen Relevanz“ von Gelzers salutatio-Analyse recht ausführlich Goldbeck 2010, 46–49. 233 Gelzer Nob. 1912, 88. Gelzer greift immer wieder auf Wortprägungen aus der mittelalterlichen Feudalsprache zurück. Der aus der Sprache des mittelalterlichen Lehenswesens stammende Begriff der „Kommendation“, also der Vorgang, bei dem sich ein freier Mann in die Vasallität eines anderen begibt, ist besonders auffallend.
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VI. Am Wendepunkt? Kontinuitäten und Brüche in Gelzers „Nobilität“
monstrationen affektiver Nähe angewiesen ist. Das Atrium des Senators wird ein Ort der Orientierung; hier wird die Zugehörigkeit zu den unterschiedlichen Rangklassen ausgewiesen. Wer zuerst zum Patron vorgelassen wird, besitzt eine privilegierte Stellung innerhalb der Prestigehierarchie: „Im allgemeinen gehörten die Senatoren der ersten, die Ritter der zweiten Klasse [der Besucher] an.“234 Insbesondere Ciceros „Pro Plancio“ führt Gelzer wiederholt an, um die Bedeutung von amicitia-Bindungen, also die (zumindest idealtypisch) horizontal-reziproke Form der sozialen Beziehung zum Zweck politischer Förderung,235 hervorzuheben. Plancius, so legt Cicero in seiner Verteidigungsrede dar, habe die Wahl zum kurulischen Ädil nur deshalb gewonnen, weil sein Vater und er, Cicero, in vielen Wahlbezirken Werbung für ihn gemacht hätten. Aufschlussreich, weil Gelzers zentrale These nahezu präfigurierend, ist hier eine Passage, in der Cicero mit ironischem Unterton ausmalt, was der Fall wäre, wenn in der Politik allein soziale Herkunft entschiede. Wenn eine abgeschlossene Oberschicht die Ämter einfach unter sich aufteilen würde. Dann wäre es nämlich „aus mit der Wählergunst, vorbei mit dem Wahlkampf; es gäbe keinen Wetteifer, bei der Vergabe der Ämter kein Ermessen des Volkes und kein Warten auf den Ausgang mehr“236. Weil aber die Bewerbung ums Amt theoretisch jedem offensteht, bedarf es eben eines dichten Beziehungsgeflechts an Unterstützern, die für die Wahl ihres Patrons kämpfen. Plancius kann darauf zählen, dass nicht nur die Mitbürger in seinem Heimatbezirk, sondern auch andere angesehene Männer ihren hohen Prestigewert für ihn einsetzen: So viele römische Ritter, so viele Ärartribunen […] welchen Nachdruck, welches Ansehen haben sie wohl der Bewerbung des Plancius verliehen? Sie haben ihm ja nicht nur den teretinischen Stimmbezirk […], sondern auch Ansehen, auch jedermanns Blicke, auch eine feste und starke und unermüdliche Gefolgschaft eingebracht.237
Hier wird die kalkulierte Indienstnahme eines horizontalen Bindungswesens ziemlich deutlich. Ob aus solch vereinzelten Hinweisen in den Quellen auf ein regelrechtes „System persönlicher Beziehungen“238 geschlossen werden kann, ist allerdings zweifelhaft. Die Annahme einer Kausalbeziehung zwischen der kontinuierlichen politischen Macht eines Adels und dessen Verfügung über steuerbare soziale Netzwerke ist suggestiv, aber nicht zwingend. 234 Ebd. 87, 1. Auf Gelzers Unterteilung der salutatio in verschiedene Gruppen je nach Prestigerang verweist Roniger 1983, 77. Aloys Winterling hat diese These überzeugend widerlegt (vgl. Winterling 1999, 119 f.). 235 Darauf, dass es auch amicitia-Beziehungen zwischen sozial Ungleichen gab, verweist auch Ganter 2015, 9. 236 Cic. Planc. 15 (Sublata sunt studia, exstinctae suffragationes, nullae contentiones, nulla libertas populi in mandandis magistratibus, nulla exspectatio suffragiorum). Übersetzung von Manfred Fuhrmann, ebenso die folgenden Stellen. 237 Cic. Planc. 21 (Hi tot equites Romani, tot tribuni aerarii […] quid roboris, quid dignitatis huius petitioni attulerunt? Non modo enim tribum Teretinam […] sed dignitatem, sed oculorum conietum, sed solidam et robustam et adsiduam frequentiam praebuerunt). 238 Gelzer Nob. 1912, 49.
7. Gelzers These und ihre möglichen Einflussquellen
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Während Gelzer die Wirkung der informellen sozialen Bindungen auf realpolitische Entscheidungsprozesse grundsätzlich sehr hoch einschätzt, vernachlässigt er in auffälliger Weise die symbolische Dimension der Bindungen. Sein Blick ruht allein auf dem politisch einsetzbaren Wert der Bindungen: Nur wer nach unten als Gönner, zur Seite als Freund und nach oben als Gefolgsmann rangiert, hat Chancen, im politischen Wettkampf zu reüssieren und in der Prestigehierarchie vorzurücken. Die Notwendigkeit, sich permanent um soziale Beziehungen zu bemühen, schildert Gelzer eindrücklich. Aber obgleich seine „Klientelthese“ ja vor allem auf vertikale Abhängigkeitsverhältnisse anspielt und eine beliebige Steuerung der Anhängerschaften suggeriert, konzentriert Gelzer sich in seiner eigentlichen Analyse vor allem auf ihre horizontale Ausprägung, die Bindungen zwischen sozial Gleichstehenden. 7. GELZERS THESE UND IHRE MÖGLICHEN EINFLUSSQUELLEN 7.1 Die „Klientelthese“ als funktionalistischer Theorie-Zusatz Ähnlich wie im Fall seiner Stilisierung zum „Anti-Mommsen“ hat die Forschung Gelzers Selbstbeschreibung als „theorielosen Positivisten“ mehr oder weniger unkritisch in ihr Wertungsrepertoire übernommen. Sie hat dabei außer Acht gelassen, dass gerade im zweiten Teil der „Nobilität“ von Theorielosigkeit nicht die Rede sein kann. Gelzers „Klientelthese“ erklärt ja im Grunde überhaupt erst jenen Sachverhalt, der zuvor als ein nicht erklärungsbedürftiger, selbstverständlicher „Grundsatz“239 bezeichnet worden war. Der Verweis auf die gewohnheitsmäßige, kollektive Akzeptanz einer Adelsherrschaft, der Glaube an den Glanz der Adelsnamen, war ja im ersten Teil angeführt worden, um die Stabilität des römischen Schichtungsmodells im Allgemeinen und das der Nobilitätsherrschaft im Besonderen zu plausibilisieren. Die Begründung der andauernden Nobilitätsherrschaft in Rom mit der Feststellung, dass „mannigfache[n] Treu- und Nahverhältnisse […] die Verteilung der politischen Macht“ bedingen und die Aristokratie dadurch „die Wählenden und Stimmenden in widerspruchsloser Gefolgschaft zu halten verstand“240, rationalisiert dabei das vorher als Selbstverständlichkeit Beschriebene. Die von Gelzer suggerierte Instrumentalisierung von vertikalen Abhängigkeiten konterkariert gewissermaßen das Ergebnis seiner „Schichtungstheorie“. Diese umschrieb ja, dass die Prestigehierarchie in Rom kollektiv akzeptiert war, dass hier – mit Max Weber gesprochen – eine irrationale „Eingestelltheit auf das ‚Regelmäßige als das Geltende‘“241 herrschte, die gerade nicht abgesichert werden musste. Im ersten Teil war doch der Glaube an das „Standescharisma“ eines Kandidaten als 239 Vgl. nochmals Gelzer Nob. 1912, 2. 240 Ebd. 115; Gelzer Röm. Ges. Cic. 1962 [1920], 175. 241 Weber 1922, 375. Nur am Rande sei hier eine kleine editionsgeschichtliche Trouvaille vermerkt: Während in der Originalversion und den darauf folgenden drei Auflagen von Webers „Grundriss der Sozialökonomik“ der genaue Wortlaut „Eingestelltheit auf das ‚Regelmäßige‘ und das ‚Geltende‘“ – also geringfügig anders als hier zitiert – ist, wird in der 1956 von Jo-
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wahlentscheidend angeführt worden und nicht ein funktional einsetzbares „Stimmvolk“.242 Gelzers „Klientelthese“ rückt das römische „Bindungswesen“243 dabei in einen Funktionszusammenhang, der sich zumindest so eindeutig nicht in den Quellen wiederfindet. Nicht nur die angelsächsischen Skeptiker um Peter Brunt und Andrew Wallace-Hadrill, die festen Patron-Klient-Beziehungen von vornherein (auch in einem zeitlich frühen Stadium) keine besondere Wirkkraft zuschreiben,244 sondern auch etwa Martin Jehne oder Fabian Goldbeck haben in der jüngeren Vergangenheit Zweifel daran angemeldet, dass der Verweis auf die literarischen Quellen eine ausreichende Beweiskraft für die einseitig politische Instrumentalisierung der Klienten in der römischen Republik liefern würden.245 Goldbeck bilanziert, dass „für die späte Republik die Vorstellung von beliebig manipulierbaren Klientelblöcken mittlerweile als obsolet gelten kann“246. In der Tat darf man Gelzers „Klientelthese“ inzwischen aus verschiedenen Gründen zwar nicht einfach als „schlicht falsch“247, sehr wohl aber als schwach empirisch abgesicherte Theorie bewerten. Denn abgesehen von der auffallend seltenen Bezugnahme der antiken Quellen selbst auf das Phänomen, verweist allein die Tatsache, dass die römische Führungsschicht eine Notwendigkeit darin sah, ihre Mitbürger immer wieder heftig zu umwerben, auf den wenig stabilen Charakter der Bindungen. Dem korrespondiert auch
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hannes Winckelmann einer strukturellen und sprachlichen Revision unterzogenen vierten Auflage von „Wirtschaft und Gesellschaft“ (so der neue Titel) aus dem „und“ ein „als“. Anders als bei Christian Meier, wo die beiden Erklärungsansätze als komplementär gewertet werden (vgl. Meier 1980, 9 bzw. 15), soll hier für eine gewisse Ambivalenz zwischen dem ersten und dem zweiten Teil der „Nobilität“ und damit auch zwischen den beiden „Motivkomplexen“ (ebd. 9) Kenntlichkeit und Beziehungssystem argumentiert werden. Für den Begriff „Bindungswesen“ als letzte Phase innerhalb seines Drei-Phasen-Modells vgl. ebd. 31. Meier folgt Gelzer grundsätzlich in der Annahme einer politischen Funktion der Bindungen in der Spätrepublik, auch wenn er den Fokus noch stärker auf ihre außenpolitische Bedeutung und ihre Funktion bei der Interessensvertretung lenkt (vgl. ebd. 34–41). Aber auch Meier zeigt sich davon überzeugt, dass ein Amtsbewerber vollkommen „darauf angewiesen war, necessitudines zu unterhalten“ (ebd. 40). Goldbeck plädiert zu Recht dafür, den Begriff „Bindungswesen“ zur Bezeichnung des spätrepublikanischen Klientelwesens zu verwenden, um Verwechslungen mit zeitlich früheren Ausprägungen zu vermeiden (vgl. Goldbeck 2010, 250 f.). Vgl. Brunt 1988, 400; Wallace-Hadrill 1989, 69. Für eine Zusammenfassung von Brunts Thesen und einer Kritik an seinem zu „restriktiven“ Begriff vom Klientelwesen vgl. Goldbeck 2010, 253–258. Vgl. Jehne 2006, 13 bzw. Goldbeck 2010, 258–260, der für eine stärker symbolische Bedeutung plädiert und in diachroner Hinsicht annimmt, dass das Klientelwesen nach einer Phase von fester Abhängigkeit in der Frühzeit, im Zeitraum zwischen 200 v. Chr. und der Gracchenzeit an Bedeutung verlor und erst in der letzten Zeit der res publica wieder an Bedeutung gewonnen habe, „die sich vorher in Rom nicht fand und auch anderweit welthistorisch selten ist“ (Goldbeck 2010, 260). Für eine ideologisch motivierte Kritik an Gelzers „schematisch-elitistischer“ Klientelthese vgl. Canfora 1980, 219 f. Goldbeck unveröff. 4. Hölkeskamp 2004, 42. Natürlich werden soziale Verbindungen im politischen Konkurrenzkampf eine bestimmte Rolle gespielt haben. Nur eben nicht die einzige und auch nicht eine rein funktionale.
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der Umstand, dass man bei einer Mehrzahl der römischen Bürger wohl „mit einer Pluralität verschiedenster Bindungen“248 zu rechnen hat, sodass auch daher eine klar kalkulierbare politische Funktion problematisch erscheint. Darüber hinaus ist insbesondere für die späte Republik die unüberschaubare Zahl an potentiellen Klienten zu bedenken. Bei einer Anzahl von ein bis zwei Millionen römischen Bürgern in den vorchristlichen 80er Jahren scheint eine Kontrolle der individuellen Bindungen schwer vorstellbar.249 Wären wirklich alle Römer fest in beliebig steuerbaren Klientelblöcken eingebunden gewesen, hätte sich im Grunde jeder Wahlkampf erübrigt.250 Weiterhin kann man eine vorgeblich harmonisierende Wirkung des Bindungswesens vor allem mit dem Verweis auf den immer wiederkehrenden Ausbruch sozialer Konflikte als euphemistische Vorstellung zurückweisen.251 Anstelle einer direkten politischen Nutzbarmachung der Bindungen, die – wenn überhaupt – nur auf horizontaler Ebene, in den amicitia-Verhältnissen der Oberschicht, zu belegen sind, sprechen die Quellen möglicherweise auch eher für einen symbolischen Wert von sozialen Bindungen. Klienten fungieren als demonstrativ zur Schau gestellte Indikatoren für den Prestigewert eines Kandidaten.252 Gelzers funktionalistische Rede von einem regelrechten „System persönlicher Beziehungen“253, in dem nicht mit individuellen Akteuren, sondern mit abstrakten „Elementen“254 gerechnet wird, impliziert dagegen unwillkürlich eine politische Steuerungsmöglichkeit und ist zu Recht als einseitig und starr kritisiert worden.255 Denn ein „System“ suggeriert immer Rationalität und Eigenlogik; es gibt Lenkund Wirkmechanismen, die von bestimmten „Administratoren“ gekannt und zu ihrem Vorteil benutzt werden. Die Vorstellung, man könne den politischen Herrschaftserfolg der römischen Adligen primär dadurch erklären, dass sie wie „feudal barons“256 ihr „Stimmvieh“ bei Abstimmungen hierhin und dorthin getrieben bzw. (um in Gelzers Wortlaut zu bleiben) als verfügbare Masse „in die Waagschale“257 geworfen hätten, ist dann auch als problematisch erachtet worden.258 „In fact client248 Meier 1980, 16. Er verweist selber darauf, dass Cicero einmal gleichzeitig drei Kandidaten für das Konsulat unterstützte (vgl. Meier 1980, 21, 85). 249 Vgl. ebd. 31. 250 Vgl. Laser 1999, 185. 251 Vgl. Wallace-Hadrill 1989, 69 f. 252 Vgl. Goldbeck 2010, 258 f. Ebenso Hölkeskamp 2004, 41. 253 Gelzer Nob. 1912, 49. Vgl. zu Gelzers Vorliebe für den Systembegriff auch Gelzer Röm. Ges. Cic. 1962 [1920], 164 („diese persönlichen Beziehungen der Politiker sowohl zu anderen Politikern als zu ihren Wählern [sind] in ein reich ausgebautes System gebracht. In diesem System lebt und webt die römische Gesellschaft“) bzw. ebd. 167 („Auf diesem System nun beruht die Machtstellung der Nobilität“). 254 Vgl. Gelzer Caesar 2008 [1921], 4. 255 Vgl. z. B. Winterling 2008b, 300. Auch er kritisiert an Gelzers Analyse vor allem den fehlenden Blick für die „symbolische und performative Bedeutung“ interpersonaler Nahbeziehungen. 256 Brunt 1988, 385. 257 Gelzer Entstehung Nob. 1962 [1921], 188. 258 Vgl. beispielhaft nur Hölkeskamp 2004, 42 bzw. Jehne 2006, 13. Generell bemerkt etwa Goldbeck, dass aus weiten Teilen der Forschung die Klienten „als Strukturelement für die Deutung des politischen Systems der Republik weitgehend verschwunden“ (Goldbeck unveröff. 3)
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ship appears infinitely more often in modern than in ancient writings“259, bilanziert Peter Brunt. Es kommt daher nicht von ungefähr, dass Gelzer zur Untermauerung seiner „Klientelthese“ vor allem auf Beispiele sozialer Aufsteiger zurückgreift, also die Regel gerade mit der Ausnahme begründet. Cicero, Murena und Plancius sind, wie schon angeführt, alle keine nobiles. Dass sie besondere Anstrengungen unternehmen und sich eine gefügige Wählerschaft sichern mussten, um gewählt zu werden, liegt auf der Hand. Sie aber als Ausgangspunkt zu nehmen, um die grundsätzliche Stabilität der Nobilitätsherrschaft zu bestimmen, scheint nicht zwingend. Der Normalfall war eben nicht der Aufstieg eines Neulings, sondern der Wahlgewinn eines Politikers von vornehmer Herkunft. Insbesondere Ciceros Pro Plancio scheint Gelzer als wörtlichen Beleg für seine „Klientelthese“ zu werten. Den ersten Abschnitt der Rede fasst er deutlich in seinem Sinne zusammen: Bei diesen minder wichtigen Comitien sieht das Volk mehr auf die Beliebtheit als auf das Ansehen. Es wählt die, von denen es am meisten darum angegangen wird. Diesem Verhalten des souveränen Volks muß Rechnung getragen werden; wen nach Ehre verlangt, muß unermüdlich darum bitten. Würde nur auf die vornehme Abkunft gesehen, so brauchte man überhaupt keine Wahlen.260
Der letzte Satz bildet gewissermaßen den Kern der Gelzerschen „Klientelthese“, die suggeriert, dass nur ein breites Netzwerk von Unterstützern zum Wahlsieg führe. Cicero selbst aber argumentiert bei der Frage, ob Ansehen (dignitas) oder Beliebtheit (gratia) den Ausschlag bei den Wahlen geben würde, interessanterweise differenzierter: Nur bei den minder wichtigen Wahlen hätten klientelisierte Wähler bzw. die künstlich hergestellte Beliebtheit des Kandidaten den Ausschlag gegeben, während die höchsten Ämter nach dem individuellen Ansehen des Kandidaten vergeben worden seien.261 Cicero hält also fest, dass die vornehme Herkunft bzw. der hohe Prestigewert eines Namens bei den wichtigsten Ämtern eine zentrale Rolle spielt, gerade die Nobilitätsherrschaft sich also nicht vornehmlich über etwaige Nah- und Treubeziehungen erklären lässt, sondern vor allem über das irrationale Vertrauen auf den Klang ehrwürdiger Namen. Cicero erwähnt daher neben dem maxime ambitus als wahlentscheidende Faktoren auch die „plötzliche Eingebung“ (impetus) und die „Willkür“ (temeritas) der Wählerschaft. Gelzer freilich legt den Schwerpunkt auf den einen Satz, der seine „Klientelthese“ stützt, nämlich dass nur diejenigen gewählt werden, die „unermüdlich bitten“. Ein bezeichnendes Beispiel seines strategischen Umgangs mit den Quellen, das durch weitere ergänzt werden könnte. In jedem Fall bleibt fraglich, ob die antiseien. Von einer „effektiven Kontrolle der plebs durch Klientelbeziehungen zu sprechen“ (ebd. 15), lehnt er – zumindest zur Erklärung innenpolitischer Machtverhältnisse – ab. 259 Brunt 1988, 391. Sein Resümee lautet: „[…] that our authorities do not justify the modern hypothesis that the influence exercised by the great aristocratic families at Rome over hordes of dependants was of great significance for the understanding of Roman politics“ (ebd. 400). 260 Gelzer Nob. 1912, 48. 261 Vgl. Cic. Planc. 7 ([…] in eis magistratibus est mandandis quibus salutem suam committi putat).
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ken Quellen genügend Referenzmaterial liefern, um ein „System persönlicher Beziehungen“ als allein ausschlaggebend wahrscheinlich zu machen. Wie wäre so etwa ein Abstimmungsergebnis wie das beim Gracchischen Ackergesetz 133 v. Chr. zu erklären, das von der Plebs als gerecht empfunden, aber gegen den Willen nahezu aller Senatoren war und zustande kam, obgleich die Abstimmung öffentlich war und die patroni sie zu kontrollierten suchten? Gelzers „Klientelthese“ ist bei näherer Betrachtung somit mehr das Resultat einer impliziten, letztlich hypothetischen Theorie als das Ergebnis reiner Quellenexegese. Einmal mehr bewahrheitet sich hier der allgemeingültige Satz, dass es keine Quellendeutung ohne Theorie, keine Darstellung der Antike ohne Transformation derselben geben kann. Und einmal mehr ist daher der Blick auf mögliche biographische bzw. intellektuelle Einflüsse zu richten, um Gelzers Theorie angemessen einordnen zu können. 7.2 Mögliche Einflussquellen der „Klientelthese“ 7.2.1 Gelzers Lebenswelt als Einflussquelle? Bezeichnenderweise hat man zur Erklärung der „Klientelthese“ daher zunächst unter klassisch wissenschaftsgeschichtlichem Vorzeichen auf Gelzers eigene Lebenswelt verwiesen. Er selbst hat in späteren Jahren einmal in einem Brief an Christian Meier proklamiert: Der Historiker, der sich bemüht, aus Quellen geschichtliche Vergangenheit zu vergegenwärtigen, kann das Leben der alten Zeit nur verstehen aus eigener Erfahrung, und so schreitet die Geschichtswissenschaft nicht nur vorwärts durch Erschließen neuer Quellen, sondern ebenso dadurch, daß das Altbekannte mit neuen Augen gelesen wird.262
Inwiefern seine persönlichen Lebenserfahrungen gerade bei der Konzeption der „Klientelthese“ ausschlaggebend waren, ist dennoch fraglich. Gelzers Übertragung von Helvetismen wie „Auszug“263 und vor allem „Regimentsfähigkeit“, ein Wort, das im frühneuzeitlichen Bern und Luzern die exklusive Gruppe der „in den Rat Wählbaren“ bezeichnete,264 auf die soziopolitische Oberschicht Roms zeugt auf 262 Zit. nach Meier 2017, 72. 1930 erklärte Gelzer sogar: „Jede Vergegenwärtigung geschichtlicher Vergangenheit ist subjektiv bedingte Konstruktion.“ (Gelzer Nachruf Meyer 1964 [1930], 330). 1942 schrieb er etwa hinsichtlich seines Caesarbildes: „Selbst in einer Zeit lebend, in der eine politische Ordnung der Erdenwelt im Werden ist, vermögen wir diese Seite Caesars besser zu erfassen als die älteren Generationen.“ (Gelzer Caesar 1943 [1942], 139 f.). 263 Gelzer, der im Frühjahr 1906 in die Rekrutenschule in Liestal einrückte und 1914/5 im „Grenzbesetzungsdienst“ (vgl. Gelzer Mem. 13 und Gelzer Habilitationsakte Freiburg, B0038/360, 14 bzw. 22) tätig war, nutzt zur Beschreibung der römischen Verhältnisse immer wieder Begriffe aus der schweizerischen Militärsprache. Als „Auszug“ bezeichnet er eine Gruppe römischer Ritter und fügt an, dass das „der entsprechende Begriff der schweizerischen Milizarmee“ (Gelzer Nob. 1912, 4) sei. 264 Der Begriff hat seinen Ursprung im Schweizerdeutschen. Gelzer gibt an, er sei ein „in der schweizerischen Eidgenossenschaft des Ancien régime übliche[r] Ausdruck“ (Gelzer Cicero 2014 [1969], 15). Der Begriff ist vor allem im frühneuzeitlichen Bern und Luzern gebräuchlich
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den ersten Blick von einem deutlichen Einfluss eidgenössischer Paradigmata auf sein Denken. Aber dass sie speziell die „Klientelthese“ maßgeblich beeinflusst haben, bleibt eher unwahrscheinlich. Insbesondere Christian Meier hat argumentiert, dass Gelzers eigene Lebenswelt mit der römischen „streckenweise noch vergleichbar war“265. Schon 1966 hatte er in einem Zeitungsartikel zu Gelzers achtzigstem Geburtstag in den „Basler Nachrichten“ auf „häusliche Erzählungen und Lektüre über das bernische Patriziat“ verwiesen, die Gelzer einen „besonderen Sinn für die gesellschaftliche Situation eines aristokratischen Gemeindestaats“266 verliehen und ihm als Anregung für die Entdeckung der römischen Patronagebeziehungen gedient hätten. Später hat Meier dann für seine Ansicht auf ein Gespräch verwiesen, dass er mit Gelzer auf dessen Anwesen auf der Steinägerten, einer Anhöhe des Jura zwischen Basel und Olten, am 4.10.1966 führte. Hier sei Gelzer, gefragt nach der Genese seiner „Klientelthese“, auf die Bedeutung seiner „Kenntnisse vom Berner Patriziat“267 zu sprechen gekommen. Aus zweiter Hand durch die Großmutter habe er von den Erlebnissen seines frühverstorbenen Historiker-Großvaters Johann Heinrich Gelzer erfahren, der nicht nur als Historiker und Berater des Königs Friedrich Wilhelm IV. in Berlin tätig war und unter anderem bei der Reichseinigung diplomatisch mitgewirkt hatte, sondern auch zuvor in den 1830er Jahren in Bern Politiker beriet.268 Dort habe der Großvater „die Patricier über ihre Niederlage in der
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(vgl. Heusler 1920, 271–75 bzw. Tanner 1995, 542 f.). „Regimentsfähig“ ist ein „ständisch, nicht juristisch geprägter Begriff“ (Ungern-Sternberg 1990, 426, 15), weshalb auch die englische Übersetzung mit „eligibility for office“ zu formaljuristisch anmutet. Vgl. dazu jetzt auch: Ungern-Sternberg 2017, 110–112. Gelzer will eine Entsprechung zu seiner Kategorie in Cic. Sest. 97 finden (vgl. Gelzer Nob. 1912, 2, 1). Zwar ist richtig, dass Cicero hier als ein wichtiges Kriterium die Wählbarkeit in den Senat angibt (homines quibus patet curia), aber da Cicero im Folgenden auch libertini zu den Optimaten zu zählen scheint (sunt etiam libertini optimates), stellt sich doch die Frage, ob die Stelle als Beweis für Gelzers These, sein Ausdruck „regimentsfähig“ bezeichne die „Angehörigen von Senatoren- und Ritterstand“, vollkommen taugt. Andernorts verweist er auf honestus als mögliche (nicht exakte) lateinische Entsprechung für „regimentsfähig“ (vgl. Gelzer Nob. 1912, 21). Meier 2017, 80. Dissen meint, dass Gelzers „Klientelthese“ aus seinen Erfahrungen mit der Schweizer Konkordanzdemokratie herrührt. Die „vertikale Integration der [= Basler, Anm. S. St.] Eliten“ (Dissen 2009, 106) entspräche dabei angeblich den römischen Nah- und Treuverhältnissen. Bleicken bleibt demgegenüber skeptisch (vgl. Bleicken 1977, 26 f.). Meier 1966, 19. Auf die Schweizer Lebenswelt als hilfreich für das Verständnis der besonderen „Gemeindestaatlichkeit“ Roms verweisen auch Badian 1967, 222 und Jehne 2006, 5. Karl Christ sieht in diesem Zusammenhang sogar eine potentielle Forschungsfrage aufscheinen: „Es wäre eine lohnende Aufgabe, einmal anhand der Erforschung der Geschichte der Römischen Republik durch Schweizer oder in der Schweiz lebende Historiker – wie J. J. Bachofen, M. Gelzer und Ernst Meyer – die Interdependenzen zwischen dem Leben in einem Kleinstaat mit starker republikanischer Tradition und der Beurteilung der Römischen Republik aufzuzeigen.“ (Christ 1982, 50). Meier 1977, 33. Für Gelzers Lobpreis auf Johann Heinrich Gelzer als einen „tiefblickenden Kenner der Geschichte und Betrachter der politischen, sozialen und geistigen Entwicklung des 19. Jahrhunderts“ vgl. Gelzer Mem. 42 bzw. den ehrfürchtigen und insbesondere auf dessen „Deutschtum“ abhebenden Verweis in seinem Curriculum Vitae (vgl. Gelzer Habilitationsakte Freiburg,
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Revolution 1830 ‚trösten‘ müssen. Sie hätten sich aufgrund der Einführung des allgemeinen Wahlrechts aus der Politik zurückgezogen. Großvater Gelzer aber hatte gefunden, daß sie das gar nicht nötig gehabt hätten. Mithilfe ihrer Gefolgschaften hätten sie ja Mehrheiten gewinnen können.“269 Die Verwunderung des Großvaters darüber, dass sich die Berner Patrizier 1830/31 nach Einführung des allgemeinen Wahlrechts aus der Politik zurückzogen, obgleich sie doch mit Hilfe ihrer Anhängerschaft auch bei allgemeinen Wahlen beste Aussichten gehabt hätten, die politische Macht zu behaupten, so gibt Meier an, inspirierte dann den jungen Gelzer zu seiner „Klientelthese“. Die in diesem Falle sogar doppelte mündliche Überlieferung birgt für den Historiker selten ein beweiskräftiges Argument. Aber auch der Umstand, dass der Gelehrte seine These so herleitete, wie Meier beschreibt, räumt nicht den Verdacht aus, dass er mit der Anekdote rückwirkend synchronisieren wollte, was bei näherer Betrachtung nicht recht zusammenpasst. Denn auch wenn Berner Patrizierfamilien (den römischen Aristokraten ähnlich) nach Einführung des allgemeinen freien Wahlrechts 1830/31 und vor allem nach Abschaffung ihrer rechtlichen Ständeprivilegien nach 1848 bis zum Ersten Weltkrieg in der Tat ihre soziale Macht behaupten konnten, so waren ihre Integrationsmittel doch sehr verschieden von denen in Rom. Während die nobiles nämlich allein in der Ausübung des politischen Amts das zentrale Mittel sahen, um als soziale Gruppe weitgehend homogen und faktisch mächtig zu bleiben, basierte die andauernde gesellschaftliche Hegemonie der großbürgerlichen Berner Patriziats gerade nicht auf einer Teilhabe am politischen System, sondern auf ihrer wirtschaftlichen Stellung und ihrer durch bestimmte Rituale gekennzeichneten Lebensform.270 Auch in Basel, Gelzers Heimat, blieben die Patrizier gerade nach dem Ende des sog. „Ratsherrenregiments“271 1875 sozial mächtig und einflussreich. Es herrschte B0038/360, 8). Aufschlussreich ist auch eine Passage in einem Brief vom 6.8.1938 an seinen Bruder Heinrich Gelzer: „Durch die Lektüre des Tagebuches von Groß-Papa G. und außerdem der Briefe von Großmama an ihre Schwester Wackernagel sind mir im letzten Jahr die alten Zeiten noch besonders nahe gerückt […] Die Niederlegung seiner Profession im J. 1850 war für ihn allerdings ein sehr folgenreicher Schritt; der Abschied von einem wirklichen Beruf, und darunter litt er innerlich doch sehr. Die Dienste, die er dem Großherzog zu leisten hatte, füllten ihn keineswegs aus. Er selbst hielt es für seine Aufgabe, der deutschen Nation ein Wort zu sagen, auf geistig-geistlichem Gebiet ein ‚Bismarck zu werden‘, wie Großmama ihm einmal sagte. Während der Hofgespräche wartete er immer auf die Stunde der Erleuchtung, die ihm dazu die Kraft schenken sollte – und sie kam nie! Das ist geradezu erschütternd, zu verfolgen.“ (Gelzer-Nachlass Basel, Dossier PA 756 E 13,2). Auch in seinem Brief an Friedrich Meinecke vom 2.1.1942 schwärmt Gelzer von der Lektüre der Tagebücher seines Großvaters, aus denen er gelernt habe, „daß schon in den 1860er und 70er Jahren viel mehr ernste Menschen in Deutschland die große Krise sahen, nicht nur Jac. Burckhardt und Nietzsche, wie die heutige fable convenue meint“ (Meinecke-Nachlass Berlin, VI. HA Nr. 12, 29). 269 Meier 2017, 69 f. 270 Vgl. Tanner 1995, 518 f. bzw. 526–529. Als „Pariakaste“ (ebd. 528) manövrierten sie sich selbst ins politische Abseits. Nur wenige gemäßigte Patrizier, die sich zum Liberalismus bekannten, gelangten zu hohen Ämtern, wurden dann aber als Strafe auch beispielsweise nicht mehr zu patrizischen Bällen zugelassen. 271 Sarasin 1997, 117.
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auch hier wie in der römischen Republik ein struktureller Widerspruch zwischen einer staatsrechtlichen Gleichheitsnorm und dem faktisch andauernden Prestigewert einer sozialen Oberschicht. Aber – und das ist der gewichtige strukturelle Unterschied – die Integrationsmechanismen waren eben nicht vergleichbar. Die Basler und Berner Patrizier blieben sozial mächtig, obgleich sie (sieht man von den fortbestehenden „Burgergemeinden“ ab)272 keine wesentliche Rolle mehr auf der politischen Bühne einnahmen. Deshalb spielten für sie auch Patronage-Beziehungen, die Wählerstimmen sicherten, keine entscheidende Rolle. Bedeutsam für den andauernden Prestigewert der Berner wie Basler Patrizier war einerseits ihre ökonomische Basis, andererseits ihr symbolisches Kapital, das sie durch Sprache, Gesten und Familienzugehörigkeit zur Schau stellten. Die Dimension des Symbolischen ist Gelzers Analyse jedoch fremd. Er ist im Wesentlichen auf die instrumentelle Funktion sozialer Interdependenzen konzentriert, die der Oberschicht Roms ihre politische Macht dauerhaft sicherten. Die Anekdote, die er Christian Meier in seinem Landhaus erzählte – obgleich autobiographisch legitimiert – gibt keinen letztgültigen Hinweis für die Herleitung von Gelzers besonderer Gesellschafts-Konzeption. Gelzer hat in seinen „Memorabilien“ zwar grundsätzlich angegeben, dass er als Schweizer „einen natürlichen Vorsprung“ habe, sich „die Verhältnisse der römischen Republik anschaulich vorzustellen“273, aber dabei nicht explizit auf seine „Klientelthese“ verwiesen. Der Hinweis auf die Berner Erfahrungen seines Großvaters fehlt hier in auffälliger Weise.274 Womöglich hat er mit der besseren „Anschaulichkeit“ auch viel eher auf seine eigene Erfahrung hinsichtlich der besonderen Wirkkraft von „Kenntlichkeit“ bzw. auf seine eigene privilegierte soziale Herkunft anspielen wollen. Er, dessen Familie ins Basler Patriziat eingeheiratete hatte, der sich selbst der „‚vornehmen‘ Bürgerschicht“275 und „akademischen Nobilität“276
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Vgl. dazu Rieder 2008, 35–211. Gelzer Mem. 8. Das muss auch Christian Meier konzedieren (vgl. Meier 1977, 33, 12). Gelzer Mem. 3. Vgl. auch ebd. 15. Strasburger 1975, 818. In diesem Zusammenhang gewinnt auch Gelzers emphatisch geäußerte These, dass die nobiles gleichzeitig „die Höchstgebildeten“ (Gelzer Nob. 1912, 70) seien und somit ein Aufstieg durch Bildung möglich sei, eventuell eine besondere Bedeutung. Voller Stolz berichtet er von einem Fackelzug am 27.1.1925, den seine Studenten vor seiner Frankfurter Wohnung in der Westendstrasse 95 organisierten, um seine Ablehnung des Heidelberger Rufes zu feiern (vgl. Gelzer Mem. 38). Gelzer hegte durchaus Sympathie für eine gewisse Form der „Bildungsaristokratie“ (vgl. ebd. 104). Die „Aristokratie der Geburt“ durch eine „Aristokratie der Bildung“ auszutauschen, war das generelle Bestreben des liberalen Schweizer Bürgertums (vgl. Tanner 1995, 521). Zu Gelzers Familie gehörten führende Basler Gelehrte und Politiker – Christian Meier verweist am Rande auf Gelzers „Erfahrungen aus der Professoren-Oligarchie“ (Meier 1977, 46, 69), die ihm geholfen hätten, die Regierungsweise der römischen Optimatenpolitik zu verstehen. In Gelzers Curriculum Vitae heißt es: „Die Eindrücke, die ich im Elternhause empfing, sind für meine geistige Entwicklung in vieler Hinsicht bestimmend geworden.“ (Gelzer Habilitationsakte Freiburg, B0038/360, 8). In einem Brief an Karl Meuli bezeichnet Gelzer 1940 den „Abscheu vor dem Radikalismus“ als eine „spezifisch baslerische Färbung“ (vgl. Meuli-Nachlass Basel, F 280, 3).
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zuzählte, sich als „Besitzbürger“277 und „konservative Natur“278 bezeichnete, hegte auch in seinen persönlichen politischen Ansichten Sympathien für soziale Hierarchien und eine privilegierende Form der politischen Herrschaft. Von Revolution und Klassenkampf hielt er grundsätzlich wenig.279 Stattdessen kritisierte er jene modernen Gesellschaftstheorien scharf, die jegliche Form der Unterschiede und Privilegierungen auslöschen wollten. In einem „Zusatz von 1970“ in Gelzers „Memorabilien“ heißt es etwa in Bezug auf die sozialistischen Tendenzen in Folge des Ersten Weltkriegs: „Der Begriff ‚Demokratie‘ reduzierte sich mehr und mehr auf die Gleichheit und drängt im Sozialismus auf die Einebnung aller Rangunterschiede, besonders der geistigen.“280 Gelzer ist im Tiefsten davon überzeugt, dass eine Gesellschaft nicht absolut gleich sein kann, sondern dass „Rangunterschiede“ gewahrt werden müssen.
277 Gelzer Mem. 79a. 278 Ebd. 29. Gelzer war lange Zeit Mitglied der deutsch-nationalen Volkspartei (DNVP), aber wohl kein Anhänger der Nationalsozialisten, denen er (freilich erst 1949) „Torheiten und Bestialitäten“ (ebd. 13) vorwarf. Er war in der „Bekennenden Kirche“ aktiv und versuchte, sich so gut es ging mit den neuen Machthabern zu arrangieren. Einem Kollegen aus der „Bekennenden Kirche“ bemerkte er nach dem Krieg: „Ich meinte, mit dem Hakenkreuz sei es ähnlich wie mit dem Götzenopferfleisch in Korinth, worüber Paulus sagte, man könne es essen, wenn man die Götzen für ohnmächtige Machwerke halte.“ (ebd. 88 A4). Hier und da ist (nach dem Zweiten Weltkrieg) ein antisemitischer Unterton auszumachen: „Ich bin überzeugt, dass die Methoden, das ganze deutsche Volk, nicht nur die wirklichen NS-Verbrecher, mit unaufhörlichen Nachforschungen zu quälen, hauptsächlich von Emigranten und ihren Stammesgenossen ersonnen wurden.“ (ebd. 64). Allerdings distanziert er sich in seinem Nachruf auf Friedrich Münzer 1953 auch eindeutig vom „Hitlerschen Rassenwahn“ (Gelzer Nachruf Münzer 1964 [1953], 345). Nicht nur in seinen „Memorabilien“, sondern auch in den (unter anderem in Basel, Koblenz und Berlin archivierten) Korrespondenzen Gelzers geht es auffallend häufig um die „Bekennende Kirche“. Gelzer berichtet ausführlich von Synodensitzungen und schimpft auf den „Barth-Kult“. „Theologisch werde ich immer mehr Pietist“, schreibt Gelzer auf einer Postkarte vom 26.5.1946 an seinen Bruder Heinrich (vgl. Gelzer-Nachlass Basel, Dossier PA 756 E 13,2). Von seiner Sehnsucht nach einer „Volkskirche“ zeugt ein Brief an seine Geschwister vom 21.12.1936 (vgl. Gelzer-Nachlass Basel, Dossier PA 756 E 13,2). 279 Für Gelzers (wohl von seinem Vater Karl Gelzer übernommene – vgl. dazu Meier 2017, 62) Abneigung gegenüber der Französischen Revolution und ihrer „Gleichheitsdoktrin“ vgl. Gelzer Staat und Bürger 1964 [1955], 15. Über den Lebenslauf und die literarisch-historischen Interessen von Karl Gelzer, der seit 1897 der St. Albankirche in Basel vorstand, gibt einen Überblick Stockmeyer 1923, 1–13. In seinen „Memorabilien“ gibt Matthias Gelzer an: „[…] die konstitutionelle Monarchie war mir im Gegensatz zu den Lehren der französischen Revolution eine erfreulic[he] Staatsform“ (Gelzer Mem. 16). Revolutionen sind ihm grundsätzlich „unheimlich“ (ebd. 22), er spricht von der „Nichtigkeit des Fortschrittsglaubens“ (ebd. 46). Grundsätzlich sieht er die politische Entwicklung im 20. Jahrhundert pessimistisch: „Meine Grundstimmung ist die, daß es immer schlechter wird“ (ebd. 31), schreibt er schon relativ zu Beginn seiner „Memorabilien“. Vgl. zu Gelzers politischer Einstellung generell auch Ridley 1986, 478 bzw. Strasburger 1975, 819. Dass er in seiner Demokratieskepsis von Tocqueville oder Fustel beeinflusst sein könnte, ist eine Vermutung wert (siehe unten). 280 Gelzer Mem. 30. Vgl. dazu auch ebd. 79a und Gelzer Römertum Kulturmacht 1962 [1923], 270. Für Gelzers Skepsis gegenüber der Demokratie, die es auf die „Vernichtung jeglicher Standesvorrechte“ absehe, siehe auch Ridley 1986, 478.
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Mitunter scheint Gelzers politische Gesinnung auch die Sichtweise auf seinen historischen Gegenstand zu beeinflussen, etwa wenn er seinen deutlichen Widerwillen gegen den sozialistischen „Sozialstaat“ in Invektiven gegen ein durch freie Getreideverteilung künstlich am Leben gehaltenes „Parasitentum“ in Rom kleidet: Diese Hunderttausende waren keine fleißigen Industriearbeiter, welche durch ihre produktive Tätigkeit für das Staatsganze sich ein Anrecht auf ihren Lebensunterhalt erwarben, sondern Leute, die mit geringster Anstrengung möglichst von ihrem römischen Bürgerrechte leben wollten. Man darf wohl annehmen, daß unter dem milden Himmel des Südens manch einer sein Leben fristen konnte mit den Spenden des Staates und mit denen der Privaten, welche zu Wahlund Abstimmungszwecken immer reichlicher verteilt werden mußten. Die vielberufene Souveränität des populus Romanus entartete zu dem Anspruch des arbeitsscheuen proletarischen Bürgers, daß die Einkünfte des Reichs und die Politik, wie er sie in den Volksversammlungen machte, ihn nähren müßten.281
Für staatliche Wohlfahrt und Sozialfürsorge hatte der Basler Großbürger nicht viel übrig. In jungen Jahren hatte er geradezu ein Faible für den Adel, wie man etwa seinen wohlwollenden Beschreibungen des „pommerschen Junkers“282 entnehmen kann, bei dem er während seiner Greifswalder Zeit häufig zu Gast war. Gleichwohl schlägt seine zutiefst bürgerliche, leistungsethische Gesinnung immer wieder durch: „Der Gedanke, durch irgendeine ehrliche Arbeit Geld zu verdienen, taucht bei diesen Herren [der Nobilität, Anm. S. St.] gar nicht auf“283, schreibt er einmal entrüstet über die dem „Rentnerideal“ frönende Nobilität der Kaiserzeit. Dass Gelzer sich die eigene Gegenwart mitunter in Rom spiegeln ließ, die Sehnsucht nach Analogien sein Differenzbewusstsein immer wieder überlagerte, belegen auch einige Stellen in seinem (nach dem Ersten Weltkrieg erschienenen) Werk, in denen er Parallelen zu aktuellen politischen Geschehnissen zieht: Wenn er zum Beispiel die Lage in den römischen Provinzen mit den „neuerdings […] nach Kriegsrecht besetzten Gebieten“284 vergleicht oder die gracchische Getreidepolitik mit „sozialen Fürsorgemaßnahmen“285 in der Gegenwart in Verbindung bringt, dann dient ihm Rom als Chiffre für bestimmte politische Stimmungen seiner eigenen Zeit. Am „Römertum“ lobt Gelzer dann vor allem den streng „konservativen Charakter“286. Hier sieht er sein Ideal einer Bürgerrepublik vergegenwärtigt, in der Politik die Sache eines jeden sei. In seiner Frankfurter „Rektoratsrede“ von 1924 heißt es zum Schluss überschwänglich: „Möchten wir nicht eine res publica haben, einen Staat, der Sache des ganzen Volkes ist, an dessen Dasein jeder tätig teilnimmt
281 Gelzer Röm. Ges. Cic. 1962 [1920], 176. 282 Gelzer Mem. 19. Gelzer lehrte vom August 1915 bis September 1918 in Greifswald, wo er in der Bahnhofstraße 52 residierte (vgl. Brief vom 19.5.1918 an seinen Bruder Heinrich, Gelzer-Nachlass Basel, Dossier PA 756 E 13, 2). 283 Gelzer Nob. d. Kaiser. 1962 [1915], 152. Skeptisch gegenüber dem „Adel“ klingt auch Gelzer Ägypten 1909, 35. 284 Gelzer Rektoratsrede 1962 [1924], 241. 285 Gelzer Röm. Ges. Cic. 1962 [1920], 176. 286 Ebd. 157.
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und auf den er stolz ist?“287 Die Emphase liegt auf der gemeinschaftlichen Tat, der Leistung für das Gemeinwesen. Denn Rom, das ist für Gelzer vor allem der Traum von einer engagierten Bürgerlichkeit, vom Pflichtbewusstsein jedes Einzelnen für das Gemeinsame.288 Gelzer, der sich selbst ein „republikanisches (im Sinne der römischen ‚res publica‘!) Verantwortlichkeitsgefühl“289 zuschrieb, vom „Bürgertum“ nur mit großer Ehrfurcht sprach,290 war im Tiefsten ein Anhänger der römischen Eigenart, soziales Prestige und politisches Engagement aneinander zu koppeln.291 Ihm war der Gedanke, denjenigen, der sich politisch engagierte, auch sozial zu privilegieren, sehr plausibel. In diesem Sinn war Roms Aristokratenrepublik ihm in der Tat nahe. Das „Klientelwesen“, sein zentraler Fund, bot dagegen keine direkte Parallele zu seiner persönlichen Lebenswelt. Meiers These, dass der „patrizisch dominierte[n] Schweizer ‚Gemeindestaat‘“292 als Hintergrund für Gelzers Thesenbildung gedient haben könnte, lässt sich außer mit dem Verweis auf den oben zitierten, recht unspezifischen Satz aus den „Memorabilien“ und den quellenkritisch zumindest nicht unproblematischen Überresten einer Oral History zumindest nicht eindeutig belegen. Zur Herleitung seiner „Klientelthese“ ist deshalb als nächstes Gelzers Lektüreerfahrung heranzuziehen. Zwar können auch hier bestenfalls Wahrscheinlichkeiten behauptet werden, aber zumindest als komplementäre Spur neben dem autobiographischen Argument hat eine solche Untersuchung seine Berechtigung. 7.2.2 Max Webers „Agrarverhältnisse im Altertum“ als Einflussquelle? Darauf, dass Max Webers 1908 erschienene „Agrarverhältnisse im Altertum“293 schon „wichtige Elemente seiner [ergo: Gelzers, Anm. S. St.] Thesen zum Klientelwesen vorwegnahmen“294, hat schon Aloys Winterling verwiesen. Allerdings vermu287 Gelzer Rektoratsrede 1962 [1924], 246. Vorher schwärmt er auch von der „römischen Herrlichkeit“ (ebd. 232). Den „Stolz“ auf Deutschland zu verteidigen, fühlte sich Gelzer insbesondere mit Blick auf „die Würdelosigkeit, mit der die Mehrheit des deutschen Volkes die Niederlage von 1918 hinnahm“ (Gelzer Mem. 79a) verpflichtet. 288 Vgl. z. B. Gelzer Besprechung Schulz 1962 [1935], 289. 289 Gelzer Mem. 31. Einen Brief an Christian Meier unterzeichnet er mit den Worten: „Also seien Sie […] aufs herzlichste gegrüßt von Ihrem alten ‚Republicaner‘ M. Gelzer.“ (Meier 2017, 69). Simon spricht von Gelzers „konservative[m] Republikanismus“ (Simon 1988, 225). 290 Vgl. z. B. Gelzer Mem. 43. Die Kaiserzeit hingegen, in der das politische Amt nicht mehr „eine von der Bürgerschaft verliehene ‚Ehre‘, sondern ein dem Kaiser zu leistender ‚Dienst‘ ist“, womit jede Form des „bürgerlichen Verantwortlichkeitsgefühls“ (Gelzer Rektoratsrede 1962 [1924], 245) verloren geht, ist nicht sein Ideal. Vgl. dazu auch Gelzer Besprechung Schulz 1962 [1935], 289. 291 Vgl. dazu Christian Meiers eingängige Formulierung: „Der Anspruch auf dignitas, das heißt auf Ehre und gesellschaftliche Geltung war tief und gründlich auf den Staat bezogen […] Wer Politik trieb, gehörte zum Adel, und wer zum Adel gehörte, trieb Politik.“ (Meier 1980, 46 f.). 292 Meier 2017, 62. 293 Der Artikel erschien, so kann Winterling nachweisen, nicht wie gemeinhin angegeben erst 1909, sondern „bereits vollständig mit der 2. Lieferung der 3. Auflage des ersten Bandes des Handwörterbuches der Staatswissenschaften am 3. April 1908“ (Winterling 1989, 401). 294 Winterling 2012, 147. Ebenso schon Winterling 2001b, 447.
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tet er, dass Gelzer seine „Nobilität“ wohl ohne Kenntnis der Weberschen Arbeit geschrieben habe. Demgegenüber spekuliert Christian Meier, dass Gelzer Max Webers „Agrarverhältnisse“ tatsächlich gelesen haben könnte. Nicht nur Webers Bemerkung in einem Brief über die fortschrittlichen „Leipziger Dissertationen der Schüler Wilckens“, sondern auch „eine Formulierung aus einer Besprechung, die 1911 erschien, könnte es nahelegen“295, meint Meier. Die Besprechung, auf die er sich hier bezieht und die unglücklicherweise nicht in den zweiten Band der „Kleinen Schriften“ aufgenommen wurde, ist Gelzers Rezension von Michael Rostovtzeffs „Studien zur Geschichte des römischen Kolonats“, die 1911 in der „Byzantinischen Zeitschrift“ erschien.296 Die „Formulierung“, auf die Meier anspielt, lautet: „[…] die Erkenntnis der agrarhistorischen Zusammenhänge ist Voraussetzung für das Verständnis der allgemeinen wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung des Altertums“297. Ein etwaiger Einfluss von Max Weber auf Gelzers „Klientelthese“ ist aber trotz allem bloße Vermutung. Erst 1926 rezensierte Gelzer Webers postum erschienene „Gesammelte Aufsätze“, in die auch die frühen althistorischen Arbeiten aufgenommen worden waren. Hier lobte er die „anregende Kraft“ der „Agrarverhältnisse“, die eine eindrucksvolle „soziologische Durchleuchtung der Quellen“ biete, aus der „noch auf lange Zeit reiche[r] Gewinn“ gezogen werden würde.298 Dass Webers Analyse ihn aber selbst bei seiner „Klientelthese“ beeinflusst habe, dazu macht Gelzer keine Angaben. Er vermeidet bei seiner Inhaltsangabe sogar den Hinweis auf eine der aufschlussreichsten Passagen in Webers Studie: Die Ausführungen zum römischen Bindungswesen.299 Weber unterscheidet wie Gelzer zwischen einer alten, strikteren Form des Klientelverhältnisses, bei der der Patron alles und der Klient „ohne den Herrn nichts und gegen ihn vollends gar nichts ist“300, und einer neueren, „freieren“ Form der Klientel, die stärker die Reziprozität des Verhältnisses ins Zentrum stellt, auch die Vorteile der Klienten in Hinsicht auf Prozessbeistand und Hilfe in ökonomischen Notfällen ins Auge fasst. Interessant ist, dass der junge Nationalökonom Weber im Zusammenhang mit den Pflichten der Klienten gegenüber den patroni sowohl bei alter als auch neuer Form eine einseitig ökonomische Nutzbarmachung der Bindungsverhältnisse ausschließt. Zwar seien die Klienten in Notfällen zu finanzieller Unterstützung und möglicherweise gelegentlicher Tributzahlung verpflichtet, aber dass sie allein ihre wirtschaftliche Arbeitskraft einsetzten wie Sklaven oder Freigelassene, zieht Weber in Zweifel. Stattdessen sieht er die Bedeutung der Klienten für ihre Herren zunächst vor allem in der Ehrerbietung und in der Heeresfolge im Krieg. 295 Meier 2017, 63. Meier hält es außerdem nicht für „unwahrscheinlich“, dass später dann auch „Weber von Gelzers ‚Nobilität‘ gelernt“ (ebd.) habe. 296 Vgl. Gelzer Besprechung Rostovtzeff 1911, 519–522. 297 Ebd. 519. In einem Brief vom 23.2.2016 bestätigte mir Christian Meier, dass diese Stelle gemeint sei. 298 Vgl. Gelzer Besprechung Weber 1926, 550 f. 299 Vgl. Weber 1988 [1908], 202–209. 300 Ebd. 203. Wenig später spricht er von einer „völlige[n] Unselbständigkeit des Klienten“ (ebd. 206). Weber wendet sich klar gegen die (unter anderem von Mommsen vertretene) These, nach der Plebejer und Klienten „ursprünglich dasselbe sind“ (Ebd. 207).
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Hier, in „der alten Zeit“, sei ihre Rolle der des mittelalterlichen „Knappen“301 vergleichbar gewesen, der von seinem Herrn ausgerüstet wird und deshalb unselbständig bleibt. Als dann in neuerer Zeit das Heer zum bürgerlichen Hoplitenheer umstrukturiert wurde, der Klient seine militärische Bedeutung verlor, änderte sich auch das Wesen des Klientelverhältnisses insgesamt. Jetzt nahm laut Weber die „politische Bedeutung“302 der Klienten zu, die in der späten Republik „die Basis für jene Stellung des römischen Amtsadels bildeten, den in aller Geschichte niemals wieder ein Adel eingenommen hat“, und daher „für die Herrenstellung des Amtsadel[s]“303 fundamentale Bedeutung besessen hätten. Nicht nur die Wortprägung „Amtsadel“, die auch bei Gelzer später auftaucht, ist hier augenfällig. Auch der Verweis auf die Einzigartigkeit der Machtfülle der römischen nobiles insbesondere im Vergleich mit der englischen gentry im 18. Jahrhundert findet sich dann später auch bei Gelzer. Allerdings – und das ist entscheidend – versteht Weber die „politische Bedeutung“ der Klienten nicht im Sinne eines wahlsichernden Stimmvolks.304 Zwar spricht er wiederholt von ihnen als Basis für die Machtstellung der nobiles, scheint damit aber vor allem die stadtübergreifenden Beziehungen zu meinen, die aus persönlichen Patronatsbeziehungen einzelner Familien über fremde Gemeinwesen entstanden und Rom so im Zustand eines „halbfeudalen Gebildes“305 verharren ließen. Die These, dass Klienten in den Volksversammlungen für ihre patroni gestimmt und ihnen die Macht so gesichert hätten, überzeugt Weber nicht recht, schon, weil man nicht genau wisse, „wie und wann die Klienten in die Stimmkörper der Bürgerschaft gekommen sein können“306. Weber verweist nur für die Frühzeit auf die instrumentelle Funktion der Klienten.307 Ansonsten scheint Weber eine Machtsicherung durch Steuerung des politischen Entscheidungsprozesses in den Komitien eher für unwahrscheinlich zu halten. Wenn er behauptet, dass „die Grundlage der Macht der großen Amtsadelsgeschlechter ‚demokratische‘ Beschlüsse der Komitien nicht zu erschüttern vermochten“308, dann heißt das auch, dass Weber die faktische Macht der nobiles unabhängig von klientisierten Wählermassen plausibel erscheint. Die These einer politischen Instrumentalisierung des Bindungswesens jedenfalls taucht interessanterweise in seiner Studie über die „Agrarverhältnisse des Altertums“ nicht auf. Gelzers „Klientelthese“ kann somit nicht von Weber hergeleitet werden, der hier im Gegenteil einmal mehr ein genaues historisches Gespür für die durchaus irrationalen (nicht funktionalen) Zusammenhänge einer vormodernen Adelsherrschaft beweist. 301 302 303 304 305 306 307 308
Ebd. 206. Ebd. 206. Ebd. 207. Vgl. dazu auch Meier 1980, 62, wo Webers Überlegung zur „politischen Patronage“ in Rom ebenfalls im Zusammenhang mit Gemeindepatronaten und nicht mit klientelisierten Wählerblöcken diskutiert wird. Weber 1988 [1908], 207. Ebd. Vgl. ebd. 208. Ebd. 207.
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VI. Am Wendepunkt? Kontinuitäten und Brüche in Gelzers „Nobilität“
7.2.3 Alexis de Tocquevilles „L’ancien régime et la révolution“ als Einflussquelle? In seinem dem Habilitationsgesuch beigefügten Curriculum Vitae beschreibt der junge Gelzer, wie er sich schon in seiner Jugend für die alte Ständeordnung begeistern konnte und wie unsympathisch ihm jene neumodischen Gleichheitsparolen gewesen seien, die als Resultat einer überschwänglichen Verherrlichung der Französischen Revolution auch von einigen Lehrern an seiner Schule proklamiert wurden: „Als Junge hatte ich mich für die vaterländische Geschichte begeistert. In Reaktion gegen die widerwärtige Geschichtsfälschung der freisinnigen Schulmeister galt meine Liebe dem ancien régime.“309 Gestillt fand Gelzer seine Sehnsucht nach „der alten Zeit“ in den Studien des französischen Historikers und Staatsmanns Alexis de Tocqueville, den er schon seit frühster Jugend heftig verehrte und dessen 1856 erschienene Abhandlung „L’ancien régime et la révolution“ ihn nach eigenen Angaben überhaupt erst zur Arbeit an der „Nobilität“ inspiriert hatte.310 In seinen „Memorabilien“ gibt Gelzer an, dass hier sein Interesse für die „Gesellschaftsgeschichte“ ursprünglich geweckt worden sei: „Mein Blick dafür war mir (zunächst unbewußt) dadurch geschärft worden, daß ich in St. Aubin an Alexis de Tocquevilles’ letztes Meisterwerk L’ancien régime geraten war.“ Erst bei der Beschäftigung mit dem französischen Historiker sei ihm klargeworden, „wie das Funktionieren einer politischen Verfassung durch die jeweilige soziale Struktur bedingt ist“311. Eine so eindeutige Quellenangabe ist für Gelzer außergewöhnlich und lohnt daher zumindest einer kursorischen Nachprüfung. Was war es genau, das der junge Gelzer von Tocqueville hatte lernen können? Die zweite große Studie des französischen Adligen behandelt (nach seiner berühmten Untersuchung über die Demokratie in Amerika) die unmittelbare Vorgeschichte der Französischen Revolution. Geschrieben, um die Enttäuschung über das Scheitern seiner politischen Karriere (1849 hatte Tocqueville kurzzeitig das Amt des Außenministers inne) zu überwinden, stellt sie – nicht in einer ereignisgeschichtlichen Chronologie, sondern problemorientiert – zentrale politische und soziale Voraussetzungen wie etwa das ungerechte Steuersystem, die zentralistische Administration oder aufgeklärte Philosophie als Ursachen der Revolution dar. Tocqueville argumentiert dabei gegen die Annahme eines allzu großen Strukturunterschieds zwischen Ancien Régime und Revolutionszeit und geht stattdessen von ei309 Gelzer Habilitationsakte Freiburg, B0038/360, 10. 310 Vgl. ebd. 17. Christian Meier gibt an, dass Gelzers Tocqueville-Lektüre „schon für 1905 bezeugt“ (Meier 2017, 63) sei. 311 Gelzer Mem. 8. Vgl. auch ebd. 29; 30; 78. Auf Tocqueville verweist auch Bleicken 1977, 26. Und auch Christian Meier hatte in seinem Geburtstagsgruß 1966 schon neben dem Verweis auf „Traditionen der Göttinger Schule des 18. Jahrhunderts“ auf Tocqueville als Impuls verwiesen (vgl. Meier 1966, 19). Zur „Göttinger Schule“ und damit zur Tradition der historisch-kritischen Methode der Geschichtswissenschaft vgl. Muhlack 1988, 163 f. Allerdings ist ihr neben der kritischen Grundhaltung gegenüber den Quellen durchaus noch ein „ethisch-praktischer Wert“ (ebd. 169) der Geschichtsschreibung wichtig. In welchem genauen Sinn Meier auf die „Göttinger Schule“ anspielt, bleibt unklar.
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ner starken Kontinuität in sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht aus.312 Die Analyse ist durchzogen von einer gewissen Skepsis gegenüber dem demokratischen Gesellschaftszustand mit seinem absoluten Gleichheitspostulat, wenn sie auch die geschichtliche Notwendigkeit der Revolution theoretisch anerkennt.313 Tocqueville, dessen Eltern während der Revolution nur knapp dem Tod auf dem Schafott entrinnen konnten, sieht mit der Vernichtung der ständisch geprägten Gesellschaftsordnung, dem Niedergang des französischen Adels und der Forderung nach allumfassender Gleichheit eine unnatürliche soziale Nivellierung und Individualisierung einhergehen: „Die Menschen sind nicht mehr durch Kasten, Klassen, Korporationen und Geschlechter miteinander verbunden und sind daher nur zu sehr geneigt, sich bloß mit ihren besonderen Interessen zu beschäftigen, immer nur an sich selbst zu denken und sich in einen Individualismus zurückzuziehen, in dem jede öffentliche Tugend erstickt wird.“314 Tocquevilles Warnung vor den individualistischen Konsequenzen einer radikalen Demokratisierung scheint auch den jungen Gelzer beeinflusst zu haben. Dieser macht in seinen „Memorabilien“ aus seiner Abneigung gegenüber den Liberalisierungstendenzen der Französischen Revolution nie einen Hehl.315 Der moderne Individualismus ist ihm, der sich selbst nach einer „res publica, eine[m] Staat, der Sache des ganzen Volkes ist“316 zurücksehnte, eine Verfallserscheinung. Mitunter bezieht sich Gelzer auch pauschal auf Tocqueville, um seine konservative Haltung zu rechtfertigen.317 Auch Tocquevilles Utopie „einer materiell abgestuften Gesellschaft mit einer natürlichen, starken Geistesaristokratie an der 312 Vgl. z. B. Tocqueville 1969 [1856], 7 bzw. ebd. 61 [die Taschenbuchausgabe gibt die deutsche Übersetzung der 1964 erschienen Gesamtausgabe wieder]. Dass er sich mit dieser These speziell gegen den „Revolutionsmythos“ von Michelet und Blanc richtete, argumentiert Pelzer 1997, 645. Tocquevilles positive Einschätzung der wirtschaftlichen und politischen Fortschrittlichkeit des Ancien Régime musste von den liberalen Historikern seiner Zeit als Provokation empfunden werden. 313 Zu Tocquevilles vielschichtigem Demokratieverständnis vgl. Freund 1974, 25–27. Für Skepsis gegenüber dem „Gleichheitspostulat“ vgl. etwa Tocqueville 1969 [1856], 139; 142; 179. 314 Tocqueville 1969 [1856], 12. Vgl. auch: „Unsere Väter hatten das Wort ‚Individualismus‘ nicht, das wir für unseren Gebrauch gebildet haben, weil es zu ihrer Zeit allerdings kein Individuum gab, das nicht zu einer Gruppe gehörte und sich als ganz alleinstehend hätte betrachten können.“ (ebd. 89). Vgl. auch die Mahnung, dass man „durch das Fordern zu großer Vorrechte und Freiheiten in zu große Knechtschaft gerät“ (ebd. 128) bzw. die emphatische Wiedergabe von Turgots Klage über ein fehlendes „gemeinschaftliches Interesse“ (ebd. 97). Vgl. dazu auch Arendt 2015, 50. 315 Vgl. etwa Gelzer Mem. 16; 22; 46. 316 Gelzer Rektoratsrede 1962 [1924], 246. Der starke Kollektivgedanke, der die antike „Gesellschaftsordnung“ durchzog, war Gelzer durchaus nahe. Vgl. zur „Kollektivmoral“ des „republikanischen Adels“ in Rom: Hölkeskamp 2004, 79 f. 317 In einem Brief an seinen Bruder Heinrich vom 6.8.1911 heißt es: „Der Anschauung kann keiner beikommen, daß nichts ohne Gottes Willen geschieht. In dieser Hinsicht schließe ich mich ganz Tocqueville an, der überhaupt für mich in seiner ganzen historischen Auffassung einer der größten Geister ist.“ (vgl. Gelzer-Nachlass Basel, Dossier PA 756 E 13,2, womöglich mit Bezug auf: Tocqueville 1969 [1856], 119). Strasburger beschreibt die Tocqueville-Begeisterung geradezu als Familientradition. Schon der Großvater, Johann Heinrich Gelzer, habe Tocqueville, dem er in Sorrent im Frühjahr 1851 sogar einmal begegnet sei, hochgeschätzt: „Der Wi-
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Spitze“318 stand Gelzer wohl nicht fern. Genauso wenig wie zu Tocquevilles pointiertem Traditionalismus, der sich im Verlauf der Abhandlung immer wieder Bahn bricht: „Verachten wir unsere Väter nicht, wir haben nicht das Recht dazu! Wollte Gott, wir könnten mit ihren Vorurteilen und ihren Mängeln ein wenig von ihrer Seelengröße wiederfinden.“319 Jenseits einer prinzipiellen Prägung in Fragen der Weltanschauung, konnte Gelzer hier auch „idealtypische“ Wesensbestandteile einer vormodernen Ordnung kennenlernen. Tocquevilles Begriff von Gesellschaft etwa, der mit einer naturrechtlichen Konnotation davon ausging, dass Menschen von Natur aus die Gemeinschaft suchen und deshalb auch das Engagement für das Gemeinwesen als wichtigste „Bürger-Leistung“ verstehen, „frei demnach nur ist, wer politisch an der Entwicklung des Gemeinwesens partizipiert“320, korrespondierte von Ferne mit der antiken Vorstellung einer politisch definierten Gesellschaft. In der enger gefassten Sache liefert Tocqueville allerdings keinen unmittelbaren Vergleichspunkt, Bezüge auf die Alte Geschichte finden sich in seiner Abhandlung nirgends. Stattdessen scheint aber der generelle methodische Zugriff für Gelzer prägend gewesen zu sein. Tocquevilles selbstverständliche Einbeziehung der sozialen Struktur bei der umfassenden Analyse der politischen Veränderungen, ja sein Bestreben, eben diese durch gesellschaftsgeschichtliche Exkurse zu erklären, scheinen den Althistoriker grundsätzlich beeinflusst zu haben. Das Interesse wie Tocqueville auszurichten nach „den prinzipiellen Fragen der gesellschaftlichen und staatlichen Ordnung“, nach grundsätzlichen Strukturmustern, nicht nach der gradlinigen „Erzählung“,321 diese methodische Ausgangsentscheidung meinte Gelzer wohl, wenn er davon sprach, dass erst durch die Tocqueville-Lektüre sein Interesse für die „Gesellschaftsgeschichte“ geweckt worden sei. Dass er das zweite Großkapitel seiner „Nobilität“ unter die Überschrift „Soziale Voraussetzungen“ stellte, könnte sogar als direkte Referenz auf Tocqueville verstanden werden. In den Schlusskapiteln des zweiten Buches seines „Ancien Régime“ hatte dieser die soziale Rivalität zwischen Bürgertum und Adel als zentrale Voraussetzung der Revolution beschrieben. Während der alte Adel an politischer Bedeutung und Grundbesitz verlor und sich zunehmend zu einer machtlosen „Kaste“ wandelte, die umso stärker auf offizielle Ehrentitel und Privilegien erpicht war, gewannen die wohlhabenden Bürgerlichen mehr und mehr an politischem Einfluss.322
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derwille gegen Revolution und erst recht natürlich deren Begleiterscheinungen, den dann sein Sohn Karl den Enkel Matthias lehrte, ist schon ein Erbstück von ihm.“ (Strasburger 1977, 80). Nissen 2004, 88. Tocqueville 1969 [1856], 107. Nissen 2004, 87. Vgl. dazu auch Tocqueville 1969 [1856], 103. Vgl. Mayer 1969, 263 bzw. ebd. 259. Vgl. Tocqueville 1969 [1856],76 f. bzw. ebd. 81: „Eine Besonderheit Frankreichs scheint es zu sein, daß zur gleichen Zeit, als der Adel so seine politische Macht verliert, der einzelne Edelmann zahlreiche Privilegien erwirbt.“ Dass diese „Besonderheit“ mit Blick auf den römisch-kaiserzeitlichen „Adel“ verblasst, mag Matthias Gelzer aufgefallen sein (vgl. Gelzer Nob. d. Kaiser. 1962 [1915], 150 f.).
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Als Reaktion sonderten sich die beiden sozialen Großgruppen immer stärker voneinander ab, was Tocqueville unter anderem an den fehlenden Eheschließungen zwischen Adligen und Bürgerlichen und den unterschiedlichen Besteuerungsanforderungen festmacht. Zentral ist für ihn, dass beide Gruppen seit einem bestimmten Zeitpunkt „keinen Grund mehr [hatten], sich gemeinsam zu beraten, keinen Anlaß mehr zu gemeinschaftlichen Bedürfnissen und Gefühlen“323. Der Verlust des integrativen Gemeinschaftsgefühls, die „schroffe“324 Trennung innerhalb der Gesellschaft ermöglicht erst die Revolution. Eine Beobachtung, die Gelzer darüber hinaus interessiert, vielleicht sogar inspiriert haben könnte, ist Tocquevilles Hinweis auf die andauernde Prestigehierarchie innerhalb der französischen Gesellschaft, auch nachdem der Adel entmachtet worden war: „Sie [die Adligen, Anm. S. St.] bewahrten auch nach dem Verlust ihrer ehemaligen Macht noch etwas von dem Stolz ihrer Väter, dem die Knechtschaft ebenso zuwider war wie die strenge Regel.“325 Gelzer benutzt eine ähnliche Gedankenfigur, wenn er immer wieder auf die kontinuierliche „Sogkraft des Aristokratischen“, den „aristokratischen Einschlag, der die Praxis beherrschte“326, auch nach den „Ständekämpfen“ verweist. Beide Autoren verbindet eine geschichtsphilosophische Sicht, die mit gewisser Melancholie angesichts des Schwindens traditioneller Hierarchien einhergeht. Natürlich liefert keiner von ihnen eine Apologetik der Ständegesellschaft, aber zumindest stellen beide eine kausale Verbindung zwischen der Auflösung von Hierarchien und ausbrechenden politischen Unruhen und Krisen her: Tocqueville sieht in der „Absonderung der Klassen“ und der Entmachtung des „Adels“ eine der zentralen Ursachen der Französischen Revolution.327 Und Gelzer setzt die ausbrechende Machtgier Einzelner, den verderblichen Individualismus, mit dem Aufstieg der „absoluten Monarchie“ in Beziehung.328 Tocqueville hat einen dialektischen und doch im Tiefsten emphatisch gefassten Begriff von Freiheit – eine „Art unregelmäßiger und vielfach unterbrochener Freiheit, immer auf das abgegrenzte Gebiet der Klasse beschränkt, immer an die Idee von Ausnahme und Privileg geknüpft“ und doch „fruchtbar“329. Dass Tocqueville den jungen Gelzer mit einem solchen Gedanken beeinflusst haben könnte, darf zu323 Tocqueville 1969 [1856], 83. 324 Ebd. 84. Die Trennung verläuft nicht nur zwischen „Adligen“ und „Bürger“, sondern auch zwischen „Bürger“ und „Volk“. 325 Ebd. 100. 326 Gelzer Rektoratsrede 1962 [1924], 237. 327 Vgl. Tocqueville 1969 [1856], 97 bzw. ebd. 100. 328 Vgl. Gelzer Nob. 1912, 116. Übrigens ist der Duktus der berühmten Schlusspassage („Am Ende des gewaltigen Ringens liegen einem einzigen Sieger die Gegner vernichtet oder völlig erschöpft zu Füßen. Die Nobilitätsherrschaft ist ersetzt durch die absolute Monarchie“) dem Tocquevilles erstaunlich ähnlich: „Als aber diese kräftige Generation, die die Revolution begonnen hatte, vernichtet oder entkräftet war […] und die bestürzte Nation gleichsam im Finstern tappend nach ihrem Gebieter zu suchen begann, da boten sich der absoluten Regierung zu ihrer Wiedergeburt und Neubegründung die erstaunlichsten Hilfsmittel dar.“ (Tocqueville 1969 [1856], 178). 329 Ebd. 107.
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mindest vermutet werden. Einerseits in einem ideellen, weltanschaulichen Sinne, wie private Aufzeichnungen nahelegen. Andererseits aber womöglich auch darin, dass er bei seiner Analyse der römischen Ordnung ein besonderes Gespür für die Existenz einer „unregelmäßigen Freiheit“ entwickelte und daran anschließend überhaupt fragen konnte, woher die faktisch andauernde Herrschaft Weniger in Rom rührte. Tocqueville hätte so gesehen gewissermaßen Gelzers Empfindlichkeit für die „faits socials“330 geschult. 7.2.4 Fustel de Coulanges’ „Les origines du système féodal“ als Einflussquelle? Christian Meier hat wie kein anderer den Zusammenhang betont, dem Gelzers „Klientelthese“ ihre Anregung verdankt. Zwar ist seine grundsätzliche Skepsis gegenüber einer allzu mechanischen Vorstellung von Lektüreerfahrungen und Thesenbildung bekannt. In einem Interview von 2004 hat er zu Protokoll gegeben: „Ich glaube, vieles an der Wissenschaftsgeschichte würde verständlicher, wenn man sich damit begnügte zu sagen, damals lag dieses und jenes in der Luft. Man soll nicht immer nach irgendeinem Autor fahnden, von dem einer etwas bezogen habe.“331 Allerdings hat derselbe Meier in seiner Einordnung der „Nobilität“ neben dem Hinweis auf die großväterlichen Lebenserinnerungen beiläufig auch auf einen Autor verwiesen, der Gelzers zentrale Frage nach dem Zusammenhang zwischen freier Volkswahl und stabiler Nobilitätsherrschaft schon vor ihm „gestellt und beantwortet“332 habe. Es handelt sich um den französischen Historiker Fustel de Coulanges, der – ebenfalls von Tocqueville beeinflusst –333 zunächst von 1860 bis 1870 Professor in Strasbourg war und dann ab 1878 in Paris an der Sorbonne lehrte. Inzwischen hatte er an einer mehrbändigen Institutionengeschichte Frankreichs zu arbeiten begonnen, die zwischen 1874–92 erschien und sich in ihrem fünften Band (1890) im Rahmen der Vorgeschichte des mittelalterlichen Feudalwesens auch mit dem römischen Patronagesystem auseinandersetzte.334 Auf eben jenen Abschnitt verweist nun Gelzer in der „Nobilität“ ganz zu Beginn seines zweiten Teils, indem er hervorhebt, dass schon Fustel die sozialen Abhängigkeitsbeziehungen „als das entscheidende Moment im Aufbau der spätrepublikanischen Gesellschaft erkannt“335 habe. Für den bestimmenden Einfluss, den Fustel auf Gelzer ausgeübt hat, zeugt dann weiterhin nicht nur ein Brief vom 10.12.1911 an Johannes Haller, in dem Gelzer 330 331 332 333 334
Begriff entliehen von Emil Durkheim (vgl. dazu z. B. Nassehi 2009, 70). Rebenich 2004, 189. Meier 1977, 34. Vgl. Mayer 1969, 265. Zu Fustels Konservativismus vgl. Christ 1988, 17. Vgl. Fustel 1907 [1890], 205–225 [Die hier verwendete französische Ausgabe gibt die 3. Auflage des Originals wieder]. 335 Gelzer Nob. 1912, 49. Gelzer rechtfertigt seine daran anschließende Paraphrase von Fustels Thesen damit, dass „seine Darstellung in Deutschland wenig beachtet wurde“. Ob diese Einschätzung der deutschsprachigen Fustel-Rezeption wirklich zutrifft, wäre einer gesonderten Untersuchung wert.
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jenem für den wichtigen Hinweis auf Fustel dankt.336 Auch in seinen „Memorabilien“ hebt Gelzer Fustel de Coulanges als wichtigen Inspirator hervor. Angeblich habe ihn schon sein Vetter Eduard Fueter nach der Lektüre von Gelzers Dissertation 1909 auf Fustel hingewiesen.337 1955 hat sich Gelzer dann selbst in eine Reihe mit Fustel gestellt.338 Fustel hatte – interessanterweise nicht in seinem althistorischen Standardwerk La Cité antique, sondern im fünften Band von Les origines du système féodal –339 auf zwanzig Seiten schon die wesentlichen Charakteristika des römischen Bindungswesens im 2. und 1. Jahrhundert v. Chr. beschrieben. In ihm macht er grundsätzlich einen strukturellen Faktor aus, der innerhalb der römischen Gesellschaft als Bindemittel zwischen Herrscher und Beherrschten eine so zentrale Stellung eingenommen habe wie der Feudalismus in der mittelalterlichen Gesellschaft. Unter der Überschrift „Le patronat et la ‚commendatio‘ dans la société romaine“ beleuchtet Fustel hier schon zentrale Facetten des römischen Bindungswesens, die wenig später dann bei Gelzer wiederauftauchen sollten. Fustels Interesse gilt prinzipiell ausschließlich den freiwilligen, sozial ausgehandelten Patronatsbeziehungen, dem „patronat volontaire“ zwischen freigeborenen Individuen. Die ursprünglich erblich-privatrechtliche Klientel („la clientèle antique“) und das gesetzlich genau geregelte Freigelassenenpatronat („patronage des affranchis“) zwischen freiem patronus und unfreiem libertus schloss er, wie Gelzer,340 von vornherein aus. Fustel verweist von Beginn an auf die besondere Reziprozität des Verhältnisses. Der Prestigewert des Patrons habe sich zu einem Großteil an der Anzahl seiner Klienten bemessen, die sowohl sein tägliches „cortège“ bildeten, aber auch ein funktionales Instrument waren, um Wahlen durch gesteuerte Stimmabgabe zu gewinnen. Im Gegenzug sei der individuelle Status des Klienten stark von der Nähe
336 „Einen wichtigen Gedanken, daß die sociale Ursache der Nobilitätsherrschaft in den Treuverhältnissen zu finden sei, hat schon Fustel angedeutet, wie Du mir sagtest“ (Brief an Haller am 10.12.1911, zit. nach Simon 1988, 238). Vgl. auch Brief an Haller vom 2.8.1912: „Die Gefolgschaften etc. sind andererseits bei den Kelten und Germanen schon vorhanden, als sie mit den Römern in Berührung kommen. Freilich um alleiniges Eigentum der Deutschen handelt es sich nicht. Fustel de Coulanges ist da eben im Recht.“ (vgl. Haller-Nachlass Koblenz, N1035). 337 Vgl. Gelzer Mem. 8 bzw. Gelzer Habilitationsakte Freiburg, B0038/360, 16. Vgl. auch Nippel 2002a, 138. Für den Fustel-Einfluss auf Gelzer vgl. auch Ridley 1986, 491 f., der allerdings den Zeitpunkt der Fustel-Lektüre durcheinanderbringt (vgl. Simon 1988, 226). Arthur Rosenberg kritisiert Gelzer in seiner Besprechung von 1918 dafür, den „unglücklichen Theorien Fustel de Coulanges“ (Rosenberg 1918, 223) gefolgt zu sein. Ähnlich auch Van den Bruwaene 1962, 402. 338 Vgl. Gelzer Besprechung Maschkin 1963 [1955], 346. Mit Blick auf Fustel scheint es jedenfalls unzutreffend, wenn Margret Dissen generell annimmt, es handele sich bei Gelzer um einen „Autor, der sich weder zu Personen noch zu wissenschaftlichen Strömungen bekannte, die ihn beeinflusst haben könnten“ (Dissen 2009, 98). 339 Genauer: Im neunten Kapitel dieses mit Histoire des Institutions Politiques de l’Ancienne France überschriebenen fünften Bandes, der eine Art Vorgeschichte des mittelalterlichen Feudalwesens bzw. der Patronatsverhältnisse in merowingischer Zeit lieferte. 340 Vgl. Gelzer Nob. 1912, 50, 1.
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zu seinem Patron und dessen Förderung bestimmt worden.341 Innerhalb der Personengruppe der „Klienten“ differenziert Fustel stark nach sozialem Rang und finanziellem Vermögen und hält fest: „Il y avait des clients dans toutes les classes de la société.“342 In einem zweiten Schritt stellt er dann die Besonderheiten des Patronatsverhältnisses im Einzelnen dar. Anders als beim Freigelassenenpatronat sei das „freie Patronat“ nicht gesetzlich geregelt worden, sondern als eine „pratique extra-légale“343 anzusehen, die im Zwischenbereich von Politik und Privatem beheimatet war. Als wichtigster Wesenszug habe die völlige Hingabe des Klienten gegenüber seinem Patron in psychologischer Hinsicht zu gelten, so Fustel weiter, denn es habe sich um keine rechtliche, sondern eine moralische Verpflichtung gehandelt: „[…] il engage la conscience“344. Reziprozität und Freiwilligkeit seien die beiden Grundbausteine des Patronats gewesen. Nur wenn beide Partner aus freiem Willen und in gleichem Maße dazu bereit waren, sich aneinander zu binden, stehe das Verhältnis auf festen Füßen. Dann brauchte es auch keinen schriftlichen Vertrag, denn „les deux paroles suffisaient“345. Bei der Frage nach der Erblichkeit der Patronatsbeziehungen bleibt Fustel vage. Vor allem im Zusammenhang mit den Gemeindepatronaten sei zwar in Inschriften oft von Erblichkeit die Rede. Aber bei den individuellen Patronagebeziehungen zwischen einzelnen Personen müsse man in der Tat mit einer gewissen Flexibilität rechnen, so Fustel. Der Klient habe die Macht gehabt, die Beziehung selbstständig aufzukündigen und sich einen neuen Patron zu suchen.346 Abschließend behandelt Fustel noch das Gemeinde- und Gerichtspatronat und kommt hier insbesondere auf die unterschiedlichen Pflichten des Patrons zu sprechen. Je nach sozialem Rang des Klienten habe die Bandbreite von politischer Unterstützung bis zu Arbeitsbeschaffung und Geldverleih gereicht. Der cliens wiederum sei dem patronus in jeglicher Hinsicht verpflichtet gewesen, habe ihn überall hin begleiten müssen „pour marquer son rang et rehausser son prestige“347. Der Klient verlieh der Rangstellung seines Patrons Ausdruck, diente ihm etwa bei den salutationes als allgegenwärtiges Zeichen seines beanspruchten Prestigewerts. Auffällig in Fustels Argumentation ist, dass die politische Instrumentalisierung klientelisierter Wähler auch von ihm nicht eindeutig mit Quellen belegt wird. Für seine zentrale Aussage hinsichtlich der wahlentscheidenden Rolle der Klienten verweist er auf eine Textstelle, die eine politische Funktion des Bindungswesens keineswegs belegt. Im Fließtext heißt es zwar voller Überzeugung: „On savait seule341 Vgl. Fustel 1907 [1890], 206. Vgl. zur Reziprozität auch ebd. 220. 342 Ebd. 209. 343 Ebd. 216. Ebenso ebd. 221. Er bezeichnet die Formeln, mit denen die Patronatsbeziehung eingeleitet wurde (se commendare, se dare etc.) als „termes sacramentels“ (ebd. 207) bzw. „l’expression consacrée“ (ebd. 208). 344 Ebd. 218. 345 Ebd. 220. 346 Vgl. ebd. 207 bzw. ebd. 224, 2. Auf Fustels ambivalente Einschätzung hinsichtlich der Erblichkeit von „Nahverhältnissen“ verweist auch Gelzer (vgl. Gelzer Nob. 1912, 56, 4). 347 Fustel 1907 [1890], 223. Für Fustels allgemeine Thesen zur Beziehung von Patron und Klient (insbesondere auch in der Frühzeit) vgl. Momigliano 1982, 19–24.
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ment que, si le patron était candidat, le client était tenu de voter pour lui et de travailler sans réserve ni vergogne à son élection.“348 Der Verweis auf Ciceros Pro Murena hält dann aber keineswegs eine Bestätigung dieser Aussage bereit. Die fehlende, gar fehlerhafte Zitation im Zusammenhang mit dieser These ist keine Ausnahme. Auch die generelle Zusammenfassung seiner Ausführungen zum republikanischen Bindungswesen und deren politischer Funktion kommt ohne Beleg aus, bleibt Hypothese: Cette pratique du patronage a été pour beaucoup dans la structure sociale de la République romaine. Elle explique qu’au milieu de lois d’égalité, les grandes familles aient toujours gardé le pouvoir. Le droit de suffrage appartenait à tous, mais c’étaient les clientèles qui votaient […] La clientèle n’ètait pas dans les lois; elle ne touchait pas à la constitution politique; mais elle règnait dans la sociètè. Ne touchant pas à la constitution politique, elle n’engendra pas un régime féodal; elle fit seulement de cette société républicaine la société la plus aristocratique qui fut jamais.349
„C’étaient les clientèles qui votaient“ – bei dieser Konklusion, die Fustel auf den letzten Seiten des zweiten Kapitels zieht, ist die Nähe zu Gelzers These im besonderen Maße auffällig: Die Annahme, dass die politische Herrschaftssicherung der römischen Oberschicht durch klientelisierte Wähler plausibel zu machen sei, die Qualifizierung des Bindungswesens als eine soziale, nicht politische (ergo „staatsrechtliche“) Tatsache und die Hervorhebung des historisch einzigartigen aristokratischen Charakters des römischen Gemeinwesens – das sind drei Punkte, die von Gelzer exakt so übernommen und zugespitzt wurden. Hier wie dort freilich ohne belastbare Quellenverweise. Gelzers Bild von steuerbaren Klientelblöcken, die die Macht weniger Familien sicherten, spiegelt Fustels Konzeption also in auffälliger Weise. Beachtenswert ist vor allem, dass Gelzer zentrale Fallbeispiele, die Fustel vorbringt, um die Wichtigkeit des Bindungswesens in Rom zu unterlegen, übernimmt. Insbesondere das Trebatius-Beispiel ist in diesem Zusammenhang frappierend.350 Bei alldem ist auch auf ein transformatives Moment zu verweisen, das Gelzer davor bewahrt, ideengeschichtlich als epigonal zu gelten. Auf der einen Seite geht er anders als Fustel von einem Entwicklungsmodell aus, sieht die neue, freiere Form der Patronage aus der alten fest-juristischen Form der Freigelassenenklientel herauswachsen. Auf der anderen Seite zieht Gelzer aus seiner Klientelthese eben den weitreichenden Schluss, dass es in Rom nie so etwas wie ein organisiertes Parteienwesen gegeben, sondern ein andauernder „Kampf der Koterien“351 geherrscht habe. Vor allem damit geht er über Fustel hinaus und setzt eigene Zeichen. Und doch stellt sich mit Blick auf Fustels „Patronagekapitel“ die Frage, inwieweit Gelzer jenseits der terminologischen Substitution von Patronage durch „Nah-
348 Vgl. Fustel 1907 [1890], 223. 349 Ebd. 224 f. 350 Vgl. Gelzer Nob. 1912, 55 mit Fustel 1907 [1890], 211 f. Zum „Trebatius-Fall“ als Beispiel für „patronage in a broad sense“ und nicht als Beweis für Gelzers strikte „Klientelthese“ vgl. Brunt 1988, 394. 351 Gelzer Nob. 1912, 106.
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und Treuverhältnisse“352 Innovatives leistet oder nur ausbaut, was Fustel als Grundkonzeption schon vorgegeben hatte. Es ist zumindest zu erwägen, ob Christian Meier wirklich Recht hat, wenn er gleich im Anschluss an seinen Verweis auf Fustel betont, erst Gelzer habe aber „den ganzen Umfang des Clientelwesens, die Vielfalt seiner Funktionen und damit die Eigentümlichkeit des Phänomens für die späte römische Republik zusammenhängend dargestellt“353. In jedem Falle kann man wohl Gelzers „Klientelthese“ nicht ausschließlich auf die Erzählungen seines Großvaters zurückführen, sondern darf dafür auch eine wahrscheinliche Einflussquelle in Fustels „Conclusio“ ausmachen. 8. GELZERS GESELLSCHAFTSGESCHICHTLICHES ENTWICKLUNGSMODELL Während sich Gelzer in der „Nobilität“ zeitlich auf die späte Republik konzentriert, eine „Momentaufnahme“354 der römischen Ordnung dieser Zeit liefert und Fragen des Entstehens und der Entwicklung nur am Rande behandelt, lässt sich aus einigen später veröffentlichten – aber thematisch noch an die „Nobilität“ anschließenden Arbeiten – herausfinden, wie Gelzer die gesellschaftsgeschichtliche Entwicklung Roms konzipiert. Insbesondere in einem Vortrag am Berliner „Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht“ über „Die römische Gesellschaft zur Zeit Ciceros“ vom 14.4.1919,355 der 1920 in den „Neuen Jahrbüchern“ veröffentlicht wurde, seiner 1921 unter dem Titel „Die Entstehung der Römischen Republik“ erschienenen Rezension von Friedrich Münzers „Römische Adelsparteien und Adelsfamilien“ und seiner 1924 gehaltenen „Rektoratsrede“ skizziert er recht ausführlich ein historisches Entwicklungsmodell.356 Es ist wohl von einem gewissen methodischen Bewusstseinswandel auszugehen, wenn er, der zuvor stets vor der Beschäftigung mit „traditionslosen Zeiten“ gewarnt hatte, jetzt angibt: „[…] bei dem konservativen Charakter des Römertums erhellt die sichere Kenntnis dieser [= der spätrepublika352 Ebd. 52. 353 Meier 1977, 34. Vgl. auch noch zuletzt Meier 2017, 65: „Und außerdem hatte nie jemand nach der Funktion und Bedeutung dieser Verhältnisse gefragt.“ Schon 1862 hatte aber etwa Karl Wilhelm Nitzsch vermerkt: Es „beruhte das innere Leben der Armee und der Volksversammlung zum Teil auf der Lebendigkeit einer Menge persönlicher Beziehungen und Erfahrungen, die sich gegenseitig bestimmten und bedingten. Aus den Erfahrungen des Einzelnen im Felde, aus seinen geschäftlichen Verbindungen daheim entwickelte sich der politische Takt der Comitien und daraus auch bildete sich das, was man den Politisch-Militärischen Credit der einzelnen Häuser nennen könnte.“ (Nitzsch 1862, 154). Und auch etwa in Guglielmo Ferreros 1908–1910 in deutscher Sprache erschienenem Werk über „Grösse und Niedergang Roms“ ist davon die Rede, dass Rom aristokratisch blieb aufgrund des „systematischen Ausbaus eines […] Klientelund Protektionswesens“ (zit. nach Fezzi 2012, 163, der den Einfluss von Ferrero auf Gelzer hoch einschätzt). 354 Bleicken 1977, 25. 355 vgl. Gelzer Mem. 26. 356 Vgl. dazu Gelzer Röm. Ges. Cic. 1962 [1920], 157–163 bzw. die Parallelen in seiner Frankfurter „Rektoratsrede“ von 1924 (vgl. Gelzer Rektoratsrede 1962 [1924], 235–236) und Gelzer Entstehung Nob. 1962 [1921], 186–195.
8. Gelzers gesellschaftsgeschichtliches Entwicklungsmodell
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nischen, Anm. S. St.] Epoche auch die weiter zurückliegende Vergangenheit“357. Mit Blick auf Mommsens Ausführungen im „Bürgerschafts“-Band, auf den Gelzer mehrfach Bezug nimmt, werden dann wiederum auch inhaltlich einige interessante Parallelen deutlich. Ähnlich wie Mommsen geht Gelzer von einer ursprünglichen Unterscheidung zwischen vollbürgerlichen, den König beratenden Patriziern und abhängigen Einwohnern aus, die als „Clienten“ in einem Schutzverhältnis zu den Patriziern stehen. Daneben sieht er aber schon früh „als weiteren Volksteil“ die Plebejer, die als „ursprüngliche Clienten der Könige“358 nach erfolgreichen Feldzügen das eroberte Land besiedelten und schon als privatrechtlich gleiche, aber politisch minderberechtigte „Bürger“ angesehen worden seien.359 Zur Zeit des Zwölftafelgesetzes, nachdem Boden als Privateigentum auch an ehemalige „Hörige“ verteilt worden war, habe es nur noch die Unterscheidung zwischen „Eigentümer“ und „Pächter“ gegeben, wobei beide nicht mehr durch ein strenges Dienst-, sondern nur durch ein gegenseitiges Treueverhältnis aneinander gebunden worden seien. An die Stelle der „Hörigenwirtschaft“ sei „Eigen- und Pachtwirtschaft“ getreten, so Gelzer, der auf die gesellschaftsgeschichtliche Konsequenz aus dieser bodenrechtlichen Reform hinweist, nämlich eine „Auflockerung der Clientel zu einem freieren Bürgertum“360. Das ist der erste Schritt: Eigener Boden macht nicht „frei“, aber immerhin „freier“. Während die plebejischen Neubürger privatrechtlich gleichgestellt wurden und zu einem „unabhängigen Stand“361 aufstiegen, Verträge schließen, vor Gericht Anklage erheben und Land besitzen konnten, seien sie politisch aber eben noch ohne Einfluss geblieben, so Gelzer. Denn die Patrizier behielten als ein „geschlossene[r] Kreis des Uradels“362 die politische Macht weiterhin exklusiv in ihren Händen. Das habe sich erst in dem Moment geändert, als aufgrund militärischer Notwendigkeiten die Plebejer „ihre Wehrkraft in den Dienst des Staates“363 stellten und daraufhin auch Ansprüche auf ein politisches Mitspracherecht geltend machten. Während ursprünglich nur die Patrizier Herrscherqualität besessen hätten, seien im vierten Jahrhundert auch sozial privilegierte Plebejer, die als „Staatspferdbesitzer“ nach Ansehen und Vermögen aus der Masse der zu Fuß dienenden Plebejer hervorragten, zum politischen Amt zugelassen worden. Es ist (wie schon bei 357 Gelzer Röm. Ges. Cic. 1962 [1920], 157. 358 Gelzer Rekoratsrede 1962 [1924], 235. 359 Vgl. dazu auch Gelzer Caesar 2008 [1921], 4. Beide Bevölkerungsgruppen bezeichnet Gelzer ohne Skrupel als „Bürger“ – im Gegenteil zu Mommsen, der den Bürgerbegriff sehr restriktiv verwendet und, wie oben gezeigt, bis zu den Sextisch-Licinischen Gesetzen nur für die Patrizier gelten lässt. Dass Gelzer Mommsens These von der Entstehung der Plebejer aus der Klientel trotzdem teilen würde, meint auch Van den Bruwaene 1962, 403. 360 Gelzer Röm. Ges. Cic. 1962 [1920], 160. Vgl. auch Gelzer Rektoratsrede 1962 [1924], 236. Interessant im Zusammenhang mit der These einer sozialen Aufwertung der Plebejer durch die Erlangung von Bodenbesitz ist möglicherweise eine Bemerkung Gelzers in seinen „Memorabilien“: „Ich bin ein entschiedener ‚Besitzbürger‘ […] und wie Toqueville davon überzeugt, dass zu wirklicher bürgerlicher Freiheit das Privateigentum gehört.“ (Gelzer Mem. 79a). 361 Gelzer Röm. Ges. Cic. 1962 [1920], 161. 362 Gelzer Entstehung Nob. 1962 [1921], 186. Vgl. auch Gelzer Röm. Ges. Cic. 1962 [1920], 162. 363 Ebd. 161.
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VI. Am Wendepunkt? Kontinuitäten und Brüche in Gelzers „Nobilität“
Mommsen) die militärische Indienstnahme, die nach Gelzers Dafürhalten zur rechtlichen Angleichung und politischen Integration führt. Die zunehmende militärische Mitverantwortung habe die gesetzliche Anerkennung des passiven Wahlrechts wohlhabend-vornehmer Plebejer provoziert, so die generelle These.364 In verschiedenen Gesetzen sei im vierten Jahrhundert v. Chr. dann festgelegt worden, dass auch Plebejer politische und religiöse Ämter ausüben dürften, die bisher nur den Patriziern zugänglich gewesen waren. Insbesondere die Sextisch-Licinischen Gesetze von 367/6 v. Chr. hätten die „Regimentsfähigkeit“ auf wohlhabend-vornehme Plebejer ausgedehnt, die fortan gemeinsam mit den patrizischen Konsuln eine neue Oberschicht, die Nobilität, gebildet hätten. Zwar sei diese neue Form des Adels, im Gegensatz zum abgeschlossenen patrizischen Erb- bzw. Uradel, „des Zuwachses“, „der Auffrischung fähig“365, also kein abgeschlossener Geburtsadel mehr gewesen. Gleichwohl hätten die Reformen des vierten Jahrhunderts v. Chr. in toto keineswegs eine demokratische Entwicklung zur Folge gehabt, denn obgleich theoretisch nun jedem Plebejer die (unbesoldete) Konsulstelle offen gestanden habe, sei sie faktisch doch nur den wohlhabend-vornehmen Plebejern zugänglich geblieben, die sich als „bürgerliche Streber“366 mit den gleichen Mitteln der „Treu- und Nahbeziehungen“ (und einer geschickten Heiratspolitik)367 wie die Patrizier politische Macht zu sichern suchten. Ganz im Sinne Mommsens versteht der Autor der „Nobilität“ die Ausdehnung der „Regimentsfähigkeit“ also als eine geschickte Strategie der Patrizier, um vordergründig einzelne vornehme Plebejer zu integrieren, aber im Hintergrund doch die politische Macht in den Händen zu behalten. Es handelt sich bei der Nobilität eben nicht um eine neue, jedermann zugängliche Statusgruppe, sondern um eine Umformierung des altbekannten Adels zum „erweiterten Patriciat“ (wie beide,
364 Vgl. ebd. 158 bzw. Gelzer Besprechung Leifer 1962 [1916], 294. In diesem Zusammenhang ist ein Seitenblick auf Gelzers „Memorabilien“ interessant. In jenen Lebenserinnerungen erlaubt sich Gelzer 1948 einige Bemerkungen über die Struktur des amerikanischen Besatzungsheeres und stellt dabei fest: „Ein beträchtlicher Teil der Kämpfenden bestand aus Negern, die durch die Gleichstellung mit den Weissen in der Armee die tatsächliche bürgerliche Gleichberechtigung erlangten.“ (Gelzer Mem. 63). Gelzer erkennt hier in seiner eigenen Gegenwart einen ähnlichen Mechanismus wie in Rom: Eine rechtlich diskriminierte Personengruppe nutzt den militärischen Dienst als Druckmittel für einen politischen Einfluss und steigert damit auch ihren generellen Prestigewert. Auch Paul Veyne vergleicht übrigens römische Aufsteiger mit der „schwarzen Bourgeoisie“ im „rassengetrennten“ Amerika (vgl. Veyne 1995, 48). 365 Gelzer Rektoratsrede 1962 [1924], 236; Gelzer Röm. Ges. Cic. 1962 [1920], 163. 366 Gelzer Röm. Ges. Cic. 1962 [1920], 169. Gelzer stimmt Münzers Vermutung zu, die aufstrebenden Plebejer hätten „von vornherein eine sozial gehobene Stellung“ (Gelzer Besprechung Münzer 1962 [1920], 197) innegehabt, seien „Edelleute“ (Gelzer Caesar 2008 [1921], 4) gewesen. 367 Vgl. Gelzer Entstehung Nob. 1962 [1921], 191, der hier wiederum eine These Friedrich Münzers wiedergibt. Gelzers verspäteter Münzer-Nachruf von 1953 lässt den generellen Einfluss von Münzer auf Gelzer erahnen. Münzer habe mit seinem Spürsinn für die Bedeutung römischer Verwandtschaftsbeziehungen „der Forschung ein neues Tor aufgestoßen“ (Gelzer Nachruf Münzer 1964 [1953], 347), so Gelzer.
8. Gelzers gesellschaftsgeschichtliches Entwicklungsmodell
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Mommsen und Gelzer, das nennen)368 – „statt einer demokratischen Revolution fand nur eine Fortbildung der Aristokratie statt“369. Ein entscheidendes Charakteristikum der römischen Gesellschaftsstruktur ist damit auch für Gelzer ihre suggestive Anziehungskraft, ihre zur Imitation und Nacheiferung anregende Prestigehierarchie. Obwohl die Ständekämpfe soziale Umverteilungsprozesse verursachen und sich der Kreis der politisch Verantwortlichen vergrößert, bleibt doch die grundsätzliche aristokratische Ordnung bestehen: „Wie so oft im politischen Ausgleichskampfe wandelten die Sieger die erstrittene Gleichheit um in eine neue Form der Privilegirung“370, hatte Mommsen geschrieben. Gelzer nimmt den Gedanken unmittelbar auf, wenn er proklamiert: „Es ist der große Triumph des aristokratischen Geistes […], daß die Plebejer, welche in die patricischen Magistraturen eindrangen, das alte System nicht veränderten, sondern vielmehr von ihm aufgesogen wurden.“371 Gelzers Verweis auf die psychologische Sogwirkung eines „aristokratischen Geistes“ bedeutet im Vergleich zu seiner sonst nüchtern-analytischen Untersuchungsart eine überraschende Wendung. Die Zulassung zum exklusiven Prestigekreis wird auf gewissermaßen irrationale Weise so geregelt, dass es nur zu einer „Auffrischung“, nicht zu einer grundsätzlichen Veränderung der traditionellen Gesellschaftsordnung kommt. Trotz des Aufstiegs neuer Bevölkerungsschichten wird die generelle Stabilität des Systems nicht angetastet. Im Gegenteil stellt sich der Mobilitätsmechanismus so dar, dass zuvor Ausgeschlossene nicht die alte Ordnung aufbrechen wollen, sondern sich ihr zu ihrem Vorteil hin anpassen. Gelzer rückt hier die empirisch schwer fassbare Qualität einer Anziehungskraft des Adels in den Mittelpunkt. Es ist der besondere „politische Instinkt“372 der Altadligen, der die grundsätzliche Prestigehierarchie in Rom trotz rechtlicher Gleichstellung und aufstrebender Neulinge aufrechterhält, indem er im rechten Augenblick die nötigen Zugeständnisse macht, ohne die eigene Machtstellung zur Disposition zu stellen. Im späteren Verlauf der römischen Ständekämpfe sieht Gelzer dann auch das aktive Wahlrecht der Plebejer gestärkt, obgleich es in keinem Fall „allgemein und gleich“ geworden sei, da ökonomisch Benachteiligte durch die strukturelle Bevorzugung der Vermögenden bei der aktiven Wahl in den Zenturiatskomitien auch wei368 Vgl. Mommsen StR III/1 1887, 465 bzw. Gelzer Entstehung Nob. 1962 [1921], 193. Zu dieser Form der Erweiterung gehört auch die „weitherzige Zulassung des italischen Hochadels in die römische Nobilität“ (ebd.194). 369 Gelzer Entstehung Nob. 1962 [1921], 193. 370 Mommsen Abriss 1974 [1907], 33. Vgl. auch Mommsen StR III/1 1887, 205 und Mommsen RG 1976 [1902], 309 (2. Band der Taschenbuchausgabe) [= I,783]). 371 Gelzer Röm. Ges. Cic. 1962 [1920], 162. Vgl. auch Gelzer Entstehung Nob. 1962 [1921], 187 f. bzw. Gelzer Besprechung Münzer 1962 [1920], 198. Ähnlich beschreibt Gelzer später auch die gracchische Revolution: „Das war nur eine Änderung des Personals, das Senatsregiment wurde nicht grundsätzlich angetastet. Es ist vielmehr charakteristisch für diese Revolution, daß sie überhaupt keinen neuen politischen Gedanken zutage förderte.“ (Gelzer Röm. Ges. Cic. 1962 [1920], 180). 372 Gelzer Entstehung Nob. 1962 [1921], 188. Ebenso Gelzer Caesar 2008 [1921], 3 (interessant ist übrigens die Übernahme der Kategorie „Instinkt“ (Meier 1980, 54) bei Christian Meier, der dem alten Adel ebenfalls eine besonders „starke Assimilationskraft“ (ebd. 44, 113) zuschreibt.
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terhin benachteiligt blieben.373 Gelzer nimmt im Übrigen an, dass die Patrizier die Erweiterung des Wahlrechts zugelassen hätten, weil sie dadurch eine Chance sahen, von den Stimmen ihrer ehemaligen Klienten zu profitieren. Durch die anhaltende moralische Bindung der neuen „Vollbürger“ an ihre alten Patrone sei der Schritt hin zu einer generellen Angleichung also wieder abgeschwächt worden.374 Gelzer spricht deshalb auch wiederholt von einer „sozialen Oligarchie“375 und nur einem „gemäßigt demokratischen Wahlrecht“376. Trotz „staatsrechtlicher“ Reformen könne von einer „Demokratisierung der Gesellschaft“377 nicht die Rede sein. Gelzers Formulierung, es habe sich „das Patricierregiment […] zur Nobilitätsherrschaft“ erweitert und diese Entwicklung sei „sozial, nicht staatsrechtlich zu fassen“378, ist denn auch nicht, wie so häufig geschehen, als direkte MommsenKritik zu verstehen. Sie dient allenfalls als Hinweis darauf, dass die oligarchische Tendenz trotz gesetzlich fixierter Rechtsgleichheit weiter beherrschend blieb, es eben nicht zu einer Egalisierung der römischen Gesellschaft kam, wie Gelzer immer wieder betont, sondern nur zu einer Ausweitung der exklusiven Adelsgemeinschaft. Auch in seinem gesellschaftsgeschichtlichen Entwicklungsschema unterscheidet sich Gelzer also im Ganzen betrachtet nicht wesentlich von dem, was Mommsen schon angedeutet und ausgeführt hatte. 9. ERGEBNIS Wenn man Gelzers „Nobilität“ im direkten Vergleich mit Mommsens „Staatsrecht“ und insbesondere dessen „Bürgerschafts“-Band liest, wird man zunächst feststellen: Der erste, schichtungstheoretische Teil ist nicht in dem oft beschworenen, radikalen Sinne revolutionär. Zwar modifiziert bzw. präzisiert Gelzer Mommsens Schichtungsmodell, doch hinsichtlich ihrer gesellschaftsgeschichtlichen Grundlage formuliert die „Nobilität“ keinen fundamentalen Widerspruch zu Mommsens „Staatsrecht“. Im Gegenteil, sie folgt ihm bis in einzelne Thesen hinein: Die besondere Wirkkraft einer vornehmen Herkunft, die grundsätzliche Oberschichten-Ori373 Vgl. Gelzer Entstehung Nob. 1962 [1921], 186. Ebenso Gelzer Caesar 2008 [1921], 3. 374 Vgl. Gelzer Röm. Ges. Cic. 1962 [1920], 169. Ebenso Gelzer Rektoratsrede 1962 [1924], 236. Gelzer verweist für diese These auf Ludwig Lange. Er hätte hier aber genauso gut auch auf Mommsen verweisen können (vgl. Mommsen Sonderrechte 1864, 186 f.). Meier kritisiert Gelzers These als unwahrscheinliche „Behauptung“ (Meier 1980, 26). 375 Gelzer Röm. Ges. Cic. 1962 [1920], 171 bzw. 181. Vgl. auch Gelzer Caesar 2008 [1921], 5. 376 Gelzer Entstehung Nob. 1962 [1921], 188. Vgl. auch ebd. 192, wo Gelzer auf die große Bedeutung des „wahlleitenden Consuls“ hinweist. Ebenso Gelzer Besprechung Münzer 1962 [1920], 198, wo argumentiert wird, „daß alle formellen demokratischen Konzessionen nur Mittel der aristokratischen Politik blieben“. 377 Gelzer Röm. Ges. Cic. 1962 [1920], 163. Vgl. dazu auch Gelzer Besprechung Leifer 1962 [1916], 292; Gelzer Caesar 2008 [1921], 4; Gelzer Rektoratsrede 1962 [1924], 236. 378 Gelzer Besprechung Leifer 1962 [1916], 293. Auch im „Staatsrecht“ wird die Nobilität als „erweiterte[r] Patriciat“ beschrieben und von einer faktischen Privilegierung der nobiles gesprochen, die einer „rechtlichen Determinirung am wenigsten fähig“ (Mommsen StR III/1 1887, 465) sei.
9. Ergebnis
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entierung und Imitationsbereitschaft sozialer Aufsteiger, sowie die Herausbildung eines „Amtsadels“ sind beispielsweise Elemente, die hier wie dort auftauchen. Gelzer bleibt in seiner gesellschaftsgeschichtlichen Analyse mithin im Mommsenschen Rahmen und greift mit der besonderen Konzentration auf den Mechanismus der „politischen Integration“379 einen Wesenszug römischer Gesellschaftsordnung heraus, der ihm nicht zuletzt selbst ideal erscheint. In Rom sieht er seine Wunschvorstellung einer „politischen Bürgerschaft“ verwirklicht, in der soziale Anerkennung vor allem durch den Nachweis politischer Aktivität erreicht wird. Eine autobiographische Tendenz der „Nobilität“ ist daher, wenn überhaupt, eher im ersten, nicht im zweiten Teil auszumachen. Gelzers Vorliebe für eine stratifizierte Gesellschaftsordnung, seine Abneigung gegen die moderne Tendenz der allgemeinen „Gleichmacherei“, lässt ihm die römische Sozialstruktur, in der das Prestige politisch gewonnen wird, als sehr plausibel erscheinen. Die eigentliche „Klientelthese“ aber, die gewissermaßen den – für vormoderne Verhältnisse – üblichen Normalfall, nämlich den Glauben an den Wert von Prestigehierarchien und eine aristokratische Gesellschaftsordnung, funktionalistisch zu erklären sucht, entspringt keinem gegenwärtigen Orientierungsbedürfnis. Hier übernimmt Gelzer viel eher ein Erklärungsmuster, das schon bei Fustel Verwendung gefunden hatte, obgleich die Quellen an sich zu diffus sind, als dass man in ihnen eine wirkliche Systematik erkennen könnte. Im Grunde hält die „Nobilität“ somit zwei durchaus gegenläufige Ergebnisse fest: Im ersten Teil wird eine nach Ehre und Rang stratifizierte Gesellschaftsordnung entworfen, in der das politische Amt den entscheidenden Schlüssel bietet, um sozial aufzusteigen. Dabei bleibt aber im argumentativen Verlauf an zentraler Stelle ein irrationales Moment im Spiel: Wenn Gelzer mit Blick auf die Magistratswahlen auf die faktische Privilegierung alteingesessener Familien als selbstverständlichen Grundsatz verweist und die besondere Wirkung der von „den Vorfahren verdankten Kenntlichkeit“380 hervorhebt, dann benennt er damit die gewohnheitsmäßige, kollektive Akzeptanz eines Adels als wesentliches Charakteristikum römischer Gesellschaft. Ein nicht bis ins Letzte begründbares Phänomen, der Glaube an den Prestigevorteil der vornehmen Geburt, wird hier als bestimmendes Kriterium vorgestellt. Der zweite Teil der Nobilität konterkariert dagegen gewissermaßen diese Beobachtung, wenn versucht wird, das eigentlich Irrationale durch die Einführung der „Klientelthese“ zu rationalisieren. Der kontinuierliche privilegierte Status einer Oberschicht wird hier nun nicht mehr mit dem Verweis auf die Macht der Gewohnheit plausibilisiert, sondern mit dem Verweis auf ein „System persönlicher Beziehungen“ funktionalisiert. Das ist die eigentliche Transformationsleistung von Gelzer: Die argumentative Engführung von flexiblen sozialen Abhängigkeitsverhältnissen und der Herrschaftskontinuität der römischen Adelsschicht. Was in den Quellen vor allem als symbolischer Ausdruck des individuellen Prestigewerts fassbar ist, wird in Gelzers „Nobilität“ zum alles erklärenden Mechanismus erhoben. Es kommt gleichsam zu 379 Für diese Konzeption vgl. Winterling 2001a, 109. 380 Gelzer Nob. 1912, 22.
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einer „Institutionalisierung gesellschaftlicher Rollen“381, indem formalisiert bzw. systematisiert wird, was sich als flexibles Element der politischen Kultur Roms gerade nicht durch eine klar einschätzbare Wirkung auszeichnete. Damit verdeckt Gelzer, um eine Formulierung Christian Meiers umzudeuten, mit seiner Aufschrift das Rätselhafte der Erscheinung.382 Anders als bei Mommsen explizieren die Begriffe bei Gelzer nicht den theoretischen Unterbau der Analyse. Der Gesellschaftsbegriff etwa dient ihm nicht als analytische „Erkenntnisprämisse“383, sondern eher als beiläufiges Signalwort, um eine progressive Forschungsposition zu markieren. Gelzers Umgang mit dem Staatsbegriff ist hingegen differenzierter. Zwar nutzt Gelzer den Begriff „Staat“ immer wieder als Beschreibungskategorie für eine dezisionistische Herrschaftszentrale.384 Schon in seiner Dissertation hatte er modernisierend von „Regierung“ und „Zentralgewalt“ gesprochen,385 an anderer Stelle das ptolemäische Ägypten „als ganz modernen Staat“386 und die römische Republik als einen „natürlich gewachsenen“387 bzw. sozial durchdrungenen „Freistaat“388 bezeichnet. Aber bereits in seiner „Rektoratsrede“ über „Gemeindestaat und Reichsstaat in der Römischen Geschichte“ aus dem Jahre 1924 gibt Gelzer für den Quellenterminus res publica an, es existiere „im Deutschen kein Wort, das den lateinischen Begriff voll wiedergebe“389. Der römische Staat sei (zumindest in der republikanischen Zeit) eben „Gemeindestaat“ gewesen und kein von den Individuen losgelöster Machtapparat. Noch in einem Vortrag vor Schweizerischen Gymnasiallehrern von 1952 heißt es mit Blick auf etwaige Ähnlichkeiten und Differenzen zwischen antiker und moderner Ordnung: „Wir müssen uns freimachen von der Vorstellung des Abstractum, die der Staatsbegriff bei uns bekommen hat.“390 Es bleibt trotzdem fraglich, ob Gelzer wirklich, wie Dissen meint, schon als ein Vorläufer der „Bielefelder Sozialgeschichte“ gelten kann, weil er „das zu seiner Zeit dominierende historische Grundmuster vom Staat als strukturierendem Kern wissenschaftlicher Untersuchung bereits in Frage stellte“391. Hier spielt wohl eher das Bedürfnis einer fortschrittsorientierten Wissenschaftsgeschichte nach eindeuti381 Bendlin 2002, 23. 382 Vgl. Meier 1980, 50: „Es ist schon viel, wenn mit den Aufschriften das Rätselhafte der einzelnen Erscheinungen nicht verdeckt wird.“ 383 Heuß 1979, 144. 384 Vgl. etwa Gelzer Nob. 1912, 24; 27; 37; 83; Gelzer Besprechung Leifer 1962 [1916], 292; Gelzer Römertum Kulturmacht 1962 [1923], 274. 385 Vgl. Gelzer Ägypten, 74 f. 386 Vgl. Gelzer Besprechung Rostovtzeff 1911, 520. 387 Gelzer Besprechung Leifer 1962 [1916], 292. Auffallend ist in diesem Zusammenhang natürlich die Wortprägung „gewachsene Verfassung“ (Meier 1980, 56) von Christian Meier. 388 Gelzer Nob. d. Kaiser. 1962 [1915], 147. 389 Gelzer Rektoratsrede 1962 [1924], 233 f. Dagegen argumentiert etwa Siber 1952, 2. 390 Gelzer Staat und Bürger 1964 [1955], 14. Jürgen von Ungern-Sternberg meint grundsätzlich, dass Gelzer eine „Fixierung auf den Staatsbegriff mit seinen […] modernen Implikationen“ (Ungern-Sternberg 1983, XIV) vermieden habe. 391 Dissen 2009, 99. Genauso fraglich ist es, ob Gelzer, wie Dissen meint, in der „Nobilität“ wirklich den „Bereich des Politischen entstaatlicht“ (ebd. 288) hat. Es kommt ja immer noch genug politische Strukturgeschichte vor (vgl. z. B. den Abschnitt über die „Gemeindepatronate“).
9. Ergebnis
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gen Wendepunkten und Paradigmenwechseln eine Rolle, als dass die ursprüngliche Intention des Autors erfasst würde. Denn Gelzer dient der Terminus „Gesellschaftsgeschichte“ wohl vor allem als ein geschickt gewähltes Aushängeschild, um für ein breites Publikum die Neuartigkeit seines Ansatzes kenntlich zu machen. Nicht aus methodologischen, sondern aus wissenschaftsstrategischen Erwägungen hat Gelzer seine Forschung wohl mit dem Kennzeichen „Gesellschaftsgeschichte“ versehen und sich so geschickt von Mommsens Paradigma abgesetzt. Aber abgesehen von der rechtssystematischen Form mussten ihm die philologische Genauigkeit und eben auch das gesellschaftsgeschichtliche Potential, das ihm im „Staatsrecht“ begegnete, einen willkommenen Anschlusspunkt bieten. Und so ist die Frage, warum Gelzer nie den in seiner Berliner Antrittsrede 1939 angekündigten Plan, „die römische Politik einmal als Ganzes darzustellen“392, in die Tat umgesetzt hat, möglicherweise auch im Licht seiner intensiven „Staatsrechts“-Lektüre zu sehen, auf die er in nahezu jedem seiner Forschungsbeiträge zurückkommt. Hier – und nicht nur bei Fustel und Tocqueville – fand er das strukturgeschichtliche Material über die römische Gesellschaft bereits mit großer Sorgfalt ausgebreitet und behandelt. Somit wäre Gelzers „Nobilität“ – transformationstheoretisch gefasst – auch weniger eine substituierende Umdeutung von Mommsens Fundamentalwerk als eine erschließende Aneignung von dessen impliziter Gesellschaftstheorie. Beide Werke stünden so betrachtet in einer typologischen Beziehung und wären somit strukturell durchaus vergleichbar. Mit Blick auf die Ausgangsfragestellung und insbesondere das zu Anfang geschilderte theoretische Begriffsproblem lässt sich nunmehr festhalten: Beide Arbeiten sind geschrieben in einer Zeit, in der der moderne Gesellschaftsbegriff eingeführt, der Bruch mit der traditionellen aristotelischen Tradition theoretisch durch Hegel vollzogen war. Und doch: Gerade dadurch, dass sie jene Entwicklung bei ihrer Analyse römischer Geschichte ignorieren, dass sie in gewisser Hinsicht „altmodisch“ bleiben, auch wenn sie mitunter das „Modeinteresse“393 ihrer Zeit bedienen, finden sie einen Zugang zum Vergangenen. Die enge Beziehung zwischen der – modern gesprochen – politischen und der sozialen Sphäre, gerade nicht ihr Gegensatz, ist es, von der beide Autoren bei ihrer Beschreibung römischer Ordnung ausgehen. Es eint sie somit zumindest in ihrer Thesenbildung ein Differenzbewusstsein, ein Gefühl für die Andersartigkeit römischer Zustände im Kontrast zu jeweils aktuellen Gegebenheiten. Als transformationstheoretische Essenz aus der untersuchten Konstellation zwischen Mommsen und Gelzer ergibt sich, dass insbesondere die wissenschaftliche ex post-Beschäftigung mit antiker Tradition nicht als „Einbahnstraße“ zu verstehen ist, sondern als ein wechselseitiger Wirkungsprozess. Das allelopoietische Verhältnis von moderner Thesenbildung und quellenbasierter Suggestionskraft ist sowohl bei Mommsen wie auch bei Gelzer einigermaßen ausgewogen. Ihre Transformationsarbeit geht vom Referenzobjekt, den antiken Quellen, aus, fasst darüber hinaus aber das eingekapselte Wissen in zeitgenössische Termini und entwirft eine eigene Form der Darstellung. In der Konsequenz führt das zu einer Ähnlichkeit 392 Gelzer Antrittsrede 1940, 125. Vgl. dazu auch Strasburger 1975, 823. 393 Gelzer Röm. Ges. Cic. 1962 [1920], 154.
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auch hinsichtlich des erkenntnistheoretischen Gehalts ihrer beiden Werke. Vom Topos „von Mommsen zu Gelzer“ darf also Abschied genommen werden. Allerdings nicht aus einem revisionistischen Antrieb heraus, etwa um Gelzer wieder in den Schatten von Mommsen zurückzudrängen, sondern um der Kuhnschen Theoriegeste auch mit einem althistorischen Fallbeispiel zu widersprechen: Denn weniger als eine revolutionäre Paradigmenhäufung erscheint Wissenschaftsgeschichte oft als ein komplexer, häufig von dialektischer Eigendynamik geprägter Prozess unterschiedlicher Akte des Weiterschreibens, Umschreibens und Überschreibens.
VII. FAZIT UND AUSBLICK Im Zentrum dieser Untersuchung stand die Konstellation zweier Fixsterne am Himmel der althistorischen Wissenschaftsgeschichte: Theodor Mommsen und Matthias Gelzer. Vorrangig ging es darum, die jeweilige Konzeption römisch-republikanischer Gesellschaft aus ihren strukturgeschichtlichen Hauptwerken, dem 1871–88 erschienenen „Römischen Staatsrecht“ und der 1912 veröffentlichten „Nobilität der römischen Republik“, zu rekonstruieren und die Bedingungen ihrer Rezeption zu überprüfen. Ausgangspunkt war die fachintern weit verbreitete Annahme eines Paradigmenwechsels vom politikzentrierten „Staatsrechtler“ Mommsen hin zum „Gesellschaftshistoriker“ Gelzer. Mithilfe einer transformationstheoretisch motivierten Wissenschaftsgeschichte lässt sich eine solch teleologische Anordnung als retrospektive Konstruktion identifizieren, als eines jener „paradigmatischen Musterbeispiele“1, die in der Wissenschaft entstehen, um die Fiktion einer fortschreitenden Erkenntnis aufrechtzuerhalten. Immer wieder diente die forschungsprogrammatische Staffelübergabe von Mommsen zu Gelzer der althistorischen Forschergemeinschaft in der Vergangenheit als Mittel der Identitätsstiftung und Selbstvergewisserung. Immer wieder hat sie damit die Geschichte ihres Faches so (re) konstruiert, dass sich eigene theoretische Ansätze passgenau in den derart strukturierten Fortschrittsverlauf einordnen ließen. Aber es ging dabei um mehr als um Orientierung und Einordnung. Es ging auch um konkurrierende Plausibilitäten und nicht zuletzt um die Einflüsse von Zeitgeist. Bis heute meint man, sich mit dem Verweis auf Gelzer vom schwer durchdringbaren Fundamentalwerk Mommsens abkoppeln zu können. Und tatsächlich strapaziert das „Staatsrecht“ ja den Leser auf nahezu unvergleichliche Weise. Nicht nur die unerbittlich systematische Form der Darstellung, die schwierige, am Idiom des zeitgenössischen Privatrechts geschulte Sprache, sondern auch die detailversessene Analyse mit ihren mitunter hochspezialisierten Ausführungen zu den komplexen Wirkungszusammenhängen der politischen Organisation Roms haben dazu geführt, dass Mommsens „Staatsrecht“ meist mehr als Lexikon benutzt denn als zusammenhängende Untersuchung gelesen wird. Das war nicht immer so. Im Licht der zeitgenössischen Rezensionen werden die verschiedenen – eben auch gesellschaftsgeschichtlichen – Facetten des „Staatsrechts“ mitunter heller beleuchtet als in der späteren Rezeption. Vereinzelte Angebote, das „Staatsrecht“ gegen den formalrechtlichen Strich zu lesen wurden auch in der Folgezeit wiederholt gemacht. Jochen Bleicken sprach 1979 davon, dass Mommsen gerade mit seinem „Staatsrecht“ für ein angemessenes Verständnis römischer Gesellschaft gesorgt habe und rief in der Konsequenz zu ei-
1
Blanke 1991, 32.
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VII. Fazit und Ausblick
ner „sozialgeschichtlichen Schatzsuche“ in den Tiefen des Werkes auf.2 Dieser Aufforderung ist die Mommsen-Forschung bisher so gut wie nicht gefolgt. Die Beschäftigung mit dem „Staatsrecht“ hat sich entweder auf dessen methodische Bezüge zur Privatrechtslehre der Zeit konzentriert oder aber der titelgebenden Frage nach dem römischen „Staat“ einen bedenklichen Anachronismus unterstellt. In der Tat klingt die Deskription eines römischen „Staatsrechts“ nach einem a-historischen Unterfangen.3 Wird hier doch kodifiziert, wird „verrechtlicht“, was nach den Quellen nicht ohne den Bezug auf die soziale Praxis, auf Schichtungsverhältnisse und Prestigestellungen verständlich werden kann. Aber entscheidend ist, dass Mommsen vor allem im dritten, bisher in der Rezeption vernachlässigten Band über die „Bürgerschaft“ nicht nur „Staatsrecht“ schreibt. Viel eher liefert er hier, eingebettet in eine Analyse römischer Abstimmungspraxis und Reichsorganisation, Ansätze einer Strukturdarstellung römischer Gesellschaft in einer diachronen Verlaufsform. Allerdings sucht man im gesamten „Staatsrecht“ den Terminus „Gesellschaft“ vergeblich. Der Autor verzichtet grundsätzlich auf den Begriff, möglicherweise weil er ihm als analytische Kategorie noch zu umstritten oder konturlos war – ein Blick in die zeitgenössische Publizistik, etwa auf Heinrich von Treitschkes 1858 veröffentlichte und für eine „neoaristotelische“ Wiedervereinigung von Staat und Gesellschaft plädierende Habilitationsschrift zeugt von der Provokationskraft des neuen Hegelschen Gesellschaftsbegriffs zu dieser Zeit. Dass Mommsen in seinem „Staatsrecht“ den ihm andernorts durchaus geläufigen Gesellschaftsbegriff grundsätzlich vermeidet, hat vielleicht weniger mit einer notorischen „Staatsgläubigkeit“4 als damit zu tun, dass der Terminus in den 1870er und 80er Jahren zu stark ökonomisch konnotiert ist, sich – so Paul Nolte – auf die „entpolitisierte Sphäre ökonomisch vermittelter Beziehungen“5 richtet und für Mommsens Konzeption einer primär politisch definierten Stratifikation unpassend erscheint. Vielleicht gerade weil Mommsen also nicht expressis verbis von „Gesellschaft“ spricht, beschreibt er das römische Gemeinwesen als eine nach politisch definierter Ehre geschichtete Bürgerschaft. Implizit folgt er damit der aristotelischen Tradition einer κοινωνία πολιτική. Die „Engführung von Gesellschafts- und politischem Organisationssystem“6, die Andreas Bendlin dem „Staatsrecht“ vorwirft, kann man eben auch als den historisierenden Versuch verstehen, Rom als eine „politisch integrierte“ Gesellschaft zu konzipieren. Ob mit diesem Anschluss an die aristotelische Tradition auch Mommsens eigene Idealvorstellung vom Politischen in Verbindung gebracht werden darf, bleibt dahingestellt. Ob etwa seine Sehnsucht da2 3
4 5 6
Vgl. Bleicken 1979, 59. Mommsen hat mit seinem „Staatsrecht“ in der Tat etwas getan, „das die Römer zu tun versäumt hatten“ (Wickert 1970, 18). Ob er seine Aufgabe „besser gelöst [hat], als diese es gekonnt hätten“ (Gradenwitz 1904, 11) oder man hier einem „Stück römischen Selbstverständnisses begegnet“ (Bleicken 1975a, 439), sei dahingestellt. Ob man Mommsen pauschal eine „Überhöhung des Staates“ (Walter 1998, 14) vorwerfen kann, ist fraglich. Nolte 2000, 37. Bendlin 2002, 21.
VII. Fazit und Ausblick
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nach „ein Bürger zu sein“7 im Tieferen verantwortlich ist für ein idealisiertes Bild von antiker „Bürgerlichkeit“, lässt sich nach wissenschaftlichen Kriterien nicht beantworten. Zumindest ist Mommsens besondere Bewunderung für die „politische Befähigung“8 bzw. den „politischen Sinn der Römer“9 auffällig. Die Eigenart der „politisch hochbegabten Nation“10 Rom sieht Mommsen in jedem Falle darin, dass der „treffliche Ehrgeiz“11 der Bürger in die Sphäre der Politik und damit in Leistungen für das Gemeinwohl kanalisiert wurde. Es bleibt jedoch dabei, dass Mommsen im „Staatsrecht“ seinen Anspruch, als Wissenschaftler zugleich Bürger zu sein,12 keineswegs in der Hinsicht eingelöst hat, dass er die historische Analyse mit zeitgenössischer Programmatik belastet hätte. Nicht einmal sein vielgescholtener Staatsbegriff ist bei genauerer Untersuchung als eindeutiger Modernismus zu werten. Hervorzuheben ist jedenfalls, dass Mommsens „Staatsrecht“ entgegen der kanonischen Forschungsmeinung durchaus eine gesellschaftsgeschichtliche Relevanz für sich beanspruchen kann.13 Sie wird allerdings nur erkennbar, wenn man die unterschiedlichen Ebenen der Darstellung berücksichtigt: Denn während sich das „Staatsrecht“ methodisch unumwunden an zeitgenössischen Darstellungsmustern des Privatrechts orientiert, im Formalem also ein modernisierendes Element auszumachen ist, bleibt es inhaltlich quellentreu und stellt nicht nur abstrakte „Normen“ sondern auch historische „Tatsächlichkeiten“ heraus. Die einzelnen Thesen zur römischen Gesellschaft fallen bei dem formenden Bemühen um eine umfassende Systematik des römischen „Staates“ gleichsam wie Späne ab.14 Gleichwohl lie7
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Vgl. die posthum 1948 veröffentlichte „Testamentsklausel“ von 1899: „Politische Stellung und politischen Einfluß habe ich nie gehabt und nie erstrebt; aber in meinem innersten Wesen, und ich meine, mit dem Besten was in mir ist, bin ich stets ein animal politicum gewesen und wünschte, ein Bürger zu sein. Das ist nicht möglich in unserer Nation, bei der der Einzelne, auch der Beste über den Dienst im Gliede und den politischen Fetischismus nicht hinauskommt. Diese innere Entzweiung mit dem Volke, dem ich angehöre, hat mich durchaus bestimmt.“ (Zit. nach Heuß 1957, 105). Zur Interpretation der Klausel als Zeugnis des „zeitgenössischen Linksliberalismus“ (ebd. 113) und Stimmungsbild „seiner Zeit“ (ebd. 116) vgl. Heuß 1957, 106–117; Gall 1987, 601 f. bzw. Bahners 2003, 41. Vgl. ebenfalls Mommsens „kollektivistisches“ Bekenntnis in einem Brief an Wilhelm Scherer vom November 1881: „Viel Wert ist das Leben nicht, aber was es wert ist, liegt in der Gemeinschaft.“ (zit. nach Wickert 1942, 530, 20). Mommsen StR I 1887, 698. Ebd. 642. Mommsen Abriss 1974 [1907], 17. Vgl. auch Mommsen RG 1976 [1902], 273 [= I, 259]. Mommsen StR I 1887, 541. Aber auch ebd. 474 bzw. 477. In einem Brief an Fritz Jonas vom 21.11.1893 bezeichnete es Mommsen als größten Fehler des Wissenschaftlers, „wenn man den Rock des Bürgers auszieht, um den gelehrten Schlafrock nicht zu kompromittieren“ (zit. nach Wickert 1969, 487). Vgl. dazu auch eine Stelle in Mommsens Brief an seinen Bruder Tycho vom 25.12.1888: „Unser Studieren hat etwas von Morphium; man spinnt die Combinationen aus und vergißt darüber die Gegenwart mit ihrem Druck.“ (zit. nach Wickert 1942, 537). Damit erfüllt sich auch Karl Christs Vermutung, dass in den großen römischgeschichtlichen Werken des späten 19. Jahrhunderts viel „Gesellschaftsgeschichte“ vorhanden sei: „Wer die sozialgeschichtlichen Elemente jener Werke unvoreingenommen überprüft, dürfte […] von dem Reichtum der Beobachtungen und Gedanken überrascht sein.“ (Christ 1980, 210). Die „Span“-Metapher ist entliehen von Freytag 1872, 913.
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fern sie genügend Material, aus dem sich ein eigenes gesellschaftsgeschichtliches Entwicklungsnarrativ bilden lässt. Es ist sehr wohl möglich (und nötig), den „Staatsrechtler“ Mommsen vom „Stigma des Ungeschichtlichen“15 zu befreien und gerade in der impliziten historischen Theorie einen zentralen Grund für die dauerhafte Plausibilität seiner Analyse zu erkennen.16 Allein mit dem Vorwurf einer absoluten Fixierung auf institutionalisierte Rechtsstrukturen kann man sich das „Staatsrecht“ jedenfalls nicht mehr vom Leib halten. Wer aber demzufolge in Mommsen einen „Keimträger für die Sozial- und Kulturgeschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts“17 sieht, wie 1958 schon Arnaldo Momigliano, der wird in der Konsequenz auch einen neuen Blick auf Matthias Gelzer werfen. Es lag daher nahe, sich in einem zweiten Schritt der Untersuchung von Gelzers „Nobilität“ zu widmen und jenes Schlüsselwerk der „Mommsen-Emanzipation“18 einer korrelativen Lektüre zu unterziehen, das heißt, genauer auf die Spezifika bzw. Aneignungen seiner Gesellschaftskonzeption einzugehen. In der berühmten „Vorbemerkung“ zu seiner 1912 erschienenen „Nobilität“ hatte sich Gelzer ostentativ von der Konstruktion des Rechtssystematikers Mommsen distanziert und sich dagegen selbst als quellenhöriger „Gesellschaftshistoriker“ tituliert. Während er sich im Folgenden aber methodisch von Mommsens Rechtssystematik verabschiedet und stattdessen einem philologisch-antiquarischen Ansatz folgt, während er also der Form nach mit dem „Staatrecht“ bricht, bleibt er ihm in den inhaltlichen Befunden doch verbunden. Was Gelzer nämlich im ersten Teil seiner Arbeit liefert, ist weniger eine revolutionäre Neubestimmung als eine vertiefende Fortführung dessen, was Mommsen schon als gesellschaftsgeschichtlichen Gehalt eingelagert hatte. Zwar modifiziert bzw. präzisiert er Mommsens Schichtungsmodell, doch hinsichtlich ihrer grundlegenden Konzeption römisch-republikanischer Gesellschaft formuliert die „Nobilität“ hier keinen fundamentalen Widerspruch zum „Staatsrecht“. Freilich entfaltet Gelzer seine Thesen hier nun unter dem neuen Signalbegriff „Gesellschaft“. Die kollektive Akzeptanz einer nach Ehre und Leistung stratifizierten Gesellschaft wird dabei von Gelzer ebenfalls emphatisch hervorgehoben. Er apostrophiert die jede Normenregelung übertrumpfende Tradition der Römer, nur diejenigen ins Amt zu wählen, die über einen bestimmten Prestigewert verfügen. Eben diese gewissermaßen irrationale Erklärung wird dann aber von dem zweiten Teil der „Nobilität“ interessanterweise gerade wieder in Frage gestellt oder, genauer gesagt, durch ein funktionalistisches Argument konterkariert. Gelzers „Klientelthese“ ist 15 16
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Heuß 1956, 56. Mit einer solchen Wertung schließt man nicht zuletzt auch an Mommsens eigene Intention an. 1875 hatte der an seinen Freund Jacob Bernays geschrieben, dass das „Staatsrecht“ für „die besten Leser […] die Fortsetzung der Geschichte [= Römische Geschichte“, Anm. S. St.] sein“ (zit. nach Galsterer 1989, 188) werde. Momigliano 1958, 4. In ähnlicher Weise nennt auch Joachim Fest Mommsen einen Forscher, der die Altertumswissenschaft „über alle politische Betrachtung weit hinaus, zur Sozial-, Wirtschafts- und Kulturgeschichte geöffnet hat“ (Fest 1993, 56). Heuß 1986, 612.
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sehr bekannt geworden. Mit ihr wird gemeinhin der Beginn eines Interesses an den sozialen Bedingungen römischer Politikordnung assoziiert, obgleich inzwischen mehrheitlich bezweifelt wird, dass die literarischen Quellen eine ausreichende Beweiskraft für die These einer einseitig-politischen Instrumentalisierung der Klienten liefern. Gelzer pauschal gegen Mommsen zu stellen – so das Ergebnis dieser Untersuchung – erweist sich jedenfalls aus zweierlei Gründen als leichtfertig. Zum einen, weil man das Erkenntnispotential des „Staatsrechts“ ungeprüft lässt, zum anderen, weil man gleichzeitig eine besondere theoretische Zusatzleistung der „Nobilität“ außer Acht lässt, die wohl weniger von Gelzers Quellenstudium als von seiner emphatischen Lektüre historiographischer Forschung, insbesondere von Tocqueville und Fustel, inspiriert ist. Wie lässt sich die Konstellation der beiden Zentralgestalten Mommsen und Gelzer also abschließend beschreiben? In welchen transformationstheoretischen Zusammenhang sind sie zu bringen? Beide Autoren sehen die römische Gesellschaft grundsätzlich politisch definiert, das heißt sie beschreiben ihren Aufbau orientiert an der Ämterstruktur bzw. dem individuellen Chancenreichtum auf dem politischen Spielfeld. Beide eint ebenso die Vorstellung, dass die römische Gesellschaft nicht im Kontext von wirtschaftlichen Faktoren und materiellen Bedingungen, also nicht „sozioökonomisch“ zu beschreiben sei. Sie bewegen sich mit ihren gesellschaftsgeschichtlichen Erörterungen außerhalb des Bereichs der Historischen Schule der Nationalökonomie, in deren Kontext man in der allgemeinen Geschichtswissenschaft gemeinhin die ersten Ansätze einer „Gesellschaftsgeschichte“ ansiedelt.19 Weder über die Nationalökonomie noch über die Kulturgeschichte, sondern über die politische Strukturgeschichte nähern sie sich dem „Sozialen“. Obgleich nun ab einem bestimmten Zeitpunkt die politische Rangordnung theoretisch jedem den Zensus erfüllenden Bürger offenstand, heben beide Autoren im weiteren Verlauf ihrer Analyse die faktische Geschlossenheit des politischen Spielfeldes hervor, die durch die kollektive Akzeptanz einer Prestigehierarchie bedingt war und ein deutlich irrationales Element darstellt. In der „Sogkraft des Aristokratischen“ (Gelzer) bzw. der „andauernden Vormachtstellung des Adels“ (Mommsen), die etwa durch performative Strategien wie Kleiderwahl und Theatersitzplatzordnung abgesichert wird, erkennen beide einen zentralen Wesenszug römischer Gesellschaft. Während Mommsen diesen Befund aber als eine Art Resümee formuliert – oder anders gewendet: nicht als Problem identifiziert, das einer rationalen Erklärung bedürfe – eröffnet sich für Gelzer darin erst eine neue Frage. Damit beginnt seine entscheidende Zusatzleistung in der „Nobilität“. Seine „Klientelthese“ liefert eine Erklärung dafür, dass Roms Gesellschaft stratifiziert blieb, indem sie auf die herrschaftssichernde Funktion des Bindungswesens verweist. Für ihn ist das Klien19
Vgl. Kocka 1986, 60 f. Beide Autoren benutzen den Terminus „Gesellschaft“ eben in auffälliger Weise gerade nicht als diskursiven „Oppositionsbegriff“: Bei Mommsen fällt der Begriff im „Staatsrecht“ gar nicht, bei Gelzer ist in der „Nobilität“ von Gesellschaft nur in der „Vorbemerkung“ und dann noch viermal die Rede (vgl. Gelzer Nob. 1912, 43; 49; 81 bzw. 115). Es bleibt daher die Vermutung, dass beide Autoren die ökonomische Konnotation des Terminus als unpassend für ihre explizit politische Konzeption römischer Gesellschaft empfanden.
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telwesen das entscheidende soziale Bindemittel, das die Gesellschaftsschichtung stabil hält. Einerseits lenkt Gelzer damit den Blick noch stärker als Mommsen auf den außergewöhnlichen Umstand, dass in Rom der Adel vom Erfolg im politischen Wettkampf abhängig blieb, dass die nobiles Wahlen gewinnen mussten, um ihren privilegierten sozialen Status zu bewahren. Auf der anderen Seite erweitert Gelzers „Klientelthese“ das Mommsensche Schichtungsmodell, dem er in seinem ersten Teil im Wesentlichen gefolgt war, um ein rationalisierendes Element. Das „System persönlicher Beziehungen“20 hat die gleichsam irrationalen Qualitäten „Gewohnheit“ und „Herkommen“ als Erklärungsmuster und entscheidende Stratifikationsinstanz im zweiten Teil der „Nobilität“ ersetzt. Daran schließt dann möglicherweise auch eine Veränderung in der generellen Konzeption von Gesellschaft an. Während Mommsen nicht von Gesellschaft spricht und sie doch als politisch definierte Prestigehierarchie beschreibt, verwendet Gelzer den Begriff schon in seiner „Vorbemerkung“ ohne weitere Erläuterung. Zumindest im zweiten Teil bezieht er dann implizit auch eine neue Dimension des Terminus mit ein. Um 1900 wurde der Gesellschaftsbegriff nämlich – so war unter III.3 festgehalten worden – nicht mehr primär auf die Summe von konkreten Menschen, sondern vor allem auf die Formen ihrer Sozialbeziehungen bezogen. An Georg Simmels 1890 erschienener Studie „Über sociale Differenzierung“ lässt sich ein entscheidender Konnotationswandel festmachen: Gesellschaft wird hier nicht mehr definiert als die „bloße Summe der Einzelnen“, sondern als die „Summe der Wechselwirkungen ihrer Teilhaber“.21 Gelzers „System“ der Nah- und Treubeziehungen könnte somit nicht nur seinem althistorischen Erklärungseifer für das Phänomen der stabilen römischen Adelsherrschaft geschuldet sein, sondern auch als Effekt eines zeitgenössischen Konnotationswandels verstanden werden, den der Gesellschaftsbegriff um die Jahrhundertwende erfuhr. Die vielfältigen Formen der Beziehungen zwischen den Menschen traten jetzt in den Fokus des Interesses. Das – mit Max Weber gesprochen – „soziale Handeln“ wird zum Inhalt des Gesellschaftsbegriffs, nicht mehr nur die Schichtung nach spezifischen Kriterien. Die Untersuchung von Gesellschaft wurde damit zu einer Untersuchung der Strukturen sozialer Interaktionen – reziproke Abhängigkeitsbeziehungen wurden in diesem Zusammenhang interessant. Allerdings schweigt Gelzer beharrlich zu jeglichen fachübergreifenden theoretischen Einflüssen auf seine Konzeption. Einzig in seinem „Cicero“-Vortrag von 1920 bemerkt er beiläufig, die „soziale Frage“ sei „das Modeinteresse“22 der Zeit. Möglicherweise ist hier ein Anzeichen dafür zu sehen, dass sich Gelzer mit seiner Fragestellung, seiner Erforschung von „Gesellschaftsgeschichte“, im allgemeinen Diskursmuster seiner Gegenwart bewegt. 20 21 22
Gelzer Nob. 1912, 49. Vgl. Simmel 1989 [1890], 126; 130. Gelzer Röm. Ges. Cic. 1962 [1920], 154. Weiter heißt es hier, dass sich „die Geschichtswissenschaft der letzten Jahrzehnte mit Vorliebe der Erforschung der sozialen und wirtschaftlichen Zustände zugewandt“ habe, es inzwischen „sogar eine weitverbreitete Meinung [gibt], welche Geschichtswissenschaft gleichsetzt mit Soziologie, ‚Lehre von der menschlichen Gesellschaft‘“.
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In jedem Falle nutzt Gelzer die aktuelle „Mode“ forschungstaktisch geschickt, um sich von Mommsens Fundamentalwerk abzusetzen. Dass er damit aber – jenseits der Klientelthese – aufs Ganze gesehen wirklich „neue Voraussetzungen“ schafft, erweist sich als eine vorschnelle Behauptung. Beide, Gelzer wie Mommsen, benutzen ihre jeweiligen Zentralbegriffe vor allem auch als Aushängeschilder für das zeitgenössische Publikum: Bei Mommsen ist es der Staat, der nach außen hin Werbung für seine fundamentale Untersuchung machen soll, bei Gelzer ist es die Gesellschaft, die als fortschrittliches Schlagwort über einer Studie steht, die viel mehr in Anschluss an als in Abkehr von Mommsen auf die gesellschaftsgeschichtlichen Rahmenbedingungen römischer Politik achtet. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg hat man Gelzers „Gesellschaftsgeschichte“ dann reflexhaft als eindeutigen Oppositionsbegriff zu „Staatsrecht“ verstanden. Dass seine empiriegeleitete Studie dabei künstlich zu einem programmatischen Alternativentwurf stilisiert wurde, lässt sich erst aus einigem Abstand erkennen. Und damit einhergehend auch, dass sich Gelzer im ersten Teil seiner Habilitation selbst schon auf eine heimliche Schatzsuche auf das steinige Terrain des „Staatsrechts“ begeben hatte und dabei durchaus fündig geworden war. Die hier unternommene Studie plädiert damit einmal mehr für Skepsis gegenüber einem allzu leichtfertigen Umgang mit dem Fortschrittsbegriff innerhalb der Geisteswissenschaft. Fortschritt springt eben in der Tat nicht einfach „von selbst bei einer einwandfreien Behandlung des Gegenstandes wie aus einem Automaten heraus“23, sondern muss von einer fremden Feder nachträglich synthetisch hergestellt werden. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass sich die Lesart der „Nobilität“ als epochales Schlüsselwerk erst nach dem Zweiten Weltkrieg wirklich durchsetzt. Zuvor war in Rezensionen und Fachaufsätzen vor allem der erste Teil kontrovers diskutiert worden, während der zweite Teil meist unbeachtet blieb. Diese Tendenz kehrte sich im weiteren Verlauf der Gelzerforschung geradewegs um. In den 1960er und 70er Jahren begann man, sich verstärkt auf den zweiten, „politologischen“ Abschnitt von Gelzers Arbeit zu konzentrieren, den man nun als anschlussfähigen Ausgangspunkt für eigene „sozialgeschichtliche“ Forschungsinteressen entdeckte. Möglicherweise spielen hierbei auch Verschiebungen im ideologischen Zeitrahmen eine Rolle. Es ließe sich zumindest als Hypothese formulieren, dass wissenschaftliche Beobachter, denen die kollektive Akzeptanz von Hierarchien in ihrer eigenen Zeit fragwürdig geworden war, eher dazu neigten, ein Phänomen wie das Klientelwesen als Erklärungsmuster zu akzeptieren. Das intellektuelle Verlangen nach einer rationalen Begründung für die anhaltende Stabilität der aristokratischen, durch keinen Klassenkampf zu verunsichernden Herrschaft fand in Gelzers Klientelthese eine plausible Lösung. Sie könnte, provokativ gesagt, vor dem Hintergrund der grundsätzlich antiautoritären Infragestellung von Schichtung und der Skepsis gegenüber irrationaler „Gefolgschaft“ in den 1960er und 70er Jahren eine besondere (und vom durch und durch konservativ gesinnten Verfasser völlig unbeabsichtigte) dynamis entwickelt haben. Hier, auf der Ebene der Beobachter der Beobach23
Heuß 1979, 145.
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ter, der Produzenten von Wissenschaftsgeschichte, die Mommsen und Gelzer miteinander in Beziehung setzten, wäre dann der eigentliche Ort der Transformation auszumachen. Dass die Forschung Gelzers „Gesellschaftsgeschichte“ bis heute reflexhaft als Oppositionsbegriff zu „Staatsrecht“ versteht, wäre somit das Ergebnis einer Kanonbildung, die sich die Daten der Forschung nach eigenen Interessen ordnet. Eine Untersuchung der althistorischen Forschung der 1960er und 70er Jahre auf ihre zeitgenössischen Einflüsse und ideologischen Implikationen hin, stellte somit eine lohnende weiterführende Aufgabe dar. Denn wenn es – nach Max Weber – das Schicksal aller Wissenschaft ist, ständig zu überholen und „überholt zu werden“,24 einmal konstituierte Gedankengebäude niederzureißen und die darin vermuteten Tatsachen in neuem Licht anzuordnen, dann ist auch die Wissenschaftsgeschichte von jener „ewige[n] Jugendlichkeit“25 belebt, die dem Wesen aller historischen Forschung eigen ist. Deren Standortgebundenheit anzuerkennen meint nicht, die Bewunderung für jene klassischen Werke zu verlieren, bei denen die Qualität der Frage die spätere Antwort weit überdauert. Aber irgendwann wechselt die Farbe: die Bedeutung der unreflektiert verwerteten Gesichtspunkte wird unsicher, der Weg verliert sich in die Dämmerung. Das Licht der großen Kulturprobleme ist weiter gezogen. Dann rüstet sich auch die Wissenschaft, ihren Standort und ihren Begriffsapparat zu wechseln und aus der Höhe des Gedankens auf den Strom des Geschehens zu blicken. Sie zieht jenen Gestirnen nach, welche allein ihrer Arbeit Sinn und Richtung zu weisen vermögen.26
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Vgl. Weber 1920, 14. Weber 1904, 79. Ebd. 87.
ANHANG TRANSKRIBIERTER AUSZUG AUS DEN „MEMORABILIEN“ VON MATTHIAS GELZER1 7 […] Heinze fragte mich im Anschluß an Sallust hauptsächlich über Ciceros politische Stellung, worüber ich die landläufige Ansicht mitzuteilen wußte, aber auf Heinzes ironische Nachforschung gestehen mußte, daß ich seit meiner Schulzeit von ihm nur de divinatione gelesen hatte. Diese beschämende Feststellung gab mir indessen den Ansporn, die Lücke baldmöglichst auszufüllen, und legte so den Grund zu meiner spätern wissenschaftlichen Arbeit. Von Heinze, dem ebenso fein- als auch scharfsinnigen Philologen, hatte ich schon zuvor durch eine Vorlesung über die Eigenart der römischen Dichtung tiefgehende Anregung empfangen. Er war der intim[e] Freund Schönes, und so hatte er mich gleich sehr freundlich aufgenommen. Nicht minder ist das von Bethes zu rühmen, die einst in Basel bei Großmama Gelzer und bei Fueters verkehrt hatten und mich häufig einluden. Noch öfter weilte ich im gastlichen Haus von Frau Elisabeth His-Vischer, einer Cousine meines Urgroßvaters, deren verstorbene Tochter aber auch eine geliebte Jugendfreundin meiner Mutter gewesen war. Nun lebte sie zusammen mit der originellen Tochter Manu (Marie), bei der sich seltene Häßlichkeit mit fröhlicher Herzensgüte und großen musikwissenschaftlichen Kenntnissen vereinigte. Durch Hisens kam ich auch zu einer Nichte (geb. Respinger), der Frau des Theologen Thieme, und lernte so allmählich viele Menschen kennen, vielfach auch durch mein Cellospiel vermittelt. So fand sich ein sehr strebsames Streichquartett zusammen. 1
Matthias Gelzers „Lebenserinnerungen“, die er „in den Sommerferien 1949“ (Mem. 1) begonnen, im „September 1958“ (Mem. 39) fortgesetzt, im „August 1968“ (Mem. 78) wiederaufgenommen und schließlich 1970 noch mit einigen Zusätzen versehen hat, nannte er selbst scherzhaft seine „Memorabilien“ (vgl. Strasburger 1977, 75 f.). Sie sind bis heute unveröffentlicht. Gelzers jüngster Enkel, Florian Gelzer, hat mir großzügiger Weise einen Einblick in das mit Schreibmaschine geschriebene, rund 150seitige Originalmanuskript ermöglicht. Es befindet sich im Privatbesitz der Erbengemeinschaft und ist von ihr explizit nicht zur vollständigen Veröffentlichung freigegeben worden. Einen Auszug zu transkribieren, wurde mir hingegen gestattet. Es handelt sich um eine Passage, die den im Kontext dieser Arbeit besonders interessanten Zeitraum von 1908 bis 1915 abdeckt. Gelzers Erzählung setzt mit der Erinnerung an die Verteidigung seiner Dissertation bei Richard Heinze in Leipzig ein und endet mit der Schilderung seiner Erlebnisse während seiner ersten Professur in Greifswald. In chronologischer Reihenfolge werden biographische Anekdoten, Karriereentscheidungen und (hin und wieder) werkbiographische Angaben mit nüchternem Wortlaut dargestellt. Der Auszug soll hier weniger als Quellennachweis dienen (das auch), als vielmehr einen Eindruck von Gelzers „Gestus der Erinnerung“ geben. Die Seitenzahlen, nach denen die „Memorabilien“ in dieser Arbeit auch zitiert werden, sind dem Original entnommen. Mein ausdrücklicher Dank gilt nochmals Florian Gelzer.
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Als Student konnte man für ein billiges Geld den Hauptproben der Gewandhauskonzerte beiwohnen, die Niekisch leitete; am Samstag Nachmittag hörte man die Thomaner. Außerdem gab es Kammermusik in Fülle dazu besuchte ich oft mehrmals in der Woche die Oper, wo der Sitzplatz im 3. Rang 75 Pf. kostete. Neben Wilcken vertrat Mitteis die juristische Seite der Papyrologie. Dadurch befreundete ich mich auch mit einigen jungen Rechtshistorikern wie Hans Lewald und besonders dem mir mit herzlicher Liebenswürdigkeit entgegenkommenden Ungarn Bertalan Schwarz. Die gütige, schon über 80jährige Großmama Gelzer spendete mir wiederholt reichliche Mittel zu größern Reisen. So sah ich Dresden und Berlin, an Weihnachten fuhr ich zweimal zu meiner Tante Julie Schultz-Gelzer nach Göttingen. Einmal reiste ich mit Eduard His heimwärts über Dresden-Prag-Nürnberg-Bamberg-Würzburg-Stuttgart. In den Pfingstferien 1908 traf ich mich mit Freund Socin in Wien. Wir genossen bei herrlichem Wetter alle Schönheiten der Kaiserstadt, den Prater, Schönbrunn und Belvedere und konnten obendrein den gewaltigen Festzug ansehen, den Vertreter aller Länder der Doppelmonarchie in ihren heimischen Trachten zu Ehren des 60jährigen Regierungsjubiläums des ehrwürdigen Franz Joseph veranstalteten. Die entzückendsten Bilder boten die Damen des Adels in prunkvollen Karossen, das ganze wie ein letztes Alpenglühen vor dem so nah bevorstehenden Zusammenbruch. Nach dem Doctorexamen besuchte ich für einige Tage Freund Von der Mühll in Berlin und hörte die Vorlesungen der dortigen Koryphäe der Wissenschaft: v. Wilamowitz, Diels, Norden, Vahlen, Eduard Meyer, Otto Hirschfeld, Adolph Wagner. Das einmalige Erleben hinterließ anschauliche Erinnerung. Einen großen Eindruck erhielt ich nur von Wilamowitz, besonders in einer schwach besuchten Vorlesung, in der er, völlig frei redend, die verschiedenartigen Möglichkeiten der Textüberlieferung erörterte. Von einem Publicum über Platon blieb nur das Bild des weißhaarigen Redners haften. Beim Abschied von Leipzig deutete mir Wilcken an, daß ich mich 7b später bei ihm habilitieren könne, riet mir aber, mich von der Spätantike abzukehren, da Arbeiten auf diesem Gebiet von der Zunft nicht als Leistungen in alter Geschichte anerkannt würden. Natürlich freute ich mich über diese Aufmunterung, aber da mein Vater früher immer erklärt hatte, ich könne bei meinem Studium nur Gymnasiallehrer werden, seine beschränkten Mittel ließen niemals an eine Habilitation denken, war ich gespannt, wie er sich nun stellen würde. Zu meiner großen Freude fand er sich bald mit dem neuen Lebensplan ab. Natürlich hatte er selbst auch Freude an meiner erfolgreichen Promotion, zumal als auch die gedruckten Besprechungen der Dissertation Wilckens Urteil bestätigten. Für das erste Vierteljahr 1910 holte mich Rektor Schäublin heran, in den beiden 2. Klassen des Obergymnasiums den erkrankten Dr. Veraguth in 8 Geschichtsstunden in der Woche zu vertreten. Das tat ich desto lieber, weil gerade die römische Kaiserzeit zu behandeln war. Ich warf mich mit vollem Eifer in diese Aufgabe, und die Schüler gingen gut mit. In der einen der Klassen hatte ich schon 1907 den er-
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krankten „Sester“ im Lateinunterricht ersetzt. Als Dr. phil. bedurfte man damals in Basel noch keiner besonderen Lehramtsprüfung. Ungleich wichtiger wurde für mich, daß ich zu dieser Zeit bei einer kleinen Einladung im Elternhaus Marianne Wackernagel sah. Ich kannte sie schon lange, da ihr Vater der Vetter meines Vaters war und die Familien sich im Sommer regelmäßig im Schönthal und auf Steinägerten besuchten. Dazu war Marianne eng befreundet mit meiner gleichaltrigen Schwester Sophieli. Nun war sie kürzlich aus dem berühmten Pensionat der Mlle Bréting in Genf zurückgekehrt, und ihr Anblick entzündete in mir blitzartig die leidenschaftlichste Liebe. Der feurige Blick ihrer Augen, ihr lebenssprühendes Temperament und ihre ursprüngliche Musikalität, wie sie sich im süßen seelenvollen Ton ihres Violinspiels ausdrückte, gaben ihr einen Charme, der mich nicht mehr losließ. Obwohl ich öfter Gelegenheit fand, mit ihr zusammenzusein, besonders durch gemeinsames Musizieren, wagte ich nicht, mich ihr gegenüber zu erklären, da mir die festen Formen, in denen sich nach der altüberlieferten Auffassung unserer Elternhäuser eine Verlobung anzubahnen hatte, wohl bekannt waren. Wichtigste Voraussetzung war zunächst, daß der Freier einen richtigen Beruf aufzuweisen hatte. Mariannes weiblichem Instinkt blieb natürlich meine Liebe, aber ihr jungfräulicher Stolz verbot ihr, es mich merken zu lassen. Da sie erst 18 Jahre, ich 23 zählte, nahm ich mir vor, zunächst zum frühest möglichen Zeitpunkt Privatdozent zu werden. Doch verzehrte mich nun die Sorge, daß ein solcher Juwel inzwischen einem Andern zu Teil werden konnte. Da entschloß ich mich, meinen Seelenzustand auf einem Spaziergang meinem Vater zu offenbaren. Er verstand mich völlig, und im Sommer fanden sich die Eltern bereit, mit den Eltern Wackernagel zu reden. Diesen war ich willkommen, sie hielten es aber für richtig, die Tochter erst zu fragen, wenn ich habilitiert sei. Doch versprachen sie für den Fall, daß ein anderer Bewerber auftrete, Marianne zu unterrichten. Mir schien es zweckmäßig, meine Studien außerhalb Basels fortzusetzen. Um in der Nähe der Eltern zu bleiben, entschied ich mich für Freiburg i. B., wo damals die Geschichte durch Fabricius, v. Below und Meinecke in schönstem Flor stand, nicht minder die klassische Philologie durch Eduard Schwartz und Richard Reitzenstein. Anfänglich wollte ich noch Vorlesungen hören, doch hielt mich bald das eigene Arbeiten ab. Immerhin wußte ich nun, wie es die Herren machten. Eduard Schwartz enttäuschte mich, weil er das Colleg offenkundig als lästige Pflicht absolvierte. Er stak damals in den Concilsakten und gehörte zu den Gelehrten, die von ihrer jeweiligen wissenschaftlichen Beschäftigung absorbiert werden. Fabricius traktierte in seinem Seminar Polybios’ 6. Buch, was 8 mich sehr interessierte. Er hatte bei der Beschreibung des römischen Lagers eine neue Erklärung einer schwierigen Stelle herausgefunden und wollte die Teilnehmer an seine Entdeckung heranführen. Zu seiner Überraschung merkte ich sofort, worauf er hinauswollte, und „zerstörte“ ihm, wie er später lachend sagte, sein Konzept, was zur Folge hatte, daß er mich wie Wilcken fortan in sein Herz schloß. Er war einer der lautersten Charaktere, die mir in der deutschen Professorenwelt begegneten. Er nahm mich in freundlichster Weise in seinen Familienkreis auf, woraus eine
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Freundschaft erwuchs, die mich bis zu seinem Tod 1942 aufs höchste beglückte und die ich eben jetzt (1949) bei einem Zusammentreffen mit seiner Tochter Sophie, der Gattin des Dekans Wettmann in Lorrach, auf dem Kilchzimmer erneuern konnte. Er forderte mich auf, mich bei ihm zu habilitieren. Da Wilcken, den ich im Sommer 1911 auf der Rückreise von einem Schweizer Aufenthalt in Basel begrüßte und der eben im Begriffe stand, von Leipzig nach Bonn zu gehen, damit einverstanden war, nahm ich dankbar an. Ich hatte zunächst anläßlich einer neuen Publikation byzantinischer Papyre in Cairo einen Aufsatz zur Ergänzung meiner Dissertation geschrieben. Dann erkor ich mir als Thema der Habilitationsschrift, das Wesen der Nobilität der römischen Republik zu ergründen. Es erwuchs einmal aus der nunmehr mit Eifer aufgenommenen Cicerolektüre. Weiter hatte mir bereits Münzer in Basel den Wunsch ausgesprochen, ich möchte ihm einige umfängliche Artikel für die RE abnehmen, zunächst den Caesarmörder Brutus. Mit meiner Dissertation hing das Thema insofern zusammen, als ich mich auch dort namentlich für die Gesellschaftsgeschichte interessiert hatte. Mein Blick dafür war mir (zunächst unbewußt) dadurch geschärft worden, daß ich in St. Aubin an Alexis de Tocquevilles letztes Meisterwerk L’ancien régime geraten war. Dann hatte mich Vetter Eduard Fueter im Anschluß an meine Dissertation auf die Darlegungen Fustels de Coulanges über die Ursprünge des französischen Feudalsystems hingewiesen, worin ich auch auf die Bedeutung der altrömischen Clientel stieß. Aus diesen Werken wurde mir klar, wie das Funktionieren einer politischen Verfassung durch die jeweilige soziale Struktur bedingt ist. Dieser Gedanke war damals durch die Autorität von Mommsens staatsrechtlicher Betrachtungsweise in Deutschland ziemlich verschüttet. Als Schweizer besaß ich auch vor den Angehörigen der modernen Großstaaten einen natürlichen Vorsprung, mir die Verhältnisse der römischen Republik anschaulich vorzustellen. Vor allem ging ich der Frage nach, wieso bei einem reichlich demokratischen Wahlrecht die hohen Ämter doch immer wieder den vornehmen Herren zufielen. Nachdem ich einmal die Ursache in den mannigfachen Treuverhältnissen gefunden hatte, arbeitete ich mit fieberhafter Emsigkeit bis zur körperlichen Erschöpfung, die sich durch Versagen des Verdauungsapparats ankündigte und durch das Heilmittel des Fastens nur verschlimmerte, sodaß mir im Sommer 1911 nichts übrig blieb, als mich in Basel und auf der Steinägerten zu kurieren. Dann konnte ich mit neuer Kraft die Niederschrift beginnen, immer beflügelt vom Bild der holdseligen Marianne. 9 Aus meinem Leben, Fortsetzung (aus dem Jahr 1949) Entspannung brachte mir der Verkehr mit einem angeregten Kreis begabter Altersgenossen. Da traf ich einmal Tycho v. Wilamowitz, den trefflichen Sohn des berühmten Vaters, und seinen Freund, den unglaublich gescheiten Ernst Kapp. Andererseits begegnete mir in Freiburg auch wieder ein Leipziger Musikfreund, der einige Jahre ältere Mediziner Dr. v. Lippmann. Der führte mich in den Kreis der Meineckeschüler ein, der sich wöchentlich auf einer Bude zu musikalischen und literarischen Zusammenkünften versammelte. Als Violinist wirkte dabei der originelle Maestro Friedrich Hoff mit, der gleichaltrig mit mir, schon einen komischen
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Vollbart trug und damals auch Geschichte studierte. Der glänzendste der Meineckeschüler war Walther Sohm, der Sohn des Juristen, der eigene Novellen im Eichendorffstil vortrug mit Liedeinlagen, die er zur Guitarre sang. Leider kam er im Anfang des Kriegs von 1914 durch einen Unglücksfall ums Leben. Außer ihm stachen noch hervor Siegfried Kähler (jetzt Professor der neuern Geschichte in Göttingen) und Marcks, der Sohn des Historikers, der als 2. Semester im Seminar des Philosophen Rickert ein solches Referat hielt, daß Rickert es als dissertationsreif bezeichnete. Zu unserer Überraschung wurde er plötzlich Offizier (und fiel 1944 als General in der von ihm verteidigten Festung Cherbourg). Auch sympathische Studentinnen gehörten dazu. Nach einiger Zeit schloß sich ein Teil noch näher zusammen, indem wir in einer Pension einen eigenen Mittagstisch bildeten, zu dem ich auch Wilamowitz und Kapp brachte. Da blitzte es denn beständig in witzigen Wortgefechten, worin Wilamowitz sich durch Schlagfertigkeit auszeichnete. Inzwischen meldete ich mich in aller Stille zur Habilitation, und im Februar 1912 fand das Colloquium statt. Zunächst waren nur 6 Fakultätsmitglieder da, obenan Schwartz als Dekan. Ich hielt einen Vortrag über „Die Entwicklung Roms im Rahmen der Gesellschaftsgeschichte“ worin ich meine bisherigen Forschungen zusammenfasste. Nachdem mir Fabricius gesagt hatte, ich könne gut 5/4 Stunden reden, sagte mir Schwartz am Vortage, 3/4 seien das äußerste, lieber noch kürzer. Ich strich also verzweifelt zusammen und sprach im Eiltempo. Das Colloquium verlief ebenso glimpflich wie das Doctorexamen. Nachher hörte ich vom katholischen Historiker Finke, der gute Fabricius habe mich schon vorher so gerühmt, daß meine Habilitation nicht anders als positiv ausfallen konnte. So war ich denn mit 25 Jahren Privatdozent in Freiburg. Im Sommersemester 1912 hielt ich vor 3 Hörern meine erste Vorlesung über die hellenistischen Monarchien. Ich wählte absichtlich ein Gebiet, von 10 dem ich selbst besonders wenig wußte. Einer der Hörer war rührenderweise Ernst Kapp, sodaß sich meine gewaltigen Anstrengungen doch auch äußerlich lohnten. Von 1912–13 las ich 3stündig Römische Kaiserzeit vor ca 20 Leuten und hielt ein ebenso gut besuchtes Proseminar über griechische Inschriften. Mein Bekanntenkreis dehnte sich nun noch weiter aus, ebenso durch musikalische wie wissenschaftliche Beziehungen. Für die Musik erwies sich besonders nützlich eine ältliche Studentin Hanna Gaede, deren Bruder, ein Physiker, durch die „Gaede-Pumpe“ reich geworden, seine Mutter und Schwester in gute Verhältnisse versetzte. Hanna sang selbst mäßig, lockte aber durch die guten Nachtessen zahlreiche Musikanten an. Der vornehmste war Alexander v. Dusch, von Beruf Amtmann, Sohn eines badischen Ministers und Urenkel des gleichnamigen Freundes Carl Maria v. Webers. Er war ein ebenso guter Baritonist als Pianist, hatte mehrere Jahre Musik studiert, z. B. bei Vincent d’Indy, und auch verschiedene klangvolle romantische Kammermusikwerke komponiert. Des weitern gruppierten sich um Hoff auch verschiedene Streichquartette, die sich meist in der Wohnung einer englischen Bratsche spielenden Musiklehrerin, Miss Ingram, versammelten und wo mit großem Ernst genußvoll musiziert wurde.
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Durch die Wissenschaft trat mir damals der Archäologe Friedrich Drexel nahe, der Assistent von Fabricius am Limeswerk. Er war ein gelehrter und hochgebildeter Mensch von eigenem Gepräge, im allgemeinen verschlossen, aber mir treulich zugetan und meinen Blick auf das mir wenig vertraute Gebiet der Archäologie hin erweiternd. Ebenso förderlich wurde mir der freundschaftliche Verkehr mit dem einige Jahre älteren genialischen Joseph Partsch, der bereits ordentlicher Professor für römisches Recht war und 1910 meine Dissertation mit einer schmeichelhaften Besprechung begrüßt hatte. Ein 3. anregender Austausch entwickelte sich mit Georg Weise, einem Schüler Johannes Hallers, der sich aber schon als Schüler und Student mit Ausgrabungen mittelalterlicher Baudenkmäler beschäftigt hatte und schließlich zur Kunstgeschichte überging. Er war 1912 bereits mit der liebreizenden Gerty Andreae aus Frankfurt verheiratet. Das war ein Ziel, dem ich nun auch mit Macht zustrebte. Marianne war im Sommer 1912 von ihren Eltern nach England gebracht worden, wo sie auf dem Lande bei einer Dame und deren zwei unverheirateten Töchtern ihr aufnahmebereites Gemüt mit tiefwirkenden Eindrücken bereicherte. So nahm sie begeistert an den frauenrechtlerischen Bestrebungen der dortigen Gesellschaft teil. Die Eltern Wackernagel genehmigten freundlich, daß ich die Korrespondenz eröffnete. Diese verlief indessen nicht so gradlinig, wie ich es mir ausgemalt hatte. Wohl antworte[-] 11 te mir Marianne, daß sie keinen andern als mich haben möchte, aber sie bezeugte keine Lust, sich sogleich unter das Joch der Ehe zu begeben. So mußte ich bis zu ihrer Rückkehr warten, nach der mir am 7. Oktober auf der Schönthalweide eine heimliche Zusammenkunft versprochen wurde. In deren Verlauf zerschmolz dann der Widerstand und auf der Höhe der Lauchweide gab sie mir ihr Jawort, wonach ich glückselig wieder talabwärts eilte. Darauf folgte nach allen Regeln des Alt-Baslerbrauchs die öffentliche Verlobung und am 1. April 1913 die Hochzeit. Der gütige Papa Wackernagel spendierte uns eine wundervolle Reise. Von Genua fuhren wir auf einem Ozeandampfer nach Neapel, von dort ging es über Pompeji zu einem längeren Aufenthalt in Amalfi, dann über Salerno und Paestum abschließend für 2 Wochen nach Rom. Wo es keine Eisenbahnlinien gab, reiste man noch in offenen von Pferden gezogenen Wagen! Unvergeßlich bleibt mir vor allem die Fahrt um das Gebirge bei Sorrent mit dem Blick auf das blaue Meer und Capri. Für mich als Erforscher der römischen Geschichte war diese Reise obendrein auch wissenschaftlich höchst bedeutsam und desto mehr, weil der 1. Weltkrieg für lange Auslandsreisen verhinderte. In Freiburg begannen wir den eigenen Haushalt in einer hübschen Fünfzimmerwohnung an der Reichsgrafenstraße und auch mit einer Donna […] 12 […]
Das Leben in Freiburg bot Abwechslung in Fülle. Wir waren viel eingeladen. Oft kam Besuch aus Basel. Wir wanderten im Schwarzwald und waren vielerorts willkommene Musikanten. Oft wurde bei uns musiziert. Daneben verfaßte ich meine großen Artikel über Tiberius und Germanicus. In der Vorlesung hatte ich im
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Sommersemester 1913 kein Glück. Ich wollte die spätrömische Kaiserzeit behandeln. In der ersten Stunde erschien eine Anzahl Zuhörer, aber da ich unvorsichtigerweise damit begann, daß diese Zeit im Schulunterricht ungebührlich vernachlässigt werde, blieben sie das nächste Mal weg. Überhaupt mußte ich erst die Erfahrung machen, daß sich die große Mehrheit der Studenten nur banausisch mit dem begnügte, was voraussichtlich im Examen gebraucht wurde. Besser gelang es im Sommer 1914, als mich der Archäologe Thiers veranlaßte, über das römische Germanien zu lesen. Zur Vorbereitung reiste ich im Frühjahr nach Trier und Mainz, in Trier zusammen mit Weis und geführt von Drexel, der Assistent am dortigen Museum geworden war. In eine Übung über die Verrinen schickte mir Partsch einige Juristen, die mir tüchtig zu schaffen gaben. Itals Geburt in unserer Wohnung war schwer, weil die ehrgeizige Hebamme sich zu lange sträubte, den Arzt herbeizurufen. Auch nachher bereitete er uns Sorge, da sein nervöser Magen die Nahrung nicht ertrug. Auch eine Amme half nicht. Schließlich verschrieb ihm Nöggerath, der Professor der Kinderheilkunde, die erlösende Buttermilch. Da brach der 1. Weltkrieg aus und Marianne flüchtete mit dem letzten Zug, der nach Basel fuhr, ins Schönthal. 13 Ich mußte noch einiges geschäftliche abwickeln und gelangte am Abend nur noch nach Leopoldshöhe und konnte mit vielen andern Schweizern erst am folgenden Tag bei Lörrach die Grenze überschreiten. Die Kriegsbegeisterung, von der in den letzten Tagen die Freiburger Bevölkerung erfaßt wurde, erfüllte mich mit Widerwillen. Mir standen die künftigen Toten der Schlachtfelder vor Augen, und politisch hielt ich den Krieg für einen schrecklichen Unsinn. In Basel hatte ich alsbald als Oberleutnant im Bataillon 54 zum Grenzbesetzungsdienst einzurücken. Ich war auch hinsichtlich der Schweiz zunächst düster gestimmt, da ich mit einem überraschenden Durchbruch der Franzosen rechnete. Als statt dessen die Deutschen durch Belgien vorrückten, bestätigte das die Erwartung, deretwegen man bei uns immer nur auf die bewaffnete Neutralität vertraute. Anfänglich war die ganze Armee mobilisiert worden; bald konnte man sich auf einzelne Divisionen beschränken, die unsere blieb zunächst bis in den November unter den Waffen und wurde dann wieder im März 1915 aufgeboten. Ich lernte so den Jura von Basel bis Pruntrut ausgiebig kennen. In der Zwischenzeit wohnten wir an der Langengasse, doch studierte ich tagsüber meist bei meinen Eltern eifrig neuere Geschichte, wozu ich mir Bücher aus der Bibliothek holte. Seit der für die Deutschen unglücklichen Marneschlac[ht] begann die Hoffnung auf ein baldiges Kriegsende zu erlöschen. Mein Lebenselement war die deutsche Wissenschaft und überhaupt das deutsche Geistesleben. So wünschte ich von Herzensgrund, daß Deutschland sich ehrenvoll behaupten möge. Doch war mir Nationalhaß gegen Deutschlands Feinde fremd. Natürlich konnte sich tatsächlich niemand in der Schweiz neutral verhalten. Ganz anders als es nach den Torheiten und Bestialitäten der Nationalsozialisten werden mußte, standen viele wackere Schweizer damals mit ihren Sympathien auf der deutschen Seite.
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Es mag im April 1915 gewesen sein, daß wir in Delsberg beim gemeinsamen Abendessen der Offiziere unsers Bataillons saßen, als ein Kamerad aus den „Basler Nachrichten“ vorlas, der Auslandsschweizer Matthias Gelzer sei als ordentlicher Professor der alten Geschichte an die Universität Greifswald berufen. Niemand war mehr überrascht als ich selbst, da mich die offizielle Berufung noch nicht erreicht hatte. Darin stand, ich möchte baldmöglichst zu einer Besprechung nach Berlin ins Kultusministerium kommen. Das Divisionskommando bewilligte mir einen Urlaub von 10 Tagen. Im Innern Deutschlands merkte man wenig vom Krieg. Im Ministerium herrschte noch der vornehme Ton der Kaiserzeit, selbstverständlich ging ich im Cut hin. Die Geheimräte waren sehr freundlich; zuletzt wurde ich noch zum Ministerialdirektor Exzellenz Naumann gebracht, der mir bemerkte: „Die Schweiz schickt uns immer jün14 gere Leute.“ Am 1. Oktober sollte ich in Greifswald antreten. Ich beendete darauf noch die diesmalige Aufgebotsperiode im Berner Jura, zuletzt in St. Ursanne mit erquickenden Bädern im offenen Doubs. Den nunmehr für die Abreise ins Ausland nötigen Dauerurlaub zu erlangen, war darum nicht schwer, weil die Schweiz im August 1914 3000 Auslandsschweizer nach der alten Heimat gerufen hatte, die nun, als Soldaten nicht mehr benötigt, aber durch den Verlust ihrer Stellen im Ausland arbeitslos geworden, dem Lande zur unerwünschten Last wurden, sodaß man über jeden froh war, der ins Ausland zurückkehren konnte. Im Juli reiste ich mit Marianne zunächst einmal nach Greifswald, um Wohnung zu nehmen und auf dem Rückweg in Freiburg den Umzug in die Wege zu leiten. In Greifswald nahm uns sogleich Frau Ottilie Schöne, deren Mann im Osten als Hauptmann Dienst tat, gastfreundlich auf und stand uns in allem mit ihrem hilfreichen Rate bei. In Freiburg wohnten wir zuletzt, als unser Heim geräumt war, bei Fabricels, wie wir sagten. Während die Möbel rollten, kehrten wir noch einmal ins Schönthal zurück und fuhren nach bewegtem Abschied mit unserm Herzkäfer Ital und einer schmächtigen Donna, genannt „Döchtli“, und der Cousine Martha (genannt Marthina) Wackernagel, die uns freundlich beim Einrichten helfen wollte, gen Norden. In Greifswald wohnten wir im Erdgeschoß eines stattlichen, dem Kinderarzt Peiper gehörigen Hause, in 8 Zimmern. Ich freute mich, nun Gehalt zu beziehen. Denn bisher hatten uns die Eltern unterhalten, vor allem der gute Papa Wackernagel. Mariannes Mitgift betrug 100 000 Franken dazu hatte mein Vater 15000 gegeben, und schließlich gewährte Papa seinen verheirateten Töchtern einen jährlich Zuschuß von 2000 Franken. Jetzt kamen noch 5400 M. Gehalt dazu, sodaß wir bei unserer einfachen Lebensweise nicht ängstlich zu rechnen brauchten. Denn das war auch einer der hohen Vorzüge Mariannes, daß sie für ihre Person gänzlich anspruchslos war und wie ich kein Verlangen nach flüchtigen Genüssen hatte. In Kleidung und Frisur verkörperte sie die „vornehme Einfachheit“, desto entzückender, weil es ganz unbewußt ihr Wesen spiegelte. Unser Aufenthalt in Greifswald dauerte genau 3 Jahre. Die Stadt hatte etwa 20000 Einwohner, stand aber auf der kleinstädtischen Stufe Liestals. In einer Vor-
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stadt lagen noch die Düngerhaufen vor den Häusern, und draußen gelangte man sogleich zu den Viehkoppeln, wie man die kleinen eingezäunten Weidestücke nannte. Die Universitätsangehörigen 15 bildeten durchaus die soziale Oberschicht. Wir lernten nun das Wesen der Kleinstadt-Universität kennen. Man hielt viel auf Etikette. Die Neuankömmlinge hatten in einer Kutsche einen Tag lang alle Collegen zu besuchen. Neben dem Kutscher saß der befrackte Lohndiener Franz, ein Factotum, das man auch bei Gesellschaften zuzog und das alle Professoren kannte. Er dirigierte die Fahrt so, daß man in einem Tag überall an ca. 80 Orten die Karten abgeben konnte, was möglich war, da man, wie Franz wußte, nur an zweien angenommen wurde. Trotzdem wurde sehr darauf gesehen, daß das neue Collegenpaar tatsächlich in der Kutsche saß. An den 2 oder 3 nächsten Sonntagen strömten dann die Gegenbesuche heran. Die Greifswalder Professoren zerfielen in zwei Gruppen: Junge Tüchtige, für die Greifswald das Sprungbrett war, von dem aus sie nach etlichen Jahren an größere Universitäten zogen, und die Sitzengebliebenen, teils solche, die auch jung hingekommen waren, aber zu früh bequem wurden, oder alte Privatdozenten, die nach langer Wartezeit schließlich in Greifswald ihr Lebensziel erreichten. In dieser zweiten Gruppe gab es humorvolle Gesellen und verbitterte Käuze, die an Greifswald, Gryps genannt, keinen guten Faden ließen. In diesen Familien gab es auch viele alte Jungfern, und es empörte Marianne, wenn sie als 25jährige Professorenfrau aufs Sofa gesetzt wurde, während jene ehrwürdigen Damen demütig auf Stühlen Platz nahmen. Da Geistes- und Naturwissenschaften vereinigt waren, zählte die philosophische Fakultät viele Mitglieder. Als Jüngster hatte ich Protokoll zu führen und kam sogleich tüchtig in die Geschäfte. Diese wurden mit großem Ernst betrieben, und es gab oft lebhafte Debatten. Das Dekanant ging dem Alter nach reihum, und so kamen bisweilen recht komische Käuze dran. Einer davon war der gelehrte und weibisch aussehende Germanist Ehrismann. Ihm passierte einmal, daß er in amtlichen Briefen gerade das Gegenteil schrieb, was man in der vorigen Sitzung beschlossen hatte. Als ihm das der Botaniker Schütt, ein derber Polter, vorhielt, bat er unter Tränen um Verzeihung. Die Vertreter der Altertumswissenschaft ragten (wie auch anderswo) durch Sachkunde hervor: Schöne als Graecist, Lommatzsch als Latinist und Pernice als Archäologe. Besonders mit den beiden ersten verband mich bald treue Freundschaft. Schöne war mein alter Basler Lehrer und hatte sicherlich meine Berufung sehr gefördert. Weiteres hatten die Gutachten Wilckens und Fabricels bewirkt. Auch Marianne wurde sogleich in den Freundinnenkreis von Frau Schöne und Frau Lommatzsch aufgenommen, zu dem auch noch die Frau des Kurators Bosse gehörte und die Frau des Theologen v. d. Goltz. Dieser selbst war Professor der praktischen Theologie und 16 Universitätsprediger. Er freute sich, daß ich als einer der wenigen Professoren von der Einrichtung der akademischen Gottesdienste Gebrauch machte. Außerdem war er in Langenbruck geboren, als sein Vater in Basel Professor war, und wußte Be-
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scheid über meine Familie. Obwohl er 16 Jahre älter war, behandelte er mich wie einen Jugendfreund. Ich lernte bei ihm viel theologisches und kirchliches; besonders nahe kamen wir uns, als ich im Sommer 1916 auf seinen Wunsch 14 Tage mit ihm in Mariental bei Eisenach verbrachte. Man pflog überhaupt sehr regen collegialen Verkehr. Davon ist vor allem der glänzend begabte Prosector Wilhelm v. Möllendorff zu erwähnen, der vorzüglich Klavier spielte und mit dem wir höchst genußreich musizierten. Es gab in Greifswald kaum Berufsmusiker. Desto mehr blühte die Hausmusik, oft zu Hauskonzerten sich erhebend, worum sich namentlich ein Chemieprofessor Posner bemühte, dessen Gattin gelernte Pianistin war und die ihre Räume regelmäßig zur Verfügung stellten. Freilich lag der Schatten des Kriegs über allem. Im 1. Jahr spielten die Ernährungsschwierigkeiten noch keine Rolle. In Pommern herrschte noch der Geist altpreußischer Pflichterfüllung. Die Gebildeten suchten ein Vorbild der Standhaftigkeit zu geben, und die Erfolge im Osten und auf dem Balkan hielten die Hoffnung auf einen guten Kriegsausgang aufrecht. Wir fühlten uns in dieser Atmosphäre wohl. Ich bewunderte das Preußen Friedrichs des Großen, der Freiheitskriege und Bismarcks von Jugend auf, und die konstitutionelle Monarchie war mir im Gegensatz zu den Lehren der französischen Revolution eine erfreulic[he] Staatsform. In der Universität spürte man den Krieg vorab im Fehlen männlicher Studierender. Erst allmählich fanden sich einige Invaliden ein. Einmal hatte ich im Colleg nur 3 Hörer, ein andermal im Seminar neben etwa 15 Mädchen nur einen Mann. Mit Ausnahme der römischen Kaiserzeit mußte ich in den 6 Greifswalder Semestern alle Vorlesungen neu ausarbeiten, was meine Kraft voll in Anspruch nahm. Oft war es aufregend, wenn ich langsam sprechen mußte, damit mir der Stoff für die Stunde ausreichte. Denn mein Ehrgeiz war, möglichst aus den Quellen zu gestalten, und ich hatte meine Wissenschaft größtenteils noch selbst zu lernen, weil ich nur so kurz Privatdozent gewesen war. Aber am Ende der Greifswalder Zeit hatte ich den Grundstock meiner Vorlesungen von den altorientalischen Anfängen bis zur römischen Kaiserzeit zusammen, den ich später nur noch zu ergänzen hatte, welche Arbeit freilich noch immer weiter geht. Für meine Geschichtsauffassung wurde mir damals immer mehr Ranke der Führer mit seinen Meisterwerken über die Päpste, das Zeitalter der Reformation, Wallenstein, die französische Geschichte. In den Ferien konnte ich nebenbei auch die eigene schriftstellerische 17 Produktion fördern. Ich verfaßte für die RE die großen Artikel über M. Brutus, den Caesarmörder, und den Kaiser Gaius. Als ich von einem Serienwerk über „Meister der Politik“ erfuhr, schlug ich dem Herausgeber Erich Marcks einen Band über Caesar vor […]
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KOPFREGEST Um Eindeutigkeit zu gewährleisten, sind die römischen Personennamen im Personenregister vollständig mit „Geschlechtsname Beiname, Vorname“ angegeben, während der im Text genannte Name kursiv gesetzt ist. Bei den modernen Personen sind in der Regel alle diejenigen aufgenommen, die vor 1940 geboren wurden. Im Sachregister sind Schlagworte aufgeführt, die auf im Text behandelte Themenfelder verweisen.
1) PERSONENREGISTER A) ANTIKE Aelius Seianus, Lucius 99 Annaeus Seneca, Lucius 183 Aristoteles 26 f.; 31 f. Arrius, Quintus 180 Augustus 91 f.; 101 ff.; 146; 172 Cicero, Marcus Tullius 27; 40; 51; 76; 108; 126 ff.; 133 f.; 145; 150 f.; 156 ff.; 171 f.; 177 f.; 182; 184; 187 ff.; 205 f.;220; 223; 226 Cicero, Quintus Tullius 108; 178; 180 Claudius Caecus, Appius 102 Cornelius Scipio Aemilianus Africanus (Numantinus), Publius 140 Cornelius Scipio Nasica, Publius 109 Cornelius Sulla, Lucius 96 ff.; 103; 106; 112 f. Cornelius Tacitus, Publius 44; 97; Dionysios von Halikarnassos 75; 79 Flaminius, Gaius 160; 166 Furius Camillus, Marcus 94 Iulius Caesar, Gaius 112; 133; 160; 164; 172; 189; 232; Iunius Brutus, Marcus 157; 180; 226; 232 Licinius Murena, Lucius 180; 188; Livius, Titus 51; 80; 88; 94; 168; Maecenas, Gaius 99; 104; Marius, Gaius 183 Narcissus 113 Plancius, Gnaeus 180; 184; 188 Plinius Caecilius Secundus, Gaius 40 Polybius 154 Pompeius Magnus, Gnaeus 180 f. Porcius Cato Censorius, Marcus 183 Sempronius Gracchus, Gaius 94 ff.; 106 Sueton Tranquillus, Gaius 115 Sulpicius Rufus, Publius 103 Terentius Varro, Marcus 96
Trebatius Testa, Gaius 205 Valerius Maximus 109; 159 Vipsanius Agrippa, Marcus 99
B) MODERNE Abraham, Fritz 57 Afzelius, Adam 89; 151 Alföldi, Andreas 107; 110 Alföldy, Géza 37; 39; 74; 76; 98; 100 f.; 173 Badian, Ernst 132; 148 f.; 152; 190 Bardt, Carl 89; 146; 151; 171 f. Becker, Carl Heinrich 156 Becker, Wilhelm Adolph 46;48; 53; 111 Behrends, Okko 49 f.; 70; 127; 129; 134; 162 Beloch, Karl Julius 13; 138; 150; 159 f. Bernays, Jacob 56; 110; 218 Bleicken, Jochen 16; 50; 52; 61; 63 ff.; 69 f.; 79; 89; 93 f.; 97; 100 f.; 108; 118; 121; 126; 133; 148 ff.; 154; 157; 159; 161; 171; 190; 198; 206; 215 f. Böckenförde, Ernst-Wolfgang 30 Borchardt, Rudolf 139 Bourdieu, Pierre 84; 178 Brater, Karl 136 Bréhier, Louis 156 Bringmann, Klaus 63 Brunner, Otto 37; 131 Brunt, Peter 75; 89; 151 ff.; 166; 179; 186 ff.; 205 Burckhardt, Jacob 89; 151; 153; 191 Chapot, Victor 146 Chladenius, Johann Martin 18 Christ, Karl 13; 17 ff.; 39; 62; 133; 147; 159; 161; 190; 202; 217 Constant, Benjamin 129 Decker, Josué de 146 f.; 170
258
1) Personenregister
Degenkolb, Heinrich 46 Dove, Alfred 50 f.; 54 Ehrenberg, Victor 61 Fabricius, Ernst 145; 156 f.; 168; 171; 225; 227 f. Ferrero, Guglielmo 154; 206 Fest, Joachim 12; 17; 164; 218 Fichte, Johann Gottlieb 89 Freytag, Gustav 54 f.; 217 Friedländer, Ludwig 107 Fueter, Eduard 151; 156 f.; 203; 226 Fustel de Coulanges, Numa Denis 147; 150 f.; 157; 163; 165; 193; 202 ff.; 211; 213; 219 Gadamer, Hans-Georg 21 Gelzer, Karl 193 George, Stefan 183 Gerber, Carl Friedrich von 133 Gothein, Eberhard 13 Gradenwitz, Otto 52; 56 f.; 93; 115; 216 Gundolf, Friedrich 160; 183 Haller, Carl Ludwig von 28 ff. Haller, Johannes 143; 146; 156 ff.; 163 f.; 166; 171 f.; 202 f. Harnack, Adolf von 51 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 28 ff.; 33 f.; 138; 213 Heinze, Richard 61; 150 f.; 156 f.; 159; 163; 223 Henzen, Wilhelm 47; 91; 164 Herzog, Ernst von 60; 191 Heuß, Alfred 14; 21 f.; 45 f.; 49 f.; 63 f.; 69; 72; 87; 121; 127; 132 ff.; 138; 140; 212; 217 f.; 221 Hintze, Otto 141;162 Hirzel, Salomon 47; 128 Homeyer, Carl Gustav 107 Jahn, Otto 17 Jellinek, Georg 131 f.; 140 Jhering, Rudolf von 47 Jung, Julius 57 Kaerst, Julius 13; 60; 72; 126 Kautsky, Karl 133 Kierulff, Johann Friedrich Martin 49 Klenner, Hermann 47 f.; 51 ff.; 59; 66 f. Körte, Alfred 154 Kuczynski, Jürgen 66; 133 Kunkel, Wolfgang 50; 53; 62 f.; 66; 71; 90; 115; 128; 164 Lamprecht, Karl 13 Lange, Ludwig 47; 51; 55; 57; 115; 210 Lenel, Otto 156; 171 Luhmann, Niklas 19; 27; 42 Macaulay, Thomas Babington 128
Marquardt, Joachim 46; 110 Marx, Karl 28; 30 Meier, Christian 8; 42; 44; 62; 70; 75; 84 f.; 103; 108; 115; 118 f.; 131; 135; 143 ff.; 147 ff.; 151; 153; 155–161; 163; 165 ff.; 174 ff.; 181; 183; 186 f.; 189 ff.; 195 ff.; 202; 206; 209 f.; 212 Meyer, Eduard 13; 15; 50; 124; 150; 224 Meyer, Ernst 45 f.; 76; 89; 134; 189 f. Michels, Robert 152; 154 Millar, Fergus 126; 152 f.; 176 Mohl, Robert von 29 ff. Momigliano, Arnaldo 11; 19; 40; 63; 78; 124; 204; 218 Mommsen, Adelheid 107 Mommsen, Tycho 217 Monro, David Binning 55 f.; 110 Morel, Charles 55 Mosca, Gaetano 154 Münzer, Friedrich 149 ff.; 154; 163; 176 f.; 183; 193; 206; 208 ff.; 226 Neumann, Karl Johannes 13; 17; 61; 160 Niese, Benedictus 57 f.; 72; 76; 93 Nietzsche, Friedrich 191 Nitzsch, Karl Wilhelm 206 Oppenheimer, Franz 32; 163 Otto, Walter 151; 156; 162 Pöhlmann, Robert 13; 56; 61; 138; 150; 160; 163 f. Preuß, Hugo 125 Puchta, Georg Friedrich 49 Ranke, Leopold von 12; 17; 160; 164; 232 Reimer, Karl 128 Reinhardt, Karl 159 Riehl, Wilhelm Heinrich 29 Rilinger, Rolf 38 ff.; 42 f.; 99 Rosenberg, Arthur 75; 147; 182; 203 Rostovtzeff, Michael 44; 155 f.; 196; 212 Rotteck, Carl von 133; 136 f. Savigny, Friedrich Carl von 48 ff.; 124; 133; 139 Schäfer, Dietrich 13 Schiller, Friedrich von 50 Schiller, Hermann 87; 100 Schmitt, Carl 43; 121; 125; 127; 131 Schmoller, Gustav 138 Schulz, Fritz 161; 176; 179; 195 Seeck, Otto 54; 59 f.; 152 Siber, Heinrich 63; 212 Sigonius, Carolus 89; 151 Simmel, Georg 32 f.; 220 Soltau, Wilhelm 146; 167; 179 Spengler, Oswald 152
2) Sachregister Stein, Arthur 59 f.; 94 f.; 98; 106; 147; 151 Stein, Lorenz von 30 f.; 138; 162 Stolberg, Friedrich Leopold zu 11 Strack, Max 100; 104; 147 Strasburger, Hermann 74; 145; 147 f.; 157; 199; Syme, Ronald 44 Täubler, Eugen 50; 59; 76; 81; 85; 123; 129; 133; 135; 141; 145 Thomas, Yan 45; 62; Tocqueville, Alexis de 165; 193; 198–202; 213; 219 Treitschke, Heinrich von 30–32; 140; Uttschenko, Sergej 67
259
Vittinghoff, Friedrich 38 f. Voigt, Moritz 141 Waitz, Georg 30; 71 Weber, Marianne 11 Weber, Max 11; 25; 32 ff.; 40 f.; 136; 156; 185; 195–197; 220; 222 Welcker, Carl 136 Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von 46; 48; 62; 71; 74; 76 f.; 81 f.; 93 ff.; 100; 113; 117; 133; 165; 224; 227 Wilcken, Ulrich 151; 154; 156; 224 ff. Willems, Pierre 46; 59; 72; 78; 80 f.; 84; 86; 93; 103 Wöniger, August Theodor 50
2) SACHREGISTER Abhängigkeit, 74; 79; 102; 141; 166; 182; 186 – Abhängigkeitsverhältnis; 74; 79; 102; 153; 155 f.; 156; 166; 177; 179; 185 – Abhängigkeitsbeziehung 80; 155; 177; 202; 220 Adel, s. Aristokratie, aristokratisch Ahnenbild 84; 91 Allelopoiese, allelopoietisch, s. Transformation, Transformationstheorie amicitia, s. Freundschaft Amtsadel, s. Aristokratie, aristokratisch angustus clavus, s. Purpursaum anulus aureus, s. Goldring Aristokratie, aristokratisch – Adel; 75; 83; 86; 88; 89 ff.; 91; 95; 103; 105; 148; 155 f.; 171 f.; 172; 194; 194; 195; 197; 200 f. Amtsadel; 89; 92; 95; 96; 174; 197 – Erbadel 83; 89 f.; 92; 100 auctoritas (patrum) 58; 86; 116; 118; Aufnahmebereich s. Transformation, Transformationstheorie auspicia publica, Auspizien 55; 85; 118; Bauer 39; 66; 75 f.; 82; 109; 155 Beobachter, zweiter bzw. dritter Ordnung, s. Transformation, Transformationstheorie Bindungswesen 43; 148; 158; 166; 178; 184; 186 f.; 196 f.; 203 ff.; 219 Blutsverwandte 39; 73 bulla, s. Goldkapsel Bürger 26 f.; 39; 42; 66; 72 f.; 75 ff.; 80 ff.; 90; 94 f.; 100 ff.; 105 f.; 108; 110 f.; 113 f.; 119; 123; 125–130; 133; 135; 137 f.; 140; 155; 164; 167 f.; 169; 175 ff.; 187; 193 f.; 200 f.; 207; 212; 217; 219
– Neubürger; 76; 81; 207 – Vollbürger; 26; 38; 42; 73 f.; 86; 117; 123; 210 – Bürgerrecht; 72 f.; 83 f.; 100 f.; 110; 123 ff. – Bürgerschaft 38 f.; 42 f.; 45; 52 f.; 57; 59; 62; 64; 69; 71 ff.; 75; 80; 83; 86; 91; 101; 107; 112; 119; 121 ff.; 125 ff.; 129 ff.; 135; 137; 141; 168; 195; 197; 211; 216 calceus, s. Senat, senatorischer Schuh caput, s. Kopfbedeckung censor, s. Zensor civitas, s. Gemeinde clientes, s. Klientel, Klienten consul, consuln, s. Konsul coloni, s. Bauer consilium 115; 118; 182 Comitien 78; 92; 96; 126 f.; 130; 168; 188; 206 – Tribuscomitien; 79; 87 – Zenturiencomitien 79 concilia plebis, s. Volksversammlung, plebejische contiones 106; 153 Demokratie, demokratisch 70; 82; 88; 119; 132; 134; 164; 167; 170; 193; 198 Differenzierung (soziale), s. Gesellschaft, Differenzierung dignitas 42; 180; 188; 195 Diktatur / Dictatur, Diktator / Dictator 49; 51; 127 Distinktion; 78; 82 f.; 85; 87; 94; 100; 102; 107; 109 ff.; 113; 115–120; 122; 141; 170 Ehrenrechte 55 ff.; 59; 73; 84; 90 f.; 104; 110; 115 equus – privatus 146; 168
260
2) Sachregister
– publicus, s. Staat, Staatspferd Erbadel, s. Aristokratie, aristokratisch face-to-face society 111; 139 f. familia 39 f.; 42 f.; 73; 105; 117 – filius familias; 40; 117 – pater familias 39; 73 f. fasces 56; 114; 127 filius familias, s. familia Filzkappe 111 Freigelassene 38; 42; 57; 75; 79; 83; 87; 100–104; 111 ff.; 170; 190; 196 Freundschaft 56; 179; 181; 182; 184; 187; 226; 231 Gemeinde 31; 39 f.; 42; 73; 105; 126 f.; 131 f.; 141 – Gemeindepatronat, s. Patronat, Patronage gens, gentes, s. Geschlecht Geschichtsschreibung 13; 17 ff.; 21; 49; 63; 141; 143; 158 f.; 164; 198; 218 – antiquarische; 56; 63; 68 – ethisch-praktischer Wert der; 198 Geschichtswissenschaft 12 f.; 18; 48; 144; 151; 158; 162; 164; 189; 198; 219 f. – angewandte; 164 – deutsche; 12 f.; 151; 153 Geschlecht 72 f.; 78 f.; 88; 91; 118 f.; 199 – Geschlechtergemeinde; 75 – Geschlechterstaat 75 – maiores /minores gentes 118 Gesellschaft – Gesellschaftsbegriff; 26–35; 39 f.; 43; 138 f.; 141; 212 f.; 216; 220 – bürgerliche; 27 ff.; 33 f.; 139; 141; – Differenzierung innerhalb der; 74 f.; 96; 98 f.; 106; 124; 131; 137; 146; 175; 220 – Rang innerhalb der; 13 f.; 27; 33; 35; 37 ff.; 57; 59 f.; 69; 72–105; 114; 122; 138 ff.; 144; 158; 166–175; 185; 210; 216; 218; 220 f. römische; 35; 37; 39 f.; 41; 44; 60; 62; 65 f.; 101; 104 f.; 107; 120; 135; 138; 140; 145; 163; 165 ff.; 174; 176 f.; 181; 187; 203; 206; 210 f.; 213; 215 ff.; 219 – Stratifikation, stratifiziert; 27; 41 ff.; 110; 138 ff.; 164; 174; 177; 211 – Struktur(en) innerhalb der 13 ff.; 26; 30 ff.; 37; 39 f.; 42; 71; 85; 107; 117; 136; 138 f.; 144; 148 f.; 152; 166; 173; 198; 200; 209; 211; 216; 226 gratia 180; 188 Goldkapsel 59; 112 f. Goldring 59; 112 f. Grundherr 146; 154 f.
Hierarchie 40 ff.; 94; 97; 99; 101; 104 ff.; 114; 117 f.; 175; 184 f.; 193; 201; 209; 211, 219 ff. Historiographie, s. Geschichtsschreibung – Historiographiegeschichte 19; 143 Historische Rechtsschule 48 f.; 51 f.; 70; 133 Historismus 17 homo novus, homines novi 91; 153; 164; 171; 174; 183 honores 41 imago, s. Ahnenbild imperium 65; 123; 128; 170 ingenui 101 Insignien 43; 55 f.; 110–115; 120 inspectores 154 interrex, interreges 58; 85 f.; 113; 118; 126 ius – imaginum 82; 91; 146; 151; 170 – suffragii 82 Kapital, – soziales; 178; 183 – symbolisches 84; 111; 113; 192 Kleidung als Ausdruck von Status; 111 ff. Klientel, Klienten 39; 72–82; 87; 105; 146; 151 ff.; 155; 177; 179; 181 f.; 186 f.; 196 f.; 203 f.; 206 f.; 210; 219 – Klientelthese 144; 147; 165 f.; 175–185; 185–206; 211; 218 ff. koinonía politiké (κοινωνία πολιτική) 25 ff.; 29; 31; 34; 216 Konstruktivismus 20 f.; 50; 143 Konsul 51; 66; 84; 88 f.; 114 ff.; 160; 164; 171 f.; 174; 182; 208 Konsulat / Consulat 49; 84; 151; 167; 173 f.; 183; 187 Kopfbedeckung 110 Kurienversammlung 51; 79 Lex – Claudia 38 – Ogulnia 85 liberi, s. Blutsverwandte libertinus, libertini, s. Freigelassene Liktoren, lictores 57; 104; 106; 114 f. Magistrat; Magistratur; Magistraturen 49; 52 ff.; 64; 70 f.; 90; 110; 114 ff.; 123; 127 ff.; 131; 134; 209 Morgenvisite 108; 181; 183 f.; 204 mos maiorum 62 Munizipien 104; 132 Nah- und Treubeziehungen/-verhältnisse 79; 147 f.; 163; 166; 176–181; 183; 185; 188; 190; 203; 206 ff.; 220; 226 Nationalökonomie, nationalökonomisch 13 f.; 138; 152; 164; 219
2) Sachregister Neubürger, s. Bürger nobilis, nobiles 88 ff.; 92; 98; 146; 151; 166; 171 ff.; 178; 180 f.; 188; 191 f.; 197 Nobilität 43; 57; 59; 63 f.; 66; 68; 72; 87–95; 97; 99; 102; 105 – Nobilität der röm. Republik (Monographie) 12; 14; 57 f.; 143–214 Oberkleid 112 Optimaten, optimates 96; 106; 113; 178; 190; 192 Pandektistik, pandektistisch 49; 53; 64; 67; 70 f.; 141 pater familias, s. familia patres conscripti, patres pedarius 86 patria potestas 40 Patricierstaat 57; 73; 75 Patriziat, Patriciat, Patrizier 57; 75 f.; 79; 81; 82–87; 88 ff.; 93 ff.; 110; 113; 149; 160; 171; 173; 190 ff.; 207 f.; 210 Patron 73 f.; 79; 102; 155; 157; 177; 179 f.; 182; 184; 186; 196; 203 ff. Patronat, Patronage 74; 17 f.; 152; 163; 179; 192; 197; 203 ff. – Freigelassenenpatronat; 203 f.; 178 – Gemeindepatronat; 180 ff.; 197; 204; 212 – Gerichtspatronat; 180 ff..; 197; 204; 212 – Patronatsbeziehung 197; 203 f. patronus, s. Patron performative Manifestation von Status;106–120 Personenverband 123; 125 f.; 136 pileus, s. Filzkappe Plebejer 57; 75–88; 909; 97; 103; 105; 107; 110; 113; 167 f.; 196; 207 ff. – Plebejerversammlung, s. Volksversammlung, plebejische plebs 76; 126; 137; 173; 188 f. – plebs urbana 119 Polis 26 f. Politische Integration 41 f.; 81; 97; 105; 208; 211 Popularen 178 populus 43; 58; 62; 73; 82; 121; 123; 125 ff.; 131; 133; 140; 194 – populus Romanus 43; 125 f.; 128 f.; 131; 194 possessores, s. Grundherr potentiores 155 Prestige 38; 83; 90 f.; 94; 104 f.; 110; 114; 116; 118; 120; 169 f.; 173 f.; 195; 204; 211 – Prestigestellung; 41 f.; 103; 106; 114; 171 f. – Prestigehierarchie 40 f.; 94; 97; 101; 104 ff.; 114; 118; 175; 184 f.; 201; 209; 219 f.
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princeps, principes 107; 111; 127; 146; 172 – princeps senatus 84 f.; 119 – principes civitatis 164; 172 Prinzipat / Principat 57; 63; 96; 112 f. 123; 172 Privatrecht 49; 52 – römisches Privatrecht 49; 51 Privilegien 86; 92; 167; 170 ff.; 200 f. Purpurgewand 111 Purpursaum 84; 112 quiris, quirites, s. Bürger Rang 17 f.; 29; 37 f.; 40 f.; 48; 54 f.; 71; 86; 94–99; 103 ff.; 106–120; 130 f.; 138 f.; 147; 149, 169; 173 f.; 183 f.; 193; 204; 211; 219 Rechtssystematik, rechtssystematisch 16; 51; 61; 70; 87; 93; 119; 143; 158; 213; 218 Referenzbereich, s. Transformation, Transformationstheorie reges sacrorum 85 regimentsfähig, Regimentsfähigkeit 147; 163; 166 ff.; 173; 175; 177; 189 f.; 208 Reichsbürgerrecht 124 f. res publica 15; 31; 75; 109; 121 f.; 128; 131 ff.; 135; 137; 141; 186; 194 f.; 199; 212 rex 127 Ritter, Ritterschaft, Ritterstand38; 40; 57 ff.; 66; 72; 91 f.; 93–100; 102 ff.; 106 f.; 112 f.; 115; 137; 146; 149; 164 f. 167 ff.; 173; 184; 189 f.; salutatio, salutationes, s. Morgenvisite Schichtung, s. Gesellschaft, Rang innerhalb der – Schichtungsmodell 37; 57; 72–105; 138, 141; 144; 158; 166–175; 185; 210; 218; 220 Schreiber 57; 104; 112 Schutzverhältnis 155; 179; 207 scriba, scribae, s. Schreiber Senat 41; 52 f.; 57 f.; 64; 84 ff.; 88; 92; 97; 99; 104; 115–120; 126; 130; 138; 146; 166; 169 f.; 172; 177; 190 – Senator, Senatoren; 38; 40; 85 f.; 89; 91 f.; 95 ff.; 99 f.; 103; 106 f.; 112 f.; 115; 117 f.; 127; 130; 146; 149; 167; 170 f.; 173 f.; 181; 184; 189 f. – Senatorenstand; 87; 91 ff.; 95; 170 – Senatorenschaft; 96; 107; 117 – Senatsregiment; 116; 209 – Senatsadel; 43; 166; 170 – Senatssitz; 95 f.; 99; 104; 119 – senatorischer Schuh; 113 – Quasi-Senat 104 servianische Zensusordnung / Zenturienordnung 80; 96
262
2) Sachregister
Sklaverei 42 societas (civilis) 25; 27; 30 f.; 34; 38; 44; 141 soft power 116 Souveränität, s. Volkssouveränität soziale Schichtung, s. Gesellschaft, Rang innerhalb der Sozialgeschichte, Gesellschaftsgeschichte 12; 14; 23; 35; 37; 59; 62 ff.; 74; 147; 152; 154; 162 f.; 165; 198; 200; 212 f.; 217; 219 ff.; 226 f. Staat Staatsbegriff; 31 f.; 43; 120–138; 140 f.; 212; 217 Staatspferd, Ritterpferd; 94 ff.; 98; 106; 112; 146; 168 f.; 207 Staatsrecht; 12; 23; 29; 45; 49 ff.; 56 ff.; 64 f.; 69; 77; 85; 101; 110; 119; 125; 129; 133; 136 ff.; 146; 155; 192; 205; 210; 222; 226 Röm. Staatsrecht (Handbuch) 11 ff.; 23; 44; 45–142; 143 ff.; 146; 150; 158; 161 ff.; 167 ff.; 172; 174 f.; 177; 182; 213; 215 ff. Stand, Stände 28; 37; 41; 71 f.; 77; 79 f.; 85; 91 f.; 94 ff.; 98 f.; 104; 106; 112; 134 f.; 154 f.; 164; 170; 172 f.; 181; 200; 207 – Ständegesellschaft; 29; 105; 201 – Ständekampf, Ständekämpfe; 42; 57; 72; 75; 80 f.; 87 f.; 93; 119; 167; 201; 209 – Standesrecht 92 Status (sozialer) 43; 69; 84; 92; 105 ff.; 114; 173 f.; 220 Statusdifferenz; 107; 109; 183 – Statusdissonanzen; 39; 42; 108 – Statusgleichheit; 109 – Statusgruppe; 28; 40; 58; 88; 93 ff.; 100; 107; 111; 139; 168; 208 – Statuskonzeption; 143 – Statussicherheit; 177 – Statussymbole; 40; 112 – Statusverbesserung; 180 – Statusverlust 87 System, systematisch, Systematiker 22; 26 ff..; 31 ff.; 37; 40; 43; 45; 48 ff.; 57 ff.; 61 f.;
63 ff.; 67 ff.; 70 f.; 87; 93; 117; 119; 122; 131; 133; 136; 140 f.; 143; 147; 149; 152; 158; 161; 165; 176 ff.; 184; 187; 189; 191; 206; 209; 211; 213; 215; 218; 220 Theater 43; 59; 106 ff.; 112; 119; 153; 176 – Sitzplatz 59; 106 ff.; 115; 117; 120; 139; 219; 224 Timokratie, timokratisch 40; 167; 169; 174 toga praetexta 111 trabea, s. Oberkleid Transformation, Transformationstheorie 15; 17–22; 32; 221 – Aufnahmebereich; 20 Allelopoiese, allelopoietisch; 20; 213 – Beobachter zweiter bzw. dritter Ordnung; 15; 17 ff.; 32; 221 Referenzbereich 21 Tribus 57; 72; 79 f.; 87 f.; 103; 108; 120; 123 Triumph 51; 111 Verfassung 12; 63; 198; 226 – moderne; 14; 67; 71; 133 – römische 14; 46; 48; 50; 67 ff.; 89; 104; 147; 152; 157; 162; 176; 212 Volksherrschaft 71; 128; Volkssouveränität 56; 62; 70 f.; 88; 121; 124; 126 ff.; 133; 194 Volksversammlung 42; 52; 58 f.; 72; 78 f.; 108; 115; 117; 119 f.; 126; 153; 168; 174 ff.; 181; 194; 197; 206 – plebejische 79 f. Vollbürger, s. Bürger Wahlrecht – aktives; 79; 82; 123; 175; 177; 182; 209 f.; 226 – allgemeines; 79; 132; 191 – passives 81; 84; 90; 95; 123; 167; 169; 175; 177; 208; 210; 226 Wissenschaftsgeschichte 7; 17 ff.; 46; 143; 154; 202; 212; 214 f.; 222 Zensor 86; 95; 114 Zensus 94; 98; 146; 168; 170; 182
historia
–
einzelschriften
Herausgegeben von Kai Brodersen, Mortimer Chambers, Bernhard Linke, Mischa Meier und Walter Scheidel.
Franz Steiner Verlag
ISSN 0341–0056
217. Bernhard Linke / Mischa Meier / Meret Strothmann (Hg.) Zwischen Monarchie und Republik Gesellschaftliche Stabilisierungsleistungen und politische Transformationspotentiale in den antiken Stadtstaaten 2010. 236 S., geb. ISBN 978-3-515-09782-6 218. Julia Hoffmann-Salz Die wirtschaftlichen Auswirkungen der römischen Eroberung Vergleichende Untersuchungen der Provinzen Hispania Tarraconensis, Africa Proconsularis und Syria 2011. 561 S. mit 26 Tab. und 3 Ktn., geb. ISBN 978-3-515-09847-2 219. Dirk Schnurbusch Convivium Form und Bedeutung aristokratischer Geselligkeit in der römischen Antike 2011. 314 S., geb. ISBN 978-3-515-09860-1 220. Gabriel Herman (ed.) Stability and Crisis in the Athenian Democracy 2011. 165 S. mit 3 Tab., geb. ISBN 978-3-515-09867-0 221. Christoph Lundgreen Regelkonflikte in der römischen Republik Geltung und Gewichtung von Normen in politischen Entscheidungsprozessen 2011. 375 S., geb. ISBN 978-3-515-09901-1 222. James H. Richardson The Fabii and the Gauls Studies in historical thought and historiography in Republican Rome 2012. 186 S., geb. ISBN 978-3-515-10040-3 223. Jan Bernhard Meister Der Körper des Princeps Zur Problematik eines monarchischen Körpers ohne Monarchie
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2012. 327 S., geb. ISBN 978-3-515-10080-9 Federicomaria Muccioli Gli epiteti ufficiali dei re ellenistici 2013. 526 S., geb. ISBN 978-3-515-10126-4 Claudia Horst Marc Aurel Philosophie und politische Macht zur Zeit der Zweiten Sophistik 2013. 232 S., geb. ISBN 978-3-515-10280-3 Maria Osmers „Wir aber sind damals und jetzt immer die gleichen“ Vergangenheitsbezüge in der polisübergreifenden Kommunikation der klassischen Zeit 2013. 407 S., geb. ISBN 978-3-515-10299-5 Alberto Dalla Rosa Cura et tutela Le origini del potere imperiale sulle province proconsolari 2014. 362 S. mit 1 Karte, geb. ISBN 978-3-515-10602-3 Bruno Bleckmann / Timo Stickler (Hg.) Griechische Profanhistoriker des fünften nachchristlichen Jahrhunderts 2014. 228 S., geb. ISBN 978-3-515-10641-2 Joseph Geiger Hellenism in the East Studies on Greek Intellectuals in Palestine 2014. 177 S., geb. ISBN 978-3-515-10617-7 Klaus Altmayer Die Herrschaft des Carus, Carinus und Numerianus als Vorläufer der Tetrarchie 2014. 506 S. mit 28 Abb. und 2 Ktn., geb. ISBN 978-3-515-10621-4
231. Björn Schöpe Der römische Kaiserhof in severischer Zeit (193–235 n. Chr.) 2014. 369 S. mit 4 Abb., geb. ISBN 978-3-515-10695-5 232. Frederik J. Vervaet The High Command in the Roman Republic The Principle of the summum imperium auspiciumque from 509 to 19 BCE 2014. 369 S., geb. ISBN 978-3-515-10630-6 233. Sara M. Wijma Embracing the Immigrant The participation of metics in Athenian polis religion (5th–4th century BC) 2014. 197 S., geb. ISBN 978-3-515-10642-9 234. Richard W. Burgess Roman Imperial Chronology and Early-Fourth-Century Historiography The Regnal Durations of the So-called Chronica urbis Romae of the Chronograph of 354) 2014. 208 S., geb. ISBN 978-3-515-10725-9 235. Luca Asmonti Conon the Athenian Warfare and Politics in the Aegean, 414–386 B.C. 2015. 200 S., geb. ISBN 978-3-515-10901-7 236. Aideen Carty Polycrates, Tyrant of Samos New Light on Archaic Greece 2015. 260 S. mit 11 Abb., geb. ISBN 978-3-515-10898-0 237. Anja Busch Die Frauen der theodosianischen Dynastie Macht und Repräsentation kaiserlicher Frauen im 5. Jahrhundert 2015. 256 S. mit 6 Abb., geb. ISBN 978-3-515-11044-0 238. Martin Jehne / Francisco Pina Polo (Hg.) Foreign clientelae in the Roman Empire A Reconsideration 2015. 374 S. mit 11 Abb. und 2 Tab., geb. ISBN 978-3-515-11061-7 239. Lucia Cecchet Poverty in Athenian Public Discourse
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Theodor Mommsen ist eine der Zentralfiguren althistorischer Wissenschaftsgeschichte. Für lange Zeit stand jede Beschäftigung mit Rom in seinem Schatten. 1912 veröffentlichte der junge Schweizer Matthias Gelzer jedoch eine Habilitationsschrift, in der er sich im Namen einer fortschrittlichen „Gesellschaftshistorie“ radikal vom „Staatsrechtler“ Mommsen absetzte. Gelzers aufmüpfige Polemik bot späteren Forschern wiederum einen willkommenen Anlass, um sich vom gefürchteten Übervater loszusagen. Mit dem Verweis auf Gelzer konnte man sich
auf die progressive Seite stellen und Mommsen zu den Akten legen. Simon Strauß stellt dieses Vorgehen nun entschieden in Frage und argumentiert, dass in Mommsens Werk – gerade auch in seinem 1871–1888 erschienenen „Römischen Staatsrecht“ – schon viele gesellschaftsgeschichtliche Aspekte behandelt werden. Gelzers Leistungen lassen sich in diesem Licht betrachtet durchaus relativieren. Strauß weckt Zweifel an der Selbstdeutung der althistorischen Forschungsgeschichte und bewertet die Stellung Theodor Mommsens neu.
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isbn 978-3-515-11851-4